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346,369 | ovgnrw-2022-08-29-4-b-92022 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
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} | 4 B 920/22 | 2022-08-29T00:00:00 | 2022-08-31T10:01:18 | 2022-10-17T11:09:37 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0829.4B920.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25.7.2022 wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wird der Streitwert unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf jeweils 2.178,50 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">1. Die Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, legt keine Gründe dar, aus denen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 25.7.2022 abzuändern oder aufzuheben ist.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die von der Antragstellerin allein erhobene Rüge, das Verwaltungsgericht habe zur Begründung ausschließlich auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 23.6.2022 und den Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 20.7.2022 verwiesen, was für eine nach § 122 Abs. 2 VwGO erforderliche Begründung des Beschlusses nicht ausreiche, greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind u. a. Beschlüsse über die Aussetzung der Vollziehung (§§ 80, 80a VwGO) stets zu begründen. Auch wenn § 122 Abs. 1 VwGO nicht auf § 117 VwGO Bezug nimmt, ist anerkannt, dass § 117 VwGO bei streitentscheidenden Beschlüssen des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80 Abs. 5, 123 VwGO) wegen ihrer Tragweite und ihres kontradiktorischen Charakters weitgehend heranzuziehen ist und auch Beschlüsse – über die Vorschrift des § 122 Abs. 1 VwGO hinaus – den jeweils durch ihre Funktion bedingten inhaltlichen Anforderungen zu entsprechen haben. Insbesondere müssen Beschlüsse, die durch ein Rechtsmittel angefochten werden können, erkennen lassen, welche Überlegungen für die richterliche Überzeugungsbildung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht maßgeblich gewesen sind. Auch soll dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit in prozessrechtlicher und materiell-rechtlicher Hinsicht ermöglicht werden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 9.6.2008 – 10 B 149.07 –, juris, Rn. 3, sowie Urteile vom 4.10.1999 – 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 = juris, Rn. 27, und vom 22.7.1980 – 9 CB 5.80 u. a. –, juris, Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Auch eine Bezugnahme kann diesen Zweck erfüllen. Unzulässig ist die Verweisung allerdings dann, wenn sich die tragenden Entscheidungsgründe nicht mehr zweifelsfrei ermitteln lassen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 8.11.2001 – 4 C 18.00 –, juris, Rn. 29, und Beschluss vom 3.12.2008 – 4 BN 25.08 –, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Diesen rechtlichen Anforderungen genügt die Begründung im angefochtenen Beschluss. Der Kern der Begründung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ergibt sich aus dem angefochtenen Beschluss selbst und ist nicht erst aus dem in Bezug genommenen Bescheid und dem in Bezug genommenen Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 20.7.2022 zu entnehmen. So hat das Verwaltungsgericht zur Begründung sinngemäß ausgeführt, die Antragstellerin habe unter Missachtung der bestandskräftigen Verfügung vom 7.12.2018 ihren Spielhallenbetrieb mit Wissen und Wollen (durchgängig) fortgesetzt und gegenüber der Antragsgegnerin zudem angegeben, die Spielhalle auch zukünftig betreiben zu wollen. Die Bezugnahme des Verwaltungsgerichts auf die angeführten Dokumente ergänzt in zulässiger Weise den Kern der gegebenen Begründung. Dass sich die für die richterliche Überzeugung maßgeblichen Gründe nicht mit hinreichender Klarheit ergeben oder für eine Überprüfung der Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht unzureichend sind, hat die Antragstellerin in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt, sondern sich – zudem in der Sache unzutreffend – auf das Vorbringen beschränkt, eine bloße Bezugnahme hierauf genüge nicht.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">3. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 39 Abs. 1, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Nach der Streitwertpraxis des Senats in Orientierung an der Empfehlung in Nr. 1.5 i. V. m. Nr. 1.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abrufbar unter: https://www.bverwg.de/user/data/media/streitwertkatalog.pdf) beträgt der Streitwert in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Zwangsgeldfestsetzung mit gleichzeitiger Androhung eines weiteren Zwangsmittels ein Viertel des festgesetzten Betrags (hier: 5.000,00 Euro / 4 = 1.250,00 Euro) zuzüglich der Hälfte des für die Androhung des Zwangsmittels im Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu ausführlich OVG NRW, Beschluss vom 8.10.2018 – 4 B 1181/18 u. a. – juris, Rn. 10 ff.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Für die Androhung unmittelbaren Zwangs ist im Hauptsacheverfahren nach Nr. 1.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit ein Achtel des Streitwerts der Hauptsache anzusetzen. Hier zielt die Zwangsmittelandrohung auf die Durchsetzung der mit bestandskräftiger Ordnungsverfügung vom 7.12.2018 erfolgten Untersagung des weiteren Betriebs der Spielhalle in der X.------straße 7 in P. . Nach ständiger Rechtsprechung des Senats werden Regelungen zur Verhinderung der Fortsetzung des Betriebes (§ 15 Abs. 2 GewO) bei der Bemessung des Streitwerts nicht berücksichtigt, wenn sie mit dem Widerruf oder der Ablehnung einer Gewerbeerlaubnis verbunden sind. Liegt keine Verbindung vor, stehen die Maßnahmen aber im sachlichen Zusammenhang mit einem Widerruf oder einer Ablehnung, ist die Hälfte des Jahresgewinns, mindestens also 7.500,00 Euro, in Ansatz zu bringen. In allen anderen Fällen ist der Streitwert in Höhe des Jahresgewinns zu veranschlagen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1.10.2004 – 4 B 1637/04 –, juris, Rn. 4.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der zuletzt genannte Fall ist hier gegeben. Danach ist der Streitwert der Hauptsache für die Schließungsverfügung, auf die sich die Zwangsmittelandrohung bezieht, in Höhe des Jahresgewinns, mindestens aber mit 15.000,00 Euro zu bewerten. Die mit der Schließung des weiteren Spielhallenbetriebs in der Ordnungsverfügung vom 7.12.2018 verbundene Ablehnung des Antrags der Antragstellerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ist nicht Gegenstand der Vollstreckung und steht nach Eintritt der Bestandskraft auch nicht mehr im Zusammenhang mit der zu vollziehenden Schließungsverfügung. Hiernach ergibt sich für die Androhung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung der Schließungsverfügung im Hauptsacheverfahren ein Streitwert in Höhe von 1.875,00 Euro (15.000,00 Euro / 8). Dieser ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren (1.875,00 Euro / 2 = 937,50 Euro).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
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} | 9 B 805/22 | 2022-08-29T00:00:00 | 2022-08-31T10:01:18 | 2022-10-17T11:09:37 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0829.9B805.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration: underline;">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 16 K 1644/22 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 28. März 2022 wiederherzustellen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">mit der Begründung abgelehnt, die Aufhebung des Einweisungsbescheids vom 21. Oktober 2016, mit dem der Antragsteller in die städtische Obdachlosenunterkunft S.---------straße 15 eingewiesen worden ist, und die nunmehrige Einweisung des Antragstellers in die städtische Obdachlosenunterkunft C. 27 durch die Ordnungsverfügung vom 28. März 2022 seien offensichtlich rechtmäßig und es bestehe ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Anordnungen. Nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwVfG NRW i. V. m. § 2 Abs. 5 erster Spiegelstrich der Satzung über die Unterhaltung und Nutzung der Übergangsheime der Stadt T. vom 26. September 2013 einschließlich des VI. Nachtrages vom 10. Dezember 2021 sei der Widerruf der Einweisungsverfügung zulässig, wenn aus organisatorischen Gründen eine Umsetzung in ein anderes Übergangsheim erforderlich sei. Solche Gründe, die eine Umsetzung des Antragstellers erforderten, lägen hier nach den Darlegungen der Antragsgegnerin vor. In Anbetracht eines aktuell deutlich erhöhten Bedarfs der Antragsgegnerin an Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose aufgrund zunehmender Räumungsklagen und des Zuzugs von Flüchtlingen aus der Ukraine sei es nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin die Unterkunft S.---------straße 15 nunmehr nur noch für bestimmte, besonders schutzwürdige Personengruppen nutzen und alleinstehende (arbeitsfähige) Männer bis zu einem gewissen Alter - wie den Antragsteller - grundsätzlich der Unterkunft C. 27 zuweisen wolle. Ermessensfehler seien nicht erkennbar. Die vom Antragsteller geltend gemachten persönlichen Interessen an einem Verbleib in der Unterkunft S.---------straße 15 dürften zwar subjektiv von einigem Gewicht sein. Sie vermöchten die von der Antragsgegnerin angeführten erheblichen Gründe, die im öffentlichen Interessen für die ausgesprochene Neueinweisung des Antragstellers im Zuge einer organisatorischen Neugestaltung der Unterbringung von Obdachlosen im Stadtgebiet der Antragsgegnerin stritten, aber nicht zu überwiegen. Dies gelte insbesondere auch mit Blick darauf, dass die Zuweisung einer vorläufigen Unterkunft zur Vermeidung von Obdachlosigkeit kein auf Dauer angelegter Behelf sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Aus dem Beschwerdevorbringen, mit dem im Wesentlichen das erstinstanzliche Vorbringen wiederholt wird, ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung ausgegangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller zeigt nicht auf, dass entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts die Voraussetzungen für einen Widerruf der ursprünglichen Einweisungsverfügung nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwVfG NRW i. V. m. § 2 Abs. 5 Satz 1 erster Spiegelstrich der Satzung über die Unterhaltung und Nutzung der Übergangsheime der Antragsgegnerin in der hier maßgeblichen Fassung nicht vorliegen. Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die von der Antragsgegnerin im erstinstanzlichen Verfahren angeführte organisatorische Neugestaltung der Unterbringung von Obdachlosen im Stadtgebiet erfülle die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 5 Satz 1 erster Spiegelstrich der Satzung, wird mit dem Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt. Entgegen der Annahme des Antragstellers hält der Senat die geänderte Zuweisungsstrategie für nachvollziehbar sowie plausibel begründet und die Substantiierung mit konkretem Zahlenmaterial angesichts dessen nicht für geboten. Im Übrigen hat die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren weiter dazu vorgetragen, wie sich die Wohnungsknappheit darstellt. Soweit der Antragsteller ‑ auch in Bezug auf den Gesichtspunkt der organisatorischen Neugestaltung ‑ rügt, die Behörde habe „ein Potpourri von Argumenten nachgereicht“, ist darauf hinzuweisen, dass die Behörde grundsätzlich auch im gerichtlichen Verfahren weitere Erwägungen im Hinblick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Vorschrift anstellen kann, und das Gericht vollumfänglich prüft, ob die Voraussetzungen einer Rechtsgrundlage erfüllt sind. Die Beschwerde legt auch nicht dar, dass insoweit in unzulässiger Weise Ermessenserwägungen nachgeschoben oder ausgetauscht worden wären.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller kritisiert, die Antragsgegnerin könne sich nicht auf die Notwendigkeit von Sanierungsarbeiten berufen, wird dadurch der angefochtene Beschluss schon deshalb nicht in Frage gestellt, weil das Verwaltungsgericht auf diesen Gesichtspunkt nicht abgestellt hat. Auf die weiter angeführten Zahlungsrückstände hat die Antragsgegnerin ihre Umsetzungsentscheidung schon nicht gestützt und das Verwaltungsgericht ebenfalls nicht abgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich auch nicht, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts der Widerruf der ursprünglichen Einweisungsverfügung und die Umsetzung in die Unterkunft C. 27 ermessensfehlerhaft sind.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Unterbringungsanspruch eines Obdachlosen nach § 14 Abs. 1 OBG NRW grundsätzlich auf die Unterbringung in einer menschenwürdigen Unterkunft gerichtet ist, die Schutz vor den Unbilden der Witterung bietet sowie Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt. Dabei müssen Obdachlose im Verhältnis zur Versorgung mit einer Wohnung weitgehende Einschränkungen hinnehmen. Insbesondere ist Einzelpersonen grundsätzlich auch eine Unterbringung in Sammelunterkünften mit Schlaf- und Tagesräumen für mehrere Personen zumutbar. Nur in Ausnahmefällen kann bei Vorliegen besonderer Einzelfallumstände ein Anspruch auf Versorgung mit einem Raum, der dem Betreffenden für sich allein zur Verfügung steht, bestehen. Die Grenze zumutbarer Einschränkungen liegt allerdings dort, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht eingehalten sind.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. März 1992 - 9 B 3839/91 -, NWVBl. 1992, 258, juris Rn. 7 f., vom 3. Februar 2016 - 9 E 73/16 -, juris Rn. 13 f., vom 17. Februar 2017 - 9 B 209/17 -, juris Rn. 6, und vom 6. März 2020 - 9 B 187/20 -, juris Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dass die Unterbringung in der Unterkunft C. 27 - wie vom Antragsteller behauptet - nicht menschenwürdig wäre, ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht. Wie ausgeführt, ist Einzelpersonen auch eine Unterbringung in Sammelunterkünften zumutbar. Abgesehen davon hat die Antragsgegnerin vorgetragen, dass derzeit dort nur sieben Personen leben. Warum der Antragsteller in der Unterkunft trotzdem keinen Schlaf und keine Ruhe finden könnte, legt er auch mit der Beschwerde nicht dar, sondern wiederholt insoweit nur das erstinstanzliche, vom Verwaltungsgericht zutreffend als spekulativ bezeichnete Vorbringen. Bei einer Unterbringung zur Vermeidung von Obdachlosigkeit, die grundsätzlich nur vorübergehend gedacht ist, kann auch keine Rolle spielen, dass die bisherige Unterkunft der aktuelle Lebensmittelpunkt des Antragstellers ist. Die Unterbringung in der S.---------straße 15 ist, anders als offenbar vom Antragsteller angenommen, keine Versorgung mit einer dauerhaften Wohnung, sondern dient allein der Beseitigung der Obdachlosigkeit. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass er keinen Anspruch auf den dauerhaften Fortbestand des bisherigen Unterkunftsstandards hat. Ferner ergibt sich aus der Beschwerdeerwiderung, dass für die vom Antragsteller geltend gemachte Diskriminierung bei der Auswahl derjenigen Personen, die der Unterkunft C. 27 zugewiesen worden sind bzw. werden sollen, jeder Anhalt fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Warum dem Antragsteller die Ausübung seiner Tätigkeit als Zeitungszusteller nach der Umsetzung nicht mehr möglich wäre, legt er auch mit der Beschwerde nicht dar. Das Verwaltungsgericht hat hinsichtlich der Erreichbarkeit darauf verwiesen, dass es ihm ohne weiteres zumutbar sei, beispielsweise mit dem Fahrrad zu seiner Arbeitsstelle zu fahren statt wie bislang zu Fuß dorthin zu gehen. Dazu verhält sich das Beschwerdevorbringen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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346,821 | vg-koln-2022-08-26-20-k-195322a | {
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} | 20 K 1953/22.A | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-10-05T10:02:09 | 2022-10-17T11:10:48 | Gerichtsbescheid | ECLI:DE:VGK:2022:0826.20K1953.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Bescheid vom 04.03.2022 wird – mit Ausnahme von Ziffer 3 Satz 4 des Bescheides - aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>T a t b e s t a n d</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.1990 in Latakia/Syrien geborene Kläger zu 1) und seine am 00.00.1991 in Damaskus geborene Ehefrau, die Klägerin zu 2), sind syrische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten am 15.11.2021 in die Bundesrepublik ein und stellten am 24.11.2021 formelle Asylanträge bei der Beklagten. In Bulgarien wurde den Klägern bereits internationaler Schutz gewährt.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der Anhörung zur Zulässigkeit der Anträge am 21.02.2022 gab der Kläger zu 1) an, er habe Syrien im September 2018 verlassen und sei u.a. über den Irak, Iran, die Türkei und Bulgarien nach Deutschland gereist. In Bulgarien sei er 2018 eingereist, er habe sich dort 2 Jahre aufgehalten. In Bulgarien sei ihm im Dezember 2019 internationaler Schutz zuerkannt worden. Die Klägerin zu 2) erklärte, sie habe Syrien im Dezember 2020 verlassen und sei u.a. über den Libanon, die Türkei und Bulgarien gereist. Sie habe dort 2021 ebenfalls internationalen Schutz und ein 3 Jahre gültiges Aufenthaltsdokument erhalten. Sie habe sich 11 Monate in Bulgarien aufgehalten.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 23.02.2022 fanden weitere Anhörungen zur Zulässigkeit der Anträge statt. Dort erklärte die Klägerin zu 2), sie sei im Wege der Familienzusammenführung nach Bulgarien gereist. Sie hätten in Sofia in einer 2-Zimmerwohnung zur Miete gewohnt, die Miete habe ca. 700 – 800 Lev, ca. 400 €, gekostet. Ihr Mann habe versucht, selbständig zu arbeiten, meistens habe er die Unterstützung von seinen Eltern bekommen. Er habe gelegentlich auf dem Bau gearbeitet, aber nicht immer seinen Lohn erhalten. Die meiste Zeit sei er arbeitslos gewesen. Sie hätten versucht, Sozialleistungen zu erhalten. Ihnen sei gesagt worden, dass für sie nichts zu machen sei. Sie hätten einen Uni-Abschluss, sie hätten damit nicht arbeiten können. Sie hätten versucht, die Abschlüsse anerkennen zu lassen, aber das sei nicht gegangen. Sie hätten versucht, beim Arbeitsamt Arbeit zu bekommen, aber es habe keine Arbeit für sie gegeben. Man habe gesagt, für Flüchtlinge gebe es kein Geld in Bulgarien. Sie habe einen Sprachkurs bei der Caritas bekommen, wegen Corona sei alles abgesagt worden. Als sie schwanger gewesen sei, habe sie zur Untersuchung gemusst. Sie habe dafür immer 30 – 50 € zahlen müssen. Für die Entbindung hätte sie auch aus der eigenen Tasche bezahlen müssen. Der Kläger zu 1) machte entsprechende Angaben. Er sei immer gependelt. Er habe in einem Hostel gewohnt, danach in einer Wohnung. In den ersten 3 Monaten habe er versucht, eine Unterkunft zu finden. Die bulgarischen Menschen vermieteten ihnen keine Wohnung. Später habe er eine Wohnung gefunden. Er habe mit Arabern gearbeitet, manchmal sei er bezahlt worden und manchmal auch nicht. Es sei Schwarzarbeit gewesen. Das Camp habe er eine Woche nach seiner Anerkennung verlassen müssen. Er habe dann gar nichts mehr bekommen. Er habe sich auch bei der Krankenkasse anmelden wollen, aber ihm sei gesagt worden, er müsse jetzt 5 Jahre nachzahlen. Er habe auch kein Bankkonto eröffnen können, weil er Syrer sei. Western Union habe ihm auch kein Geld auszahlen wollen. Es habe inoffizielle Möglichkeiten gegeben, sein Vater habe Menschen in Syrien Geld gegeben und deren Familienangehörige in Bulgarien hätten dann ihm das Geld gegeben. Er habe versucht, dort zu leben, aber es habe nicht gepasst. Für die Entbindung hätte er 1.500,00 € bezahlen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 04.03.2022 lehnte die Beklagte die Anträge als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und forderte die Kläger unter Abschiebungsandrohung nach Bulgarien auf, die Bundesrepublik innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziffer 3). Die Kläger dürften nicht nach Syrien abgeschoben werden (Ziffer 3 Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziffer 5). Der Bescheid wurde den Klägern am 15.03.2022 ausgehändigt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 28.03.2022 haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben. Es sei den Klägern nicht möglich, in Bulgarien ein menschenwürdiges Leben zu führen. Zwischenzeitlich sei in der Bundesrepublik Deutschland ein Kind geboren, so dass die Klägerin zu 2) nicht arbeiten könne. Der Kläger zu 1) könne angesichts der Verhältnisse in Bulgarien den Lebensunterhalt für seine Familie alleine nicht sicherstellen. Im Übrigen seien aufgrund der vielen Flüchtlinge aus der Ukraine mehrere osteuropäische Länder nicht mehr bereit, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Flüchtlinge zurückzunehmen. Es seien dieses insbesondere die Länder Polen, Tschechien, Rumänien und Bulgarien. Zwar seien hier die Kläger bereits als Schutzberechtigte anerkannt, die Situation stelle sich aber genauso dar wie für Dublin-Rückkehrer. Ein menschenwürdiges Leben sei dort nicht möglich, außerdem würden die bulgarischen Behörden in absehbarer Zeit Flüchtlinge nicht zurücknehmen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 04.05.2022 wurde der hier geborenen Tochter der Kläger der subsidiäre Schutz zuerkannt (0000000-000).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Bescheid der Beklagten vom 04.03.2022 aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bezüglich der Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Bulgarien vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Die Kläger könnten keinen Familienschutz von ihrer Tochter ableiten, da die Klägerin zu 2) mit dieser noch nicht in Syrien schwanger gewesen sei. Bulgarien habe auch bislang keine Erklärung abgegeben, Überstellungen aufgrund der ankommenden ukrainischen Schutzsuchenden generell abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</strong></p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten zu einer Entscheidung im Wege des Gerichtsbescheides gehört worden sind ( § 84 Abs. 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit dem auf Aufhebung des Bescheides gerichteten Anfechtungsantrag ist die Klage überwiegend zulässig und begründet. Soweit der Anfechtungsantrag auch das in Ziffer 3 Satz 4 des Bescheides enthaltene Abschiebungsverbot in Bezug auf Syrien erfasst, erweist sich die Klage allerdings als unzulässig, da die Kläger hierdurch nicht beschwert sind. Für eine Anfechtungsklage fehlt es daher insoweit an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist der Bescheid vom 04.03.2022 rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Asylanträge der Kläger sind insbesondere entgegen Ziffer 1 des Bescheides zulässig. Dies gilt sowohl mit Blick auf systemische Mängel des Asylsystems in Bulgarien als auch mit Blick auf den der Tochter der Kläger in Deutschland gewährten subsidiären Schutz.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Das ist hier zwar geschehen, dennoch ist es dem Bundesamt aus Gründen höherrangigen Rechts verwehrt, die Asylanträge der Kläger auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 (Verfahrensrichtlinie) können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ansehen, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. Dies gilt auch in Situationen, in denen einem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat kein Recht auf Asyl, sondern lediglich subsidiärer Schutz gewährt worden ist. Diese Befugnis gilt jedoch nur, wenn der Antragsteller keinen ernsthaften Gefahren ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 (Ibrahim) u.a. und Urteil vom gleichen Tage – C 163/17 (Jawo) – sowie Urteil vom 13.11.2019 – C-540/17 (Hamed und Omar); BVerwG, Urteil vom 21.04.2020 – 1 C 4.19 –.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verlangt grundsätzlich zwar von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Es gilt daher im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. In diesem Kontext ist es in Anbetracht des allgemeinen und absoluten Charakters des Verbots in Art. 4 GRCh für dessen Anwendung gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 (Ibrahim) u.a. und Urteil vom gleichen Tage – C 163/17 (Jawo) – sowie Urteil vom 13.11.2019 – C-540/17 (Hamed und Omar); EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C 411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S./Belgien u. Griechenland - und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel/Italien -.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Daher sind die Gerichte bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für ein solches Risiko verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber/Schutzsuchenden dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C 411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 (Ibrahim) u.a. und Urteil vom gleichen Tage – C 163/17 (Jawo) – sowie Urteil vom 13.11.2019 – C-540/17 (Hamed und Omar); BVerwG, Urteil vom 21.04.2020 – 1 C 4.19 –.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Derartige Schwachstellen fallen allerdings nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist etwa dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person reichen nicht aus, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 (Ibrahim) u.a. und Urteil vom gleichen Tage – C 163/17 (Jawo) – sowie Urteil vom 13.11.2019 – C-540/17 (Hamed und Omar); EGMR, Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel/Italien –; BVerwG, Urteil vom 21.04.2020 – 1 C 4.19 –.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Bloße Unterschiede in den Sozialhilfeleistungen und/oder Lebensverhältnissen reichen insoweit nicht aus.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 (Ibrahim) u.a. und Urteil vom gleichen Tage – C 163/17 (Jawo) – sowie Urteil vom 13.11.2019 – C-540/17 (Hamed und Omar); BVerwG, Urteil vom 21.04.2020 – 1 C 4.19 –.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen des EuGH stehen in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des EGMR, auf die er sich ausdrücklich bezieht. Eine Situation extremer materieller Armut kann danach stets eine für Art. 3 EMRK relevante Frage darstellen kann, wenn Personen vollkommen von staatlicher Unterstützung abhängig sind und in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen und Not, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert sind. Stets ist eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen, was die Möglichkeit von Differenzierungen zwischen dem schon sprichwörtlichen „gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann“ und etwa alten und kranken Menschen impliziert. Zu berücksichtigen ist aber stets, dass Asylsuchende generell eine besonders unterprivilegierte und verletzliche Gruppe darstellen und besonderen Schutz benötigen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"> Vgl. EGMR, Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel/Italien -.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich Bulgarien entspricht es der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts, das dort systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden einzelnen das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Lage von Personen mit Schutzstatus in Bulgarien ist aussichtslos. Seit dem Auslaufen des Nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 gibt es bis heute kein operatives Integrationsprogramm mehr in Bulgarien und damit ist auch in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen. Das Jahr 2020 war das siebte „Zero Integration Year“ in Folge. Seit dem 19.07.2017 gibt es eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Flüchtlingen und Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. In der Praxis ist diese allerdings nahezu wirkungslos. Personen mit Schutzstatus haben zwar formal bis zu einem Zeitraum von 6 Monaten nach der positiven Entscheidung einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung in Höhe des Minimums der staatlichen Sozialhilfe in Bulgarien. Dieser Betrag reicht jedoch anerkanntermaßen nicht aus, um selbst grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft zu befriedigen oder Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erlangen. Die einzige Option zur Erlangung einer Unterkunft während dieser sechsmonatigen Zeit besteht in dem weiteren Verbleib in einem der Aufnahmezentren, was nur ausnahmsweise der Fall ist. Haben Schutzberechtigte eine Unterkunft zwischenzeitlich aus irgendwelchen Gründen verlassen, werden sie dort regelmäßig nach einer Rückkehr nicht mehr untergebracht. Außerhalb der Aufnahmezentren besteht ein hohes Risiko von Obdachlosigkeit, das wegen des Fehlens eines Integrationsprogramms dadurch erhöht wird, dass Flüchtlinge keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld erhalten und auch keine Unterkunft in Obdachlosenunterkünften oder Sozialwohnungen finden können. Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der Zugang zu jeglichen anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgewiesen werden muss. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist dies Schutzberechtigten nahezu unmöglich. Ebenso aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern, zumal unter den in Bulgarien herrschenden schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit einer ohnehin hohen Arbeitslosenquote. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Jobs oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben. Auch der Zugang zu Schule/Bildung ist für Flüchtlingskinder erschwert. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Der monatliche Beitrag für das Gesundheitssystem muss selbst bezahlt werden, eine staatliche Unterstützung gibt es hierfür nicht. Selbst wenn der Beitrag irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. aida, Country Report Bulgaria – jährliche Updates 2018, 2019, 2020 und zuletzt 2021; bordermonitoring.eu, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Bericht vom 30.08.2019: Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus; Auswärtiges Amt, Auskünfte an VG Potsdam vom 16.01.2019, an Niedersächsisches OVG vom 18.07.2017, an VG Stuttgart vom 23.07.2015 und an VG Hamburg vom 30.11.2015; Botschaft Sofia, Auskunft an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Anfragebeantwortung vom 19.07.2021 zu Bulgarien – Situation von subsidiär Schutzberechtigten und Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Bulgarien, Gesamtaktualisierung vom 27.11.2017; Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien vom 04.04.2017 und Bericht über die derzeitige rechtliche, wirtschaftliche und soziale Lage anerkannter Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigter in Bulgarien vom 27.08.2015; Muiznieks-Report (Menschenrechtskommissar des Europarats) vom 22.06.2015; UNHCR, Überblick über den Zugang zu Bildung für Personen unter dem Mandat von UNHCR in Bulgarien, Juni 2015.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Auch wenn konkrete Zahlen über obdachlose Schutzberechtigte nicht vorliegen und teilweise davon ausgegangen wird, dass die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Stellen gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweilenden Flüchtlingen im Ergebnis dazu führe, dass es kaum obdachlose Flüchtlinge gebe,</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Potsdam vom 16.01.2019,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">bleibt anhand der vorstehenden Auskunftslage das Problem der Obdachlosigkeit eines der drängendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien. Dies wird durch aktuelle Erkenntnismittel bestätigt. So geht u.a. UNHCR unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Submission For the Office oft he High Commissioner for Human Rights‘ Compilation Report, UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020; bordermonitoring.eu, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020; SFH, Bericht vom 30.08.2019: Bulgarien und Pressemitteilung vom 12.10.2021 https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/bulgarien-ist-kein-sicherer-drittstaat.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Zusätzlich muss in den Blick genommen werden, dass sich die Situation von Schutzberechtigten und Inländern auch bei formaler Gleichbehandlung strukturell und grundlegend unterscheidet. Bei Sozialleistungen, die – wie in Bulgarien unbestritten der Fall – so bemessen sind, dass sie objektiv nicht zum Überleben ausreichen und nicht die grundlegendsten Bedürfnisse an Unterkunft und medizinischer Versorgung decken, ist der Schutzberechtigte ohne Sprachkenntnisse, ohne jegliche sozialen Kontakte oder familiären Netzwerke und ohne eigene Mittel zu einem menschenunwürdigen Leben am Rande des Existenzminimums verdammt. Zudem stehen ihnen bei einem weitgehend verschlossenen Arbeitsmarkt auch keine Ausweichmöglichkeiten zur Existenzsicherung, wie etwa die Abwanderung auf andere Arbeitsmärkte in der EU, zur Verfügung, da sie anders als Inländer keine Freizügigkeit genießen. Insofern erweist sich bei der gegebenen völligen Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen das Fehlen eines Integrationsprogramms als Ausdruck einer institutionellen manifesten Gleichgültigkeit, die nach der Rechtsprechung des EGMR auch ohne die besonderen Gewährleistungen der Qualifikationsrichtlinie bereits zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen kann.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Zu dem Fehlen nahezu jeglicher staatlicher Unterstützung bei der Sicherung des Existenzminimums und der Befriedigung elementarster Bedürfnisse kommen weit verbreiteter Rassismus und Intoleranz hinzu, dem staatliche Behörden und Politiker nur selten entgegentreten. Es mehren sich im Gegenteil Berichte über Gewaltanwendung von staatlichen Sicherheitskräften gegenüber Flüchtlingen und eine Überlastung des Aufnahmesystems. Das Versäumnis staatlicher bulgarischer Verfolgungsbehörden, möglichen rassistischen Motiven für eine Gewaltanwendung gegenüber dem sudanesischen Beschwerdeführer nachzugehen, hat in der Vergangenheit bereits zu einer Verurteilung Bulgariens durch den EGMR wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK geführt.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Submission For the Office oft he High Commissioner for Human Rights‘ Compilation Report, UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020; bordermonitoring.eu, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020; SFH, Bericht vom 30.08.2019: Bulgarien; Muiznieks-Report (Menschenrechtskommissar des Europarats) vom 22.06.2015; EGMR, Urteil vom 11.03.2014 – Nr. 26827/08 – Abdu/Bulgarien; Human Rights Watch, Bericht vom 16.02.2016, Dispatches: What Bulgaria’s „Respect“ for Refugees Really Looks Like; n-tv.de vom 25.11.2016, Ausschreitungen in Bulgarien – Polizei nimmt 200 Flüchtlinge fest.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel, dass für Personen mit Schutzstatus in Bulgarien unverändert das tatsächliche Risiko einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta besteht. Soweit dies für die Zeit vor Ausbruch der Corona-Pandemie jedenfalls für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer anders bewertet worden ist,</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16.12.2019 – 11 A 228/15.A -; Sächsisches OVG, Urteil vom 13.11.2019 – 4 A 947/17.A -; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 -; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.07.2019 – 4 LB 12/17 -,</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">scheinen die Arbeitsmöglichkeiten in Nischenbereichen (etwa Callcenter für die arabische Sprache) zur Sicherung des Lebensunterhalts stark überbewertet zu sein.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Situation hat sich zusätzlich durch die sozio-ökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie erheblich verschärft. Am härtesten wirkte sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus. Viele Ausländer haben ihren Arbeitsplatz verloren.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu u.a.: OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2022 – 11 A 1625/21.A -; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 14.01.2022 – 20 K 4854/21.A -.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Hinzukommen seit dem 24.02.2022 die Auswirkungen des Zustroms ukrainischer Flüchtlinge nach Bulgarien. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind mehr als 300.000 Menschen in Bulgarien angekommen, ca. 90.000 – 120.000 haben nach Angaben der Regierung vorübergehenden Schutz und Unterkunft erhalten. Ein großzügiges Unterbringungsprogramm für die Flüchtlinge in Hotels an der Schwarzmeerküste wurde zwischenzeitlich beendet. Viele Ukrainer, geschätzt mindestens 30.000, wurden in staatliche Unterkünfte im Landesinneren verlegt.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bordermonitoring.eu, Bulgarien – Update Juli 2022 - <span style="text-decoration:underline">https://bordermonitoring.eu/bulgarien/2022/07/update-bulgarien/</span>; spiegel online vom 30.05.2022 – Bulgarien will Flüchtlinge aus Hotels verbannen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Von ausreichenden freien Aufnahmekapazitäten in Bulgarien, in denen Asylsuchende und Schutzberechtigte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit vorübergehend Unterkunft finden könnten,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">so noch: OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2022 – 11 A 1625/21.A -,</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">kann daher vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen nicht mehr ausgegangen werden. Auch geringfügige Anhaltspunkte für eine wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie sind unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und der europaweit grassierenden Inflation obsolet geworden. Gegenwärtig wird von einer weiter steigenden Arbeitslosenquote von 5,4 % und einer Inflationsrate von 11,9 % - 12,5 % ausgegangen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. GTAI, Bulgarien – Wirtschaftsdaten kompakt, Mai 2022 - <span style="text-decoration:underline">https://www.gtai.de/de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsdaten-kompakt/bulgarien/wirtschaftsdaten-kompakt-bulgarien-156708</span>; European Commission, Economic Forecast for Bulgaria, Summer 2022 - https://economy-finance.ec.europa.eu/economic-surveillance-eu-economies/bulgaria/economic-forecast-bulgaria_en.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ukrainische Flüchtlinge konkurrieren zudem objektiv sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei der Unterbringung mit Flüchtlingen aus anderen Aufnahmeländern und dürften ihnen insoweit erheblich bevorteilt sein.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Möglichkeit einer Existenzsicherung durch eigene Erwerbstätigkeit muss vor diesem Hintergrund daher weiterhin als ausgeschlossen betrachtet werden.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der vorzunehmenden individuellen Betrachtung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass syrische Schutzsuchende infolge der lang andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen in ihrem Heimatland regelmäßig in erheblichem Maße traumatische Erfahrungen gemacht haben und häufig bereits einmal ihre gesamte Existenzgrundlage verloren haben. Sie sind daher in besonders hohem Maße vulnerabel und schutzbedürftig. Die Kläger haben zudem nun einen Säugling zu versorgen und gehören auch aus diesem Grund zu einem besonders vulnerablen Personenkreis.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Ablehnung der Asylanträge als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Ziffer 1 des Bescheides steht zudem entgegen, dass die Kläger einen Anspruch auf die Gewährung von Familienschutz gemäß § 26 Abs. 3 und 5 AsylG haben.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die in § 26 Abs. 3 und 5 AsylG ausdrücklich normierten Voraussetzungen des Familienschutzes, abgeleitet von dem hier geborenen stammberechtigten Kind B. , liegen vor, da diesem im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) internationaler Schutz in Form des subsidiären Schutzes zuerkannt ist und dieser nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Nicht erforderlich ist zur Überzeugung des Gerichts, dass das stammberechtigte Kind bereits im Verfolgerstaat geboren ist oder – wie die Beklagte meint – die Mutter zumindest mit diesem Kind bereits im Herkunftsstaat schwanger gewesen sein muss.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Weder dem Gesetzeswortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG noch der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 AsylG kann entnommen werden, dass der Stammberechtigte bereits vor der Einreise der Familie geboren sein muss. Gefordert wird lediglich die Minderjährigkeit und Ledigkeit des Stammberechtigten zum Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern bzw. der minderjährigen Geschwisterkinder und ein Zusammenhang zwischen der Asylantragstellung der Familienmitglieder und dem Aufenthalt des Stammberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Satz 1 Nr. 2 der Vorschrift, wonach die Familie i. S. d. Art. 2 Buchstabe j der Qualifikationsrichtlinie schon in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Ausreichend ist insoweit vielmehr, dass es bereits im Herkunftsstaat einen Familienverband gegeben haben muss, dem der minderjährige Stammberechtigte angehört und in den er hineingeboren wurde.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 19.05.2017 – A 3 K 3301/16; VG Wiesbaden, Urteil vom 26.09.2018 – 7 K 3271/17.WI.A -; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 27.11.2020 – 10 K 1085/17.A. -; a.A. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.02.2022 – 4 L 85/21 – m.w.N; VG Aachen, Urteil vom 01.06.2021 – 2 K 922/18.A.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die vorstehende Auslegung steht mit der durch die Regelungen des Familienasyls verfolgten gesetzgeberischen Absicht, die im Wesentlichen auf eine Entlastungs- und Vereinfachungsfunktion, aber auch auf die Förderung einer raschen Integration und die Sicherung eines einheitlichen Rechtsstatus der Kernfamilie abzielte, in Einklang.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des Familienschutzes genießen in ihrem Anwendungsbereich auch Vorrang gegenüber dem hier in Rede stehenden Unzulässigkeitsgrund des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2020 – 1 C 8/19 –; OVG NRW vom 09.10.2019 – 11 A 2229/19.A –; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 – 4 L 201/17 –; OVG Lüneburg, Beschluss vom 26.05.2020 – 10 LA 104/20 –.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Erweist sich die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides demnach als rechtswidrig und unterliegt der Aufhebung, so war auch die Entscheidung hinsichtlich der Abschiebungsverbote in Ziffer 2 aufzuheben, da sie jedenfalls verfrüht ergangen ist. In gleicher Weise unterliegen die Ziffern 3 (mit Ausnahme von Satz 4) bis 5 des Bescheides der Aufhebung. Die Beklagte wird nun gehalten sein, die Asylanträge der Kläger sachlich zu bescheiden.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Den Beteiligten steht die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">70</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">2. der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">3. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheides schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten wahlweise statt dessen auch innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mündliche Verhandlung beantragen.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
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346,735 | sg-duisburg-2022-08-26-s-10-r-69816-wa | {
"id": 834,
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} | S 10 R 698/16 WA | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-28T10:01:14 | 2022-10-17T11:10:36 | Beschluss | ECLI:DE:SGDU:2022:0826.S10R698.16WA.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Die Beklagte hat dem Kläger 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Gegenstand des zugrundeliegenden Klageverfahrens war die Befreiung der Versicherungspflicht des Klägers in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist seit dem 11.04.2001 Mitglied des Versorgungswerkes der Rechtsanwälte im Land Nordrhein-Westfalen und war seit Januar 1999 in der Steuerabteilung der tätig. Mit Bescheid der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 03.07.2001 wurde der Kläger mit Wirkung ab dem 11.04.2001 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Wegen Aufnahme einer neuen Tätigkeit als juristischer Steuerreferent bei der Firma GmbH teilte der Kläger der Beklagten mit Schreiben vom 04.06.2012 mit, dass er seit dem 01.03.2012 einen neuen Arbeitgeber habe, für den er ebenfalls als Unternehmens-Steuerjurist tätig sei. Er bat die Beklagte um Bestätigung, dass die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht weiter bestehe. Aus dem von dem Kläger vorgelegten Arbeitsvertrag ergab sich, dass das Arbeitsverhältnis am 01.04.2012 begann. Die Beklagte forderte zahlreiche Unterlagen bei dem Kläger an und lehnte mit Bescheid vom 12.09.2012 den Antrag auf Weitergeltung der mit Bescheid vom 03.07.2001 ausgesprochenen Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI für die abhängige Beschäftigung ab dem 01.04.2012 als juristischer Steuerreferent bei der GmbH ab, weil es sich insoweit um keine berufsspezifische (anwaltliche) Tätigkeit handele. Zur Begründung wurde ausgeführt, für eine berufsspezifische Tätigkeit von Rechtsanwälten, die bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber beschäftigt seien (Syndikusanwälte), könne eine Befreiung nur ausgesprochen werden, wenn diese Tätigkeit die bekannten 4 Kriterien anwaltlicher Tätigkeit bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber (Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung sowie Rechtsvermittlung) kumulativ abdeckten und daher auch ausschließlich für Personen mit diesem beruflichen Hintergrund zugänglich sei. Im Folgenden wurden die einzelnen Kriterien unter Heranziehung der Stellen- und Funktionsbeschreibung des Arbeitgebers ausführlich geprüft und ausgeführt, dass die Merkmale der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung nicht in ausreichendem Maße gegeben seien, sodass nach Würdigung der Gesamtumstände eine anwaltliche Tätigkeit vom Kläger nicht ausgeübt werde.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 02.10.2012 Widerspruch und ging in seiner Widerspruchsbegründung ausschließlich darauf ein, dass aus seiner Sicht die Merkmale der Rechtsgestaltung und der Rechtsentscheidung im Rahmen der Ausübung seiner Tätigkeit gegeben seien und er deshalb von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien sei. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 21.03.2013 zurück und führte zur Begründung aus, eine bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber ausgeübte Beschäftigung sei nur dann anwaltlich, wenn diese die 4 Merkmale anwaltlicher Tätigkeit erfülle (Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung), die im Hinblick auf die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht von dem beschäftigten Rechtsanwalt kumulativ abgedeckt werden müssten. Aus dem Gesamtbild der Beschäftigung des Klägers als Steuerreferent für den Funktionsbereich Steuern ergebe sich, dass der Kläger keine anwaltliche Tätigkeit bei der Firma GmbH ausübe.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">In dem anschließenden Klageverfahren wurde mit Klagebegründungsschriftsatz vom 15.03.2013 eingehend ausgeführt, dass die 4 Merkmale einer anwaltlichen Tätigkeit im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit des Klägers im Steuerbereich der Firma GmbH erfüllt seien.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Während des Klageverfahrens erging ein Bescheid der Rechtsanwaltskammer vom 25.06.2016, mit dem der Kläger aufgrund seines Antrages vom 14.03.2016 als Syndikusrechtsanwalt für seine Tätigkeit bei der Firma GmbH zugelassen wurde. Die Zulassungsurkunde wurde am 08.07.2016 zugestellt. Die Beklagte befreite den Kläger mit Bescheid vom 31.03.2016 für die Zeit ab Zulassung als Syndikusrechtsanwalt ab dem 08.07.2016 von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI. Mit Bescheid der Beklagten vom 31.01.2017 wurde der Kläger darüber hinaus rückwirkend für die in der Zeit vom 01.04.2014 bis zum 07.07.2016 ausgeübte Beschäftigung als Mitarbeiter bei der Firma GmbH nach § 231 Abs. 4 b SGB VI von der Rentenversicherungspflicht befreit. Am 31.01.2017 erging ein weiterer Bescheid der Beklagten, mit dem der Antrag des Klägers vom 31.03.2016 auf rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 231 Abs. 4 b SGB VI für die in der Zeit vom 01.03.2012 bis zum 31.03.2014 ausgeübte Beschäftigung als Mitarbeiter bei GmbH abgelehnt wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass in diesem Zeitraum nur Mindestbeiträge zum berufsständischen Versorgungswerk gezahlt worden seien, was für eine rückwirkende Befreiung nach § 231 Abs. 4 b S. 4 SGB VI i.V.m. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI nicht ausreiche, weil die Zahlung einkommensbezogener Pflichtbeiträge erforderlich sei. Aufgrund einer anderslautenden Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 23.09.2020 (B 5 RE 3/19 R) nahm die Beklagte mit Bescheid vom 22.12.2020 auch für den Zeitraum vom 01.03.2012 bis zum 31.03.2014 rückwirkend nach § 231 Abs. 4 b SGB VI eine Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Daraufhin hat der Kläger mit Schriftsatz vom 25.02.2021 den Rechtsstreit für erledigt erklärt und gerichtliche Kostenentscheidung des Inhaltes beantragt, der Beklagten 1/3 der außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Über die Kostenerstattungspflicht war nach § 193 Abs. 1 S. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zu entscheiden, da das Verfahren durch die als Klagerücknahmeerklärung auszulegende Erledigungserklärung nach § 102 Abs. 1 S. 1 SGG in der Hauptsache erledigt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Kostentragungspflicht nach § 193 Abs. 1 SGG ergeht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen (Meyer-Ladewig § 193 SGG, Rn. 13 m.w.N). Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung maßgeblich. Das Gericht hat bei der Ermessensentscheidung alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, unter Beachtung der Besonderheiten des sozialrechtlichen Verfahrens. Daher ist das voraussichtliche Maß des Obsiegens bzw. Unterliegens nicht das allein wesentliche Entscheidungskriterium, sondern in die Entscheidung können auch Gesichtspunkte, wie die Veranlassung des Rechtsstreits, die Verursachung unnötiger Kosten und die Anpassungsbereitschaft an eine geänderte Rechts- oder Sachlage eingehen. Dabei ist anerkannt, dass sich unter dem Gesichtspunkt der Veranlassung einer Klageerhebung eine ggf. teilweise Kostenerstattungspflicht eines Sozialversicherungsträgers insbesondere durch eine falsche Begründung eines Verwaltungsaktes oder durch eine sonstige falsche Sachbehandlung ergeben kann, auch wenn der Kläger letztlich mit seinem Begehren nicht durchgedrungen ist (vgl. BSG Urteil vom 30.08.2001, B 4 RA 87/00 R; BSG vom 18.07.1989, Az. 10 RKg 22/88; BVerfG Beschluss vom 01.10.2009, Az. 1 BvR 1969/09 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Unter Heranziehung dieser Grundsätze ist zunächst festzustellen, dass die Klage voraussichtlich keine Erfolgsaussicht gehabt hätte, sodass eine teilweise Kostenerstattungspflicht der Beklagten wegen voraussichtlichen Unterliegens nicht in Betracht kommt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Klage hätte ohne die zum 01.01.2016 vorgenommene Änderung der Rechtslage (Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung vom 21.12.2015) voraussichtlich keinen Erfolg gehabt. Der Kläger konnte sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sich die mit Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 03.07.2001 geregelte Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auf die ab dem 01.04.2012 ausgeübte Tätigkeit bei der Firma GmbH erstreckte. Die mit Bescheid vom 03.07.2001 geregelte Befreiung von der Versicherungspflicht bezog sich ausschließlich auf die Tätigkeit, die der Kläger zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides ausübte. Dies ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut des § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI, wonach die Befreiung auf die "jeweilige" Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit beschränkt ist. Die systematische und historische Auslegung der Befreiungsvorschriften ergibt ebenfalls, dass Anknüpfungspunkt einer Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung allein die jeweilige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit des Betroffenen ist (vgl. mit eingehender Begründung: BSG Urteil vom 31.10.2012, B 12 R 3/11 R).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zudem hatte die Klage auch unter dem Gesichtspunkt keine Aussicht auf Erfolg, dass ein Anspruch des Klägers auf erneute Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung im Hinblick auf die seit dem 01.04.2012 ausgeübte Tätigkeit bei der Firma GmbH nicht bestand. Einem Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI stand entgegen, dass die Tätigkeit des Klägers bei der Firma GmbH von vornerein nicht dem Berufsbild des Rechtsanwaltes zugeordnet werden kann. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird derjenige, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis zu einem bestimmten Arbeitgeber steht (Syndikus), in dieser Eigenschaft nicht als Rechtsanwalt tätig, da bei der Tätigkeit als Syndikus für einen Dienstherrn die typischen Wesensmerkmale der freien Berufsausübung, die das Bild des Anwaltes bestimmen, nicht gegeben sind (vgl. mit eingehender Begründung: BSG Urteil vom 03.04.2014, B 5 RE 13/14 R). Die im Rahmen der Beschäftigung bei der Firma GmbH erbrachte Erwerbstätigkeit war damit nach der Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 12.09.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2013 bzw. zum Zeitpunkt der Klageerhebung für die Mitgliedschaft des Klägers bei dem Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Land NRW und die hierdurch parallel zur gesetzlichen Rentenversicherung begründete öffentlich rechtliche Sicherung ohne Bedeutung, sodass es bereits deshalb an der Grundvoraussetzung von § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI fehlt und sich eine weitergehende inhaltliche Prüfung erübrigt.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Ein – teilweises – Unterliegen der Beklagten liegt auch nicht deshalb vor, weil die Beklagte während des Klageverfahrens mit Bescheid vom 21.10.2016 für die Zeit ab Zulassung des Klägers als Syndikusrechtsanwalt eine Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI vorgenommen hat. Diese Entscheidung der Beklagten beruht auf der durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung zum 01.01.2016 in Kraft getretenen Rechtsänderung und der dadurch geschaffenen Möglichkeit, für die Tätigkeit bei der Firma GmbH nach § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO als Syndikusrechtsanwalt zugelassen zu werden. Die nach Änderung der Rechtslage ab dem 01.01.2016 erteilte Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht Gegenstand des Klageverfahrens geworden, da insoweit die Voraussetzungen des § 96 SGG nicht vorliegen (vgl. mit ausführlicher Begründung: BSG Beschluss vom 22.03.2018, B 5 RE 12/17 B; BSG Urteil vom 28.06.2018, B 5 RE 2/17 R). Dies gilt auch für die während des Klageverfahrens ergangenen Bescheide der Beklagten vom 31.01.2017 und vom 22.12.2020, mit denen für die Zeit vom 01.04.2014 bis zum 07.07.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2012 bis zum 31.03.2014 rückwirkend aufgrund der am 01.01.2016 in Kraft getretenen Übergangsregelung des § 231 Abs. 4 b SGB VI eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht vorgenommen worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Eine teilweise Kostenerstattungspflicht der Beklagten im Umfang von 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Klägers ergibt sich jedoch unter dem Gesichtspunkt, dass die Beklagte durch eine unzutreffende Begründung des angefochtenen Bescheides Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat. Die Beklagte hat sowohl im Ausgangsbescheid vom 12.09.2012 als auch im Widerspruchsbescheid vom 21.03.2013 umfangreiche Ausführungen dazu gemacht, dass das Befreiungsrecht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI ausnahmsweise auch Rechtsanwälten zustehen könne, die bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber beschäftigt seien. Es wurde im Einzelnen dargelegt, dass ein Befreiungsrecht bei Ausübung einer Tätigkeit bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber davon abhinge, dass im Rahmen der Beschäftigung die Tätigkeitsfelder Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung sowie Rechtsvermittlung kumulativ abgedeckt würden. Diese Ausführungen der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden sind nicht zutreffend und waren ganz konkret ursächlich dafür, dass der Kläger den Bescheid mit Widerspruch und Klage angefochten hat. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist ein Befreiungsrecht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI im Rahmen einer Beschäftigung bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber von vornherein ausgeschlossen, ohne dass es darauf ankommt, ob die in Frage stehende Beschäftigung inhaltlich Elemente der anwaltlichen Berufstätigkeit aufweist. Das Bundessozialgericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es für die von der Beklagten heran gezogene 4-Kriterien-Theorie an jeder Rechtsgrundlage fehlen würde (vgl. BSG Urteil vom 03.04.2014, B 5 RE 13/14 R). Der Kläger hat seinen Widerspruch und seine Klage maßgeblich damit begründet, dass er im Rahmen seiner Tätigkeit für die Firma GmbH rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsgestaltend und rechtsvermittelnd tätig werde und dass die Beklagte insoweit den Inhalt seiner Tätigkeit und der ihm übertragenen Aufgaben verkannt und deshalb zu einer unrichtigen Beurteilung des Befreiungsrechtes gelangt sei. Damit hat die Beklagte durch die fehlerhafte Begründung des angefochtenen Bescheides Veranlassung zur Klageerhebung gegeben (im Ergebnis ebenso: LSG NRW, Beschluss vom 21.06.2019, L 18 R 681/17; Bayerisches LSG, Beschluss vom 07.01.2019, L 6 R 87/16 – zitiert nach juris).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG).</p>
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346,697 | vg-koln-2022-08-26-8-l-99122 | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 8 L 991/22 | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-24T10:01:51 | 2022-10-17T11:10:32 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0826.8L991.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<ul class="ol"><li><p>1. Der Antrag wird abgelehnt. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p>
</li>
</ul>
<ul class="ol"><li><p>2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 3.750,00 Euro festgesetzt.</p>
</li>
</ul><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Antragsteller,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage vom 8. Juni 2022 (Az.: 8 K 3448/22) gegen die den Beigeladenen unter dem Aktenzeichen 00/000/0000/0000 erteilte Baugenehmigung der Oberbürgermeisterin der Antragsgegnerin anzuordnen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zunächst zulässig. Die Antragsteller haben den Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes formwirksam i. S. d. § 55a Abs. 3 VwGO gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach § 55a Abs. 3 VwGO, der der zivilgerichtlichen Regelung des § 130a Abs. 3 ZPO entspricht und nach § 55a Abs. 1 VwGO für die Einreichung verfahrensbezogener (bestimmender) Schriftsätze bei Gericht gilt, muss ein elektronisches Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein (Alt. 1) oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (Alt. 2).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die von den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller eingereichte Antragsschrift vom 7. Juni 2022 genügt den vorgenannten Anforderungen des § 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Rechtsanwalt N. hat die Antragsschrift nach den Angaben im Prüfvermerk vom 8. Juni 2022 selbst als beA-Postfachinhaber auf einem sicheren Übermittlungsweg übermittelt und zudem seine qualifizierte elektronische Signatur an dem Dokument angebracht. Dies erfolgte in Übereinstimmung mit § 4 Abs. 1 Nr. 1 ERVV, wonach ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen ist, auch „auf einem sicheren Übermittlungsweg“ übermittelt werden darf.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Rechtsanwalt N. ist zudem die den Schriftsatz verantwortende Person i. S. d. § 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Verantwortende Person ist diejenige, deren handschriftliche Unterschrift dem Formerfordernis genügen würde, und die den Inhalt des betreffenden Schriftsatzes geprüft und sich zu Eigen gemacht hat.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. September 2010 – 7 B 15/10 –, juris, Rn. 24; zur „verantwortenden Person“ i. S. d. ZPO: BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2010 – VI ZB 28/10 –, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Durch die Einreichung des elektronischen Dokuments mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, die die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift hat, hat Rechtsanwalt N. die Verantwortung für dessen Inhalt übernommen, ist also „verantwortende Person“ i. S. d. § 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO. Die Rechtswirkung entspricht der der erfolgten eigenhändigen Unterschrift nach § 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog. Danach ist es unerheblich, dass am Schluss des Schriftsatzes der Name „B. T. als einfache Signatur wiedergegeben ist, wobei es auch ohne Bedeutung ist, ob es sich dabei (nur) um ein Redaktionsversehen handelt oder ob der Entwurf des Schriftsatzes von Rechtsanwalt T. stammt. Wie auch außerhalb der elektronischen Übermittlungswege muss ein bevollmächtigter Rechtsanwalt einen bestimmenden Schriftsatz nicht selbst verfasst haben, sondern es genügt, diesen nach eigenverantwortlicher Prüfung zu genehmigen und zu unterschreiben und damit zugleich die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu einem gleichgelagerten Fall: BAG, Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 8 AZN 589/19 –, juris, Rn. 9 f., m. w. N.; offen gelassen: BSG, Beschluss vom 21. Juni 2022 – B 5 R 9/22 B –, juris, Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13. Juni 2022 – 1 LA 1/22 –, juris, Rn 11.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist jedoch nicht begründet.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die im Verfahren nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse der Beigeladenen an der Umsetzung der ihnen erteilten Baugenehmigung, öffentlichen Interessen und dem Interesse der Antragsteller, deren Vollziehung vorerst zu verhindern, fällt zugunsten der Beigeladenen aus. Denn die den Beigeladenen am 28. September 2021 erteilte Baugenehmigung ist nach der gebotenen summarischen Prüfung unter Beachtung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtmäßig und verletzt die Antragsteller nicht in ihren Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Bei einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung kann offenbleiben, ob diese in jeder Hinsicht mit dem materiellen Recht in Einklang steht. Ein Rechtsanspruch des Nachbarn auf Aufhebung besteht nämlich nicht schon dann, wenn eine Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Hinzukommen muss, dass der Nachbar durch die rechtswidrige Baugenehmigung zugleich in eigenen Rechten verletzt wird. Dies setzt voraus, dass die Baugenehmigung gegen Rechtsnormen verstößt, die nachbarschützenden Charakter haben, und der jeweilige Nachbar auch im Hinblick auf seine Nähe zu dem Vorhaben tatsächlich in seinen eigenen Rechten, deren Schutz die Vorschriften zu dienen bestimmt sind, verletzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Maßstab OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 – 2 A 130/16 –, juris, Rn. 26, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend steht die angegriffene Baugenehmigung mit den die Antragsteller schützenden Vorschriften voraussichtlich in Einklang.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die angefochtene Baugenehmigung verletzt die Antragsteller zunächst mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in ihren sich aus dem Bauplanungsrecht ergebenden subjektiven Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Bauvorhaben der Beigeladenen ist bauplanungsrechtlich nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilen. Denn das Vorhaben der Beigeladenen soll im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 00000/00 der Antragsgegnerin realisiert werden. Diese Satzung stellt einen qualifizierten Bebauungsplan im Sinne von § 30 Abs. 1 BauGB dar, weil sie die erforderlichen Mindestfestsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Baugenehmigung der Beigeladenen steht zunächst nicht in nachbarschützender Wirkung entgegen, dass diese möglicherweise zu Unrecht ohne eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Grundflächenzahl erteilt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet der Frage, ob in der Erteilung der Baugenehmigung eine konkludent erteilte Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans Nr. 00000/00 der Beklagten hinsichtlich der Grundflächenzahl durch die beabsichtigte Erweiterung des vorhandenen Baukörpers mit einem Wintergarten gesehen werden kann oder es an einer erforderlichen Befreiungsentscheidung nach § 31 BauGB mangelt, können die Antragsteller hierauf keine Verletzung in nachbarlichen Rechten stützen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Eine - unterstellt - rechtswidrig erteilte Befreiung begründet ein nachbarliches Abwehrrecht nur dann, wenn sie fehlerhaft ist und von einer nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans abweicht. Bei nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans hat der Nachbar über den Anspruch auf Würdigung nachbarlicher Interessen hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde. Nichts anderes gilt im Ergebnis, wenn eine an sich erforderliche Befreiung gar nicht erteilt wurde. Rechte des Nachbarn können in diesen Fällen nur durch die Baugenehmigung selbst, nicht jedoch durch die nicht existierende Befreiung verletzt sein.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1989 – 4 C 14.87 –, juris, Rn. 16; Beschluss vom 8. Juli 1998 – 4 B 64.98 –, juris, Rn. 7.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller rügen, die Baugenehmigung lasse unzulässigerweise Abweichungen von der Grundflächenzahl zu, betrifft dies Fragen des Maßes der baulichen Nutzung (vgl. § 16 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO), die regelmäßig gerade nicht dazu geeignet sind, einen nachbarrechtsrelevanten Baurechtsverstoß zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. Februar 2022 – 2 A 1479/21 –, juris, Rn. 13 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ein nachbarrechtsrelevanter Baurechtsverstoß wird insoweit nur vermittelt, wenn im Einzelfall Maßfestsetzungen zur Quantität in Qualität umschlagen, also die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfasst, vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2018 – 4 C 7.17 –, juris, Rn. 13 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Hierfür ist weder etwas substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vorliegend spricht auch nichts dafür, dass der Plangeber den Festsetzungen zur Grundflächenzahl drittschützende Wirkung zugunsten des Grundstücks der Antragsteller zuerkennen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Inwieweit Festsetzungen eines Bebauungsplans Drittschutz vermitteln, muss den Festsetzungen selbst entnommen werden. Von einer danach neben die städtebauliche Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung von Festsetzungen ist nur dann auszugehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen dahingehenden Willen des Plangebers erkennbar sind. Dies ist in jedem Einzelfall anhand des Inhalts und der Rechtsnatur der Festsetzung, ihres Zusammenspiels mit den anderen Regelungen des Bebauungsplans, der Planbegründung und/oder anderer Vorgänge im Zusammenhang mit der Planaufstellung im Wege der Auslegung zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Juli 2020 – 10 A 3398/19 –, juris, Rn. 32 - 35.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Auch hierfür ist weder etwas substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Aus der Begründung des Bebauungsplans ergibt sich vielmehr, dass dessen Festsetzungen eine städtebauliche Ordnungsfunktion bewirken sollen. Denn die Festsetzungen sollen dem mit der Planung verfolgten Ziel entsprechen, die noch unbebauten Wohnbaulandreserven soweit wie möglich dem Eigenheimbau zuzuführen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller können nach summarischer Prüfung auch nicht geltend machen, ihr Haus verliere durch die genehmigte Errichtung des Wintergartens auf dem Grundstück der Beigeladenen die Eigenschaft als Doppelhaus.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Ein Doppelhaus ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Doppelhäuser sind der offenen Bauweise zuzurechnen, da sie jeweils zur anderen Grundstücksgrenze mit einem seitlichen Grenzabstand errichtet werden, vgl. § 22 Abs. 2 BauNVO.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung zu Doppelhäusern müssen die beiden Gebäude auf den benachbarten Grundstücken einen Gesamt-baukörper bilden, dessen beide Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinander gebaut sind. Das Erfordernis der baulichen Einheit enthält neben dem quantitativen auch ein qualitatives Element. Aufeinander abgestimmt sind die Hälften des Doppelhauses, wenn sie sich in ihrer Grenzbebauung noch als „gleichwertig" und „im richtigen Verhältnis zueinander" und daher als harmonisches Ganzes darstellen, ohne disproportional, als zufällig an der Grundstücksgrenze zusammengefügte Einzelhäuser ohne hinreichende räumliche Verbindung zu erscheinen. Denn kennzeichnend für die offene Bauweise ist der seitliche Grenzabstand der Gebäude; die Hälften des Doppelhauses müssen folglich gemeinsam als ein Gebäude in Erscheinung treten. Dementsprechend muss ein Haus, soll es Teil eines Doppelhauses bzw. einer Hausgruppe sein, ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit dem zugehörigen Nachbarhaus aufweisen, indem es zumindest einzelne der ihm Proportionen und Gestalt gebenden bauliche Elemente aufgreift. Andernfalls wäre der die Hausform kennzeichnende Begriff der baulichen Einheit sinnentleert. Allgemeingültige Kriterien lassen sich jedoch insoweit mit Blick auf die von § 22 Abs. 2 BauNVO verfolgten städtebaulichen Zwecke der Steuerung der Bebauungsdichte sowie der Gestaltung des Orts- und Stadtbildes, die keine einheitliche Gestaltung erfordern, nicht aufstellen. Regelmäßig geben Höhe, Breite und Tiefe, sowie die Zahl der Geschosse und die Dachform einem Haus seine maßgebliche Gestalt. Diese Kriterien können daher im Einzelfall Anhaltspunkte für die Beurteilung des wechselseitigen Abgestimmtseins geben. Auch Übereinstimmungen und Abweichungen in der Kubatur der Häuser infolge hervortretender Bauteile wie Dachterrassen, Gauben und Anbauten können mitentscheidend für die Beantwortung der Frage sein, ob noch von einer baulichen Einheit und damit von einem Doppelhaus die Rede sein kann.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 – 4 C 12/98 –, juris, Rn. 18; Beschluss vom 19. März 2015 – 4 B 65/14 –, juris, Rn. 6; OVG NRW Urteil vom 28. Februar 2012 – 7 A 2444/09 –, juris, Rn. 39; Urteil vom 16. August 2011 – 10 A 1224/09 –, juris, Rn. 35.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Grund hierfür ist die spezifische Wechselbeziehung, die ihren Ursprung in dem wechselseitigen Verzicht auf Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze hat. Die Möglichkeit des Grenzanbaus erweitert für beide Grundstückseigentümer die bauliche Nutzbarkeit des Grundstücks unter gleichzeitigem Verlust der sonst erforderlichen Grenzabstände. Diese für beide Grundstückseigentümer vor- wie nachteiligen Umstände begründen ein nachbarliches Austauschverhältnis, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000, – 4 C 12/98 –, juris, Rn. 21; OVG NRW, Urteil vom 28. Februar 2012 – 7 A 2444/09 –, juris, Rn. 45.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei den vorhandenen Baukörpern auf den Grundstücken der Beigeladenen und des Antragstellers unstreitig um ein Doppelhaus, dass als Gesamtgebäude eine bauliche Einheit darstellt.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Auch durch den nunmehr beabsichtigten Wintergarten und unter Berücksichtigung der auf dem Grundstück der Antragsteller vorhandenen rückwärtigen Anbauten ist das Vorhaben nicht geeignet, den Charakter als Doppelhaus aufzuheben. Der beabsichtigte Wintergarten soll eine Breite von 5,11 m und eine Tiefe von 3,22 m bei einer Höhe von 2,82 m haben. Er bleibt damit in seiner Breite und zum Teil auch hinsichtlich seiner Tiefe und Höhe hinter den Anbauten auf dem Grundstück der Antragsteller – Wintergarten und abschließbare Terrassenüberdachung – zurück.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Das Doppelhaus wird nach wie vor geprägt durch die in einer Linie verlaufenden Straßenfronten und Dachflächen. Auch rückseitig bilden die Hauswände im Bereich des Obergeschosses eine einheitliche Linie und einen einheitlichen Eindruck. Gleiches gilt für die Dachflächen. Die auf dem Grundstück der Antragsteller vorhandenen Anbauten vermögen diesen Eindruck ebenso wenig aufzulösen wie das beabsichtigte Vorhaben. Angesichts der Massivität und Ausmaße der ohne diese Anbauten vorhandenen und auf mehr als 12 m Tiefe aneinander gebauten Baukörper vermitteln sowohl die vorhandenen als auch der streitgegenständliche Anbau einen quantitativ, aber auch qualitativ untergeordneten Eindruck.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dass etwas anderes aufgrund der von den Beigeladenen gewählten Optik für den von ihnen geplanten Wintergarten gelten soll – geplant ist die Errichtung eines Wintergartens in Glasbauweise –, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Antragsteller selbst eine durch Glastüren verschließbare Terrassenüberdachung errichtet haben.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Baugenehmigung verstößt voraussichtlich auch nicht zu Lasten der Antragsteller gegen das Gebot der Rücksichtnahme.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich zunächst nicht aus einer gerügten erdrückenden Wirkung des Vorhabens auf das Nachbargrundstück.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Eine bauliche Anlage kann erdrückende Wirkung haben, wenn sie wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem sie diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe der „erdrückenden“ baulichen Anlage auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls – und gegebenenfalls trotz Freihaltung der erforderlichen Abstandsflächen – derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück oder dessen Bebauung nur noch oder überwiegend wie eine von einer „herrschenden“ baulichen Anlage dominierte Fläche ohne eigene bauliche Charakteristik wahrgenommen wird. Ob eine solche Wirkung zu erwarten ist oder nicht, kann nur unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Neben den Ausmaßen beider Baukörper in ihrem Verhältnis zueinander – zum Beispiel Bauhöhe, Ausdehnung und Gestaltung der Fassaden und Baumasse – kann die Lage der Bauwerke zueinander eine Rolle spielen. Von besonderer Bedeutung im Rahmen dieser Bewertung wird regelmäßig die Entfernung zwischen den Baukörpern beziehungsweise Grundstücksgrenzen sein.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Dezember 2020 – 10 A 179/20 –, juris, Rn. 7 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend ist mit Blick auf die von den Antragstellern angegriffene Baugenehmigung betreffend den geplanten Anbau eines Wintergartens auf dem Vorhabengrundstück für eine „erdrückende Wirkung“ voraussichtlich nichts ersichtlich. Dieser orientiert sich hinsichtlich seiner Dimensionierung an den auf dem Grundstück der Antragsteller errichteten Anbauten. In seiner Tiefe geht er ausweislich der vorliegenden Bauzeichnungen nicht über die auch an den Seiten verschließbare und grenzständig zum Vorhabengrundstück errichtete Terrassenüberdachung auf dem Grundstück der Antragsteller hinaus. Dies gilt insbesondere auch trotz des Umstandes, dass der geplante Wintergarten auf dem Vorhabengrundstück die Terrassenüberdachung der Antragsteller in seiner Höhe um ca. 40 cm überragen soll. Es ist insoweit nicht ersichtlich, wie hieraus unter Berücksichtigung der vorgenannten Merkmale das Gefühl des „Eingemauertseins“ entstehen soll. Besondere Gegebenheiten, die auch unter Berücksichtigung der geplanten Glasbauweise des Wintergartens eine erdrückende Wirkung des Vorhabens nahelegen könnten, insbesondere eine unzumutbare Verschattung des Nachbargrundstücks, sind dadurch weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hinzu tritt, dass die überdachte Terrasse der Antragsteller auf der dem Vorhabengrundstück abgewandten Seite an einen Anbau der Antragsteller grenzt, der diese um deutlich mehr als 40 cm überragt.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für die Befürchtung der Antragsteller, dass vor dem geplanten Wintergarten eine Terrasse entstehen könnte. Unabhängig davon, dass es sich hierbei um nicht substantiierte Befürchtungen handelt, die nicht Gegenstand der angegriffenen Baugenehmigung sind und daher bei der Beurteilung, ob nachbarschützende Vorschriften durch das Bauvorhaben verletzt sein könnten, keine Berücksichtigung finden, erschließt es sich schon im Ansatz nicht, inwiefern von einer ebenerdigen Terrasse eine erdrückende Wirkung oder eine Verschattung ausgehen könnte.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zu Lasten der Antragsteller folgt auch nicht aus etwaig geschaffenen Einsichtnahmemöglichkeiten vom Vorhaben auf das Grundstück der Antragsteller.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Gewähren Fenster, Balkone oder Terrassen eines neuen Gebäudes beziehungsweise Gebäudeteils den Blick auf ein Nachbargrundstück, ist deren Ausrichtung, auch wenn der Blick von dort in einen Ruhebereich des Nachbargrundstücks fällt, nicht aus sich heraus rücksichtslos. Es ist in bebauten Gebieten üblich, dass infolge einer solchen Bebauung erstmals oder zusätzlich Einsichtsmöglichkeiten entstehen. Dies ist regelmäßig hinzunehmen. Der Eigentümer oder Nutzer eines Grundstücks kann nicht beanspruchen, dass ihm auf den Freiflächen seines Grundstücks ein den Blicken Dritter entzogener Bereich verbleibt. Eine auf fehlende Rückzugsmöglichkeiten auf dem betroffenen Grundstück bezogene Bewertung von Einsichtsmöglichkeiten als rücksichtslos ließe sich in dieser Allgemeinheit nicht praktikabel handhaben. Wäre jeder Bauherr unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Öffnungen, Balkone und Freisitze des geplanten Gebäudes keine Blicke auf die umliegenden bebauten Grundstücke eröffnen, die die dort möglicherweise gegebenen „Rückzugsmöglichkeiten“ zunichtemachen, würde dies die Bautätigkeit in nicht wenigen Fällen erheblich erschweren, wenn nicht gar zum Erliegen bringen. Ein im Bauplanungsrecht wurzelnder Anspruch, zumindest auf einem Teil der Freiflächen des eigenen Grundstücks vor fremden Blicken geschützt zu sein, lässt sich auch nicht aus einem Recht auf Privatsphäre herleiten. Dass derjenige, der die eigenen vier Wände verlässt, dabei gesehen und sogar beobachtet werden kann, liegt in der Natur der Sache.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Dezember 2020 – 10 A 179/20 –, juris, Rn. 14 ff.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Grundsätzen ist für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund etwaig geschaffener Einsichtnahmemöglichkeiten auf das Grundstück der Antragsteller voraussichtlich nichts ersichtlich. Für die Beigeladenen werden keine neuen, über das bisherige Maß hinausgehende Möglichkeiten der Einsichtnahme geschaffen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der geplante Wintergarten an eine bereits bestehende grenzständig errichtete Mauer auf dem Grundstück der Antragsteller grenzt, aus diesem also nicht noch zusätzlich eine Einsichtnahme auf das Grundstück der Antragsteller möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, nachdem die Beigeladenen einen Sachantrag gestellt und sich damit auch einem Kostenrisiko ausgesetzt haben (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Bei der Festsetzung des Streitwerts, der gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG nach der sich aus dem Antrag der Antragsteller für diese ergebenden Bedeutung der Sache zu bestimmen ist, hat sich das Gericht an Ziff. 7 Buchst. a und Ziff. 14 Buchst. a des Streitwertkatalogs der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019 orientiert.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,599 | vg-koln-2022-08-26-8-kammer | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 8. Kammer | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-16T10:02:09 | 2022-10-17T11:10:15 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0826.8KAMMER.00 | <h2>Tenor</h2>
<ul class="ol"><li><p>1. Der Antrag wird abgelehnt. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p>
</li>
</ul>
<ul class="ol"><li><p>2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 3.750,00 Euro festgesetzt.</p>
</li>
</ul><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Antragsteller,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage vom 8. Juni 2022 (Az.: 8 K 3448/22) gegen die den Beigeladenen unter dem Aktenzeichen 00/000/0000/0000 erteilte Baugenehmigung der Oberbürgermeisterin der Antragsgegnerin anzuordnen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zunächst zulässig. Die Antragsteller haben den Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes formwirksam i. S. d. § 55a Abs. 3 VwGO gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach § 55a Abs. 3 VwGO, der der zivilgerichtlichen Regelung des § 130a Abs. 3 ZPO entspricht und nach § 55a Abs. 1 VwGO für die Einreichung verfahrensbezogener (bestimmender) Schriftsätze bei Gericht gilt, muss ein elektronisches Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein (Alt. 1) oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (Alt. 2).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die von den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller eingereichte Antragsschrift vom 7. Juni 2022 genügt den vorgenannten Anforderungen des § 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Rechtsanwalt N. hat die Antragsschrift nach den Angaben im Prüfvermerk vom 8. Juni 2022 selbst als beA-Postfachinhaber auf einem sicheren Übermittlungsweg übermittelt und zudem seine qualifizierte elektronische Signatur an dem Dokument angebracht. Dies erfolgte in Übereinstimmung mit § 4 Abs. 1 Nr. 1 ERVV, wonach ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen ist, auch „auf einem sicheren Übermittlungsweg“ übermittelt werden darf.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Rechtsanwalt N. ist zudem die den Schriftsatz verantwortende Person i. S. d. § 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Verantwortende Person ist diejenige, deren handschriftliche Unterschrift dem Formerfordernis genügen würde, und die den Inhalt des betreffenden Schriftsatzes geprüft und sich zu Eigen gemacht hat.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. September 2010 – 7 B 15/10 –, juris, Rn. 24; zur „verantwortenden Person“ i. S. d. ZPO: BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2010 – VI ZB 28/10 –, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Durch die Einreichung des elektronischen Dokuments mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, die die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift hat, hat Rechtsanwalt N. die Verantwortung für dessen Inhalt übernommen, ist also „verantwortende Person“ i. S. d. § 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO. Die Rechtswirkung entspricht der der erfolgten eigenhändigen Unterschrift nach § 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog. Danach ist es unerheblich, dass am Schluss des Schriftsatzes der Name „B. T. als einfache Signatur wiedergegeben ist, wobei es auch ohne Bedeutung ist, ob es sich dabei (nur) um ein Redaktionsversehen handelt oder ob der Entwurf des Schriftsatzes von Rechtsanwalt T. stammt. Wie auch außerhalb der elektronischen Übermittlungswege muss ein bevollmächtigter Rechtsanwalt einen bestimmenden Schriftsatz nicht selbst verfasst haben, sondern es genügt, diesen nach eigenverantwortlicher Prüfung zu genehmigen und zu unterschreiben und damit zugleich die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu einem gleichgelagerten Fall: BAG, Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 8 AZN 589/19 –, juris, Rn. 9 f., m. w. N.; offen gelassen: BSG, Beschluss vom 21. Juni 2022 – B 5 R 9/22 B –, juris, Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13. Juni 2022 – 1 LA 1/22 –, juris, Rn 11.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist jedoch nicht begründet.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die im Verfahren nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse der Beigeladenen an der Umsetzung der ihnen erteilten Baugenehmigung, öffentlichen Interessen und dem Interesse der Antragsteller, deren Vollziehung vorerst zu verhindern, fällt zugunsten der Beigeladenen aus. Denn die den Beigeladenen am 28. September 2021 erteilte Baugenehmigung ist nach der gebotenen summarischen Prüfung unter Beachtung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtmäßig und verletzt die Antragsteller nicht in ihren Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Bei einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung kann offenbleiben, ob diese in jeder Hinsicht mit dem materiellen Recht in Einklang steht. Ein Rechtsanspruch des Nachbarn auf Aufhebung besteht nämlich nicht schon dann, wenn eine Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Hinzukommen muss, dass der Nachbar durch die rechtswidrige Baugenehmigung zugleich in eigenen Rechten verletzt wird. Dies setzt voraus, dass die Baugenehmigung gegen Rechtsnormen verstößt, die nachbarschützenden Charakter haben, und der jeweilige Nachbar auch im Hinblick auf seine Nähe zu dem Vorhaben tatsächlich in seinen eigenen Rechten, deren Schutz die Vorschriften zu dienen bestimmt sind, verletzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Maßstab OVG NRW, Urteil vom 30. Mai 2017 – 2 A 130/16 –, juris, Rn. 26, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend steht die angegriffene Baugenehmigung mit den die Antragsteller schützenden Vorschriften voraussichtlich in Einklang.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die angefochtene Baugenehmigung verletzt die Antragsteller zunächst mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in ihren sich aus dem Bauplanungsrecht ergebenden subjektiven Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Bauvorhaben der Beigeladenen ist bauplanungsrechtlich nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilen. Denn das Vorhaben der Beigeladenen soll im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 00000/00 der Antragsgegnerin realisiert werden. Diese Satzung stellt einen qualifizierten Bebauungsplan im Sinne von § 30 Abs. 1 BauGB dar, weil sie die erforderlichen Mindestfestsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Baugenehmigung der Beigeladenen steht zunächst nicht in nachbarschützender Wirkung entgegen, dass diese möglicherweise zu Unrecht ohne eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Grundflächenzahl erteilt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet der Frage, ob in der Erteilung der Baugenehmigung eine konkludent erteilte Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans Nr. 00000/00 der Beklagten hinsichtlich der Grundflächenzahl durch die beabsichtigte Erweiterung des vorhandenen Baukörpers mit einem Wintergarten gesehen werden kann oder es an einer erforderlichen Befreiungsentscheidung nach § 31 BauGB mangelt, können die Antragsteller hierauf keine Verletzung in nachbarlichen Rechten stützen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Eine - unterstellt - rechtswidrig erteilte Befreiung begründet ein nachbarliches Abwehrrecht nur dann, wenn sie fehlerhaft ist und von einer nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans abweicht. Bei nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans hat der Nachbar über den Anspruch auf Würdigung nachbarlicher Interessen hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde. Nichts anderes gilt im Ergebnis, wenn eine an sich erforderliche Befreiung gar nicht erteilt wurde. Rechte des Nachbarn können in diesen Fällen nur durch die Baugenehmigung selbst, nicht jedoch durch die nicht existierende Befreiung verletzt sein.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1989 – 4 C 14.87 –, juris, Rn. 16; Beschluss vom 8. Juli 1998 – 4 B 64.98 –, juris, Rn. 7.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller rügen, die Baugenehmigung lasse unzulässigerweise Abweichungen von der Grundflächenzahl zu, betrifft dies Fragen des Maßes der baulichen Nutzung (vgl. § 16 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO), die regelmäßig gerade nicht dazu geeignet sind, einen nachbarrechtsrelevanten Baurechtsverstoß zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. Februar 2022 – 2 A 1479/21 –, juris, Rn. 13 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ein nachbarrechtsrelevanter Baurechtsverstoß wird insoweit nur vermittelt, wenn im Einzelfall Maßfestsetzungen zur Quantität in Qualität umschlagen, also die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfasst, vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2018 – 4 C 7.17 –, juris, Rn. 13 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Hierfür ist weder etwas substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vorliegend spricht auch nichts dafür, dass der Plangeber den Festsetzungen zur Grundflächenzahl drittschützende Wirkung zugunsten des Grundstücks der Antragsteller zuerkennen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Inwieweit Festsetzungen eines Bebauungsplans Drittschutz vermitteln, muss den Festsetzungen selbst entnommen werden. Von einer danach neben die städtebauliche Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung von Festsetzungen ist nur dann auszugehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen dahingehenden Willen des Plangebers erkennbar sind. Dies ist in jedem Einzelfall anhand des Inhalts und der Rechtsnatur der Festsetzung, ihres Zusammenspiels mit den anderen Regelungen des Bebauungsplans, der Planbegründung und/oder anderer Vorgänge im Zusammenhang mit der Planaufstellung im Wege der Auslegung zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Juli 2020 – 10 A 3398/19 –, juris, Rn. 32 - 35.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Auch hierfür ist weder etwas substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Aus der Begründung des Bebauungsplans ergibt sich vielmehr, dass dessen Festsetzungen eine städtebauliche Ordnungsfunktion bewirken sollen. Denn die Festsetzungen sollen dem mit der Planung verfolgten Ziel entsprechen, die noch unbebauten Wohnbaulandreserven soweit wie möglich dem Eigenheimbau zuzuführen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller können nach summarischer Prüfung auch nicht geltend machen, ihr Haus verliere durch die genehmigte Errichtung des Wintergartens auf dem Grundstück der Beigeladenen die Eigenschaft als Doppelhaus.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Ein Doppelhaus ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Doppelhäuser sind der offenen Bauweise zuzurechnen, da sie jeweils zur anderen Grundstücksgrenze mit einem seitlichen Grenzabstand errichtet werden, vgl. § 22 Abs. 2 BauNVO.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung zu Doppelhäusern müssen die beiden Gebäude auf den benachbarten Grundstücken einen Gesamt-baukörper bilden, dessen beide Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinander gebaut sind. Das Erfordernis der baulichen Einheit enthält neben dem quantitativen auch ein qualitatives Element. Aufeinander abgestimmt sind die Hälften des Doppelhauses, wenn sie sich in ihrer Grenzbebauung noch als „gleichwertig" und „im richtigen Verhältnis zueinander" und daher als harmonisches Ganzes darstellen, ohne disproportional, als zufällig an der Grundstücksgrenze zusammengefügte Einzelhäuser ohne hinreichende räumliche Verbindung zu erscheinen. Denn kennzeichnend für die offene Bauweise ist der seitliche Grenzabstand der Gebäude; die Hälften des Doppelhauses müssen folglich gemeinsam als ein Gebäude in Erscheinung treten. Dementsprechend muss ein Haus, soll es Teil eines Doppelhauses bzw. einer Hausgruppe sein, ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit dem zugehörigen Nachbarhaus aufweisen, indem es zumindest einzelne der ihm Proportionen und Gestalt gebenden bauliche Elemente aufgreift. Andernfalls wäre der die Hausform kennzeichnende Begriff der baulichen Einheit sinnentleert. Allgemeingültige Kriterien lassen sich jedoch insoweit mit Blick auf die von § 22 Abs. 2 BauNVO verfolgten städtebaulichen Zwecke der Steuerung der Bebauungsdichte sowie der Gestaltung des Orts- und Stadtbildes, die keine einheitliche Gestaltung erfordern, nicht aufstellen. Regelmäßig geben Höhe, Breite und Tiefe, sowie die Zahl der Geschosse und die Dachform einem Haus seine maßgebliche Gestalt. Diese Kriterien können daher im Einzelfall Anhaltspunkte für die Beurteilung des wechselseitigen Abgestimmtseins geben. Auch Übereinstimmungen und Abweichungen in der Kubatur der Häuser infolge hervortretender Bauteile wie Dachterrassen, Gauben und Anbauten können mitentscheidend für die Beantwortung der Frage sein, ob noch von einer baulichen Einheit und damit von einem Doppelhaus die Rede sein kann.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 – 4 C 12/98 –, juris, Rn. 18; Beschluss vom 19. März 2015 – 4 B 65/14 –, juris, Rn. 6; OVG NRW Urteil vom 28. Februar 2012 – 7 A 2444/09 –, juris, Rn. 39; Urteil vom 16. August 2011 – 10 A 1224/09 –, juris, Rn. 35.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Grund hierfür ist die spezifische Wechselbeziehung, die ihren Ursprung in dem wechselseitigen Verzicht auf Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze hat. Die Möglichkeit des Grenzanbaus erweitert für beide Grundstückseigentümer die bauliche Nutzbarkeit des Grundstücks unter gleichzeitigem Verlust der sonst erforderlichen Grenzabstände. Diese für beide Grundstückseigentümer vor- wie nachteiligen Umstände begründen ein nachbarliches Austauschverhältnis, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000, – 4 C 12/98 –, juris, Rn. 21; OVG NRW, Urteil vom 28. Februar 2012 – 7 A 2444/09 –, juris, Rn. 45.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei den vorhandenen Baukörpern auf den Grundstücken der Beigeladenen und des Antragstellers unstreitig um ein Doppelhaus, dass als Gesamtgebäude eine bauliche Einheit darstellt.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Auch durch den nunmehr beabsichtigten Wintergarten und unter Berücksichtigung der auf dem Grundstück der Antragsteller vorhandenen rückwärtigen Anbauten ist das Vorhaben nicht geeignet, den Charakter als Doppelhaus aufzuheben. Der beabsichtigte Wintergarten soll eine Breite von 5,11 m und eine Tiefe von 3,22 m bei einer Höhe von 2,82 m haben. Er bleibt damit in seiner Breite und zum Teil auch hinsichtlich seiner Tiefe und Höhe hinter den Anbauten auf dem Grundstück der Antragsteller – Wintergarten und abschließbare Terrassenüberdachung – zurück.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Das Doppelhaus wird nach wie vor geprägt durch die in einer Linie verlaufenden Straßenfronten und Dachflächen. Auch rückseitig bilden die Hauswände im Bereich des Obergeschosses eine einheitliche Linie und einen einheitlichen Eindruck. Gleiches gilt für die Dachflächen. Die auf dem Grundstück der Antragsteller vorhandenen Anbauten vermögen diesen Eindruck ebenso wenig aufzulösen wie das beabsichtigte Vorhaben. Angesichts der Massivität und Ausmaße der ohne diese Anbauten vorhandenen und auf mehr als 12 m Tiefe aneinander gebauten Baukörper vermitteln sowohl die vorhandenen als auch der streitgegenständliche Anbau einen quantitativ, aber auch qualitativ untergeordneten Eindruck.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dass etwas anderes aufgrund der von den Beigeladenen gewählten Optik für den von ihnen geplanten Wintergarten gelten soll – geplant ist die Errichtung eines Wintergartens in Glasbauweise –, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Antragsteller selbst eine durch Glastüren verschließbare Terrassenüberdachung errichtet haben.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Baugenehmigung verstößt voraussichtlich auch nicht zu Lasten der Antragsteller gegen das Gebot der Rücksichtnahme.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich zunächst nicht aus einer gerügten erdrückenden Wirkung des Vorhabens auf das Nachbargrundstück.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Eine bauliche Anlage kann erdrückende Wirkung haben, wenn sie wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem sie diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe der „erdrückenden“ baulichen Anlage auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls – und gegebenenfalls trotz Freihaltung der erforderlichen Abstandsflächen – derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück oder dessen Bebauung nur noch oder überwiegend wie eine von einer „herrschenden“ baulichen Anlage dominierte Fläche ohne eigene bauliche Charakteristik wahrgenommen wird. Ob eine solche Wirkung zu erwarten ist oder nicht, kann nur unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Neben den Ausmaßen beider Baukörper in ihrem Verhältnis zueinander – zum Beispiel Bauhöhe, Ausdehnung und Gestaltung der Fassaden und Baumasse – kann die Lage der Bauwerke zueinander eine Rolle spielen. Von besonderer Bedeutung im Rahmen dieser Bewertung wird regelmäßig die Entfernung zwischen den Baukörpern beziehungsweise Grundstücksgrenzen sein.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Dezember 2020 – 10 A 179/20 –, juris, Rn. 7 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend ist mit Blick auf die von den Antragstellern angegriffene Baugenehmigung betreffend den geplanten Anbau eines Wintergartens auf dem Vorhabengrundstück für eine „erdrückende Wirkung“ voraussichtlich nichts ersichtlich. Dieser orientiert sich hinsichtlich seiner Dimensionierung an den auf dem Grundstück der Antragsteller errichteten Anbauten. In seiner Tiefe geht er ausweislich der vorliegenden Bauzeichnungen nicht über die auch an den Seiten verschließbare und grenzständig zum Vorhabengrundstück errichtete Terrassenüberdachung auf dem Grundstück der Antragsteller hinaus. Dies gilt insbesondere auch trotz des Umstandes, dass der geplante Wintergarten auf dem Vorhabengrundstück die Terrassenüberdachung der Antragsteller in seiner Höhe um ca. 40 cm überragen soll. Es ist insoweit nicht ersichtlich, wie hieraus unter Berücksichtigung der vorgenannten Merkmale das Gefühl des „Eingemauertseins“ entstehen soll. Besondere Gegebenheiten, die auch unter Berücksichtigung der geplanten Glasbauweise des Wintergartens eine erdrückende Wirkung des Vorhabens nahelegen könnten, insbesondere eine unzumutbare Verschattung des Nachbargrundstücks, sind dadurch weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hinzu tritt, dass die überdachte Terrasse der Antragsteller auf der dem Vorhabengrundstück abgewandten Seite an einen Anbau der Antragsteller grenzt, der diese um deutlich mehr als 40 cm überragt.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für die Befürchtung der Antragsteller, dass vor dem geplanten Wintergarten eine Terrasse entstehen könnte. Unabhängig davon, dass es sich hierbei um nicht substantiierte Befürchtungen handelt, die nicht Gegenstand der angegriffenen Baugenehmigung sind und daher bei der Beurteilung, ob nachbarschützende Vorschriften durch das Bauvorhaben verletzt sein könnten, keine Berücksichtigung finden, erschließt es sich schon im Ansatz nicht, inwiefern von einer ebenerdigen Terrasse eine erdrückende Wirkung oder eine Verschattung ausgehen könnte.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zu Lasten der Antragsteller folgt auch nicht aus etwaig geschaffenen Einsichtnahmemöglichkeiten vom Vorhaben auf das Grundstück der Antragsteller.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Gewähren Fenster, Balkone oder Terrassen eines neuen Gebäudes beziehungsweise Gebäudeteils den Blick auf ein Nachbargrundstück, ist deren Ausrichtung, auch wenn der Blick von dort in einen Ruhebereich des Nachbargrundstücks fällt, nicht aus sich heraus rücksichtslos. Es ist in bebauten Gebieten üblich, dass infolge einer solchen Bebauung erstmals oder zusätzlich Einsichtsmöglichkeiten entstehen. Dies ist regelmäßig hinzunehmen. Der Eigentümer oder Nutzer eines Grundstücks kann nicht beanspruchen, dass ihm auf den Freiflächen seines Grundstücks ein den Blicken Dritter entzogener Bereich verbleibt. Eine auf fehlende Rückzugsmöglichkeiten auf dem betroffenen Grundstück bezogene Bewertung von Einsichtsmöglichkeiten als rücksichtslos ließe sich in dieser Allgemeinheit nicht praktikabel handhaben. Wäre jeder Bauherr unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Öffnungen, Balkone und Freisitze des geplanten Gebäudes keine Blicke auf die umliegenden bebauten Grundstücke eröffnen, die die dort möglicherweise gegebenen „Rückzugsmöglichkeiten“ zunichtemachen, würde dies die Bautätigkeit in nicht wenigen Fällen erheblich erschweren, wenn nicht gar zum Erliegen bringen. Ein im Bauplanungsrecht wurzelnder Anspruch, zumindest auf einem Teil der Freiflächen des eigenen Grundstücks vor fremden Blicken geschützt zu sein, lässt sich auch nicht aus einem Recht auf Privatsphäre herleiten. Dass derjenige, der die eigenen vier Wände verlässt, dabei gesehen und sogar beobachtet werden kann, liegt in der Natur der Sache.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Dezember 2020 – 10 A 179/20 –, juris, Rn. 14 ff.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Grundsätzen ist für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund etwaig geschaffener Einsichtnahmemöglichkeiten auf das Grundstück der Antragsteller voraussichtlich nichts ersichtlich. Für die Beigeladenen werden keine neuen, über das bisherige Maß hinausgehende Möglichkeiten der Einsichtnahme geschaffen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der geplante Wintergarten an eine bereits bestehende grenzständig errichtete Mauer auf dem Grundstück der Antragsteller grenzt, aus diesem also nicht noch zusätzlich eine Einsichtnahme auf das Grundstück der Antragsteller möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, nachdem die Beigeladenen einen Sachantrag gestellt und sich damit auch einem Kostenrisiko ausgesetzt haben (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Bei der Festsetzung des Streitwerts, der gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG nach der sich aus dem Antrag der Antragsteller für diese ergebenden Bedeutung der Sache zu bestimmen ist, hat sich das Gericht an Ziff. 7 Buchst. a und Ziff. 14 Buchst. a des Streitwertkatalogs der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019 orientiert.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,533 | olgce-2022-08-26-2-ws-18122 | {
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"name": "Oberlandesgericht Celle",
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div><dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong> Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Hannover - 1. Strafvollstreckungskammer - vom 05.07.2022 (Az.: 71 StVK 40/22) wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.</strong></p></dd>
</dl></div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong> I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Verurteilte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Delmenhorst vom 16.07.2018 (Az.: 81 Ds 630 Js 60969/18 - 57/18) wegen Diebstahls, Betruges sowie Computerbetruges (Datum der letzten Tat: 11.08.2017) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, gebildet aus Einzelfreiheitsstrafen von zwei Monaten, vier Monaten und acht Monaten. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt. Weiterhin wurde er mit Strafbefehl des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 30.06.2020 (Az.: 308 Ds 135 Js 13532/18) wegen Unterschlagung in neun Fällen (Datum der letzten Tat: 26.06.2018) mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten belegt, gebildet aus Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Monat. Die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe wurde gleichfalls zur Bewährung ausgesetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 17.03.2021 führte das Amtsgericht Delmenhorst diese Freiheitsstrafen im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 460 StPO unter Auflösung der jeweiligen Gesamtstrafen auf eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zurück und setzte deren Vollstreckung wiederum zur Bewährung aus. Der Beschluss ist seit dem 16.07.2021 rechtskräftig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Zwischenzeitlich war der Verurteilte durch Urteil des Amtsgerichts Hildesheim vom 20.01.2020 (Az.: 119 Ds 14 Js 18867/19) wegen Computerbetruges in vier Fällen, davon in zwei Fällen tateinheitlich mit Urkundenfälschung (Datum der Taten: März 2020) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Nach Verwerfung der hiergegen eingelegten Berufung durch Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.07.2020 (Az.: 13 Ns 14 Js 18867/19) ist das Urteil seit dem 29.10.2020 rechtskräftig. Der Verurteilte befindet derzeit seit dem 11.10.2021 zur Verbüßung dieser Freiheitsstrafe in der JVA H.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses vom 17.03.2021 über die Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe hatte das Amtsgericht Delmenhorst keine Kenntnis von der zwischenzeitlichen Verurteilung des Verurteilten durch das Amtsgericht Hildesheim oder die diesem Urteil zugrundeliegenden Taten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 05.07.2022 widerrief das Landgericht Hannover - Strafvollstreckungskammer - die dem Verurteilten im Gesamtstrafenbeschluss vom 17.03.2021 gewährte Aussetzung der Vollstreckung der hierin neu gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung, da der Verurteilte nach Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung durch das Urteil des Amtsgerichts Delmenhorst vom 16.07.2018 innerhalb der dortigen Bewährungszeit weitere Straftaten begangen habe, nämlich diejenigen, die anschließend zu seiner Verurteilung durch das Amtsgericht Hildesheim führten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 07.07.2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die zulässige sofortige Beschwerde ist unbegründet. Das Landgericht Hannover - Strafvollstreckungskammer - hat zurecht die Aussetzung der Vollstreckung der im Gesamtstrafenbeschluss vom 17.03.2021 gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung widerrufen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Denn der Verurteilte ist innerhalb der vom Amtsgericht Delmenhorst festgelegten Bewährungszeit bereits wenige Monate nach seiner Verurteilung erneut mit einschlägigen Delikten straffällig geworden und hat hierdurch gezeigt, dass sich die in ihn gesetzte Erwartung, er werde auch ohne den Vollzug der Freiheitsstrafe künftig keine weiteren Straftaten begehen, nicht erfüllt hat und stattdessen auch in der Zukunft weitere Straftaten von ihm zu befürchten sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>a) Dem Widerruf steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt der neuen Taten der in den Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Delmenhorst einbezogene Strafbefehl des Amtsgerichts Aschaffenburg noch nicht ergangen war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Bislang ist umstritten, ob der Widerruf einer durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund einer weiteren Straftat des Verurteilten allenfalls dann möglich sein könne, wenn diese Tat innerhalb der Bewährungszeit sämtlicher dem Gesamtstrafenbeschluss zugrundeliegender Verurteilungen liegt (so: Senat, 2 Ws 285/10, Beschluss v. 24.08.2010; LG Berlin, 528 Qs 90/13, Beschluss v. 16.09.2013; S/S-<em>Kinzig</em>, StGB, § 56f, Rn 5), oder ob es ausreicht, dass diese Tat innerhalb der Bewährungszeit des als erstes ergangenen einbezogenen Urteils, aber noch vor dem bzw. den nachfolgenden einbezogenen Entscheidungen begangen wurde (so: OLG Hamm, 3 Ws 304/14, Beschluss v. 18.09.2014; OLG Stuttgart, 4 Ws 293/18, Beschluss v. 12.12.2018; OLG Bremen, 1 Ws 111/19, Beschluss v. 17.09.2019).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>b) Soweit es der Senat bislang aufgrund dogmatischer Bedenken für erforderlich gehalten hatte, dass eine neue Straftat des Verurteilten nur dann den Widerruf einer durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen könne, wenn die neue Straftat innerhalb der Bewährungszeit sämtlicher einbezogener Entscheidungen begangen wurde (Senat, 2 Ws 285/10, Beschluss v. 24.08.2010), hält der Senat hieran nicht mehr fest.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Denn die besseren Argumente sprechen dafür, die Widerrufsmöglichkeit auch auf Fallkonstellationen zu erstrecken, in denen die neue Tat nur in die Bewährungszeit der zeitlich ersten einbezogenen Entscheidung fällt (vgl. bzgl. allem folgenden: OLG Hamm, a.a.O., OLG Stuttgart, a.a.O., OLG Bremen a.a.O.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>aa) Bereits der Wortlaut des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB streitet hierfür. Denn als Voraussetzung für den Widerruf wird hier ausdrücklich lediglich auf die Begehung einer weiteren Straftat im Zeitraum zwischen der Strafaussetzung zur Bewährung in <span style="text-decoration:underline">einem</span> einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung, nicht aber auf die Strafaussetzung in sämtlichen einbezogenen Urteilen Bezug genommen. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Neufassung des § 56f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB auch eine Fassung in Betracht gezogen worden war, nach der dementgegen nur Straftaten, die in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung „in <span style="text-decoration:underline">den einbezogenen Urteilen</span>“ und der Gesamtstrafenentscheidung einen Widerruf ermöglichen sollten (vgl. BT-Drucks. 10/2720, S. 22), zeigt die letztlich geschaffene Regelung, dass der Gesetzgeber sich bewusst unter diesen Alternativen dafür entschieden hat, bereits in der Bewährungszeit einer der einbezogenen Entscheidungen begangene Straftaten für einen Widerruf der Bewährung ausreichen zu lassen (vgl. BT-Drucks. 16/3038, S. 58). Im Wortlaut des § 56f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB kommt daher auch der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>bb) Nicht entgegen steht, dass durch § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB auf den Widerrufsgrund des § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB verwiesen wird, wonach eine erneute Straftat nur dann einen Widerruf begründen kann, wenn sie nach der zum Widerrufszeitpunkt maßgeblichen Aussetzungsentscheidung, im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung also nach dem Gesamtstrafenbeschluss, begangen worden ist. Denn § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB gilt ausweislich § 56f Abs. 1 S. 2 StGB nur entsprechend, ist also nur sinngemäß anzuwenden. Dies lässt durchaus die Auslegung zu, dass es nach der Bildung einer Gesamtstrafe nicht auf den Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung, sondern auf die erstmalige Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung ankommt. Denn bereits von diesem Zeitpunkt an war der Verurteilte gewarnt und musste sich bewusst sein, dass neue Straftaten zu einer Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe führen können. Dass dem Verurteilten trotz dieser Kenntnis bis zu dem Zeitpunkt einer weiteren Verurteilung, aus der später gemeinsam mit der ersten Verurteilung eine Gesamtstrafe gebildet wird, eine Phase der Konsequenzlosigkeit weiterer Straftaten für die ihm gewährte Bewährung eingeräumt werden soll, erscheint als nicht nachvollziehbar. Dies gilt umso mehr, als dem Verurteilten auch die Begehung der zur zweiten, einbezogenen Verurteilung führenden Straftaten bereits zum Zeitpunkt seiner ersten Verurteilung bekannt war und er deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Aussetzungsentscheidung haben konnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Hierfür spricht auch, dass § 57 Abs. 5 StGB für den Fall des Widerrufs der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung gleicherweise die entsprechende Anwendung des § 56f StGB anordnet, hierbei aber ausdrücklich auch eine zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung begangene weitere Tat für einen Widerruf der Bewährung ausreichen lässt, sofern das aussetzende Gericht von der zwischenzeitlich begangenen Straftat keine Kenntnis hatte. Diese Wertung, dass auch vor der letzten Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung begangene Straftaten zu einer Abänderung der Bewährungsentscheidung führen können, wenn zum Zeitpunkt dieser Entscheidung der einer Aussetzung entgegenstehende Umstand der Begehung weiterer Straftaten seit der Verurteilung nicht bekannt war, lässt sich auf die durch § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB gleichfalls angeordnete entsprechende Anwendung des § 56f Abs. 1 S. 1 StGB übertragen. Denn auch hier liegt der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung die Unkenntnis von neuen Straftaten des Verurteilten zugrunde. Auf den Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung ist daher für die Möglichkeit eines Widerrufs aufgrund einer zwischen Verurteilung und Gesamtstrafenbildung begangenen weiteren Straftat nur dann abzustellen, wenn die Entscheidung über die Gesamtstrafenbildung in Kenntnis der zwischenzeitlich begangenen weiteren Tat erfolgte, das Gericht also bewusst trotz der erneuten Tatbegehung weiterhin eine positive Prognoseentscheidung getroffen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>cc) Schließlich spricht für die Auffassung, dass bereits die Begehung einer weiteren Straftat nach der zeitlich ersten einbezogenen Verurteilung für einen Widerruf der später durch eine Gesamtstrafenentscheidung gewährten Strafaussetzung zur Bewährung ausreicht, dass § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB sowohl auf eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung durch Beschluss gemäß § 460 StPO als auch auf eine Gesamtstrafenbildung im Rahmen der Einbeziehung einer vorangegangenen Entscheidung durch ein Urteil gemäß § 55 StGB Anwendung findet (vgl. BT-Drucks. 16/3038, S. 58).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Gesetzgeber zeigt durch diese Erstreckung des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB auf die Fälle des § 55 StGB, dass es für den Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe gerade nicht darauf ankommen soll, ob der Verurteilte die in ihn gesetzte Erwartung eines künftig straffreien Lebens in sämtlichen der Gesamtstrafenentscheidung zugrundeliegenden Urteilen enttäuscht hat (so noch: Senat a.a.O.), sondern bereits die Enttäuschung dieser Erwartung in der ersten Verurteilung zu einem Widerruf der in einer später unter Einbeziehung dieser Verurteilung gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe erfolgten Aussetzung zur Bewährung führen kann und die von der ersten Verurteilung ausgehende Warnfunktion ausreichen soll.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Denn im Falle der Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB durch ein Urteil ist die zweite Verurteilung mit der Gesamtstrafenentscheidung identisch. Eine weitere Tat zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung, die gemäß § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB einen Widerruf begründen kann, liegt bei einer Gesamtstrafenbildung durch § 55 StGB daher praktisch immer nach der ersten, aber noch vor der zweiten Verurteilung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Auf Gesamtfreiheitsstrafen, die gemäß § 55 StGB gebildet werden, wäre § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB daher ohne relevanten Anwendungsbereich, wenn zu fordern wäre, dass die weitere Tat nach sämtlichen Verurteilungen, aber noch vor Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung begangen worden ist. Denkbar wäre eine Anwendung des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB insofern allenfalls noch bei der Begehung einer weiteren Straftat zwischen Verkündung und Rechtskraft der zweiten Verurteilung. Dass der Gesetzgeber aber den Anwendungsbereich derart einschränken wollte, ist nicht anzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>III.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 StPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE268932022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,484 | lg-dusseldorf-2022-08-26-12-o-24722 | {
"id": 808,
"name": "Landgericht Düsseldorf",
"slug": "lg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 12 O 247/22 | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-08T10:01:25 | 2022-10-17T11:09:55 | Beschluss | ECLI:DE:LGD:2022:0826.12O247.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>I.</p>
<p>Der Antragsgegnerin wird untersagt,</p>
<p>1. im Rahmen geschäftlicher Handlungen gegenüber Verbrauchern im Zusammenhang mit Strom- und Gaslieferverträgen außerhalb der Grundversorgung, in denen für eine bestimmte Dauer eine Preisfixierung (Festpreis) für die Strom- und Gaslieferung vereinbart wurde, die – wie in den in Anlage AS 4 abgebildeten AGB unter Punkt 7.1 bzw. 7.3 und 6.1 für Stromtarife und/oder Punkt 7.2 und 6.1 für Gastarife geregelt – auch die Kosten für Energiebeschaffung umfasst,</p>
<p> a. während des vereinbarten Zeitraums der Preisfixierung einseitig eine Erhöhung des Strom- und/oder Gaspreises mitzuteilen, wenn die angekündigte Strom- und/oder Gaspreisänderung die Kosten für Energiebeschaffung umfasst, wenn dies geschieht wie mit dem in Anlage AS 5 abgebildeten Schreiben vom 29.07.2022,</p>
<p> und/oder</p>
<p> b. Verbrauchern, denen eine Mitteilung mit gleichem Inhalt übermittelt wurde wie im Antrag zu I.1.a. angeführt, für die Belieferung mit Strom und/oder Gas während der vereinbarten Laufzeit der Preisfixierung Preise in Rechnung zu stellen und/oder Entgelte einzuziehen, die über die vor Erhalt der Mitteilung geltenden Preise hinausgehen;</p>
<p> und/oder</p>
<p> 2. ab dem 01.09.2022 folgende und diesen inhaltsgleichen Klauseln in Bezug auf Dauerschuldverhältnisse über die Belieferung mit Strom und/oder Gas zu verwenden, sofern nicht der Vertrag mit einer Person abgeschlossen wird, die in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt (Unternehmer):</p>
<p> a. "[3.1.] Für den Fall, dass dem Kunden eine Preisfixierung (eingeschränkte Preisgarantie) gewährt wurde, gilt die Laufzeit der Preisfixierung auf unbestimmte Zeit. Die Preisfixierung kann beidseitig mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden."</p>
<p> b. "[3.2] Der Preis für eine Preisfixierung (eingeschränkte Preisgarantie) wird durch den Lieferanten nach billigem Ermessen gemäß § 315 BGB bestimmt. Für den Fall, dass dem Kunden eine Preisfixierung gewährt wurde, ist der Lieferant berechtigt, den Preis für die Preisfixierung durch einseitige Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen gern. § 315 BGB anzupassen (Erhöhungen oder Senkungen). Anlass für eine Preisanpassung ist ausschließlich eine Änderung der Kosten für Energiebeschaffung oder Vertrieb, des an den Netzbetreiber anzuführenden Netzentgelts oder der operativen Kosten des Lieferanten."</p>
<p>II.</p>
<p>Der Antragsgegnerin wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses gerichtliche Verbot als Zwangsvollstreckungsmaßnahmen Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten angedroht.</p>
<p>III.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens werden der Antragsgegnerin auferlegt.</p>
<p>IV.</p>
<p>Mit diesem Beschluss soll eine Abschrift der Antragsschrift und ihrer Anlagen zugestellt werden.</p>
<p>V.</p>
<p>Der Verfahrenswert wird auf "bis 16.000,00 EUR" festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegnerin wird untersagt,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. im Rahmen geschäftlicher Handlungen gegenüber Verbrauchern im Zusammenhang mit Strom- und Gaslieferverträgen außerhalb der Grundversorgung, in denen für eine bestimmte Dauer eine Preisfixierung (Festpreis) für die Strom- und Gaslieferung vereinbart wurde, die – wie in den in Anlage AS 4 abgebildeten AGB unter Punkt 7.1 bzw. 7.3 und 6.1 für Stromtarife und/oder Punkt 7.2 und 6.1 für Gastarife geregelt – auch die Kosten für Energiebeschaffung umfasst,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"> a. während des vereinbarten Zeitraums der Preisfixierung einseitig eine Erhöhung des Strom- und/oder Gaspreises mitzuteilen, wenn die angekündigte Strom- und/oder Gaspreisänderung die Kosten für Energiebeschaffung umfasst, wenn dies geschieht wie mit dem in Anlage AS 5 abgebildeten Schreiben vom 29.07.2022,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"> und/oder</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks"> b. Verbrauchern, denen eine Mitteilung mit gleichem Inhalt übermittelt wurde wie im Antrag zu I.1.a. angeführt, für die Belieferung mit Strom und/oder Gas während der vereinbarten Laufzeit der Preisfixierung Preise in Rechnung zu stellen und/oder Entgelte einzuziehen, die über die vor Erhalt der Mitteilung geltenden Preise hinausgehen;</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks"> und/oder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks"> 2. ab dem 01.09.2022 folgende und diesen inhaltsgleichen Klauseln in Bezug auf Dauerschuldverhältnisse über die Belieferung mit Strom und/oder Gas zu verwenden, sofern nicht der Vertrag mit einer Person abgeschlossen wird, die in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt (Unternehmer):</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks"> a. "[3.1.] Für den Fall, dass dem Kunden eine Preisfixierung (eingeschränkte Preisgarantie) gewährt wurde, gilt die Laufzeit der Preisfixierung auf unbestimmte Zeit. Die Preisfixierung kann beidseitig mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden."</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"> b. "[3.2] Der Preis für eine Preisfixierung (eingeschränkte Preisgarantie) wird durch den Lieferanten nach billigem Ermessen gemäß § 315 BGB bestimmt. Für den Fall, dass dem Kunden eine Preisfixierung gewährt wurde, ist der Lieferant berechtigt, den Preis für die Preisfixierung durch einseitige Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen gern. § 315 BGB anzupassen (Erhöhungen oder Senkungen). Anlass für eine Preisanpassung ist ausschließlich eine Änderung der Kosten für Energiebeschaffung oder Vertrieb, des an den Netzbetreiber anzuführenden Netzentgelts oder der operativen Kosten des Lieferanten."</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegnerin wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses gerichtliche Verbot als Zwangsvollstreckungsmaßnahmen Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten angedroht.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kosten des Verfahrens werden der Antragsgegnerin auferlegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">IV.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mit diesem Beschluss soll eine Abschrift der Antragsschrift und ihrer Anlagen zugestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">V.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Verfahrenswert wird auf "bis 16.000,00 EUR" festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsbehelfsbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann Widerspruch eingelegt werden. Dieser ist bei dem Landgericht Düsseldorf, Werdener Straße 1, 40227 Düsseldorf, in deutscher Sprache zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Parteien müssen sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere muss die Widerspruchsschrift von einem solchen unterzeichnet sein.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Auf die Pflicht zur elektronischen Einreichung durch professionelle Einreicher/innen ab dem 01.01.2022 durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013, das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 und das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 05.10.2021 wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Weitere Informationen erhalten Sie auf der Internetseite <span style="text-decoration:underline">www.justiz.de</span>.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Düsseldorf, 26.08.202212. Zivilkammer</p>
<span class="absatzRechts">26</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>HVorsitzende Richterin am Landgericht</p>
</td>
<td><p>XRichter am Landgericht</p>
</td>
<td><p>IRichterin</p>
</td>
</tr>
<tr><td></td>
<td></td>
<td></td>
</tr>
</tbody>
</table>
|
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} | 1 KN 12/20 | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-08T10:00:48 | 2022-10-17T11:09:54 | Urteil | ECLI:DE:OVGSH:2022:0826.1KN12.20.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Normenkontrollantrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tatbestand<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller wendet sich im Wege der Normenkontrolle gegen die Veränderungssperre der Antragsgegnerin für das Gebiet des in Aufstellung befindlichen Bebauungsplans Nr. 7 „Windvorranggebiet“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Am 9. Dezember 2019 beantragte der Antragsteller beim Kreis Schleswig-Flensburg eine Baugenehmigung im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren für die Errichtung einer Kleinwindkraftanlage vom Typ Easy Wind 6AC mit einer Gesamthöhe von 22,40 m und einer Nennleistung von 6 kW in der südöstlichen Ecke des in seinem Eigentum stehenden Flurstücks ... der Flur ..., Gemarkung Wallsbüll, im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>In ihrer Sitzung am 28. Januar 2020 beschloss die Gemeindevertretung der Antragsgegnerin eine Änderung des geltenden Flächennutzungsplans und die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 7 „Windvorranggebiet“. Zur Begründung führte sie aus, dass in dem für die Regionalplanung vorgesehenen Vorranggebiet für Windenergieanlagen unter anderem die Standorte und die zulässigen Höhen für die Windenergieanlagen festgesetzt werden sollten. In derselben Sitzung beschloss die Gemeindevertretung eine Veränderungssperre gemäß § 14 BauGB für das Gebiet des in Aufstellung befindlichen Bebauungsplans Nr. 7 „Windvorranggebiet“ südlich der Landesstraße 192, nördlich der „Ellunder Straße“ und östlich der „Wallsbek“ auf den Flurstücken 1, 5, 15, 2, 3, 13 der Flur 1, Gemarkung Wallsbüll, und den Flurstücken 8/1, 9/1, 10 und 17 der Flur 2, Gemarkung Wallsbüll. § 2 der Satzung enthält unter Bezugnahme auf § 14 Abs. 1 BauGB die Regelung, dass Vorhaben im Sinne des § 29 BauGB nicht durchgeführt werden dürfen. § 3 der Satzung trifft Regelungen zum Inkrafttreten und zum Außerkrafttreten. Der im Originalvorgang als Blatt 10 folgende Lageplan ist mit „Anlage Veränderungssperre Satzung Wallsbüll“ überschrieben. Er weist die in § 1 der Satzung genannten Flurstücke gelb unterlegt aus. Sämtliche Flurstücke ragen in eine hellgrün unterlegte, mit einer wellenförmigen Linie umfasste Fläche hinein, die nach ihrer äußeren Form dem im Regionalplan für den Planungsraum I dargestellten Windvorranggebiet entspricht, soweit es im Gebiet der Antragsgegnerin liegt. Außerhalb der gelb unterlegten Fläche befindet sich ein schwarzumrandetes Kästchen mit dem Text Geltungsbereich: - 8. Änderung Flächennutzungsplan, - Bebauungsplan Nr. 7 „Windvorranggebiet“, - Satzung über die Veränderungssperre für das Gebiet des in Aufstellung befindlichen B-Plan Nr. 7 „Windvorranggebiet“. Von diesem führt ein schwarzer Strich in die hellgrün unterlegte Fläche.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die in diesem Lageplan hellgrün unterlegte Fläche umfasst u. a. die südöstliche Ecke des im Eigentum des Antragstellers stehenden Flurstücks 1 der Flur 1, Gemarkung Wallsbüll, d. h. den vom ihm geplanten Standort für die Kleinwindkraftanlage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Aufstellungsbeschlüsse des Bebauungsplans Nr. 7 und der 8. Änderung des Flächennutzungsplans sowie die Satzung über die Veränderungssperre wurden am 31. Januar 2020 im Mitteilungsblatt für das Amt Schafflund bekannt gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Nachdem die Antragsgegnerin mit einer am 17. Februar 2020 beim Kreis Schleswig-Flensburg eingegangenen Stellungnahme ihr Einvernehmen zu der vom Antragsteller beantragten Baugenehmigung unter Hinweis auf die Veränderungssperre versagt hatte, lehnte der Kreis den Bauantrag mit Bescheid vom 11. März 2020 ebenfalls unter Hinweis auf die Veränderungssperre ab. Entgegen der Auffassung des Antragstellers, der im Rahmen der Anhörung geltend gemacht hatte, dass die Veränderungssperre sich nachhaltig auf die Aufstellung von Großwindanlagen richte, die aber ohnehin im Zuständigkeitsbereich des LLUR lägen, während seine Kleinwindanlage vom zuständigen Bauamt beschieden werden könne, sei sein Bauvorhaben unabhängig von Höhe und produzierter Energiemenge von § 29 BauGB erfasst. Der Zulassung einer Ausnahme stünden öffentliche Belange, nämlich die Wahrung der gemeindlichen Planungshoheit entgegen. Mit dem Bebauungsplan sollten Standorte und zulässige Höhen für Windenergieanlagen festgesetzt werden. Demgegenüber sei das private Interesse des Antragstellers, der geltend gemacht hatte, die von ihm geplante Anlage diene lediglich der Speicherung und Betankung seines Elektrofahrzeugs, überwiegend finanzieller und ökologischer Natur. Zudem habe die Gemeinde das nach § 36 BauGB erforderliche Einvernehmen mit Hinweis auf die Veränderungssperre versagt. Über den hiergegen am 24. März 2020 eingelegten Widerspruch wurde noch nicht entschieden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>In der Sitzung der Gemeindevertretung der Antragsgegnerin vom 19. Januar 2022 wurde beschlossen, die Geltungsdauer der am 28. Januar 2020 beschlossenen Veränderungssperre um ein Jahr zu verlängern. Nach § 3 der Verlängerungssatzung soll sie am Tage nach ihrer Bekanntmachung im Amtlichen Mitteilungsblatt des Amtes Schafflund in Kraft und nach Ablauf eines Jahres außer Kraft treten. Die Bekanntmachung der Satzung über die Veränderungssperre erfolgte am 21. Januar 2022 im Mitteilungsblatt für das Amt Schafflund.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat am 26. März 2020 den vorliegenden Antrag auf Normenkontrolle gestellt. Er macht geltend, dass der Antrag zulässig sei. Ohne die Veränderungssperre habe er eine reale Chance, sein eigentliches Ziel, nämlich die Errichtung seiner bereits beschafften, landwirtschaftlich privilegierten kleinen Windenergieanlage zu erreichen. In der Sache fehle es schon am Planerfordernis nach § 1 Abs. 3 BauGB, da Bauleitpläne gemäß § 1 Abs. 4 BauGB ohnehin den Zielen der Raumordnung anzupassen seien. Eine auf § 16 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO gestützte Höhenbeschränkung für Windenergieanlagen könne zu einer rechtswidrigen Zielabweichung von der Regionalplanung führen. Zudem sei die beabsichtigte Bauleitplanung der Antragsgegnerin entgegen § 1 Abs. 3 BauGB von städtebaulich sachfremden Erwägungen geprägt, nämlich der offensichtlichen Bevorzugung einer bestimmten Gesellschaftsform, hier eines Bürgerwindparks. In einem an die Landeigentümer in der Windeignungsfläche Wallsbüll/Ellund gerichteten Schreiben vom 19. Januar 2020 habe der Bürgermeister der Antragsgegnerin unter anderem ausgeführt, dass die Gemeindevertretung die Entwicklung dieser Windeignungsfläche „sicherlich nur als 100%iger Bürgerwindpark mit Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürger aus den betroffenen Gemeinden“ begleiten wolle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin wolle die vorgesehenen Flächen ausschließlich für den Bürgerwindpark gesichert haben und habe deshalb die Veränderungssperre erlassen. Jedenfalls habe eine Bürgerwindparkgesellschaft Bürgerwindpark ... den betroffenen Grundstückseigentümern, d. h. auch ihm, Nutzungsverträge vorgelegt, die sie hätten unterzeichnen sollen, damit dort vier Windenergieanlagen errichtet werden könnten. Der Gesellschaftszweck dieser Gesellschaft laute laut Handelsregister: Gegenstand des Unternehmens ist die Planung und Errichtung von Windenergieanlagen im Windeignungsgebiet PR1_SLF_ 012 der Gemeinde Wallsbüll, das Betreiben dieser Anlagen sowie die Einspeisung und Vermarktung der erzeugten Energie. Auch wenn die Regionalpläne in allen drei Planungsräumen angefochten seien, seien sie zunächst zu beachten. Die Verlängerung der Veränderungssperre sei schon deshalb unwirksam, weil „Umstände“ im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 3 BauGB nicht dargelegt worden seien und die Voraussetzungen für den Erlass einer Veränderungssperre nicht vorlägen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Veränderungssperre der Antragsgegnerin vom 28. Januar 2020 in der Fassung der 1. Verlängerung vom 19. Januar 2022 für das Gebiet des in Aufstellung befindlichen Bebauungsplans Nr. 7 „Windvorranggebiet“ südlich der Landesstraße 192, nördlich der „Ellunder Straße“ und östlich der „Wallsbek“ für unwirksam zu erklären.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Normenkontrollantrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Sie macht geltend, dass der Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig sei. Ein solches folge nicht aus der Absicht des Antragstellers, eine Kleinwindkraftanlage vom Typ Easy Wind mit einer Gesamthöhe von 22,40 m zu errichten. Der Erfolg seines Normenkontrollantrags würde seine Rechtsstellung nicht verbessern, denn im Falle der Unwirksamkeit der Veränderungssperre würde sich die Zulässigkeit, da der Bebauungsplan Nr. 7 noch nicht in Kraft sei und noch nicht den Stand nach § 33 BauGB erreicht habe, nach § 35 BauGB richten. Die Kleinwindkraftanlage sei weder privilegiert noch sonst zulässig. Sie diene nicht einem land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb im Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB. Der Antragsteller habe lediglich mitgeteilt, dass er an der Anlage sein Elektrofahrzeug aufladen wolle. Er sei auch nicht in der Nähe des Standorts der Kleinwindkraftanlage betriebsansässig, sondern lebe etwa 90 Fahrkilometer entfernt in Wöhrden. Die in seinem Eigentum stehenden landwirtschaftlichen Flächen am Vorhabenstandort seien verpachtet und nicht Teil seines Betriebs. Die in etwa 480, 550 und 820 m Entfernung vom Vorhabenstandort gelegenen Hofstellen gehörten ihm nicht. Auch liege der Vorhabenstandort mitten in der Feldmark und nicht etwa nahe an einer Hofstelle. Das Vorhaben sei also auch keine bloße Nebenanlage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Das Vorhaben diene auch nicht der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Wind- oder Wasserenergie im Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB. Denn es sei nicht überwiegend zur Einspeisung von Strom in das öffentliche Netz vorgesehen, sondern nur zum Laden eines Elektrofahrzeugs.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Es fehle auch an der gemäß § 35 BauGB erforderlichen Nachhaltigkeit. Dafür sei eine allgemeine Sinnhaftigkeit des Vorhabens erforderlich, die hier fehle. Die Inanspruchnahme des Außenbereichs sei nicht objektiv verhältnismäßig. Weder sei bekannt, ob der Antragsteller ein Elektrofahrzeug besitze, noch sei er am Vorhabenstandort oder in dessen Nähe wohnhaft oder betriebsansässig. Die landwirtschaftlichen Flächen am Vorhabenstandort seien verpachtet. Die Kleinwindkraftanlage solle mitten in der freien Feldmark entstehen. Einen Netzanschluss gebe es dort nicht. Einen solchen nur für die Kleinwindkraftanlage über hunderte Meter zu verlegen, sei ersichtlich nicht sinnvoll. Es sei auch nicht vorstellbar, wie die Kleinwindkraftanlage unmittelbar und ohne Netzanschluss zum Aufladen eines Elektrofahrzeugs genutzt werden solle. Die Erstellung einer wassergebundenen Zuwegung zum Vorhaben sei nicht sinnvoll. Die Gestaltung wäre in jeder Form „hochgradig kurios“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Nutzen der Kleinwindkraftanlage für den Antragsteller dürfe vielmehr nur darin liegen, dass sie der Entstehung eines Windparks im Vorranggebiet für die Windkraftnutzung entgegenstehen könnte. Der Antragsteller habe deshalb schon bei der Vorhabenträgerin jenes Windparks auf die Zahlung von Geld für seinen Verzicht auf die Kleinwindkraftanlage hingewirkt. Andere (zumal objektive) Zwecke der Windkraftanlage seien nicht erkennbar. Der Zweck, durch den Verzicht auf eine Verhinderung des größeren Windparks Geld einzunehmen, sei baurechtlich nicht berücksichtigungsfähig, wenn die Kleinwindkraftanlage, wie hier, sonst sinnlos sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Der Antrag sei auch unbegründet. Die Veränderungssperre sei wirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Der Veränderungssperre liege mit dem Ziel, dass u. a. die Standorte und die zulässigen Höhen für die Windenergieanlagen festgesetzt werden sollen, eine ausreichend konkretisierte Planung zugrunde. Bereits aus dem Aufstellungsbeschluss ergebe sich, dass 1. mit dem Bebauungsplan die Festsetzung eines entsprechenden Sondergebiets (§ 11 Abs. 2 BauNVO) ins Auge gefasst sei, dass 2. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (zulässige Höhen) und 3. Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen (Standorte) getroffen werden sollten. Die Klärung weiterer Detailfragen, etwa die Lösung von Nutzungskonflikten, sei erst Aufgabe der im Aufstellungsverfahren vorzunehmenden planerischen Abwägung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Es fehle auch nicht am Planerfordernis nach § 1 Abs. 3 BauGB. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass nicht eine antizipierte Normenkontrolle hinsichtlich des noch aufzustellenden Bebauungsplans stattfinde, sondern zu prüfen sei, ob die Veränderungssperre eine offensichtlich unzulässige Bebauungsplanung sicherstellen solle. Das sei vorliegend nicht der Fall.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Unzutreffend sei ferner, dass es der beabsichtigten bauleiterplanerischen Festsetzungen neben den raumordnerischen Festlegungen überhaupt nicht bedürfe. Zwar seien Ziele der Raumordnung verbindlich und im Rahmen der Bauleitplanung zu beachten. Diese Verbindlichkeit gehe jedoch nur so weit, wie eine abschließende Abwägung - auch hinsichtlich der gemeindlichen Belange - bereits bei der Raumplanung stattgefunden habe. In diesem Rahmen bleibe der Gemeinde Raum für eine Konkretisierung mit bauleitplanerischen Mitteln. Ihr sei es zwar untersagt, von der Konzentrationsflächenplanung im Regionalplan durch Ausweisung von Windenergieflächen an anderer Stelle abzuweichen oder eine starke flächenmäßige Einschränkung gegenüber den raumordnerischen Festlegungen oder eine „Wegplanung“ vorzunehmen, die Gemeinde dürfe aber die Errichtung von Windenergieanlagen in den Konzentrationszonen durch einen Bebauungsplan einer Feinsteuerung unterziehen. Das Fehlen eines Überplanungsverbots ergebe sich auch ausdrücklich aus dem Textteil des Regionalplans für den Planungsraum I in Schleswig-Holstein, Kapitel 5.8 (Windenergie an Land). Von diesem Planungsspielraum mache sie, die Antragsgegnerin, Gebrauch. Die geplanten Festsetzungen seien städtebaulich begründet. Es bestehe ein Bedürfnis, die betroffenen Nutzungsinteressen in diesem Bereich aufeinander abzustimmen, gerade auch um der Windenergienutzung bestmöglich Raum zu verschaffen. Es sei sicherzustellen, dass die nach den raumordnerischen Festlegungen vorgesehene Windenergienutzung nicht durch andere Nutzungen und insbesondere die Errichtung anderer baulicher Anlagen und die hierdurch entstehenden Konflikte beeinträchtigt werde. So bestehe beispielsweise im Falle der Errichtung einer kleinen Windkraftanlage die Gefahr, dass hierdurch die Errichtung einer großen, raumbedeutsamen Windenergieanlage, die ausschließlich innerhalb des Windvorranggebiets zulässig sei, an einem bestimmten Standort im Windvorranggebiet deshalb nicht genehmigt werden könne, weil sie die Standsicherheit der kleinen Anlage gefährde. Um derartige potenzielle Konflikte zu vermeiden, bedürfe es einer Vorfestlegung der Standorte durch entsprechende Festsetzung in einem Bebauungsplan.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Auch sei die Festsetzung von maximal zulässigen Höhen für Windenergieanlagen in einem Bebauungsplan nicht unzulässig. Der Regionalplan sehe nur vor, dass auf landesplanerischer Ebene und in den Regionalplänen keine Höhenbegrenzungen festzulegen seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Unzutreffend sei, dass sie städtebaufremde, also nicht mit der baulichen Nutzung von Boden zusammenhängende Ziele verfolge. Eine planerische Einheimischenklausel sei gerade nicht vorgesehen. Die Aussage zu einem 100-%igen Bürgerwindpark im Schreiben des Bürgermeisters vom 19. Januar 2020 habe keinerlei Bezug zu ihrer Bauleitplanung. Hintergrund dieses Schreibens an die Eigentümer sei gewesen, dass der Bürgermeister nach Bekanntwerden der Ausweisung des Windvorranggebiets Anrufe von Bürgern erhalten habe, die sich für die Schaffung eines solchen Bürgerwindparks ausgesprochen hätten. Das vorliegende Planaufstellungsverfahren sei mit dem der Entscheidung des Senats vom 4. April 2013 - 1 LB 7/12 -, Rn 43, juris, zugrundeliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Dort sei ausdrücklich ein Bürgerwindpark festgesetzt worden, während die vorliegend vorgesehenen Festsetzungen dem Katalog des § 9 Abs. 1 BauGB entnommen seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Antragsgegnerin vorgetragen, dass ihre Gemeindevertretung am 8. August 2022 die 8. Änderung des Flächennutzungsplans und den Bebauungsplan Nr. 7 „Windvorranggebiet“, dessen Bekanntgabe nach der noch ausstehenden Genehmigung des Flächennutzungsplans erfolgen werde, beschlossen habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Entscheidungsgründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Der Normenkontrollantrag ist zulässig (I.), aber unbegründet (II.)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>I. Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Der Antragsteller ist antragsbefugt. Gemäß § 47 Abs. 2 VwGO kann jede natürliche oder juristische Person, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift einen Normenkontrollantrag beim Oberverwaltungsgericht stellen. Der Antragsteller ist als Eigentümer eines Grundstücks in dem von der Veränderungssperre erfassten Gebiet, dessen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung für eine Kleinwindkraftanlage unter Hinweis auf die Veränderungssperre abgelehnt worden ist, antragsbefugt. Der am 26. März 2020 gestellte Normenkontrollantrag wahrt angesichts der Bekanntmachung im „Mitteilungsblatt für das Amt Schafflund“ vom 31. Januar 2020 die Jahresfrist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Eine obsiegende Entscheidung kann die Rechtsstellung des Antragstellers verbessern, da die von ihm beantragte Baugenehmigung unter Hinweis auf die Veränderungssperre abgelehnt worden ist. Der Antrag ist auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Antragsgegnerin zulässig. Einer abschließenden Klärung der Frage, ob das Vorhaben des Antragstellers im Falle der Unwirksamkeit der Veränderungssperre nach § 35 BauGB zulässig ist, bedarf es für die Annahme eines Rechtsschutzbedürfnisses nicht (vgl. Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 30.09.2021 - 1 MR 2/21 -, Rn. 18, juris). Nur ergänzend verweist der Senat deshalb darauf, dass entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin von der Privilegierung der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Wind- oder Wasserenergie nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB nicht nur solche Windkraftanlagen erfasst werden, die überwiegend zur Einspeisung von Strom in das öffentliche Netz vorgesehen sind (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2021, § 35 Rn. 58b; Rieger, in: Schrödter, BauGB, 9. Aufl., § 35 Rn. 71, ausdrücklich gegen Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Aufl. 2019, Rn. 34). Anders als in § 35 Abs. 1 Nr. 3 BauGB hat der Gesetzgeber gerade nicht vorgesehen, dass das Vorhaben der öffentlichen Versorgung mit Elektrizität dient.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt auch nicht deshalb, weil § 3 der Satzung über die Veränderungssperre vom 28. Januar 2020 bestimmt, dass diese am Tage ihrer Bekanntmachung in Kraft und spätestens nach Ablauf von zwei Jahren außer Kraft tritt. Das Normenkontrollverfahren hat sich dadurch nicht durch Zeitablauf erledigt, da die Antragsgegnerin die Geltungsdauer der Veränderungssperre verlängert hat. Es handelt sich bei dieser Verlängerung nicht um eine selbstständige Veränderungssperre, sondern nur um die Verlängerung der Geltungsdauer der ursprünglichen Veränderungssperre. Diese bleibt als Gegenstand des Normenkontrollverfahrens erhalten. Materiell und prozessual sind die ursprüngliche Veränderungssperre und ihre Verlängerung als Einheit anzusehen (Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 22.11.2021 - 1 KN 20/19 -, Rn. 27, juris; Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 02.12.2015 - 1 KN 21/14 -, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 19.02.2004 - 4 CN 16.03 -, Rn. 16, juris). Die Satzung über die 1. Verlängerung der Geltungsdauer der Veränderungssperre ist auch rechtzeitig vor Ablauf der Zweijahresfrist in Kraft getreten. Die Veränderungssperre vom 28. Januar 2020 ist nach den Regelungen der Bekanntmachungsverordnung am 1. Februar 2020 wirksam geworden und am 31. Januar 2022 außer Kraft getreten. Die örtliche Bekanntmachung ist nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 BekanntVO im Falle des Abdrucks im amtlichen Bekanntmachungsblatt mit Ablauf des Erscheinungstages bewirkt. Bei Erscheinen des Mitteilungsblatts am 31. Januar 2020 war die Veränderungssperre vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Januar 2022 wirksam. Die Satzung über die 1. Verlängerung der Geltungsdauer der Veränderungssperre vom 19. Januar 2022 ist bei Erscheinen am 21. Januar 2022 mit Ablauf des 21. Januar 2022 rechtzeitig vor Ablauf der Zweijahresfrist in Kraft getreten. Da § 1 der Satzung vom 19. Januar 2022 ausdrücklich bestimmt, dass die Veränderungssperre um ein Jahr verlängert wird, tritt sie trotz der missverständlichen Formulierung in § 3 der Satzung vom 19. Januar 2022, wonach die Veränderungssperre „nach Ablauf eines Jahres außer Kraft“ tritt, nicht ein Jahr nach der Bekanntmachung am 21. Januar 2022, sondern ein Jahr nach Außerkrafttreten der Ausgangsveränderungssperre, d. h. am 31. Januar 2023 außer Kraft.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Dem Rechtsschutzbedürfnis steht auch nicht entgegen, dass die Satzung vom 19. Januar 2022 nach ihrem § 3 Satz 3, der insoweit § 17 Abs. 5 BauGB entspricht, in jedem Fall außer Kraft tritt, sobald und soweit für ihren Geltungsbereich der Bebauungsplan Nr. 7 Rechtsverbindlichkeit erlangt. Denn Rechtsverbindlichkeit erlangt ein Bebauungsplan nicht bereits mit der Beschlussfassung durch die Gemeinde, sondern erst mit der – hier noch ausstehenden – Bekanntmachung (vgl. § 10 Abs. 3 Satz 4 BauGB).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>II. Der Antrag ist nicht begründet. Der Antrag ist gemäß § 47 Abs. 1 VwGO begründet, wenn die Satzung ungültig ist, d. h. wenn sie an einem formellen oder materiellen Fehler leidet, der nach den §§ 214, 215 BauGB vom Gericht beachtet werden muss. Das ist hier nicht der Fall.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 14 BauGB kann die Gemeinde, wenn ein Beschluss über die Aufstellung eines Bebauungsplans gefasst ist, zur Sicherung der Planung für den künftigen Planbereich eine Veränderungssperre mit dem Inhalt beschließen, dass 1. Vorhaben im Sinne des § 29 BauGB nicht durchgeführt oder bauliche Anlagen nicht beseitigt werden dürfen; 2. erhebliche oder wesentlich wertsteigernde Veränderungen von Grundstücken und baulichen Anlagen, deren Veränderungen nicht genehmigungs-, zustimmungs- oder anzeigepflichtig sind, nicht vorgenommen werden dürfen. Die Veränderungssperre wird von der Gemeinde als Satzung beschlossen (§ 16 Abs. 1 BauGB).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>1. Die Veränderungssperre und ihre Verlängerung sind formell rechtmäßig. Formelle Fehler der Satzung über die Veränderungssperre und ihrer Verlängerung sind weder geltend gemacht worden noch ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>2. Die Veränderungssperre ist materiell rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>a) Die allgemeinen Voraussetzungen einer Veränderungssperre (§ 14 Abs. 1 BauGB) sind erfüllt. Die Veränderungssperre hat ausweislich § 2 der Satzung vom 28. Januar 2020 den in § 14 BauGB vorgesehenen Inhalt und zwar beschränkt auf § 14 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BauGB, den Ausschluss von Vorhaben nach § 29 BauGB. In derselben Sitzung der Gemeindevertretung ist zuvor ein Planaufstellungsbeschluss gefasst worden (§ 14 Abs. 1 Halbs. 1 BauGB). Fehler hinsichtlich des Beschlussverfahrens sind nicht geltend gemacht worden und sind auch sonst nicht ersichtlich. Der Aufstellungsbeschluss ist wirksam ortsüblich bekannt gemacht worden (§ 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB). Gemäß § 10 Abs. 3 der Hauptsatzung der Antragsgegnerin erfolgen „andere gesetzlich vorgeschriebene öffentliche Bekanntmachungen“, soweit nichts anderes bestimmt ist, ebenfalls in der Form des Absatzes 1, d. h. durch Bekanntmachung im „Mitteilungsblatt für das Amt Schafflund“. Ein Ausdruck des nur digital erscheinenden Mitteilungsblatts ist vorgelegt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>b) Der Planaufstellungsbeschluss erfüllt auch das Erfordernis einer zu sichernden Planung. Die Anforderungen, die im Zeitpunkt des Erlasses einer Veränderungssperre an die Konkretisierung der planerischen Vorstellungen der Gemeinde zu stellen sind, sind mit Rücksicht auf die gemeindliche Planungshoheit gering. Der von der Veränderungssperre flankierte Aufstellungsbeschluss muss lediglich ein Mindestmaß dessen erkennen lassen, was Gegenstand und Inhalt des zu erwartenden Bebauungsplans bzw. der zu erwartenden Bebauungsplanänderung ist und muss erkennen lassen, welchen Inhalt die neue Planung haben soll. Die Gemeinde muss bereits positive planerische Vorstellungen über den Inhalt des Bebauungsplans so weit entwickelt haben, dass diese geeignet sind, die Entscheidung der Genehmigungsbehörde nach § 14 Abs. 2 Satz 1 BauGB über die Vereinbarkeit eines Vorhabens mit der beabsichtigten Planung zu steuern (Bay. VGH, Urteil vom 19.12.2019 - 1 N 17.1236 -, Rn. 20, juris, m. w. N.). Insofern muss sie zumindest Vorstellungen über die Art der baulichen Nutzung besitzen, sei es, dass sie einen bestimmten Baugebietstyp nach der Baunutzungsverordnung, sei es, dass sie bestimmte nach den Vorschriften des § 9 Abs. 1 bis 2a BauGB festsetzbare Nutzungen im Blick hat (BVerwG, Urteil vom 19.02.2004 - 4 CN 16.03 -, Rn. 28, juris; Urteil vom 30.08.2012 - 4 C 1.11 -, Rn. 12, juris). Denn sofern positive Vorstellungen über die angestrebte Art der baulichen Nutzung der betroffenen Grundflächen fehlen, ist der Inhalt des zu erwartenden Bebauungsplans noch offen. Die nachteiligen Wirkungen der Veränderungssperre wären – auch vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG – nicht erträglich, wenn sie zur Sicherung einer Planung dienen sollte, die sich in ihrem Inhalt noch in keiner Weise absehen lässt (BVerwG, Beschluss vom 05.02.1990 - 4 B 191.89 -, Rn. 2, juris). Solche Vorstellungen müssen sich allerdings nicht allein aus der Niederschrift der Sitzung der Gemeindevertretung ergeben. Zulässig ist darüber hinaus der Rückgriff auf alle erkennbaren Unterlagen und Umstände. Hierzu kann beispielsweise auch die anderen Akten zu entnehmende oder bekannte Vorgeschichte gehören (BVerwG, Beschluss vom 01.10.2009 - 4 BN 34.09 -, Rn. 9, juris). Die gerichtliche Überprüfung einer Veränderungssperre darf indes nicht die Prüfung der Rechtmäßigkeit der zu sichernden Bauleitplanung noch vor deren Zustandekommen vorwegnehmen. Insofern verlangt sie nicht die Prüfung, ob der – noch nicht beschlossene Bebauungsplan – in seinen einzelnen Festsetzungen von einer ordnungsgemäßen und gerechten Abwägung aller betroffenen Belange (vgl. § 1 Abs. 6 und Abs. 7 BauGB) getragen sein wird (BVerwG, Beschluss vom 21.12.1993 - 4 NB 40.93 -, Rn. 2, juris). Als Sicherungsmittel ist die Veränderungssperre allerdings ungeeignet, wenn sich das aus dem Aufstellungsbeschluss ersichtliche Planungsziel im Wege planerischer Festsetzung nicht erreichen lässt, wenn der beabsichtigte Bauleitplan einer positiven Planungskonzeption entbehrt und der Förderung von Zielen dient, für deren Verwirklichung die Planungsinstrumente des Baugesetzbuchs nicht bestimmt sind, oder wenn rechtliche Mängel schlechterdings nicht behoben werden können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.12.2005 - 4 BN 61.05 -, Rn. 3, juris; Beschluss vom 21.12.1993 - 4 NB 40.93 -, Rn. 3, juris). Insofern ist insbesondere anerkannt, dass eine reine „Negativplanung“ als Grundlage für den Erlass einer Veränderungssperre nicht ausreicht. Eine solche liegt aber nicht schon dann vor, wenn ihr Hauptzweck in der Verhinderung bestimmter städtebaulich relevanter Nutzungen besteht. Bauplanerische Festsetzungen sind vielmehr insbesondere dann unzulässig, wenn sich die Planung darin erschöpft bzw. das Konzept einer künftigen Planung sich darauf beschränkt, einzelne Vorhaben auszuschließen. Die Gemeinde darf mit den Mitteln, die ihr insbesondere das Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung zur Verfügung stellen – und unter Beachtung ihrer Grenzen – grundsätzlich auch städtebauliche Ziele verfolgen, die mehr auf Bewahrung als auf Veränderung der vorhandenen Situation zielen (vgl. Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 05.10.2016 - 1 KN 20/15 -, Rn. 44, juris). Ferner ist eine unzulässige „Verhinderungsplanung“ auch dann gegeben, wenn die planerischen Festsetzungen nicht dem wirklichen Willen der Gemeinde entsprechen, sondern nur vorgeschoben sind, um eine andere Nutzung zu verhindern bzw. einen Bauwunsch zu durchkreuzen (BVerwG, Urteil vom 16.12.1988 - 4 C 48.86 -, Rn. 47, juris; Beschluss vom 27.01.1999 - 4 B 129.98 -, Rn. 9, juris; vgl. OVG Rh.-Pf., Urteil vom 20.01.2011 - 1 C 10801/10 -, Rn. 27, juris). Für eine derartige Planung besteht kein Sicherungsbedürfnis im Sinne einer Veränderungssperre (vgl. zum Ganzen Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 22.11.2021 - 1 KN 20/19 -, Rn. 48, juris, m. w. N.)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Inhalt der zu sichernden Planung zum Zeitpunkt des Erlasses der Veränderungssperre und auch noch zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über die erste Verlängerung hinreichend konkret erkennbar. Nach dem Aufstellungsbeschluss sollen durch den Bebauungsplan Nr. 7 „Windvorranggebiet“ in dem durch die Regionalplanung vorgesehenen Vorranggebiet für Windenergieanlagen u. a. die Standorte und die zulässigen Höhen für die Windenergieanlagen festgesetzt werden. Aus dieser Formulierung ergeben sich hinreichend konkrete Vorstellungen hinsichtlich der Art der im künftigen Bebauungsplan festzusetzenden Nutzung im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Die Gemeinde hat zum Zeitpunkt des Aufstellungsbeschlusses bezüglich der Art der künftigen baulichen Nutzung einen bestimmten Baugebietstyp nach der Baunutzungsverordnung, jedenfalls aber bestimmte nach den Vorschriften des § 9 Abs. 1 bis 2a BauGB festsetzbare Nutzungen im Blick gehabt. Das ergibt sich im Ausgangspunkt schon aus der für den aufzustellenden Bebauungsplan gewählten Bezeichnung „Windvorranggebiet“. Es ergibt sich ferner aus der zur Begründung angeführten Absicht, unter anderem die Standorte und die zulässigen Höhen für die Windenergieanlagen im Windvorranggebiet festzusetzen. Dies kann insbesondere durch die Festsetzung eines sonstigen Sondergebiets geschehen, das im Abschnitt „Art der baulichen Nutzung“ der Baunutzungsverordnung und dort in § 11 Abs. 2 BauNVO insbesondere für Gebiete für Anlagen, die u. a. der Nutzung erneuerbarer Energien, wie Wind- und Sonnenenergie, dienen, vorgesehen ist. In Betracht kommt ferner die Realisierung von Windenergieanlagen durch die Festsetzung von Versorgungsflächen im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 12 BauGB, hier von Anlagen zur dezentralen Erzeugung, Verteilung, Nutzung oder Speicherung von Strom aus erneuerbaren Energien (vgl. OVG Sachs.-Anh., Urteil vom 12.12.2002 - 2 K 259/01 -, Rn. 46, juris; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2021, § 9 Rn. 110b). Zu dem für die Rechtmäßigkeit der Veränderungssperre maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung mussten weitergehende Vorstellungen zu Standort und Höhe nicht vorliegen. Das hieße, etwas zu fordern, was überhaupt erst am Ende der Planung steht. Das Konkretisierungserfordernis darf aber nicht überspannt werden, weil sonst die praktische Tauglichkeit der Veränderungssperre verloren gehen würde. Zudem wird sich die Gemeinde im allgemeinen nicht bereits zu Beginn des Aufstellungsverfahrens auf ein bestimmtes Planungsergebnis festlegen können; es ist gerade der Sinn der Vorschriften über die Planaufstellung, dass der Bebauungsplan innerhalb des Planungsverfahrens – insbesondere unter Beachtung des Abwägungsgebots – erst erarbeitet wird (BVerwG, Urteil vom 19.02.2004 - 4 CN 16.03 -, Rn. 31, juris). Aus der vom Antragsteller insoweit angeführten Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 25.01.2022 - 1 B 276/21 -, juris, mit Anmerkung Zeissler, jurisPR-ÖffBauR 4/2022 Anm. 3) folgt nichts anderes. Sie betrifft eine nicht vergleichbare Fallgestaltung. Ausweislich der Ausführungen in Randnummer 49 wird in dieser Entscheidung eine hinreichend verdichtete Planung insoweit bejaht, als in den Grenzen des durch einen Regionalplan ausgewiesenen Vorrang- und Eignungsgebiets Windenergienutzung die Ausweisung eines Sondergebiets für Anlagen, die der Nutzung erneuerbarer Energien, wie Windenergie dienen (§ 11 Abs. 2 BauNVO), beabsichtigt ist. Das Fehlen einer konkreten Planung und die unzulässige bloße „Absicht zu planen“ wird – mit der Folge einer vorläufigen Außervollzugsetzung der Satzung insgesamt – nur insoweit angenommen, als hinsichtlich der weiteren, insgesamt etwa ebenso großen Flächen des Plangebiets noch keine konkrete Planung vorlag. Im vorliegend zu entscheidenden Fall geht das Plangebiet nicht über das Windvorranggebiet hinaus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>c) Aus der aktenkundigen Vorgeschichte ergibt sich auch nicht, dass es sich um eine bloße Negativ- oder Verhinderungsplanung handelt. Negative Zielvorstellungen sind allerdings nicht von vorneherein illegitim. Sie können sogar den Hauptzweck einer konkreten Planung bilden. Die Gemeinde darf mit Mitteln, die ihr insbesondere das Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung zur Verfügung stellen, grundsätzlich auch städtebauliche Ziele verfolgen, die selbst auf eine vollständige Veränderung der vorhandenen Situation abzielen und damit den (künftigen) Ausschluss bislang zulässiger Nutzungen nach sich ziehen. Letztlich ist der Gegensatz von positiven oder negativen Planungszielen wenig hilfreich zur Beantwortung der Frage, wann eine unzulässige Verhinderungsplanung vorliegt (vgl. dazu auch BVerwG, Beschluss vom 18.12.1990 - 4 NB 8.90 -, Rn. 15, juris). Vielmehr ist eine solche erst dann anzunehmen, wenn die konkrete Planung nicht dem planerischen Willen der Gemeinde entspricht, sondern nur vorgeschoben ist, um eine andere Nutzung zu verhindern bzw. einen Bauwunsch zu durchkreuzen (BVerwG, Urteil vom 16.12.1988 - 4 C 48.86 -, Rn. 47, juris; Beschluss vom 27.01.1999 - 4 B 129/98 -, Rn. 9, juris; Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 05.10.2016 - 1 KN 20/15 -, Rn. 44, juris; Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 21.10.2020 - 1 KN 2/19 -, Rn. 35, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Allein der zeitliche Kontext von Bauantragstellung und eingeleiteter Bauleitplanung nebst Erlass der Veränderungssperre führt hier aber nicht zur Annahme einer Verhinderungsplanung. Es ist in der Rechtsprechung auch des Senats (vgl. Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 21.10.2020 - 1 KN 2/19 -, Rn. 36, juris; Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 05.10.2016 - 1 KN 20/15 -, Rn. 45, juris) anerkannt, dass eine Bauleitplanung ihren Ausgang in einem Bauantrag betroffener Grundstückseigentümer nehmen kann und die Antragsgegnerin als planende Gemeinde einen solchen zum Anlass nehmen darf, um ihre städtebaulichen und planerischen Vorstellungen in Bebauungsplänen festzuschreiben. Eine zunächst nur auf die Verhinderung einer – aus der Sicht der Gemeinde – Fehlentwicklung gerichtete Planung kann einen Inhalt haben, der rechtlich nicht zu beanstanden ist (BVerwG, Beschluss vom 18.12.1990 - 4 NB 8/90 -, Rn. 16, juris). Die Überlegung, das gemäß § 36 BauGB erforderliche Einvernehmen zu der beantragten Kleinwindkraftanlage nicht zu erteilen, sondern zunächst hinsichtlich des im Regionalplan für den Planungsraum I ausgewiesenen Windvorranggebiets konkretisierende Regelungen hinsichtlich des Standorts und der zulässigen Höhen von Windkraftanlagen zu treffen, ist nicht willkürlich, sondern plausibel.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>d) Dem angedachten Bebauungsplan fehlt es auch nicht an der nach § 1 Abs. 3 BauGB erforderlichen Planrechtfertigung. Danach haben die Gemeinden die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Das kann zu verneinen sein, wenn von vornherein feststeht, dass die Planung nicht umsetzbar, d. h. der Bebauungsplan vollzugsunfähig ist (OVG Schleswig, Urteil vom 15.03.2018 - 1 KN 4/15 -, Rn. 45, juris; Bay. VGH, Urteil vom 18.01.2017 - 15 M 14.2033 -, Rn. 31, juris; OVG Saarl., Urteil vom 28.01.1997 - 2 M 2/96 -, Rn. 25 f., juris). Anhaltspunkte dafür bestehen nicht. Insbesondere ist die Antragsgegnerin entgegen der Auffassung des Antragstellers berechtigt, Darstellungen oder Festsetzungen zu treffen, die die vom Raumordnungsplan zugelassene Errichtung von Windkraftanlagen konkretisieren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass Ziele der Raumordnung zwar in der Bauleitplanung als verbindliche Vorgaben hinzunehmen sind und deshalb nicht im Wege der Abwägung überwunden werden können, dass sie aber je nach dem Grad ihrer Aussageschärfe konkretisierungsfähig sind (BVerwG, Beschluss vom 21.12.2017 - 4 BN 3/17 -, Rn. 4, juris), dass eine „Feinsteuerung“ zum innergebietlichen Interessenausgleich der Windenergieprojekte, aber auch gegenüber anderen Nutzungen innerhalb und außerhalb des Plangebiets möglich ist (BVerwG, Urteil vom 19.02.2004 - 4 CN 16/03 -, Rn. 21 juris), und zwar insbesondere zur Begrenzung der Anlagenhöhe oder der Festlegung der Standorte der einzelnen Anlagen (BVerwG, Beschluss vom 25.11.2003 - 4 BN 60/03 -, Rn. 8 f., juris). Entsprechende Festsetzungen im Wege der Bauleitplanung sind hier grundsätzlich zulässig, weil der Regionalplan für den Planungsraum I jedenfalls für das Windvorranggebiet Wallsbüll insoweit, wovon auch der Antragsteller ausgeht, gerade keine Regelungen trifft. Dass eine Höhenbegrenzung ein Konfliktpotenzial auslösen kann, macht diese nicht von vornherein unzulässig. Davon geht auch Gatz in seinen insoweit vom Antragsteller herangezogenen Ausführungen nicht aus (Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Aufl. 2019, Rn. 196).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>e) Nicht maßgeblich ist zum derzeitigen Zeitpunkt, ob die zu sichernde Planung abwägungsfehlerfrei möglich sein wird. Dem Erlass der Veränderungssperre liegt noch keine Abwägungsentscheidung im eigentlichen Sinne des § 1 Abs. 7 BauGB zugrunde. Die Antizipation des Abwägungsergebnisses eines erst noch zu beschließenden Bebauungsplans und seine Einordnung bereits jetzt als ersichtlich abwägungsdefizitär ist nicht möglich und damit auch nicht Gegenstand des vorliegenden Prüfprogramms (BVerwG, Beschluss vom 21.12.1993 - 4 NB 40.93 -, Rn. 2, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>f) Aus dem Schreiben des Bürgermeisters der Gemeinde Wallsbüll vom 19. Januar 2020 folgt entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht, dass der ins Auge gefassten Planung sachfremde Erwägungen zugrunde liegen oder unzulässige Festsetzungen geplant sind. Zum einen betraf das vom Antragsteller insoweit herangezogene Urteil des Senats (04.04.2013 - 1 LB 7/12 -, Rn. 40 ff., juris) einen Fall, in dem, anders als vorliegend, der Aufstellungsbeschluss als Art der Nutzung einen angesichts der fehlenden bodenrechtlichen und damit städtebaulichen Relevanz nicht vom Typenzwang des § 9 BauGB erfassten Bürgerwindpark und folglich eine unzulässige Festsetzung vorsah. Zum anderen kann aus dem Schreiben des Bürgermeisters nicht der Schluss gezogen werden, dass die für die Beschlussfassung über den Bebauungsplan zuständige Gemeindevertretung der Antragsgegnerin zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Veränderungssperre beabsichtigte, gegebenenfalls entgegen gefestigter Rechtsprechung unzulässige Festsetzungen zu treffen. Ferner sprechen die weiteren Ausführungen des Schreibens, die ersichtlich zum Ziel haben, voreilige Unterschriften unter Verträge mit Planungsbüros zu verhindern oder deren Folgen rückgängig zu machen, und auch der Schlusssatz, nach dem im nächsten Schritt beabsichtigt ist, die Gemeindevertreter und die Landeigentümer einzuladen, um gemeinsam zu besprechen, ob und wie diese Fläche entwickelt werden soll, dafür, dass die Planung zu dem Zeitpunkt noch ganz am Anfang stand.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>g) Offenbleiben kann, ob die Bauleitplanung seit Januar 2020 keinen nach außen sichtbaren Fortgang genommen hat. Dies folgt im Umkehrschluss aus der Regelung der ersten Verlängerung in § 17 Abs. 1 Satz 3 BauGB. Danach kann die Frist von zwei Jahren, nach der die Veränderungssperre außer Kraft tritt, um ein Jahr verlängert werden. Über die Anforderungen an den erstmaligen Erlass einer Veränderungssperre hinausgehende materiell-rechtliche Anforderungen an die erste Verlängerung einer Veränderungssperre sieht das Gesetz nicht vor. Erst für die weitere Verlängerung ist gemäß § 17 Abs. 2 BauGB Voraussetzung, dass besondere Umstände die Verlängerung erfordern. Für die erste Verlängerung ist unerheblich, ob es im Bebauungsplanverfahren zu Verzögerungen gekommen ist und ob die Gemeinde solche Verzögerungen zu verantworten hat. Eine erste Verlängerung ist selbst dann grundsätzlich zulässig, wenn die Bauleitplanung innerhalb der Laufzeit der verlängerten Veränderungssperre voraussichtlich nicht abgeschlossen werden kann. Es ist die offensichtliche Absicht des Gesetzgebers, die Gemeinde innerhalb von drei Jahren, für welche eine Veränderungssperre und eine erste Verlängerung beschlossen werden kann, nicht unter den Zwang zu stellen, ihre Arbeitsweise nach Zeit und Intensität näher rechtfertigen zu müssen; der Gesetzgeber hat den mittelbaren Zwang als ausreichend angesehen, dass bei einer erneuten Veränderung besondere Umstände im Sinne von § 17 Abs. 2 BauGB wegen einer sachwidrigen Verzögerung im Planaufstellungsverfahren fehlen können (BVerwG, Beschluss vom 08.01.1993 - 4 B 258.92 -, Rn. 8 f., juris). Das Bundesverwaltungsgericht hat in der vorgenannten Entscheidung offengelassen, ob der Gemeinde im Einzelfall eine missbräuchliche Ausnutzung der ihr eingeräumten Möglichkeiten vorgehalten werden kann und welche Rechtsfolgen dies haben kann. Anhaltspunkte für eine solche missbräuchliche Ausnutzung liegen nicht vor, erst recht nicht vor dem Hintergrund, dass im August 2022 der Satzungsbeschluss nunmehr gefasst wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 709 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Die Revision ist mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht zuzulassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,426 | vg-gelsenkirchen-2022-08-26-3a-k-332321a | {
"id": 843,
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"level_of_appeal": null
} | 3a K 3323/21.A | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-06T10:01:10 | 2022-10-17T11:09:45 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0826.3A.K3323.21A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. August 2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Vater des Klägers, Herr B. S. C. , ist syrischer Staatsangehöriger. Mit Bescheid vom 22. Oktober 2015 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu seinen Gunsten die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes fest. Die Mutter des Klägers, die kosovarische Staatsangehörige ist, stellte in Deutschland einen Asylantrag, den das Bundesamt mit Bescheid vom 2. Mai 2016 als offensichtlich unbegründet ablehnte. Die dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Gera mit Urteil vom 15. Juni 2016 (Az.: 2 K 20527/16) als offensichtlich unbegründet ab. Sie ist mit dem kosovarischen Staatsangehörigen H. C1. verheiratet, der ebenfalls in Deutschland erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt hat.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 31. Juli 2016 wurde der Kläger in Sonneberg/Thüringen geboren. Im Oktober 2016 zeigte das Landratsamt Sonneberg dies dem Bundesamt unter Vorlage einer Geburtsurkunde vom 27. September 2016 an. Darin ist als Vater des Klägers der Ehemann der Mutter des Klägers angegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 7 der Beiakte Heft 1 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Bundesamt leitete aufgrund der Mitteilung des Landratsamts ein Asylverfahren für den Kläger ein und gab ihm Gelegenheit zur Darlegung seiner Asylgründe. Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, er sei aus einer außerehelichen Beziehung seiner Mutter hervorgegangen. Der Ehemann seiner Mutter sei zunächst in Deutschland untergetaucht und später in sein Heimatland zurückgekehrt. Im Fall einer Abschiebung sei er – der Kläger - der Gefahr von Racheakten des Ehemanns seiner Mutter ausgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 26. April 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, verneinte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Kosovo an. Zur Begründung führte das Bundesamt unter anderem aus, eine Anerkennung der Vaterschaft durch die vom Kläger als leiblicher Vater bezeichnete Person sei nicht ersichtlich. Klage erhob der Kläger dagegen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 20. April 2021 beantragte der Kläger beim Bundesamt erneut, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen. Zur Begründung verwies er auf den Umstand, dass sein Vater in Deutschland als Flüchtling anerkannt sei. Der Kläger legte dem Bundesamt eine am 28. August 2020 ausgestellte Geburtsurkunde vor. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 7 der Beiakte Heft 2 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 10. August 2021 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens als unzulässig ab (Ziffer 1). Den Antrag auf Abänderung seines Bescheides vom 26. April 2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes lehnte das Bundesamt ebenfalls ab (Ziffer 2). Der Bescheid wurde dem Kläger am 12. August 2021 zugestellt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 24. August 2021 Klage erhoben. Er macht im Wesentlichen geltend: Er besitze weder die syrische noch die kosovarische Staatsangehörigkeit. Nach kosovarischem Recht sei für den Erwerb der Staatsangehörigkeit der Antrag des Kindesvaters erforderlich. Der Ehemann der Klägerin verweigere die entsprechende Mitwirkung. Die Entscheidung des Bundesamtes beruhe daher auf einer falschen Grundlage.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. den Bescheid der Beklagten vom 10. August 2021 aufzuheben,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">12</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">2. die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag zu entscheiden.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid. Ergänzend trägt sie vor: Entgegen der Auffassung des Klägers komme es für dessen Staatsangehörigkeitserwerb nicht auf den Ehemann seiner Mutter, sondern auf die Erklärung seines leiblichen Vaters an.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes (Beiakten Hefte 1 bis 3) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann trotz Ausbleibens der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil diese ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden sind, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden könne (§101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO -).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wendet sich zum einen gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides. Gegen die Unzulässigkeitsentscheidung bei Folgeanträgen ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 –, juris.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im streitgegenständlichen Bescheid ist der Sache nach die Entscheidung, dass der Folgeantrag unzulässig ist, weil die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) i.V.m. § 71 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) verneint wurden.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Daneben begehrt der Kläger die Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) festzustellen. Dieses Begehren steht bei verständiger Würdigung zu dem bezeichneten Anfechtungsbegehren im Verhältnis eines Hilfsantrags.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die so ausgelegte Klage ist begründet. Die Ablehnung des Asylfolgeantrags als unzulässig in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies führt zur Aufhebung des Bescheides insgesamt.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG oder eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist (§ 29 Abs.1 Nr. 5 AsylG). Der Kläger hat vorliegend einen Asylfolgeantrag im Sinne des § 71 AsylG gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Nach § 71 Abs. 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Die Verweisung auf § 51 VwVfG ist mit der Einschränkung anwendbar, dass die Dreimonatsfrist in § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG für asylrechtliche Folgeanträge außer Betracht zu bleiben hat.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischen Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 7. Februar 1991 – C-184/89 –, <span style="text-decoration:underline">juris.</span></p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die nationale Fristgebundenheit bei Folgeanträgen steht dem Unionsrecht entgegen. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass während der Unionsgesetzgeber etwa in Art. 28 RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten die Möglichkeit von Befristungen ausdrücklich einräumt, es für den Folgeantrag in den Art. 40 ff. RL 2013/32/EU an einer derartigen Regelung fehlt. Zum anderen ermöglichte noch der Art. 34 Abs. 2 lit. b RL 2005/85 als die Vorgängervorschrift des Art. 42 Abs. 2 RL 2013/32/EU eine Fristgebundenheit. Das Fehlen dieser Möglichkeit in neuen Art. 42 Abs. 2 RL 2013/32/EU bedeutet, dass die Mitgliedstaaten eine solche Frist nicht mehr vorsehen dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 – C-18/20 –, juris, Rn. 55 ff., VG Schleswig, Urteil vom 23. September 2021 – 13 A 196/21 –, juris, Rn. 33 ff; VG Köln, Urteil vom 11. Januar 2022 – 20 K 4473/21.A –, juris, Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die danach alleine maßgeblichen Anforderungen nach § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG sind vorliegend erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG setzt voraus, dass sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich, d. h. nach Abschluss des früheren Asylverfahrens, zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Nach bestandskräftigem Abschluss des im Herbst 2016 eingeleiteten Asylverfahrens des Klägers ist eine neue Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG eingetreten.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Eine Änderung der Sachlage ist im Asylverfahren anzunehmen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder die Lebensbedingungen im Herkunftsstaat oder aber die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände - sei es durch Vorgänge im Bundesgebiet oder im Herkunftsstaat - so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint. Erforderlich ist eine tatsächliche Änderung der Sachlage nach Abschluss des Erstverfahrens, wobei sich die Veränderung auf den der Entscheidung im Erstverfahren als entscheidungserheblich zugrunde gelegten Sachverhalt beziehen muss. Der Asylbewerber hat die maßgeblichen Tatsachen in substantiierter, widerspruchsfreier und glaubhafter Form vorzutragen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Mit der im asylrechtlichen Erstverfahren des Klägers noch nicht vorliegenden Anerkennung der Vaterschaft durch seinen leiblichen Vater ist eine neue, das persönliche Schicksal des Klägers in Bezug auf eine Schutzberechtigung nach § 26 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 und § 3 Abs. 1 AsylG verändernde Tatsache eingetreten. Der leibliche Vater des Klägers ist nach dem unwidersprochenen Vortrag des Klägers in Deutschland als Flüchtling gemäß § 3 Abs. 1 AsylG anerkannt. Anhaltspunkte dafür, dass seine Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (§ 26 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG), sind von der Beklagten nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Den bezeichneten Umständen kommt auch die nach dem oben Gesagten erforderliche Eignung zu, eine dem Kläger günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeizuführen. In ihrer Folge kommt ein Anspruch des Klägers auf internationalen Familienschutz nach § 26 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG ernsthaft in Betracht. Es spricht vieles dafür, dass Familienschutz im Sinne dieser Bestimmungen entgegen der Auffassung der Beklagten auch dann zu gewähren ist, wenn der Abkömmling einer als international Schutz berechtigt anerkannten Person eine andere Staatsangehörigkeit besitzt als diese.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Minden, Urteil vom 29. März 2022 – 1 K 774/19.A –, InfAuslR 2022, 306; VG Magdeburg, Urteil vom 20. August 2019 – 11 A 16/19 –, juris, Rn. 42.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nach § 51 Abs. 2 VwVfG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen im früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Zwar war, wie das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid ausführt, den Eltern des Klägers bereits im Erstverfahren bekannt, wer der leibliche Vater des Klägers ist. Es war dem Kläger jedoch im Erstverfahren mangels Anerkennung der Vaterschaft nicht möglich, sich mit Erfolg auf den durch seinen leiblichen Vater vermittelten Familienschutz zu berufen. Davon geht der Bescheid des Bundesamtes vom 26. April 2017, Seite 2 der Begründung, ausdrücklich aus. Dem Kläger ist in Übereinstimmung damit und mit seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung ein geänderter Geburtenregisterauszug durch das Standesamt Sonneberg erst im August 2020 erteilt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Infolge der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides ist das Bundesamt verpflichtet, ein weiteres Asylverfahren durchzuführen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris, Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides kann deshalb keinen Bestand haben.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">3. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich zu beantragen. In dem Antrag, der das angefochtene Urteil bezeichnen muss, sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
|
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} | 6 B 564/22 | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-09-03T10:01:30 | 2022-10-17T11:09:43 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0826.6B564.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, gibt keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss aufzuheben oder zu ändern.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, das mit Schreiben vom 21.1.2022 abgebrochene Auswahlverfahren hinsichtlich der Besetzung der Stelle des Leiters/der Leiterin des Prüfungsamtes des Antragsgegners mit dem Antragsteller als Bewerber fortzusetzen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Antrag sei mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs unbegründet. Die Entscheidung des Antragsgegners, das Auswahlverfahren abzubrechen, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Die Kammer habe ihm mit Beschluss vom 14.12.2021 - 19 L 1959/21 - vorläufig untersagt, die streitbefangene Stelle mit der ausgewählten Bewerberin zu besetzen. Er habe in seinem Abbruchvermerk vom 17.1.2022 durch die Bezugnahme auf diesen Beschluss und die Stellungnahme des Rechtsamtes vom 14.1.2022 dargestellt, aus welchem Grund das Auswahlverfahren abgebrochen werde. Diese Begründung erfülle die materiellen Anforderungen an das Vorliegen eines sachlichen Grundes. In der Regel sei ein Abbruch jedenfalls dann sachlich gerechtfertigt, wenn dem Dienstherrn im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt werde, den von ihm ausgewählten Bewerber zu ernennen. Daraus könne der Dienstherr regelmäßig den Schluss ziehen, seine bisherige Verfahrensweise begegne erheblichen Zweifeln im Hinblick auf Art. 33 Abs. 2 GG. Unsachlich hingegen seien etwa solche Gründe für einen Abbruch, die das Ziel verfolgten, einen unerwünschten Kandidaten aus leistungsfremden Erwägungen von der weiteren Auswahl für die Stelle auszuschließen oder einen bestimmten Bewerber bei der späteren Auswahlentscheidung zu bevorzugen. Hierfür bestünden vorliegend jedoch keine Anhaltspunkte. Soweit der Antragsteller vortrage, ein sachlicher Grund für den Abbruch eines Auswahlverfahrens sei erst dann gegeben, wenn Fehler im laufenden Auswahlverfahren nicht behoben werden könnten, folge die Kammer dem nicht. Ein Rechtsfehler berechtige grundsätzlich auch dann zum Abbruch des Auswahlverfahrens, wenn er durch den Dienstherrn im laufenden Auswahlverfahren geheilt werden könnte. Art. 33 Abs. 2 GG gebe nicht vor, dass Rechtsfehler möglichst im laufenden Auswahlverfahren zu beseitigen seien, um die Bewerbungsverfahrensansprüche der Bewerber zu erhalten. Etwas anderes dürfte allenfalls dann gelten, wenn es sich um einen eher geringfügigen, einfach behebbaren Rechtsfehler handele oder feststehe, dass sich der Fehler nicht auf die Auswahlentscheidung auswirken könne. So liege der Fall hier nicht. Denn die Auswahl aufgrund der vorgenommenen Auswahlgespräche, ohne zuvor eine aktuelle Beurteilung der ausgewählten Bewerberin erstellt zu haben, stelle einen schweren Fehler dar.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die hiergegen mit der Beschwerde erhobenen Einwendungen stellen die (Ergebnis-) Richtigkeit des angegriffenen Beschlusses nicht durchgreifend in Frage.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">a) Ohne Erfolg rügt die Beschwerde, die Gründe für den Abbruch des Auswahlverfahrens seien „weder hinreichend dokumentiert noch dem Antragsteller hinreichend mitgeteilt“ worden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Bewerber eines Stellenbesetzungsverfahrens müssen über den Abbruch des Verfahrens rechtzeitig und in geeigneter Form in Kenntnis gesetzt werden. Der Dienstherr muss in einer solchen Abbruchmitteilung unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass er das Stellenbesetzungsverfahren ohne Stellenbesetzung endgültig beenden will. Der wesentliche Abbruchgrund muss, sofern er sich nicht evident aus dem Vorgang ergibt, schriftlich dokumentiert werden. Die Bewerber werden grundsätzlich nur durch eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Erwägungen in die Lage versetzt, etwa anhand von Akteneinsicht sachgerecht darüber befinden zu können, ob die Entscheidung des Dienstherrn ihren Bewerbungsverfahrensanspruch berührt und ob Rechtsschutz in Anspruch genommen werden soll. Darüber hinaus eröffnet erst die Dokumentation des sachlichen Grundes für den Abbruch des Auswahlverfahrens dem Gericht die Möglichkeit, die Beweggründe für den Abbruch nachzuvollziehen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24.9.2015 - 2 BvR 1686/15 -, NVwZ 2016, 237 = juris Rn. 14, und vom 28.11.2011 - 2 BvR 1181/11 -, NVwZ 2012, 366 = juris Rn. 23; BVerwG, Urteile vom 3.12.2014 - 2 A 3.13 -, BVerwGE 151, 14 = juris Rn. 34, vom 29.11.2012 - 2 C 6.11 -, BVerwGE 145, 185 = juris Rn. 19, und vom 26.1.2012 - 2 A 7.09 -, BVerwGE 141, 361 = juris Rn. 29, sowie Beschluss vom 27.2.2014 - 1 WB 7.13 -, BVerwGE 149, 153 = juris Rn. 29; BAG, Urteil vom 20.3.2018 - 9 AZR 249/17 -, juris Rn. 16; OVG NRW, Beschlüsse vom 22.9.2021 - 6 B 583/21 -, NVwZ-RR 2022, 60 = juris Rn. 35, und vom 30.4.2019 - 6 B 1707/18 -, juris Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen hat der Antragsgegner Genüge getan.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">aa) Die Abbruchentscheidung ist in der Verfügung des Antragsgegners vom 17.1.2022 niedergelegt, die wiederum auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 14.12.2021 - 19 L 1959/21 - sowie die Stellungnahme des Rechtsamtes vom 14.1.2022 Bezug nimmt. Anhand dieser Unterlagen, die sämtlich in dem vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsvorgang enthalten sind, kann ohne Weiteres nachvollzogen werden, dass Grund für den Abbruch des Auswahlverfahrens die gerichtliche Beanstandung der Auswahlentscheidung ist. Mit dem genannten Beschluss hat das Verwaltungsgericht dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, „die nach A 15 LBesG NRW / E 15 TVöD bewertete Stelle einer Leiterin/eines Leiters des Prüfungsamtes des S. -T. -Kreises (A 14) mit der Beigeladenen zu besetzen, bis über die Bewerbung des Antragstellers auf diese Stelle unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden wurde“. Zur Begründung hat es ausgeführt, die zu Lasten des Antragstellers getroffene Auswahlentscheidung sei rechtswidrig. Der Antragsgegner habe es versäumt, für die Beigeladene eine Anlassbeurteilung zu erstellen und einen an dienstlichen Beurteilungen orientierten Leistungsvergleich vorzunehmen. Er habe allein aus den Eindrücken, die er u. a. von dem Antragsteller und der Beigeladenen in den Auswahlgesprächen gewonnen habe, einen Qualifikationsvorsprung der Beigeladenen hergeleitet.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">bb) Der Antragsgegner hat den Antragsteller mit Schreiben vom 21.1.2022 über die Abbruchentscheidung informiert. Er hat dort ausgeführt, er habe das Stellenbesetzungsverfahren abgebrochen und werde die Stelle neu ausschreiben. Grund hierfür sei, so der Antragsgegner in dem Schreiben weiter, die dem Antragsteller „bekannte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln vom 14.12.2021 - 19 L 1959/21 -, mit der das Verwaltungsgericht die Fehlerhaftigkeit der getroffenen Auswahlentscheidung festgestellt“ habe.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">cc) Fehl geht der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand der Beschwerde, der Antragsgegner habe auf den Seiten 3 und 4 seines im erstinstanzlichen Verfahren eingegangenen Schriftsatzes vom 3.3.2022 die „wohl ausschlaggebenden“ - weder in der Stellungnahme des Rechtsamtes vom 14.1.2022 noch in der Abbruchmitteilung festgehaltenen - Gründe für den Abbruch des Auswahlverfahrens genannt. Die Antragsgegner hat sich zu den dortigen Erläuterungen vielmehr aufgrund von Ausführungen des 1. Senats des beschließenden Gerichts im Beschluss vom 25.1.2022 - 1 B 1729/21 -, NVwZ-RR 2022, 429 = juris Rn. 59, veranlasst gesehen. Hiernach, so der Antragsgegner auf der Seite 2 (unten) seines Schriftsatzes vom 3.3.2022, obliege es dem Dienstherrn, nachvollziehbare Gründe dafür darzulegen, aus denen das Verfahren aus seiner Sicht an nicht mehr behebbaren Mängeln leide bzw. womöglich nicht mehr zu einer rechtsfehlerfreien Auswahlentscheidung führen könne.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">b) Entgegen der Auffassung der Beschwerde beruht der Abbruch des Auswahlverfahrens im Streitfall auf einem sachlichen, den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG genügenden Grund. Der rechtskräftige Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 14.12.2021 - 19 L 1959/21 - rechtfertigt den Abbruch unabhängig davon, ob die vom Verwaltungsgericht festgestellten Fehler im laufenden Auswahlverfahren heilbar gewesen wären.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">aa) Je nach Fallkonstellation unterliegt der Dienstherr bei der Entscheidung, ein bereits begonnenes Auswahlverfahren abzubrechen, unterschiedlichen rechtlichen Bindungen. Entschließt sich der Dienstherr, eine Stelle nicht mehr zu besetzen, ist er keinen strengeren Bindungen unterworfen, als sie für personalwirtschaftliche Entscheidungen darüber, ob und welche Ämter geschaffen werden und wie Dienstposten zugeschnitten werden sollen, auch ansonsten gelten. Die gerichtliche Kontrolle ist insoweit regelmäßig darauf beschränkt zu prüfen, ob der Grund, der für die Abbruchentscheidung maßgeblich ist, sich als willkürlich oder rechtsmissbräuchlich darstellt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.12.2018 - 2 VR 4.18 -, NVwZ 2019, 724 = juris Rn. 15 ff., sowie Urteile vom 3.12.2014 - 2 A 3.13 -, a. a. O. Rn. 26, 37, und vom 22.7.1999 - 2 C 14.98 -, ZBR 2000, 40 = juris Rn. 31; OVG NRW, Beschlüsse vom 17.5.2022 - 6 B 1388/21 -, IÖD 2022, 158 = juris Rn. 25, vom 2.12.2020 - 6 B 840/20 -, juris Rn. 9, vom 18.8.2020 - 6 B 319/20 -, juris Rn. 4, und vom 26.4.2018 - 6 B 355/18 -, NWVBl 2018, 415 = juris Rn. 11 m. w. N.; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, RiA 2021, 224 = juris Rn. 5 f.; Hess. VGH, Beschluss vom 1.10.2020 - 1 B 1552/20 -, DVBl 2021, 736 = juris Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Anders liegt es, wenn der Dienstherr, wie vorliegend, die Stelle weiterhin vergeben will, hierfür aber ein neues Auswahlverfahren für erforderlich hält. Da die Stelle in diesem Fall unverändert bestehen bleiben und auch besetzt werden soll, ist in einem solchen Fall für die Beurteilung des Vorliegens eines sachlichen Grundes für den Abbruch des Verfahrens Art. 33 Abs. 2 GG Prüfungsmaßstab. Die Entscheidung, das in Gang gesetzte Auswahlverfahren abzubrechen, bezieht sich insofern nicht auf Zuschnitt und Gestaltung des Amtes, sondern auf die organisatorische Ausgestaltung seiner Vergabe, die als wesentliche Weichenstellung für die nachfolgende Auswahlentscheidung bereits selbst den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG Rechnung tragen muss. Deswegen bedarf es in einer solchen Fallgestaltung für die Abbruchentscheidung in materieller Hinsicht eines sachlichen Grundes, der den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG genügt.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10.12.2018 - 2 VR 4.18 -, a. a. O. Rn. 18, und vom 10.5.2016 - 2 VR 2.15 -, BVerwGE 155, 152 = juris Rn. 16 ff., sowie Urteile vom 3.12.2014 - 2 A 3.13 -, a. a. O. Rn. 17 ff., und vom 29.11.2012 - 2 C 6.11 -, a. a. O. Rn. 16 f., sowie Beschluss vom 27.2.2014 - 1 WB 7.13 -, a. a. O. Rn. 28; OVG NRW, Beschlüsse vom 18.5.2022 - 6 B 231/22 -, juris Rn. 34, vom 17.5.2022 - 6 B 1388/21 -, a. a. O. Rn. 27, vom 2.12.2020 - 6 B 840/20 -, a. a. O. Rn. 11, und vom 18.8.2020 - 6 B 319/20 -, a. a. O. Rn. 6; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, a. a. O. Rn. 7; Hess. VGH, Beschluss vom 1.10.2020 - 1 B 1552/20 -, a. a. O. Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">bb) Ein an Art. 33 Abs. 2 GG zu messender Abbruch eines Auswahlverfahrens ist in der Regel auch dann sachlich gerechtfertigt, wenn dem Dienstherrn, wie hier, im Wege einer einstweiligen Anordnung rechtskräftig untersagt worden ist, den von ihm ausgewählten Bewerber zu ernennen. Denn hieraus kann der Dienstherr regelmäßig den Schluss ziehen, seine bisherige Verfahrensweise begegne erheblichen Zweifeln im Hinblick auf Art. 33 Abs. 2 GG. In einer solchen Situation darf er das bisherige Verfahren abbrechen, um in einem anschließenden neuen Verfahren aufgrund eines gegebenenfalls aktualisierten Bewerberkreises eine dem Art. 33 Abs. 2 GG genügende Entscheidung zu treffen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.11.2012 - 2 C 6.11 -, a. a. O. Rn. 20, sowie Beschluss vom 31.5.2013 - 2 C 25.13 -, juris Rn. 6; BVerfG, Beschluss vom 24.9.2015 - 2 BvR 1686/15 -, a. a. O. Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Auffassung des 1. Senats des beschließenden Gerichts,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">vgl. Beschlüsse vom 25.1.2022 - 1 B 1729/21 -, a. a. O. Rn. 45, 56 ff., vom 4.2.2020 - 1 B 1519/19 -, juris Rn. 13 ff., und vom 12.7.2018 - 1 B 1160/17 -, NWVBl 2018, 464 = juris Rn. 25 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">und des Hessischen VGH,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">vgl. Beschluss vom 1.10.2020 - 1 B 1552/20 -, a. a. O. Rn. 15,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">zur effektiven Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs könne auch nach gerichtlicher Beanstandung nur ein nicht behebbarer Mangel den Abbruch des Auswahlverfahrens rechtfertigen, folgt der beschließende Senat nicht.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18.5.2022 - 6 B 231/22 -, a. a. O. Rn. 40.; so auch VGH BW, Beschluss vom 8.11.2021 - 4 S 1431/21 -, juris Rn. 31, OVG Schleswig-Holstein, Beschlüsse vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, a. a. O. Rn. 10, und vom 20.11.2019 - 2 MB 10/19 -, juris Rn. 6 f., Sächs. OVG, Beschluss vom 2.9.2020 - 2 B 247/20 -, juris Rn. 20, Nds. OVG, Beschluss vom 7.5.2018 - 5 ME 41/18 -, juris Rn. 25 f., und OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 5.5.2017 - 2 B 10279/17 -, ZBR 2017, 389 = juris Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Denn es ist nicht ersichtlich, dass das Bundesverwaltungsgericht seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben hätte mit der Folge, dass nunmehr allein maßgeblich sein soll, ob das Auswahlverfahren noch fehlerfrei zu Ende geführt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">So auch VGH BW, Beschluss vom 8.11.2021 - 4 S 1431/21 -, a. a. O. Rn. 31, OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, a. a. O. Rn. 10, 12, und Nds. OVG, Beschluss vom 7.5.2018 - 5 ME 41/18 -, a. a. O. Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 10.12.2018 - 2 VR 4.18 -, a. a. O., auf den der 1. Senat des beschließenden Gerichts in seinem Beschluss vom 4.2.2020 - 1 B 1519/19 -, a. a. O. Rn. 15, hinweist, (nur) zwei Fallkonstellationen genannt, in denen der Dienstherr berechtigt ist, das Auswahlverfahren abzubrechen, nämlich die Konstellation, dass der konkrete Dienstposten mit dem ursprünglich festgelegten Zuschnitt und der ursprünglichen besoldungsrechtlichen Einstufung nicht mehr besetzt werden soll, sowie die Konstellation, dass der Dienstherr „den unverändert bleibenden Dienstposten weiterhin vergeben will, aber den Ausgang des ersten Auswahlverfahrens als unbefriedigend empfindet oder das bisherige Verfahren nach seiner Einschätzung an nicht behebbaren Mängeln mit der Folge leidet, dass eine den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG gerecht werdende Auswahlentscheidung allein in einem weiteren Auswahlverfahren denkbar erscheint“. Die weitere Fallkonstellation der gerichtlichen Beanstandung einer Auswahlentscheidung ist in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich genannt. Aus der Nichtnennung dieser Fallkonstellation kann aber nicht geschlossen werden, diese solle nach der Vorstellung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen seiner früheren Rechtsprechung künftig einen Abbruch des Auswahlverfahrens nicht mehr rechtfertigen können. Denn es ging dem Bundesverwaltungsgericht in dem genannten Beschluss in erster Linie um eine Gegenüberstellung von Abbruchgründen, die allein am Maßstab von Willkür und Rechtsmissbrauch zu messen sind, und solchen, die den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG genügen müssen. Gerade weil der dort in Rede stehende Abbruchgrund der ersten Kategorie zuzuordnen war, es mithin auf die Frage, in welchen Fallkonstellationen sich ein Verfahrensabbruch gemäß Art. 33 Abs. 2 GG rechtfertigen ließe, nicht entscheidungserheblich ankam, bestand für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, eine abschließende Aufzählung aller im Lichte des Art. 33 Abs. 2 GG einen Verfahrensabbruch ermöglichenden Fallkonstellationen vorzunehmen. Für die Annahme, dass das Bundesverwaltungsgericht in einem nicht tragenden Nebensatz von seiner über Jahre gefestigten Rechtsprechung hat abrücken wollen, ohne auf diese überhaupt hinzuweisen, fehlt es daher an hinreichenden Anhaltspunkten.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH BW, Beschluss vom 8.11.2021 - 4 S 1431/21 -, a. a. O. Rn. 32; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, a. a. O. Rn. 11 f.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Darauf, dass das Bundesverwaltungsgericht die unterschiedlichen Kategorien an Abbruchgründen nicht streng voneinander abgrenzt, deutet auch die Begründung seines Urteils vom 3.12.2014 - 2 A 3.13 -, a. a. O. Rn. 19, hin, mit der ausgeführt wird, der Dienstherr könne „das Auswahlverfahren abbrechen, wenn es fehlerhaft ist und nicht mehr zu einer ordnungsgemäßen Auswahlentscheidung führen kann oder wenn eine erneute Ausschreibung erforderlich wird, um eine hinreichende Anzahl leistungsstarker Bewerber zu erhalten“, und in der zum Beleg allein auf das Urteil vom 29.11.2012 - 2 C 6.11 -, a. a. O., verwiesen wird, welches gerade die gerichtliche Beanstandung als solche ausreichen lässt. Dem entspricht es, dass das Bundesverwaltungsgericht auch in jüngeren Entscheidungen,</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2020 - 2 C 12.20 -, BVerwGE 171, 24 = juris Rn. 30 und Beschluss vom 29.7.2020 - 2 VR 3.20 -, juris Rn. 13,</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">zwar inhaltlich die im Beschluss vom 10.12.2018 - 2 VR 4.18 - genannten Fallgestaltungen - unbefriedigender Ausgang bzw. nach Einschätzung des Dienstherrn nicht behebbare Mängel des bisherigen Auswahlverfahrens - wiederholt, allerdings zugleich durch die Verwendung der Wörter „insbesondere“ bzw. „u. a.“ verdeutlicht, dass die Aufzählung der Fallgestaltungen nicht abschließend ist.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH BW, Beschluss vom 8.11.2021 - 4 S 1431/21 -, a. a. O. Rn. 32; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, a. a. O. Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diese Auffassung trägt im Übrigen sowohl dem objektivrechtlichen als auch dem subjektivrechtlichen Gehalt des Bestenauswahlprinzips des Art. 33 Abs. 2 GG Rechnung. Dem im vorausgegangenen gerichtlichen Verfahren erfolgreichen Beamten ‑ hier dem Antragsteller - steht es - wie allen anderen Konkurrenten - offen, sich in dem neu eröffneten Auswahlverfahren um die (Beförderungs-)Stelle zu bewerben; setzt er sich hier als Bestgeeigneter durch und stehen keine weiteren Gründe entgegen, wird er auszuwählen sein. Einen Schutz vor der Erweiterung des Bewerberkreises gewährt Art. 33 Abs. 2 GG generell nicht, das heißt weder im laufenden noch im neuen Auswahlverfahren.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sächs. OVG, Beschluss vom 2.9.2020 - 2 B 247/20 -, a. a. O. Rn. 19; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.11.2019 - 2 MB 10/19 -, a. a. O. Rn. 6; Bay. VGH, Beschluss vom 5.4.2019 - 3 CE 19.314 -, RiA 2019, 179 = juris Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist bei einer neu zu treffenden Auswahlentscheidung auf die dann maßgebliche Sach- und Rechtslage abzustellen. Dies bedeutet auch, dass ggf. ein neues Bewerberfeld und das jeweils aktuelle Beurteilungsbild der zu betrachtenden Bewerber für die neue Auswahlentscheidung in den Blick zu nehmen sind.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.4.2016 - 1 WB 27.15 -, NVwZ-RR 2016, 628 = juris Rn. 18; OVG NRW, Beschlüsse vom 30.11.2021 - 1 B 1341/21 -, juris Rn. 14, , vom 29.7.2021 - 1 B 1072/21 -, ZBR 2021, 422 = juris Rn. 17 und vom 29.5.2018 - 6 B 462/18 -, juris Rn. 17, jeweils m. w. N</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Ob von den genannten Grundsätzen für Fälle geringfügiger bzw. unschwer behebbarer Fehler abzugehen ist,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">so VG Schleswig, Beschluss vom 22.8.2019 - 12 B 40/19 -, juris Rn. 24 f.; Bodanowitz in: Schnellenbach/Bodanowitz, Die dienstliche Beurteilung der Beamten und der Richter, 70. Aktualisierung 4/2021, 2. Der Auslesezweck, Rn. 197a; hierzu tendierend auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.11.2019 - 2 MB 10/19 -, a. a.O. Rn. 6,</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">kann offenbleiben, weil weder die Beschwerde geltend macht noch ersichtlich ist, dass ein solcher Fall gegeben ist.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">cc. Ein Ausnahmefall, in dem die gerichtliche Beanstandung einer Auswahlentscheidung noch keinen sachlichen Grund für den Abbruch des Auswahlverfahrens darstellt, liegt hier nicht vor. Ein solcher Ausnahmefall ist insbesondere gegeben, wenn der Abbruch allein der Benachteiligung oder der Bevorzugung eines Bewerbers dient, etwa indem ein unerwünschter Kandidat aus leistungsfremden Erwägungen von der weiteren Auswahl für die Stelle ausgeschlossen werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 29.12.2012 - 2 C 6.11 -, a. a. O. Rn. 21, und vom 26.1.2012 - 2 A 7.09 -, a. a. O. Rn. 27; VGH BW, Beschluss vom 8.11.2021 - 4 S 1431/21 -, a. a. O. Rn. 34; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.7.2021 - 2 MB 26/20 -, a. a. O. Rn. 9; Sächs. OVG, Beschluss vom 2.9.2020 - 2 B 247/20 -, a. a. O. Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Hierauf könnte ein Neuzuschnitt der Stelle mit einem veränderten Anforderungsprofil hindeuten, das nunmehr der ursprünglich ausgewählte Bewerber, nicht aber der im vorausgegangenen gerichtlichen Verfahren erfolgreiche Antragsteller erfüllt. Auch dafür gibt das Beschwerdevorbringen indes nichts her. Dass der Antragsgegner aufgrund des verstrichenen Zeitraums die Erstellung einer Anlassbeurteilung auch für den Antragsteller und eine Aktualisierung des Bewerberkreises für erforderlich hält, lässt nicht auf eine Benachteiligungsabsicht schließen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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<p>Die Antragsgegnerin wird im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO verpflichtet, der Antragstellerin gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG eine Bescheinigung über die Rechtsmäßigkeit ihres Aufenthalts nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auszustellen.</p>
<p>Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt.</p>
<p>2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin und die Antragsgegnerin jeweils zur Hälfte.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Die Kammer versteht den von der Antragstellerin wörtlich gestellten Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, ihr die Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 AufenthG auszustellen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">2. in die Fiktionsbescheinigung eine Beschäftigungserlaubnis einzutragen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">bei verständiger Auslegung des Antragsbegehrens (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) dahin, dass sie - zulässigerweise - die mit dem Antrag zu Ziffer 2. begehrte Eintragung der Beschäftigungserlaubnis unter die innerprozessuale Bedingung des Erfolgs ihres Antrags zu Ziffer 1. auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung stellt, also beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">6</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">1. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, ihr nach § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auszustellen,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">2. für den Fall des Erfolgs des Antrags zu 1. eine Beschäftigungserlaubnis in die Fiktionsbescheinigung aufzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Aus der Begründung des Antrags geht mit hinreichender Deutlichkeit hervor, dass die Antragstellerin die Eintragung der Beschäftigungserlaubnis von der Ausstellung der Fiktionsbescheinigung abhängig macht. So bezieht sie ihren Vortrag bezüglich der ihr drohenden schwerwiegenden Nachteile ausdrücklich auf "die Nichterteilung der Fiktionsbescheinigung und der darin einzufassenden Beschäftigungserlaubnis".</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">II. Das so verstandene Begehren der Antragstellerin hat jedoch nur mit dem Hauptantrag Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. Soweit die Antragstellerin nach § 123 Abs. 1 VwGO begehrt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 AufenthG auszustellen, ist der Antrag zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">a) Insbesondere ist der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft, da die von der Antragstellerin begehrte Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung i. S. d. § 81 Abs. 5 AufenthG ein schlichtes Verwaltungshandeln ohne Verwaltungsaktsqualität darstellt. Diese Bescheinigung enthält keine eigene Regelung und ist nicht konstitutiv, sondern rein deklaratorisch.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 - 1 C 7.96 -, juris, Rn. 27; OVG NRW, Beschluss vom 18. August 2021 - 18 B 1254/21 -, juris, Rn. 4 und 7; VGH Mannheim, Beschluss vom 6. Mai 2008 - 13 S 499/08-, juris, Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">b) Der Antrag ist auch begründet.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn der Antragsteller darlegt, dass ihm ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln zusteht (Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch gefährdet ist und durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss, weil ihm ansonsten unzumutbare Nachteile entstehen (Anordnungsgrund). Der Antragsteller hat Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">aa) Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht; ihr ist gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung auszustellen. Ihr Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgelöst.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt, wenn er die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt. Diese Voraussetzungen liegen vor.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hält sich i.S.d. Vorschrift rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Rechtmäßig halten sich insbesondere Ausländer auf, die zunächst vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind (vgl. § 4 Abs. 1 AufenthG) und die Aufenthaltserlaubnis gemäß den §§ 39, 40 AufenthV nach der Einreise beantragen können.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Zeitler</em>, in: HTK-AuslR, Stand: 27. Mai 2021, § 81 AufenthG, zu Abs. 3 und 4, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das ist bei der Antragstellerin, die bei der Antragsgegnerin erstmals mit Formblattantrag vom 13. April 2022 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt hat, der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer - wie die Antragstellerin - für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Eine Regelung, die insofern etwas anderes bestimmt, findet sich in den §§ 2 Abs. 1 und 5 Satz 1, 3 Satz 1 Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen vom 7. März 2022, zuletzt geändert durch Art. 1 Erste Verordnung zur Änderung der Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung vom 26. April 2022 (Erste ÄndVO), (UkraineAufenthÜV).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV sind Ausländer, die sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum Außerkrafttreten dieser Verordnung in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen, vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit. § 2 Abs. 5 Satz 1 UkraineAufenthÜV bestimmt, dass die Einreise und der Aufenthalt der in den Absätzen 1 bis 3 genannten Ausländer rechtmäßig sind, soweit der Regelungsgegenstand der Verordnung reicht. Schließlich sieht § 3 Satz 1 UkraineAufenthÜV vor, dass ein erforderlicher Aufenthaltstitel von den in § 2 Absatz 1 bis 3 genannten Ausländern im Bundesgebiet eingeholt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Unter diese Regelungen fällt die Antragstellerin, die sich nach ihren unwidersprochen gebliebenen Angaben am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten hat und am 19. März 2022 in die Bundesrepublik eingereist ist, ohne über einen deutschen Aufenthaltstitel zu verfügen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nicht erforderlich ist indes schon nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV, dass die Antragstellerin ukrainische Staatsangehörige ist. Die Vorschrift erfasst in ihrem personellen Anwendungsbereich generell „Ausländer“. Für ein weites Begriffsverständnis des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV sprechen in systematischer Hinsicht auch § 2 Abs. 2 und 3 UkraineAufenthÜV, welche einschränkend ukrainische Staatsangehörige bzw. in der Ukraine anerkannte Flüchtlinge im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und Personen, die in der Ukraine internationalen oder gleichwertigen nationalen Schutz haben, betreffen. Im Umkehrschluss zu diesen Regelungen ist § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV personell weiter gefasst.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls - und dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV - nicht erforderlich ist, dass die Antragstellerin in der Ukraine über einen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügte, den sie tatsächlich nicht besitzt; ihr bei der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin vorgelegter ukrainischer Aufenthaltstitel ("Temporary Residence Permit" des ukrainischen Staates) ist bis zum 10. August 2023 befristet.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Eine derartige Anwendung der UkraineAufenthÜV widerspricht auch nicht europäischen Rechtsvorgaben, sodass eine teleologische Reduktion des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV auf ukrainische Staatsangehörige bzw. Personen, die in der Ukraine über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nach den dortigen Rechtsvorschriften verfügten, nicht geboten ist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zwar ist nach dem Durchführungsbeschluss 2022/382/EU des Rates der EU vom 4. März 2022, mit dem das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine i. S. d. Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG festgestellt und ein vorübergehender Schutz eingeführt wird, der vorübergehende Schutz für Personen, die in der Ukraine über ein befristetes Aufenthaltsrecht nach den dortigen Rechtsvorschriften verfügten, nicht zwingend vorgesehen. So gilt dieser Beschluss nach seinem Art 2 Abs. 1 allein für ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten, Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben, und Familienangehörige der zuvor genannten Personen. Nach Art 2 Abs. 2 des Beschlusses wenden Mitgliedsstaaten entweder diesen Beschluss oder einen angemessenen Schutz nach ihrem nationalen Recht auf Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine an, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, und die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Doch enthält der Beschluss selbst in seinem Art. 2 Abs. 3 eine Öffnungsklausel für nationales Recht, wonach die Mitgliedstaaten den Beschluss i. S. d. Art. 7 der Richtlinie 2001/55/EG auch auf andere Personen, insbesondere Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine anwenden können, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhielten und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Von dieser Öffnungsklausel hat die Bundesrepublik im Rahmen von § 2 der UkraineAufenthÜV Gebrauch gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dies lässt sich anhand der Systematik des § 2 UkraineAufenthÜV nachvollziehen. Aus dieser wird deutlich, dass der Verordnungsgeber gerade nicht zwischen Drittstaatsangehörigen, die in der Ukraine über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügten, und solchen, die nur über ein befristetes Aufenthaltsrecht verfügten, differenziert. Vielmehr behandelt er beide Personengruppen in der Verordnung gleich. § 2 Absatz 5 Satz 1 UkraineAufenthÜV stellt die Rechtmäßigkeit der Einreise und des Aufenthalts "der in den Abätzen 1 bis 3 genannten Ausländer" fest. § 2 Absatz 2 Satz 1 UkraineAufenthÜV erfasst ukrainische Staatsangehörige, die am 24. Februar 2022 einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Ukraine hatten, aber die sich zu diesem Zeitpunkt vorübergehend nicht in der Ukraine aufgehalten haben, und die bis zum Außerkrafttreten dieser Verordnung in das Bundesgebiet eingereist sind; Satz 2 erweitert diesen Anwendungsbereich auf in der Ukraine anerkannte Flüchtlinge und Personen, die in der Ukraine internationalen oder gleichwertigen nationalen Schutz genießen. Absatz 3 adressiert ukrainische Staatsangehörige, die sich am 24. Februar 2022 bereits rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Absatz 1 bezieht sich schließlich - gleichsam als Auffangtatbestand für alle Personen, die nicht unter die Absätze 2 und 3 fallen - auf Ausländer, die sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum Außerkrafttreten dieser Verordnung in das Bundesgebiet eingereist sind.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Nur noch ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sich die Intention zur Umsetzung der Öffnungsklausel des Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses durch die Bundesrepublik im o.g. Sinne auch anhand der - das Gericht und die Ausländerbehörde nicht bindenden - Hinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes vom 14. März 2022 nachvollziehen lässt. Dort wird auf Seite 5 bezüglich der "[…] [s]onstige[n] nicht-ukrainische[n] Drittstaatsangehörige[n] nach Artikel 2 Absatz 3 des Durchführungsbeschlusses" darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik die Vorgabe dieser Öffnungsklausel in der dort genannten Weise umsetzt. Als nicht-ukrainische Drittstaatsangehörige, die hierunter fallen, werden Personen genannt, die einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt in der Ukraine nachweisen. Erfasst werden sollen demnach insbesondere Studierende wie die Antragstellerin.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">bb) Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Begehrt ein Ausländer die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG nicht im Wege einer Klage, sondern im Wege einer einstweiligen Anordnung, bedeutet eine entsprechende Verpflichtung nach § 123 VwGO bereits eine Vorwegnahme der Hauptsache. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO dient allerdings regelmäßig nur der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses; einem Antragsteller soll grundsätzlich nicht bereits das gewährt werden, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen kann. Aus diesem Grundsatz folgt, dass einem Eilantrag auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO nur stattgegeben werden kann, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG, insbesondere zur Verwirklichung von Grundrechten, schlechterdings unabweisbar ist, d. h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für einen Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Dies setzt neben der Glaubhaftmachung einer besonderen Eilbedürftigkeit, des sogenannten Anordnungsgrundes, eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache voraus.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Vorwegnahme der Hauptsache allgemein: OVG NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - 18 B 104/14 -, juris, Rn. 4.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen hier vor.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Der Antragstellerin drohen ansonsten schlicht unzumutbare Nachteile in Form von erheblichen Grundrechtseingriffen, die nicht mehr rückgängig zu machen wären, weil sie sich kurzfristig ergeben und erledigen würden. Aufgrund der Funktion der Fiktionsbescheinigung, den fingiert rechtmäßigen Aufenthalt des Ausländers zu dokumentieren (siehe § 81 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 AufenthG), ist diese für die Belange des Ausländers von entscheidender Bedeutung. Denn sie ist - trotz ihrer rein deklaratorischen Wirkung - notwendig und geeignet, den Ausländer vor unberechtigten Maßnahmen der Polizei- und Ordnungsbehörden zu bewahren. Ansonsten wäre er im Falle einer polizeilichen Kontrolle nicht in der Lage, seinen aufenthaltsrechtlichen Status sofort nachzuweisen und könnte daher bis zu einer Abklärung vorläufig festgenommen werden. An Wochenenden und in der Nacht könnte dies sogar zu einer länger dauernden Freiheitsentziehung führen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Juni 2010 - 11 S 1050/10 -, juris, Rn. 4; OVG Bremen, Beschluss vom 17. September 2010 - 1 B 140/10 -, juris, Rn. 23; im Ergebnis auch OVG Münster, Beschluss vom 29. August 2019 - 18 B 850/19 -, juris, Rn. 5 f..</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsgegnerin darauf verweist, die Antragstellerin könne ihren rechtmäßigen Aufenthalt aufgrund der Vorschrift des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV auch durch Vorlage ihres ukrainischen Aufenthaltstitels jederzeit dokumentieren, ist festzuhalten, dass von einem Polizeibeamten in einer wie oben geschilderten Kontrollsituation nicht ohne Weiteres erwartet werden kann, dass ihm diese Rechtslage, speziell mit Blick auf die Situation sich bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine aufhaltenden Drittstaatsangehöriger mit befristeten Aufenthaltstiteln, bekannt ist, zumal die UkraineAufenthÜV erst seit März 2022 existiert und punktuell auf ein aktuelles aufenthaltsrechtliches Problem reagiert. Durch die geplante Änderung der Verordnung dahingehend, dass (auch im Falle einer früheren Einreise) ab dem 1. September 2022 Einreise und Aufenthalt der unter die UkraineAufenthÜV fallenden Personen nur noch für 90 Tage als erlaubt gelten, wird die Rechtslage noch uneindeutiger und in einer potentiellen polizeilichen Kontrollsituation schwieriger zu überschauen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Außerdem hätte eine Hauptsacheklage auch weit überwiegend wahrscheinlich Erfolg, da die Voraussetzungen für die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wie oben erläutert, vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">2. Soweit die Antragstellerin nach § 123 Abs. 1 VwGO weiter begehrt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, in die ihr zu erteilende Fiktionsbescheinigung eine Beschäftigungserlaubnis nach bzw. analog § 81 Abs. 5a AufenthG aufzunehmen, ist der Antrag zulässig, jedoch unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Antragstellerin, die ein konkretes Arbeitsverhältnis bereits nicht nachgewiesen hat, einen Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung glaubhaft gemacht hat. Der Antragstellerin steht jedenfalls kein Anordnungsanspruch zur Seite.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Eintragung einer Beschäftigungserlaubnis in die Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5a AufenthG in direkter Anwendung scheidet aus, da die Antragstellerin keinen Aufenthaltstitel für einen Aufenthalt nach Kapitel 2 Abschnitt 3 (§§ 16 ff. AufenthG - Aufenthaltstitel zu Ausbildungszwecken) und 4 (§§ 18 ff. AufenthG - Aufenthaltstitel zu Erwerbstätigkeitszwecken) begehrt. Seinem klaren Wortlaut nach bezieht sich die Vorschrift nur auf diese genannten Aufenthaltstitel. Raum für eine andere Auslegung der Vorschrift verbleibt vor diesem Hintergrund nicht.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Auch eine analoge Anwendung des § 81 Abs. 5a AufenthG auf Fälle von Ausländern, die sich aufgrund der UkraineAufenthÜV rechtmäßig in Deutschland aufhalten und die - wie die Antragstellerin - einen bisher noch nicht (positiv) beschiedenen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG gestellt haben, scheidet aus.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Für die analoge Anwendung einer Vorschrift sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen. So wird neben einer Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes eine vergleichbare Sach- und Interessenlage vorausgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Urteile vom 6. November 2014 - 5 C 7.14 -, juris, Rn. 11; und vom 2. April 2014 - 5 C 40.12 -, juris, Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vorliegend fehlt es jedenfalls an der letztgenannten Voraussetzung. Dies ergibt sich bereits aus dem mit der Einführung des § 81 Abs. 5a AufenthG verfolgten Sinn und Zweck.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift wurde im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erst auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 19/21986, 19/22783, 19/23054 Nr. 8 - für den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Sicherheit im Pass-, Ausweis-und ausländerrechtlichen Dokumentenwesen eingeführt. Demnach sollte hierdurch für den Ausländer die Möglichkeit geschaffen werden, bereits in der Zeit zwischen Veranlassung der Ausstellung und der Ausgabe des elektronischen Aufenthaltstitels die angestrebte Erwerbstätigkeit aufzunehmen (BT-Drs. 19/24007, S. 22). Mit ihr sollte das Problem behoben werden, dass ansonsten aufgrund des Produktionsprozesses bei der Bundesdruckerei, den Versandwegen und der erneuten Vorsprache zur Ausgabe des elektronischen Aufenthaltstitels (eAT) im Scheckkartenformat sich Zeiten ergäben, in denen neu zu erteilende Aufenthaltstitel noch keine Rechtswirkung haben und somit zu ungewollter vorübergehender Arbeitslosigkeit führen könnten. Mit der neuen Regelung des § 81 Abs. 5a AufenthG sollte die (neue) Erwerbstätigkeit bereits ab Entscheidung der Ausländerbehörde, den Aufenthaltstitel zu erteilen, als erlaubt gelten (BT-Drs. 19/24007, S. 4).</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Das Interesse von Personen, die sich aufgrund der UkraineAufenthÜV rechtmäßig in Deutschland aufhalten und die einen bisher noch nicht (positiv) beschiedenen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG gestellt haben, ist hiermit nicht vergleichbar. Denn es bezieht sich auf einen ganz anderen Zeitpunkt als denjenigen, der für den Gesetzgeber Anlass zur Einführung des § 81 Abs. 5a AufenthG war. Die Vorschrift wurde zur Überbrückung der Zeit zwischen der Entscheidung der Ausländerbehörde, den die Erwerbstätigkeit gestattenden Aufenthaltstitel zu erteilen, und der Aushändigung des elektronischen Aufenthaltstitels im Scheckkartenformat an den Ausländer eingeführt. In Situationen, in denen noch keine - zumal positive - Entscheidung über einen gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gefällt wurde, entsteht bereits nicht der vom Gesetzgeber mit der Einführung des § 81 Abs. 5a AufenthG in den Blick genommene Schwebezeitraum, in dem bereits eine Erwerbstätigkeit gestattet werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin für ihre abweichende Rechtsauffassung auf die " Information zum Themenkomplex Ukraine" des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen mit Stand vom 6. Mai 2022, dort Seite 4 erster Absatz sowie die Hinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 14. März 2022, dort Seite 9, verweist, weist die Kammer darauf hin, dass das Gericht an derartige ministerielle Hinweise nicht gebunden ist.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt, dass die Antragstellerin zwar mit dem - sinngemäß - gestellten Hauptantrag obsiegt hat, nicht jedoch mit dem hiervon abhängigen - ebenfalls sinngemäß - gestellten Hilfsantrag.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Das Antragsinteresse hinsichtlich der Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung ist mit Blick darauf, dass es nicht um die Erteilung eines Aufenthaltstitels geht, sondern lediglich um ein "Minus", nämlich die Ausstellung einer Bescheinigung über die Wirkung der Antragstellung, in Höhe eines Viertels des gesetzlichen Auffangstreitwerts (5.000,00 €) ausreichend bemessen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Oktober 2013 - 18 E 962/13 - und vom 26. März 2012 - 18 E 291/12 -, beide abrufbar unter juris.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Hilfsantrag auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis ist ebenfalls in Höhe eines Viertels des gesetzlichen Auffangstreitwerts (5.000,00 €) zu bemessen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. für die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis an einen geduldeten Ausländer: OVG NRW, Beschluss vom 18. April 2005 - 18 E 420/05 -, juris, Rn. 4.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Er wirkt sich auch streitwerterhöhend aus, da er der Sache nach nicht denselben Gegenstand wie der Hauptantrag betrifft (vgl. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG). Ob die Anträge denselben Gegenstand betreffen, bestimmt sich nach einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Demnach sind für das Merkmal "desselben Gegenstands" zwei Voraussetzungen erforderlich, nämlich dass die Ansprüche nicht nebeneinander bestehen können, und dass sie auf dasselbe Interesse gerichtet sind.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu allgemein: OVG NRW, Beschlüsse vom 25. März 2013 - 18 E 1241/12 -, juris, Rn. 12 f.; vom 16. April 2012 - 18 E 871/11 -, juris, Rn. 19 ff.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall, da Haupt- und Hilfsantrag sich hier gerade in der Weise aufeinander beziehen, dass der mit dem Hilfsantrag verfolgte Anspruch neben dem Hauptantrag verfolgt werden muss. Der mit dem Hilfsantrag geltend gemachte Anspruch ist auch nicht auf dasselbe Interesse gerichtet, da er über die Bescheinigung der Fiktionswirkung hinaus die Erlaubnis zur Aufnahme einer Beschäftigung enthält.</p>
|
346,370 | ovgnrw-2022-08-26-1-a-298820 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
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<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf die Wertstufe bis 5.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers abgewiesen, im Wege des Schadensersatzes so gestellt zu werden, als sei die ihm vom X. fehlerhaft erteilte Versorgungsauskunft vom 26. April 1996 zutreffend. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, zwar sei der Dienstherr, der dem Beamten eine fehlerhafte Auskunft erteilt habe, zur Leistung von Schadensersatz verpflichtet, wenn und soweit der Beamte im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft adäquat kausal einen materiellen Schaden erleide. Diese Voraussetzungen lägen jedoch nicht vor. Die – schuldhafte – Pflichtverletzung der Beklagten habe nicht kausal zu einem Schaden geführt, weil nicht mehr nachvollzogen werden könne, ob der Kläger den für die Wahrnehmung einer hauptberuflichen Tätigkeit bei der NATO in dem Zeitraum vom 15. Juni 1992 bis zum 12. Juni 1996 gezahlten Kapitalbetrag wegen der unvollständigen Auskunft nicht abgeführt habe. Diese Unklarheit gehe zu Lasten des Klägers, der die Beweislast trage. Es spreche allerdings Vieles dafür, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Die Behauptung des Klägers, er hätte den Kapitalbetrag nicht abgeführt, wenn die Auskunft vollständig gewesen wäre, sei mit Blick auf den Inhalt seiner Anfrage vom 17. März 1996 schwer haltbar. Der Kläger habe dort die in Betracht kommenden Alternativen für die Berechnung des Ruhensbetrags aufgeführt. Er habe unter dem Gliederungspunkt 2a) um die rechtsverbindliche Bestätigung gebeten, dass im Falle einer Nichtabführung des Kapitalbetrages eine Pensionskürzung von nicht mehr als 1,875 % für jedes vollendete Dienstjahr bei der NATO erfolge. Unter dem Gliederungspunkt 2b) habe er unter Hinweis auf § 85 BeamtVG um die rechtsverbindliche Bestätigung gebeten, dass während der Übergangsberechnung die Kürzung nicht höher ausfalle als 1 % für jedes vollendete Dienstjahr bei der NATO. Diese konkrete Darstellung der rechtlichen Ausgangslage lasse nur den Schluss zu, dass der Kläger in beiden Fällen den Kapitalbetrag nicht habe abführen wollen. Die Anfrage mache deutlich, dass der Kläger den Sachverhalt korrekt erfasst habe und gewusst habe, dass eine der beiden von ihm aufgelisteten Alternativen eingreifen werde, jedoch nicht absehbar gewesen sei, welche. Insbesondere der Wortlaut des Gliederungspunktes 2a) spreche gegen das klägerische Vorbringen. Die Formulierung "nicht mehr als 1,875 %" impliziere, dass der Kläger bis zu einem Ruhensbetrag in dieser Höhe ins Auge gefasst habe, die Kaptalabfindung nicht abzuführen. Andernfalls erschließe sich nicht, weshalb er gerade eine verbindliche Bestätigung für diesen Prozentsatz begehrt habe. Sodann beziehe er sich in Punkt 2b) auf die Übergangsberechnung, wobei unterstellt werden könne, dass er einerseits die entsprechende Norm gelesen und deren Inhalt erfasst habe als auch die möglichen Alternativen erkannt habe. Der Kläger habe selbst vorgetragen, dass die Pflichtverletzung der Beklagten fahrlässig erfolgt sei, weil ein "einfacher Blick" in § 85 BeamtVG zeige, dass diese Vorschrift nur in bestimmten Konstellationen angewendet werde. Unter Berücksichtigung des Werdegangs des Klägers und seines Bildungsniveaus könne unterstellt werden, dass diese Feststellung auch dem Kläger möglich gewesen sei. Er habe sich selbst in seiner Anfrage auf konkrete Normen bezogen. Überdies habe der Kläger die Auskunft auch nicht für die Beklagte erkennbar mit einer Planung in Zusammenhang gesetzt, im Falle einer Kürzung von mehr als 3 % die Kapitalabfindung nicht abführen zu wollen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Auch bei Wahrunterstellung des klägerischen Vorbringens könne nicht angenommen werden, dass der Kläger im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft gehandelt habe. Der Kläger habe die Rechtslage zutreffend eingeschätzt und dies durch die Formulierung seiner Anfrage auch zum Ausdruck gebracht. Dementsprechend könne er sich nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger begehrte Kürzung des Ruhensbetrages auf 3 % bei gleichzeitiger Beibehaltung der Berechnung des Ruhegehaltssatzes gemäß § 14 BeamtVG würde ihn besser stellen, als er ohne das schädigende Ereignis stünde, und sei nach dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">II. Die Berufung hiergegen ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2 f., m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran rechtfertigt das fristgerechte Zulassungsvorbringen des Klägers in dem Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 sowie dem ergänzenden Schriftsatz vom 2. Februar 2021 nicht die Zulassung der Berufung wegen des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes des § 124 Abs. Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1. Der Kläger trägt zur Begründung des Zulassungsantrags vor, das Verwaltungsgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, es könne nicht mehr nachvollzogen werden, ob er tatsächlich durch die unvollständige Auskunft dazu bewogen worden sei, den Kapitalbetrag nicht abzuführen. Er habe stets vorgetragen, dass er für den Fall, dass er die zutreffende Auskunft erhalten hätte – er also auch mit Kürzungen von mehr als 3 % habe rechnen müsse – den Kapitalbetrag abgeführt hätte, weil er einen höheren Abschlag von den Versorgungsbezügen nicht habe hinnehmen wollen. Es gäbe keine Gründe, ihm diese Aussage nicht zu glauben. Insbesondere sein nachfolgendes Verhalten im Zusammenhang mit zwei weiteren Verwendungen bei der NATO belege die Richtigkeit dieser Aussage. Er habe sein Handeln auch dort jeweils an den erhaltenen Auskünften zu den Ruhensregeln ausgerichtet; die angekündigten Kürzungen in Höhe von 1,875 % seien ihm jeweils zu hoch gewesen. Es sei richtig, dass der Kläger selbst in seiner Anfrage vom 17. März 1996 die beiden möglichen Ruhegehaltsberechnungen genannt habe. Auch die von ihm genutzten Formulierungen erlaubten jedoch nicht den Schluss, er habe schon vor der Anfrage abschließend entschieden, welche Kürzungen er hinnehmen wolle. Er hätte in diesem Fall keine Anfrage mehr stellen müssen. Das gelte auch, wenn er – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – die Rechtslage schon gekannt hätte. Das Verwaltungsgericht übersehe, dass der Kläger auf seine Anfrage gerade die fehlerhafte Auskunft erhalten habe, es komme allein, d.h. alternativlos, eine Kürzung von maximal 3 % in Betracht. Mit einer höheren Kürzung habe er danach nicht mehr rechnen müssen, sondern habe auf die Auskunft vertrauen dürfen. Dieses Vertrauen sei auch schutzwürdig gewesen. Das Verwaltungsgericht knüpfe bei seiner Einschätzung, sein Vertrauen sei nicht schutzwürdig gewesen, an den falschen Zeitpunkt an. Es könne dem Kläger nicht entgegengehalten werden, dass er nach Erhalt der Auskunft das Gesetz nicht geprüft habe und ihm nicht aufgefallen sei, dass die Auskunft falsch gewesen sei. Dies könne von dem Kläger als Beamten, der mit versorgungsrechtlichen Angelegenheiten nicht betraut gewesen sei, nicht verlangt werden. Ihm könne nicht vorgehalten werden, dass mit einem einfachen Blick in § 85 BeamtVG ersichtlich gewesen wäre, dass diese Vorschrift nur in bestimmten Konstellationen Anwendungen finde. Auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, es sei in dem Schreiben vom 26. April 1996 ausreichend zur Geltung gekommen, welchen Fällen § 85 Abs. 6 BeamtVG a. F. Anwendungen gefunden habe, treffe nicht zu. Letztlich führe die Auffassung des Verwaltungsgerichts zu dem Ergebnis, dass dem Kläger seine Anfrage vom 17. März 1996 zum Nachteil gereiche. Das Verwaltungsgericht gehe zudem fehlerhaft davon aus, dass die Differenz in den Versorgungsbezügen nur rund 22 Euro ausmache. Eine Berechnung finde sich in dem Urteil jedoch nicht. Die Differenz betrage richtig etwa 140 Euro. Dieser Schadensbetrag sei ein Indiz dafür, dass der Kläger bei einer zutreffenden Auskunft den Kapitalbetrag abgeführt hätte. Der Kläger habe in seiner Anfrage auch nicht angeben müssen, warum er diese einholen wolle. Der Beklagten sei jedoch auch ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Klägers sehr wohl bewusst gewesen, dass es um die Frage einer möglichen Abführung der erhaltenen Kapitalbeträge gegangen sei.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2018– 1 A 249/16 –, juris, Rn. 2 ff.; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 92 ff.; 101 f.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsvortrag stellt die selbständig tragende Begründung des Verwaltungsgerichts, es fehle an der erforderlichen Kausalität zwischen der fehlerhaften Auskunft und dem Schaden, weil das Vertrauen des Klägers auf die Richtigkeit der fehlerhaften Auskunft nicht schutzwürdig gewesen sei, nicht in Frage. Das Verwaltungsgericht hat an dieser Stelle die Behauptung des Klägers, er habe die für die Verwendung bei der NATO gezahlten Kapitalbeträge gerade im Vertrauen auf die unvollständige Versorgungsauskunft der Beklagten nicht abgeführt, ausdrücklich als wahr unterstellt. Auf den die – ebenfalls selbständig tragende – Annahme des Verwaltungsgerichts, es könne nicht mehr nachvollzogen werde, ob der Kläger die Kapitalbeträge tatsächlich wegen der unrichtigen Auskunft nicht abgeführt habe, betreffenden Zulassungsvortrag des Klägers kommt es daher nicht an. Dies gilt auch für den Vortrag zu dem weiteren – eigenständigen – Argument des Verwaltungsgerichts, die vom Kläger begehrte Kürzung des Ruhensbetrages auf nur 3 % bei gleichzeitiger Berechnung des Ruhegehaltssatzes gem. § 4 BeamtVG würde diesen besser stellen als er ohne das schädigende Ereignis stünde.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, das Vertrauen des Klägers in die Richtigkeit der Auskunft der Beklagten vom 26. April 1996 sei nicht schutzwürdig, ist im Lichte des Zulassungsvorbringens auch dann nicht zu beanstanden, wenn mit dem Verwaltungsgericht und dem Kläger davon ausgegangen wird, dass eine fehlerhaft erteilte Versorgungsauskunft im Grundsatz ein schutzwürdiges Vertrauen auf deren Richtigkeit begründet.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch OVG Saarland, Urteil vom 17. August 2021 – 1 A 297/19 –, juris, Rn. 73.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Das Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft ist im Rückgriff auf den in § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG normierten allgemeinen Rechtsgedanken zum Vertrauensschutz nämlich ausnahmsweise dann nicht schutzwürdig, wenn der Beamte entweder wusste, dass die Auskunft fehlerhaft war, oder er dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht wusste. Das vom Kläger im Zulassungsverfahren aufgeworfene Zeitpunktproblem besteht ersichtlich nicht; die Frage der Schutzwürdigkeit des Vertrauens stellt sich vielmehr immer erst nachdem die Vertrauen begründende Auskunft erteilt oder der Vertrauen begründende Verwaltungsakt erlassen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Grob fahrlässig handelt, wer objektiv schwer und subjektiv nicht entschuldbar gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verstößt. Grob fahrlässige Unkenntnis liegt dann vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit vorgeworfen werden können. Dies kann etwa der Fall sein, wenn er bestehenden Zweifeln an der Richtigkeit eines Verwaltungsakts (oder hier einer Auskunft) nicht nachgeht, wenn er grob pflichtwidrig keine kritische Prüfung des Bescheides vornimmt oder eine aufgrund besonderer Umstände bestehende Kontrollpflicht in ungewöhnlich hohem Maße außer Acht lässt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu Begriff der groben Fahrlässigkeit BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – 6 ZR 1118/20 –, juris, Rn. 14 f.; Sachs, in: Stelkens/Sachs/Bonk, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 48, Rn. 161; OVG NRW, Beschluss vom 28. April 2022 – 1 A 1427/20 –, juris, Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran war der Kläger (jedenfalls) grob fahrlässig in Unkenntnis über die Unrichtigkeit der ihm erteilten Auskunft. Es hätten sich ihm bei gehöriger Anstrengung Zweifel daran aufdrängen müssen, dass die Versorgungsauskunft vollständig ist und dass es insoweit einer klarstellenden Nachfrage bei der zuständigen Stelle bedurft hätte.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Kläger verfügte über die notwendigen Kenntnisse, die Auskunft kritisch auf ihre Vollständigkeit hin zu überprüfen. Der Kläger hat sich ganz offenkundig schon vor seiner Anfrage vom 17. März 1996 über die in seinem Fall in Betracht kommenden versorgungsrechtlichen Ruhensregelungen kundig gemacht und insoweit eigene (zutreffende) Schlussfolgerungen gezogen. Dies kann ohne Weiteres – wie auch das Verwaltungsgericht gesehen hat – dem Inhalt des Anfrageschreibens entnommen werden. Der Kläger hat hier nicht nur die aus seiner Sicht möglichen Alternativen einschließlich der voraussichtlichen Höhe der Kürzungen detailliert aufgeführt, sondern er hat ausdrücklich verlangt, dass die Beklagte diese konkreten Schlussfolgerungen „bestätigt“. Mit dieser Wortwahl hat er deutlich gemacht, dass er seine Vorüberlegungen im Ansatz für sachgerecht hält und dass er mit einer inhaltlich entsprechenden Auskunft zu den zu erwartenden Kürzungen rechnet. Die Ausführungen des Klägers belegen – ebenso wie die späteren Schreiben des Klägers – auch ein fundiertes Verständnis der in seinem Fall möglicherweise anwendbaren Regelungen. Sämtliche Schreiben des Klägers bestätigen eindrucksvoll die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger nach seinem Bildungsniveau und seinem Werdegang imstande war, die möglichen versorgungsrechtlichen Folgen der Verwendungen bei der NATO zu erfassen und auf seinen Fall anzuwenden. Ob – wie im Übrigen der Kläger vorgetragen hat – ein „einfacher“ Blick in Gesetz ausreicht, kann bei dieser Sachlage dahinstehen. Mit Blick auf das legitime Interesse des Klägers an einer (verbindlichen) Bestätigung seiner eigenen Vorüberlegungen durch die Beklagte war die Anfrage auch nicht von vorneherein sinnlos. Sie war auch nicht dadurch obsolet, dass die Vorüberlegungen zwingend bedingt hätten, dass der Kläger sich schon im Zeitpunkt der Anfrage abschließend entschieden hatte, bis zu welcher Höhe er eine Kürzung seiner Versorgungsbezüge hinnehmen wolle.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Von dem nach alledem versorgungsrechtlich gut informierten Kläger durfte auch aus Gründen der Treuepflicht erwartet werden, dass er die ihm erteilte Auskunft kritisch anhand dieser Vorkenntnisse auf ihre Vollständigkeit prüft. Dies hat er unterlassen, obwohl die Auskunft vom 26. April 1996 klar hinter seinen aus der Anfrage ersichtlichen Erwartungen zurückblieb und nur eine der von ihm erwähnten Alternativen erwähnt wurde. Auf der Grundlage seiner eigenen Vorüberlegungen hätten sich ihm bei einer Prüfung zumindest Zweifel an der Vollständigkeit der Auskunft aufdrängen müssen und er hätte nachfragen müssen, warum die Beklagte – anders als er erwartet und ausdrücklich beantragt hat – nur auf eine der von ihm erwähnten Alternativen eingegangen ist. Indem er dies unterlassen hat, hat er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten in ungewöhnlich grobem Maße verletzt. Er hat sich ausweislich der Zulassungsbegründung stattdessen unter Ausblendung seines Vorwissens in der Sache mit der Überlegung zufrieden gegeben, die – für ihn günstigste – Auskunft werde schon richtig sein.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Es kommt nach alledem nicht darauf an, dass sich auch unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens nach § 254 Abs. 1 BGB nichts anders ergeben dürfte. Danach hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt hat. Das mitwirkende Verschulden des Geschädigten besteht dabei in einem „Verschulden gegen sich selbst“, d. h. in einer Außerachtlassung der eigenen Interessen. Insoweit ist erforderlich, dass der Geschädigte die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein verständiger Mensch im eigenen Interesse aufwendet, um sich vor einem Schaden zu bewahren. Die Verletzung der Sorgfalt muss vorsätzlich oder fahrlässig erfolgen. Im Rahmen des Mitverschuldens kommt es auf den Grad der Fahrlässigkeit erst bei der Abwägung an, wie der Schaden zu verteilen ist. Bei – wie hier – krass überwiegender Fahrlässigkeit eines Beteiligten kann dieser den ganzen Schaden tragen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. April 2022 – 1 A 1427/20 –, juris, Rn. 10 ff.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
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346,367 | ovgni-2022-08-26-4-la-6722 | {
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} | 4 LA 67/22 | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-08-31T10:01:01 | 2022-10-17T11:09:36 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 21. April 2022 wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren im zweiten Rechtszug wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der von der Beklagten auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung) und Nr. 2 (Divergenz) AsylG gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78 AsylG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfordert daher, dass eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15-; GK-AsylG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.). Im Rahmen dieser Darlegung ist eine konkrete und ihm Einzelnen begründete Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geboten (Senatsbeschl. v. 9.8.2018 - 4 LA 140/18 - m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte möchte in Bezug auf das vom Verwaltungsgericht bejahte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG folgende Fragen geklärt wissen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„Liegt für Antragssteller bei einer Rückkehr nach Somalia aufgrund der dortigen humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen ein derart hohes Gefährdungsniveau vor, dass eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK / 4 GrCH anzunehmen ist und daher ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen ist?</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">und</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Sind die derzeitigen humanitären Bedingungen in Mogadishu derart schlecht, dass zu erwarten ist, dass jedem gesunden, arbeitsfähigen, alleinstehenden Mann ohne Unterhaltspflichten und ohne sozialem Netzwerk im Falle einer Rückkehr es nicht gelingen wird sein Existenzminimum zu erwirtschaften?“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Diese Tatsachenfragen sind jedoch deshalb nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie nicht fallübergreifend geklärt, sondern nur anhand der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls beantwortet werden können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Ausgangspunkt der Beantwortung der Fragen ist der rechtliche Maßstab, der für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland gilt. Er ist in der vorhandenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 15 ff. u. Beschl. v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 -, juris Rn. 6 - jeweils m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Bei Anwendung dieses rechtlichen Prüfungsmaßstabs auf den zu entscheidenden Fall hängt die Antwort auf die oben genannten Tatsachenfragen von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, dem Vermögen und familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. Senatsbeschl. v. 28.1.2022 - 4 LA 250/20 -, juris Rn. 9; OVG Saarland, Beschl. v. 15.7.2021 -2 A 96/21 -, juris Rn. 10). Daher bedarf es für die Beantwortung der Tatsachenfrage einer Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls, so dass sie sich einer allgemeinen, fallübergreifenden Klärung entzieht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, Rn. 11; Senatsbeschl. v. 28.1.2022, a.a.O., juris Rn. 9; OVG Saarland, a.a.O., juris Rn. 10; Nds. OVG, Beschl. v. 31.8.2021 - 9 LA 169/20 -, V.n.b.). Das gilt auch für den Fall des Klägers. Er kann zwar gemäß der Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts bei einer Rückkehr nach Somalia nicht mit Unterstützung durch Familienmitglieder und andere Angehörige seines Clans rechnen, weil er das Siedlungsgebiet des Clans, das sich auf den dem somalischen Festland südöstlich vorgelagerten Inseln befindet, vom Abschiebungszielort Mogadischu aus praktisch nicht erreichen könne (Urteilsabdruck, S. 7). Nach dem eben Gesagten spielen aber noch andere einzelfallbezogene Faktoren eine Rolle dafür, ob ihm bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine Notlage droht, die zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Berufung ist auch nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG wegen der von der Beklagten gerügten Abweichung des Urteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Der Zulassungsgrund der Divergenz liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht seinem Urteil einen abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit einem in einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechts- oder Tatsachenfrage betreffenden oder einem in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechtsfrage betreffenden und die Entscheidung tragenden Rechtssatz nicht übereinstimmt (vgl. GK-AsylG, § 78 Rn. 161 ff. m.w.N.). Dabei muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied deutlich werden, weil die bloße unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtssatzes den Zulassungsgrund der Divergenz nicht erfüllt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997 - 7 B 261.97 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, § 78 Rn. 179 ff. m.w.N.). Die Darlegung der Divergenz, die § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt, erfordert daher die Angabe des Rechtssatzes, mit dem das Verwaltungsgericht von dem obergerichtlich oder höchstrichterlich gebildeten Rechtssatz abgewichen sein soll, die konkrete Bezeichnung der Entscheidung, die den obergerichtlich oder höchstrichterlich entwickelten Rechtssatz enthalten soll, die Wiedergabe dieses Rechtssatzes und Erläuterungen dazu, worin die Abweichung konkret bestehen soll (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1997 - 7 B 261.97 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, § 78 Rn. 615 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Bei Anwendung dieses Maßstabs weicht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht von dem vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 21. April 2022 (- 1 C 10.21 -, juris Rn. 25) zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgestellten Rechtssatz ab, wonach dann, wenn der Rückkehrer Hilfeleistungen im Abschiebungszielstaat in Anspruch nehmen kann, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden kann, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Wie die Beklagte selbst einräumt, hat das Verwaltungsgericht einen davon abweichenden Rechtssatz nicht ausdrücklich aufgestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Eine stillschweigende Abweichung von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dazu GK-AsylG, § 78 Rn. 176 ff.) liegt ebenfalls nicht vor. Im Hinblick darauf, dass die unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtssatzes den Zulassungsgrund der Divergenz nicht erfüllt, deutet das Übersehen oder die fehlerhafte Anwendung eines von einem divergenzfähigen Gericht aufgestellten Rechtssatzes nämlich im Regelfall nicht darauf hin, dass das Verwaltungsgericht einen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat (Senatsbeschl. v. 25.2.2021 - 4 LA 212/19 -, juris Rn. 5; GK-AsylG, § 78 Rn. 177). Der Senat geht davon aus, dass ein solcher Fall hier gegeben ist. Bereits der Umstand, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erst am 21. April 2022 verkündet worden ist und somit erst am Tag der abschließenden Entscheidungsfindung des Verwaltungsgerichts über dessen ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil, legt es mehr als nahe, dass das Verwaltungsgericht den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz lediglich übersehen hat. Das gilt umso mehr, als am 21. April 2022 lediglich eine Pressemitteilung (Nr. 25/2022) zu der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts veröffentlicht worden ist und das mit Entscheidungsgründen versehene vollständige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erst deutlich später veröffentlicht worden ist. Das Verwaltungsgericht hat sich in seiner Entscheidung auch weder mit dem Inhalt der Pressemitteilung auseinandergesetzt noch sich in sonstiger Form im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK mit der Gewährung von Unterstützungsleistungen an Rückkehrer nach Somalia beschäftigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren im zweiten Rechtszug bleibt ohne Erfolg. Das Prozesskostenhilfegesuch ist derzeit an sich noch nicht entscheidungsreif, weil der Kläger seinem Antrag weder eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch entsprechende Belege beigefügt hat (vgl. zu den Voraussetzungen der Entscheidungsreife: Senatsbeschl. v. 4.12.2020 - 4 PA 226/20 -, V.n.b.; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 77 m.w.N.). Der Senat hat mit seiner Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag gleichwohl nicht weiter abzuwarten, um dem Kläger noch Gelegenheit zu geben, die fehlenden Unterlagen nachzureichen. Nach Abschluss des Verfahrens im betreffenden Rechtszug, der hier durch den vorliegenden Beschluss des Senats eintritt, kann Prozesskostenhilfe nur ausnahmsweise bewilligt werden, wenn der Bewilligungsantrag während des Verfahrens gestellt, aber nicht verbeschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (BVerwG, Beschl. v. 1.7.1991 - 5 B 26.91 -, juris Rn. 3; siehe auch BVerfG, Beschl. v. 14.4.2010 - 1 BvR 362/10 -, juris Rn. 14 – jeweils m.w.N.). Diese Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen hier nicht vor, da der Kläger seinem Prozesskostenhilfeantrag die Unterlagen gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 ZPO nicht beigefügt und damit gerade nicht alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 5.10.2006 - 18 E 760/06 -, juris Rn. 8 u. 9 m.w.N.). Das gilt umso mehr, als der Berichterstatter des Senats den Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Verfügung vom 23. Juni 2022 noch darauf hingewiesen hat, dass dem Senat bisher keine Unterlagen vorliegen, die eine Prüfung der wirtschaftlichen Bewilligungsvoraussetzungen ermöglichen, und ihn zugleich aufgefordert hat, ein ausgefülltes PKH-Formular und geeignete Belege nachzureichen. Für die Einreichung dieser Unterlagen hatte der Kläger im Zeitraum seit der Übersendung der Verfügung vom 23. Juni 2022 bis zur heutigen Entscheidung des Senats auch ausreichend Gelegenheit.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG und § 166 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
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346,354 | vg-dusseldorf-2022-08-26-29-l-162022a | {
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} | 29 L 1620/22.A | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:33 | 2022-10-17T11:09:35 | Beschluss | ECLI:DE:VGD:2022:0826.29L1620.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</strong></p>
<p><strong>Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 29 K 5362/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2022 wird abgelehnt.</strong></p>
<p><strong>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus E. ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, vgl. § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der am 27. Juli 2022 sinngemäß gestellte Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>die aufschiebende Wirkung der Klage 29 K 5362/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2022 anzuordnen,</strong></p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) zulässig. Die Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheids vom 18. Juli 2022 hat kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Die Antragsfrist von einer Woche ist angesichts des Postausgangs bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 20. Juli 2022 mit der Antragstellung am 27. Juli 2022 gewahrt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist aber unbegründet. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsakts überwiegt. Für die vorzunehmende Interessenabwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren maßgeblich. Das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung überwiegt regelmäßig, sofern der angegriffene Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Ist der Bescheid hingegen offensichtlich rechtmäßig, überwiegt grundsätzlich das Interesse der Allgemeinheit an seiner Vollziehung. Wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind, hat eine weitere Interessenabwägung im Sinne einer Folgenbetrachtung stattzufinden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheids vom 18. Juli 2022 begegnet bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Greifbare Anhaltspunkte, aufgrund derer das Suspensivinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegen könnte, sind auch im Übrigen nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Zuständigkeit richtet sich vorliegend nach den Regelungen über das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 ff. Dublin III-VO. Im Wiederaufnahmeverfahren ist der zuständige Staat – anders als im Aufnahmeverfahren – nicht nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zu bestimmen, sondern es ist ausreichend, dass der betreffende andere Mitgliedstaat den Erfordernissen nach Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO genügt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 58 ff.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO finden Anwendung, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem zuvor ein Antrag gestellt wurde, das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats bereits in einer die Zuständigkeit dieses Staates begründenden Weise abgeschlossen ist, jedoch unabhängig davon, ob dieser Staat mit der Prüfung des Antrags nach der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) bereits begonnen hat.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 51 bis 53.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Da in einem solchen Fall die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags bereits feststeht, erübrigt sich eine erneute Anwendung der Regeln über das Verfahren zur Bestimmung dieser Zuständigkeit, darunter in erster Linie der in Kapitel III der Dublin III-VO niedergelegten Kriterien.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 67.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Diese Maßstäbe anwendend ist vorliegend Litauen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig. Nach dieser Norm ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, wiederaufzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier. Ausweislich der vom Bundesamt aus dem Eurodac-Verzeichnis eingeholten Auskunft (Beiakte, Heft 1, Bl. 10) liegt für den Antragsteller ein Eurodac-Treffer der Kategorie „1“ vor. Ein solcher weist die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch die betreffende Person aus, vgl. Art. 24 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (VO 603/2013). Dass der Antragsteller in Litauen einen Asylantrag gestellt hat, folgt auch aus den vom Antragsteller selbst vorgelegten Unterlagen. Zwar wurde der Asylantrag des Antragstellers in Litauen zunächst unter Berufung auf Art. 140<sup>12</sup> Abs. 2 des litauischen Gesetzes zur Rechtsstellung von Ausländern (LitAuslG),</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Republic of Lithauania, Law on the legal status of Foreigners, abrufbar unter: https://e-seimas.lrs.lt/portal/legalAct/lt/TAD/ac2cfa50b06f11ecaf79c2120caf5094?jfwid=-1ac9ufoxt9,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">wegen seiner illegalen Einreise nicht vom litauischen Department für Migration entgegengenommen. Aus dem Beschluss des Amtsgerichts Marijampole vom 15. Februar 2022, geht jedoch hervor, dass der Antragsteller am 8. Februar 2022 einen Antrag auf Asyl in der Republik Litauen stellen konnte, über den noch nicht entschieden worden sei. Mit Schreiben vom 25. Juli 2022 haben die litauischen Behörden schließlich ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers anerkannt, da dieser in Litauen einen Asylantrag gestellt habe. Der Eurodac-Treffer, die Abgabe seiner Fingerabdrücke, die Länge seines Aufenthalts in Litauen, seine Unterbringung in einem Aufnahmelager, die vom Antragsteller vorgelegten litauischen Dokumente sowie der Umstand, dass er dort nach seinen eigenen Angaben von litauischen Behörden angehört worden ist, lassen das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der Antragsteller in Litauen einen Asylantrag gestellt hat, der von den litauischen Behörden entgegengenommen und über den noch nicht entschieden worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ferner hat der Antragsteller während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland, einen Asylantrag gestellt, so dass die Voraussetzungen von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO insgesamt vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Zuständigkeit Litauens folgt zudem aus Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO. Nach dieser Vorschrift ist davon auszugehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, wenn innerhalb der hier maßgeblichen Frist von zwei Wochen keine Antwort erteilt wird. Diese Voraussetzungen liegen vor. Litauen hat auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 21. Juni 2022 erst am 25. Juli 2022 geantwortet und in seinem Schreiben die eigene Zuständigkeit gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO anerkannt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ein Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO, wonach derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, in dem der neue Antrag gestellt wurde, wenn das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung erfolgt ist, scheidet aus, weil zwischen der Treffermeldung am 21. Mai 2022 und dem Wiederaufnahmegesuch am 21. Juni 2022, das bei den litauischen Behörden ausweislich einer automatisch generierten E-Mail noch am selben Tag eingegangen ist, nur ein Monat lag.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig kommt ein Übergang der Zuständigkeit auf die Antragsgegnerin gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO in Betracht. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Litauen liegt weniger als sechs Monate zurück und die Überstellungsfrist wurde durch den fristgerecht gestellten Eilantrag unterbrochen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 – 1 C 15.15 –, juris, Rn. 11; BVerwG, Beschluss vom 22. August 2016 – 1 B 95.16 u.a. –, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO gehindert, den Antragsteller nach Litauen zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufwiesen, die für den Antragsteller eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) bzw. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) mit sich brächte. Die Voraussetzungen, unter denen dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 87; EuGH, Urteil und vom 21. Dezember 2011 – C-411/10, –, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, S. 413,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">der Fall wäre, liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Zwar bezieht sich Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nur auf die Situation, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GR-Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung eine solche Gefahr laufen wird.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 87.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dabei ist für die Anwendung von Art. 4 GR-Charta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss, das heißt im Falle der Gewährung internationalen Schutzes, dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 88, 76.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 90 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU –, juris, Rn. 89.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GR-Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GR-Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. EGMR, 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09 –, juris, Rn. 253 f.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Denn im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, gilt die Vermutung, dass die Behandlung dieser Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GR-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris, Rn. 78 bis 80.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 89 ff.; unter Bezugnahme auf EGMR, 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09 –, juris, Rn. 252 bis 263.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben ist nach aktueller Erkenntnislage nicht ersichtlich, dass in Litauen systemische Schwachstellen im Asylsystem oder in den Aufnahmebedingungen vorliegen, die für den Antragsteller eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK mit sich brächte. Im Einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">In Litauen existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit (vgl. Art. 136 ff. LitAuslG). Dies wurde bis Mitte des Jahrs 2021 auch nicht infrage gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. United States Department of State, Lithuania 2020 Human Rights Report, S. 8 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderbericht der Staatendokumentation – Litauen, Gesamtaktualisierung am 2. November 2018, S. 6; VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2021 – 12 L 2301/21.A –, juris, Rn. 39; VG Ansbach, Beschluss vom 5. August 2021 – AN 18 S 21.50139 –, juris, S. 7 des Beschlussumdrucks; VG Düsseldorf, Beschluss vom 27. Februar 2019 – 12 L 438/19.A –, S. 3 f. des Beschlussabdrucks, n.v.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 24. April 2019 – 12 L 915/19.A –, S. 4 ff. des Beschlussabdrucks, n.v.; für Berechtigte internationalen Schutzes VG Ansbach, Urteil vom 21. Februar 2020 – 12 K 2479/17.A –, juris, Rn. 21 ff.; VG Ansbach, Urteil vom 22. Januar 2021 – AN 18 K 18.50284 –, juris, Rn. 44 ff.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Bei seiner Würdigung verkennt das Gericht nicht, dass der litauische Gesetzgeber wegen des Massenzustroms von Flüchtlingen über die belarussisch-litauische Grenze im Juli 2021 bzw. August 2021 ein Gesetzespaket zur Änderung des Asylverfahrens verabschiedet hat, das die Rechte von Asylsuchenden erheblich beschneidet. So sieht Art. 140<sup>12</sup> Abs. 1, Abs. 2 LitAuslG im Falle der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern vor, dass der Asylantrag eines illegal in Litauen eingereisten Ausländers unzulässig ist und deswegen von den litauischen Behörden gar nicht erst entgegengenommen wird. Ausnahmen sieht das Gesetz nur für vulnerable Personen oder bei individuellen Besonderheiten vor. Gemäß Art. 140<sup>17</sup> kann ein Ausländer bei Geltung der Notlage in Haft genommen werden, wenn er die litauische Grenze illegal überquert hat. Vor diesem Hintergrund wurden in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vereinzelt systemische Schwachstellen in Bezug auf das Asylverfahren in Litauen angenommen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Hannover, Beschluss vom 23. Februar 2022 – 12 B 6475/21 –, juris, Rn. 9 f.; diese Frage offen lassend VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2021 – 12 L 2301/21.A –, juris, Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vorliegend ist indessen bereits zweifelhaft, ob die litauischen Notstandsgesetze überhaupt auf den Antragsteller Anwendung finden, weil dieser ausweislich des Beschlusses des Amtsgerichts Marijampole vom 15. Februar 2022 unter dem 8. Februar 2022 einen Antrag auf Asyl in der Republik Litauen stellen konnte, er mithin nicht mehr als illegal eingereister Ausländer gelten dürfte. Hinzu kommt, dass die litauischen Behörden mit Schreiben vom 25. Juli 2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers anerkannt haben.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Letztlich kann diese Frage jedoch offen bleiben, weil mittlerweile der Europäische Gerichtshof in einem Eilvorabentscheidungsersuchen des Obersten Verwaltungsgerichts von Litauen die Unvereinbarkeit der Notstandsregelungen des litauischen Ausländergesetzes mit europäischem Recht festgestellt hat.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">EuGH, Urteil vom 30. Juni 2022 – C-72/22 –, juris, Rn. 46 ff.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Zwar hat der litauische Gesetzgeber die europarechtswidrigen Regelungen des litauischen Ausländergesetzes bislang nicht aufgehoben und den Ausnahmezustand am 28. Juni 2022 bis zum 15. September 2022 verlängert.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Nachrichtenportal der Schweiz, Litauen verlängert Ausnahmezustand wegen Ukraine-Kriegs, 28. Juni 2022, abrufbar unter: https://www.nau.ch/news/europa/litauen-verlangert-ausnahmezustand-wegen-ukraine-kriegs-66211304.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Es ist wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens jedoch davon auszugehen, dass diese Regelungen von den Behörden nicht weiter angewandt werden bzw., falls dies doch geschehen sollte, ein Ausländer jedenfalls erfolgreich um gerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen kann. Dass das Rechtssystem in Litauen insoweit einwandfrei funktioniert, zeigt allein die Vorlage der Notstandsregelungen durch das Oberste Verwaltungsgericht von Litauen an den EuGH mit dem Antrag, im Eilverfahren hierüber zu entscheiden. Es ist dem Kläger auch zumutbar, die nach dem litauischen Rechtssystem vorgesehen Rechtsbehelfe zu ergreifen, um seine Ansprüche durchzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Aachen, Beschluss vom 14. Dezember 2017 – 3 L 1753/17.A –, juris, Rn. 60 ff. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auch die für Dublin-Rückkehrer in Litauen herrschenden Aufnahmebedingungen lassen einen Schluss auf eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung nicht zu. In Litauen gibt es zwei Zentren zur Unterbringung von Fremden. Asylwerber werden bis zum Ende ihres Verfahrens im Fremdenregistrierungszentrum (FRC) in Pabrade untergebracht. Das umfasst auch eine eventuelle Beschwerdephase. Die Asylbehörde kann auch eine private Unterbringung genehmigen. Während eines Aufenthalts in einer Unterkunft, die von den litauischen Behörden zur Verfügung gestellt wird, hat ein Asylbewerber das Recht, alle Aufnahmeeinrichtungen zu nutzen. Er hat das Recht auf Informationen über seine Rechte und Pflichten und auf staatlich garantierte Prozesskostenhilfe, kostenlose Dienste eines Dolmetschers, kostenlose medizinische Grundversorgung und soziale Leistungen in den Zentren. Nahrung und Hygieneartikel werden von den Zentren zur Verfügung gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Litauen, Gesamtaktualisierung am 2. November 2018, S. 7 f.; vgl. auch VG Greifswald, Beschluss vom 2. März 2022 – 6 B 36/22 HGW –, juris, S. 6 f. des Beschlussumdrucks; VG Augsburg, Beschluss vom 22. Februar 2022 – Au 5 S 22.50008 –, juris, S. 8 f.; VG Ansbach, Beschluss vom 5. August 2021 – AN 18 S 21.50139 –, juris, S. 7 des Beschlussumdrucks.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dass das litauische Versorgungs- und Unterbringungssystem aufgrund der hohen Anzahl von Geflüchteten aus der Ukraine überlastet wäre, ist nicht ersichtlich. Die litauische Regierung hat angemessen auf den Zustrom von Geflüchteten aus der Ukraine reagiert, indem sie zusätzliche Aufnahmeeinrichtungen eingerichtet sowie privaten Haushalten für die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter finanzielle Unterstützung zugesichert hat.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Lithuanian National Radio and Television, Lithuania to expand, open new centres to handel influx of Ukrainian refugees, 23. März 2022, abrufbar unter: https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1652065/lithuania-to-expand-open-new-centres-to-handle-influx-of-ukrainian-refugees; Lithuanian National Radio and Television, Lithuanians offered compensation for hosting Ukrainian refugees, 21. März 2022, abrufbar unter: https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1650348/lithuanians-offered-compensation-for-hosting-ukrainian-refugees.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Litauen strebt zudem eine schnelle Integration der ukrainischen Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt an, um den Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, für ihren Unterhalt selbst zu sorgen. Über 1.200 ukrainische Flüchtlinge konnten bereits einen Arbeitsplatz finden. Litauen gewährt ukrainischen Geflüchteten entweder vorübergehenden Schutz für ein Jahr oder stellt ihnen für ein Jahr ein nationales Visum aus.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Lithuanian National Radio and Television, Lithuanians offered compensation for hosting Ukrainian refugees, 21. März 2022, abrufbar unter: https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1650348/lithuanians-offered-compensation-for-hosting-ukrainian-refugees; European Council on Refugees and Exiles, Information Sheet – Measures in response tot he arrival of displaced people fleeing the war in Ukraine, 31. Mai 2022, S. 21, abrufbar unter: https://ecre.org/wp-content/uploads/2022/03/Information-Sheet-%E2%80%93-Access-to-territory-asylum-procedures-and-reception-conditions-for-Ukrainian-nationals-in-European-countries.pdf.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Alle diese Anstrengung der litauischen Regierung zeigen, dass sie dem Schicksal der Geflüchteten nicht etwa gleichgültig gegenübersteht, sondern dass sie in der Lage ist, rasche und unbürokratische Maßnahmen ergreifen, um den Anliegen aller Asylbewerber gerecht zu werden. Demgegenüber liegen keine greifbaren Anhaltspunkte dahingehend vor, dass die Aufnahme der aus der Ukraine Geflüchteten die allgemeine und wirtschaftliche Lage in Litauen in einer Weise verschlechtert hätte, die einen „Automatismus der Verelendung“ zur Folge hätte.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu gesunden und arbeitsfähigen Ausländern VG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Juni 2022 – 22 L 1170/22.A –, juris, Rn. 69.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten oder im Einzelfall verpflichten würden, ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, hat der Antragsteller weder substantiiert vorgetragen noch sind sie sonst erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Unter diesen Umständen steht gegenwärtig auch im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat nach dieser gesetzlichen Maßgabe neben zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen auch zu prüfen, ob der Abschiebung inlandsbezogene Vollzugshindernisse entgegenstehen. Für eine insoweit eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde verbleibt daneben kein Raum.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 30. August 2011 – 18 B 1060/11 –, juris, Rn. 4; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012 – 2 LB 163/10 –, juris, Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 – OVG 2 S 6.12 –, juris, Rn. 4 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 12. März 2014 – 10 CE 14.427 –, juris, Rn. 4; OVG Saarland, Beschluss vom 25. April 2014 – 2 B 215/14 –, juris, Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 – A 11 S 1523/11 –, juris, Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 – 4 Bs 223/10 –, juris, Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004 – 2 M 299/04 –, juris, Rn. 9 ff.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Dies gilt nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 10 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Derartige zielstaats- oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse sind hier jedoch weder substantiiert vorgebracht worden noch sonst ersichtlich. Der Umstand, dass sich die Schwester des Antragstellers im Bundesgebiet aufhält, führt zu keinem anderen Ergebnis, da diese nicht Familienangehörige im Sinne des Art. 2 lit. Buchst. g Dublin III-VO und damit nicht zur Kernfamilie des Antragstellers gehört, zumal ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis ohnehin nicht vorgetragen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu VG Lüneburg, Beschluss vom 9. März 2021 – 8 B 111/20 –, juris, S. 10 des Beschlussumdrucks.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Sonstige Gründe für ein Überwiegen des Interesses des Antragstellers, von der Voll-ziehung der Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse sind nicht erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
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346,350 | ovgni-2022-08-26-14-oa-26622 | {
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"jurisdiction": null,
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} | 14 OA 266/22 | 2022-08-26T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:08 | 2022-10-17T11:09:34 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 4. Kammer - vom 7. Februar 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Festsetzung des Streitwertes durch das Verwaltungsgericht ist unbegründet. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Streitwertfestsetzung in Höhe von 7.500,- EUR ist nicht zu beanstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Nach § 63 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG ist in Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Streitwert nach Ermessen anhand der sich aus dem Antrag der Antragsteller für sie ergebenden, aber objektiv zu beurteilenden Bedeutung der Sache zu bestimmen (vgl. OVG MV, Beschl. v. 22.6.2009 - 3 K 8/09 -, juris Rn. 7). Maßgeblich sind insoweit die Verhältnisse im Zeitpunkt der den Rechtszug einleitenden Antragstellung (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 8.3.2006 - 8 LA 2/06 -, juris Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat sich bei der Streitwertfestsetzung zutreffend daran orientiert, was der Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Ziff. 54.2.1 für Gewerbeuntersagungen empfiehlt und den sich danach ergebenden Wert im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes halbiert (vgl. Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs). Denn die Betriebsuntersagung der beiden oberen Stockwerke der Pflegeeinrichtung „G.“ der Antragstellerin stellt sich wirtschaftlich betrachtet als vorübergehende Untersagung eines Teils des Heimbetriebs dar (vgl. hierzu BremOVG, Beschl. v. 14.6.2021 - 2 B 106/21 -, juris Rn. 60; aA OVG NRW, Beschl. v. 1.7.2013 - 12 B 606/13 -, juris Rn. 36: Auffangstreitwert bei Betriebsuntersagung und Belegungsstopp für Pflegeeinrichtungen). Nach Nr. 54.2.1 des Streitwertkatalogs gilt als Streitwert der Jahresbetrag des erzielten oder erwartenden Gewinns, mindestens 15.000,- EUR. Da sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der Räumungsverfügung vorliegend nicht verlässlich beziffern lassen, ist es sachgerecht, den Mindestbetrag von 15.000,- EUR zugrunde zu legen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragsgegnerin von einem Jahresgewinn i.H.v. 500.000,- EUR ausgeht, liegen hierfür keine Anhaltspunkte vor. Vielmehr ergibt sich aus der von der Antragstellerin übersandten Berechnung aus dem Jahr 2021, dass der Betrieb der Antragstellerin in den hier zu betrachtenden Monaten (Januar bis September 2021) und somit vor dem (ersten) streitgegenständlichen Bescheid vom 21. Oktober 2021 im Durchschnitt sogar Verluste verbuchte. Entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin ist es vorliegend auch sachgerecht auf die wirtschaftliche Situation der Antragstellerin unmittelbar vor Erlass der streitgegenständlichen Bescheide abzustellen, da gerade diese repräsentativ für den zu erwartenden Gewinn in den unmittelbar darauffolgenden Monaten, in denen die Teilbetriebsschließung erfolgte, ist. Anhaltspunkte dafür, dass der zu erwartende Gewinn in den von der Teilbetriebsschließung betroffenen Monaten tatsächlich höher ausgefallen wäre, sind nicht ersichtlich. Angesichts dessen ist nicht davon auszugehen, dass der erzielte Gewinn oder der zu erwartende Gewinn über dem Mindestbetrag von 15.000,- EUR liegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragsgegnerin die Auffassung vertritt, der Streitwert müsse sich an dem parallel beim Verwaltungsgericht anhängigen bauaufsichtsrechtlichen Verfahren orientieren, ist diesem Vorbringen nicht zu folgen. Da - wie bereits dargelegt - die Teilbetriebsuntersagung mit der Gewerbeuntersagung vergleichbar ist, ist es sachgerecht, für die Ermittlung des wirtschaftlichen Interesses der Antragstellerin auf die Streitwertempfehlung im Streitwertkatalog für Gewerbeuntersagungen zurückzugreifen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Eine Streitwerterhöhung durch die weiteren Anordnungen unter Ziffer 2 und 3 des Bescheides vom 10. November 2021 kommt nicht in Betracht, da diese keine eigenständigen Anordnungen darstellen und lediglich - wie die Antragstellerin zu Recht ausführt - die Nachweisführung für die Auszüge aus der Pflegeeinrichtung betreffen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Mithin hat das Verwaltungsgericht zutreffend den für Gewerbeuntersagungen geltenden Mindestbetrag von 15.000,- EUR angenommen und diesen im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes halbiert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die Nebenentscheidungen folgen aus § 68 Abs. 3 GKG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006877&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,791 | vg-gelsenkirchen-2022-08-25-18-k-390820 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 18 K 3908/20 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-10-01T10:01:30 | 2022-10-17T11:10:45 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0825.18K3908.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.0000 geborene Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Approbation als Apotheker.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Er betrieb bis zu seiner Inhaftierung Ende November 2016 in M. als Apotheker eine Apotheke, für die er die behördliche Erlaubnis besaß, nach ärztlicher Anordnung Zytostatika für die Behandlung von Krebspatienten herzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Bereits im September 2016 hatte ein vormaliger Mitarbeiter des Klägers, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, Strafanzeige gegen den Kläger erstattet. Er warf dem Kläger vor, als Inhaber der „F. Apotheke“ in M. im Rahmen der Zubereitung von Zytostatika und beim Vertrieb Medikamente mit erheblich geringerem Wirkstoffgehalt hergestellt und abgegeben, aber gegenüber den Krankenkassen vollständig abgerechnet zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des daraufhin bei der Staatsanwaltschaft Essen geführten Ermittlungsverfahrens – 305 Js 330/16 – erließ das Amtsgericht Essen am 24. November 2016 gegen den Kläger einen Haftbefehl – 71 GS 1652/16 – wegen des dringenden Tatverdachts des mindestens 40.000-fachen Herstellens, Inverkehrbringens oder sonst Handeltreibens mit Arzneimitteln oder Wirkstoffen, die durch Abweichungen von den anerkannten pharmazeutischen Regeln in ihrer Qualität nicht unerheblich gemindert sind, und gewerbsmäßigen Betrugs zu Lasten von Krankenkassen und Privatpatienten. Mit Beschluss vom gleichen Tag ordnete das Amtsgericht Essen – 44 GS 3973/16 – die Durchsuchung des Wohnhauses des Klägers sowie auch der von ihm betriebenen Apotheke in M. an.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Staatsanwaltschaft Essen informierte die Bezirksregierung Münster als Approbationsbehörde über das gegen den Kläger gerichtete Ermittlungsverfahren.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach Anhörung des Klägers ordnete die Bezirksregierung Münster ihm gegenüber vor dem Hintergrund des damaligen Ermittlungsstandes mit Bescheid vom 14. März 2017, zugestellt am 24. März 2017, gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 der Bundesapothekerordnung (BApO) das Ruhen seiner Approbation als Apotheker an. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Kläger sei hinreichend verdächtig, Straftaten begangen zu haben, aus denen sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Apothekerberufs ergeben könne. Ferner gab sie ihm auf, die Approbationsurkunde unverzüglich, spätestens 10 Tage nach Bestandskraft des Bescheides, auszuhändigen und drohte ihm für den Fall, dass er der Aufforderung in Ziffer 2. nicht fristgemäß nachkomme, ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000,- Euro an.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger erhob gegen den vorgenannten Bescheid am 24. April 2017 Klage. Die erkennende Kammer wies die Klage mit Urteil vom 10. Dezember 2019 – 18 K 4999/17 – unter Zulassung der Berufung ab.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Unter dem 11. Juli 2017 – 305 Js 330/16 – erhob die Staatsanwaltschaft Essen Anklage gegen den Kläger und legte ihm dabei zur Last, in der Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 29. November 2016 in insgesamt 61.980 Fällen gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen und dabei in 27 tateinheitlichen Fällen versucht zu haben, eine andere Person an der Gesundheit zu schädigen sowie wegen Betruges in 59 weiteren tatmehrheitlichen Fällen. Ferner beantragte die Staatsanwaltschaft die Anordnung eines Berufsverbotes.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die 21. Große Strafkammer des Landgerichts Essen verurteilte den Kläger mit Urteil vom 6. Juli 2018 – 305 Js 330/16 56 KLs 11/16 – u.a. wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in insgesamt 14.537 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, davon in 14.498 Fällen durch das Herstellen und Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die durch Abweichung von den anerkannten pharmazeutischen Regeln in ihrer Qualität nicht unerheblich gemindert und gefälscht waren, in 39 Fällen durch das Herstellen solcher Arzneimittel, und wegen Betrugs in 59 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren. Im Übrigen sprach sie den Kläger aus tatsächlichen Gründen frei und ordnete ein lebenslanges Berufsverbot und die Einziehung eines Wertersatzbetrages in Höhe von 17 Millionen Euro an.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision des Klägers gegen seine strafrechtliche Verurteilung durch das Landgericht Essen mit Beschluss vom 10. Juni 2020 – 4 StR 503/19 – mit der Maßgabe als unbegründet, dass gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 13.605.408 Euro angeordnet wird. Zur sachlich-rechtlichen Rechtfertigung des Urteils führte der Bundesgerichtshof im Wesentlichen aus, dass sich – mit Ausnahme der Einziehungsentscheidung – kein Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers ergebe.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger gegen den vorgenannten Beschluss am 9. Juli 2020 erhobene Anhörungsrüge wies der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 14. Juli 2020 als unbegründet zurück.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 17. Juli 2020 hörte die Bezirksregierung Münster den Kläger zum beabsichtigten Widerruf seiner Approbation als Apotheker an.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 2. August 2020, ergänzt durch Schriftsatz vom 17. August 2020 erhob der Kläger gegen seine strafrechtliche Verurteilung durch das Landgericht Essen vom 6. Juli 2018 in Gestalt des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 10. Juni 2020 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Das Verfahren wird dort unter dem Aktenzeichen – 2 BvR 1373/20 – geführt und ist nach fernmündlicher Auskunft des Bundesverfassungsgerichts vom 24. August 2022 im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin anhängig.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 7. September 2020, zugestellt am 14. September 2020, widerrief die Bezirksregierung Münster die Approbation des Klägers als Apotheker (Ziffer 1.), gab ihm auf, die Approbationsurkunde spätestens 10 Tage nach Bestandskraft des Bescheides auszuhändigen (Ziffer 2.), und drohte ihm für den Fall, dass er der Aufforderung zur Rückgabe seiner Approbationsurkunde nicht fristgemäß nachkomme, ein Zwangsgeld in Höhe von 500,- Euro an (Ziffer 3.). Zur Begründung führte die Bezirksregierung Münster im Wesentlichen aus, dass aus den zahlreichen Straftaten, die der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Essen zugrunde lägen, sowohl dessen Unwürdigkeit als auch Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs als Apotheker folgen würden. Der Widerruf der Approbation des Klägers sei auch im Lichte der Berufsfreiheit aus Art. 12 des Grundgesetzes (GG) nicht unverhältnismäßig. Insbesondere stehe das im strafrechtlichen Verfahren verhängte lebenslange Berufsverbot dem Widerruf der Approbation nicht entgegen. Ergänzend zum Vorstehenden verwies die Bezirksregierung auf die Begründung der Ruhensanordnung vom 14. März 2017, ihre Ausführungen im zugehörigen Klageverfahren – 18 K 4999/17 – sowie die Ausführungen der erkennenden Kammer im Urteil vom 10. Dezember 2019 zum vorgenannten Verfahren.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mit anwaltlichem Schreiben vom 8. September 2020 trug der Kläger gegenüber der Bezirksregierung Münster vor, dass er gegen seine strafrechtliche Verurteilung Verfassungsbeschwerde erhoben habe und bat darum, die Entscheidung über den Widerruf seiner Approbation bis zu einer Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht zurückzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat gegen den Bescheid der Bezirksregierung Münster vom 7. September 2020 am 14. Oktober 2020 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass es der Bezirksregierung aus rechtlichen Gründen verwehrt sei, den Widerruf seiner Approbation als Apotheker auf seine strafrechtliche Verurteilung durch das Landgericht Essen zu stützen. Diese würde erkennbar und in massiver Weise seine Grundrechte verletzen, weil die Strafkammer die Auswirkungen seiner Hirnverletzung unzureichend erfasst habe. Insbesondere verletze das Urteil sein Grundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren als Ausprägung der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, da die Strafkammer zu diesem Umstand den von ihm beantragten Sachverständigenbeweis nicht erhoben habe. Insoweit hätte sich der Strafkammer die Bestellung eines Facharztes für Neurologie als Sachverständigen evident aufdrängen müssen. Tragende Begründungsstränge des Urteils vom 6. Juli 2018 seien zudem von einer weiteren Strafkammer des Landgerichts Essen (der 16. Großen Strafkammer) in dem gegen vormalige Angestellte des Klägers gerichteten Verfahren – 51 KLs-305 Js 356/17-36/19 – als nicht nachvollziehbar bewertet worden. Hiermit würden gewichtige Anhaltspunkte vorliegen, die die Unrichtigkeit der im Strafurteil enthaltenen Feststellungen belegen würden.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">den Bescheid der Bezirksregierung Münster vom 7. September 2020 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt und vertieft die Bezirksregierung Münster zunächst die Ausführungen in ihrer angegriffenen Ordnungsverfügung vom 7. September 2020. Sie trägt ergänzend vor, dass die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung des Klägers weder an verfassungsrechtlichen noch strafprozessualen Begründungsschwächen leide. Die rechtskräftigen Feststellungen des Strafurteils seien geeignet, den Approbationswiderruf zu begründen. Dabei bilde nicht allein die strafrechtliche Verurteilung des Klägers als solche die Grundlage der Entscheidung, sondern vielmehr die im Urteil getroffenen Feststellungen. Diese ließen nur den Schluss darauf zu, dass der Kläger zur Ausübung des Berufs des Apothekers unwürdig und unzuverlässig sei. Der Verweis auf ein angeblich abweichendes Votum im Beschluss der 16. Großen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 4. März 2020 – 51 KLs-305 Js 356/17-36/19 –, mit welchem die Eröffnung der Hauptverhandlung in einem gegen zwei vormalige Mitarbeiterinnen gerichteten Strafverfahren abgelehnt wurde, verfange nicht. Die strafrechtliche Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Essen sei vielmehr höchstrichterlich bestätigt worden. Ferner seien die Ausführungen im Beschluss der 16. Großen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 4. März 2020 nicht auf das rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren des Klägers übertragbar.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund des zwischenzeitlichen Erlasses des hier streitgegenständlichen Approbationswiderrufes erklärten die Beteiligten das vom Kläger gegen das Urteil der Kammer vom 10. Dezember 2019 – 18 K 4999/17 – erhobene, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen geführte Berufungsverfahren – 13 A 516/20 – übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt. Im Rahmen des daraufhin am 29. Dezember 2020 erlassenen Einstellungsbeschlusses hat das Oberverwaltungsgericht das letztgenannte Urteil der erkennenden Kammer vom 10. Dezember 2019 für wirkungslos erklärt und dem Kläger die Kosten des Berufungs- und des erstinstanzlichen Verfahrens auferlegt.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses und des zugehörigen Verfahrens – 18 K 4999/17 – sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Bezirksregierung Münster zum Widerrufsverfahren und der strafgerichtlichen Akten Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das angerufene Gericht kann trotz des über das Vermögen des Klägers eröffneten und – soweit ersichtlich – weiterhin laufenden Insolvenzverfahrens in der Sache entscheiden. Das Klageverfahren ist nicht nach § 173 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 240 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) bis zum Abschluss des Insolvenzverfahrens auszusetzen. Eine Unterbrechung nach § 240 Satz 1 ZPO erfordert, dass der Streitgegenstand „die Insolvenzmasse betrifft“. Dies ist hier nicht der Fall. Der Widerruf der Approbation des Klägers als Apotheker gemäß § 6 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Bundesapothekerordnung (BApO) knüpft ersichtlich an die Person des Betroffenen und dessen Verhalten an. Der Approbationswiderruf betrifft das berufliche Recht des Klägers, den Status als Apotheker innezuhaben und als solcher tätig zu werden. Dieses personenbezogene Recht gehört nicht zur Insolvenzmasse im Sinne von § 35 Abs. 1 der Insolvenzordnung. Hiernach erfasst das Insolvenzverfahren das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt (Insolvenzmasse). Dazu zählt ein personenbezogenes Recht – wie hier gemäß § 2 Abs. 1 BApO der Status als Apotheker bzw. die Ausübung des Apothekerberufs, welche eine entsprechende Approbation erfordert – gerade nicht,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 8 C 6.14 –, juris Rn. 12 (zur nachträglichen Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Gewerbetreibenden).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das erkennende Gericht ist zur Entscheidung über die vorliegende Klage zudem örtlich zuständig. Nach § 52 Nr. 3 Sätze 2 und 5 VwGO ist das Gericht örtlich zuständig, in dessen Verwaltungsgerichtsbezirk der Beschwerte seinen Wohnsitz hat, wenn der angegriffene Verwaltungsakt von einer Behörde, deren Zuständigkeit sich auf mehrere Verwaltungsgerichtsbezirke erstreckt, erlassen wurde. Die Bezirksregierung Münster ist in ihrem Zuständigkeitsbereich für den Erlass von Approbationswiderrufen verwaltungsgerichtsbezirksübergreifend gemäß § 1 der nordrhein-westfälischen Verordnung zur Regelung der Zuständigkeiten nach Rechtsvorschriften für Heilberufe (Zuständigkeitsverordnung Heilberufe) vom 20. Mai 2008 in der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses geltenden Fassung (GV. NRW 2008, S. 458, im damaligen Zeitpunkt zuletzt geändert durch die am 1. September 2020 in Kraft getretene Verordnung vom 25. August 2020 – GV. NRW 2020, S. 758) zuständig. Maßgeblich zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist daher der Wohnsitz des Klägers zum Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 83 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 17 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes). Zwar befand sich der Kläger zum Zeitpunkt der Klageerhebung in (Untersuchungs-)Haft in der Justizvollzugsanstalt J. und daher im Zuständigkeitsbezirk des Verwaltungsgerichts Z. . Jedoch hatte der Kläger zugleich weiterhin seinen im Zuständigkeitsbereich des erkennenden Gerichts belegenen Wohnsitz in M. inne. Dass sich der Kläger bei Klageerhebung in der Justizvollzugsanstalt J. befand, führte mangels eines freiwilligen Wohnsitzaufgabewillens nicht zu einer Aufhebung seines bisherigen Wohnsitzes,</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Bayreuth, Beschluss vom 12. September 2019 – B 1 K 19.89 –, juris, Rn. 2 f., verweisend auf BGH, Beschluss vom 19. Juni 1996 – XII ARZ 5/96 –, juris, Rn. 2.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid der Bezirksregierung Münster vom 7. September 2020, mit welchem sie die Approbation des Klägers als Apotheker widerrief und den Kläger unter Androhung eines Zwangsgeldes zur fristgemäßen Rückgabe seiner Approbationsurkunde aufforderte, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zunächst im Hinblick auf den auf § 6 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BApO beruhenden Widerruf der Approbation des Klägers als Apotheker. Nach den vorgenannten Vorschriften ist die Approbation eines Apothekers zu widerrufen, wenn er sich nachträglich eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Apothekerberufs ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für den Widerruf der Approbation des Klägers als Apotheker aus § 6 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BApO sind erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dies gilt unter Zugrundelegung der im rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Essen vom 6. Juli 2018 getroffenen tatsächlichen Feststellungen zum strafbewährten Verhalten des Klägers. Hieraus folgt, dass er zur Ausübung des Apothekerberufs sowohl unwürdig als auch unzuverlässig ist.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist unwürdig zur Ausübung des Apothekerberufs.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Unwürdigkeit“ lässt sich durch die dem Apotheker gemäß § 1 BApO zukommende Aufgabe, die Bevölkerung ordnungsgemäß mit Arzneimitteln zu versorgen und dabei der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes zu dienen sowie den weiteren bestehenden berufsrechtlichen Pflichten fassen. Der Widerruf der Approbation wegen Berufsunwürdigkeit ist mit Blick auf den grundgesetzlich gewährleisteten Schutz der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und das Verhältnismäßigkeitsgebot an hohe Voraussetzungen geknüpft. Dementsprechend ist ein Verhalten nicht ausreichend, das im beruflichen Umfeld oder gesellschaftlichen Bereich lediglich auf Missfallen stößt. Erforderlich ist vielmehr ein schwerwiegendes Verhalten, das bei Würdigung aller Umstände das für eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung unabdingbare Vertrauen zwischen Apotheker und Patient nachhaltig zerstört. Damit untrennbar verbunden ist das Schutzgut der Volksgesundheit, in dessen Interesse Patienten die Gewissheit haben müssen, sich dem Apotheker uneingeschränkt anvertrauen zu können, und nicht durch Misstrauen davon abgehalten werden, pharmazeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Volksgesundheit ist ein anerkanntes besonders wichtiges Gemeinschaftsgut, zu dessen Schutz eine subjektive Berufszulassungsschranke nicht außer Verhältnis steht,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. September 2017 – 1 BvR 1657/17 – Rn. 11 und 13; BVerwG, Beschlüsse vom 31. Juli 2019 – 3 B 7.18 –, Rn. 9 (zum Widerruf der Approbation als Arzt), vom 27. Januar 2011 – 3 B 63.10 –, Rn. 4, vom 28. Januar 2003 – 3 B 149.02 –, Rn. 4, OVG NRW, Urteil vom 4. Juni 2019 – 13 A 897/17 –, Rn. 56 f. (jeweils zu § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Bundesärzteordnung); Nds. OVG, Beschluss vom 10. Juni 2015 – 8 LA 114/14 –, Rn. 64 (zum Widerruf einer Approbation als Apotheker nach strafgerichtlicher Verurteilung); vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 30. Juni 2022 – 18 K 4251/20 –, Rn. 45 (zum Widerruf der Approbation als Psychologischer Psychotherapeut), jeweils zitiert nach juris.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Verfehlungen müssen nicht unmittelbar im Verhältnis des Apothekers zum Patienten angesiedelt sein. Erfasst werden auch mit der eigentlichen pharmazeutischen Tätigkeit in nahem Zusammenhang stehende Handlungen und ferner, abhängig von der Schwere des Delikts, auch Straftaten außerhalb des beruflichen Wirkungskreises, wenn sie zu einem Ansehens- und Vertrauensverlust führen, der den Betroffenen für seinen Beruf als untragbar erscheinen lässt,</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 31. Juli 2019 – 3 B 7.18 –, Rn. 9, vom 6. März 2003 – 3 B 10.03 –, Rn. 3, vom 28. August 1995 – 3 B 7.95 –, Rn. 10, und vom 9. Januar 1991 – 3 B 75.90 –, Rn. 5; OVG NRW, Urteil vom 4. Juni 2019 – 13 A 897/17 –, Rn. 60-64, jeweils zitiert nach juris.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der anzustellenden Gesamtbetrachtung sind alle Umstände der Verfehlung(en) zu berücksichtigen, wie etwa Art, Schwere und Dauer des Fehlverhaltens, verhängtes Strafmaß und zugrundeliegende Strafzumessungserwägungen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens Anhaltspunkte vorliegen, die dazu führen, dass von einer Berufsunwürdigkeit nicht oder nicht mehr ausgegangen werden kann. Maßgeblich für die tatrichterliche Würdigung ist, ob seit Beendigung der letzten Straftat bis zum Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung auch veränderte Umstände eingetreten sind, die der Annahme der Berufsunwürdigkeit entgegenstehen,</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 2019 – 3 B 7.18 –, juris, Rn. 13 f. und Rn. 16, m.w.N.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 30. Juni 2022 – 18 K 4251/20 –, juris, Rn. 48.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Ein Approbationswiderruf wegen Unwürdigkeit erfordert – im Gegensatz zum Widerruf wegen Unzuverlässigkeit – keine auf die Person des Betroffenen bezogene Gefahrenprognose; eine Wiederholungsgefahr ist nicht erforderlich. Bei dem Widerruf wegen Unwürdigkeit handelt es sich nicht um eine Sanktion, sondern um eine Maßnahme der Gefahrenabwehr. Deshalb ist der Widerruf mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG nur gerechtfertigt, wenn er im maßgeblichen Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens zur Abwehr einer Gefahr für das Vertrauensverhältnis zwischen Apotheker und Kunde weiterhin für Gemeinwohlbelange erforderlich ist. Das ist bereits der Fall, wenn die Voraussetzungen der Berufsunwürdigkeit in diesem Zeitpunkt erfüllt sind,</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 2019 – 3 B 7.18 –, juris, Rn. 15 f., m.w.N. (zum Widerruf der Approbation als Arzt); VG Gelsenkirchen, Urteil vom 30. Juni 2022 – 18 K 4251/20 –, juris, Rn. 48.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Von diesen Grundsätzen ausgehend hat der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheides vom 7. September 2020,</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">vgl. vor dem Hintergrund der grundrechtlich gebotenen Möglichkeit der Wiedererteilung der Approbation BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 2007 – 3 B 23.07 –, juris, Rn. 6; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 2019 – 3 B 7.18 –, juris, Rn. 9,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">ein gravierendes Fehlverhalten gezeigt, das mit dem Berufsbild und den allgemeinen Anforderungen an die Persönlichkeit des Apothekers schlechthin nicht vereinbar ist. Er hat sich daher nachträglich zur Erteilung seiner Approbation als Apotheker als unwürdig erwiesen. Dies ergibt sich für das Gericht nach eigenständiger Auswertung und Beurteilung des vorliegenden Aktenmaterials.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Bei dem den rechtskräftig abgeurteilten Straftaten des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in 14.537 Fällen sowie des Betruges in 59 Fällen jeweils zugrundeliegenden Verhalten des Klägers handelt es sich um schwerwiegende Verfehlungen, die ihn für den Beruf als Apotheker als untragbar erscheinen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Bereits die Abrechnungsbetrügereien – die der Kläger nach den rechtskräftigen Feststellungen des Urteils des Landgerichts Essen vom 6. Juli 2018 in einem Umfang von 59 Fällen durch monatliche, falsche Abrechnungen bei den Krankenkassen verübt hat –, sind bereits schwere Straftaten mit unmittelbarem Bezug zum beruflichen Wirkungskreis des Klägers. Eine korrekte Abrechnung pharmazeutischer Leistungen gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen gehört zu den selbstverständlichen Berufspflichten des Apothekers. Die Gefährdung der finanziellen Basis der öffentlichen wie auch privaten Kostenträger durch betrügerische Abrechnungen in großem Umfang über viele Jahre hinweg und einem Schaden in Millionenhöhe stellt auch ohne einen unmittelbaren behandlungsrelevanten Bezug eine gravierende berufliche Verfehlung dar. Die Verlässlichkeit des Abrechnungssystems ist eine unerlässliche Bedingung für das Funktionieren der medizinischen wie auch pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung, die der Sicherung eines besonders wichtigen Allgemeininteresses dient,</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. November 2010 – 1 BvR 772/10 –, juris, Rn. 15; OVG NRW, Urteil vom 4. Juni 2019– 13 A 897/17 –, juris, Rn. 65, m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus und erst recht sind die rechtskräftigen Feststellungen zum Fehlverhalten des Klägers, die seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen 14.537-fachen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz im Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. November 2016 zugrunde lagen, von besonders hohem Gewicht. Bei den vorgenannten Straftaten handelt es sich um solche im unmittelbaren Apotheker-Patienten-Verhältnis. Auch wenn das Landgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat bzw. hat treffen können, ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass jedenfalls die größte Vielzahl der vom Kläger unter Missachtung der ärztlichen Vorgaben (vgl. § 7 der Apothekenbetriebsordnung) hergestellten und in den Verkehr gebrachten Arzneimittelzubereitungen tatsächlich den Patienten appliziert wurde.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Ein Apotheker, der – wie der Kläger – mit einer Erlaubnis zur Herstellung von Zytostatika für die Behandlung von Krebspatienten die Maßgaben der ärztlichen Verordnung massiv und wiederholt in mehreren tausend Fällen nicht einhält und dadurch nicht überschaubare Gesundheitsgefährdungen für teils schwer erkrankte Patientinnen und Patienten in Kauf nimmt und deren Vertrauen rücksichtslos missbraucht, um seine persönlichen finanziellen Interessen zu befriedigen, verletzt den Kernbereich seiner beruflichen Pflichten in äußerst hohem Maße,</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">so bereits im Rahmen des Einstellungsbeschlusses zum Berufungsverfahren betreffend das Urteil der Kammer vom 10. Dezember 2019 – 18 K 4999/17 – das OVG NRW, Beschluss vom 29. Dezember 2020 – 13 A 516/20 – (n.v.); vgl. auch die vertieften Ausführungen der Kammer im Urteil vom 10. Dezember 2019 –18 K 4999/17 –, juris, Rn. 67.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Art, Umfang und zeitliche Dauer dieser 14.537 Taten, die der Kläger nach den zur rechtskräftigen Verurteilung führenden Feststellungen des Landgerichts zu verantworten hat, lassen ihn gerade mit Blick auf die medizinisch nicht überschaubaren Folgen für die von den solcherart hergestellten Arzneimittel betroffenen Patienten für die Ausübung des Apothekerberufs als unwürdig erscheinen. Angesichts der außerordentlichen Vielzahl der im Kernbereich der beruflichen Tätigkeit des Klägers begangenen Taten und der dabei aufgrund der betrügerischen Abrechnungen gegenüber den (öffentlichen) Kostenträgern über einen Zeitraum von fast fünf Jahren erzielten hohen Gewinne im mehrstelligen Millionenbereich würde das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Berufsstand aller Apotheker nachhaltig erschüttert, wenn ein solches Verhalten für den Fortbestand der Approbation des Klägers folgenlos bliebe,</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2014 – 3 B 68.13 –, juris, Rn. 10 (zum Widerruf einer Approbation als Arzt); OVG NRW, Urteil vom 4. Juni 2019 – 13 A 897/17 –, juris, Rn. 67 f. m.w.N. (zum Ruhen einer Approbation als Arzt).</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Das rechtskräftig festgestellte Fehlverhalten des Klägers rechtfertigt darüber hinaus auch die Annahme seiner Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Apothekerberufs.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Für die Annahme der – neben der Unwürdigkeit selbständig zum Widerruf der Approbation berechtigenden – Unzuverlässigkeit im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BApO sind Tatsachen erforderlich, die die Annahme rechtfertigen, der Apotheker werde in Zukunft die Vorschriften und Pflichten nicht beachten, die sein Beruf mit sich bringt. Für diese Prognose kommt es darauf an, ob der Betreffende nach den gesamten Umständen des Falles willens und in der Lage sein wird, künftig seine beruflichen Pflichten zuverlässig zu erfüllen. Maßgeblich dafür ist die jeweilige Situation des Betroffenen sowie sein vor allem durch Art, Schwere und Anzahl der strafbewerten Verstöße gegen die Berufspflichten manifest gewordener Charakter,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2010 – 3 C 22.09 –, juris, Rn. 10 (zum Logopäden, mit Verweis auf das Berufsrecht der Ärzte); OVG NRW, Urteil vom 4. Juni 2019 –13 A 897/17 –, juris, Rn. 70 f.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßgaben begründen die insgesamt 14.537 Straftaten des vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz sowie des Betruges in 59 tatmehrheitlichen Fällen, die Gegenstand der rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung des Klägers sind, die prognostische Annahme seiner Unzuverlässigkeit für die Ausübung des Apothekerberufs. Denn er hat hiermit über die erhebliche Zeitspanne von nahezu fünf Jahren wissentlich seine Pflichten als Apotheker mit der vom örtlichen Gesundheitsamt verliehenen Erlaubnis für die Herstellung und das Inverkehrbringen von individuell nach ärztlicher Verordnung hergestellten Krebsmedikamenten massiv verletzt. Dieses jahrelange erhebliche Fehlverhalten, das zu seiner rechtskräftigen Verurteilung geführt hat, lässt prognostisch auf eine bei ihm deutlich verfestigte Neigung schließen, er werde seinen beruflichen Pflichten als Pharmazeut auch zukünftig nicht die erforderliche Bedeutung für die Patienten, aber auch der Gesundheit der Bevölkerung insgesamt beimessen. Dies ist insbesondere auch deshalb anzunehmen, weil sich der Kläger das gegen ihn wegen ähnlicher strafrechtlicher Vorwürfe geführte Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Essen aus dem Jahr 2013, welches im Jahr 2014 mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt wurde, nicht zur Warnung hat gereichen lassen. Vielmehr hat er währenddessen und auch danach unbeeindruckt von jenem Ermittlungsverfahren weitere vorsätzliche Straftaten begangen, die Gegenstand der vorgenannten Verurteilung sind. Auch an der strafgerichtlichen Aufarbeitung seines Fehlverhaltens hat der Kläger nach den Feststellungen des Landgerichts nicht ansatzweise mitgewirkt. Bis zuletzt zeigt er sich uneinsichtig und leugnet seine strafrechtliche Verantwortung. Wie bereits oben ausgeführt, besteht das Risiko, dass aufgrund des Fehlverhaltens des Klägers Arzneimittel mit erheblichen Nichtwirkungen unter Missachtung der ärztlichen Vorgaben eingesetzt worden sind, die Gesundheitsgefahren bei den betroffenen Anwendern ausgelöst haben. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die vom Kläger herzustellenden Arzneimittel zur Behandlung von schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten wie im Rahmen der Krebsbehandlung bestimmt waren. Eine Abgabe von Arzneimitteln an diese Patienten ohne zutreffenden Wirkstoffgehalt ist in höchstem Maße verwerflich. Indem der Kläger bewusst darauf verzichtet hat, die Arzneimittel mit den tatsächlich verschriebenen Wirkstoffgehalten zu dosieren, hat er sich über dieses Risiko entweder bewusst hinweggesetzt oder das Risiko für eine Gesundheitsverschlechterung schlicht nicht erkennen wollen. Im ersten Fall offenbart diese Handlungsweise eine sorglose und bedenkenlose Einstellung im Umgang mit diesen Arzneimitteln, die die Prognose rechtfertigt, dass der Kläger auch künftig seine Prüfungspflichten in eklatanter Weise vernachlässigen wird. Im zweiten Fall ist zu befürchten, dass es wegen fehlenden Fachwissens und einer Fehleinschätzung von Situationen und Gesundheitsgefahren zu weiteren massiven Verstößen gegen Berufspflichten kommen wird.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist den vorgenannten, im Wesentlichen bereits in dem zur Ruhensanordnung ergangenen Urteil der Kammer vom 10. Dezember 2019 – 18 K 4999/17 – (juris), getroffenen Erwägungen, laut denen er zur Ausübung des Berufs als Apotheker sowohl unwürdig als auch unzuverlässig ist, nicht in rechtlich durchgreifender Weise entgegengetreten.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Sein dagegen gerichteter Einwand, die Bezirksregierung Münster habe den Approbationswiderruf nicht auf seine strafrechtliche Verurteilung stützen dürfen, weil letztgenannte in massiver Weise seine Grundrechte verletze, verfängt nicht.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Das Urteil des Landgerichts Essen vom 6. Juli 2018 ist aufgrund und in Gestalt des unanfechtbaren Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 10. Juni 2020 – 4 StR 503/19 – rechtskräftig. Der Umstand, dass der Kläger die Wiederaufnahme des hiermit abgeschlossenen strafgerichtlichen Verfahrens anstrebt und hierzu im August 2020 Verfassungsbeschwerde erhoben hat, die weiterhin anhängig ist, steht dem nicht entgegen. Die bloße Erhebung einer Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf ändert nichts an der Rechtskraft der strafgerichtlichen Entscheidung,</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">vgl. BayVGH, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 13 A 21.2829 –, juris, Rn. 24, bezugnehmend auf BVerwG, Beschluss vom 7. November 2011 – 8 KSt 8.11 –, juris, Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Klägers hat die Bezirksregierung Münster die angegriffene Ordnungsverfügung zu Recht auf die rechtskräftigen Feststellungen des Urteils des Landgerichts Essen vom 6. Juli 2018 gestützt. Auch das erkennende Gericht ist nicht gehalten, neben den rechtskräftigen strafgerichtlichen Feststellungen im Rahmen des approbationsrechtlichen Verfahrens gleichsam ein paralleles Strafverfahren zu führen. Vielmehr ist es vorrangig Aufgabe der Strafgerichte, Straftatbestände abschließend festzustellen und die Frage der Schuld zu beurteilen,</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Juli 2013 – 13 A 1300/ 12 –, juris, Rn. 12 f.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die in einem rechtskräftigen Strafurteil enthaltenen tatsächlichen Feststellungen dürfen in aller Regel zur Grundlage einer behördlichen oder gerichtlichen Beurteilung der betroffenen Persönlichkeit gemacht werden, ohne dass diese auf ihre vom Betroffenen bestrittene Richtigkeit selbst überprüft werden müssten. Im Approbationswiderrufsverfahren besteht für die Verwaltungsgerichte damit grundsätzlich keine Veranlassung, die tatsächlichen Feststellungen aus einem rechtskräftigen Strafurteil erneut zu überprüfen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn gewichtige Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Tatsachenfeststellungen sprechen, insbesondere wenn ersichtlich Wiederaufnahmegründe vorliegen oder wenn die Behörden oder Verwaltungsgerichte den bestrittenen Sachverhalt nunmehr besser als das Strafgericht aufklären können,</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 – 3 C 37.01 – und Beschluss vom 6. März 2003 – 3 B 10.03 –; vgl. ferner VG München, Urteil vom 16. Oktober 2007 – M 16 K 06.4847 –; BayVGH, Beschluss vom 26. Januar 2016 – 8 ZB 15.470 –, Rn. 21; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 25. April 2019 – 8 K 11837/17 – Rn. 32 ff. (die beiden letztgenannten Entscheidungen jeweils mit weiteren Nachweisen sowie jeweils zum Widerruf der Feststellung der luftsicherheitsrechtlichen Zuverlässigkeit), jeweils zitiert nach juris.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Hiernach muss der Kläger die im rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Essen vom 6. Juli 2018 getroffenen Feststellungen, auf die Bezug genommen wird, gegen sich gelten lassen. Diese sind nicht offensichtlich unrichtig. Das Urteil des Landgerichts Essen hielt (mit Ausnahme der Höhe des Einziehungsbetrages) der Prüfung durch den Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren stand.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Gewichtige Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Feststellungen und der Beweiswürdigung in der strafgerichtlichen Entscheidung ergeben sich weder aus dem Vortrag des Klägers noch aus dem gesamten Inhalt der beigezogenen Strafakten. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung seines Vorbringens in der von ihm gegen seine Verurteilung erhobenen Verfassungsbeschwerde. Soweit der Kläger hier mit einem Rechtsgutachten die Rechtsauffassung vertritt, das Landgericht Essen habe ihn nicht im Wege des Rechtsinstituts des uneigentlichen Organisationsdelikts verurteilen dürfen, betrifft dies nicht im Kern die Feststellung des Sachverhalts, sondern allein dessen – hier nicht relevante sowie im Übrigen vom Bundesgerichtshof bestätigte – rechtliche Bewertung.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger darüber hinaus meint, die Feststellungen des Urteils des Landgerichts Essen seien zu bezweifeln, weil die 16. Große Strafkammer des Landgerichts Essen mit Beschluss vom 4. März 2020 – 51 KLs-305 Js 356/17-36/19 – die Anklage gegen zwei vormalige Mitarbeiterinnen aus tatsächlichen Gründen nicht zur Entscheidung angenommen habe, ist dem nicht zu folgen. Denn wie die 16. Große Strafkammer in dem genannten Beschluss selbst ausführt, betrifft die – hier rechtlich allein bedeutsame – Verurteilung des Klägers einen anderen Sachverhalt. Ob bzw. welche einzelnen Handlungen den dort angeklagten damaligen Mitarbeiterinnen zugeordnet werden können, hat für die Beurteilung des Verhaltens des Klägers keine rechtliche Bedeutung. Schließlich zieht auch der Vortrag des Klägers, das Landgericht Essen habe sein Recht auf rechtliches Gehör verletzt, weil es seinen Antrag, zum Nachweis seiner – wie er meint – mangelnden oder eingeschränkten Schuldfähigkeit einen Facharzt für Neurologie als Sachverständigen zu hören, zu Unrecht abgelehnt habe, die Richtigkeit der rechtskräftigen Feststellungen nicht in Zweifel. Dringende Gründe zur Annahme, der Kläger sei bei Begehung sämtlicher ihm zur Last gelegter Taten nicht voll schuldfähig gewesen, sind auch im Übrigen weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Dass im Übrigen Wiederaufnahmegründe im Sinne von § 359 StPO vorlägen, hat der Kläger weder vorgetragen noch ist dies sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Dessen ungeachtet kommt es für den hier streitgegenständlichen, gefahrenabwehrrechtlichen Widerruf der Approbation nicht darauf an, ob der Kläger bei Begehung des ihm vorgeworfenen Verhaltens schuldhaft im strafrechtlichen Sinne gehandelt hat. Denn der Widerruf der Approbation ist eine Maßnahme zur Abwehr von Gefahren, die von der Tätigkeit eines unzuverlässigen oder zur Berufsausübung unwürdigen Approbationsinhabers ausgehen. Er stellt keine weitere Bestrafung dar und setzt deshalb (nicht einmal) ein strafbares Verhalten voraus,</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. August 2018 – 13 A 1535/17 –, juris, Rn. 7; bezugnehmend hierauf VG Aachen, Urteil vom 10. Januar 2019 – 5 K 4827/17 –, juris, Rn. 50.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Dieser Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BApO steht nicht entgegen, dass nach dem Wortlaut der Regelung der Apotheker sich „nicht eines Verhaltens schuldig gemacht“ haben darf, aus dem sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs als Apotheker ergibt. Die vom Gesetzgeber gewählte Formulierung bedeutet nicht, dass der Apotheker voll schuldfähig im strafrechtlichen Sinne gewesen sein muss. Vielmehr ist der Begriff „schuldig gemacht“ ordnungsrechtlich dahin zu verstehen, dass dem Apotheker das Fehlverhalten im Sinne einer adäquaten Kausalität zugerechnet werden können muss,</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">vgl. mit ausführlicher Begründung und mit weiteren Nachweisen Hessischer VGH, Beschluss vom 13. April 2022 – 7 A 2210/18.Z –, juris, Rn. 43 ff. (zum inhalts-gleichen § 3 Abs. 1 Nr. 2 BÄO); vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. Januar 1991 – 1 BvR 1326/90 –, juris, Rn. 24 a.E.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Das ist hier der Fall. Der Kläger hat die – unstreitigen – aus der von ihm als Apotheker in eigener Verantwortung betriebenen Apotheke stammenden Lieferungen erheblich minderdosierter Krebsmedikamente adäquat kausal verursacht.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Schließlich hat der Kläger auch nicht hinreichend dargelegt, hinsichtlich welcher für die Widerrufsentscheidung erheblichen, aber strittigen Tatsache die Möglichkeiten der Bezirksregierung oder des erkennenden Gerichts zur Sachaufklärung besser als die der Strafgerichte gewesen sein sollen. Dies ist für die Kammer auch nicht offensichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">d)</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Der nicht im Ermessen der Bezirksregierung Münster stehende, als subjektive Berufszulassungsregelung wirkende Widerruf der Approbation des Klägers verstößt auch nicht gegen höherrangiges Recht. Er bedeutet insbesondere keinen ungerechtfertigten Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Berufswahl.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ist zwar – wie bereits oben dargestellt – nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung der Verhältnismäßigkeit statthaft. Den Erfordernissen von Art. 12 Abs. 1 GG ist indes auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten genüge getan, wenn die in ihrer Auslegung grundrechtlich geprägten Merkmale der Würdigkeit oder Zuverlässigkeit des Betroffenen zur Ausübung des Berufs als Apotheker, die Voraussetzungen für die Erteilung der Approbation sind, weggefallen sind. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Widerruf erfüllt, ergibt sich die Verhältnismäßigkeit bereits aus der vom Gesetzgeber selbst getroffenen Wertung. Der Schutz des wichtigen Gemeinschaftsguts der Gesundheitsversorgung des einzelnen Patienten und der Bevölkerung rechtfertigt es, die Betätigung eines Apothekers zu unterbinden, der sich eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt,</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2010 – 3 C 22.09 –, juris, Rn. 16 (zum Widerruf der Berufserlaubnis als Logopäde) und Beschluss vom 27. Oktober 2010 – 3 B 61.10 –, juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschlüsse vom 22. November 2018 – 13 A 2079/18 –, juris, Rn. 39 f. und vom 31. August 2006 – 13 A 1190/05 –, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vorstehende Grundsätze vorausgesetzt, ist der Eingriff in die subjektive Freiheit der Berufswahl angesichts der Schwere und Vielzahl der oben im Einzelnen benannten, strafbewährten Verfehlungen des Klägers gerechtfertigt. Der hier in Rede stehende Widerruf der Approbation des Klägers ist zum Schutz der wichtigen Gemeinschaftsgüter der Gesundheitsversorgung und der Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung geeignet. Er ist zudem trotz des strafgerichtlich als Maßregel der Besserung und Sicherung zulasten des Klägers angeordneten lebenslangen Berufsverbots erforderlich. Fälle, in denen – wie hier – die nur begrenzt zulässigen Maßnahmen des § 70 StGB den Sachverhalt berufsrechtlich nicht so erschöpfen, wie es den Erfordernissen entspricht, die an den Berufsstand zu stellen sind, und in denen ein disziplinar- bzw. berufsrechtlicher "Überhang" besteht, lassen die Handlungsfreiheit der Verwaltungsbehörden unangetastet,</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Februar 1963 – I C 98.62 –, juris, Rn. 11; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1969 – 2 BvR 545/68 –, juris, Rn. 23 ff.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Der „berufsrechtliche Überhang“ ergibt sich aus dem unterschiedlichen Zweck des strafrechtlichen Berufsverbots und der in diesem Verfahren zur gerichtlichen Beurteilung gestellten behördlichen Maßnahme des Widerrufs der Approbation. Das Berufsverbot aus § 70 des Strafgesetzbuchs (StGB) ist eine tatbezogene Maßregel der Besserung und Sicherung zur Verhinderung einer Wiederholung der abgeurteilten Tat; sie kann ggf. zeitlich befristet und überdies unter Umständen auch noch nachträglich zur Bewährung ausgesetzt werden. Der Widerruf der Approbation wegen Straftaten, die die Unzuverlässigkeit und/oder Unwürdigkeit als Apotheker begründen, ist demgegenüber eine personenbezogene, auf die Einhaltung der Pflichten eines Pharmazeuten zielende berufsrechtliche Maßnahme. Diese tatübergreifenden speziellen berufsrechtlichen präventiven Aspekte zur Abwehr von Gefahren für ein wichtiges Gemeinschaftsgut – als Überhang – deckt ein strafrechtliches Berufsverbot nicht ab. Die Generalprävention vor dem Tätigwerden eines unzuverlässigen Apothekers und der generelle Schutz des Apothekerberufs sind auch in diesem Fall tragend für den Nichtausschluss einer Maßnahme nach § 6 Abs. 2 BApO durch ein Berufsverbot nach § 70 StGB. Denn der Kläger hat die Taten, derentwegen er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden ist, im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Apotheker begangen. Durch den strafrechtlichen Ausspruch werden zudem die speziellen berufsrechtlichen Gesichtspunkte der Ansehens- und Vertrauenswahrung bei den Patienten und in der Apothekerschaft nicht hinreichend berücksichtigt. Deshalb sind weitergehende berufsrechtliche Maßnahmen auch mit Blick auf das Doppelbestrafungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 GG regelmäßig zulässig,</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Dezember 2013 – 13 B 1944/03 –, juris, Rn. 7 ff. (zum Widerruf einer Approbation als Arzt), und Beschluss vom 3. April 2004 – 13 B 2396/03 –, juris, Rn. 7-11 (zum Ruhen einer Approbation als Arzt),</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Auch sonst sind mildere, aber gleich wirksame Mittel als der Approbationswiderruf im Falle des Klägers nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Der Approbationswiderruf ist auch nicht unangemessen. Die mit dem Eingriff in den Schutzbereich verbundenen Folgen für den Kläger stehen nicht ansatzweise außer Verhältnis zu dem hiermit verfolgten Zweck. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird schließlich auch dadurch Rechnung getragen, dass für Betroffene die (theoretische) Möglichkeit besteht, nach Abschluss des Widerrufsverfahrens einen Antrag auf Wiedererteilung der Approbation zu stellen und gegebenenfalls die Erteilung einer Erlaubnis nach §§ 2 Abs. 2, 11 BApO zu beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. Oktober 2007 – 3 B 23.07 –, juris, Rn. 6 m.w.N. sowie vom 31. Juli 2019 – 3 B 7.18 –, Rn. 13 (letztere zur Approbation als Arzt); VGH BaWü, Beschluss vom 19. April 2006 – 9 S 2317/05 –, juris, Rn. 13 (zum Widerruf der Approbation als Apotheker); siehe auch zur Wiedererteilung der Approbation als Apotheker BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28. August 2007 – 1 BvR 1098/07 –.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die in Ziffer 2. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung angeordnete Rückgabe der Approbationsurkunde nach § 52 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen mit einer Frist von 10 Tagen nach Bestandskraft des Bescheides ist ebenfalls rechtmäßig, da die Voraussetzungen der Norm angesichts des rechtmäßigen Approbationswiderrufs vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Die Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500,- Euro in Ziffer 3. der angefochtenen Verfügung beruht auf den §§ 55 Abs. 1, 57, 60, 62 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen, und erweist sich gleichfalls als rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">4.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
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<p>Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt. Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 12. Dezember 2019 wirkungslos. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen, soweit die Berufung zurückgewiesen wurde.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger bestand im Sommersemester 2018 die Prüfung im Bachelorstudiengang Betriebswirtschaftslehre an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit der Gesamtnote „Gut“ (2,48). Am 30. Juni 2018 nahm er an dem von der ITB Consulting GmbH entwickelten und im Testzentrum Train&Education in Köln durchgeführten Test für Masterstudiengänge in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (im Folgenden: TM-WISO) teil. Das Testergebnis wurde ihm unter dem 14. Juni 2018 mitgeteilt und erläutert.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Zum Wintersemester 2018/2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten fristgerecht die Zulassung zum Masterstudiengang Business Administration: Corporate Development innerhalb und außerhalb der festgesetzten Kapazität. Da die Anzahl der Bewerber die zur Verfügung stehenden Studienplätze überstieg, führte die Beklagte ein Auswahlverfahren durch. Danach wurden die verfügbaren Studienplätze nach einer Rangfolge vergeben, die durch ein Punkteschema ermittelt wurde. In dieses flossen die Ergebnisse des vom Kläger absolvierten TM-WISO ein.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. Oktober 2018 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zulassung zum Masterstudiengang Business Administration: Corporate Development ab. Zur Begründung führte sie aus, im Auswahlverfahren habe der Kläger nicht berücksichtigt werden können, weil seine Leistungen für eine Zulassung nicht ausgereicht hätten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Bereits am 21. August 2018 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Köln erhoben, mit der er seine Zulassung zum Studium innerhalb und außerhalb der festgesetzten Kapazität verfolgt hat. Zugleich hat er erfolglos um die Gewährung vorläufigen Rechtschutzes nachgesucht (VG Köln, Beschluss vom 25. März 2019 - 6 Nc 67/18 -, OVG NRW, Beschluss vom 26. Oktober 2019 - 13 C 35/19 -, juris). Die von ihm hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 20. September 2019 - 45/19. VB-1 -, juris, aus formalen Erwägungen als unzulässig zurückgewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der Klage hat der Kläger im Wesentlichen ausgeführt: Es sei mit höherrangigem Recht nicht vereinbar, dass die Beklagte bei ihrer Auswahlentscheidung das Ergebnis eines von einer Privatfirma erstellten und durchgeführten Studierfähigkeitstests zugrunde lege, dessen Richtigkeit er mangels Akteneinsichtsrechts nicht überprüfen könne. Das Recht auf Akteneinsicht sei wesentlicher Bestandteil des Rechtsschutzes. Fehlerhafte Aufgabenstellungen könnten nur durch eine Akteneinsicht aufgedeckt werden. Würde die Beklagte den TM-WISO selbst durchführen, richtete sich die Akteneinsicht nach § 29 VwVfG NRW. Davon abgesehen fehle eine gesetzliche Grundlage für die Festsetzung von Studienplatzzahlen für den hier in Rede stehenden Masterstudiengang, denn einen Studiengang Business Administration: Corporate Development gebe es nicht. Vielmehr gebe es lediglich den Studiengang Business Administration. Bei der Spezifikation „Corporate Development“ handele es sich lediglich um eine Studienrichtung innerhalb des vorgenannten Studiengangs.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung ihres Ablehnungsbescheides vom 16. Oktober 2018 zu verpflichten, ihn nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2018/2019 zum Masterstudiengang Business Administration: Corporate Development zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Dazu hat sie ausgeführt, es sei nicht zu beanstanden, dass sie die Ergebnisse des fachspezifischen Studierfähigkeitstests TM-WISO in die Auswahlentscheidung einfließen lasse. Das Masterprogramm „Business Administration: Corporate Development“ stelle einen eigenständigen Studiengang dar, für den Zulassungszahlen gesondert hätten festgesetzt werden dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 12. Dezember 2019 abgewiesen. Für den streitgegenständlichen Studiengang seien in zulässiger Weise Zulassungszahlen festgesetzt worden. Das Auswahlverfahren der Beklagten sei nicht zu beanstanden gewesen. Insbesondere sei diese berechtigt gewesen, neben dem Ergebnis des Bachelorstudiums das Ergebnis des TM-WISO heranzuziehen. Grundsätzliche Einwände gegen die Berücksichtigung eines von einem privaten Dritten durchgeführten Studierfähigkeitstests im Auswahlverfahren bestünden nicht. Auch ein Anspruch auf Zulassung zum begehrten Masterstudiengang „Business Administration: Corporate Development“ außerhalb der festgesetzten Zulassungszahlen stehe dem Kläger nicht zu. Die für das Wintersemester 2018/2019 festgesetzte Höchstzahl von 59 Studienplätzen für das erste Fachsemester unterschreite die bei der Beklagten vorhandene Ausbildungskapazität nicht. Es stünden keine weiteren Studienplätze zur Verfügung.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die vom Senat mit Beschluss vom 17. April 2020 zugelassene Berufung begründet der Kläger im Wesentlichen wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Auswahlsatzung der Beklagten sei unwirksam. Im Auswahlverfahren beruhe die Auswahlentscheidung in erheblichem Maße auf dem Ergebnis des Studierfähigkeitstests TM-WISO. Das Ergebnis des fachspezifischen Studierfähigkeitstests zähle nach § 5 Abs. 2 der Ordnung zur Feststellung der besonderen Eignung für die Masterstudiengänge Business Administration in den Studienrichtungen Accounting and Taxation, Corporate Development, Finance, Marketing, Media and Technology Management und Supply Chain Management der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät vom 20. Januar 2015 in der zuletzt geänderten Fassung vom 25. Juni 2018 (amtliche Mitteilung Nr. 50/2018) - MZO - zwischen 0 und 32 Punkten, wobei auf einen Prozentrang von 100 32 Punkte entfielen, auf einen Rang von 35 Prozent und weniger 0 Punkte. Habe eine Bewerberin bzw. ein Bewerber kein Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests gem. § 5 Abs. 2 MZO nachgewiesen, würden 0 Punkte ausgewiesen. Durch das Ergebnis des Studierfähigkeitstests unterschieden sich die Bewerber also um 32 Punkte. Mit der Einbeziehung des Testergebnisses in ihre Auswahlentscheidung lege die Beklagte die Beurteilung der Eignung der Studienbewerber in unzulässiger Weise in die Hand einer privaten Firma, der J. D. GmbH. Die Eignung müsse sie jedoch selbst feststellen. Die Bindungen, die bei Durchführung eigener Studierfähigkeitstests bestünden, insbesondere die Verpflichtung, das Ergebnis des Studierfähigkeitstests gegenüber den Bewerbern zu begründen, ihnen Akteneinsicht in ihr Testergebnis zu gewähren und sich schließlich etwaigen Rechtsbehelfen (Art. 19 Abs. 4 GG) gegen die Testergebnisse zu stellen, könne die Beklagte nicht dadurch unterlaufen, dass sie den Test nicht selbst durchführe. Erforderlich sei zudem eine gesetzliche Regelung, die es ihr gestatte, Eignungsfeststellungen privater Dritter ohne Prüfung im Einzelfall ihrer Auswahlentscheidung zugrunde zu legen. An einer solchen fehle es. In §§ 2,3 HZG NRW liege diese Ermächtigung nicht. Wegen des Verweises auf die Kriterien des Staatsvertrags sei zwar die Einbeziehung eines Studierfähigkeitstest möglich, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie nicht zuletzt verfassungsrechtliche Vorgaben, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 19. Dezember 2017 - 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, entwickelt habe, ergäben jedoch, dass dies nur hochschuleigene Studierfähigkeitstest sein könnten. Nach diesem Urteil sei der Gesetzgeber zudem verpflichtet, den Hochschulen aufzuerlegen, die Strukturierung und Standardisierung ihrer Tests oder Auswahlgespräche transparent zu gestalten (Rn. 154). Hieran fehle es ebenfalls. Die Eignung der Prüfungsfragen, die von der J. D. GmbH gestellt würden, könne mangels Akteneinsicht nicht überprüft werden. Es handele sich ausnahmslos um Multiple Choice Fragen. Die Beklagte gehe zudem zu Unrecht von einer „guten Prognosekraft“ des Tests aus. Offensichtlich sei es so, dass zahlreiche Faktoren, die die Eignung für ein betriebswirtschaftliches Studium belegten und die die Endnote beeinflussten, vom Test gar nicht erfasst würden. Schließlich sei die Verwendung der im TM-WISO verwandten „Einstreuaufgaben", also der Aufgaben, die nicht gewertet werden würden und die nur der Entwicklung neuer Prüfungsfragen dienten, zu beanstanden. Angesichts ihres Umfangs führten sie zur einer Verzerrung des Testergebnisses. Abgesehen davon werde nicht mehr allein die Eignung der Bewerber geprüft, da die Einstreuaufgaben ebenso wie falsche Antworten nicht bzw. mit null Punkten bewertet würden. Dies widerspreche ebenfalls den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 19. Dezember 2017 ‑ 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, Rn. 14. Im Übrigen folge aus der generellen Eignung eines Tests nicht, dass er im konkreten Fall auch ordnungsgemäß und mit ordnungsgemäßen Fragen durchgeführt worden sei. Nach alldem bestehe keine wirksame Regelung der Beklagten über den Zugang zum begehrten Masterstudiengang. Sein, des Klägers, Anspruch auf Teilnahme an einem rechtmäßigen Auswahlverfahren sei deshalb noch nicht erfüllt. Er sei auch nicht dadurch untergegangen, dass die Beklagte das Auswahlverfahren auf der Grundlage einer rechtswidrigen Zulassungsordnung durchgeführt und Studierende zugelassen habe. Seinem fortbestehenden Anspruch sei durch eine vorläufige Zulassung zum Studium Rechnung zu tragen, wobei die Zulassung auflösend bedingt durch die Durchführung eines rechtmäßigen Zulassungsverfahrens für das Wintersemester 2018/2019 sei.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger, der mit Zustimmung der Beklagten mit Schriftsatz vom 24. November 2021 die Klage zurückgenommen hat, soweit sie auf die Zulassung zum Masterstudiengang Business Administration: Corporate Development außerhalb der festgesetzten Kapazität gerichtet war, beantragt schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung ihres Ablehnungsbescheids vom 16. Oktober 2018 zu verpflichten, ihn innerhalb der festgesetzten Kapazität nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemester 2018/19 zum Masterstudiengang „Business Administration: Corporate Development“ zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Verwendung privatwirtschaftlicher Studierfähigkeitstests sei zulässig. Der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht seien von der Existenz und Zulässigkeit privater Studierfähigkeitstests ausgegangen und hätten nicht in Frage gestellt, dass etablierte Tests wie der ebenfalls von der J. D. GmbH entwickelte und durchgeführte Test für medizinische Studiengänge (TMS) zulässig seien. Es sei auch weder im Interesse des Gesetzgebers noch dem der Bewerber, dass jede Hochschule zwingend eigene Studierfähigkeitstests entwickele, da dies die Vergleichbarkeit erschwere. Für die Bewerber bedeute es zudem einen deutlich erhöhten finanziellen und zeitlichen Aufwand, wenn für jeden einzelnen Studiengang an jeder einzelnen Hochschule ein gesonderter Test durchgeführt werden müsse. Wie der Kläger selbst ausführe, folge aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass nur die wesentlichen Fragen des Zulassungsrechts durch den Gesetzgeber selbst zu regeln seien. Die Frage, von wem ein Studierfähigkeitstest entwickelt und durchgeführt werde, sei keine wesentliche Frage. Der Kläger stütze seine Ausführungen vornehmlich auf das Argument, dass bei Studierfähigkeitstests, die durch private Anbieter durchgeführt würden, das Akteneinsichtsrecht eingeschränkt sei. Dabei verkenne er jedoch, dass die Einschränkung des Akteneinsichtsrechts nicht durch die Person des Testanbieters bedingt sei, sondern sich aus der Art des Tests ergebe. Bei dieser Art von Test werde kein Wissen abgefragt. Studierfähigkeitstests seien psychometrische Tests, in denen spezifische Fähigkeiten, die für das Studium von besonderer Bedeutung seien, wie etwa das rasche Aufnehmen von Textinhalten, die differenzierte visuelle Wahrnehmung, der Umgang mit quantitativen Problemen, das logische Schlussfolgern etc., ermittelt und gemessen würden. Je stärker die Fähigkeiten einer teilnehmenden Person in diesen Bereichen seien, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie die betreffenden Aufgaben löse. Die Aufgaben könnten somit nicht beliebig jederzeit von einem Prüfenden erstellt und variiert werden. Sie müssten vielmehr in einem aufwendigen mehrstufigen Entwicklungs- und Revisionsprozess entwickelt und getestet werden. Bei der J. D. GmbH würden alle Testaufgaben von Experten der Eignungsdiagnostik (akademischer Abschluss in Psychologie, Erfahrung in der Entwicklung psychometrischer Tests) ggfls. unter Hinzuziehung von externen Fachgutachtern bei fachbezogenen Aufgaben, die z. B. technisches Verständnis messen, entworfen. Alle neu entwickelten Aufgabenentwürfe würden zunächst von mehreren Experten auf inhaltliche Korrektheit, sachliche Eindeutigkeit und sprachliche Präzision überprüft und anschließend revidiert. Die revidierten Aufgaben würden sodann unter Ernstbedingungen als Einstreuaufgaben erprobt. Als gewertete Aufgaben würden nur diejenigen in den Test aufgenommen, welche die psychometrischen Gütekriterien erfüllten. Die Erstellung der Aufgaben sei daher sehr aufwendig und entsprechend zeit- und kostenintensiv. Unabhängig davon, ob der Test durch einen privaten Anbieter oder die Hochschule angeboten werde, sei es praktisch nicht durchführbar und finanzierbar, zu jedem Testtermin eine vollständig neue Testversion mit durchweg vorerprobten Aufgaben einzusetzen. Die Testaufgaben müssten folglich mehrfach verwendet werden. Dies sei jedoch nur möglich, wenn die Aufgaben den Teilnehmern nicht bereits bekannt seien. Dies wiederum erfordere die Geheimhaltung sämtlicher Aufgaben vor und nach dem Einsatz im Test. Dieses Interesse an der Geheimhaltung der Aufgaben sei, unabhängig davon, ob es sich um das Interesse des privaten Anbieters oder der Hochschule handele, schutzwürdig. Das Recht auf Akteneinsicht werde dementsprechend auch nicht uneingeschränkt gewährt. Gemäß § 29 Abs. 2 VwVfG NRW sei die Behörde zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit durch sie die ordnungsgemäße Erfüllung ihrer Aufgaben beeinträchtigt sei. Auch in Ansehung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG könnten die Testunterlagen als geheimhaltungsbedürftig angesehen werden. Es sei daher ausreichend, dass Inhalt und Bewertung des Tests exemplarisch erläutert würden, zumal wenn der Test kein reines Wissen abfrage. Aus diesen Gründen gebe es bei allen etablierten deutschen Testprogrammen, wie etwa dem TMS, dem TM-WISO oder dem Test für ausländische Studierende (TestAS), keine Akteneinsicht. Darüber hinaus seien Fehler bei der Testauswertung praktisch ausgeschlossen. Die Auswertung des TM-WISO erfolge automatisiert, so dass kein Ermessensspielraum bestehe und menschliche Fehler ausgeschlossen seien. Alle Aufgaben seien Multiple-Choice-Aufgaben mit einer einzigen eindeutigen Lösung. Für jede richtig gelöste Aufgabe werde ein Punkt vergeben, für falsch beantwortete Aufgaben oder nicht beantwortete Aufgaben werde kein Punkt vergeben. Die Zahl der im Test erzielten Punkte habe Intervallskalenniveau und diene dazu, Testteilnehmende hinsichtlich ihrer erfolgsrelevanten Fähigkeiten in eine Rangreihe zu bringen. Im Übrigen hätte der Kläger auch dann keinen Anspruch auf einen Studienplatz, selbst wenn die Zulassungsordnung sich in rechtswidriger Weise auf Studieneignungstests gestützt hätte, da in diesem Fall eine Auswahl allein nach der Note des ersten berufsqualifizierenden Abschlusses hätte erfolgen müssen, wonach der Kläger ebenfalls keinen Platz bekommen hätte.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat auf Anforderung des Senats den Vertrag mit der J. D. GmbH übersandt (Anlage 4 zum Schriftsatz vom 20. November 2020). Sie hat ferner als Anlagen zum Schriftsatz vom 12. Februar 2021 einen Lösungsschlüssel, die Testwerte des Klägers und die von diesem im Test vom 30. Juni 2018 erreichten Punkte (Anlage B5), die Auswertungsdatei des Tests (Anlage B6) und den Ergebnisbericht (Anlage B7) übersandt. Nicht übersandt wurden die Testfragen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Am 29. Juli 2021 hat die Berichterstatterin einen Erörterungstermin durchgeführt, an dem mit Einverständnis der Beteiligten Dr. T. T1. , Gesellschafter der J. D. GmbH, nebst Rechtsanwalt Dr. X. teilgenommen haben.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger und die Beklagte haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des über den Erörterungstermin angefertigten Sitzungsprotokolls und des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 13 A 442/20 und 13 C 35/19 (Beiakte zu 13 A 442/20) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe</span></p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">A. Soweit der Kläger die Klage auf Zulassung zum Masterstudiengang Business Administration: Corporate Development außerhalb der festgesetzten Kapazität mit Zustimmung der Beklagten zurückgenommen hat, ist das Verfahren einzustellen (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 12. Dezember 2019 wirkungslos (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen hat die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO), keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die zulässige Verpflichtungsklage (B.) zu Recht als unbegründet abgelehnt (C.).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">B. Die Verpflichtungsklage ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">I. Sie ist nicht wegen Ablaufs des Wintersemsesters 2018/2019 unzulässig geworden. Das Begehren des Klägers, nach den für die Zulassung zu diesem Semester maßgeblichen Regeln und tatsächlichen Verhältnissen sobald wie möglich und ohne erneute - unter anderen tatsächlichen und möglicherweise auch anderen rechtlichen Voraussetzungen zu prüfende - Bewerbung zum Studium zugelassen zu werden, hat sich durch das Ende des Wintersemesters 2018/2019 nicht erledigt. Dabei ist unerheblich, ob der Kläger rückwirkend zum Studium zugelassen werden könnte; es genügt, dass allein durch den Ablauf des Winter-semesters eine Zulassung zum Studium - und sei es auch nur zu einem späteren Semester - nicht unmöglich wird.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 1973 - VII C 7.71 -, juris, Rn. 16; Sächs. OVG, Beschluss vom 20. Mai 2019 - 2 B 73/19. NC -, juris, Rn. 11; Nds. OVG, Urteil vom 7. April 2016 - 2 LB 60/15 -, juris, Rn. 35; Bay. VGH, Beschluss vom 22. Januar 2014 - 7 ZB 13.10359 -, juris, Rn. 14 ff.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">II. Für den Anspruch, nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Wintersemester 2018/2019 zum Studium zugelassen zu werden, kommt es auch nicht darauf an, ob sich der Kläger für die nachfolgenden Semester erneut um Zulassung zum Studium beworben hat. Wenn er dies - etwa in der Erkenntnis, dass infolge veränderter Verhältnisse die Bewerbung aussichtslos sei - nicht tat, berührt dies den Antrag, auf Grund einer früheren Bewerbung zum Studium zu-gelassen zu werden, nicht. Insofern wird das Recht hochschulreifer Bewerber auf Zulassung zum Studium durch die in jedem Semester verschiedenen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen des Anspruchs konkretisiert und damit auch verselbständigt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 1973 - VII C 7.71 -, juris, Rn. 16.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">III. Die tatsächliche Vergabe der in der Zulassungszahlenverordnung ausgewiesenen Studienplätze führt auch nicht zum Untergang eines bestehenden innerkapazitären Zulassungsanspruchs eines im Auswahlverfahren der Hochschule rechtswidrig übergangenen Bewerbers, mit der Folge, dass die Verpflichtungs-klage deshalb unzulässig wäre. Dies schließt die Zulassung nach den Rechtsverhältnissen des abgelaufenen Semesters nicht aus. Insoweit denkbar wäre etwa eine überkapazitäre Aufnahme des zu Unrecht übergangenen Bewerbers oder eine Aufnahme zu einem späteren Semester.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2012 ‑ 13 B 54/12 -, juris, Rn. 1; vgl. ferner VerfGH Bad.-Württ., Urteil vom 30. Mai 2016 - 1 VB 15/15 -, juris, Rn. 83; Nds. OVG, Beschluss vom 2. Juli 2021 - 2 NB 437/20 -, juris, Rn. 20; Sächs. OVG, Beschluss vom 27. Februar 2012 - NC 2 B 14/12 -, juris, Rn. 12; VGH Bad.-Württ., Be-schluss vom 24. Mai 2011 - 9 S 599/11 -, juris, Rn. 5 ff.; vgl. für das Schulrecht BVerfG, Be-schluss vom 12. März 2019 - 1 BvR 2721/16 -, ju-ris, Rn. 32.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Annahme eines fortbestehenden Zulassungsanspruchs steht auch nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung,</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. November 2013 - NC 1108712 -, juris, Rn. 104, sowie Be-schluss vom 17. Februar 2011 - NC 9 S 1429/10 -, juris, Rn. 5,</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">wonach die Vergabe eines Studienplatzes außerhalb der festgesetzten Kapazität regelmäßig ausscheidet, wenn die Plätze bereits tatsächlich belegt sind. Wäh-rend es im Falle des rechtswidrig übergangenen Bewerbers um einen bereits be-stehenden Zulassungsanspruch geht, kann der Bewerber um einen „außerkapa-zitären“ Studienplatz nur die gleiche Teilhabe an der Vergabe vorhandener Plätze beanspruchen. Diese Studienplatzvergabe steht unter dem „Vorbehalt des Möglichen“, weshalb diesem Zulassungsbegehren entgegengehalten werden kann, dass die Ressourcen durch anderweitige Vergabe bereits ausgeschöpft sind.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24. Mai 2011 - 9 S 599/11 -, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">IV. Schließlich steht der Zulässigkeit der Verpflichtungsklage auch nicht entgegen, dass es dem die Unwirksamkeit der Auswahlsatzung geltend machenden Kläger nicht mehr gelingen kann, die mit ihm um einen Studienplatz innerhalb der festgesetzten Kapazität im WS 2018/2019 konkurrierenden Bewerber in einem zukünftig durchzuführenden rechtmäßigen Auswahlverfahren zu verdrängen. Dies führt nicht dazu, dass der Hochschule eine bezogen auf die Person des Klägers rechtmäßige Auswahlentscheidung nicht mehr möglich wäre.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">C. Die Verpflichtungsklage ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid vom 16. Oktober 2018 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zulassung zum Masterstudiengang Business Administration: Corporate Development nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2018/2019. Der Zulassung steht entgegen, dass er in dem nach § 5 MZO vorgesehenen rechtmäßigen Auswahlverfahren (I.) mit seinem Rangplatz nicht die erforderliche Auswahlgrenze erreicht hat (II.).</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">I. Die Entscheidung über den Antrag auf Zulassung zum Studium zum Wintersemester 2018/2019 richtet sich nach den im Bewerbungssemester maßgeblichen Regeln und tatsächlichen Verhältnissen, auch wenn diese sich zwischenzeitlich geändert haben.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2017 - 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, Rn. 95 m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 22. Juni 1973 - VII C 7.71 -, juris, Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich für das Zulassungsbegehren des Klägers sind deshalb § 3 Abs. 1 i. V. m. § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 des Gesetzes über die Zulassung zum Hochschulstudium in Nordrhein-Westfalen vom 18. November 2008 (GV. NRW. S. 710) in der zuletzt durch Art. 3 des Gesetzes zur Ratifizierung des Staatsvertrags über die gemeinsame Einrichtung für Hochschulzulassung vom 21. März 2016, zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Stiftung für Hochschulzulassung“ und zur Änderung des Gesetzes über die Zulassung zum Hochschulstudium in Nordrhein-Westfalen (Hochschulzulassungsstaatsvertragsgesetz) vom 31. Januar 2017 (GV. NRW. S. 239) geänderten Fassung (im Folgenden: HZG 2008).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Ferner ist abzustellen auf die Regelungen in der Ordnung zur Feststellung der besonderen Eignung für die Masterstudiengänge Business Administration in den Studienrichtungen Accounting and Taxation, Corporate Development, Finance, Marketing, Media and Technology Management und Supply Chain Management der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Beklagten vom 20. Januar 2015 in der Fassung der dritten Änderungsverordnung vom 25. Juni 2018 (amtliche Mitteilung Nr. 50/2018) - MZO -.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Diese Ordnung sieht für den streitgegenständlichen Studiengang, um einen solchen handelt es sich hier,</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Januar 2020 - 13 C 67/19 -, juris, Rn. 13, nachgehend VerfGH NRW, Beschluss vom 16. Juni 2020 - 65/19.VG-3, juris, Rn. 27,</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">die Durchführung eines Auswahlverfahrens nach § 5 MZO vor, wenn die Anzahl der die Zugangskriterien nach § 2 und § 4 MZO erfüllenden Bewerber - wie hier auch der Kläger - die Zahl der für den jeweiligen Studiengang zur Verfügung stehenden Studienplätze übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">In dem Auswahlverfahren sind die Bewerber anhand einer Zulassungspunktzahl in eine Rangfolge zu bringen (§ 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 MZO), die nach dem Ergebnis des Bachelorstudiums bzw. des als gleichwertig anerkannten Studiums und dem Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests (GMAT oder TM-WISO) bestimmt wird (§ 5 Abs. 2 MZO). Das Ergebnis des Bachelorstudiums bzw. des als gleichwertig anerkannten Studiums fließt nach § 5 Abs. 3 Satz 2 MZO in die Bewertung ein; die nähere Ausgestaltung richtet sich nach dem Anhang [Anhang Auswahlkriterien]. Die Studienplätze im ersten Fachsemester werden an die Bewerber aufgrund des anhand der Zulassungspunktzahl ermittelten Rangplatzes vergeben (§ 5 Abs. 3 Satz 3 MZO). Der Anhang zur MZO sieht weiter vor, dass im Rahmen des Auswahlverfahrens die in § 5 Abs. 2 und Abs. 3 genannten Kriterien in einen Punktwert transformiert werden. Die Punktwerte der einzelnen Kriterien werden für die Bildung der Zulassungspunktzahl summiert (maximal 100 Punkte). Die Abschlussnote nach § 2 Abs. 1 MZO bzw. die Durchschnittsnote nach § 2 Abs. 2 MZO zählt zwischen 34 und 68 Punkten. Die resultierende Punkteverteilung gibt die folgende Tabelle wieder:</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"><img height="125" width="384" src="13_A_442_20_Urteil_20220825_0.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." /></p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Das Ergebnis des fachspezifischen Studierfähigkeitstests nach § 5 Abs. 2 MZO zählt zwischen 0 und 32 Punkten. Es werden die jeweiligen Prozentränge verglichen. Die resultierende Punkteverteilung gibt die folgende Tabelle wieder:</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks"><img height="116" width="335" src="13_A_442_20_Urteil_20220825_1.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." /></p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Hat eine Bewerberin bzw. ein Bewerber kein Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests gemäß § 5 Abs. 2 MZO nachgewiesen, werden 0 Punkte angesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Das von der Beklagten vorgesehene Auswahlverfahren ist nicht zu beanstanden. § 5 MZO ist wirksam. Die Regelung ist formell (1.) und materiell (2.) rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">1. § 5 MZO ist formell rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">§ 5 MZO ist wie auch die übrigen in der Ordnung enthaltenen Satzungsbestimmungen entsprechend §§ 2 Abs. 4, 26 Abs. 2 des Gesetzes über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (Hochschulgesetz - HG) in der Fassung des Hochschulzukunftsgesetzes vom 16. September 2014 (GV. NRW. 2014 S. 547) von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Beklagten erlassen und in ihren amtlichen Mitteilungen veröffentlicht worden.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">2. § 5 MZO ist ferner materiell rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Verwendung insbesondere des in § 5 Abs. 2 MZO vorgesehenen Studierfähigkeitstests TM-WISO zur Bildung der Rangfolge der Bewerber ist nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 HZG NRW 2008 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 Satz Nr. 3 c) StV 2008 zulässig. Auch im Übrigen entspricht § 5 MZO den an das Auswahlverfahren zu stellenden rechtlichen Vorgaben für die nicht in einem zentralen Vergabeverfahren zu vergebenen Studienplätze des Masterstudiengangs Business Administration: Corporate Development.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 3 Abs. 1 HZG NRW 2008 werden Bewerber für Studiengänge, für die Zulassungszahlen festgesetzt und die nicht in das Zentrale Auswahlverfahren einbezogen worden sind - diese Voraussetzungen sind hier gegeben -, durch die Hochschule ausgewählt und zugelassen (Satz 1). Soweit das HZG NRW 2008 nichts anderes bestimmt, gelten Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2 und 3, Art. 9, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Halbsätze 1 und 2, Nrn. 2 und 3 sowie Abs. 2 bis 4 StV 2008 sinngemäß (Satz 2). § 2 Satz 2 HZG NRW 2008 gilt entsprechend (Satz 3). § 4 Abs. 6 HZG NRW 2008 enthält darüber hinaus spezialgesetzliche Bestimmungen für die Auswahl und die Zulassung zu Studiengängen, die mit einem Mastergrad abgeschlossen werden. Er sieht in seinem Satz 1 vor, dass an die Stelle des Grades der Qualifikation das Prüfungszeugnis über den ersten be-rufsqualifizierenden Abschluss i. S. d. § 49 Abs. 6 HG NRW tritt. Nach § 4 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 1 HZG NRW 2008 entfallen die gemäß § 3 Abs. 1 HZG NRW 2008 bei der sinngemäßen Anwendung des Staatsvertrags zu bildenden Quoten nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 (Vergabe in der Quote nach dem Grad der Qualifikation der Hochschulzugangsberechtigung) und Nr. 2 StV 2008 (Vergabe nach der Wartezeitquote). Dementsprechend bestimmt sich die Vergabe von Masterstudienplätzen nach den in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StV 2008 vorgesehenen Regeln über das Auswahlverfahren der Hochschule. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StV 2008 sieht hierfür vor, dass die Studienplätze nach Maßgabe des Landesrechts insbesondere nach dem dort in Buchst. a) bis f) benannten Katalog von Auswahlkriterien vergeben werden, die einzeln oder in Kombination zur Grundlage des Auswahlverfahrens gemacht werden können. Zu diesem Katalog gehört nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 c) StV 2008 auch das Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 StV 2008 ist sicherzustellen, dass bei der Auswahlentscheidung dem Grad der Qualifikation ein „maßgeblicher Einfluss" gegeben wird. Der Grad der Qualifikation bestimmt sich bei Studiengängen, die mit einem Mastergrad abschließen, nach dem Ergebnis des Bachelorzeugnisses.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu alldem etwa OVG NRW, Beschluss vom 11. April 2017 - 13 B 1400/16 -, juris, Rn. 3 ff.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">a) Danach ist die Heranziehung eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 c) StV 2008 im Auswahlverfahren für den hier streitgegenständlichen Masterstudiengang zulässig. Der TM-WISO ist ein in diesem Sinne fachspezifischer Studierfähigkeitstest (aa), der zur Messung der Studierfähigkeit auch geeignet ist (bb).</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">aa) Was Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 c) StV 2008 unter einem fachspezifischen Studierfähigkeitstest versteht, definiert der Gesetzgeber nicht.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">(1) Unter einem Studierfähigkeitstest wird landläufig ein Test verstanden, mit dem die für ein erfolgreiches Studium wesentlichen kognitiven Fähigkeiten erfasst werden. Die Aufgaben erfordern in der Regel kein fachliches Vorwissen. Dieses Merkmal unterscheidet sie einerseits von studienfachbezogenen Kenntnis- und Wissenstests,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">vgl. Heine/ Briedis/ Didi/ Haase/ Trost, Auswahl- und Eignungsfeststellungsverfahren beim Hochschulzugang in Deutschland und ausgewählten Ländern. Eine Bestandsaufnahme. Hochschul-Informationssystem A 3 / 2006, Juni 2006., S. 19, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">https://www.wissenschaftsmanagement-online.de/sites/www.wissenschaftsmanagement-online.de/files/migrated_wimoarticle/HIS-Eignungsfeststellungsverfahren.pdf,</span></p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">andererseits teilen sie dieses Merkmal weitgehend mit Intelligenztests; von diesen unterscheiden sie sich allerdings durch den klaren Bezug zum einen auf die Zielgruppe der Studienbewerber sowie zum anderen auf die kognitiven Anforderungen eines akademischen Studiums.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl. Heine/ Briedis/ Didi/ Haase/ Trost, a .a. O, (2006), S. 19.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Spezifisch ist der Studierfähigkeitstest, wenn er auf die Erfassung von Fähigkeiten abzielt, die repräsentativ für diese Studienfächer sind.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schult/ Hofmann/ T1. , Leisten fachspezifische Studierfähigkeitstests im deutschsprachigen Raum eine valide Studienerfolgsprognose?, Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 2019, S. 16 (17).</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">(2) Der TM-WISO ist ein fachspezifischer Studierfähigkeitstest.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Mit ihm sollen die für ein erfolgreiches Masterstudium in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften relevanten kognitiven Fähigkeiten erfasst werden. Welche Fähigkeiten dies sind, ist nach Ausführungen der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 18. Januar 2022 (Bl. 1) von der J. D. GmbH zusammen mit den Hochschulvertretern ermittelt und in einem Testkonzept festgelegt worden. Hierzu gehören analytisch-mathematische Kompetenzen, Sprachkompetenzen, Strukturierungsvermögen, logisches Denkvermögen und das Planungs- und Organisationsvermögen. Um diese Fähigkeiten zu prüfen, besteht der Test aus den vier Aufgabengruppen</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">• Planen in Studium und Beruf</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">• Texte analysieren</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">• Wirtschaftliche Zusammenhänge formalisieren</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">• Wirtschaftsgrafiken interpretieren.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Einzelnen Stegt / Bergholz, Vorhersage des Studienerfolgs in konsekutiven Masterstudiengängen mithilfe eines kognitiven Eignungstests, Hochschulmanagement (HM) 4/2018, S. 101 (102 f.), sowie die Erläuterungen des Testergebnisses des Klägers im Schreiben der J. D. GmbH an den Kläger vom 6. Juli 2018; vgl. ferner J. D. GmbH, Willkommen zum TM-WISO, abrufbar unter <span style="text-decoration:underline">https://J. -academic-tests.org/teilnehmer/full-service-tests/tm-wiso/?nowprocket=1</span>, sowie J. D. GmbH, TM-WISO Auswahl von Studierenden, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">https://docplayer.org/19320150-Tm-wiso-auswahl-von-studierenden.html.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Der Fachspezifität steht nicht entgegen, dass der TM-WISO nicht nur die Studierfähigkeit hinsichtlich der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge, sondern auch die der sozialwissenschaftlichen Studiengänge abbilden soll. Maßgeblich ist insoweit, dass der Test keine Elemente enthält, die auf spezifisch sozialwissenschaftliche Fähigkeiten zielen. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3. c) StV 2008 ist nicht zu entnehmen, dass die Spezifität einen bestimmten Grad erreichen muss. Unschädlich ist deshalb auch, dass er nicht spezielle Eignungsanforderungen des hier in Rede stehenden speziellen betriebswirtschaftlichen Masterstudiengangs Business Administration: Corporate Development abbildet.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">bb) Der TM-WISO ist zur Messung der Studierfähigkeit geeignet.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">(1) Die Testentwicklung und -durchführung erfolgt nach den Standards der psychologischen Eignungsdiagnostik, wie sie u. a. in der DIN 33430 beschrieben werden.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stegt / Bergholz, a. a. O S. 101 (102); vgl. auch Schult/ Hofmann/ Stegt, a. a. O, S. 16 (17), zu den nationalen (DIN 33430) und internationalen Standards (Richtlinien der International Test Commission [ITC]) der Testentwicklung.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Diese beschreibt „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik“ und enthält Leitsätze für Prozesse berufsbezogener Eignungsdiagnostik, zum Verfahren der berufsbezogenen Eignungsdiagnostik und für die Qualifikationen des an der berufsbezogenen Eignungsdiagnostik beteiligten Personals.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die wissenschaftliche Messmethode genügt den Kriterien, anhand derer die Güte des Studierfähigkeitstests beurteilt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">So ist der Test objektiv, weil er die Eignung unabhängig von Testleiter und Testauswerter misst. Das Testergebnis ist nicht davon abhängig, welcher Testleiter den Test mit der Testperson durchführt. Dies ist sichergestellt durch die Standardisierung des Tests, der immer in derselben Form (feste Reihung der Aufgabengruppen, 90 Multiple-Choice Aufgaben mit vier Antwortoptionen, davon 18 Einstreuaufgaben, gleiche Bearbeitungszeit),</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">vgl. Stegt / Bergholz, a. a. O., S. 101 (102 f.),</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">durchgeführt wird. Die Auswertung erfolgt computertechnisch, hängt also nicht von der Person eines Testauswerters ab. Dies sichert zugleich, dass der Test bei Testpersonen mit denselben Testwerten zu denselben Schlussfolgerungen kommt.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Das Testergebnis selbst wird nicht mit dem Ergebnis der richtigen Antworten, sondern als Testwert angegeben. Der Testwert für die einzelnen Aufgabengruppen wird durch eine Umrechnung der erreichten Punktzahl in eine Skala mit dem Mittelwert 100 ermittelt. Zusätzlich wird ein Prozentrang mitgeteilt, aus dem sich ergibt, wie viel Prozent der Teilnehmer gleich gut bzw. schlechter abgeschnitten haben. Weiter wird ein Notenäquivalent angegeben.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Einzelnen die Erläuterungen des Testergebnisses des Klägers im an diesen gerichteten Schreiben der J. D. GmbH vom 6. Juli 2018.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus werden verschiedene Testversionen durch sog. Verankerungsaufgaben miteinander vergleichbar gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stegt / Bergholz, a .a. O., S. 101 (103).</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Der TM-WISO ist in seiner Gesamtheit ausreichend reliabel (verlässlich) und valide. Die durchschnittliche Reliabilität des TM-WISO liegt bei 0.87 (Testhalbierungsreliabilität mit Spearman-Brown-Korrektur),</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">vgl. Stegt / Bergholz, a. a. O., 101 (103 Tabelle 1),</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">und damit bei dem Wert eines guten Tests.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Reliabilität eines Tests, Moosbrugger/ Kelava, Qualitätsanforderungen an Tests und Fragebogen („Gütekriterien“), 2.4.1., (Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 30. Juni 2021), sowie abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">https://lehrbuch-psychologie.springer.com/sites/default/files/atoms/files/moosbrugger_a2_978-3-642-20071-7_lesprobe.pdf.</span></p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Zwar sollte die Reliabilität eines Tests einen Wert von 0.7 nicht unterschreiten,</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">vgl. Kelava/ Schermelleh-Engel, Qualitätsanforderungen an einen psychologischen Test, abrufbar unter: <span style="text-decoration:underline">https://lehrbuch-psychologie.springer.com/sites/default/files/atoms/files/moosbrugger_a2_978-3-642-20071-7_lesprobe.pdf,</span></p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">der für die Aufgabengruppe „Texte analysieren“ nicht erreicht wird.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stegt / Bergholz, a. a. O., S. 101 (103 Tabelle 1).</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Hierzu hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 18. Januar 2022 aber erläutert, es lägen keine Evaluationsdaten vor, die darauf hindeuten würden, dass sich die Reliabilität des Gesamttests durch einen Ausschluss der Aufgabengruppe oder eine unterschiedliche Gewichtung verbessern würde. Im Übrigen sei die Reliabilität dieser Aufgaben im Laufe der Zeit verbessert worden und liege nun bei 0.621.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Der TMS-WISO erweist sich auch als hinreichen valide.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Validität eines Tests, Moosbrugger/ Kelava, a.a.O., 2.4.2.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Der vom TM-WISO erreichte Wert in Bezug auf die Validität beträgt für BWL 0.35 (unkorrigiert) bzw. 0.49 (korrigiert).</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stegt /Bergholz, a. a. O., S. 101 (105 Tabelle 1).</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Damit liegt er in einem Bereich, in dem psychologische Tests mit Validitäten zwischen 0.3 und 0.5 als gut eingestuft werden.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schult/ Hofmann/ Stegt, a. a. O., S. 16 (26).</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Für Auswahlgespräche ist der Wert schlechter und beträgt nur 0.10 bis 0.30.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schult/ Hofmann/ Stegt, a. a. O., S. 16 (26).</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Der TM-WISO ist zudem normiert (geeicht). Die Eichstichprobe mit 1.183 Probanden (Studierende der Universitäten Köln und Hamburg) stammt aus dem Jahr 2011.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Anlass an der Richtigkeit der hier zu Grunde gelegten Werte zu zweifeln, hat der Senat nicht, auch wenn sie nicht von neutralen Dritten, sondern von der J. D. GmbH ermittelt wurden. Deren Richtigkeit hat der Kläger nicht substantiiert in Frage gestellt, sondern zuletzt mit Schriftsatz vom 15. Dezember 2021 erklärt, dass auf der Grundlage des Vortrags des Beklagten und des Schrifttums davon ausgegangen werden könne, dass dem TM-WISO eine, wenn auch nicht besonders spezifische Aussagekraft im Hinblick auf die Masterabschlussnoten zukomme. Insoweit bedürfe es auch keiner weiteren Aufklärung durch einen Gutachter.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">(2) Die Verwendung von Einstreuaufgaben stellt die Eignung des TM-WISO nicht in Frage α). Ihre Verwendung ist auch in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden β).</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Bei den Einstreuaufgaben handelt es sich um Fragen, die bei der Testauswertung nicht gewertet werden. Von den 18 Einstreuaufgaben entfallen sechs Aufgaben auf die Aufgabengruppe „Planen im Studium und Beruf“ und jeweils vier Aufgaben auf die anderen drei Aufgabengruppen.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stegt /Bergholz, a. a. O., S. 101 (103 Tabelle 1.)</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Welche Aufgaben in der jeweiligen Aufgabengruppe genau gewertet werden und welche nicht, ist für den Teilnehmer nicht erkennbar, weil diese Aufgaben nicht als solche gekennzeichnet sind. Die Verwendung von Einstreuaufgaben dient der J. D. GmbH zur Erprobung weiterer Fragen. Von den Einstreuaufgaben werden diejenigen mit guten Gütekennwerten (v. a. Trennschärfe) für weitere Testdurchgänge als gewertete Aufgaben verwendet, so dass die gewerteten Aufgaben fortlaufend ausgetauscht werden können und der Test sich selbst generiert. Dies dient zum einen der Qualitätssicherung, weil Einstreuaufgaben, die sich im Testdurchlauf als ungeeignet erweisen, aussortiert werden können. Zum anderen beugt es dem Bekanntwerden einzelner Testaufgaben vor, was die Chancengleichheit der Testteilnehmer gewährleistet. Die Erprobung unter Realbedingungen, also ohne die Aufgaben kenntlich zu machen, sichert zudem die erforderliche hohe Messgenauigkeit und damit die Qualität der statistischen Auswertung.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">α) Hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass es zu das Testergebnis verfäIschenden Irritationen bei den Testteilnehmern kommt, weil der Anteil der Erprobungsfragen einen Umfang von 12,7 % übersteigt,</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">vgl. zu diesem Wert für den TMS OVG NRW, Beschluss vom 9. Oktober 1987 - 11 B 1951/87 -, NVwZ-RR 1989, 189 (192),</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">hat der Senat nicht. Die Beklagte hat, was unwidersprochen geblieben ist, ausgeführt, dass die Verwendung von 20 % Einstreuaufgaben nicht ungewöhnlich sei, sondern auch in einigen international etablierten Tests und in dem Pharmazie-Studieneignungstest ebenfalls 20 % Einstreuaufgaben verwandt würden. Da die Reliabilität des TM-WISO sich nicht wesentlich von der des GMAT, der 15 % Einstreuaufgaben verwende, unterscheide, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Umfang der Einstreuaufgaben in den jeweiligen Tests zu einer Verzerrung der Ergebnisse führe. Dies erscheint nachvollziehbar.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">β) Im Übrigen bestehen auch keine rechtlichen Bedenken gegen die Verwendung von Einstreuaufgaben in einem Studierfähigkeitstest.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Zulässigkeit der Verwendung von Einstreuaufgaben im TMS bereits OVG NRW, Beschluss vom 9. Oktober 1987 - 11 B 1951/87 -, NVwZ-RR 1989, 189 (192).</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Gefahr, dass Zeit mit Aufgaben verschwendet wird, die nicht gewertet werden, besteht für alle Testteilnehmer gleichermaßen. Insoweit ist der Test so konzipiert, dass Einstreuaufgaben in die Planung der Dauer der gesamten Bearbeitungszeit des Tests miteinbezogen werden und die Teilnehmer innerhalb der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit alle Aufgaben lösen sollen. Zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG führt die Verwendung von Einstreuaufgaben, über die sich der Studienbewerber zudem allgemein zugänglich im Internet informieren kann, deshalb nicht.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger rügt, die J. D. GmbH bewerte richtig gelöste Einstreuaufgaben in der gleichen Weise wie falsche, nämlich durch eine Bewertung mit null Punkten, führt dies auch nicht dazu, dass mit dem Test nicht mehr - wie vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Dezember 2017 - 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, Rn. 154, gefordert - allein die Eignung der Bewerber geprüft wird. Die Verwendung von Einstreuaufgaben ändert nichts daran, dass die allein maßgeblichen bewerteten Aufgaben zur Messung der Eignung geeignet sind.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Anders als der Kläger meint, kann er auch aus dem § 14 Abs. 4 ÄApprO nicht herleiten, dass die Verwendung von Einstreuaufgaben in fachspezifischen Studierfähigkeitstests nicht zulässig ist. Danach gilt für die schriftliche Prüfung der Ärzte, dass Prüfungsaufgaben durch die nach Absatz 3 Satz 2 zuständigen Stellen vor der Feststellung des Prüfungsergebnisses daraufhin zu überprüfen sind, ob sie, gemessen an den Anforderungen des Absatzes 2 Satz 1, fehlerhaft sind (Satz 1). Ergibt diese Überprüfung, dass einzelne Prüfungsaufgaben fehlerhaft sind, sind diese bei der Feststellung des Prüfungsergebnisses nicht zu berücksichtigen (Satz 2). Die vorgeschriebene Zahl der Aufgaben für die einzelnen Prüfungen (§ 23 Abs. 2 Satz 1, § 28 Abs. 3 Satz 1) mindert sich entsprechend (Satz 3). Bei der Bewertung der schriftlichen Prüfung nach den Absätzen 6 und 7 ist von der verminderten Zahl der Prüfungsaufgaben auszugehen (Satz 4). Die Verminderung der Zahl der Prüfungsaufgaben darf sich nicht zum Nachteil eines Prüflings auswirken (Satz 5). Diese Regelungen sind auf die Durchführung des TM-WISO schon deshalb nicht übertragbar, weil ein Studierbewerber, der am TM-WISO-Testverfahren teilnimmt - anders als bei der Teilnahme an einer ärztlichen Prüfung - nicht durchfallen kann und es sich auch nicht um eine studienbegleitende Prüfung handelt.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">b) Die in § 5 MZO vorgesehene Anwendung des TM-WISO als Auswahlkriterium steht auch im Übrigen im Einklang mit § 3 Abs. 1 HZG NRW 2008 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3. c) StV 2008 und mit sonstigem höherrangigen Recht. Dem steht nicht entgegen, dass es sich bei dem TM-WISO nicht um einen hochschuleigenen Studierfähigkeitstest handelt.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">aa) Der TM-WISO ist kein hochschuleigener Studierfähigkeitstest, denn die Hochschule ist weder für dessen Entwicklung und Durchführung noch für die Bewertung der Testergebnisse zuständig. Diese Aufgaben nimmt die J. D. GmbH eigenverantwortlich wahr.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die J. D. GmbH ist eine juristische Person des Privatrechts, die nicht in den Hochschulbetrieb der Beklagten eingebunden ist und auch nicht den Weisungen oder der Aufsicht der Hochschule unterliegt. Mangels Beleihungsakts wird sie gegenüber den am Testverfahren Teilnehmenden auch nicht als Beliehene tätig. Aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung mit der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen-Fakultät der Beklagten ist sie verpflichtet, das Testverfahren und seine Weiterentwicklung nach dem mit der Universität Hamburg gemeinsam festgelegten und in Köln präsentierten Testkonzept bereitzustellen, kontinuierlich zu evaluieren und zu optimieren, sowie den Test eigenverantwortlich durchzuführen (vgl. § 1 des von der Beklagten vorgelegten beidseitig unterschriebenen, aber nicht datierten Vertrags über die „Implementierung und Weiterentwicklung eines Studierfähigkeitstests für das Zulassungsverfahren in wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Masterstudiengängen“). Die Beklagte ist ihrerseits vertraglich verpflichtet, der J. D. GmbH ein Leistungsentgelt für die Verwendung des TM-WISO zu zahlen (§ 2 des Vertrags). Die vertraglichen Regelungen erlauben der J. D. GmbH überdies, von den Teilnehmern ein Entgelt zu erheben (§ 1, 1.5. des Vertrags). Ob die Testteilnehmer das Ergebnis des Studierfähigkeitstests an die Beklagte oder eine andere Hochschule selbst oder über die J. D. GmbH weiterleiten oder dieses nicht verwenden, steht ihnen frei.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Durch die Teilnahme am TM-WISO werden deshalb zwischen den am Testverfahren teilnehmenden Studienbewerbern und der Beklagten keine vertraglichen oder hoheitlichen Rechtsverhältnisse begründet. Insbesondere entsteht zwischen diesen kein prüfungsähnliches Rechtsverhältnis.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Vgl. entsprechend für den TMS VG München, Beschluss vom 21. Februar 2017 - M 3 E 16.4981 -, juris, Rn. 27.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Das Verhältnis zwischen der J. D. GmbH und dem Testteilnehmer beruht auf einem privatrechtlichen Vertrag. Es gelten allgemeine Geschäftsbedingungen.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">bb) Die Verwendung nicht hochschuleigener fachspezifischer Studierfähigkeitstests ist grundsätzlich zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Weder aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 HZG NRW 2008 i. V. m. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 c) StV 2008 (1) noch aus dem Regelungszweck (2) oder der Gesetzeshistorie (3) folgt, dass der Gesetzgeber den Hochschulen nur die Verwendung fachspezifischer Studierfähigkeitstests erlauben wollte, die sie selbst entwickelt haben oder zumindest für deren Durchführung und/oder Bewertung die Hochschule selbst verantwortlich zuständig ist.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">(1) Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 c) StV 2008, auf den der die örtliche Studienplatzvergabe regelnde § 3 Abs. 1 HZG NRW 2008 verweist, spricht lediglich pauschal vom Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests. Nähere Vorgaben zur weiteren Ausgestaltung enthält der StV 2008 nicht. Insbesondere bestimmt er - anders etwa als für das Auswahlgespräch, für das ausdrücklich vorgesehen ist, dass es <em>von der Hochschule</em> mit den Bewerberinnen und Bewerbern durchgeführt wird (vgl. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 e) StV 2008, vgl. auch Art. 10 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2 b) StV 2019) - nichts Näheres. Auch das HZG NRW 2008 oder das Hochschulrahmengesetz verhalten sich hierzu nicht.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">(2) Dem Zweck der Regelung lässt sich eine Beschränkung auf hochschuleigene fachspezifische Studierfähigkeitstests ebenfalls nicht entnehmen. Der Rückgriff auf das Auswahlkriterium des fachspezifischen Studierfähigkeitstests dient dazu, bei Fächern mit hohem Bewerberüberhang den Realisierungsgrad der Chance auf Zulassung zum Studium durch objektiv sachgerechte und individuell zumutbare Kriterien zu bestimmen und den Ausschluss geeigneter Bewerber wegen starrer Notengrenzen zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 16/494 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, Drs. 16/372, „Erwarteter Anstieg der Studienbewerber und Hochschulzugang“, S. 2 ff. zum TMS unter Verweis auf das Urteil des BVerfG, vom 8. Februar 1977 - 1 BvF 1/76 u. a. -, BVerfGE 43, 291.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Zudem ist es Zweck des fachspezifischen Studierfähigkeitstests, eine bessere Vergleichbarkeit der Studienanwärter zu ermöglichen.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Zum „Grenznotenterror“ vgl. Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Bildungsforschung und Technologie vom 30. Juni 2004 zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates ‑ Drs.15/1498 -, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes, BT-Drs. 15/3475, S. 11.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Dies gilt insbesondere für den Zugang zu einem konsekutiven Masterstudiengang, bei dem ein Studierfähigkeitstest aufgrund einer mangelnden Vergleichbarkeit von Bachelornoten bei der Auswahl von Studienbewerbern ein weiteres Kriterium sein kann, das hilft, Bewertungsunterschiede bei den Noten auszugleichen.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Zur Erreichung dieser Ziele sind nicht nur hochschuleigene fachspezifische Studierfähigkeitstests, sondern auch solche geeignet, die von Dritten entwickelt und durchgeführt werden, wenn sie - was auch für hochschuleigene Tests gilt - nachweislich valide sind und chancengerecht durchgeführt werden.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">(3) Aus der Gesetzeshistorie ergibt sich nichts anderes.</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">α) In der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Bildungsforschung und Technologie vom 30. Juni 2004 zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates - Drs.15/1498 -, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes, BT-Drs. 15/3475, heißt es auf Seite 7 f.:</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">„Hochschulinterne Auswahlverfahren mit Tests und Bewerbergesprächen in verantwortlicher Weise und rechtzeitig durchzuführen, erfordern einen erheblichen Arbeitseinsatz der Hochschulverwaltungen und der Fachbereiche. Hierzu sind die meisten Fachbereiche, denen die Möglichkeit eigener Auswahlverfahren eröffnet wurde, bisher nicht bereit gewesen. Sie haben die Auswahl statt dessen nach der Abiturdurchschnittsnote vorgenommen und dabei vielfach von dem Angebot der ZVS Gebrauch gemacht, dies als Dienstleistung für die Hochschulen zu erledigen. Der Eindruck, Hochschulen seien nicht wirklich an der Auswahl der Studienbewerber interessiert oder dazu nicht fähig, ist gleichwohl nur begrenzt zutreffend. Die Zurückhaltung resultiert primär daraus, dass die Hochschulen den mit Auswahlverfahren verbundenen Aufwand unter den derzeitigen Voraussetzungen nicht als sinnvoll ansehen, insbesondere weil im Auswahlverfahren der Hochschulen abgelehnte Bewerber zu einem großen Teil über andere Quoten doch zugelassen werden. Dass die Hochschulen bisher von Auswahlrechten kaum Gebrauch gemacht haben, liegt ganz wesentlich auch daran, dass die staatliche Hochschulfinanzierung zum allergrößten Teil immer noch leistungsunabhängig erfolgt, obwohl die Länder seit 1998 durch § 5 HRG aufgerufen sind, die Hochschulfinanzierung leistungsorientiert auszugestalten. Hohe Abbruch- und Fachwechslerquoten haben für die Hochschulen keine oder kaum finanzielle Nachteile. Die Leistungsorientierung der Hochschulfinanzierung soll jedoch nach den Erklärungen der Länder in Zukunft deutlich ausgebaut werden.“</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Weiter heißt es auf Seite 11:</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">„Für die Feststellung der fachspezifischen Studierfähigkeit ist ein fachspezifischer Test das beste Instrument. Es ist darüber hinaus wissenschaftlich erwiesen, dass eine Kombination von Abiturdurchschnittsnote und Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests zu einer beträchtlichen Erhöhung der Prognosekraft gegenüber dem Einzelkriterium Abiturdurchschnittsnote führt. Die Kombination von Testergebnissen mit der Abiturdurchschnittsnote führt außerdem zu einer erheblichen Verbesserung der Vergabegerechtigkeit:…“</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">sowie auf Seite 12 ff., zu § 32 HRG:</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">„Sofern fachspezifische Studierfähigkeitstests bundesweit durchgeführt werden sollen, könnte dies erstmals zum Spätherbst 2005 geschehen. Die Entwicklungskosten pro Test belaufen sich auf rd. 100 000 Euro. Für die zurzeit sieben Studiengänge im ZVS-Verfahren würden fünf Tests benötigt. Die Kosten der Testanwendung (Druck, Transport, Testabnahme und Auswertung) könnten durch die auch bei ausländischen Tests (z. B. SAT) üblichen Testgebühren in Höhe von rd. 20 Euro finanziert werden. Die Tests sollten nach Möglichkeit bundeseinheitlich entwickelt und den Hochschulen zur Anwendung zur Verfügung gestellt werden. Andernfalls würden 16 Länder oder noch mehr Hochschulen und Fachbereiche eigene Tests erstellen. Dies würde nicht nur den finanziellen Aufwand deutlich erhöhen, sondern auch die Bewerber zu zahlreichen Reisen zu Tests zwingen. Bundeseinheitlich, nur fachspezifisch differenzierte Tests können wohnortnah abgenommen werden (auch im Ausland).“</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die Absicht, des Gesetzgebers auf Studierfähigkeitstests zu verzichten, die nicht von der Hochschule selbst entwickelt, durchgeführt und bewertet werden, ergibt sich hieraus nicht. Dies folgt insbesondere nicht aus dem Umstand, dass die noch zu entwickelnden Tests danach „den Hochschulen zur Anwendung zur Verfügung gestellt werden“ sollen. Hieraus ergibt sich nicht, dass die Hochschulen von Dritten entwickelte Tests selbst durchführen und auswerten müssten, sondern lediglich, dass ihnen die Möglichkeit eröffnet werden sollte, auf Studierfähigkeitstests als Auswahlkriterium im Auswahlverfahren zurückzugreifen, sie diese also in diesem Sinne anwenden.</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist nach dem Vorstehenden auch nicht naheliegend, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen sein könnte, dass Hochschulen in Studiengängen mit einer hohen Anzahl von Studienbewerbern, wie etwa in der Humanmedizin, die Durchführung der Tests mit einem vertretbaren Aufwand und Kosten jeweils selbst durchführen können, zumal hierdurch eine bessere Chancengerechtigkeit nicht sichergestellt wäre.</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">β) Der Umstand, dass der StV 2019 nicht mehr den Begriff des Studierfähigkeitstests, sondern in seinem Art. 10 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 a) den Begriff des fachspezifischen Studieneignungstests verwendet, ist für die Klärung der Frage, ob der Gesetzgeber den Rückgriff auf extern durchgeführte Studierfähigkeitstests als zulässig erachtet hat, unergiebig. Dies ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass die Möglichkeiten zur Verwendung von Tests ausgeweitet werden sollten, weil sich zwischenzeitlich verschiedene Testverfahren an Universitäten etabliert haben bzw. weiter erforscht werden. Der Begriff „fachspezifischer Studieneignungstest“ soll dies nunmehr als Oberbegriff zum Ausdruck bringen. Unter den Begriff „Studieneignungstests“ fallen danach etwa Studierfähigkeitstests wie z. B. der Test für medizinische Studiengänge (TMS), Hamburger Mentaler Rotationstest (HAM-MRT), Wissenstests wie z. B. Hamburger Naturwissenschaftlicher Test (HAM-NAT) und der Medizinisch-naturwissenschaftliche Verständnistest Münster sowie Tests zur Messung manueller Fertigkeiten (z. B. HAM-MAN) und Tests zur Messung sozialer Kompetenzen wie z. B. der Situational Judgement Test (SJT).</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Vgl. Begründung zu Art. 10 StV 2019, LT-Drs. 17/6538, S. 29 f.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">γ) Im Übrigen unterscheidet sich der StV 2008 maßgeblich von vorangegangenen Staatsverträgen,</p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">vgl. Art. 14 Abs. 2 des Staatsvertrags über die Vergabe von Studienplätzen vom 24. Juni 1999 (Anlage zum Gesetz zur Ratifizierung des Staatsvertrags über die Vergabe von Studienplätzen vom 24. Juni 1999, GV. NRW. S. 237), Art. 14 Abs. 2 des Staatsvertrags vom 12. März 1992 (Anlage zum Zweiten Gesetz über die Zulassung zum Hochschulstudium in Nordrhein-Westfalen vom 11. Mai 1993 - HZG 1993, GV. NRW. S. 204), Art. 14 Abs. 2 des Staatsvertrags vom 14. Juni 1985 (Anlage zum Gesetz über die Zulassung zum Hochschulstudium in Nordrhein-Westfalen vom 11. März 1986, GV. NRW. S. 218), Art. 15 Abs. 3 des Staatsvertrags vom 23. Juni 1978 (Anlage zum Gesetz zum Staatsvertrag zwischen den Ländern vom 23. Juni 1978 über die Vergabe von Studienplätzen vom 27. März 1979, GV. NRW. S. 223), vgl. auch § 33 Abs. 3 HRG vom 9. April 1987 (BGBl. I, 1170),</p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">die in ihren das besondere Auswahlverfahren regelnden Vorschriften bestimmten, dass bei der Vergabe von Studienplätzen in diesem Verfahren nur Bewerber berücksichtigt werden durften, die an einem Feststellungsverfahren teilgenommen hatten, dessen Organisation und Durchführung staatlichen Einrichtungen oblag, die durch Landesrecht zu bestimmen waren. Derartige Vorgaben zum Studierfähigkeitstest haben der StV 2008 und die Vorschriften des HZG NRW 2008 gerade nicht mehr enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">cc) Sonstiges höherrangiges Recht steht der in § 5 MZO vorgesehenen Anwendung des TM-WISO nicht entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Der Rückgriff auf das Ergebnis eines - wie hier - geeigneten nicht hochschuleigenen fachspezifischen Studierfähigkeitstests als Auswahlkriterium ist danach vielmehr zulässig, wenn der Test transparent und strukturiert gestaltet ist und einen chancengleichen Zugang zum Studium gewährleistet.</p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">(1) Dass in einem solchen Fall die Verwendung nicht hochschuleigener Studierfähigkeitstest generell nicht zulässig wäre, lässt sich dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 2017 - 1 BvL 3/14 -,1 BvL 4/14 -, juris, nicht entnehmen. Dieses verwendet zwar den Begriff „Studierfähigkeitstest“. Es deutet aber nichts darauf hin, dass es den Begriff abschließend dahingehend verstanden haben wollte, dass darunter nur solche fallen können, die von der Hochschule selbst organisiert und durchgeführt werden. Hiergegen spricht schon, dass ihm die Existenz des etablierten und ebenfalls von der J. -D. GmbH bereitgestellte Studierfähigkeitstests TMS bekannt war. Insoweit beauftragen die am TMS beteiligten Hochschulen zwar die zentrale TMS-Koordinationsstelle, die an der Medizinischen Fakultät Heidelberg angesiedelt ist, mit der Organisation und Koordination des TMS. Zumindest mit der Entwicklung und Auswertung des Tests ist jedoch ebenfalls die Firma J. D. GmbH in C. betraut.</p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.medizinische-fakultaet-hd.uni-heidelberg.de/studium-lehre/tms-koordinationsstelle</span>, sowie</p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">https://J. -academic-tests.org/hochschulvertreter/tms/.</span></p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht sich nicht zu der Vergabe von Studienplätzen verhalten, die nicht zentral vergeben werden, und zudem (vgl. Rn. 153 ff.) lediglich ausgeführt, dass der Gesetzgeber sicherstellen müsse, dass die Hochschulen, sofern sie von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machten, eigene Eignungsprüfungsverfahren (fachspezifische Studieneignungstests und Auswahlgespräche) durchzuführen, dies in standardisierter und strukturierter Weise tun müssten. Dabei genüge es, wenn die Hochschulen selbst die Standardisierung und Strukturierung ihrer Tests oder Auswahlgespräche transparent vornähmen. Um dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts gerecht zu werden, müsse der Gesetzgeber dann jedoch eine Regelung treffen, die die Hochschulen dazu verpflichte. Der Gesetzgeber müsse dabei auch festlegen, dass in den hochschuleigenen Studierfähigkeitstests und Auswahlgesprächen nur die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber geprüft werde. Die den Hochschulen eingeräumte Konkretisierungsbefugnis dürfe sich ausschließlich auf die fachliche Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung unter Einbeziehung auch hochschulspezifischer Profilbildungen beziehen.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Diesen Vorgaben genügt § 3 Abs. 1 HZG NRW 2008, soweit er auf das Auswahlkriterium des Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 c) StV 2008 verweist, zwar nicht, weil das Auswahlkriterium des fachspezifischen Studierfähigkeitstests weder hinreichend präzisiert wird, noch die Hochschulen zur transparenten Standardisierung und Strukturierung eines solchen Tests verpflichtet wurden (Rn. 142, 152, 155 des genannten Urteils). Selbst wenn die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts auf das hier streitgegenständliche Auswahlverfahren für ein Masterstudium übertragbar wären, wofür Vieles sprechen dürfte, folgt hieraus aber, dass die hinter diesen Anforderungen zurückbleibende Rechtslage jedenfalls für einen im WS 2018/2019 noch nicht abgelaufenen Übergangszeitraum hinzunehmen war.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2017 - 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, Rn. 252 f.; siehe auch BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2021 - 2 C 2.21 -, juris, Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Die vom Bundesverfassungsgericht zur Begründung angeführten Erwägungen, wonach der Gesetzgeber insbesondere verschiedene Möglichkeiten habe, einen Verfassungsverstoß zu beseitigen, gelten entsprechend für Verfahren, in denen Studienplätze nicht zentral vergeben werden.</p>
<span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">(2) Die Verwendung eines nicht hochschuleigenen fachspezifischen Studierfähigkeitstests steht grundsätzlich auch im Einklang mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG. Danach hat jeder Studienplatzbewerber ein Recht auf gleiche Teilhabe an staatlichen Studienangeboten und damit auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium seiner Wahl.</p>
<span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2017 ‑ 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, Rn. 103, 106.</p>
<span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">Mit dem Recht auf gleiche Teilhabe ist es grundsätzlich vereinbar, im Auswahlverfahren auf einen die Eignung eines Studienbewerbers messenden externen fachspezifischen Studierfähigkeitstest zurückzugreifen, denn auch die mit einem solchen Test gemessene (unterschiedliche) Eignung kann die Ungleichbehandlung rechtfertigen, wenn mehr Bewerber als Studienplätze zur Verfügung stehen.</p>
<span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">(3) Allerdings erfordert der grundrechtliche Teilhabeanspruch des Studienbewerbers in Konkurrenzsituationen nicht nur die Verwirklichung des materiellen Grundrechtsgehalts, sondern auch eine dem Grundrechtsschutz angemessene Verfahrensgestaltung bei der Durchführung des Testverfahrens, weil dies Einfluss auf das Testergebnis und damit auch auf das Ergebnis der von der Hochschule zu treffenden Auswahlentscheidung haben kann.</p>
<span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2017 ‑ 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 -, juris, Rn. 114.</p>
<span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Für den Fall, dass die Hochschule bei der Auswahlentscheidung auf das Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests zurückgreift und sich dieses für ihre Auswahlentscheidung zu eigen macht, gebieten es deshalb allgemeine Bewertungsgrundsätze, dass sichergestellt ist, dass das Testverfahren objektiv geeignet ist, aussagekräftige Erkenntnisse hinsichtlich der Frage der Eignung der Bewerber für das angestrebte Studium zu liefern, und dass durch einen stets gleichen transparenten und strukturierten Ablauf des Testverfahrens, die gleiche Güte der Testfragen und eine gleichmäßige Qualität der Bewertungen die Chancengleichheit der Studienbewerber gewahrt werden. Erforderlich ist ferner, dass sämtlichen Studienbewerbern der Zugang zum Studierfähigkeitstest chancengleich möglich sein muss.</p>
<span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich des TM-WISO gewährleistet. Hierüber hat sich die Beklagte, wie sie insbesondere mit Schriftsätzen vom 28. Juli 2020 und vom 13. August 2020 ausgeführt hat, auch vergewissert. Sie hat dazu u. a. ausgeführt, sie habe sich davon überzeugt, dass der TM-WISO ein wissenschaftlich fundiertes, verlässliches Instrument sei und die Qualität des Tests unverändert bleibe. Die J. D. GmbH, die einen wissenschaftlichen Beirat habe und Mitglied der International Test Commission, einer internationalen Organisation von Testentwicklern, sei, berichte mehrmals im Jahr die Teilnehmerzahlen, die durchschnittlichen Testergebnisse und die Werte zur Reliabilität, informiere über Evaluationsstudien und deren Ergebnisse und kooperiere mit den Hochschulen, die den Test verwendeten, bei Studien zur Ermittlung der Prognosekraft. Sie sei nach eingehender Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass der Test wissenschaftlichen Standards genüge und verlässliche Aussagen über die Eignung von Studierenden für die Masterstudiengänge in BWL und VWL der Beklagten ermögliche, und die J. D. GmbH die Tests korrekt und wissenschaftlich fundiert durchführe.</p>
<span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Einem chancengleichen Zugang steht auch nicht entgegen, dass für die Teilnahme am Test ein Entgelt in Höhe von 100 Euro an die J. D. GmbH zu entrichten ist. Dieses Entgelt entspricht der Höhe nach dem Betrag, den die Hochschulen als zumutbare Gebühr bei Einführung eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests pro zulassungsbeschränktem Studiengang, dem dieser Test zugeordnet ist, festlegen dürfen (vgl. § 2 Abs. 3 der Verordnung über die Erhebung von Hochschulabgaben (Hochschulabgabenverordnung - HAbg-VO) vom 13. August 2015, GV. NRW. S. 559). Zudem, so die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 18. Januar 2022, gilt nach den Vorgaben des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft, dass der Einsatz von Studieneignungstests im Auswahlverfahren nur zulässig ist, wenn mindestens einer der verwendeten Tests diese Kostengrenze wahrt.</p>
<span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">(4) Die Verwendung von Studierfähigkeitstests, die nicht von der Hochschule entwickelt und/oder durchgeführt werden, führt zudem weder dazu, dass die Hochschule das von ihr durchzuführende Auswahlverfahren aus der Hand gibt (α), noch hat sie zur Folge, dass Studienbewerber keinen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) erlangen können (β).</p>
<span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">α) Dem Studienbewerber bleibt es unbenommen, die (allein) von der Hochschule getroffene Auswahlentscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen. Diese ist von ihr zu begründen, und auf Antrag sind die von ihr dokumentierten wesentlichen Gesichtspunkte ihrer Entscheidung ihm im Wege der Akteneinsicht nach § 29 VwVfG NRW zugänglich zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">(β) Zu einer nicht hinzunehmenden Verkürzung der Rechtschutzmöglichkeiten führt auch nicht der Umstand, dass sich das Akteneinsichtsrecht eines Studienbewerbers nach § 29 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW nur auf die bei der Behörde geführten oder beigezogenen Akten erstreckt,</p>
<span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">vgl. Herrmann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand: 1. Juli 2022, § 29 Rn. 10,</p>
<span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">und die Hochschule nicht verpflichtet ist, sämtliche Testunterlagen gemäß §§ 24 Abs. 1 Satz 1, 26 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwVfG NRW stets von Amts wegen beizuziehen. Eine solche Verpflichtung besteht nicht, weil es in den vom Gegenstand des Verfahrens gezogenen Grenzen grundsätzlich ihrer nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Entscheidung obliegt, welche Mittel sie zur weiteren Erforschung des Sachverhalts anwendet,</p>
<span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. August 1998 ‑ 11 VR 4.98 -, juris, Rn. 10,</p>
<span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">sofern sie eine solche Erforschung überhaupt für geboten hält. Für geboten halten muss sie eine weitere Erforschung des Sachverhalts nicht, wenn kein Anlass für weitere Ermittlungen besteht, weil sie sich über die generelle Eignung des Testverfahrens und dessen ordnungsgemäße Durchführung vergewissert hat und auch im Übrigen kein konkreter Anlass für weitere Ermittlungen besteht, insbesondere vom Testteilnehmer, hier vom Kläger, keine konkreten Rügen erhoben werden.</p>
<span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum TMS VG Karlsruhe, Beschluss vom 20. Juli 2020 - 7 K 1865/20 -, juris, Rn. 18, wonach die Universitäten nicht verpflichtet sind, den von einem Bewerber absolvierten TMS auf geltend gemachte Mängel der Testdurchführung oder -auswertung zu überprüfen.</p>
<span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">Aus den §§ 24 Abs. 1 Satz 1, 26 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwVfG NRW folgt auch nicht, dass sich die Hochschule die Testunterlagen vorlegen lassen muss, um sie dem Testteilnehmer zwecks eigener Fehlersuche zur Verfügung zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn die Hochschule die Testunterlagen im Einzelfall vollständig beiziehen müsste, könnte sie dem Testteilnehmer gemäß § 29 Abs. 2 VwVfG NRW entgegenhalten, dass die Testfragen und die dazugehörigen Bewertungsbögen geheimhaltungsbedürftig sind. Nach dieser Vorschrift ist die Behörde zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit durch sie die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben der Behörde beeinträchtigt, das Bekanntwerden des Inhalts der Akten dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder soweit die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach, namentlich wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen, geheim gehalten werden müssen. Dem Wesen nach geheimhaltungsbedürftig sind Vorgänge, für die zwar keine Geheimhaltungsvorschriften gelten, für die aber ein legitimes Geheimhaltungsinteresse besteht, das bei der gebotenen Interessen- und Güterabwägung im Einzelfall gegenüber dem Interesse der Beteiligten auf Akteneinsicht überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Vgl. Herrmann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand: 1. Juli 2022, § 29 Rn. 30 m. w. N.; sowie zu § 5 Abs. 2 Satz 2 VwVfG Kopp/Ramsauer, 21. Aufl. 2020, Rn. 26 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Danach sind die Testfragen des TM-WISO ihrem Wesen nach geheimhaltungsbedürftig. Das legitime Geheimhaltungsinteresse folgt daraus, dass mit dem Test kognitive Fähigkeiten gemessen werden. Für seine Aussagekraft ist deshalb von maßgeblicher Bedeutung, dass die Testfragen und die dazugehörigen Antworten möglichst nicht trainierbar sind, weil dies eine Verzerrung der Testergebnisse und damit letztlich die Unbrauchbarkeit des Tests zur Folge hätte. Zu einer Trainierbarkeit würden die Offenlegung der Testfragen und ‑antworten sowie die vom Kläger begehrte Möglichkeit, von diesen Kopien anzufertigen, jedoch beitragen. Hinsichtlich der Messung kognitiver Fähigkeiten unterscheidet sich der TM-WISO maßgeblich von anderen während des Studiums abzulegenden Prüfungen, bei denen es darum geht, einen bestimmten Leistungs- oder Wissensstand nachzuweisen. Für das Bestehen einer Prüfung ist irrelevant, ob der Leistungs- oder Wissensstand durch das Wiederholen alter Prüfungsaufgaben oder auf sonstige Weise erreicht wird. Mit Blick auf den Zweck der Prüfung ist es deshalb auch unschädlich, dass § 64 Abs. 2 Nr. 10 HG NRW bestimmt, dass die Prüfungsordnungen der Hochschulen eine Regelung treffen müssen über „die Einsicht in die Prüfungsakten nach den einzelnen Prüfungen und die Fertigung einer Kopie oder einer sonstigen originalgetreuen Reproduktion“. Mit einer solchen Prüfung ist der TM-WISO nicht vergleichbar. Ebenso wenig vergleichbar ist er mit einer an Art. 33 Abs. 2 GG zu messenden beamtenrechtlichen Auswahlentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu einerseits OVG NW, Beschluss vom 25. April 2017 - 6 B 480/17 - juris, Rn. 12, und andererseits Bay. VGH, Beschluss vom 22. Juni 2018 - 3 CE 18.1066 -, juris, Rn. 63.</p>
<span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen handelt es sich bei einem nicht unerheblichen Teil der Aufgaben im TM-WISO um – wie ausgeführt – in zulässiger Weise zur Erprobung eingestreute Aufgaben, die zur Klärung ihrer Eignung und Messgenauigkeit in einer Vielzahl von Testterminen unter Echtbedingungen erprobt werden. Bei einer Offenlegung der Einstreuaufgaben im Rahmen der Akteneinsicht wäre die Aussagekraft der Testergebnisse hinsichtlich dieser Fragen zweifelhaft.</p>
<span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Vgl. entsprechend zum TMS OVG NRW, Beschluss vom 9. Oktober 1987 - 11 B 1951/87 -, NVwZ-RR 1989, 189 (192).</p>
<span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Die Aufgaben müssten dann auf andere, weniger aussagekräftige Weise erprobt werden.</p>
<span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Auch die Gewährleistung der Chancengleichheit der Bewerber sowie das Interesse, die bereits verwendeten Testaufgaben in nachfolgenden Testdurchläufen erneut verwenden zu können, um Veränderungen im Leistungsniveau der Teilnehmergruppen feststellen zu können, führen dazu, dass die Aufgaben auch in Ansehung des verfassungsrechtlichen Gebots, bei Auswahlentscheidungen effektiven Rechtsschutz zu gewähren (Art. 19 Abs. 4 GG), als geheimhaltungsbedürftig anzusehen sind.</p>
<span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">Vgl. entsprechend zum TMS OVG NRW, Beschluss vom 9. Oktober 1987 - 11 B 1951/87 -, NVwZ-RR 1989, 189 (192).</p>
<span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen ist aufgrund der Eigenart des TM-WISO aber auch nicht davon auszugehen, dass eine Einsichtnahme in die Testunterlagen (Fragebögen, Auswertungsbögen, Rangbildungsunterlagen, Arbeitsunterlagen betreffend die Überprüfung der Eignung der Fragen u.s.w.) mit einem Erkenntnisgewinn hinsichtlich etwaiger Mängel - sei es bezogen auf den konkret absolvierten Test, sei es bezogen auf das Testverfahren als solches - einhergeht und eine Einsichtnahme deshalb regelhaft zur Wahrung der rechtlichen Interessen eines Teilnehmers erforderlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Dies betrifft zunächst die Eignung der Testfragen. Diese werden in einem aufwendigen Verfahren von fachlich geeigneten Personen (Psychologen u. a.) entwickelt. Ihre Eignung hinsichtlich der Formulierung der Fragen und der Antworten wurde zudem aufgrund der zuvor erfolgten Verwendung als Einstreuaufgabe überprüft. Die (mangelnde) Aussagekraft kann dementsprechend nur durch wissenschaftliche Untersuchungen überprüft werden.</p>
<span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Auch die Überprüfung des Antwortverhaltens des Testteilnehmers lässt keinen Rückschluss auf die fehlende Eignung der Testfragen zu, zumal nicht entscheidend ist, wie viele Teilnehmende eine Aufgabe richtig lösen, sondern welche Teilnehmenden. Wird eine Aufgabe von zahlenmäßig wenigen, aber fähigen Teilnehmern gelöst, besitzt sie aus psychometrischer Perspektive wünschenswerte Eigenschaften (eine hohe Schwierigkeit und positive Trennschärfe). Die Tatsache, dass beispielsweise eine Aufgabe nur von wenigen Teilnehmenden gelöst wird, bietet deshalb keine Grundlage dafür, die Qualität der Aufgabe in Zweifel zu ziehen.</p>
<span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen sind Bewertungsfehler mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, weil die Auswertung automatisiert erfolgt. Bei der Bewertung besteht kein Ermessensspielraum, menschliche Fehler sind ausgeschlossen. Hierzu hat die Beklagte im Einzelnen ergänzend ausgeführt, im Falle von Testdurchführungen mit Testheften würden für die Auswertung maschinell erstellte Antwortbögen von einem Hochleistungsscanner eingelesen, der die Markierungen der Prüflinge auf dem Antwortbogen automatisch erfasse. Wenn eine Markierung auf dem Antwortbogen nicht eindeutig sei, werde die Verarbeitung gestoppt und die Eingabe manuell überprüft. Im Falle von Online-Tests würden die Antworten auf die Aufgaben als Daten-Datei exportiert und mit einer Auswertungssoftware ausgewertet. Die Auswertungen würden zudem trotz der Automatisierung zweimal unabhängig voneinander durchgeführt und abgeglichen. Anschließend würden die Auswertungen stichprobenartig manuell mit einer Lösungsschablone überprüft. Da die Testfragen im Übrigen automatisch und für alle Testteilnehmer mit dem gleichen Antwortverhalten gleich ausgewertet werden, ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass fehlerhaft bewertete Aufgaben Auswirkungen auf den Rang des Bewerbers haben könnten.</p>
<span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Soweit das Testergebnis im Übrigen <em>im Einzelfall</em> in einer den Anspruch eines Studienbewerbers auf faire und chancengleiche Behandlung der Bewerbung widersprechenden Weise zustande gekommen sein sollte (etwa unvollständige oder unlesbare Testunterlagen, zu kurze Bearbeitungszeit o.Ä.) bedarf es eines gegen die Hochschule gerichteten Antrags auf Akteneinsicht nicht, weil sich der Testteilnehmer in einem solchen Fall unmittelbar an die J. D. GmbH wenden und eine Wiederholung des Tests beanspruchen könnte. Derartige Fehler im Einzelfall, die bei der am 30. Juni 2018 erfolgten Teilnahme des Klägers am TM-WISO im Kölner Testzentrum Train Education nach den Ausführungen der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 12. Februar 2021 nicht festgestellt und vom Kläger auch nicht behauptet wurden, rechtfertigen im Übrigen weder die Annahme, der TM-WISO sei als Auswahlkriterium generell ungeeignet, noch seine Verwendung wegen eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG generell unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">c) § 5 MZO ist weiter nicht deshalb rechtwidrig, weil dieser in seinem Absatz 2 vorsieht, dass im Auswahlverfahren gleichberechtigt auch das Ergebnis des ebenfalls nicht hochschuleigenen GMAT (Graduate Management Admission Test) herangezogen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">Auch der GMAT ist ein zur Messung geeigneter fachspezifischer Studierfähigkeitstest, gegen dessen Zulässigkeit keine Bedenken bestehen. Es handelt sich um einen weltweit verwendeten, in standardisierter, strukturierter und transparenter Weise gestalteten Test, mit dem seit über 60 Jahren die Eignung für postgraduale Master-Studiengänge an betriebswirtschaftlichen Fakultäten gemessen wird. Das Testergebnis wird von mehr als 2.000 Hochschulen in mehr als 110 Ländern herangezogen.</p>
<span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.mba.com/exams/gmat/about-the-gmat-exam/why-take-the-gmat-exam</span>, und</p>
<span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">https://www.mba.com/exams-and-exam-prep/gmat-exam/what-is-the-gmat-exam-and-what-should-you-know</span>, jeweils abgerufen am 4. August 2022.</p>
<span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Er besteht in seiner gegenwärtigen Form aus mehreren Bestandteilen, mit denen die kognitiven Fähigkeiten für ein erfolgreiches Studium gemessen werden. So müssen vornehmlich Texte, Graphiken und Tabellen analysiert und interpretiert werden. Zudem besteht er aus einem Aufsatzteil, in dem die englische Sprachkompetenz und sprachlich analytische Fähigkeiten abgefragt werden.</p>
<span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">Vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.mba.com/exams-and-exam-prep/gmat-exam/what-is-the-gmat-exam-and-what-should-you-know.</span></p>
<span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Generell kann der Test täglich werktags in zugelassenen Test-Centern absolviert werde. Manche Test-Center vergeben lediglich ausgewählte Termine.</p>
<span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.review.de/gmat-anmeldung/.</span></p>
<span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">Die Teilnahmegebühr für den GMAT beträgt weltweit 250 US$ plus Mehrwertsteuer. Er kann einmal innerhalb von 31 Kalendertagen absolviert und innerhalb von 12 Monaten höchstens fünf Mal wiederholt werden.</p>
<span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">Vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.review.de/gmat-gebuehren/.</span></p>
<span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Nach Auskunft der Beklagten (vgl. Schriftsatz vom 23. August 2021, Bl. 4) werden bei beiden verwendeten Tests die Prozentränge der Bewerber verglichen, sodass eine Umrechnung der erzielten Punkte nicht erforderlich ist, und nach dem im Anhang der Zulassungsordnung angegebenen Punkteschema bewertet. Hierdurch stellt die Beklagte in hinreichender Weise eine gleichheitsgerechte Berücksichtigung der Ergebnisse des TM-WISO einerseits und des GMAT andererseits sicher.</p>
<span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">d) § 5 MZO genügt im Übrigen den aus § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 HZG NRW 2008 folgenden und sinngemäß geltenden Gebot des Art. 10 Abs. 1 Satz 2 StV 2008, wonach dem Grad der Qualifikation bei Anwendung im Übrigen sachgerechter Auswahlkriterien ein maßgeblicher Einfluss gegeben werden muss.</p>
<span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">Ein „maßgeblicher Einfluss" kommt dem Grad der Qualifikation bzw. der im Prüfungszeugnis über den ersten berufsqualifizierenden Abschluss ausgewiesenen Bachelornote zu, wenn ihm bzw. ihr bei der Verbindung mit anderen Auswahlmaßstäben das relativ stärkste - nicht aber zwingend ein überwiegendes - Gewicht zukommt.</p>
<span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse 11. April 2017 - 13 B 1400/16 -, juris, Rn. 10 ff., vom 14. Februar 2014 - 13 B 1424/13 -, juris, Rn. 23, und vom 26. Januar 2011 - 13 B 1640/10 -, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">Dies ist zwar nicht unmittelbar dem Art. 10 Abs. 1 StV zu entnehmen, denn unter welchen Voraussetzungen dem Grad der Qualifikation bzw. dem Prüfungszeugnis über den ersten berufsqualifizierenden Abschluss ein maßgeblicher Einfluss zukommt, besagt er nicht. Dies hat auch der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber nicht bestimmt. Schon der Wortsinn legt aber nahe, dass ein "maßgeblicher Einfluss" des jeweiligen Auswahlkriteriums nicht gleichbedeutend mit einem alle anderen Kriterien überwiegenden Gewicht sein kann. Nach dem natürlichen Sprachverständnis bedeutet "Maßgeblichkeit" einen für das Ergebnis bedeutenden Einfluss, ohne jedoch das Ergebnis völlig zu determinieren und andere Einflussgrößen in ihrer Wirksamkeit auszuschalten.</p>
<span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 11. April 2017 ‑ 13 B 1400/16 -, juris, Rn. 10 ff., vom 4. Juli 2012 - 13 B 597/12 -, juris, Rn. 10, und vom 26. Januar 2011 - 13 B 1640/10 -, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">Auch nach den Vorstellungen des Landesgesetzgebers im Gesetzesentwurf der Landesregierung über die Durchführung des Auswahlverfahrens in bundesweit zulassungsbeschränkten Studiengängen (vgl. § 2 des Auswahlverfahrensgesetzes vom 14. Dezember 2004 (GV. NRW. S. 785), aufgehoben durch § 8 Abs. 2 HZG vom 18. November 2008 (GV. NRW. S. 710)) sollte der Begriff so verstanden werden, dass der im Prüfungszeugnis ausgewiesene Grad der Qualifikation stets zwingend zu berücksichtigen ist, während weitere Kriterien fakultativ herangezogen werden können. Bei der Anwendung eines oder weiterer Kriterien neben dem Grad der Qualifikation sei diesem in jedem Fall ein erhebliches Gewicht beizumessen.</p>
<span class="absatzRechts">208</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 13/6102, Gesetzentwurf der Landesregierung über die Durchführung von Auswahlverfahren in bundesweit zulassungsbeschränkten Studiengängen (Auswahlverfahrensgesetz - AuswVfG), S. 2, vgl. entsprechend auch BT-Drs. 15/3475, S. 9 zu § 32 Abs. 3 HRG.</p>
<span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">Ein solches erhebliches Gewicht sei anzunehmen, wenn die im Zulassungsverfahren notwendige Reihung der Bewerber zu 60 % nach dem Notendurchschnitt und zu 40 % nach anderen Kriterien erfolge. Denkbar sei auch, wenn der Notendurchschnitt zu 40 % berücksichtigt werde, 30 % nach einem Testergebnis und 30% nach dem Ergebnis eines Auswahlgesprächs bewertet würden, weil auch in diesem Fall der maßgebliche Einfluss der Durchschnittsnote des Schulabschlusses gewahrt bleibe. Möglich sei zudem ein gestuftes Verfahren, z. B. eine direkte Zulassung bis zu einer bestimmten Durchschnittsnote und danach die Anwendung weiterer Kriterien neben der Schulabschlussnote, die auch in diesen Fällen jeweils maßgeblich berücksichtigt werden müsse.</p>
<span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT- Drs. 13/6102, S. 9; vgl. auch BT-Drs. 15/3475, S. 9 zu § 32 Abs. 3 HRG; Koch, Regelungen der Länder zum Hochschulzugang, RdJB 2005, 374 (379).</p>
<span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">Für ein hiervon abweichendes Verständnis bei der nach § 3 Abs. 1 Satz 2, § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 HZG gebotenen sinngemäßen Anwendung des Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 StV besteht kein Anlass. Es ist nicht anzunehmen, dass der Landesgesetzgeber dem im Landes- und Bundesrecht geläufigen Begriff des „maßgeblichen Einflusses des Grades der Qualifikation" in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung beimessen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt § 5 MZO, denn danach gehen die Bachelornote mit 34 Punkten und das Ergebnis des TM-WISO bzw. des GMAT mit 32 Punkten und damit mit 48,49 % der möglichen Gesamtpunktzahl in das Ergebnis der Auswahlentscheidung ein.</p>
<span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">II. Ist danach von der Wirksamkeit des in § 5 MZO vorgesehenen Auswahlverfahrens auszugehen, ist die Entscheidung der Beklagten, den Kläger nicht zuzulassen, nicht zu beanstanden, weil er die Auswahlgrenze verfehlt hat. Für eine erfolgreiche Zulassung wäre eine Gesamtpunktzahl von 65 Punkten erforderlich gewesen. Der Kläger hat unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Studierfähigkeitstest TM-WISO aber lediglich einen Gesamtscore von 47,38 Punkten erreicht (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 29. November 2018 im Verfahren 13 C 35/19).</p>
<span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">Die Revision wird zugelassen, weil die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen fachspezifische Studierfähigkeitstests bzw. Studieneignungstests zulässig sind, die von Dritten angeboten und durchgeführt werden, angesichts der Vielzahl nationaler und international etablierter Studierfähigkeitstest grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist. Die Frage stellt sich im Anwendungsbereich des Art. 10 Abs. 2 Nr. 1 StV 2019 weiter.</p>
<span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">Soweit das Verfahren eingestellt worden ist, ist diese Entscheidung unanfechtbar (§ 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO). Im Übrigen gilt nachfolgende Rechtsmittelbelehrung.</p>
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<blockquote><blockquote><p>Die Beschwerde der Beteiligten gegen den Zurückweisungsbeschluss des Amtsgerichts Mannheim – Grundbuchamt – vom 2. Oktober 2020, Az. MAN039 GRG 979/2020, wird zurückgewiesen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>(…)</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 350.000 EUR.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Der Betroffene zu 1 ist als Eigentümer (im Folgenden „Eigentümer“) einer 1149 qm großen Gebäude- und Freifläche im Grundbuch von I. Nr. X1, Flurstück X2, eingetragen. Die Auflassung erfolgte am 16. Juni 2015. Eingetragen wurde der Eigentümer am 14. Oktober 2015. Vorheriger Eigentümer des Grundstücks war der Vater des Eigentümers, Herr E. K.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Mit Urkundenrolle Nr. … vom 19. August 2020 des Notars W. aus F. bestellte der Eigentümer zugunsten des Beteiligten zu 2, Herrn B. A., eine Grundschuld ohne Brief in Höhe von 350.000 EUR. Der Eigentümer bewilligte und beantragte die Eintragung der Grundschuld in das Grundbuch.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Mit Schreiben vom 8. September 2020 an das Amtsgericht Mannheim – Grundbuchamt – (im Folgenden „Grundbuchamt“) übersandte der Notar die Grundschuldbestellungsurkunde und beantragte - auch namens des Gläubigers - deren Vollzug nach § 15 GBO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 14. September 2020 wies das Grundbuchamt den Notar darauf hin, dass es zum Vollzug des Antrags sowohl einer Genehmigung der Sanierungsbehörde nach § 144 BauGB als auch des Nachweises über die Zahlung des Kostenvorschusses bedürfe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Auf Antrag der Insolvenzverwalterin über das Vermögen des Herrn E. K., des Vaters des Eigentümers und vormaligen Grundstückseigentümers, erließ das Amtsgericht Heidelberg unter dem Az. 22 C 311/20 am 17. September 2020 einen Beschluss, in dem es dem Eigentümer verbot, über seinen Grundbesitz I., F. Straße 58, Grundbuch I. Nr. X1, Flurstück X2, zu verfügen, und die Eintragung einer Vormerkung zur Sicherung des Rückübertragungsanspruchs der Insolvenzverwalterin im Grundbuch anordnete. Hintergrund war die Anfechtung der Grundstücksübertragung vom Vater des Eigentümers auf den Eigentümer im Jahr 2015 im Wege einer vorweggenommenen Erbfolge. Da die Forderung, die der noch im Grundbuch eingetragenen Grundschuld der Sparkasse V. in Höhe von 244.000 EUR zugrundegelegen habe, bereits bedient gewesen sei und die Sparkasse bereits die Bewilligung der Löschung der Grundschuld angekündigt habe, sei nach Ansicht der Insolvenzverwalterin in der vom Eigentümer erklärten Schuldübernahme nebst Haftungsfreistellung des Vaters keine Gegenleistung zu sehen gewesen. Als unentgeltliche Leistung sei die Eigentumsübertragung nach § 134 InsO anfechtbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Die einstweilige Verfügung des Amtsgerichts Heidelberg ist dem Eigentümer am 18. September 2020 zugestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt lag der Sanierungsbehörde noch kein Antrag auf Erteilung der sanierungsrechtlichen Genehmigung seitens des Eigentümers vor. Die sanierungsrechtliche Genehmigung zur Grundschuldbestellung wurde am 29. September 2020 unter Bezugnahme auf ein Schreiben vom 21. September 2020 erteilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="7"/>Auf den Hinweis des Grundbuchamts vom 24. September 2020, dass eine Eintragung der Grundschuld nicht vorgenommen werden könne, weil ein absolutes Verfügungsverbot bestehe, und dass Gelegenheit zur Antragsrücknahme gegeben werde, teilte das Notariat mit, dass eine Antragsrücknahme nicht erfolgen werde. Es möge entschieden werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>Mit Zurückweisungsbeschluss vom 2. Oktober 2020 wies das Grundbuchamt den Antrag auf Eintragung der Grundschuld zurück, da es Kenntnis von einem aus dem Beschluss des Amtsgerichts Heidelberg resultierenden Veräußerungsverbot erlangt habe zu einem Zeitpunkt, als die Genehmigung der Sanierungsbehörde nach § 144 BauGB und der Kostenvorschuss noch nicht vorgelegen hätten. Hiervon sei die Eintragung abhängig gewesen. Die Voraussetzungen des § 878 BGB seien nicht erfüllt.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>Gegen diese Entscheidung richtet sich die mit Schreiben des Notars für den Eigentümer sowie den Beteiligten zu 2 eingelegte Beschwerde, die entgegen der Ankündigung nicht näher begründet wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Durch Beschluss vom 18. Januar 2021, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, half die zuständige Rechtspflegerin nicht ab. Zugleich legte sie die Sache zur Entscheidung vor.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>1. Gegen den Zurückweisungsbeschluss des Grundbuchamtes, mit dem es den Antrag des Eigentümers auf Eintragung der Grundschuld abgelehnt hat, ist die - einer Frist grundsätzlich nicht unterliegende - unbeschränkte Beschwerde nach § 11 Abs. 1 RPflG, § 71 Abs. 1 GBO statthaft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>2. Die Beschwerde ist unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Das Grundbuchamt hat dem auf Eintragung der Grundschuld zielenden Antrag der Beteiligten zu Recht nicht entsprochen und sich dabei auf zutreffende Erwägungen gestützt. Zum einen durfte die Eintragung von der Zahlung eines Vorschusses abhängig gemacht werden (a)). Zum anderen lag die kraft gesetzlicher Bestimmung erforderliche behördliche Genehmigung nach § 144 BauGB nicht vor (b)).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>a) Das Grundbuchamt hat die Antragserledigung nach § 13 GNotKG in zulässiger Weise an die Zahlung eines Vorschusses geknüpft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>aa) Die formellen Anforderungen an die Verknüpfung der Antragserledigung mit der Vorwegleistung der Kosten sind gewahrt (vgl. OLG München, Beschluss vom 30. September 2015 – 34 Wx 293/15 -, BeckRS 2015, 18688). Die für die Eintragung anfallenden Kosten hat die Kostenbeamtin betragsmäßig berechnet; die Kostennachricht ist dem Hinweis vom 14. September 2020 beigegeben gewesen. Die Bankverbindung ist mitgeteilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>bb) Nicht zu beanstanden ist ferner, dass die Grundbuchrechtspflegerin die Antragszurückweisung für den Fall der Nichtleistung des Vorschusses angekündigt hat, denn im Grundbucheintragungsverfahren kommt ein Ruhen des Verfahrens nicht in Betracht (vgl. §§ 17, 18 GBO; OLG München, FGPrax 2019, 44 (45)).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>cc) Nach § 13 GNotKG kann in erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren, in denen – wie hier – der Antragsteller die Kosten schuldet (§ 22 GNotKG), die beantragte gerichtliche Handlung von der Zahlung eines Vorschusses in Höhe der hierfür bestimmten Gebühr abhängig gemacht werden (Satz 1), in Grundbuchsachen aber nur dann, wenn dies im Einzelfall zur Sicherung des Eingangs der Gebühr erforderlich erscheint (Satz 2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>(1) Danach ist in Grundbuchsachen eine Ermessensentscheidung nach § 13 Satz 1 GNotKG eröffnet, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kosteneingang im jeweiligen Verfahren gefährdet ist. Dieser Ausnahmeregelung liegt die Überlegung zugrunde, dass in Grundbuchsachen das Vorhandensein von Vermögenswerten auf der Hand liegt, eine etwaige Kostenbeitreibung in der Regel also nicht ins Leere ginge. Vorschuss kann daher nur im Ausnahmefall verlangt werden, nämlich dann, wenn auf Tatsachen gegründete Anhaltspunkte für einen drohenden Gebührenausfall im konkreten Fall vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Dies ist der Fall, wenn konkrete Einzelfallumstände ernsthafte Zweifel an der Zahlungsfähigkeit oder Zahlungswilligkeit des Kostenschuldners begründen (vgl. Klahr, in: BeckOK KostenR, 01.07.2022, § 13 GNotKG Rn. 68; Volpert/Büringer, in: Schneider/Volpert/Fölsch, KostenR, 3. Auflage, 2021, § 13 GNotKG Rn. 14) und die Gefahr besteht, dass die Gebühr nicht zwangsweise eingezogen werden kann (OLG München, FGPrax 2019, 44 (45)).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>(2) Vorliegend rechtfertigen konkrete Umstände die Annahme, dass der Eingang der Gebühr gefährdet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>Im Grundbuch war bereits im Jahr 2013 und im Jahr 2019 Zwangsversteigerungsvermerke eingetragen, für das Land B. waren im Jahr 2017 und im Jahr 2018 Zwangssicherungshypotheken in fünf- und sechsstelliger Größenordnung eingetragen worden, die fortdauernd eingetragen sind<em>. </em>Bereits hierauf lässt sich die Annahme eines drohenden Gebührenausfalls stützen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>dd) Bei der Ausübung des somit eröffneten Ermessens sind das im Vordergrund stehende Sicherungsinteresse des Staates gegen die mit der Verzögerung verbundenen Nachteile für den Kostenschuldner und gegen den zusätzlichen Arbeitsaufwand des Gerichts abzuwägen (Klüsener, in: Korintenberg, GNotKG, 22. Auflage, 2022, § 13 Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>Bei einem Betrag von 685 EUR ist der Kostenvorschuss durchaus erheblich. Er kann nicht mehr als klein bezeichnet werden. Der zusätzliche Arbeitsaufwand für das Grundbuchamt fällt nicht wesentlich ins Gewicht. Demgegenüber war das Verfahren nicht von besonderer Eilbedürftigkeit gekennzeichnet. Die Verzögerung, die der Vollzug des Eintragungsantrags durch die Vorschussanforderung erfährt, erscheint bei wertender Betrachtung gegenüber dem erkennbar bestehenden staatlichen Sicherungsinteresse als nachrangig.<br/><br/>Die Abhängigmachung der Eintragung von der Vorschusszahlung ist daher nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="25"/>b) Infolge der fehlenden Genehmigung seitens der Gemeinde nach § 144 BauGB lag ein Eintragungshindernis nach § 18 GBO vor (Volmer, in: Keller/Munzig, KEHE Grundbuchrecht-Kommentar, 8. Auflage, 2019, § 18 GBO Rn. 11), so dass das Grundbuchamt zu Recht von einer Eintragung Abstand genommen hatte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>aa) Nach § 29 Abs. 1 Satz 1 GBO soll die Eintragung nur vorgenommen werden, wenn die Eintragungsbewilligung oder die sonstigen zu der Eintragung erforderlichen Erklärungen durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden nachgewiesen sind. In förmlich festgelegten Sanierungsgebieten bedarf die rechtsgeschäftliche Belastung eines Grundstücks zu ihrer Wirksamkeit nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 BauGB der schriftlichen Genehmigung der Gemeinde (vgl. Hügel, in: BeckOK GBO, 46. Edition, 01.06.2022, Verfügungsbeeinträchtigungen, Rn. 47). So lag es auch hier.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="27"/>bb) Im Eintragungsantragsverfahren ist das Grundbuchamt zur Anstellung eigener Ermittlungen weder berechtigt noch verpflichtet. Es ist vielmehr Sache des Antragstellers, alle erforderlichen Eintragungsunterlagen formgerecht beizubringen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 9. Dezember 1996 – 20 W 479/95 -, juris Rn. 6 mwN). Ausweislich der vom Grundbuchamt eingeholten Auskunft hatte der Antragsteller bis zum Zeitpunkt der Zustellung des Verfügungsverbots durch das Amtsgericht Heidelberg keinen Antrag nach § 144 BauGB gestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="28"/>Auf den Schutz vor Beeinträchtigungen seiner Verfügungsbefugnis durch § 878 BGB kann sich der Eigentümer daher nicht berufen. Denn nur wenn die Verfügungsbeeinträchtigung – hier in Form des Verfügungsverbots aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Heidelberg vom 17. September 2020 – hinweggedacht werden kann und die Verfügungserklärung eines Antragstellers als solche im Übrigen vollständig wirksam ist, greift der Schutz dieser Vorschrift. § 878 schützt lediglich vor den Gefahren der Dauer des Eintragungsverfahrens, nicht jedoch vor den Risiken sonstiger ausstehender Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts. Liegen diese Voraussetzungen bei Eintritt der Verfügungsbeschränkung noch nicht vollständig vor, so ist das Vertrauen noch nicht hinreichend schutzwürdig. Andernfalls würde derjenige bessergestellt, der nicht vollzugsreife Erklärungen beim Grundbuchamt einreicht, als der, der (richtigerweise) vorher alle Voraussetzungen abwartet (Eckert, in: BeckOK BGB, 62. Edition, 01.05.2022, § 878 Rn. 16; Krause, in: Ring/Grziwotz/Schmidt-Räntsch, NK-BGB, Band 3, 5. Auflage 2022, § 878 Rn. 15).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>Das Grundbuchamt hat daher zu Recht wegen der zwischenzeitlich zur Kenntnis gelangten Verfügungsbeschränkung aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Heidelberg eine Eintragung der Grundschuld versagt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>3. Einer ausdrücklichen Kostenentscheidung bedurfte es im Hinblick auf die gesetzlich geregelte Kostenfolge (§ 22 Abs. 1 GNotKG) nicht. Die beiden Antragsteller und Beschwerdeführer haften gemäß § 32 Abs. 1 GNotKG als Gesamtschuldner.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="31"/>4. Die Rechtsbeschwerde war mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (§ 78 Abs. 2 Satz 1 GBO) nicht zuzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="32"/>5. Die Entscheidung über die Festsetzung des Geschäftswertes beruht auf § 53 Abs. 1 GNotKG, der zu Grundpfandrechten, d.h. Hypotheken und Grundschulden an Grundbesitz bestimmt, dass deren kostenrechtlicher Wert ihrem Nennbetrag entspricht. Für die Wertfindung bei den nach dieser Vorschrift erfassten Rechten kommt es nach der ausdrücklichen Auswahlentscheidung des Gesetzgebers also nicht etwa auf den Valutierungsstand oder den Wert des belasteten Grundbesitzes an (Leiß, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Auflage, 2021, § 53 GNotKG Rn. 9 f.).</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
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"id": 158,
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<p>Die Klage wird abgewiesen.</p><p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin begehrt die Feststellung der Verletzung ihrer subjektiven Rechte durch die vorab erfolgte Übergabe der Pressemitteilung zu einer Entscheidung in einem von ihr geführten Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht an Vollmitglieder der „...“ (im Folgenden: ...).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die ... ist ein in Karlsruhe ansässiger, privatrechtlich organisierter Verein, dem laut Satzung Journalistinnen und Journalisten angehören, „die ständig und überwiegend über die Rechtsprechung der deutschen und europäischen obersten Gerichtshöfe einschließlich der Arbeit der Bundesanwaltschaft sowie über Fragen der Rechts- und Justizpolitik berichten“ (vgl. Nr. 7 der am 08.06.2020 geltenden Satzung der ...).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Die Klägerin, der Bundesverband der Partei ..., war Beteiligte im vor dem Bundesverfassungsgericht geführten Organstreitverfahren 2 BvE 1/19. Als Termin zur Verkündung der Entscheidung in diesem Verfahren legte das Bundesverfassungsgericht Dienstag, den 09.06.2020, 10 Uhr, fest. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erfuhr nach eigenen Angaben durch einen Artikel des ... am Sonntag, den 07.06.2020 davon, dass das Bundesverfassungsgericht seit geraumer Zeit den Mitgliedern der ... die Presseerklärungen in anstehenden Entscheidungen des Gerichts in Papierform und mit Sperrfrist versehen bereits am Vorabend des Verkündungstermins, etwa gegen 18 Uhr, zur Verfügung stelle, noch bevor die Beteiligten des Verfahrens selbst über dessen Ausgang informiert würden. Mit Schreiben vom 07.06.2020 forderte er vom Bundesverfassungsgericht u. a. Folgendes:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="4"/>„Ich darf Sie nach alledem auffordern, es zu unterlassen, dem Verein „...“ oder dessen Mitgliedern oder sonstigen Personen die Pressemitteilung oder sonstige Information zu der am kommenden Dienstag um 10 Uhr zu verkündenden Entscheidung zukommen zu lassen, jedenfalls, bevor ich als Prozessbevollmächtigter der Antragstellerin diese Informationen bzw. die Presseerklärung erhalten habe!</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="5"/>Ich darf Sie weiterhin auffordern, mir Ihre dahingehende Entscheidung und eine kurze schriftliche Bestätigung, daß im Fall „...“ keinerlei Informationsweitergabe im Vorfeld der Entscheidungsverkündung an insofern unbefugte private Dritte stattfinden wird, zukommen zu lassen. Dies kann auch per E-Mail geschehen“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Nachdem das Bundesverfassungsgericht auf dieses Schreiben nicht geantwortet hatte, stellte die Klägerin am 08.06.2020 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe einen Eilantrag auf Erlass einer die Vorabinformation der ... untersagenden einstweiligen Verfügung nach § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden: VwGO). Zur Begründung führte sie an, das Bundesverfassungsgericht habe keine Kompetenz, heimlich Presseerklärungen über noch nicht verkündete Entscheidungen an private Dritte weiterzugeben. Diese Praxis verstoße gegen die Grundrechte der Klägerin und das allgemeine Persönlichkeitsrecht der für sie auftretenden natürlichen Personen. Es werde in unzulässiger Weise der politische Wettbewerb verzerrt, denn das Bundesverfassungsgericht schaffe dadurch wissentlich und willentlich eine Atmosphäre, in der der Klägerin unfreundlich gesonnene Medienvertreter, die durch die vorab erhaltene Presseerklärung einen deutlichen Kenntnisvorsprung hätten, die Vertreter der Klägerin „wie Idioten“ wirken lassen könnten, die im Gegensatz zu ihnen die Feinheiten der Entscheidung nicht verstanden hätten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Das Bundesverfassungsgericht erklärte im Eilverfahren, die Pressemitteilungen zu Urteilen des Gerichts (nicht jedoch die Urteile selbst) würden einer langjährigen Übung entsprechend am Vorabend der Verkündung den Vollmitgliedern der ... in Papierform „mit entsprechender Sperrfrist“, zu deren Einhaltung sich die Empfängerinnen und Empfänger verpflichteten, zur Verfügung gestellt. Letztere nutzten die enthaltenen Informationen ausschließlich zur Vorbereitung der Berichterstattung und gäben sie nicht weiter. Die Sperrfrist werde eingehalten. Diese Vorgehensweise stelle sicher, dass die Öffentlichkeit zeitnah und kompetent über die häufig äußerst umfangreichen und komplexen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts informiert werde. Grund für die Beschränkung auf Vollmitglieder der ... sei die Professionalität dieses Kreises an Journalistinnen und Journalisten. Es bestehe kein Anspruch der Klägerin auf Unterlassung dieser Praxis, da nicht ersichtlich sei, in welcher Rechtsposition sie verletzt sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Kammer lehnte den Eilantrag der Klägerin mit Beschluss vom 08.06.2020 (Aktenzeichen des Gerichts: 3 K 2476/20) ab und führte zur Begründung aus, die Klägerin habe einen Anordnungsanspruch nicht mit dem mit Blick auf die begehrte Vorwegnahme der Hauptsache gebotenen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad glaubhaft gemacht. § 30 Abs. 1 Satz 3 oder Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (im Folgenden: BVerfGG) stünden der gerügten Praxis nicht erkennbar entgegen. Zwar bestünden Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Praxis mit § 32 Abs. 1 Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (im Folgenden: GO-BVerfG), allerdings sei die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts reines Binnenrecht, auf das die Klägerin sich nicht berufen könne. Auch eine Betroffenheit der Klägerin in den ihr als politische Partei nach dem Grundgesetz (im Folgenden: GG) oder sonst zustehenden Rechten sei ebenso wenig zu erkennen wie eine Verzerrung des politischen Wettbewerbs, denn die Bekanntgabe erfolge nur gegenüber Journalistinnen und Journalisten, aber nicht gegenüber den Angehörigen anderer politischer Parteien, mit denen die Klägerin sich in einem Wettbewerb befinde. Schließlich könne sie sich weder auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der für sie auftretenden natürlichen Personen berufen, noch eine mögliche Beeinträchtigung anderer Journalistinnen und Journalisten in der diesen gegenüber jeweils zu gewährleistenden Pressefreiheit geltend machen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Pressemitteilung im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 wurde entsprechend der dargelegten Praxis des Bundesverfassungsgerichts im Anschluss vorab den Mitgliedern der ... überlassen. Zum Verkündungstermin in dem Verfahren am 09.06.2020 erschienen für die Klägerin deren damalige Bundessprecher ... und Prof. Dr. ... sowie der stellvertretende Bundessprecher ... und das Bundesvorstandsmitglied Dr. ....</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die ... änderte im Anschluss an die mediale Berichterstattung über die Vorabübermittlungspraxis des Bundesverfassungsgerichts ihre Satzung hinsichtlich der Zulassung neuer Mitglieder ab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Klägerin hat mit Schreiben vom 21.02.2021 hiesige Feststellungsklage erhoben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Zur Begründung beruft sie sich darauf, die Klägerin sei in ihren Rechten aus Art. 103 GG, Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) verletzt worden. Es sei auch Wiederholungsgefahr gegeben, da die Klägerin laufend vor dem Bundesverfassungsgericht prozessiere und dieses deutlich gemacht habe, an der genannten Praxis festhalten zu wollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Die Herausgabe eines die Klägerin betreffenden Urteils an private Journalisten am Vorabend der Urteilsverkündung habe zur Folge, dass diese der Klägerin anlässlich der Urteilsverkündung mit einem erheblichen Informationsvorsprung und damit überlegen gegenübertreten und das Ergebnis dieser ungleichen Begegnungen überall medial darstellen könnten. Dadurch verletze das Bundesverfassungsgericht das Recht der Klägerin auf ein faires Verfahren sowie seine prozessuale Fürsorgepflicht ihr gegenüber, die auch eine Waffengleichheit zwischen den Prozessparteien einerseits und den Pressevertretern andererseits gebiete. Die Mitglieder der ..., bei denen es sich etwa zur Hälfte um Angehörige des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und damit um eine „Meute zwangsgebührenfinanzierter Journalisten“ handele, stünden der Klägerin nämlich feindselig gegenüber und nutzten ihren Informationsvorsprung gezielt dazu, diese in der Presse schlecht dastehen zu lassen. Konkret sei es am 09.06.2020 nach der Urteilsverkündung im streitgegenständlichen Organstreitverfahren – bei dem die Klägerin obsiegt habe – zu einer verzerrten Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gekommen, die eine versteckte Stelle in der verkündeten Entscheidung zum Anlass genommen hätten, den Prozessgegner der Klägerin, den damaligen Bundesinnenminister, als „moralischen“ Sieger darzustellen. Dass die Vertreter der Klägerin in unmittelbar nach der Urteilsverkündung am 09.06.2020 geführten Interviews „selbst unter widrigsten Bedingungen ihre Konkurrenten aus den etablierten Parteien dennoch an die Wand“ gespielt hätten, ändere nichts daran, dass ihnen „offensichtliches Unrecht“ zugefügt worden sei. Zudem sei überwiegend wahrscheinlich, dass es regelmäßig zu einem vor der Entscheidungsverkündung erfolgenden „Durchstechen“ der gewonnenen Informationen auch an die Prozessgegner der Klägerin, nicht aber an die Klägerin selbst, komme. Dies sei wohl auch im streitgegenständlichen Organstreitverfahren der Fall gewesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Auch würden durch diese Praxis und die dargestellten Folgen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin genauso wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht derjenigen natürlichen Personen verletzt, die die Klägerin vor Gericht verträten. Da diese nur durch ihre Vertreter handeln könne, die in einem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht selbst aber nicht Beteiligte sein könnten, folge bereits aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG, dass die Klägerin die Möglichkeit haben müsse, das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ihrer Vertreter „gewissermaßen prozessstandschaftlich“ geltend zu machen. Es handele sich um eine bislang nicht vorgekommene Konstellation, bei der sich in der verwaltungsprozessualen Klagebefugnis eine Rechtsschutzlücke auftue.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Zudem würden durch die genannte Praxis das allgemeine Gleichbehandlungsgebot und das Gebot der staatlichen Neutralität im privaten beruflichen Wettbewerb sowie die Presse- und Rundfunkfreiheit verletzt, wodurch auch die Klägerin jedenfalls mittelbar grundrechtsrelevant betroffen werde. Denn die hauptsächlich in der ... vertretenen „linksliberalen und rot-rot-grünen Journalisten“ berichteten nicht sachlich und ausgewogen über sie, sondern stünden ihr mit „aktivistischer Ablehnung“ gegenüber und erachteten es als Aufgabe, sie zu bekämpfen. Bereits aufgrund der bis zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Verkündungstermins bestehenden Geheimhaltung der genannten Praxis sei diese willkürlich. Zudem gehe es nicht an, dass sich ein Verfassungsorgan mit der Auswahl besonders „zuverlässiger“ Journalisten befasse und diese mit geheimen Sonderprivilegien ausstatte. Der Zugang zur ... stehe auch nach der Satzungsänderung nicht jedem Journalisten offen. Die auf die Enthüllung des ... sowie den Eilantrag der Klägerin erfolgte Satzungsänderung der ... sei ein „Schuldeingeständnis“. Die Praxis sei schon deswegen rechtswidrig, weil es hierfür keine Ermächtigungsnorm gebe und sie auch rechtsstaatlichen Traditionen widerspreche.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Schließlich folge der Unterlassungsanspruch der Klägerin auch aus § 32 Abs. 1 Halbsatz 2 GO-BVerfG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Es handele sich hierbei nämlich um deklaratorisches Binnenrecht, auf das sie sich nach der Schutznormtheorie berufen könne. Die Norm diene ersichtlich dem Schutz auch der Rechte der Klägerin und sei im Lichte des Fair-Trial-Grundsatzes und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin als anspruchsbegründende Schutznorm auszulegen. Selbst wenn die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts die genannte Norm nicht enthielte, folgte der Anspruch jedenfalls aus den Grundrechten der Klägerin, so dass es auf ihre Rechtsnatur als Binnenrecht nicht ankomme.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Der hilfsweise geltend gemachte Anspruch folge ebenfalls aus dem Fair-Trial-Grundrecht sowie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Klägerin.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="19"/>festzustellen, dass die Beklagte durch vorgezogene Mitteilung und Herausgabe der bundesverfassungsgerichtlichen Presseerklärung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 – ... am Abend des 8. Juni 2020, dem Vorabend des eigentlichen Verkündungstermins zu dieser Entscheidung am 9. Juni 2020,10 Uhr, an die Mitglieder des Vereins „... e. V.“ verfassungsmäßige Rechte der Klägerin verletzt hat, namentlich ihr Recht auf ein faires Verfahren (Art. 103 GG sowie Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) sowie ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG),</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="20"/>hilfsweise festzustellen, dass die Beklagte verfassungsmäßige Rechte der Klägerin, namentlich ihr Recht auf ein faires Verfahren (Art. 103 GG sowie Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) sowie ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) dadurch verletzt hat, dass sie es am Abend des 8. Juni 2020 unterlassen hat, der Klägerin spätestens zeitgleich mit der entsprechenden Mitteilung an die Mitglieder des Vereins „... e. V.“ ebenfalls die bundesverfassungsgerichtliche Presseerklärung zu der am folgenden Tag zu verkündenden Entscheidung im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 – ... zu überlassen bzw. diese der Klägerin in geeigneter Form mitzuteilen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Sie beruft sich zur Begründung darauf, die Klage sei bereits unzulässig, weil es an einem qualifizierten Feststellungsinteresse der Klägerin, nämlich einer konkreten Wiederholungsgefahr fehle. Denn die Sachlage habe sich geändert, weil die Satzung der ... hinsichtlich des Zugangs neuer Mitglieder zwischenzeitlich geändert worden sei. Die Klägerin begehre aber einen gleichwertigen Zugang zu Vorabinformationen wie Vollmitglieder der ..., so dass diese Änderung erheblich sei. Zudem reiche der unbestimmte Verweis auf beim Bundesverfassungsgericht anhängige oder zu erwartende Verfahren zur Darlegung einer Wiederholungsgefahr nicht aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Klägerin sei auch nicht klagebefugt, da die von ihr geltend gemachten Ansprüche dieser unter keinem denkbaren Blickwinkel zustehen könnten. § 32 GO-BVerfG komme als reines Binnenrecht keine drittschützende Wirkung zu. Auch mache die Klägerin in Wahrheit nicht eigene, sondern fremde Rechte geltend, soweit sie sich auf die Pressefreiheit (anderer Presseorgane), das Recht auf ein faires Verfahren und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (jeweils ihrer Vertreter) berufe. Dazu sei sie auch bezüglich ihrer Vertreter nicht befugt, denn eine gewillkürte Prozessstandschaft sei im Verwaltungsprozess abzulehnen. Auch soweit die Klägerin sich auf eigene Rechte berufe, fehle es ersichtlich an einem rechtswidrigen Eingriff in subjektive Rechtspositionen. Die Klägerin sei durch die Ungleichbehandlung von Mitgliedern der ... und anderen Journalisten nicht in grundrechtsrelevanter Weise betroffen. Dass die vorab an Vollmitglieder der ... übermittelten Informationen an die gegnerische Prozesspartei „durchgestochen“ würden, sei weder sicher noch überwiegend wahrscheinlich, sondern hoch spekulativ.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die gerügte Praxis der Vorabinformation verstoße auch nicht gegen § 32 Abs. 1 Satz 1 GO-BVerfG, denn ein „Veröffentlichen“ im Sinne der Vorschrift liege nur dann vor, wenn ein unbestimmter Personenkreis auf die Entscheidung zugreifen könne, während die Presseerklärungen nur den Vollmitgliedern der ... zugänglich gemacht würden, nicht jedoch dieser nicht zugehörigen Dritten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Auch werde durch die Praxis nicht gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin verstoßen. Dessen Schutz gehe nicht so weit, dass der einzelne darüber bestimmen könne, nur seinem subjektiv empfundenen Wunschbild entsprechend in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden. Das Grundrecht gewähre keinen Schutz davor, in Interviews „dumm auszusehen“. Zudem gebe die hier streitgegenständliche Presseerklärung den Inhalt der Entscheidung zutreffend wider, so dass eine öffentliche Berichterstattung, selbst wenn sie die Klägerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt haben sollte, der Beklagten nicht zurechenbar sei. Eine derartige Berichterstattung sei von der Beklagten weder beabsichtigt, noch zwangsläufige Folge einer Vorabinformation der Mitglieder der .... Im Übrigen sei im vorliegenden Fall die Presseberichterstattung dem sozialen Geltungsanspruch der Klägerin auch nicht abträglich gewesen. Die Medien hätten weder verzerrt über den Ausgang des Verfahrens berichtet, noch hätten die Vertreter der Klägerin unmittelbar nach der Urteilsverkündung einen uninformierten Eindruck hinterlassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Auch das Recht der Klägerin auf ein faires Verfahren sei nicht verletzt worden. Die Vorabinformation diene ausschließlich der Erfüllung des auch dem Bundesverfassungsgericht obliegenden Informationsauftrags. Sie ermögliche es den Medienvertretern, sich bereits vor Beginn ihrer Berichterstattung über den Inhalt der Entscheidung zu informieren, um so die Entscheidungen des Gerichts im Rahmen der Berichterstattung besser inhaltlich zu erfassen und in ihren Kontext, insbesondere in die bestehenden Rechtsprechungslinien einzuordnen. Dies diene dem Ziel, die Öffentlichkeit zutreffend und vollständig über die Entscheidung des Gerichts zu unterrichten und die oft komplexen Sachverhalte und juristischen Fragestellungen zutreffend zu erfassen. Diese langjährige Praxis habe keine konkreten verfahrensrechtlichen Auswirkungen für die Beteiligten. Das Urteil sei zum Zeitpunkt der Vorabinformation ausformuliert, abgestimmt und werde am folgenden Tag verkündet. Nachteile im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht selbst entstünden daher weder für die Klägerin noch für andere Beschwerdeführer. Die Klägerin beziehe sich demgegenüber auf dem Verfahren nachgelagerte Aspekte, die sich aus der Berichterstattung in den Medien ergäben. Vor- und Nachteile, die im Nachgang zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund von medialer Berichterstattung entstünden, seien aber nicht Gegenstand des Anspruchs auf ein faires Verfahren, sondern Ausdruck der Ausübung grundrechtlicher Freiheiten der Medien, die der Beklagten nicht zugerechnet werden könnten. Zudem führe die Klägerin für den von ihr behaupteten Nachteil aufgrund der streitgegenständlichen Vorabinformation keine Belege an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Auch der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit sei nicht verletzt worden. Dieser beziehe sich nur auf die Beteiligten eines Verfahrens. Sowohl generell als auch im konkreten Fall erhalte aber keiner der Beteiligten die Vorabinformation, sondern nur die Mitglieder der .... Der Vorwurf, die Beklagte beabsichtige durch die Praxis der Vorabinformation eine politische Tendenz von Presseerzeugnissen („linksliberaler und rotrotgrüner Journalisten“) zu fördern, sei ins Blaue hinein erhoben worden und entbehre jeglichen tatsächlichen Anknüpfungspunktes.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie die Gerichtsakte verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/><strong>I.</strong> Die Klage ist sowohl im Haupt- wie auch im Hilfsantrag unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/><strong>1.</strong> Der Verwaltungsrechtsweg ist bereits nur insoweit eröffnet, wie die Klägerin die Feststellung der Verletzung anderer als ihrer Prozessgrundrechte geltend macht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG weisen indes die Entscheidung über Organstreitverfahren wie das hier streitgegenständliche Organstreitverfahren 2 BvE 1/19, anlässlich dessen Entscheidung die Pressemitteilung am 08.06.2020 an die Journalisten der ... überlassen wurde, allein dem Bundesverfassungsgericht zu. Die Verwaltungsgerichte sind demgegenüber nicht berufen, die Entscheidungen höherer Gerichte auf inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen. Denn § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO gewährt in Übereinstimmung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gerade keinen Rechtsschutz gegen Entscheidungen, die ein Richter als Akt der rechtsprechenden Gewalt in Wahrnehmung seiner richterlichen Unabhängigkeit getroffen hat; Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nur Schutz „durch den Richter“, nicht jedoch auch Schutz „gegen den Richter“; in richterlicher Unabhängigkeit werden Richter insbesondere tätig im Bereich der eigentlichen Rechtsprechung im Sinne streitentscheidender Urteils- oder Beschlussfassung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.09.2016 – BVerwG 1 AV 5.16 –, juris Rn. 6; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 40 Rn. 74 f.). Den Verwaltungsgerichten ist damit nicht die Aufgabe übertragen, den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch gegenüber Rechtsprechungsakten anderer Gerichtsbarkeiten sicherzustellen (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 20.11.2006 – 5 BV 05.1586 –, juris Rn. 31); dieser ist vielmehr alleine nach Maßgabe der einschlägigen Prozessordnung innerhalb des zulässigen Rechtsweges zu verwirklichen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.12.2017 – 4 E 964/17 –, juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Hier besteht allerdings die Besonderheit, dass das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Fall nicht nur als Rechtsprechungsorgan, sondern – über seine Pressestelle – auch als Verwaltungsbehörde tätig geworden ist, bezüglich derer eine Rechtswegzuweisung zu einem anderen Gericht als dem Verwaltungsgericht nicht existiert. Die Klägerin begehrt vorliegend die Feststellung, dass sie durch die Vorabübermittlung der Pressemitteilung am Vorabend der Entscheidungsverkündung im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 an Journalisten der ... in ihren verfassungsmäßigen Rechten, namentlich in ihrem Recht auf ein faires Verfahren sowie ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, verletzt wurde, hilfsweise die Feststellung einer Verletzung in den genannten Rechten durch die Unterlassung der gleichzeitigen Überlassung der Pressemitteilung auch an ihren Prozessbevollmächtigten. Soweit die Klägerin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgrund der Auswirkungen geltend macht, die die Vorabüberlassung der Pressemitteilung an die Journalisten der ... am 08.06.2020 auf ihre mediale Darstellung gehabt haben soll, ist damit eindeutig das Handeln der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts als Verwaltungsbehörde angesprochen. Denn hier geht es ausschließlich um (vorgetragene) Rechtsverletzungen, die außerhalb des (verfassungs-)gerichtlichen (Organstreit-)Verfahrens liegen und ihren Ursprung in der Übermittlung der Pressemitteilung als <em>Verwaltungs</em>tätigkeit des Gerichts haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Anders verhält es sich hingegen nach Auffassung der Kammer, soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren als Prozessgrundrecht rügt. Denn zwar ist das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich bei seinen eigenen Verfahren ebenso wie die Fachgerichte an die Prozessgrundrechte gebunden (vgl. Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2022, § 1 Rn. 67). Doch betreffen diese nach Auffassung der Kammer ausschließlich das Verhältnis zwischen den Prozessbeteiligten und dem entscheidenden Gericht <em>als Rechtsprechungsorgan</em>. Primäre Adressaten dieser das gerichtliche Verfahren betreffenden Grundrechte sind demnach – neben der gesetzgebenden Gewalt –<em> die Gerichte</em>, während die Verfahrensgrundrechte durch einen <em>Träger der vollziehenden Gewalt</em> – und einen solchen stellt die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts dar – gerade nicht verletzt werden können (vgl. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 61. EL Juli 2021, § 90 Rn. 250). Die Pressestelle als Verwaltungsbehörde könnte die Verfahrensgrundrechte der Klägerin hiernach auch gar nicht verletzen; die (behauptete) Verletzung in den Prozessrechten wäre vielmehr – nähme man eine solche an – in der Herausgabe der Entscheidungsgründe vor deren Verkündung <em>durch den entscheidenden Senat</em> an die Pressestelle zum Zwecke des Verfassens (und vorab Übergebens) der Pressemitteilung zu sehen, die durch die Pressestelle nur prolongiert würde. Demzufolge wäre eine möglicherweise darin liegende Verletzung der Verfahrensgrundrechte der Klägerin (vgl. zu einer ggf. durch die Vorabinformationspraxis verwirklichten Verletzung des richterlichen Beratungsgeheimnisses etwa: Heldt/Klatt, NVwZ 2021, 684, 686) anhand der Prozessordnung des Bundesverfassungsgerichts in dem Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 selbst geltend zu machen gewesen; dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht anfechtbar sind, kann hingegen nicht dazu führen, dass dessen <em>Rechtsprechungstätigkeit</em> durch die Verwaltungsgerichte revisibel würde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Klägerin macht im Übrigen im Wesentlichen auch keine Beeinträchtigung ihrer <em>prozessualen</em> Stellung in dem Organstreitverfahren selbst geltend, sondern beruft sich auch zur Begründung der (vermeintlichen) Rechtsverletzung in ihrem Recht auf ein faires Verfahren auf das Argument, es habe der gerichtlichen Fürsorgepflicht widersprochen, dass die Journalistinnen und Journalisten der ... durch ihren Wissensvorsprung in die Lage versetzt worden seien, die Klägerin im Anschluss an die Urteilsverkündung medial vorzuführen. Allerdings handelt es sich hierbei um nachteilige Auswirkungen, die sich <em>im Anschluss</em> an das gerichtliche Verfahren verwirklicht haben sollen und damit außerhalb des Schutzbereichs der Prozessgrundrechte liegen. Letztere sollen nur ein rechtsstaatliches (gerichtliches) Verfahren sicherstellen, schützen aber nicht vor nachteiligen Folgen, die sich nach dessen Abschluss ergeben. Es handelt sich insoweit um bloße Rechtsreflexe, die nicht dem Schutzbereich der Verfahrensgrundrechte unterfallen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Soweit die Klägerin darüber hinaus behauptet, es sei „wohl“ zu einem „Durchstechen“ der Pressemitteilung im streitgegenständlichen Organstreitverfahren am Vorabend der Urteilsverkündung auch an ihre Prozessgegnerin, vertreten durch den Staatssekretär ..., gekommen, geht es zwar um die Frage der Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im vorliegenden Organstreitverfahren; diese betrifft aber – wie oben ausgeführt – <em>das Organstreitverfahren selbst</em>, dessen Entscheidung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG der Verfassungsgerichtsbarkeit zugewiesen ist und für deren Überprüfung das Verwaltungsgericht nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO damit gerade nicht zuständig ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/><strong>2.</strong> Der Hauptantrag ist im Übrigen insgesamt unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/><strong>2.1.</strong> Statthafte Klageart ist die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO. Diese ist zwar nach § 43 Abs. 2 VwGO gegenüber den anderen Klagearten der Verwaltungsgerichtsordnung subsidiär, jedoch auf den hier vorliegenden Fall eines erledigten Rechtsverhältnisses außerhalb des Anwendungsbereichs des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (analog) anwendbar, also in den Fällen, in denen es an einem (erledigten) Verwaltungsakt mangelt und stattdessen – wie hier – ein Verwaltungsrealakt streitgegenständlich ist (vgl. Möstl, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 61. Edition, Stand: 01.04.2022, § 43 Rn. 24).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/><strong>2.2.</strong> Es mangelt vorliegend auch nicht an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Nach herkömmlicher Definition sind unter einem Rechtsverhältnis i. S. d. § 43 Abs. 1 VwGO diejenigen rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von natürlichen oder juristischen Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Ein Rechtsverhältnis liegt somit vor, wenn sich Rechtsbeziehungen verdichtet haben. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen eines überschaubaren Sachverhalts, auf den eine (öffentlich-rechtliche) Norm angewandt werden kann und sich zwischen den Beteiligten ein Meinungsstreit entwickelt hat (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 7 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Dies ist hier der Fall. Zwar sind abstrakte Rechtsfragen nicht feststellungsfähig (vgl. etwa: Pietzcker, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 43 VwGO Rn. 17 m. w. N. der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Vorliegend begehrt die Klägerin aber nicht die Klärung einer abstrakten Rechtsfrage, sondern in Bezug auf einen konkreten Vorfall und damit einen überschaubaren Sachverhalt – die am 08.06.2020 erfolgte Übermittlung der zu der Entscheidung in dem Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 ergangenen Pressemitteilung am Vorabend der Entscheidungsverkündung an die ... – die Feststellung, dass das Bundesverfassungsgericht durch diese Praxis ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzt hat. Es besteht also zwischen den Beteiligten jedenfalls ein Meinungsstreit über die Rechte und Pflichten des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit einem konkreten (vergangenen) Prozessrechtsverhältnis, an dem auch die Klägerin beteiligt war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/><strong>2.3.</strong> Auch steht der Klägerin ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung zu.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>In Fallkonstellationen, in denen – wie hier – ein vergangenes Rechtsverhältnis streitgegenständlich ist, gelten insoweit zwar die erhöhten Anforderungen des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (vgl. Pietzcker, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 43 VwGO Rn. 35 f.). Die von der Klägerin geltend gemachte Wiederholungsgefahr ist indes für die Kammer nicht ernstlich zweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich deutlich gemacht, auch in der Zukunft an seiner Praxis der Vorabübermittlung seiner Pressemitteilungen an Vollmitglieder der ... ohne gleichzeitige Übermittlung auch an die Prozessparteien festhalten zu wollen. Insbesondere scheitert die Wiederholungsgefahr entgegen der Auffassung der Beklagten hier nicht an der zwischenzeitlich erfolgten Änderung der Satzung der ... hinsichtlich der Zulassung weiterer Mitglieder. Unabhängig davon, ob die genannte Satzungsänderung – wie die Beklagte meint – dazu führt, dass einem Zugang zur ... für interessierte Journalistinnen und Journalisten keine nennenswerten Hindernisse mehr entgegenstehen, ändert sich hierdurch an der diesbezüglichen Rechtsposition der Klägerin als zukünftiger Beteiligter in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht jedenfalls nichts, so dass die behauptete Rechtsverletzung in der Zukunft durch die Satzungsänderung nicht per se ausgeschlossen wird. Dass die Klägerin u. a. argumentiert, sie müsse den Mitgliedern der ... gleichgestellt werden, steht dem schon deswegen nicht entgegen, weil sie selbst kein Presseorgan ist und damit selbst keinen solchen Zugang erlangen könnte. Auch vermag die Kammer der Argumentation der Beklagten nicht zu folgen, wonach der Klageantrag diesbezüglich nicht hinreichend bestimmt sei. Es ist vielmehr ohne weiteres möglich und auch wahrscheinlich, dass die Klägerin als u. a. im Bundestag vertretene politische Partei auch in Zukunft an Rechtsstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt sein wird. Einer weiteren Darlegung der Wiederholungsgefahr bedarf es nach Auffassung der Kammer nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/><strong>2.4.</strong> Allerdings ist die Klägerin, soweit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (siehe dazu oben <strong>1.</strong>), nicht klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Die Klagebefugnis ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteil vom 19.11.2015 – 2 A 6.13 –, juris Rn. 15 m. w. N.), der die Kammer sich anschließt, zur Vermeidung von Popularklagen auch im Falle der allgemeinen Feststellungsklage erforderlich. Sie ist gegeben, wenn unter Zugrundelegung des Klagevorbringens eine Verletzung der geltend gemachten Rechte möglich erscheint. Daran fehlt es, wenn die von der Klägerin geltend gemachten Rechtspositionen offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder ihr zustehen können (st. Rspr. des BVerwG, vgl. etwa Urteile vom 13.07.1973 – 7 C 6.72 –, juris Rn. 18 und vom 28.02.1997 – 1 C 29.95 –, juris Rn. 18 jeweils m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/><strong>2.4.1.</strong> Eine Verletzung in eigenen Rechten ist nach diesen rechtlichen Maßstäben jedenfalls offensichtlich ausgeschlossen, soweit die Klägerin sich auf die Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebotes und des Gebotes der staatlichen Neutralität im privaten beruflichen Wettbewerb (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie die Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) der anderen, nicht in der ... vertretenen Pressevertreter beruft. Die Klägerin ist weder selbst Presseorgan und damit schon nicht Trägerin des Grundrechts der Presse- und Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. zur personalen Grundrechtsträgerschaft etwa Bethge, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 74 ff. m. w. N.), noch steht sie selbst in einem an Art. 3 Abs. 1 GG zu messenden beruflichen Wettbewerb mit den in der ... zusammengeschlossenen Pressevertretern, so dass für die Kammer nach wie vor nicht ersichtlich ist, woraus eine Verletzung <em>der Klägerin</em> in eigenen Rechten insoweit folgen sollte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Etwas anderes gilt auch nicht aufgrund der Behauptung der Klägerin, sie sei deswegen <em>mittelbar</em> grundrechtsbeeinträchtigt, weil die in der ... vertretenen Journalistinnen und Journalisten ihr gegenüber feindlich gesonnen seien und nicht sachlich über sie berichteten, während diejenigen Medien, die ihrer politischen Richtung zugeordnet werden könnten und ihr damit freundlich gegenüberstünden, in der ... gerade nicht vertreten seien. Die Klägerin stellt insoweit schon nicht klar, in welchem eigenen, d. h. <em>ihr selbst zustehenden</em> Grundrecht sie insoweit mittelbar verletzt sein will. Soweit sie darauf abstellt, sie werde durch den insoweit behaupteten Informationsvorsprung der Vertreter der ... durch das Bundesverfassungsgericht wissentlich und willentlich einer Situation ausgesetzt, in der sie unmittelbar nach der Urteilsverkündung in der Presse als uninformiert dargestellt werden könne, ist damit der behauptete Verstoß gegen ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht ihrer Vertreter angesprochen (s. dazu unten <strong>2.4.2.</strong>). Indem sie weiter geltend macht, die vorab übermittelten Informationen seien durch die Vertreter der ... „wohl“ auch zeitnah an den Staatssekretär ..., den Vertreter der Bundesregierung – der Prozessgegnerin der Klägerin im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 –, „durchgestochen“ worden, macht sie eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit geltend, die aber der Kontrolle durch das Verwaltungsgericht entzogen ist (s. dazu oben <strong>1.</strong>). Eine Verletzung in der Presse- und Rundfunkfreiheit, die der Klägerin selbst unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zusteht, ist damit jedoch – auch in der Form eines mittelbaren Grundrechtseingriffs – gerade nicht dargetan.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/><strong>2.4.2.</strong> Eine Klagebefugnis der Klägerin scheidet vorliegend auch in Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowohl der Klägerin selbst (dazu unten <strong>2.4.2.2.</strong>) als auch der natürlichen Personen, die die Klägerin im streitgegenständlichen Organstreitverfahren vertreten haben (dazu unten <strong>2.4.2.1.</strong>), offensichtlich aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/><strong>2.4.2.1.</strong> Die Klägerin kann sich als (politische) Partei jedenfalls nicht auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der natürlichen Personen berufen, die sie im streitgegenständlichen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – und nach dem Antrag der Klägerin, der explizit nur das genannte Verfahren in Bezug nimmt, geht es vorliegend einzig hierum – vertreten haben und zur Urteilsverkündung am 09.06.2020 erschienen sind – dies waren nach dem Vortrag der Klägerin ihre damaligen Bundessprecher ... und Prof. Dr. ... sowie ihr stellvertretender Bundessprecher ... und das Bundesvorstandsmitglied Dr. .... Denn insoweit beruft sie sich nicht auf eigene, sondern auf fremde Rechte, was § 42 Abs. 2 VwGO gerade ausschließt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die Klägerin kann auch nicht damit durchdringen, diese Rechte ihrer Vertreter „gewissermaßen prozessstandschaftlich“ geltend machen zu können. Eine gewillkürte Prozessstandschaft wird im Verwaltungsprozess nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung (vgl. etwa Happ, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 42 Rn. 82; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 42 Abs. 2 VwGO Rn. 34; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.03.2020 – 1 S 424/20 –, juris Rn. 48; Urteile vom 28.03.1995 – 10 S 1052/93 –, juris Rn. 21, vom 28.03.1995 – 10 S 1052/93 –, juris und vom 15.12.2016 – 2 S 2505/14 –, juris Rn. 28), der die Kammer sich anschließt, abgelehnt. Auch ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass das verwaltungsgerichtliche Verfahren keine allgemeine Prozessführungsbefugnis von Vereinigungen zur Wahrnehmung der Rechte ihrer Mitglieder im eigenen Namen kennt (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 22.03.1982 – 5 B 6/81 –, juris Rn. 4 m. w. N.). Dass für politische Parteien insoweit eine spezialgesetzliche Regelung existierte, die deren allgemeine Prozessführungsbefugnis hinsichtlich der Rechte ihrer gesetzlichen Vertreter zum Gegenstand hätte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Etwas anderes gilt auch nicht deswegen, weil die Vertreter der Klägerin als natürliche Personen selbst nicht Partei eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht sein können. Eine daraus resultierende, mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbare „Rechtsschutzlücke“ vermag die Kammer entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin insoweit nicht zu erkennen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb eine eigene Feststellungsklage der genannten Personen in Bezug auf die behauptete Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus diesem Grunde ausgeschlossen sein sollte. Insbesondere ist eine Parteifähigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht – auch im hier streitgegenständlichen Fall – keine Zulässigkeitsvoraussetzung einer Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht und auch die Klagebefugnis der Vertreter der Klägerin in Bezug auf ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht – anders als ihr Recht auf ein faires Verfahren, das in der Tat an die Beteiligtenstellung im Organstreit anknüpfte, jedoch vor dem Verwaltungsgericht nicht justiziabel ist (siehe oben <strong>1.</strong>) – wäre nicht deswegen ausgeschlossen, weil diese selbst nicht Partei des streitgegenständlichen Organstreitverfahrens gewesen sind oder hätten sein können. Angesichts dessen überzeugt auch die Auffassung der Klägerin, der „Schaden“ müsse in Anlehnung an die Regulierung von Drittschadensfällen im Zivilrecht „zum Anspruch gezogen werden“, die Kammer nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Im Übrigen kommt eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Vertreter der Klägerin im vorliegenden Fall aus denselben Gründen nicht in Betracht wie eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin selbst (siehe dazu unten <strong>2.4.2.2.</strong>), so dass die Klagebefugnis auch unabhängig davon, ob die Klägerin insofern im eigenen Namen für ihre Vertreter handeln kann, offensichtlich ausscheidet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/><strong>2.4.2.2.</strong> Auch die Klägerin selbst ist durch die Vorabüberlassung der Pressemitteilung im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 an die ... offensichtlich nicht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt worden. Dabei kann offenbleiben, inwieweit sich die Klägerin als politische Partei auf dieses Grundrecht überhaupt berufen kann bzw. inwieweit der Menschenwürdekern des Grundrechts vorliegend reicht. Denn dessen sachlicher Schutzbereich ist hier bereits nicht eröffnet, jedenfalls fehlt es aber an einem Eingriff in diesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts garantiert zwar die erforderliche Freiheit bei der Darstellung der eigenen Person gegenüber Dritten und in der Öffentlichkeit. Dazu gehört auch die soziale Anerkennung des Einzelnen. Das Grundrecht schützt demnach vor Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf sein Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken. Allerdings reicht der Schutz dieses Grundrechts nicht so weit, dass es dem Einzelnen einen Anspruch darauf verliehe, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 –, juris LS. 1, Rn. 42). Er wird durch das Grundrecht lediglich vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen seiner Person geschützt, die von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 –, juris Rn. 42).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Nach diesen rechtlichen Maßstäben vermag die Kammer bereits nicht zu erkennen, dass es aufgrund der Vorabüberlassung der Pressemitteilung an Journalisten der ... im streitgegenständlichen Organstreitverfahren zu einer medialen Darstellung der Klägerin (oder deren Vertreter) gekommen wäre, die sich in ehrenrühriger Weise abträglich auf ihr Bild in der Öffentlichkeit ausgewirkt hätte. Die Klägerin hat zwar behauptet, die in der ... vertretene, ihr gegenüber „durchweg feindselige Meute zwangsgebührenfinanzierter Journalisten“ öffentlich-rechtlicher Medienanstalten habe den Ausgang des Verfahrens insofern verzerrt dargestellt, als eine versteckte Passage in der Entscheidungsbegründung des Urteils zum Anlass genommen worden sei, den Prozessgegner der Klägerin, den damaligen Bundesinnenminister ..., als „moralischen“ Sieger des Prozesses darzustellen, weil es in der Entscheidung auch heiße, die abwertenden Äußerungen ... über die Klägerin seien nicht per se und in jedem Zusammenhang rechtswidrig, würden es aber infolge ihrer Einstellung auf die offizielle Homepage des Bundesinnenministeriums. Aufgrund dieser eigentlich irrelevanten Passage hätten die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten berichtet, das Bundesverfassungsgericht habe die Äußerungen ... gegen die Klägerin in der Sache vollauf unterstützt und nur moniert, dass diesem ein „Formfehler“ unterlaufen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Zum einen hat die Klägerin, die ihre Klageschrift an anderer Stelle mit zahlreichen Belegen versehen hat, keinen einzigen konkreten Medienbericht vorgelegt oder benannt, der eine derartige Berichterstattung belegen würde, so dass die Kammer schon im Tatsächlichen nicht zu erkennen vermag, dass es im konkreten Fall überhaupt zu einer verzerrten Berichterstattung über die streitgegenständliche Entscheidung gekommen wäre. Eine solche würde das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin nach dem oben Dargelegten ohnehin nur dann tangieren, wenn es sich um eine <em>verfälschende</em> oder <em>entstellende</em> Darstellung ihrer Person handeln würde, was im Falle einer inhaltlich korrekt den Inhalt der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wiedergebenden Berichterstattung, mag sie auch eine andere Schwerpunktsetzung als von der Klägerin gewünscht beinhalten, nicht erkennbar ist. Zum anderen ist für die Kammer auch nicht ersichtlich, dass eine solche Berichterstattung, selbst wenn sie das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin (oder ihrer Vertreter) beeinträchtigt hätte, kausal auf die Tatsache zurückzuführen gewesen wäre, dass die diese verantwortenden Journalistinnen und Journalisten einige Stunden früher als die Klägerin selbst über die Pressemitteilung verfügt haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Aus denselben Gründen vermag die Klägerin auch nicht mit ihrer Argumentation durchzudringen, die ihr feindlich gesonnenen Journalisten der ... seien durch die Vorabüberlassung der Pressemitteilung in der Lage, ihren Vertretern gegenüber in direkt nach der Entscheidungsverkündung erfolgten Interviews überlegen informiert aufzutreten und sie dadurch „dumm aussehen“ zu lassen. Sie hat nämlich auch hier schon nicht konkret darlegen können, dass es nach der streitgegenständlichen Urteilsverkündung überhaupt zu einer ihrem sozialen Geltungsanspruch abträglichen Darstellung ihrer selbst oder ihrer Vertreter gekommen wäre, die geeignet gewesen wäre, ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen. Vielmehr sollen die Vertreter der Klägerin – nach eigener Einlassung der Klägerin – in der Lage gewesen sein, „selbst unter widrigsten Bedingungen ihre Konkurrenten aus den etablierten Parteien dennoch an die Wand“ zu spielen, so dass eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin schon im Tatsächlichen fernliegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Ob angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach überhaupt nur eine <em>verfälschende</em> oder <em>entstellende</em> Darstellung einer Person geeignet ist, das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu verletzen, während der Einzelne gerade keinen Anspruch darauf hat, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte, eine die Vertreter der Klägerin „dumm aussehen“ lassende Interviewführung nach der Urteilsverkündung überhaupt geeignet gewesen wäre, das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Vertreter der Klägerin – oder gar der Klägerin selbst – zu beeinträchtigen, kann demnach ebenso dahinstehen wie die Frage, inwieweit die Anforderungen, die die Rechtsprechung an mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen stellt, in einem solchen Fall erfüllt, die Folgen der Berichterstattung durch Dritte dem Bundesverfassungsgericht also zurechenbar wären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/><strong>2.4.3. </strong>Auch aufgrund eines Verstoßes gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG ist eine subjektive Rechtsverletzung der Klägerin nach Auffassung der Kammer von vornherein offensichtlich ausgeschlossen. Aus dieser Vorschrift folgt nämlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine subjektive Rechtsposition im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO, auf die die Klägerin sich berufen könnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>§ 32 Abs. 1 GO-BVerfG bestimmt, dass amtliche Informationen über ergangene Entscheidungen u. a. erst veröffentlicht werden dürfen, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Prozessbeteiligten zugegangen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/><strong>2.4.3.1.</strong> Die Kammer hat bereits Zweifel, ob der Anwendungsbereich der Vorschrift überhaupt eröffnet ist. Dies stellt sich bereits vor dem Hintergrund als problematisch dar, dass das Urteil in dem Verfahren 2 BvE 1/19, auf das sich die am 08.06.2020 an Vertreter der ... übergebene Pressemitteilung bezog, zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt gegeben war und es sich deswegen noch nicht um eine „ergangene“ Entscheidung im Sinne der Norm gehandelt haben könnte. Jedenfalls bestehen erhebliche Zweifel, ob die Überlassung der Pressemitteilung an Mitglieder der ... eine „Veröffentlichung“ im Sinne der Vorschrift dargestellt hat. Nimmt man deren Zweck in den Blick, dass die Prozessbeteiligten die Entscheidung nicht zuerst aus der Presse erfahren sollen (vgl. Lenz/Hansel, in: Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2020, § 30 Rn. 43), spricht – wie die Beklagte zu Recht geltend macht – vieles dafür, dass eine „Veröffentlichung“ erst dann vorliegt, wenn ein nicht überschaubarer Personenkreis, also die Allgemeinheit, Kenntnis von ihr erlangt oder erlangen kann (anders: Heldt/Klatt, NVwZ 2021, 684, 685, die einen klaren Verstoß gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG attestieren), nicht hingegen, wenn – wie hier – nur ein kleiner Kreis an Personen – im Juni 2020 waren nur rund 30 Personen Vollmitglieder der ... – Zugang zum Inhalt der Pressemitteilung erhält, diese aber erst nach der Entscheidungsverkündung <em>der Öffentlichkeit</em> zugänglich macht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Für diese Auslegung streiten auch historische Argumente: Wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zu Recht angeführt hat, wurde die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts 2015 geändert. Die Vorgängerfassung hatte statt „Veröffentlichung“ noch den Terminus „hinausgeben“ gebraucht; dieser Wortlaut legt in der Tat nahe, dass ein Herausgeben von Presseverlautbarungen aus der Sphäre des Gerichts an <em>jedwede</em> dritte, außerhalb des Gericht stehende Partei untersagt sein sollte. Indem es nunmehr jedoch nicht mehr „hinausgeben“, sondern „Veröffentlichung“ heißt, wird der Wille des Vorschriftengebers deutlich, nicht mehr jegliche Veräußerung von Pressemitteilungen an außerhalb der Sphäre des Gerichts befindliche Personen verbieten zu wollen, bevor die Prozessbeteiligten die Entscheidung erhalten haben, sondern nur noch eine solche, die den Inhalt der Presseverlautbarung <em>der Öffentlichkeit</em> zugänglich macht. Es spricht somit vieles dafür, dass das Satzungsrecht des Bundesverfassungsgerichts nunmehr an die zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits etablierte Praxis der Vorabübermittlung an die Mitglieder der ... angeglichen werden sollte und letztere damit gerade nicht mehr gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG verstößt. Der Argumentation der Klägerin, es komme für die Definition des Begriffs „Veröffentlichung“ nicht auf die Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des Personenkreises, an den die Information weitergegeben werde, sondern auf dessen Befugnis an, vermag die Kammer nach alledem nicht zu folgen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/><strong>2.4.3.2.</strong> Dies kann vorliegend aber dahinstehen. Denn selbst wenn die Vorabüberlassung der streitgegenständlichen Pressemitteilung gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG verstoßen haben sollte, handelt es sich bei der Vorschrift jedenfalls offensichtlich nicht um eine Rechtsnorm, die der Klägerin ein gerichtlich einklagbares subjektives Recht im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO verleiht. Nach der herrschenden Schutznormtheorie, auf die die Klägerin sich beruft, liegt ein subjektives Recht nur dann vor, wenn ein Rechtssatz des öffentlichen Rechts nicht nur öffentlichen Interessen, sondern zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen derart zu dienen bestimmt ist, dass die Träger der Individualinteressen die Einhaltung des Rechtssatzes <em>sollen verlangen können</em> (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.1985 – 8 C 43.83 –, juris Rn. 15; s. dazu ferner Happ, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 42 Rn. 85: „Subjektives Recht ist die einem Subjekt durch eine Rechtsnorm […] zuerkannte Rechtsmacht, von einem anderen ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen zu fordern […]. Dem subjektiven Recht korrespondiert also eine Pflicht des anderen.“).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Wie die Kammer bereits im zugehörigen Eilverfahren ausgeführt hat und auch die Beklagte geltend macht, handelt es sich indes bei der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts um <em>reines Binnenrecht</em>, das einzig die Aufgabe hat, das regelgeleitete Funktionieren des Gerichts sicherzustellen (Schlaich/Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Aufl. 2021, 2. Teil Rn. 28). Geschäftsordnungsautonomie ist das Recht zur Selbstorganisation. Geschäftsordnungsverstöße lassen deshalb die Gültigkeit von externen Entscheidungen des betreffenden Verfassungsorgans unberührt. Für das Bundesverfassungsgericht bedeutet dies, dass eine geschäftsordnungswidrige Entscheidung mit Außenwirkung weder zwangsläufig gesetzwidrig noch gar verfassungswidrig ist. Solchen Verdikten stehen sowohl der untergesetzliche Rang als auch die bloß interne Reichweite der Geschäftsordnung entgegen (vgl. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 61. EL Juli 2021, § 1 Rn. 69). Als organisatorisches Binnenrecht kann diese demnach auch <em>keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten</em> – und damit auch nicht gegenüber der Klägerin – begründen (vgl. Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2022, § 1 Rn. 105; Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 13. Edition Stand: 01.06.2022, § 1 Rn. 15). § 32 GO-BVerfG verleiht der Klägerin als außenstehender Dritter aus diesem Grunde offensichtlich gerade keine Rechtsmacht im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO, vom Bundesverfassungsgericht ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen zu fordern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/><strong>2.4.3.3.</strong> Soweit die Klägerin darauf verweist, es handele sich bei § 32 GO-BVerfG um „deklaratorisches“, also notwendiges Satzungsrecht, das wegen der Grundrechte der Klägerin dieser selbst dann ein subjektives Recht gewährte, wenn die Vorschrift den expliziten Vorbehalt enthielte, dass kein Anspruch des Einzelnen aus ihr folgte, vermag die Kammer dem ebenfalls nicht zu folgen. Zwar ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Geschäftsordnung nicht regeln könnte, dass Grundrechte des Einzelnen oder anderes höherrangiges (Gesetzes-)Recht nicht gelten sollen. Umgekehrt schafft das Bundesverfassungsgericht im Wege seiner Geschäftsordnung, die nach dem oben Dargelegten gerade keine Außenwirkung entfalten soll, allerdings auch keine zusätzlichen Rechte Dritter. Ob durch die Vorabübermittlung von Pressemitteilungen an Mitglieder der ... eine – durch das Verwaltungsgericht überprüfbare – Grundrechtsverletzung der Prozessbeteiligten entsteht, ist gerade die Frage, die es vorliegend zu beantworten gilt. Ein Grundrechtsverstoß der gerügten Praxis änderte aber nichts an der Rechtsnatur der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts als reines Binnenrecht, das als solches keine subjektiven Rechte Einzelner verleiht. Mit anderen Worten: Die bloße Existenz von § 32 GO-BVerfG und ein möglicher Verstoß hiergegen vermögen für sich genommen eine (Grund-)Rechtsverletzung der Klägerin nicht zu begründen und führen auch nicht dazu, dass deren Prozessgrundrechte in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – „durch die Hintertür“ – durch das Verwaltungsgericht justiziabel würden (vgl. hierzu oben <strong>1.</strong>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/><strong>2.4.3.4.</strong> Schließlich ändert auch die Tatsache, dass die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts dieses selbst bindet (vgl. zu dieser Selbstbindung: Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2022, § 1 Rn. 105; Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 13. Edition Stand: 01.06.2022, § 1 Rn. 15), an deren Rechtsnatur als reines Binnenrecht nichts. Die Kammer vertritt nämlich die Auffassung, dass eine solche interne Selbstbindung – analog einer Selbstbindung der Verwaltung in der Form von (ermessenslenkenden) Verwaltungsvorschriften (vgl. hierzu etwa BVerwG, Urteil vom 10.12.1969 – VIII C 104.69 –, juris Rn. 12 f. m. w. N.) – allenfalls über Art. 3 Abs. 1 GG Außenwirkung erlangen könnte. Insoweit mangelt es hier indes bereits an einem vergleichbaren Sachverhalt bzw. einer vergleichbaren Personengruppe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG: Denn die Klägerin ist selbst kein Presseorgan, so dass sie eine Gleichbehandlung mit den Journalistinnen und Journalisten der ... gerade nicht fordern konnte (siehe dazu bereits oben <strong>2.4.1.</strong>). Dass es im streitgegenständlichen Fall zu einem „Durchstechen“ der Pressemitteilung an die Prozessgegnerin der Klägerin – die Bundesregierung bzw. deren Vertreter, den Staatssekretär ..., als einzig vergleichbare Person(engruppe) – gekommen wäre, hat die Klägerin nicht substantiiert dargetan. Sie vermochte keinen einzigen konkreten Fall zu benennen, in dem ihr sicher bekannt wäre, dass ihr Prozessgegner vor dem Bundesverfassungsgericht vorab über eine Pressemitteilung verfügt hätte, und auch dass dies im streitgegenständlichen Organstreitverfahren der Fall gewesen wäre, ist letztlich rein spekulativ. Die Ausführungen der Klägerin zum „politisch-medialen Kontext der Gegenwart“ und zum „Marktwert“ von Journalisten überzeugen die Kammer in diesem Zusammenhang ebensowenig wie ihre Behauptung, eine gegenteilige Auffassung sei „naiv“ bzw. „lachhaft“ und stelle ein „Klapperstorchmärchen“ dar. Darüber hinaus wäre ein solches „Durchstechen“ der Pressemitteilung an die Prozessgegnerin der Klägerin ohnehin nicht durch das Bundesverfassungsgericht selbst, sondern explizit gegen dessen mit der Vorabüberlassung gemachte Vorgaben erfolgt, so dass es an einer Zurechenbarkeit zum Bundesverfassungsgericht mangeln dürfte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Im Übrigen stand es dem Bundesverfassungsgericht – selbst wenn man einen Verstoß gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG (siehe dazu oben <strong>2.4.3.1.</strong>) und eine Außenwirkung dieser Vorschrift nach den Grundsätzen der Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften (siehe dazu soeben) im vorliegenden Fall bejahte – nach Auffassung der Kammer frei, seine tatsächliche Verwaltungspraxis aus sachlichen, auf Dauer angelegten Gründen für die Zukunft generell zu ändern, wobei diese Änderung nicht der Schriftform bedurfte (vgl. zur Änderung von Verwaltungsvorschriften: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.12.1999 – 4 S 2518/97 –, juris Rn. 9 m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können ermessensbindende Verwaltungsvorschriften, die eine inhaltlich vorgezeichnete Verwaltungspraxis vorwegnehmend festlegen, nämlich durch eine abweichende Verwaltungspraxis geändert werden. Maßgebend für die Auslegung einer ermessensbindenden Verwaltungsvorschrift ist ihre in ständiger Verwaltungspraxis geübte tatsächliche Handhabung. Sowohl eine durch Verwaltungsvorschriften vorgenommene Ermessensbindung als auch eine rein tatsächliche Verwaltungsübung können aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.04.2000 – 2 B 21.00 –, juris Rn. 3 m. w. N.). Eine derartige Änderung seiner Praxis hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls vollzogen, indem es „seit geraumer Zeit“ – generell – wie im streitgegenständlichen Verfahren verfährt und seine Pressemitteilungen am Vorabend der Urteilsverkündungen den Mitgliedern der ... zur Verfügung stellt. Dass derart ausschließlich im vorliegenden Fall verfahren worden wäre oder dies nur in Verfahren geschähe, an denen die Klägerin am Prozess beteiligt ist, ist weder ersichtlich noch von der Klägerin geltend gemacht worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/><strong>3.</strong> Auch der Hilfsantrag der Klägerin ist bereits unzulässig. Denn auch für die hier begehrte Feststellung fehlt der Klägerin, soweit der Verwaltungsrechtsweg überhaupt eröffnet ist (siehe oben <strong>1.</strong>), nach dem oben Dargelegten jedenfalls die Klagebefugnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Insbesondere ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass der Klägerin ein Anspruch auf (in Bezug auf die Mitglieder der ...) gleichzeitige Überlassung der Pressemitteilung am Vorabend des 09.06.2020 zugestanden hätte. Ein solcher scheitert bereits daran, dass die Klägerin eine Vorabüberlassung der Pressemitteilung an sich selbst am 08.06.2020 beim Bundesverfassungsgericht bereits nicht explizit beantragt hat. In dem Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 07.06.2020 an das Bundesverfassungsgericht heißt es wörtlich:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="71"/>„Ich darf Sie nach alledem auffordern, es zu unterlassen, dem Verein „...“ oder dessen Mitgliedern oder sonstigen Personen die Pressemitteilung oder sonstige Information zu der am kommenden Dienstag um 10 Uhr zu verkündenden Entscheidung zukommen zu lassen, jedenfalls, bevor ich als Prozessbevollmächtigter der Antragstellerin diese Informationen bzw. die Presseerklärung erhalten habe!</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="72"/>Ich darf Sie weiterhin auffordern, mir Ihre dahingehende Entscheidung und eine kurze schriftliche Bestätigung, daß im Fall „...“ keinerlei Informationsweitergabe im Vorfeld der Entscheidungsverkündung an insofern unbefugte private Dritte stattfinden wird, zukommen zu lassen. Dies kann auch per E-Mail geschehen“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Hierin ist aber eindeutig lediglich ein Unterlassungsbegehren und gerade kein (auch kein hilfsweises) Leistungsbegehren formuliert. Der Nachsatz „jedenfalls, bevor ich als Prozessbevollmächtigter der Antragstellerin diese Informationen bzw. die Presseerklärung erhalten habe“ führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieser ist vielmehr als zeitliche Eingrenzung des Unterlassungsantrags, nicht aber als eigener Leistungsantrag zu werten. Denn durch den nächsten Absatz hat die Klägerin eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie vom Bundesverfassungsgericht ausschließlich die Unterlassung der Vorabüberlassung der Pressemitteilung an die Mitglieder der ..., nicht aber auch eine Vorabüberlassung derselben an sich selbst gefordert hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Eine vor dem 08.06.2020 erhobene Leistungsklage und auch ein Antrag auf Erlass einer die Vorabüberlassung der Pressemitteilung an die Klägerin regelnden einstweiligen Anordnung wäre demnach mangels vorherigen Antrags an die Behörde unzulässig gewesen (vgl. etwa Jörg Philipp Terhechte, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 43 VwGO Rn. 100, wonach einer Leistungsvornahmeklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Kläger nicht zunächst die Leistung vom Verpflichteten eingefordert hat). Nichts anderes kann für die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtüberlassung gerichteten Klage gelten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Im Übrigen ist für die Kammer nach dem oben Dargelegten auch nicht ersichtlich, auf welche Anspruchsgrundlage ein solches Begehren hätte gestützt werden können, jedenfalls mangelte es aber im Falle der Unterlassung der gleichzeitigen Vorabüberlassung an die Klägerin an einer – durch das Verwaltungsgericht überprüfbaren und durch dieses feststellbaren – Grundrechtsverletzung der Klägerin.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/><strong>II.</strong> Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/><strong>III.</strong> Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO) liegen nicht vor.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:12pt"><tr><td><rd nr="78"/><strong><span style="text-decoration:underline">B E S C H L U S S</span></strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- Euro festgesetzt.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/><strong>I.</strong> Die Klage ist sowohl im Haupt- wie auch im Hilfsantrag unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/><strong>1.</strong> Der Verwaltungsrechtsweg ist bereits nur insoweit eröffnet, wie die Klägerin die Feststellung der Verletzung anderer als ihrer Prozessgrundrechte geltend macht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG weisen indes die Entscheidung über Organstreitverfahren wie das hier streitgegenständliche Organstreitverfahren 2 BvE 1/19, anlässlich dessen Entscheidung die Pressemitteilung am 08.06.2020 an die Journalisten der ... überlassen wurde, allein dem Bundesverfassungsgericht zu. Die Verwaltungsgerichte sind demgegenüber nicht berufen, die Entscheidungen höherer Gerichte auf inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen. Denn § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO gewährt in Übereinstimmung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gerade keinen Rechtsschutz gegen Entscheidungen, die ein Richter als Akt der rechtsprechenden Gewalt in Wahrnehmung seiner richterlichen Unabhängigkeit getroffen hat; Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nur Schutz „durch den Richter“, nicht jedoch auch Schutz „gegen den Richter“; in richterlicher Unabhängigkeit werden Richter insbesondere tätig im Bereich der eigentlichen Rechtsprechung im Sinne streitentscheidender Urteils- oder Beschlussfassung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.09.2016 – BVerwG 1 AV 5.16 –, juris Rn. 6; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 40 Rn. 74 f.). Den Verwaltungsgerichten ist damit nicht die Aufgabe übertragen, den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch gegenüber Rechtsprechungsakten anderer Gerichtsbarkeiten sicherzustellen (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 20.11.2006 – 5 BV 05.1586 –, juris Rn. 31); dieser ist vielmehr alleine nach Maßgabe der einschlägigen Prozessordnung innerhalb des zulässigen Rechtsweges zu verwirklichen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.12.2017 – 4 E 964/17 –, juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Hier besteht allerdings die Besonderheit, dass das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Fall nicht nur als Rechtsprechungsorgan, sondern – über seine Pressestelle – auch als Verwaltungsbehörde tätig geworden ist, bezüglich derer eine Rechtswegzuweisung zu einem anderen Gericht als dem Verwaltungsgericht nicht existiert. Die Klägerin begehrt vorliegend die Feststellung, dass sie durch die Vorabübermittlung der Pressemitteilung am Vorabend der Entscheidungsverkündung im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 an Journalisten der ... in ihren verfassungsmäßigen Rechten, namentlich in ihrem Recht auf ein faires Verfahren sowie ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, verletzt wurde, hilfsweise die Feststellung einer Verletzung in den genannten Rechten durch die Unterlassung der gleichzeitigen Überlassung der Pressemitteilung auch an ihren Prozessbevollmächtigten. Soweit die Klägerin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgrund der Auswirkungen geltend macht, die die Vorabüberlassung der Pressemitteilung an die Journalisten der ... am 08.06.2020 auf ihre mediale Darstellung gehabt haben soll, ist damit eindeutig das Handeln der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts als Verwaltungsbehörde angesprochen. Denn hier geht es ausschließlich um (vorgetragene) Rechtsverletzungen, die außerhalb des (verfassungs-)gerichtlichen (Organstreit-)Verfahrens liegen und ihren Ursprung in der Übermittlung der Pressemitteilung als <em>Verwaltungs</em>tätigkeit des Gerichts haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Anders verhält es sich hingegen nach Auffassung der Kammer, soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren als Prozessgrundrecht rügt. Denn zwar ist das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich bei seinen eigenen Verfahren ebenso wie die Fachgerichte an die Prozessgrundrechte gebunden (vgl. Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2022, § 1 Rn. 67). Doch betreffen diese nach Auffassung der Kammer ausschließlich das Verhältnis zwischen den Prozessbeteiligten und dem entscheidenden Gericht <em>als Rechtsprechungsorgan</em>. Primäre Adressaten dieser das gerichtliche Verfahren betreffenden Grundrechte sind demnach – neben der gesetzgebenden Gewalt –<em> die Gerichte</em>, während die Verfahrensgrundrechte durch einen <em>Träger der vollziehenden Gewalt</em> – und einen solchen stellt die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts dar – gerade nicht verletzt werden können (vgl. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 61. EL Juli 2021, § 90 Rn. 250). Die Pressestelle als Verwaltungsbehörde könnte die Verfahrensgrundrechte der Klägerin hiernach auch gar nicht verletzen; die (behauptete) Verletzung in den Prozessrechten wäre vielmehr – nähme man eine solche an – in der Herausgabe der Entscheidungsgründe vor deren Verkündung <em>durch den entscheidenden Senat</em> an die Pressestelle zum Zwecke des Verfassens (und vorab Übergebens) der Pressemitteilung zu sehen, die durch die Pressestelle nur prolongiert würde. Demzufolge wäre eine möglicherweise darin liegende Verletzung der Verfahrensgrundrechte der Klägerin (vgl. zu einer ggf. durch die Vorabinformationspraxis verwirklichten Verletzung des richterlichen Beratungsgeheimnisses etwa: Heldt/Klatt, NVwZ 2021, 684, 686) anhand der Prozessordnung des Bundesverfassungsgerichts in dem Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 selbst geltend zu machen gewesen; dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht anfechtbar sind, kann hingegen nicht dazu führen, dass dessen <em>Rechtsprechungstätigkeit</em> durch die Verwaltungsgerichte revisibel würde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Klägerin macht im Übrigen im Wesentlichen auch keine Beeinträchtigung ihrer <em>prozessualen</em> Stellung in dem Organstreitverfahren selbst geltend, sondern beruft sich auch zur Begründung der (vermeintlichen) Rechtsverletzung in ihrem Recht auf ein faires Verfahren auf das Argument, es habe der gerichtlichen Fürsorgepflicht widersprochen, dass die Journalistinnen und Journalisten der ... durch ihren Wissensvorsprung in die Lage versetzt worden seien, die Klägerin im Anschluss an die Urteilsverkündung medial vorzuführen. Allerdings handelt es sich hierbei um nachteilige Auswirkungen, die sich <em>im Anschluss</em> an das gerichtliche Verfahren verwirklicht haben sollen und damit außerhalb des Schutzbereichs der Prozessgrundrechte liegen. Letztere sollen nur ein rechtsstaatliches (gerichtliches) Verfahren sicherstellen, schützen aber nicht vor nachteiligen Folgen, die sich nach dessen Abschluss ergeben. Es handelt sich insoweit um bloße Rechtsreflexe, die nicht dem Schutzbereich der Verfahrensgrundrechte unterfallen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Soweit die Klägerin darüber hinaus behauptet, es sei „wohl“ zu einem „Durchstechen“ der Pressemitteilung im streitgegenständlichen Organstreitverfahren am Vorabend der Urteilsverkündung auch an ihre Prozessgegnerin, vertreten durch den Staatssekretär ..., gekommen, geht es zwar um die Frage der Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im vorliegenden Organstreitverfahren; diese betrifft aber – wie oben ausgeführt – <em>das Organstreitverfahren selbst</em>, dessen Entscheidung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG der Verfassungsgerichtsbarkeit zugewiesen ist und für deren Überprüfung das Verwaltungsgericht nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO damit gerade nicht zuständig ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/><strong>2.</strong> Der Hauptantrag ist im Übrigen insgesamt unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/><strong>2.1.</strong> Statthafte Klageart ist die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO. Diese ist zwar nach § 43 Abs. 2 VwGO gegenüber den anderen Klagearten der Verwaltungsgerichtsordnung subsidiär, jedoch auf den hier vorliegenden Fall eines erledigten Rechtsverhältnisses außerhalb des Anwendungsbereichs des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (analog) anwendbar, also in den Fällen, in denen es an einem (erledigten) Verwaltungsakt mangelt und stattdessen – wie hier – ein Verwaltungsrealakt streitgegenständlich ist (vgl. Möstl, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 61. Edition, Stand: 01.04.2022, § 43 Rn. 24).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/><strong>2.2.</strong> Es mangelt vorliegend auch nicht an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Nach herkömmlicher Definition sind unter einem Rechtsverhältnis i. S. d. § 43 Abs. 1 VwGO diejenigen rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von natürlichen oder juristischen Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Ein Rechtsverhältnis liegt somit vor, wenn sich Rechtsbeziehungen verdichtet haben. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen eines überschaubaren Sachverhalts, auf den eine (öffentlich-rechtliche) Norm angewandt werden kann und sich zwischen den Beteiligten ein Meinungsstreit entwickelt hat (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 7 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Dies ist hier der Fall. Zwar sind abstrakte Rechtsfragen nicht feststellungsfähig (vgl. etwa: Pietzcker, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 43 VwGO Rn. 17 m. w. N. der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Vorliegend begehrt die Klägerin aber nicht die Klärung einer abstrakten Rechtsfrage, sondern in Bezug auf einen konkreten Vorfall und damit einen überschaubaren Sachverhalt – die am 08.06.2020 erfolgte Übermittlung der zu der Entscheidung in dem Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 ergangenen Pressemitteilung am Vorabend der Entscheidungsverkündung an die ... – die Feststellung, dass das Bundesverfassungsgericht durch diese Praxis ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzt hat. Es besteht also zwischen den Beteiligten jedenfalls ein Meinungsstreit über die Rechte und Pflichten des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit einem konkreten (vergangenen) Prozessrechtsverhältnis, an dem auch die Klägerin beteiligt war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/><strong>2.3.</strong> Auch steht der Klägerin ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung zu.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>In Fallkonstellationen, in denen – wie hier – ein vergangenes Rechtsverhältnis streitgegenständlich ist, gelten insoweit zwar die erhöhten Anforderungen des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (vgl. Pietzcker, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 43 VwGO Rn. 35 f.). Die von der Klägerin geltend gemachte Wiederholungsgefahr ist indes für die Kammer nicht ernstlich zweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich deutlich gemacht, auch in der Zukunft an seiner Praxis der Vorabübermittlung seiner Pressemitteilungen an Vollmitglieder der ... ohne gleichzeitige Übermittlung auch an die Prozessparteien festhalten zu wollen. Insbesondere scheitert die Wiederholungsgefahr entgegen der Auffassung der Beklagten hier nicht an der zwischenzeitlich erfolgten Änderung der Satzung der ... hinsichtlich der Zulassung weiterer Mitglieder. Unabhängig davon, ob die genannte Satzungsänderung – wie die Beklagte meint – dazu führt, dass einem Zugang zur ... für interessierte Journalistinnen und Journalisten keine nennenswerten Hindernisse mehr entgegenstehen, ändert sich hierdurch an der diesbezüglichen Rechtsposition der Klägerin als zukünftiger Beteiligter in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht jedenfalls nichts, so dass die behauptete Rechtsverletzung in der Zukunft durch die Satzungsänderung nicht per se ausgeschlossen wird. Dass die Klägerin u. a. argumentiert, sie müsse den Mitgliedern der ... gleichgestellt werden, steht dem schon deswegen nicht entgegen, weil sie selbst kein Presseorgan ist und damit selbst keinen solchen Zugang erlangen könnte. Auch vermag die Kammer der Argumentation der Beklagten nicht zu folgen, wonach der Klageantrag diesbezüglich nicht hinreichend bestimmt sei. Es ist vielmehr ohne weiteres möglich und auch wahrscheinlich, dass die Klägerin als u. a. im Bundestag vertretene politische Partei auch in Zukunft an Rechtsstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt sein wird. Einer weiteren Darlegung der Wiederholungsgefahr bedarf es nach Auffassung der Kammer nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/><strong>2.4.</strong> Allerdings ist die Klägerin, soweit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (siehe dazu oben <strong>1.</strong>), nicht klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Die Klagebefugnis ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteil vom 19.11.2015 – 2 A 6.13 –, juris Rn. 15 m. w. N.), der die Kammer sich anschließt, zur Vermeidung von Popularklagen auch im Falle der allgemeinen Feststellungsklage erforderlich. Sie ist gegeben, wenn unter Zugrundelegung des Klagevorbringens eine Verletzung der geltend gemachten Rechte möglich erscheint. Daran fehlt es, wenn die von der Klägerin geltend gemachten Rechtspositionen offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder ihr zustehen können (st. Rspr. des BVerwG, vgl. etwa Urteile vom 13.07.1973 – 7 C 6.72 –, juris Rn. 18 und vom 28.02.1997 – 1 C 29.95 –, juris Rn. 18 jeweils m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/><strong>2.4.1.</strong> Eine Verletzung in eigenen Rechten ist nach diesen rechtlichen Maßstäben jedenfalls offensichtlich ausgeschlossen, soweit die Klägerin sich auf die Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebotes und des Gebotes der staatlichen Neutralität im privaten beruflichen Wettbewerb (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie die Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) der anderen, nicht in der ... vertretenen Pressevertreter beruft. Die Klägerin ist weder selbst Presseorgan und damit schon nicht Trägerin des Grundrechts der Presse- und Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. zur personalen Grundrechtsträgerschaft etwa Bethge, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 74 ff. m. w. N.), noch steht sie selbst in einem an Art. 3 Abs. 1 GG zu messenden beruflichen Wettbewerb mit den in der ... zusammengeschlossenen Pressevertretern, so dass für die Kammer nach wie vor nicht ersichtlich ist, woraus eine Verletzung <em>der Klägerin</em> in eigenen Rechten insoweit folgen sollte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Etwas anderes gilt auch nicht aufgrund der Behauptung der Klägerin, sie sei deswegen <em>mittelbar</em> grundrechtsbeeinträchtigt, weil die in der ... vertretenen Journalistinnen und Journalisten ihr gegenüber feindlich gesonnen seien und nicht sachlich über sie berichteten, während diejenigen Medien, die ihrer politischen Richtung zugeordnet werden könnten und ihr damit freundlich gegenüberstünden, in der ... gerade nicht vertreten seien. Die Klägerin stellt insoweit schon nicht klar, in welchem eigenen, d. h. <em>ihr selbst zustehenden</em> Grundrecht sie insoweit mittelbar verletzt sein will. Soweit sie darauf abstellt, sie werde durch den insoweit behaupteten Informationsvorsprung der Vertreter der ... durch das Bundesverfassungsgericht wissentlich und willentlich einer Situation ausgesetzt, in der sie unmittelbar nach der Urteilsverkündung in der Presse als uninformiert dargestellt werden könne, ist damit der behauptete Verstoß gegen ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht ihrer Vertreter angesprochen (s. dazu unten <strong>2.4.2.</strong>). Indem sie weiter geltend macht, die vorab übermittelten Informationen seien durch die Vertreter der ... „wohl“ auch zeitnah an den Staatssekretär ..., den Vertreter der Bundesregierung – der Prozessgegnerin der Klägerin im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 –, „durchgestochen“ worden, macht sie eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit geltend, die aber der Kontrolle durch das Verwaltungsgericht entzogen ist (s. dazu oben <strong>1.</strong>). Eine Verletzung in der Presse- und Rundfunkfreiheit, die der Klägerin selbst unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zusteht, ist damit jedoch – auch in der Form eines mittelbaren Grundrechtseingriffs – gerade nicht dargetan.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/><strong>2.4.2.</strong> Eine Klagebefugnis der Klägerin scheidet vorliegend auch in Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowohl der Klägerin selbst (dazu unten <strong>2.4.2.2.</strong>) als auch der natürlichen Personen, die die Klägerin im streitgegenständlichen Organstreitverfahren vertreten haben (dazu unten <strong>2.4.2.1.</strong>), offensichtlich aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/><strong>2.4.2.1.</strong> Die Klägerin kann sich als (politische) Partei jedenfalls nicht auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der natürlichen Personen berufen, die sie im streitgegenständlichen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – und nach dem Antrag der Klägerin, der explizit nur das genannte Verfahren in Bezug nimmt, geht es vorliegend einzig hierum – vertreten haben und zur Urteilsverkündung am 09.06.2020 erschienen sind – dies waren nach dem Vortrag der Klägerin ihre damaligen Bundessprecher ... und Prof. Dr. ... sowie ihr stellvertretender Bundessprecher ... und das Bundesvorstandsmitglied Dr. .... Denn insoweit beruft sie sich nicht auf eigene, sondern auf fremde Rechte, was § 42 Abs. 2 VwGO gerade ausschließt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die Klägerin kann auch nicht damit durchdringen, diese Rechte ihrer Vertreter „gewissermaßen prozessstandschaftlich“ geltend machen zu können. Eine gewillkürte Prozessstandschaft wird im Verwaltungsprozess nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung (vgl. etwa Happ, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 42 Rn. 82; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 42 Abs. 2 VwGO Rn. 34; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.03.2020 – 1 S 424/20 –, juris Rn. 48; Urteile vom 28.03.1995 – 10 S 1052/93 –, juris Rn. 21, vom 28.03.1995 – 10 S 1052/93 –, juris und vom 15.12.2016 – 2 S 2505/14 –, juris Rn. 28), der die Kammer sich anschließt, abgelehnt. Auch ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass das verwaltungsgerichtliche Verfahren keine allgemeine Prozessführungsbefugnis von Vereinigungen zur Wahrnehmung der Rechte ihrer Mitglieder im eigenen Namen kennt (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 22.03.1982 – 5 B 6/81 –, juris Rn. 4 m. w. N.). Dass für politische Parteien insoweit eine spezialgesetzliche Regelung existierte, die deren allgemeine Prozessführungsbefugnis hinsichtlich der Rechte ihrer gesetzlichen Vertreter zum Gegenstand hätte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Etwas anderes gilt auch nicht deswegen, weil die Vertreter der Klägerin als natürliche Personen selbst nicht Partei eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht sein können. Eine daraus resultierende, mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbare „Rechtsschutzlücke“ vermag die Kammer entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin insoweit nicht zu erkennen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb eine eigene Feststellungsklage der genannten Personen in Bezug auf die behauptete Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus diesem Grunde ausgeschlossen sein sollte. Insbesondere ist eine Parteifähigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht – auch im hier streitgegenständlichen Fall – keine Zulässigkeitsvoraussetzung einer Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht und auch die Klagebefugnis der Vertreter der Klägerin in Bezug auf ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht – anders als ihr Recht auf ein faires Verfahren, das in der Tat an die Beteiligtenstellung im Organstreit anknüpfte, jedoch vor dem Verwaltungsgericht nicht justiziabel ist (siehe oben <strong>1.</strong>) – wäre nicht deswegen ausgeschlossen, weil diese selbst nicht Partei des streitgegenständlichen Organstreitverfahrens gewesen sind oder hätten sein können. Angesichts dessen überzeugt auch die Auffassung der Klägerin, der „Schaden“ müsse in Anlehnung an die Regulierung von Drittschadensfällen im Zivilrecht „zum Anspruch gezogen werden“, die Kammer nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Im Übrigen kommt eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Vertreter der Klägerin im vorliegenden Fall aus denselben Gründen nicht in Betracht wie eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin selbst (siehe dazu unten <strong>2.4.2.2.</strong>), so dass die Klagebefugnis auch unabhängig davon, ob die Klägerin insofern im eigenen Namen für ihre Vertreter handeln kann, offensichtlich ausscheidet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/><strong>2.4.2.2.</strong> Auch die Klägerin selbst ist durch die Vorabüberlassung der Pressemitteilung im Organstreitverfahren 2 BvE 1/19 an die ... offensichtlich nicht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt worden. Dabei kann offenbleiben, inwieweit sich die Klägerin als politische Partei auf dieses Grundrecht überhaupt berufen kann bzw. inwieweit der Menschenwürdekern des Grundrechts vorliegend reicht. Denn dessen sachlicher Schutzbereich ist hier bereits nicht eröffnet, jedenfalls fehlt es aber an einem Eingriff in diesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts garantiert zwar die erforderliche Freiheit bei der Darstellung der eigenen Person gegenüber Dritten und in der Öffentlichkeit. Dazu gehört auch die soziale Anerkennung des Einzelnen. Das Grundrecht schützt demnach vor Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf sein Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken. Allerdings reicht der Schutz dieses Grundrechts nicht so weit, dass es dem Einzelnen einen Anspruch darauf verliehe, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 –, juris LS. 1, Rn. 42). Er wird durch das Grundrecht lediglich vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen seiner Person geschützt, die von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 – 1 BvR 1531/96 –, juris Rn. 42).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Nach diesen rechtlichen Maßstäben vermag die Kammer bereits nicht zu erkennen, dass es aufgrund der Vorabüberlassung der Pressemitteilung an Journalisten der ... im streitgegenständlichen Organstreitverfahren zu einer medialen Darstellung der Klägerin (oder deren Vertreter) gekommen wäre, die sich in ehrenrühriger Weise abträglich auf ihr Bild in der Öffentlichkeit ausgewirkt hätte. Die Klägerin hat zwar behauptet, die in der ... vertretene, ihr gegenüber „durchweg feindselige Meute zwangsgebührenfinanzierter Journalisten“ öffentlich-rechtlicher Medienanstalten habe den Ausgang des Verfahrens insofern verzerrt dargestellt, als eine versteckte Passage in der Entscheidungsbegründung des Urteils zum Anlass genommen worden sei, den Prozessgegner der Klägerin, den damaligen Bundesinnenminister ..., als „moralischen“ Sieger des Prozesses darzustellen, weil es in der Entscheidung auch heiße, die abwertenden Äußerungen ... über die Klägerin seien nicht per se und in jedem Zusammenhang rechtswidrig, würden es aber infolge ihrer Einstellung auf die offizielle Homepage des Bundesinnenministeriums. Aufgrund dieser eigentlich irrelevanten Passage hätten die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten berichtet, das Bundesverfassungsgericht habe die Äußerungen ... gegen die Klägerin in der Sache vollauf unterstützt und nur moniert, dass diesem ein „Formfehler“ unterlaufen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Zum einen hat die Klägerin, die ihre Klageschrift an anderer Stelle mit zahlreichen Belegen versehen hat, keinen einzigen konkreten Medienbericht vorgelegt oder benannt, der eine derartige Berichterstattung belegen würde, so dass die Kammer schon im Tatsächlichen nicht zu erkennen vermag, dass es im konkreten Fall überhaupt zu einer verzerrten Berichterstattung über die streitgegenständliche Entscheidung gekommen wäre. Eine solche würde das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin nach dem oben Dargelegten ohnehin nur dann tangieren, wenn es sich um eine <em>verfälschende</em> oder <em>entstellende</em> Darstellung ihrer Person handeln würde, was im Falle einer inhaltlich korrekt den Inhalt der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wiedergebenden Berichterstattung, mag sie auch eine andere Schwerpunktsetzung als von der Klägerin gewünscht beinhalten, nicht erkennbar ist. Zum anderen ist für die Kammer auch nicht ersichtlich, dass eine solche Berichterstattung, selbst wenn sie das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin (oder ihrer Vertreter) beeinträchtigt hätte, kausal auf die Tatsache zurückzuführen gewesen wäre, dass die diese verantwortenden Journalistinnen und Journalisten einige Stunden früher als die Klägerin selbst über die Pressemitteilung verfügt haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Aus denselben Gründen vermag die Klägerin auch nicht mit ihrer Argumentation durchzudringen, die ihr feindlich gesonnenen Journalisten der ... seien durch die Vorabüberlassung der Pressemitteilung in der Lage, ihren Vertretern gegenüber in direkt nach der Entscheidungsverkündung erfolgten Interviews überlegen informiert aufzutreten und sie dadurch „dumm aussehen“ zu lassen. Sie hat nämlich auch hier schon nicht konkret darlegen können, dass es nach der streitgegenständlichen Urteilsverkündung überhaupt zu einer ihrem sozialen Geltungsanspruch abträglichen Darstellung ihrer selbst oder ihrer Vertreter gekommen wäre, die geeignet gewesen wäre, ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen. Vielmehr sollen die Vertreter der Klägerin – nach eigener Einlassung der Klägerin – in der Lage gewesen sein, „selbst unter widrigsten Bedingungen ihre Konkurrenten aus den etablierten Parteien dennoch an die Wand“ zu spielen, so dass eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin schon im Tatsächlichen fernliegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Ob angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach überhaupt nur eine <em>verfälschende</em> oder <em>entstellende</em> Darstellung einer Person geeignet ist, das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu verletzen, während der Einzelne gerade keinen Anspruch darauf hat, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte, eine die Vertreter der Klägerin „dumm aussehen“ lassende Interviewführung nach der Urteilsverkündung überhaupt geeignet gewesen wäre, das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Vertreter der Klägerin – oder gar der Klägerin selbst – zu beeinträchtigen, kann demnach ebenso dahinstehen wie die Frage, inwieweit die Anforderungen, die die Rechtsprechung an mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen stellt, in einem solchen Fall erfüllt, die Folgen der Berichterstattung durch Dritte dem Bundesverfassungsgericht also zurechenbar wären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/><strong>2.4.3. </strong>Auch aufgrund eines Verstoßes gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG ist eine subjektive Rechtsverletzung der Klägerin nach Auffassung der Kammer von vornherein offensichtlich ausgeschlossen. Aus dieser Vorschrift folgt nämlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine subjektive Rechtsposition im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO, auf die die Klägerin sich berufen könnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>§ 32 Abs. 1 GO-BVerfG bestimmt, dass amtliche Informationen über ergangene Entscheidungen u. a. erst veröffentlicht werden dürfen, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Prozessbeteiligten zugegangen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/><strong>2.4.3.1.</strong> Die Kammer hat bereits Zweifel, ob der Anwendungsbereich der Vorschrift überhaupt eröffnet ist. Dies stellt sich bereits vor dem Hintergrund als problematisch dar, dass das Urteil in dem Verfahren 2 BvE 1/19, auf das sich die am 08.06.2020 an Vertreter der ... übergebene Pressemitteilung bezog, zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt gegeben war und es sich deswegen noch nicht um eine „ergangene“ Entscheidung im Sinne der Norm gehandelt haben könnte. Jedenfalls bestehen erhebliche Zweifel, ob die Überlassung der Pressemitteilung an Mitglieder der ... eine „Veröffentlichung“ im Sinne der Vorschrift dargestellt hat. Nimmt man deren Zweck in den Blick, dass die Prozessbeteiligten die Entscheidung nicht zuerst aus der Presse erfahren sollen (vgl. Lenz/Hansel, in: Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2020, § 30 Rn. 43), spricht – wie die Beklagte zu Recht geltend macht – vieles dafür, dass eine „Veröffentlichung“ erst dann vorliegt, wenn ein nicht überschaubarer Personenkreis, also die Allgemeinheit, Kenntnis von ihr erlangt oder erlangen kann (anders: Heldt/Klatt, NVwZ 2021, 684, 685, die einen klaren Verstoß gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG attestieren), nicht hingegen, wenn – wie hier – nur ein kleiner Kreis an Personen – im Juni 2020 waren nur rund 30 Personen Vollmitglieder der ... – Zugang zum Inhalt der Pressemitteilung erhält, diese aber erst nach der Entscheidungsverkündung <em>der Öffentlichkeit</em> zugänglich macht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Für diese Auslegung streiten auch historische Argumente: Wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zu Recht angeführt hat, wurde die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts 2015 geändert. Die Vorgängerfassung hatte statt „Veröffentlichung“ noch den Terminus „hinausgeben“ gebraucht; dieser Wortlaut legt in der Tat nahe, dass ein Herausgeben von Presseverlautbarungen aus der Sphäre des Gerichts an <em>jedwede</em> dritte, außerhalb des Gericht stehende Partei untersagt sein sollte. Indem es nunmehr jedoch nicht mehr „hinausgeben“, sondern „Veröffentlichung“ heißt, wird der Wille des Vorschriftengebers deutlich, nicht mehr jegliche Veräußerung von Pressemitteilungen an außerhalb der Sphäre des Gerichts befindliche Personen verbieten zu wollen, bevor die Prozessbeteiligten die Entscheidung erhalten haben, sondern nur noch eine solche, die den Inhalt der Presseverlautbarung <em>der Öffentlichkeit</em> zugänglich macht. Es spricht somit vieles dafür, dass das Satzungsrecht des Bundesverfassungsgerichts nunmehr an die zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits etablierte Praxis der Vorabübermittlung an die Mitglieder der ... angeglichen werden sollte und letztere damit gerade nicht mehr gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG verstößt. Der Argumentation der Klägerin, es komme für die Definition des Begriffs „Veröffentlichung“ nicht auf die Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des Personenkreises, an den die Information weitergegeben werde, sondern auf dessen Befugnis an, vermag die Kammer nach alledem nicht zu folgen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/><strong>2.4.3.2.</strong> Dies kann vorliegend aber dahinstehen. Denn selbst wenn die Vorabüberlassung der streitgegenständlichen Pressemitteilung gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG verstoßen haben sollte, handelt es sich bei der Vorschrift jedenfalls offensichtlich nicht um eine Rechtsnorm, die der Klägerin ein gerichtlich einklagbares subjektives Recht im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO verleiht. Nach der herrschenden Schutznormtheorie, auf die die Klägerin sich beruft, liegt ein subjektives Recht nur dann vor, wenn ein Rechtssatz des öffentlichen Rechts nicht nur öffentlichen Interessen, sondern zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen derart zu dienen bestimmt ist, dass die Träger der Individualinteressen die Einhaltung des Rechtssatzes <em>sollen verlangen können</em> (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.1985 – 8 C 43.83 –, juris Rn. 15; s. dazu ferner Happ, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 42 Rn. 85: „Subjektives Recht ist die einem Subjekt durch eine Rechtsnorm […] zuerkannte Rechtsmacht, von einem anderen ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen zu fordern […]. Dem subjektiven Recht korrespondiert also eine Pflicht des anderen.“).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Wie die Kammer bereits im zugehörigen Eilverfahren ausgeführt hat und auch die Beklagte geltend macht, handelt es sich indes bei der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts um <em>reines Binnenrecht</em>, das einzig die Aufgabe hat, das regelgeleitete Funktionieren des Gerichts sicherzustellen (Schlaich/Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Aufl. 2021, 2. Teil Rn. 28). Geschäftsordnungsautonomie ist das Recht zur Selbstorganisation. Geschäftsordnungsverstöße lassen deshalb die Gültigkeit von externen Entscheidungen des betreffenden Verfassungsorgans unberührt. Für das Bundesverfassungsgericht bedeutet dies, dass eine geschäftsordnungswidrige Entscheidung mit Außenwirkung weder zwangsläufig gesetzwidrig noch gar verfassungswidrig ist. Solchen Verdikten stehen sowohl der untergesetzliche Rang als auch die bloß interne Reichweite der Geschäftsordnung entgegen (vgl. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 61. EL Juli 2021, § 1 Rn. 69). Als organisatorisches Binnenrecht kann diese demnach auch <em>keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten</em> – und damit auch nicht gegenüber der Klägerin – begründen (vgl. Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2022, § 1 Rn. 105; Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 13. Edition Stand: 01.06.2022, § 1 Rn. 15). § 32 GO-BVerfG verleiht der Klägerin als außenstehender Dritter aus diesem Grunde offensichtlich gerade keine Rechtsmacht im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO, vom Bundesverfassungsgericht ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen zu fordern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/><strong>2.4.3.3.</strong> Soweit die Klägerin darauf verweist, es handele sich bei § 32 GO-BVerfG um „deklaratorisches“, also notwendiges Satzungsrecht, das wegen der Grundrechte der Klägerin dieser selbst dann ein subjektives Recht gewährte, wenn die Vorschrift den expliziten Vorbehalt enthielte, dass kein Anspruch des Einzelnen aus ihr folgte, vermag die Kammer dem ebenfalls nicht zu folgen. Zwar ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Geschäftsordnung nicht regeln könnte, dass Grundrechte des Einzelnen oder anderes höherrangiges (Gesetzes-)Recht nicht gelten sollen. Umgekehrt schafft das Bundesverfassungsgericht im Wege seiner Geschäftsordnung, die nach dem oben Dargelegten gerade keine Außenwirkung entfalten soll, allerdings auch keine zusätzlichen Rechte Dritter. Ob durch die Vorabübermittlung von Pressemitteilungen an Mitglieder der ... eine – durch das Verwaltungsgericht überprüfbare – Grundrechtsverletzung der Prozessbeteiligten entsteht, ist gerade die Frage, die es vorliegend zu beantworten gilt. Ein Grundrechtsverstoß der gerügten Praxis änderte aber nichts an der Rechtsnatur der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts als reines Binnenrecht, das als solches keine subjektiven Rechte Einzelner verleiht. Mit anderen Worten: Die bloße Existenz von § 32 GO-BVerfG und ein möglicher Verstoß hiergegen vermögen für sich genommen eine (Grund-)Rechtsverletzung der Klägerin nicht zu begründen und führen auch nicht dazu, dass deren Prozessgrundrechte in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – „durch die Hintertür“ – durch das Verwaltungsgericht justiziabel würden (vgl. hierzu oben <strong>1.</strong>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/><strong>2.4.3.4.</strong> Schließlich ändert auch die Tatsache, dass die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts dieses selbst bindet (vgl. zu dieser Selbstbindung: Burkiczak, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2022, § 1 Rn. 105; Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 13. Edition Stand: 01.06.2022, § 1 Rn. 15), an deren Rechtsnatur als reines Binnenrecht nichts. Die Kammer vertritt nämlich die Auffassung, dass eine solche interne Selbstbindung – analog einer Selbstbindung der Verwaltung in der Form von (ermessenslenkenden) Verwaltungsvorschriften (vgl. hierzu etwa BVerwG, Urteil vom 10.12.1969 – VIII C 104.69 –, juris Rn. 12 f. m. w. N.) – allenfalls über Art. 3 Abs. 1 GG Außenwirkung erlangen könnte. Insoweit mangelt es hier indes bereits an einem vergleichbaren Sachverhalt bzw. einer vergleichbaren Personengruppe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG: Denn die Klägerin ist selbst kein Presseorgan, so dass sie eine Gleichbehandlung mit den Journalistinnen und Journalisten der ... gerade nicht fordern konnte (siehe dazu bereits oben <strong>2.4.1.</strong>). Dass es im streitgegenständlichen Fall zu einem „Durchstechen“ der Pressemitteilung an die Prozessgegnerin der Klägerin – die Bundesregierung bzw. deren Vertreter, den Staatssekretär ..., als einzig vergleichbare Person(engruppe) – gekommen wäre, hat die Klägerin nicht substantiiert dargetan. Sie vermochte keinen einzigen konkreten Fall zu benennen, in dem ihr sicher bekannt wäre, dass ihr Prozessgegner vor dem Bundesverfassungsgericht vorab über eine Pressemitteilung verfügt hätte, und auch dass dies im streitgegenständlichen Organstreitverfahren der Fall gewesen wäre, ist letztlich rein spekulativ. Die Ausführungen der Klägerin zum „politisch-medialen Kontext der Gegenwart“ und zum „Marktwert“ von Journalisten überzeugen die Kammer in diesem Zusammenhang ebensowenig wie ihre Behauptung, eine gegenteilige Auffassung sei „naiv“ bzw. „lachhaft“ und stelle ein „Klapperstorchmärchen“ dar. Darüber hinaus wäre ein solches „Durchstechen“ der Pressemitteilung an die Prozessgegnerin der Klägerin ohnehin nicht durch das Bundesverfassungsgericht selbst, sondern explizit gegen dessen mit der Vorabüberlassung gemachte Vorgaben erfolgt, so dass es an einer Zurechenbarkeit zum Bundesverfassungsgericht mangeln dürfte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Im Übrigen stand es dem Bundesverfassungsgericht – selbst wenn man einen Verstoß gegen § 32 Abs. 1 GO-BVerfG (siehe dazu oben <strong>2.4.3.1.</strong>) und eine Außenwirkung dieser Vorschrift nach den Grundsätzen der Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften (siehe dazu soeben) im vorliegenden Fall bejahte – nach Auffassung der Kammer frei, seine tatsächliche Verwaltungspraxis aus sachlichen, auf Dauer angelegten Gründen für die Zukunft generell zu ändern, wobei diese Änderung nicht der Schriftform bedurfte (vgl. zur Änderung von Verwaltungsvorschriften: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.12.1999 – 4 S 2518/97 –, juris Rn. 9 m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können ermessensbindende Verwaltungsvorschriften, die eine inhaltlich vorgezeichnete Verwaltungspraxis vorwegnehmend festlegen, nämlich durch eine abweichende Verwaltungspraxis geändert werden. Maßgebend für die Auslegung einer ermessensbindenden Verwaltungsvorschrift ist ihre in ständiger Verwaltungspraxis geübte tatsächliche Handhabung. Sowohl eine durch Verwaltungsvorschriften vorgenommene Ermessensbindung als auch eine rein tatsächliche Verwaltungsübung können aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.04.2000 – 2 B 21.00 –, juris Rn. 3 m. w. N.). Eine derartige Änderung seiner Praxis hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls vollzogen, indem es „seit geraumer Zeit“ – generell – wie im streitgegenständlichen Verfahren verfährt und seine Pressemitteilungen am Vorabend der Urteilsverkündungen den Mitgliedern der ... zur Verfügung stellt. Dass derart ausschließlich im vorliegenden Fall verfahren worden wäre oder dies nur in Verfahren geschähe, an denen die Klägerin am Prozess beteiligt ist, ist weder ersichtlich noch von der Klägerin geltend gemacht worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/><strong>3.</strong> Auch der Hilfsantrag der Klägerin ist bereits unzulässig. Denn auch für die hier begehrte Feststellung fehlt der Klägerin, soweit der Verwaltungsrechtsweg überhaupt eröffnet ist (siehe oben <strong>1.</strong>), nach dem oben Dargelegten jedenfalls die Klagebefugnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Insbesondere ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass der Klägerin ein Anspruch auf (in Bezug auf die Mitglieder der ...) gleichzeitige Überlassung der Pressemitteilung am Vorabend des 09.06.2020 zugestanden hätte. Ein solcher scheitert bereits daran, dass die Klägerin eine Vorabüberlassung der Pressemitteilung an sich selbst am 08.06.2020 beim Bundesverfassungsgericht bereits nicht explizit beantragt hat. In dem Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 07.06.2020 an das Bundesverfassungsgericht heißt es wörtlich:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="71"/>„Ich darf Sie nach alledem auffordern, es zu unterlassen, dem Verein „...“ oder dessen Mitgliedern oder sonstigen Personen die Pressemitteilung oder sonstige Information zu der am kommenden Dienstag um 10 Uhr zu verkündenden Entscheidung zukommen zu lassen, jedenfalls, bevor ich als Prozessbevollmächtigter der Antragstellerin diese Informationen bzw. die Presseerklärung erhalten habe!</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="72"/>Ich darf Sie weiterhin auffordern, mir Ihre dahingehende Entscheidung und eine kurze schriftliche Bestätigung, daß im Fall „...“ keinerlei Informationsweitergabe im Vorfeld der Entscheidungsverkündung an insofern unbefugte private Dritte stattfinden wird, zukommen zu lassen. Dies kann auch per E-Mail geschehen“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Hierin ist aber eindeutig lediglich ein Unterlassungsbegehren und gerade kein (auch kein hilfsweises) Leistungsbegehren formuliert. Der Nachsatz „jedenfalls, bevor ich als Prozessbevollmächtigter der Antragstellerin diese Informationen bzw. die Presseerklärung erhalten habe“ führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieser ist vielmehr als zeitliche Eingrenzung des Unterlassungsantrags, nicht aber als eigener Leistungsantrag zu werten. Denn durch den nächsten Absatz hat die Klägerin eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie vom Bundesverfassungsgericht ausschließlich die Unterlassung der Vorabüberlassung der Pressemitteilung an die Mitglieder der ..., nicht aber auch eine Vorabüberlassung derselben an sich selbst gefordert hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Eine vor dem 08.06.2020 erhobene Leistungsklage und auch ein Antrag auf Erlass einer die Vorabüberlassung der Pressemitteilung an die Klägerin regelnden einstweiligen Anordnung wäre demnach mangels vorherigen Antrags an die Behörde unzulässig gewesen (vgl. etwa Jörg Philipp Terhechte, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 43 VwGO Rn. 100, wonach einer Leistungsvornahmeklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Kläger nicht zunächst die Leistung vom Verpflichteten eingefordert hat). Nichts anderes kann für die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtüberlassung gerichteten Klage gelten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Im Übrigen ist für die Kammer nach dem oben Dargelegten auch nicht ersichtlich, auf welche Anspruchsgrundlage ein solches Begehren hätte gestützt werden können, jedenfalls mangelte es aber im Falle der Unterlassung der gleichzeitigen Vorabüberlassung an die Klägerin an einer – durch das Verwaltungsgericht überprüfbaren und durch dieses feststellbaren – Grundrechtsverletzung der Klägerin.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/><strong>II.</strong> Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/><strong>III.</strong> Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO) liegen nicht vor.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:12pt"><tr><td><rd nr="78"/><strong><span style="text-decoration:underline">B E S C H L U S S</span></strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- Euro festgesetzt.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,521 | olgham-2022-08-25-20-u-15522 | {
"id": 821,
"name": "Oberlandesgericht Hamm",
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} | 20 U 155/22 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-09-13T10:01:16 | 2022-10-17T11:10:02 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0825.20U155.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>I.</p>
<p>Die Berufung der Klägerin gegen das am 25.03.2022 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bochum wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p>
<p>Das vorgenannte Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>II.</p>
<p>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 18.301,96 € festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe</span>:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 522 II 1 ZPO zurückzuweisen. Sie ist offensichtlich unbegründet. Zudem hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Auch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats nicht. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Zu Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Die Einwendungen der Klägerin hiergegen bleiben ohne Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Senat nimmt zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf seinen Hinweisbeschluss vom 27.07.2022. Hieran hält der Senat auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Klägerin zum Hinweisbeschluss fest.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche bereits aus dem Grunde nicht zu, weil die Widerspruchsbelehrung sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht den Anforderungen des § 5a VVG a.F. genügt und die Klägerin neben den Versicherungsbedingungen sämtliche Verbraucherinformationen nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes a.F. und die Widerspruchsbelehrung erhalten hat. Der Klägerin ist es aus diesem Grunde nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich auf die angebliche Unwirksamkeit des Vertrages zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht der Klägerin genügt die Belehrung nicht nur den formalen, sondern auch den inhaltlichen Anforderungen des § 5a VVG a.F.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Insbesondere sind – in inhaltlicher Hinsicht – die fristauslösenden Unterlagen hinreichend genau bezeichnet.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Klägerin stellt der Begriff „Versicherungsurkunde“, auf deren Erhalt die Belehrung abstellt, zumindest vorliegend kein Synonym für „Versicherungspolice“ dar. Der Verweis der Klägerin auf ein Kreuzworträtsel-Lexikon liegt neben der Sache. Entscheidend ist nicht, wie jemand, der ein Kreuzworträtsel löst, den Begriff versteht, sondern, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer den Begriff versteht. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird aber mühelos erkennen, dass die Versicherungsurkunde nicht nur aus der Police, sondern eben aus dem gesamten, gebundenen und gelochten Konvolut, auf dessen Deckblatt unübersehbar das Wort „Versicherungsurkunde“ steht, besteht. Sollte sich ihm dies nicht auf dem ersten Blick erschließen, was der Senat aber ausschließt, wird er dies spätestens beim Durchblättern der Urkunde erkennen, da jede einzelne Seite unübersehbar die Überschrift „Versicherungsurkunde“ trägt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In der Versicherungsurkunde sind aber sämtliche Unterlagen enthalten, welche für die Fristauslösung nach § 5a VVG a.F. maßgeblich sind. Dies wird dem Versicherungsnehmer durch die Belehrung eindeutig vor Augen geführt. Es bedarf vorliegend keiner ausdrücklichen Benennung der einzelnen Unterlagen und auch keiner Erläuterung, dass für den Beginn der Frist neben dem Versicherungsschein die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation maßgeblich sind. Der Einwand der Klägerin, dass die Police, die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation nach § 10a VAG in der Belehrung explizit genannt werden müssen, geht daher fehl. Entscheidend und ausreichend ist es, dass die Widerspruchsbelehrung unter Einbeziehung des Gesamtinhalts des Policenbegleitschreibens dem Versicherungsnehmer ausreichend verdeutlicht, welche Unterlagen ihm vorliegen müssen, damit die Widerspruchsfrist beginnt (vgl. BGH, Beschluss vom 12.07.2016 - IV ZR 558/15). Dies ist hier der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Für die Beurteilung der Ordnungsgemäßheit der Belehrung ist ausschließlich auf die Belehrung in dem Policenbegleitschreiben abzustellen. Es ist unerheblich, dass in dem Antragsformular eine weitere Belehrung vorhanden ist. Wenn - wie hier - mit der Belehrung im Policenbegleitschreiben - eine von mehreren Widerspruchsbelehrungen insgesamt ordnungsgemäß war, kommt es darauf an, ob der Versicherungsnehmer durch eine weitere - formal oder inhaltlich nicht ordnungsgemäße - Belehrung irregeführt oder von einem rechtzeitigen Widerspruch abgehalten wird (vgl. BGH, Urteil vom 16.12.2015, IV ZR 71/14.). Dies ist hier nicht der Fall. Dem steht nicht entgegen, dass in der Belehrung in dem Antragsformular eine unzutreffende Frist von 14 Tagen genannt ist. Die Beklagte musste sich nämlich an der in der Belehrung in dem Policenbegleitschreiben genannten – zutreffenden - Frist von 30 Tagen festhalten lassen (vgl. BGH aaO). Auch diese Frist war aber zum Zeitpunkt des Widerspruchs längst abgelaufen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Demnach kann dahingestellt bleiben, ob der unter Geltung des § 5a VVG a.F. nach dem sogenannten "Policenmodell“ zustande gekommene Versicherungsvertrag wegen Gemeinschaftswidrigkeit Wirksamkeitszweifeln unterliegt.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Einem Versicherungsnehmer ist es nämlich auch im Falle einer unterstellten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Policenmodells nach - gefestigter -</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. etwa Beschl. vom 21. 03. 2018 – IV ZR 201/16) nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach langfristiger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grunde ist der Hinweis der Klägerin auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 24.02.2022 (C-143/20, C-213/20) ohne Relevanz. Es kann nämlich aus den oben genannten Gründen dahingestellt bleiben, ob mit diesem Urteil – wie die Klägerin meint - „die generelle Frage der Zulässigkeit des Policenmodells wieder zur Debatte steht“.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Auch vorliegend ist es der Klägerin nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach langfristiger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat die Widerspruchsfrist bei Vertragsschluss im Dezember 2004 ungenutzt verstreichen lassen. Sie hat über einen langen Zeitraum die Versicherungsprämien gezahlt. Erst im Mai 2021 hat sie den Widerspruch erklärt. Ihre Prämienzahlungen über einen längeren Zeitraum haben, für die Klägerin erkennbar, bei der Beklagten ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand des Vertrages begründet.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen hält der Senat auch nach der Stellungnahme der Klägerin daran fest, dass das Widerspruchsrecht jedenfalls verwirkt wäre, und zwar auch dann, wenn man die Widerspruchsbelehrung wegen nicht hinreichend genauer Benennung der fristauslösenden Unterlagen als nicht ordnungsgemäß ansehen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Wann die Ausübung des Widerspruchsrechts treuwidrig ist, ist eine Frage des Einzelfalls und von den Tatgerichten zu beurteilen (siehe etwa BGH, Beschluss vom 11. November 2015 – IV ZR 117/15, juris Rn. 16; BGH, Beschluss vom 27. September 2017 – IV ZR 506/16, juris Rn. 10, 15).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dabei ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, welcher der Senat folgt. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 erfordern nicht bei jedem Belehrungsfehler ein ewiges Rücktritts- oder Widerspruchsrecht. Vielmehr gilt: „Wird dem Versicherungsnehmer durch die Belehrung, auch wenn diese fehlerhaft ist, nicht die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wäre es unverhältnismäßig, es ihm zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen.“ (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 – C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner u.a., NJW 2020, 667, Rn. 79; vgl. dazu etwa auch OLG Bremen, Beschluss vom 27. Januar 2021 – 3 U 23/20, MDR 2021, 621; OLG Nürnberg, Beschluss vom 22. Februar 2021 – 8 U 3888/20, juris; KG, Beschluss vom 21. Mai 2021 – 6 U 16/21, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 9. März 2022 – 7 U 30/21, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 28. April 2022 – 4 U 2762/21, juris – Frankfurt und Dresden u.a. auch zu dem EuGH-Urteil vom 9. September 2021, dazu noch sogleich.)</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 22. Juni 2022 (IV ZR 353/21) die Revision gegen einen Beschluss des Kammergerichts vom 15. Juni 2021 (6 U 1139/20) zugelassen hat, zieht diese Rechtsprechung nicht in Zweifel. Das Kammergericht hat in diesem Beschluss angenommen, dass auch eine Belehrung, welche für den Widerspruch zu Unrecht „Schriftform“ verlangt, kein ewiges Widerspruchsrecht begründe. In einem solchen Fall wird dem Versicherungsnehmer wohl doch die Möglichkeit genommen, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 9. September 2021 (C-33/20, 155/20, 187/20, NJW 2022, 40) ändert an dem Vorstehenden entgegen der Ansicht der Klägerin nichts (vgl. dazu – außer den vorzitierten Entscheidungen des OLG Frankfurt und des OLG Dresden – etwa auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 12 U 80/21, VersR 2022, 352 sowie OLG Brandenburg, Beschluss vom 04.07.2022 – 11 U 273/21).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Gerichtshof hat dort nicht etwa allgemein und abschließend festgelegt, wann ein nationalrechtlicher Einwand der Treuwidrigkeit greifen kann. Er hat vielmehr Ausführungen dazu gemacht, ob es einem Lösungsrecht entgegensteht, wenn zwischen dem Vertragsschluss und dem Widerruf durch den Verbraucher erhebliche Zeit vergangen ist (Rn. 126). Und er hat Ausführungen dazu gemacht, was im Rahmen der Richtlinie 2008/48 gilt, wenn eine zentrale Information zum Vertragsinhalt dem Verbraucher vorenthalten wurde (Rn. 127). Beides ist im Streitfall nicht einschlägig. Vielmehr gilt: Die hier in Rede stehende Frage hat der Gerichtshof in dem Urteil vom 19. Dezember 2019 (Rust-Hackner) entschieden; davon ist er nicht abgerückt; das Urteil vom 9. September 2021 betrifft andere Fragen, weshalb dieses Urteil aus dem Jahre 2021 dasjenige aus dem Jahre 2019 zwar erwähnt (Rn. 123), es aber nicht etwa kritisiert oder sich auch nur davon abgrenzt.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Zudem gilt (siehe bereits OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 12 U 80/21, Rn. 13): Die Verbraucherkredit-Richtlinie (Richtlinie 2008/48/EG) enthält in Art. 14 abschließende Bestimmungen zur Widerrufsfrist; die zeitlichen Voraussetzungen des Widerrufsrechts unterliegen der Vollharmonisierung. Aus diesem Grund darf eine in der Verbraucherkreditrichtlinie nicht vorgesehene zeitliche Beschränkung des Widerrufsrechts auch nicht durch nationale Rechtsvorschriften erfolgen (EuGH, Urteil vom 9. September 2021, Rn. 116 f.). Demgegenüber liegt den im Streitfall in Rede stehenden Lösungsrechten im Bereich der Lebensversicherung die zweite und dritte Lebensversicherungs-Richtlinie (Richtlinien 90/619/EWG, Richtlinie 92/96/EWG) zu Grunde, welche die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts einschließlich etwaiger Einschränkungen dieses Rechts einer Regelung durch das nationale Recht überlassen (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – C-209/12, NJW 2014, 452, Endress, Rn. 22 ff.). Grenzen ergeben sich hier lediglich aus dem Gebot der praktischen Wirksamkeit (ebd.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der wohl abweichenden Ansicht des OLG Rostock (Urteil vom 8. März 2022 – 4 U 51/21) und der von der Berufung zitierten Vorlageentscheidung des LG Rostock folgt der Senat aus diesen Gründen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Auch eine Aussetzung des vorliegenden Verfahrens im Hinblick auf die seitens des LG Erfurt erfolgte Vorlage ist entgegen der Auffassung der Klägerin aus den oben genannten Gründen nicht geboten (ebenso OLG Karlsruhe sowie OLG Brandenburg a.a.O.).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Auch aus dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 2022 (VGH B 70/21, juris) ergibt sich entgegen der Ansicht der Klägerin nichts anderes. Der Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass der dort angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz nicht ausreichend begründet habe, dass das Gericht abschließend habe entscheiden können. Der Verfassungsgerichtshof hat aber offengelassen (Rn. 46, vgl. auch Rn. 82), was für diejenigen Fälle gilt, über welche der Gerichtshof der Europäischen Union mit dem Urteil vom 19. Dezember 2019 (Rust-Hackner) entschieden hat. Gerade um einen solchen Fall geht es aber vorliegend. Der Verfassungsgerichtshof hat ferner eine Argumentation ausdrücklich unbeanstandet gelassen (Rn. 80), welche – wie hier – auf den unterschiedlichen Harmonisierungsgrad der genannten Richtlinien abstellt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin wurde im Streitfall jedenfalls nicht die Möglichkeit genommen, ihr Widerspruchsrecht im Wesentlichen zu denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat mit Übersendung der Versicherungsurkunde nebst dem Policenbegleitschreiben sämtliche für den Fristbeginn maßgeblichen Unterlagen erhalten. Mit Übersendung der Belehrung und der Versicherungsurkunde war die Klägerin darüber informiert, dass die Frist für den Widerspruch zu laufen begann. Eine Unsicherheit der Klägerin über den Fristbeginn bestand nicht. Allenfalls bestand eine Unkenntnis darüber, dass für den Fristbeginn nicht nur die in der Belehrung benannte Versicherungsurkunde, sondern auch die Verbraucherinformation (auf welche zudem in der Belehrung als Bestandteil der Versicherungsurkunde hingewiesen wurde) und die Versicherungsbedingungen maßgeblich waren. Sowohl die Verbraucherinformation als auch die Versicherungsbedingungen waren indes Bestandteil der Versicherungsurkunde. Wenn die Klägerin aufgrund der in der Versicherungsurkunde enthaltenen Informationen - und sei es eben aufgrund Versicherungsbedingungen und der Verbraucherinformation - unzufrieden mit dem Vertragsschluss gewesen wäre, hätte sie die Übersendung der Belehrung und der Versicherungsurkunde ohne Weiteres zum Anlass nehmen können, dem Vertragsschluss zu widersprechen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Es kann daher ausgeschlossen werden, dass die Klägerin - die Fehlerhaftigkeit der Belehrung unterstellt - bei einer ordnungsgemäßen Belehrung den Widerspruch erklärt hätte, hiervon aber durch den - vermeintlichen - Mangel abgehalten wurde. Aus dem Umstand, dass die fristauslösenden Unterlagen - nach Darstellung der Klägerin - nicht hinreichend genug in der Belehrung bezeichnet wurden, kann sie daher nichts herleiten, da es unverhältnismäßig wäre, ihr aufgrund dessen ein "ewiges" Widerspruchsrecht einzuräumen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Der Senat kann nach § 522 Abs. 2 ZPO entscheiden. Die vorstehenden Erwägungen zu 1 und 2 stehen im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, und auch die unionsrechtlichen Fragen sind geklärt. Es ist auch nicht etwa eine Aussetzung des Rechtsstreits geboten.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Aus dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 2022 (VGH B 70/21, juris) folgt nichts anderes. Zum einen hat der Verfassungsgerichtshof die Beurteilung der Fälle mit einer ordnungsgemäßen Belehrung offengelassen (Rn. 74). Zum anderen sei (vgl. dort Rn. 46) nochmals darauf hingewiesen, dass das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 9. September 2021 zu einer anderen Richtlinie mit einem anderen Harmonisierungsgrad ergangen ist (dazu oben, vgl. auch bereits BVerfG, Beschluss vom 2. Februar 2015 – 2 BvR 2437/14, dort insbesondere Rn. 43 f.).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist demnach mit den sich aus den §§ 97, 708 Nr.10 S. 2 ZPO ergebenden prozessualen Nebenentscheidungen zurückzuweisen</p>
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346,418 | vghbw-2022-08-25-1-s-357521 | {
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} | 1 S 3575/21 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-09-03T10:01:42 | 2022-10-17T11:09:44 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12. Mai 2021 - 2 K 5046/19 - geändert.</p><p>Es wird festgestellt, dass die versammlungsrechtliche Auflage unter II. A. Ziffer 1 und die Androhung unmittelbaren Zwanges unter II. A. Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 rechtswidrig waren.</p><p>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin, die Staatsangehörige Kroatiens ist, begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer versammlungsrechtlichen Auflage, die eine zeitliche und örtliche Beschränkung einer von ihr angemeldeten Versammlung enthält sowie der hierauf bezogenen Androhung unmittelbaren Zwangs.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Nach einer entsprechenden Anmeldung von Herrn ... vom 30.01.2018 wurde vom 14.02.2018 bis zum 25.03.2018 jeweils von 09:00 bis 13:00 Uhr eine Versammlung mit fünf bis zehn Teilnehmern zum Thema „40 Days for Life“ neben dem Eingang des Büros von ... ...) in der ... Straße ... bis ... in ... in der Form einer stillen Gebetmahnwache durchgeführt. An der Versammlung nahmen tatsächlich regelmäßig sieben bis zehn Personen teil. Hierbei kam es zu Konflikten mit den Mitarbeitern von .... Eine die Beratungsstelle aufsuchende Frau fühlte sich zudem durch „böse Blicke“ der Versammlungsteilnehmer beeinträchtigt. Zudem führte die Aufstellung eines ein Meter großen weißen Kreuzes zu Unmut bei den Mitarbeitern von .... Des Weiteren kam es zu Auseinandersetzungen mit einer Gegendemonstration von Mitarbeitern von ....</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Mit Schreiben vom 07.09.2018 meldete Frau ... bei der Beklagten eine Versammlung mit 20 Teilnehmern zunächst wiederum vor der Beratungsstelle von ... und nach einem Kooperationsgespräch vor der ... Straße ... bis ... in ... vom 26.09 bis zum 04.11.2018 jeweils von 09:00 bis 13:00 Uhr erneut zum Thema „40 Days for Life“ mit einem täglichen stillen Gebet sowie einer Mahnwache an. Das Büro von ...a befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der ... Straße, die eine Breite von 17 Metern aufweist, vierspurig und vielbefahren ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 26.09.2018 teilte die Beklagte Frau ... unter anderem mit, dass hinsichtlich der Versammlung, wenn sie so wie letztendlich angemeldet und im Kooperationsgespräch besprochen durchgeführt werde, keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass von ihr Gefährdungen ausgingen. Weitere Auflagen zur Gefahrenabwehr, als die Bestimmungen, die sich ohnehin schon aus dem Versammlungsgesetz ergäben, seien somit nicht erforderlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Schreiben vom 27.01.2019 meldete Frau ... bei der Beklagten für den Zeitraum vom 06.03.2019 bis zum 14.04.2019 jeweils von 09:00 bis 13:00 Uhr wiederum eine Versammlung zum Thema „40 Days for Life/Lebensrecht ungeborener Kinder“ mit einem täglichen stillen Gebet sowie einer Mahnwache an. Als Kundgebungsmittel wurden Plakate angegeben. Die Versammlung sollte erneut auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Büro von ... durchgeführt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Nachdem diese Versammlungsanmeldung zurückgenommen wurde, meldete die Klägerin mit Schreiben vom 26.02.2019 die Versammlung erneut an. Sie gab zudem an, dass Passanten und Besucher der Beratungsstelle nicht angesprochen würden. Es würden auch keine Informationsschreiben verteilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Bescheid vom 28.02.2019 – zugestellt am 06.03.2019 – erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin in Bezug auf die Versammlung die Auflage (Ziffer 1 der Verfügung), dass die Versammlung währen der Beratungszeiten von ... (an Werktagen Montag bis Freitag von 07:15 bis 18:00 Uhr) nur außerhalb direkter Sichtbeziehung zum Gebäudeeingang von ... durchgeführt werden dürfe. Die Versammlung sei somit während der Beratungszeiten nicht erlaubt auf den Gehwegen der ... Straße auf der östlichen Straßenseite zwischen K... Straße und einschließlich dem Gebäude ... Straße ..., auf der westlichen Seite zwischen dem ... Weg und der beschränkten Ein-/Ausfahrt der Landratsamtsaußenstelle (...Straße ...), die sich zwischen Ecke G... Straße und Ecke ... Straße befinde, und auf dem Abschnitt des Gehwegs auf der Südseite des ...-... Wegs, von dem aus eine Sichtbeziehung zum Eingang des Gebäudes ... Straße ... bestehe. Die Gehwegbereiche, innerhalb derer die Versammlung während der genannten Beratungszeiten wie beschrieben nicht stattfinden dürfe, seien auf dem als Anlage beigefügten Plan als rote Balken eingezeichnet. Mit II. A. Ziffer 2 des Bescheids wurde für den Fall einer Zuwiderhandlung unmittelbarer Zwang angedroht und mit II. A. Ziffer 3 des Bescheids die sofortige Vollziehung der unter II. A. Ziffer 1 genannten Auflage angeordnet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, bereits 2018 seien im Frühjahr und im Herbst Versammlungen zu demselben Thema in unmittelbarer Nähe zum Gebäude von ... in ... angemeldet und unter der Leitung der Klägerin durchgeführt worden. Während dieser Zeiträume hätten jeweils auch Versammlungen von ... stattgefunden mit dem Ziel, einen ungehinderten Zugang der Schwangeren zur Beratungsstelle zu gewährleisten und somit deren allgemeines Persönlichkeitsrecht zu schützen. Die seinerzeitigen Versammlungen seien friedlich verlaufen. Allerdings hätten sich teilweise aufgeheizte Stimmungen und die konträren Positionen der Teilnehmer gezeigt, die sich aus den verschiedenen Auffassungen zur Schwangerschaftskonfliktberatung ergäben. Bei ... seien Beschwerden von betroffenen Schwangeren eingegangen. Von Seiten der Beratungsstelle ... sei ausgeführt worden, dass die Versammlungsteilnehmer von „40 Days for Life“ den Besucherinnen der Beratungsstelle als böse empfundene Blicke zugeworfen hätten. Ferner seien Besucher der Beratungsstelle gestört, bedrängt und eingeschüchtert worden. Teilnehmer der Versammlung hätten Ratsuchende belästigt und Beschäftigte von ... diffamiert. Die zeitlich und örtlich beschränkende Auflage sei erforderlich, weil bei Durchführung der Versammlung am vorgesehenen Ort eine unmittelbare Gefährdung für das der öffentlichen Sicherheit zuzuordnende allgemeine Persönlichkeitsrecht derjenigen Frauen bestehe, die die Beratungsstelle von ... aufsuchen wollten. Zwar könne sich die Klägerin neben dem Versammlungsrecht auch auf das Recht auf Meinungsäußerung und auf die Religionsfreiheit berufen. Im Rahmen der Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechte sei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen Vorrang einzuräumen. Durch die zeitliche und örtliche Beschränkung der Versammlung werde diesen ermöglicht, ohne Bedrängungen und ohne Stigmatisierung durch die Versammlungsteilnehmer die Beratungsstelle aufzusuchen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Klägerin erhob am 19.03.2019 Widerspruch und stellte am 20.03.2019 beim Verwaltungsgericht in Karlsruhe einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe lehnte mit Beschluss vom 27.03.2019 - 2 K 1979/19 - den Antrag der Klägerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs ab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Das Regierungspräsidium Karlsruhe stellte mit Verfügung vom 06.05.2019 das Widerspruchsverfahren ein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Klägerin hat am 30.07.2019 Klage beim Verwaltungsgericht Karlsruhe erhoben und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der unter II. A. Ziffer 1 der Verfügung der Beklagten vom 28.02.2019 angeordneten zeitlichen und örtlichen Beschränkung ihrer Versammlung sowie der in II. A. Ziffer 2 befindlichen Androhung des unmittelbaren Zwangs begehrt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen, die in der Verfügung der Beklagten vom 28.02.2019 angeordnete, eine zeitliche und örtliche Beschränkung der Versammlung enthaltende Auflage sei rechtwidrig gewesen. Der Verfügung sei die Anmeldung einer stillen Gebetsvigil als Versammlung vorausgegangen. Diese Vigil habe in der ... Straße ... abgehalten werden sollen, das heiße genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite der ...-Beratungsstelle in der ... Straße .... Sie setze sich mit der formlosen Gebetsvigil „40 Tage für das Leben“ durch ein friedliches und stilles Gebet vor der ...-Beratungsstelle für das Lebensrecht ungeborener Kinder ein. Sie habe langjährige Erfahrungen in der Leitung von privaten Gebetskreisen und auch in der ehrenamtlichen Seelsorge in einer christlichen Kirchengemeinde. Diese Erfahrung präge auch das Wesen der Vigil vor der Beratungsstelle und trage dazu bei, dass sowohl die erste als auch die zweite Vigil 2018 vollkommen friedlich verlaufen seien. Insbesondere hätten sie und die Vigil-Teilnehmer bisher keine Passanten, Besucher der Beratungsstelle oder Mitarbeiter der Beratungsstelle angesprochen oder sich diesen Personengruppen gegenüber aufdringlich, bedrohlich oder beleidigend verhalten. Es sei auch kein Informationsmaterial an Passanten, Besucher oder Mitarbeiter verteilt worden. Eine aktive Ansprache von diesen Personengruppen oder die Übergabe von Informationsmaterial zum Thema Abtreibung sei nicht geplant. Die Gefahrenprognose der Beklagten beruhe auf bloßen Verdachtsmomenten und Vermutungen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Die räumliche Beschränkung habe nicht auf eine Bannmeilenvorschrift gestützt werden können. Diese finde ihre Begründung auch nicht im Versammlungsgesetz (im Folgenden: VersG), da es an einer erforderlichen konkreten Gefahr für eine räumliche Verlegung der Versammlung außer Ruf- und Sichtweite zur ... ... Beratungsstelle in ... gefehlt habe. Die Güterabwägung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtfertigten gleichfalls die räumliche Beschränkung nicht. Denn selbst wenn in einem bösen Blick, durch den sich eine schwangere Frau in ihrer Intimsphäre belästigt fühlen könnte, ein Eingriff erkannt werden sollte, so überwiege das Recht auf Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit das Recht der schwangeren Frauen auf unbeobachteten Zugang zu einer Beratungsstelle. Denn die Versammlung betender Menschen richte sich nicht per se gezielt an die die nahegelegene Beratungsstelle aufsuchenden Frauen in der Absicht, diese anzuprangern und zu stigmatisieren. Sie bringe lediglich zum Ausdruck, dass der Schutz des menschlichen Lebens den versammelten Menschen ein Gebetsanliegen sei. Dies auf ihrem kurzen Weg zur und von der Beratungsstelle (und nicht mehrere Wochen lang) zu erfahren, nötige eine schwangere Frau nicht zu einem Spießrutenlauf. Zur Versammlungsfreiheit gehöre insbesondere, dass der Veranstalter berechtigt sei, selbst darüber zu bestimmen, was er zum Gegenstand öffentlicher Meinungsbildung erheben und welcher Formen der kommunikativen Einwirkung er sich bedienen wolle. Durch die stille Gebetsmahnwache vor der ...-Beratungsstelle in der ... Straße in ... bringe sie mit ihrer Versammlung ihre Meinung und ihren Standpunkt in der Abtreibungsfrage zum Ausdruck. Das reine Stehen, Singen, Beten und Hochhalten von Plakaten von Lebensrechtlern stelle keinen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen dar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Auch das Verwaltungsgericht Freiburg und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hätten in ihren Entscheidungen, in denen es um Lebensrechtler gegangen sei, festgestellt, dass allgemein zulässige Verhaltensweisen, die dem verfassungsrechtlichen Schutz der Meinungsäußerung unterlägen, beispielsweise Mahnwachen, Gebetsvigilien, Hochhalten von Transparenten und Spruchbändern, rechtlich nicht zu beanstanden seien. Nur die ausdrückliche individualisierte, gezielte bzw. beratende Ansprache von bewusst ausgesuchten Personen, wie die sogenannte Gehsteigberatung, könne zu einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der betroffenen Frauen führen. Im vorliegenden Fall habe eine Gefahr nicht vorgelegen. Aus den Versammlungen seien weder schwangere Frauen noch Mitarbeiter von ... oder Passanten auf das Thema Schwangerschaft oder Abtreibung angesprochen worden. Insbesondere würden weder Frauen noch Mitarbeiter oder Passanten belästigt, bedroht oder eingeschüchtert. Es werde kein Informationsmaterial an schwangere Frauen oder Passanten übergeben, auch würden keine „blutigen Schockfotos“ von abgetriebenen Embryonen gezeigt. Eine individualisierende Ansprache von schwangeren Frauen aus der Versammlung finde nicht statt. In der Versammlung werde nur gebetet. Zudem werde weder der Eingang noch der Zugang blockiert. Die Versammlung sei örtlich und akustisch von der Beratungsstelle durch eine stark befahrene vierspurige Straße getrennt, sodass jede schwangere Frau unproblematisch die Beratungsstelle habe aufsuchen können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Der streitgegenständliche Bescheid sei auf politischen Druck und entgegen der eindeutigen Rechtslage und den internen Warnungen durch das Rechtsamt auf Wunsch des Vorsitzenden von ... erlassen worden. Die Aussagen des Vorsitzenden ..., Frauen hätten sich gestört gefühlt, sei völlig pauschal. Es seien weder Tag noch Zeit benannt. Ferner fehle eine Schilderung der konkreten Umstände. Auch unter Wahrung der Anonymität hätte er einen konkreten und substantiierten Vortrag erbringen können. Die von der Beklagten vorgenommene Abwägung der Grundrechte sei fehlerhaft. Bei der Güterabwägung habe diese vollkommen die Rechte des ungeborenen Kindes außer Acht gelassen und somit gegen die einschlägigen und verbindlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts verstoßen. Öffentliche Bereiche, in denen die Begegnung mit anderen Ansichten und Vorstellungen staatlicherseits von vornherein in der Art einer „Bannmeile“ tabuisiert würden, widersprächen dem grundlegenden freiheitlichen Konzept einer integrativen Bewältigung von Konfliktlagen, auch wenn diese im vorliegenden Fall für die Frau in ihrer spezifischen Situation eine zusätzliche Belastung darstellen sollte. Die Anonymität der Frau sei nicht in Gefahr gewesen, denn eine ratsuchende schwangere Frau hätte die Beratungsstelle jederzeit betreten und wieder verlassen können, ohne ihre Identität preisgeben zu müssen. Die Beklagte habe nicht nachweisen können, wodurch aus der Versammlung heraus der geschützte „Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung“ einer schwangeren Frau konkret in Gefahr gewesen sein sollte. Das stille und friedliche Gebet auf der gegenüberliegenden Seite der Beratungsstelle, aber auch ein möglicher Blick der Beter auf die Beratungsstelle und die Besucher könne jedenfalls den von der Beklagten ins Feld geführten „Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung“ schwangerer Frauen nicht verletzen. Denn es finde schon kein aktiver Kontakt statt. Das Gesetz mute der Frau selbst in der Phase unmittelbar vor dem Schwangerschaftsabbruch zu, von dem abbrechenden Arzt nach den Gründen für ihre Entscheidung befragt und über die Bedeutung des Eingriffs beraten zu werden. Von dieser intimen Rechenschaft sei eine stille und friedliche Versammlung auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aus welcher heraus lediglich gebetet werde, weit entfernt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die in der Verfügung angeordnete Auflage sei auch unverhältnismäßig. Die Verlegung der Versammlung außer Ruf- und Sichtweite, komme einem Verbot gleich. Denn in der von ihr gewählten Umgebung könne die Versammlung nicht mehr stattfinden. Sie habe gerade die Nähe zur Beratungsstelle gesucht, weil sie dort etwas zu bewirken glaubte. Die von der Beklagten bezweckten Ziele hätten auch durch eine Verlegung auf die andere Straßenseite oder 20 bis 40 m weiter erreicht werden können. Weshalb ausgerechnet eine Verlegung außer Sichtweite und ein Abstand von 100 m gewählt worden sei, werde von der Beklagten nicht begründet. Die Beklagte übersehe, dass auch andere mildere und ebenso geeignete Mittel, wie beispielsweise das Verbot der Versammlung direkt am Eingang der Beratungsstelle, das Verbot des Bedrängens, des aufdringlichen Ansprechens der betroffenen Frauen, das Versperren des Eingangs zur Beratungsstelle, das Verteilen von Flyern oder das Hochhalten von Plakaten, in Betracht gekommen wären. Diese Erwägungen seien im Rahmen der Ermessensausübung seitens der Beklagten überhaupt nicht angestellt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die angegriffene Verfügung begründe auch einen unverhältnismäßigen Eingriff und eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Die Gebetsversammlung stelle sich als glaubensgeleitetes, vom Schutz der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfasstes Handeln dar. Mit ihrer Haltung zum Thema Abtreibung befänden sich sie und die anderen Vigil-Teilnehmer als praktizierende Katholiken in Übereinstimmung mit der Lehre der katholischen Kirche, die die Abtreibung als „grauenhaftes Verbrechen“ bezeichne.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Schließlich habe die Beklagte das Neutralitätsgebot verletzt. Zwar folge das staatliche Informationshandeln aus dem dem Amt oder Organ zugewiesenen Aufgaben und Zuständigkeitsbereich. Hoheitsträger dürften sich jedoch nicht beliebig äußern. Kollidierendes Verfassungsrecht setze ihrem Handeln Grenzen. Insbesondere könne der Aufruf zur Teilnahme an einer Gegendemonstration in unzulässiger Weise in die Meinungsbildung der Bevölkerung eingreifen. Die Beklagte habe in Kenntnis dessen, dass die Interessen von ... ihren Interessen diametral entgegenstünden, mit ... zu ihren Lasten eine intensive Geheimdiplomatie betrieben, in deren Verlauf erhebliche interne Information preisgegeben worden seien, welche allesamt unter das Dienst- bzw. Amtsgeheimnis fallen dürften. Die Beklagte habe sich hier von Sonderinteressen anderer Prozessbeteiligter bzw. potentieller Prozessbeteiligter leiten lassen. Neben der Verletzung des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots stehe hier auch der Verdacht einer Befangenheit im Raum. Auch seien der Verrat von Amts- bzw. Dienstgeheimnissen und weitere Dienstpflichtverletzungen nicht auszuschließen. Ferner habe die Gleichstellungsbeauftragte des ..., die durch die Beklagte informiert worden sei, zur Unterstützung der Gegenkundgebung von ... in ihrem riesigen Partner-Netzwerk per E-Mail aufgerufen und somit unzulässigerweise maßgeblich dazu beigetragen, dass ihre Rechtsposition erheblich beeinträchtigt worden und sie auch öffentlich stark unter Druck geraten sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf ihre Verfügung und auf die im Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe aufgeführten Gründe verwiesen. Ergänzend hat sie vorgetragen, ... sei die einzige Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle in .... Schwangere Frauen, die eine Beratungsstelle aufsuchen müssten, um einen straffreien Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können, seien daher gezwungen, allein diese Beratungsstelle aufzusuchen. Angesichts der von den schwangeren Frauen zu beachtenden Fristen sei ihnen gegebenenfalls ein weiteres Zuwarten bis zum Ende der Versammlung nicht möglich. Auch mit Blick darauf würden die schwangeren Frauen durch die Abtreibungsgegner psychisch unter Druck gesetzt und eingeschüchtert. Allein das Betreten des Gebäudes der Schwangerschaftskonfliktberatung habe eine stigmatisierende Wirkung. Die örtlichen Gegebenheiten sorgten nicht für eine ausreichende Unterbrechungswirkung. Die Versammlungsteilnehmer seien von den betroffenen Frauen weithin wahrnehmbar und würden von diesen genau beobachtet. Auch sei den betroffenen Frauen eine eigene Rechtsverfolgung nicht zumutbar, weil es ihnen einen Verzicht auf die durch § 6 Abs. 2 SchKG gesetzlich gewährleistete Anonymität abverlangen würde. Aus den gleichen Gründen sei es den Frauen ebenso wenig zumutbar, in diesem Verfahren als Zeugen benannt zu werden. Die Vertraulichkeit der Beratung werde durch das Zeugnisverweigerungsrecht und durch die arbeitsvertraglich vereinbarte Schweigepflicht der Berater abgesichert. Dies hindere indessen sie nicht daran, auf die Beschwerden betroffener schwangerer Frauen hinzuweisen, die im Zusammenhang mit früheren Versammlungen geäußert worden seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat mit Urteil vom 12.05.2021 die Klage abgewiesen. Die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig, jedoch nicht begründet. Die unter II. A. Ziffer 1 der Verfügung der Beklagten vom 28.02.2019 angeordnete zeitliche und örtliche Beschränkung der von der Klägerin angemeldeten öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel sei rechtmäßig gewesen und verletze diese nicht in ihren Rechten. Gleiches gelte für die Zwangsmittelandrohung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Verfügung sei nicht unter Verstoß gegen das Neutralitätsgebot ergangen. Es seien zwar im Zusammenhang mit der Versammlungsanzeige der Klägerin zahlreiche Anfragen, Anregungen, Wünsche und Vorschläge Dritter nicht unmittelbar am Verfahren Beteiligter an die Beklagte herangetragen worden. Ferner würden sich Stellungnahmen und Kommentare aus Gesellschaft, Politik und Kirche in den Akten der Beklagten befinden. Dies zeige jedoch deutlich, dass die Beklagte das Verfahren transparent gestaltet habe. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte Gespräche mit ... geführt und insoweit ein Informationsaustausch stattgefunden habe. Da als Versammlungsort die Beratungsstelle von ... gewählt worden sei, sei im Rahmen von Kooperationsgesprächen eine Kontaktaufnahme sogar erforderlich gewesen. Es gebe auch keine stichhaltigen Nachweise dafür, dass Mitarbeiter von ... oder anderer gesellschaftlicher oder politischer Organisationen in bestimmender Weise und durch entscheidungsbezogene Aktivitäten betreffend den Inhalt der streitgegenständlichen Verfügung kausal Einfluss genommen hätten. Die verwaltungsintern vorgebrachten Bedenken gegenüber der streitgegenständlichen Verfügung könnten die Annahme eines Verstoßes gegen die Neutralitätspflicht der Beklagten ebenfalls nicht rechtfertigen. Einzig der Umstand, dass eine Behörde einzelnen rechtlichen Erwägungen ihrer Mitarbeiter bei der verfahrensbeendenden Entscheidung nicht folge, rechtfertige nicht den Schluss, diese sei allein auf den bestimmenden Einfluss dritter Außenstehender zurückzuführen, weil der behördliche Entscheidungsträger seine hoheitlichen Befugnisse unter Missachtung der Unparteilichkeit gewissermaßen „aus der Hand gegeben“ habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Verfügung der Beklagten vom 28.02.2019 begegne auch in materiell-rechtlicher Hinsicht keinen rechtlichen Bedenken. Die unter II. A. Ziffer 1 der Verfügung der Beklagten vom 28.02.2019 angeordnete zeitliche und örtliche Beschränkung der angezeigten Versammlung sei rechtsfehlerfrei ergangen. Die von der Klägerin angemeldete Veranstaltung sei als Versammlung einzuordnen, weshalb die Beklagte die Versammlungsauflage zutreffend auf § 15 Abs. 1 VersG gestützt habe. Die Beklagte habe auch zutreffend eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bejaht, weil die Versammlung in ihrer beabsichtigten konkreten Gestaltung zu einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere derjenigen Frauen geführt hätte, die sich in einer Schwangerschaftskonfliktsituation befunden hätten und deshalb die Schwangerschaftsberatungsstelle von ... ... aufsuchen wollen. Die schwangere Frau habe ein aus ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht fließendes Recht darauf, eine anerkannte Schwangerschaftsberatungsstelle ohne Spießrutenlauf durch eine über mehrere Wochen dauernde, blockadeartige Versammlung von Abtreibungsgegnern, die in unmittelbare Nähe zum Eingang der Beratungsstelle habe stattfinden sollen, zu erreichen. Mit der über mehrere Wochen geplanten, blockadeartigen Versammlung von Abtreibungsgegnern in unmittelbare Nähe zum Eingang der Beratungsstelle würde zudem auch das Beratungskonzept des Schwangerschaftskonfliktgesetzes nachhaltig beeinträchtigt. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der die Schwangerschaftsberatungsstelle aufsuchenden Frauen sei auch nicht durch die Grundrechte der Klägerin gerechtfertigt. Denn das Versammlungsrecht habe im hier vorliegenden konkreten Fall gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frau als Schutzgut des Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG zurückzutreten. Auch geböten die durch Art. 5 Abs. 1 GG - und auch Art. 10 EMRK - geschützte Meinungsfreiheit und die durch Art. 4 Abs. 1 GG - und Art. 9 EMRK - geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin aus denselben Gründen nicht, den in der Verfügung untersagten Verhaltensweisen Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen einzuräumen. Schließlich habe die Beklagte auch ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Die Androhung des unmittelbaren Zwangs nach den § 19 Abs. 1 Nr. 3, § 20 Abs. 1 bis 3 und § 26 LVwVG sei gleichfalls rechtlich nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen der aufgeführten Vorschriften seien zweifellos erfüllt. Durchgreifende Bedenken habe die Klägerin nicht vorgetragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Mit der vom Senat wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren aus der ersten Instanz weiter.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Klägerin trägt über ihren bisherigen Vortrag hinausgehend im Wesentlichen vor, dass die Beklagte von ihrer bei den ersten beiden Versammlungen gefassten Gefahrenprognose abgewichen sei, obwohl sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert habe. Es habe sich bei der Versammlung nicht um eine Gehsteigberatung gehandelt. Die Rechtsprechung lasse einer friedlichen Versammlung so lange Raum, wie es nicht zu einer nötigenden individualisierten Ansprache komme. Die Beratungsstelle ... in ... sei aufgrund der symbolträchtigen Wirkung als Versammlungsort ausgewählt worden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Frauen, die sich auf dem Weg zur Schwangerschaftsberatungsstelle begeben, um die nach § 219 StGB notwendige Beratung zu erhalten, vermöge nicht zu rechtfertigen, dass sie mit einer bestimmten Meinung nicht konfrontiert würden. Das Schwangerschaftskonfliktgesetz biete unmittelbar schon deshalb keinen tauglichen Anknüpfungspunkt dafür, die Versammlungsfreiheit Dritter einzuschränken, da es weder selbst noch das Artikelgesetz, durch das es als Gesetz verkündet worden sei, oder seine Novellierung, Art. 8 GG als eingeschränktes Grundrecht zitierten. Der Regelungsbereich des Schwangerschaftskonfliktgesetzes betreffe die Privatsphäre, nicht die Öffentlichkeitssphäre. In diese Privatsphäre wolle die von der Klägerin angemeldete Versammlung nur indirekt einwirken, indem sie auf die Willensbildung derjenigen Personen, die sich zur Schwangerschaftsberatungsstelle begeben, ziele. Das sei hinzunehmen. Die schwangeren Frauen seien nur in der Sozialsphäre des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen, wenn die Versammlung auf der gegenüberliegenden Straßenseite in stiller Form durchgeführt werde. ... biete nicht nur Schwangerschaftsberatungen, sondern auch andere Dienstleistungen an. Zudem sei eine Schwangerschaft in einer frühen Phase von außen nicht erkennbar. Daher könnten die Versammlungsteilnehmer nicht erfahren, aus welchem Grund eine Frau die Beratungsstelle aufsuche. Von einer in Sichtweite stattfindenden friedlichen Versammlung gehe auch kein Zwang im Sinne des § 240 StGB aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12.05.2021 - 2 K 5046/19 - zu ändern und festzustellen, dass die versammlungsrechtliche Auflage unter II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 rechtswidrig war, sowie</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>festzustellen, dass die unter II. A. Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 angeordnete Androhung unmittelbaren Zwanges rechtswidrig war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="28"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Sie trägt über ihren bisherigen Vortrag hinausgehend im Wesentlichen vor, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorgelegen habe, weil die die Beratungsstelle aufsuchende Frauen in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt würden, wenn sich Abtreibungsgegner in unmittelbarer Nähe zur Beratungsstelle aufhielten, um auf die Frauen einzuwirken. Dies gelte für jede Form der Beeinflussung. Die Schwangerschaft sei dem Kernbereich privater Lebensführung der Frau und somit derer Intimsphäre zuzuordnen. Daher sei das Schutzniveau durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht besonders hoch. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts liege auch bei einem stillen Protest auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor, weil die Entscheidung über die Fortführung der Schwangerschaft dann nicht unbeeinflusst sei. Durch die Versammlung würde psychischer Druck auf die Frauen ausgeübt. Noch aktiver sei die Beeinträchtigung, wenn durch Gesänge oder durch ein Kreuz mit blutendem Baby auf die Frauen durch die Versammlung aktiv eingewirkt werde. Die Beratung suchenden Frauen könnten der Versammlung auch nicht ausweichen, weil es nur zwei Beratungsstellen in ... gebe und die Beratung gesetzlich verpflichtend sei. Zudem müssten die Frauen die Wahlfreiheit bezüglich der für sie passenden Beratungsstelle behalten können. Durch die Versammlung würde den Frauen auch das Recht auf eine anonyme Beratung verwehrt. Denn sie müssten damit rechnen bei einer Entfernung von 17 bis 18 Metern erkannt zu werden. Die Frauenrechtskonvention sehe ebenfalls einem ungehinderten Zugang zu den Beratungsstellen und eine Chance auf eine unbeeinflusste, selbstverantwortliche Entscheidung über eine Abtreibung vor. Das Beratungskonzept des Schwangerschaftskonfliktgesetzes hätte aufgrund der Versammlung nicht umgesetzt werden können. Im schlimmsten Fall wären Frauen durch die Versammlung von der Teilnahme an der Beratung abgeschreckt worden. Die Auflage sei auch verhältnismäßig. Abtreibungsgegner könnten ihre Meinung auch zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort äußern. Das Anliegen, die Missbilligung von Schwangerschaftsabbrüchen zum Ausdruck zu bringen, sei nicht an einen speziellen Ort oder eine spezielle Zeit gebunden. Zudem sei es von Art. 5 Abs. 1 GG nicht umfasst, schwangeren Frauen die eigene Meinung aufzudrängen. Der Religionsfreiheit der Klägerin stehe im Übrigen die negative Religionsfreiheit der schwangeren Frauen gegenüber.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Dem Senat liegen die Akten des Verwaltungsgerichts, der Beklagten und des Regierungspräsidiums Karlsruhe vor.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern. Es ist festzustellen, dass II. A. Ziffer 1 und 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 rechtswidrig waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klage ist zulässig und begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>I. Die Klage ist zulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>1. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft (st. Rspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.2010 - 6 C 16.09 - juris Rn. 26; Senat, Urt. v. 27.01.2015 - 1 S 257/13 -, juris Rn. 23), nachdem sich die angefochtene Auflage sowie die Androhung unmittelbaren Zwangs mangels eines Bescheids über etwaige Vollstreckungskosten (vgl. hierzu: Senat, Urt. v. 03.05.2021 - 1 S 512/19 -, juris Rn. 56) vor Klageerhebung durch Zeitablauf erledigt haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>2. Die Klägerin hat als Anmelderin und Leiterin der Versammlung ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage unter II. A. Ziffer 1 und 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) hat. Hier kann die Klägerin ein berechtigtes Feststellungsinteresse auf die grundgesetzliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) stützen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1GG) verlangt, ein berechtigtes Feststellungsinteresse über die einfach-rechtlichen Konkretisierungen hinaus anzuerkennen, wenn ein tiefgreifender Eingriff in die Grundrechte sich typischerweise so kurzfristig erledigt, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsachverfahren regelmäßig nicht erlangt werden kann (st. Rspr.; vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 20.12.2017 - 6 B 14.17 -, juris Rn. 13; Beschl. v. 25.06.2019 - 6 B 154.18 u.a. -, juris Rn. 5; Urt. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 15; Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 25; Urt. v. 18.11.2021 - 1 S 803/19 -, juris Rn. 33). Verfassungsrecht gebietet, eine drohende Rechtsschutzlücke zu schließen, wenn es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.1998 - 1 BvR 831/89 -, juris Rn. 25 f.; Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 28, 36; Beschl. v. 04.02.2005 - 2 BvR 308/04 -, juris Rn. 19; BVerwG, Beschl. v. 30.04.1999 - 1 B 36.99 -, juris Rn. 9; Beschl. v. 20.12.2017 - 6 B 14.17 -, juris Rn. 13; s.a. SächsOVG, Beschl. v. 17.11.2015 - 3 A 440/15 -, juris Rn. 8; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 27.03.2014 - 7 A 11202/13 -, juris Rn. 26).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Dabei ist, wie es das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, wenn eine Versammlung zwar nicht verboten wird, aber infolge von versammlungsbehördlichen Auflagen gemäߧ 15 Abs. 1 VersG nur in einer Weise durchgeführt werden kann, die ihren spezifischen Charakter verändert, insbesondere die Verwirklichung ihres kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Diese Voraussetzungen werden hier von der mit Bescheid der Beklagten vom 28.02.2019 angeordneten zeitlichen und örtlichen Beschränkung der Versammlung erfüllt. Zwar kann sich die Klägerin als kroatische Staatsangehörige nicht direkt auf die Versammlungsfreiheit berufen, weil Art. 8 Abs. 1 GGnach seinem eindeutigen Wortlaut nur für Deutsche gilt. Eine unionsrechtskonforme Auslegung - ungeachtet einer ebenfalls in Betracht zu ziehenden Nichtanwendbarkeit der Beschränkung des Grundrechts auf Deutsche - des Art. 8 Abs. 1 GG könnte zu einer Auslegung contra legem führen. Denn es würde die Wortlautgrenze übersteigen, wollte man das Deutschengrundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG auch auf Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten ausweiten. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts verstieße eine unterschiedliche Behandlung von inländischen und ausländischen Personen jedoch gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV. Es reicht daher nicht aus, dass Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten Deutschen einfachgesetzlich gleichgestellt sind.Vielmehr muss diesen jedenfalls im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG derselbe Schutz gewährleistet werden, der Deutschen durch Art. 8 Abs. 1 GG zukommt. Mit dem offenen Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG ist das vereinbar (vgl. BVerfG Beschl. v. 04.11.2015 - 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56712 -, juris Rn. 11). Da sich die Klägerin als Unionsbürgerin auf Art. 2 Abs. 1 GG mit der Schutzgewähr des Art. 8 Abs. 1 GG berufen kann, die genannte Auflage schwerwiegend in die derart geschützte Versammlungsfreiheit der Klägerin eingreift und dieser Eingriff typischerweise nur von so kurzer Dauer ist, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren nicht rechtzeitig erreicht werden kann, sind die zuvor genannten Voraussetzungen erfüllt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 37; OVG NRW, Beschl. v. 19.03.2018 - 15 A 943/17 -, juris Rn. 11). Denn es kam den Veranstaltern der Versammlung gerade auf den Ort der Versammlung in der Nähe der Beratungsstelle ... an. Eine Verlegung der Versammlung außerhalb der Sichtweite der Beratungsstelle hätte daher den spezifischen Charakter der Versammlung verändert. Da durch die Androhung unmittelbaren Zwangs die Durchsetzung der versammlungsrechtlichen Auflage erreicht werden sollte, ist aus denselben Gesichtspunkten auch diesbezüglich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzuerkennen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Das Verwaltungsgericht ist des Weiteren zu Recht davon ausgegangen, dass auch eine Wiederholungsgefahr gegeben ist. Denn das Erfordernis der Wiederholungsgefahr setzt zum einen die Möglichkeit einer erneuten Durchführung einer vergleichbaren Versammlung durch den Kläger voraus sowie zum anderen, dass die Behörde voraussichtlich auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil es als durchaus möglich erscheint, dass die Klägerin eine vergleichbare Versammlung erneut durchführen wird. Die Beklagte hat in diesem Verfahren zu erkennen gegeben, dass sie auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>II. Die Klage ist begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die versammlungsrechtliche Auflage unter II. A. Ziffer 1 (1.) und die Androhung unmittelbaren Zwanges unter II. A. Ziffer 2 (2.) des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 waren rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>1. Rechtsgrundlage der angefochtenen Auflage unter II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 ist § 15 Abs. 1 VersG. Danach kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Diese Voraussetzungen lagen hier im maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung nicht vor. Zwar ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Veranstaltung der Klägerin um eine Versammlung handelte (a). Allerdings hat die Beklagte zu Unrecht eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bei Durchführung der Versammlung angenommen (b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>a) Bei der Veranstaltung der Klägerin handelte es sich um eine Versammlung. Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. Dass die Versammlungsfreiheit für Unionsbürger schützende Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie § 15 Abs. 1 VersG schützen die Freiheit der Versammlung als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Für die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit sowie des Anwendungsbereichs von § 15 Abs. 1 VersG reicht es wegen des Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Versammlungen sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zu gemeinschaftlicher, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, BVerfGE 104, 92 <104>; BVerfG [Kammer], Beschl. v. 12.07.2001 - 1 BvQ 28 und 30/01 -, NJW 2001, 2459 <2460>; Senatsurteil vom 12.06.2010 - 1 S 349/10 -, juris). Diese Voraussetzungen werden von der Klägerin erfüllt, weil sie beabsichtigte, mit mehreren Personen eine stille Gebetsmahnwache durchzuführen und sich hiermit nach ihrem Verständnis aus christlicher Sicht gegen Abtreibungen zu wenden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>b) Die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG waren jedoch nicht erfüllt. Es fehlte an einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>aa) Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz gewichtiger Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.2008 - 6 C 21.07 -, juris Rn. 13; BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233/81 -, juris Rn. 77; Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 5). Eine unmittelbare Gefährdung ist bei einer Sachlage gegeben, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit führt (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.2008 - 6 C 21.07 -, juris Rn. 14; Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 6). Mit Blick auf die grundlegende Bedeutung der verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit sind keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen (vgl.BVerwG, Beschl. v. 24.08.2020 - 6 B 18.20 -, juris Rn. 6; BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17; Senat, Urt. v. 06.11.2013 - 1 S 1640/12 -, juris Rn. 49; Beschl. v. 16.05.2020 - 1 S 1541/20 -, juris Rn. 3). Dies setzt konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte voraus; bloße Vermutungen genügen nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.08.2020 - 6 B 18.20 -, juris Rn. 6; BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17; Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 6;).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (vgl. Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 7; BVerfG, Beschl. v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, juris, Rn. 17; Beschl. v. 21.11.2020 - 1 BvQ 135/20 -, juris Rn. 11; OVG NRW, Beschl. v. 24.05.2020 - 15 B 755/20 -, juris Rn. 9; BayVGH, Beschl. v. 14.05.2021 - 10 CS 21.1385 -, juris Rn. 18). Haben sich bei Veranstaltungen an anderen Orten mit anderen Beteiligten Gefahren verwirklicht, so müssen besondere, von der Behörde bezeichnete Umstände die Annahme rechtfertigen, dass ihre Verwirklichung ebenfalls bei der nunmehr geplanten Versammlung zu befürchten sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 - 1 BvR 2147/09 -, juris, Rn. 13).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.2020 - 6 B 1.20 -, juris Rn. 11; BVerfG, v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -juris Rn. 17; v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17; Beschl. v. 11.09.2015 - 1 BvR 2211/15 -, juris Rn. 3; Senat, Beschl. v. 16.04.2021 - 1 S 1304/21 -, juris Rn. 10).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>bb) Anders als das Verwaltungsgericht vermag der Senat im konkret vorliegenden Fall eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehend von der Versammlung der Klägerin nicht zu erkennen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>aaa) Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der schwangeren Frauen durch die Versammlung der Klägerin drohte nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Das in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht dient dem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre und der Erhaltung ihrer Grundbedingungen, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 -1 BvR 1531/96 -; Beschl. v. 25.10.2005 - 1 BvR 1696/98 -; Urt. v. 27.02.2008 - 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 -, alle juris). Im Sinne eines Schutzes vor Indiskretion hat hiernach jedermann grundsätzlich das Recht ungestört zu bleiben. Dem Einzelnen wird ein Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung garantiert, in dem er „sich selbst besitzt“ und in den er sich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen kann (BVerfG, Beschl. v. 16.07.1969 - 1 BvL 19/63 -, juris Rn. 21). Diese Privatsphäre umfasst zum einen Rückzugsräume im Wortsinne, aber auch Themen der engeren Lebensführung, deren öffentliche Erörterung als peinlich oder zumindest unschicklich empfunden wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Die Grundrechte sind zwar primär Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie konstituieren jedoch gleichzeitig eine Werteordnung, die auch die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten mittelbar prägt, indem sie bei der Auslegung des einfachen Rechts - hier § 15 Abs. 1 VersG - zu beachten ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.07.2015 - 1 BvQ 25/15 -, juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Dabei kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht der eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchenden Frauen durch eine Versammlung von Abtreibungsgegnern betroffen sein. Nicht erst eine sogenannte „Gehsteigbelästigung“ durch aktives Zugehen und Ansprechen von Frauen kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht berühren (vgl. hierzu: Senat, Urt. v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 -, juris). Ein derartiges körperliches Element ist nicht erforderlich. Auch psychischer Druck, der durch optische und akustische Wahrnehmung vermittelt wird, kann einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen. Hierbei ist bei der Wirkung der Versammlung auf ratsuchende Frauen zu berücksichtigen, dass sie sich durch die ungewollte Schwangerschaft in einer besonderen psychischen Belastungssituation befinden. Insbesondere in der Frühphase der Schwangerschaft befinden sich die meisten Frauen in einer besonderen seelischen Lage, in der es in Einzelfällen zu schweren Konfliktsituationen kommt. Diesen Schwangerschaftskonflikt erlebt die Frau als höchstpersönlichen Konflikt. Die Umstände erheblichen Gewichts, die einer Frau das Austragen eines Kindes bis zur Unzumutbarkeit erschweren können, bestimmen sich nicht nur nach objektiven Komponenten, sondern auch nach ihren physischen und psychischen Befindlichkeiten und Eigenschaften (BVerfG, Urt. v. 28.05.1993 - 2 BvF 2/90 u.a. -, juris). Hinzu kommt in der Frühschwangerschaft das durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützte Geheimhaltungsinteresse hinsichtlich der bestehenden Frühschwangerschaft und des in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbruchs.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Allerdings führt nicht jeder Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen zugleich zu einer Verletzung desselben. Vielmehr können gegenläufige Grundrechtspositionen - hier die Versammlungs-, Meinungs-, und Religionsfreiheit der Versammlungsteilnehmer - im Rahmen der Bildung praktischer Konkordanz zu einer Rechtfertigung von Eingriffen führen. Dabei ist die besondere Bedeutung der für Unionsbürger in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit zu beachten, die als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend ist und insbesondere das Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst (vgl. zu Art. 8 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris, und näher dazu Senat, Beschl. v. 16.05.2020 - 1 S 1541/20 -, juris m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Bei der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen, die die Beratungsstelle ... aufsuchen, und der durch die Meinungs- und Religionsfreiheit unterstützten Versammlungsfreiheit kann nicht abstrakt festgestellt werden, dass jede Form der Versammlung zulässig oder unzulässig wäre. Es kommt darauf an, in welcher Art und Weise die Versammlung im Einzelfall stattfinden soll. Dabei ist davon auszugehen, dass eine Versammlung so lange zulässig ist, als sie den die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen nicht die eigene Meinung aufdrängt und zu einem physischen oder psychischen Spießrutenlauf für sie führt (vgl. BVerfG Beschl. v. 08.06.2010 - 1 BvR 1745/06 -, juris Rn. 23). Dies wäre der Fall, wenn die die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen durch die Versammlung in eine unausweichliche Situation geraten, in der sie sich direkt und unmittelbar angesprochen sehen müssen. Eine derartige unausweichliche Situation ist gegeben, wenn die Versammlung so nahe an dem Eingang der Beratungsstelle stattfindet, dass die Versammlungsteilnehmer den Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten und die Frauen dem Anblick der als vorwurfsvoll empfundenen Plakate sowie Parolen und dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt sind (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 18.03.2022 - 2 B 375/22 -, juris Rn. 29; siehe auch VG Regensburg, Beschl. v. 14.10.2020 - RN 4 E 20.2426 - und VG Frankfurt, Urt. v. 02.12.2021 - 5 K 403/21.F -, beide juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach den genannten Maßstäben drohte im vorliegenden Fall keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der die Beratungsstelle ... aufsuchenden schwangeren Frauen durch die Versammlung der Klägerin. Zwar hätte ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen, die die Beratungsstelle hätten aufsuchen wollen, vorgelegen, weil sie von den Versammlungsteilnehmern beim Betreten der Beratungsstelle hätten gesehen werden können und hierdurch sowie durch die Versammlung an sichpsychischer Druck auf die Frauen ausgeübt worden wäre. Dieser Eingriff wäre jedoch durch die gegenläufigen Grundrechtspositionen der Versammlungsteilnehmer im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz gerechtfertigt gewesen. Denn eine unausweichliche Situation in dem zuvor beschriebenen Sinne wäre für die betroffenen schwangeren Frauen im vorliegenden Fall nicht entstanden. Nach der Versammlungsanmeldung sollte die Versammlung im Zeitraum vom 06.03. bis zum 14.04.2019 täglich von 09:00 bis 13:00 Uhr gegenüber der Beratungsstelle stattfinden. Dabei wäre die Beratungsstelle von der Versammlung durch eine 17 Meter breite, vierspurige und viel befahrene Straße getrennt. Die nach den Angaben der Klägerin in der Anmeldung bis zu 20 Teilnehmer der Versammlung sollten sich zu stillen Gebeten zusammenfinden, wobei zum Teil kleine Plakate mitgeführt werden würden. Anders als bei der sogenannten Gehsteigberatung (vgl. hierzu: Senat, Urt. v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 -, juris) sollte es nicht zu einer aktiven Ansprache sowie zur Weitergabe von Informationsmaterial kommen. Hierdurch wären die die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen nicht in die beschriebene unausweichliche Situation geraten, weil sich zwischen der Versammlung und der Beratungsstelle die beschriebene Straße befunden hätte. Damit hätten Frauen, die die Beratungsstelle aufsuchen wollten, der Versammlung und ihren Wirkungen durch ein Abwenden des Blickes entkommen können. Eine blockadeartige Versammlung in unmittelbarer Nähe zum Eingang der Beratungsstelle hätte diese Versammlung nicht dargestellt. Denn allein aus der bloßen Dauer einer Versammlung und der Anzahl der Versammlungsteilnehmer lässt sich eine Blockadewirkung in der Regel nicht ableiten. Des Weiteren kann für die Begründung einer blockadeartigen Versammlung auch nicht auf die Erfahrungen mit der Versammlung vom 14.02.2018 bis zum 25.03.2018 abgestellt werden, weil sich diese Versammlung direkt vor der Beratungsstelle und nicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Unabhängig hiervon konnte die Beklagte auch nicht substantiiert darlegen, dass es bei den vorangegangenen Versammlungen zu Beschwerden von betroffenen Schwangeren über Störungen, Einschüchterungen oder Belästigungen durch die Versammlungsteilnehmer gekommen ist. Die Gefahrenprognose setzt konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte voraus. Bloße Vermutungen genügen, wie gezeigt, nicht. Der Beklagten lagen im vorliegenden Verfahren keine Anzeigen oder Angaben von Frauen, die sich durch die vorherigen Versammlungen beschwert gefühlt hatten, selbst vor, sondern lediglich Berichte Dritter - namentlich von ... - über solche Beschwerden. Diese Berichte von Dritten beschränkten sich zudem auf wenige Angaben. Hier oblag es der Beklagten als Versammlungsbehörde, durch Nachfrage bei den Dritten - was auch unter Wahrung der Anonymität der Betroffenen möglich gewesen wäre - zumindest Zeit, Ort und genauen Inhalt der behaupteten Beschwerden zu ermitteln, um die für eine Gefahrenprognose in Betracht kommenden Tatsachen zu konkretisieren und im Bedarfsfall verifizieren zu können. Ohne dahingehende Ermittlungen zum Sachverhalt ist eine Versammlungsbehörde - wie hier die Beklagte - in einem Gerichtsverfahren auch nicht in der Lage, ihrer Darlegungsobliegenheit zum Sachverhaltsvortrag zu genügen und das Gericht in die Lage zu versetzen, die behaupteten Tatsachen, die Grundlage für die Gefahrenprognose sein sollen, seinerseits zu überprüfen. Diesen Amtsermittlungspflichten und Darlegungsobliegenheiten ist die Beklagte im vorliegenden Verfahren mit ihrem insoweit vagen Vortrag, der die angestellte Gefahrenprognose schon deshalb nicht tragen kann, nicht gerecht geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Durch die Versammlung drohte auch keine Beeinträchtigung des Beratungskonzepts des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Denn die Beklagte konnte nicht nachvollziehbar darlegen, weswegen es durch die Versammlungen zu einer Beeinträchtigung des Beratungskonzepts kommen sollte. Sofern vorgetragen wird, dass schwangere Frauen durch die Versammlung von der Beratung abgeschreckt werden könnten, bleibt es wiederum bei der bloßen Behauptung. Konkrete Vorfälle konnten hierzu nicht angegeben werden. Unabhängig hiervon würden durch die Versammlung weder der Inhalt der Beratung gemäß § 5 SchKG noch das Verfahren der Beratung nach § 6 SchKG beeinträchtigt. Insbesondere konnte durch die Versammlung auch die Anonymität der die Beratungsstelle aufsuchenden Frau gemäß § 6 Abs. 2 SchKG nicht gefährdet werden. Denn zum einen besteht das Recht auf Anonymität gemäß § 6 Abs. 2 SchKG nicht gegenüber jedem beliebigen Dritten, sondern nur gegenüber der die Schwangere beratenden Person. Überdies hätten die an der Versammlung teilnehmenden Personen die die Beratungsstelle aufsuchende Person zwar sehen können. Jedoch geht dieser flüchtige Anblick, der zudem über einen Abstand von 17 Metern erfolgt, nicht über das hinaus, was jeder Teilnehmer am Straßenverkehr sehen kann. Die Identität der jeweiligen Frau könnte somit nur dann offengelegt werden, wenn die Frau einem Teilnehmer der Versammlung zufällig bekannt wäre. Da die Versammlungsteilnehmer jedoch nicht beabsichtigt haben, die Identitäten der die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen den beratenden Personen gegenüber offenzulegen, würde § 6 Abs. 2 SchKG selbst in diesem Fall nicht beeinträchtigt werden. Des Weiteren könnten die Versammlungsteilnehmer nicht bei jeder Frau, die die Beratungsstelle ... aufsucht, davon ausgehen, dass die jeweilige Frau schwanger ist, weil der Beratungsstelle neben der Schwangerschaftskonfliktberatung auch noch anderweitige Aufgaben zukommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Ein Verstoß gegen die Frauenrechtskonvention ist - unabhängig von der Frage der Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Konvention durch eine Versammlung und insbesondere der subjektiv-rechtlichen Relevanz der Konventionsbestimmungen zumal in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen - durch die Versammlung ebenfalls nicht zu befürchten gewesen. Denn die von der Beklagten angesprochene Empfehlung des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau in CEDAW/C/DEU/CO/7-8, Ziff. 38 lit. b bezieht sich darauf, die verpflichtende Beratung vor einer Abtreibung vollkommen abzuschaffen, und nicht auf einen ungehinderten Zugang schwangerer Frauen zu den Beratungsstellen. Selbst wenn aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. e) der Konvention, nach dem eine Frau das gleiches Recht auf eine freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder haben soll, das Recht schwangerer Frauen auf einen ungehinderten Zugang zu den Beratungsstellen und die Chance auf eine unbeeinflusste, selbstverantwortliche Entscheidung abgeleitet werden könnte, so wäre dieses Recht durch die Versammlung nicht beeinträchtigt worden. Denn die Worte „freie Entscheidung“ in Art. 16 Abs. 1 Buchst. e) der Konvention beziehen sich in diesem Zusammenhang nicht auf eine vollkommene Freiheit von in der Gesellschaft vorhandenen gegensätzliche Auffassungen, sondern eine Freiheit von etwaigen staatlichen Zwängen. Die geplante Versammlung hätte in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch nicht die Möglichkeit gehabt, den die Beratungsstellen aufsuchenden Frauen ihre gegensätzliche Meinung aufzuzwingen. Vielmehr hätten sich die Frauen der Versammlung und den dort geäußerten Auffassungen durch einen Wechsel der Straßenseite und ein Abwenden des Blickes in beachtlichem Umfang entziehen können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Da II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 schon mangels einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtwidrig gewesen ist, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich auf die Fragen an, ob die Beklagte oder einzelne Mitarbeiter der Beklagten bei der Fertigung der Auflage gegen den Neutralitätsgrundsatz oder §§ 20, 21 LVwVfG verstoßen haben und welche Folgen derartige Verstöße gegebenenfalls nach sich ziehen würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>2. Die unter II. A. Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 angeordnete Androhung unmittelbaren Zwanges war ebenfalls rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Dies folgt daraus, dass die der Androhung zugrundeliegende Grundverfügung, nämlich II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 rechtswidrig war und ex tunc als unwirksam anzusehen ist (vgl. zum Fall einer nicht erledigten Grundverfügung: Senat, Urt. v. 03.05.2021 - 1 S 512/19 -, juris Rn. 56).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>a) Voraussetzung für Fortsetzungsfeststellungsurteile nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist, dass sich der Verwaltungsakt vorher, also vor der gerichtlichen Entscheidung, erledigt hat. In Fällen dieser Art lässt § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anstelle der Aufhebung durch Urteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Feststellung durch Urteil genügen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, um dem Bürger funktionsgleichen Rechtsschutz gegenüber einer Inanspruchnahme aus einem rechtswidrigen Verwaltungsakt zu gewähren, wie er ihn mit einem Aufhebungsurteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO erreichen könnte. Daraus ergibt sich, dass der Verwaltungsakt, soweit das Gericht nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO dessen Rechtswidrigkeit festgestellt hat, keine Wirkung entfaltet und folglich nicht in Bestandskraft erwachsen kann. Kraft der gerichtlichen Entscheidung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist nicht mehr der Regelungsgehalt des Verwaltungsakts rechtlich maßgeblich, sondern die Rechtslage, die ohne Geltung des gerichtlich als rechtswidrig festgestellten Verwaltungsaktes besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.11.1997 - 5 C 1.96 -, juris Rn. 11, und Urt. v. 31.01.2002 - 2 C 7.01 -, juris Rn. 17 ff.)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>b) Ohne die vom Senat vorliegend für rechtswidrig befundeneGrundverfügung, nämlich II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.2.2019, ist dieAndrohung unmittelbaren Zwangs schon deshalb rechtswidrig, weil es an der gemäß § 2 LVwVG notwendigen wirksamen Grundverfügung für das Vollstreckungsverfahren fehlt, zu dem die Androhung unmittelbaren Zwangs gehört.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>IV. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:12pt"><tr><td><rd nr="69"/><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss vom 25. August 2022</span></strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 2 GKG für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,- EUR festgesetzt (vgl. Senat, Beschl. v. 07.07.2022 - 1 S 1113/22 -, juris). Die Androhung unmittelbaren Zwanges bleibt bei der Streitwertbemessung nach Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit außer Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern. Es ist festzustellen, dass II. A. Ziffer 1 und 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 rechtswidrig waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klage ist zulässig und begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>I. Die Klage ist zulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>1. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft (st. Rspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.2010 - 6 C 16.09 - juris Rn. 26; Senat, Urt. v. 27.01.2015 - 1 S 257/13 -, juris Rn. 23), nachdem sich die angefochtene Auflage sowie die Androhung unmittelbaren Zwangs mangels eines Bescheids über etwaige Vollstreckungskosten (vgl. hierzu: Senat, Urt. v. 03.05.2021 - 1 S 512/19 -, juris Rn. 56) vor Klageerhebung durch Zeitablauf erledigt haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>2. Die Klägerin hat als Anmelderin und Leiterin der Versammlung ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage unter II. A. Ziffer 1 und 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) hat. Hier kann die Klägerin ein berechtigtes Feststellungsinteresse auf die grundgesetzliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) stützen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1GG) verlangt, ein berechtigtes Feststellungsinteresse über die einfach-rechtlichen Konkretisierungen hinaus anzuerkennen, wenn ein tiefgreifender Eingriff in die Grundrechte sich typischerweise so kurzfristig erledigt, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsachverfahren regelmäßig nicht erlangt werden kann (st. Rspr.; vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 20.12.2017 - 6 B 14.17 -, juris Rn. 13; Beschl. v. 25.06.2019 - 6 B 154.18 u.a. -, juris Rn. 5; Urt. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 15; Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 25; Urt. v. 18.11.2021 - 1 S 803/19 -, juris Rn. 33). Verfassungsrecht gebietet, eine drohende Rechtsschutzlücke zu schließen, wenn es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.1998 - 1 BvR 831/89 -, juris Rn. 25 f.; Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 28, 36; Beschl. v. 04.02.2005 - 2 BvR 308/04 -, juris Rn. 19; BVerwG, Beschl. v. 30.04.1999 - 1 B 36.99 -, juris Rn. 9; Beschl. v. 20.12.2017 - 6 B 14.17 -, juris Rn. 13; s.a. SächsOVG, Beschl. v. 17.11.2015 - 3 A 440/15 -, juris Rn. 8; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 27.03.2014 - 7 A 11202/13 -, juris Rn. 26).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Dabei ist, wie es das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, wenn eine Versammlung zwar nicht verboten wird, aber infolge von versammlungsbehördlichen Auflagen gemäߧ 15 Abs. 1 VersG nur in einer Weise durchgeführt werden kann, die ihren spezifischen Charakter verändert, insbesondere die Verwirklichung ihres kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Diese Voraussetzungen werden hier von der mit Bescheid der Beklagten vom 28.02.2019 angeordneten zeitlichen und örtlichen Beschränkung der Versammlung erfüllt. Zwar kann sich die Klägerin als kroatische Staatsangehörige nicht direkt auf die Versammlungsfreiheit berufen, weil Art. 8 Abs. 1 GGnach seinem eindeutigen Wortlaut nur für Deutsche gilt. Eine unionsrechtskonforme Auslegung - ungeachtet einer ebenfalls in Betracht zu ziehenden Nichtanwendbarkeit der Beschränkung des Grundrechts auf Deutsche - des Art. 8 Abs. 1 GG könnte zu einer Auslegung contra legem führen. Denn es würde die Wortlautgrenze übersteigen, wollte man das Deutschengrundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG auch auf Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten ausweiten. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts verstieße eine unterschiedliche Behandlung von inländischen und ausländischen Personen jedoch gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV. Es reicht daher nicht aus, dass Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten Deutschen einfachgesetzlich gleichgestellt sind.Vielmehr muss diesen jedenfalls im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG derselbe Schutz gewährleistet werden, der Deutschen durch Art. 8 Abs. 1 GG zukommt. Mit dem offenen Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG ist das vereinbar (vgl. BVerfG Beschl. v. 04.11.2015 - 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56712 -, juris Rn. 11). Da sich die Klägerin als Unionsbürgerin auf Art. 2 Abs. 1 GG mit der Schutzgewähr des Art. 8 Abs. 1 GG berufen kann, die genannte Auflage schwerwiegend in die derart geschützte Versammlungsfreiheit der Klägerin eingreift und dieser Eingriff typischerweise nur von so kurzer Dauer ist, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren nicht rechtzeitig erreicht werden kann, sind die zuvor genannten Voraussetzungen erfüllt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 37; OVG NRW, Beschl. v. 19.03.2018 - 15 A 943/17 -, juris Rn. 11). Denn es kam den Veranstaltern der Versammlung gerade auf den Ort der Versammlung in der Nähe der Beratungsstelle ... an. Eine Verlegung der Versammlung außerhalb der Sichtweite der Beratungsstelle hätte daher den spezifischen Charakter der Versammlung verändert. Da durch die Androhung unmittelbaren Zwangs die Durchsetzung der versammlungsrechtlichen Auflage erreicht werden sollte, ist aus denselben Gesichtspunkten auch diesbezüglich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzuerkennen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Das Verwaltungsgericht ist des Weiteren zu Recht davon ausgegangen, dass auch eine Wiederholungsgefahr gegeben ist. Denn das Erfordernis der Wiederholungsgefahr setzt zum einen die Möglichkeit einer erneuten Durchführung einer vergleichbaren Versammlung durch den Kläger voraus sowie zum anderen, dass die Behörde voraussichtlich auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil es als durchaus möglich erscheint, dass die Klägerin eine vergleichbare Versammlung erneut durchführen wird. Die Beklagte hat in diesem Verfahren zu erkennen gegeben, dass sie auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>II. Die Klage ist begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die versammlungsrechtliche Auflage unter II. A. Ziffer 1 (1.) und die Androhung unmittelbaren Zwanges unter II. A. Ziffer 2 (2.) des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 waren rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>1. Rechtsgrundlage der angefochtenen Auflage unter II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 ist § 15 Abs. 1 VersG. Danach kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Diese Voraussetzungen lagen hier im maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung nicht vor. Zwar ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Veranstaltung der Klägerin um eine Versammlung handelte (a). Allerdings hat die Beklagte zu Unrecht eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bei Durchführung der Versammlung angenommen (b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>a) Bei der Veranstaltung der Klägerin handelte es sich um eine Versammlung. Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. Dass die Versammlungsfreiheit für Unionsbürger schützende Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie § 15 Abs. 1 VersG schützen die Freiheit der Versammlung als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Für die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit sowie des Anwendungsbereichs von § 15 Abs. 1 VersG reicht es wegen des Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Versammlungen sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zu gemeinschaftlicher, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, BVerfGE 104, 92 <104>; BVerfG [Kammer], Beschl. v. 12.07.2001 - 1 BvQ 28 und 30/01 -, NJW 2001, 2459 <2460>; Senatsurteil vom 12.06.2010 - 1 S 349/10 -, juris). Diese Voraussetzungen werden von der Klägerin erfüllt, weil sie beabsichtigte, mit mehreren Personen eine stille Gebetsmahnwache durchzuführen und sich hiermit nach ihrem Verständnis aus christlicher Sicht gegen Abtreibungen zu wenden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>b) Die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG waren jedoch nicht erfüllt. Es fehlte an einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>aa) Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz gewichtiger Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.2008 - 6 C 21.07 -, juris Rn. 13; BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233/81 -, juris Rn. 77; Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 5). Eine unmittelbare Gefährdung ist bei einer Sachlage gegeben, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit führt (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.2008 - 6 C 21.07 -, juris Rn. 14; Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 6). Mit Blick auf die grundlegende Bedeutung der verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit sind keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen (vgl.BVerwG, Beschl. v. 24.08.2020 - 6 B 18.20 -, juris Rn. 6; BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17; Senat, Urt. v. 06.11.2013 - 1 S 1640/12 -, juris Rn. 49; Beschl. v. 16.05.2020 - 1 S 1541/20 -, juris Rn. 3). Dies setzt konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte voraus; bloße Vermutungen genügen nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.08.2020 - 6 B 18.20 -, juris Rn. 6; BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17; Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 6;).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (vgl. Senat, Beschl. v. 05.06.2021 - 1 S 1849/21 -, juris Rn. 7; BVerfG, Beschl. v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, juris, Rn. 17; Beschl. v. 21.11.2020 - 1 BvQ 135/20 -, juris Rn. 11; OVG NRW, Beschl. v. 24.05.2020 - 15 B 755/20 -, juris Rn. 9; BayVGH, Beschl. v. 14.05.2021 - 10 CS 21.1385 -, juris Rn. 18). Haben sich bei Veranstaltungen an anderen Orten mit anderen Beteiligten Gefahren verwirklicht, so müssen besondere, von der Behörde bezeichnete Umstände die Annahme rechtfertigen, dass ihre Verwirklichung ebenfalls bei der nunmehr geplanten Versammlung zu befürchten sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 - 1 BvR 2147/09 -, juris, Rn. 13).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.03.2020 - 6 B 1.20 -, juris Rn. 11; BVerfG, v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -juris Rn. 17; v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17; Beschl. v. 11.09.2015 - 1 BvR 2211/15 -, juris Rn. 3; Senat, Beschl. v. 16.04.2021 - 1 S 1304/21 -, juris Rn. 10).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>bb) Anders als das Verwaltungsgericht vermag der Senat im konkret vorliegenden Fall eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehend von der Versammlung der Klägerin nicht zu erkennen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>aaa) Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der schwangeren Frauen durch die Versammlung der Klägerin drohte nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Das in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht dient dem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre und der Erhaltung ihrer Grundbedingungen, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 -1 BvR 1531/96 -; Beschl. v. 25.10.2005 - 1 BvR 1696/98 -; Urt. v. 27.02.2008 - 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 -, alle juris). Im Sinne eines Schutzes vor Indiskretion hat hiernach jedermann grundsätzlich das Recht ungestört zu bleiben. Dem Einzelnen wird ein Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung garantiert, in dem er „sich selbst besitzt“ und in den er sich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen kann (BVerfG, Beschl. v. 16.07.1969 - 1 BvL 19/63 -, juris Rn. 21). Diese Privatsphäre umfasst zum einen Rückzugsräume im Wortsinne, aber auch Themen der engeren Lebensführung, deren öffentliche Erörterung als peinlich oder zumindest unschicklich empfunden wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Die Grundrechte sind zwar primär Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie konstituieren jedoch gleichzeitig eine Werteordnung, die auch die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten mittelbar prägt, indem sie bei der Auslegung des einfachen Rechts - hier § 15 Abs. 1 VersG - zu beachten ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.07.2015 - 1 BvQ 25/15 -, juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Dabei kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht der eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchenden Frauen durch eine Versammlung von Abtreibungsgegnern betroffen sein. Nicht erst eine sogenannte „Gehsteigbelästigung“ durch aktives Zugehen und Ansprechen von Frauen kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht berühren (vgl. hierzu: Senat, Urt. v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 -, juris). Ein derartiges körperliches Element ist nicht erforderlich. Auch psychischer Druck, der durch optische und akustische Wahrnehmung vermittelt wird, kann einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen. Hierbei ist bei der Wirkung der Versammlung auf ratsuchende Frauen zu berücksichtigen, dass sie sich durch die ungewollte Schwangerschaft in einer besonderen psychischen Belastungssituation befinden. Insbesondere in der Frühphase der Schwangerschaft befinden sich die meisten Frauen in einer besonderen seelischen Lage, in der es in Einzelfällen zu schweren Konfliktsituationen kommt. Diesen Schwangerschaftskonflikt erlebt die Frau als höchstpersönlichen Konflikt. Die Umstände erheblichen Gewichts, die einer Frau das Austragen eines Kindes bis zur Unzumutbarkeit erschweren können, bestimmen sich nicht nur nach objektiven Komponenten, sondern auch nach ihren physischen und psychischen Befindlichkeiten und Eigenschaften (BVerfG, Urt. v. 28.05.1993 - 2 BvF 2/90 u.a. -, juris). Hinzu kommt in der Frühschwangerschaft das durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützte Geheimhaltungsinteresse hinsichtlich der bestehenden Frühschwangerschaft und des in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbruchs.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Allerdings führt nicht jeder Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen zugleich zu einer Verletzung desselben. Vielmehr können gegenläufige Grundrechtspositionen - hier die Versammlungs-, Meinungs-, und Religionsfreiheit der Versammlungsteilnehmer - im Rahmen der Bildung praktischer Konkordanz zu einer Rechtfertigung von Eingriffen führen. Dabei ist die besondere Bedeutung der für Unionsbürger in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit zu beachten, die als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend ist und insbesondere das Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst (vgl. zu Art. 8 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris, und näher dazu Senat, Beschl. v. 16.05.2020 - 1 S 1541/20 -, juris m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Bei der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen, die die Beratungsstelle ... aufsuchen, und der durch die Meinungs- und Religionsfreiheit unterstützten Versammlungsfreiheit kann nicht abstrakt festgestellt werden, dass jede Form der Versammlung zulässig oder unzulässig wäre. Es kommt darauf an, in welcher Art und Weise die Versammlung im Einzelfall stattfinden soll. Dabei ist davon auszugehen, dass eine Versammlung so lange zulässig ist, als sie den die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen nicht die eigene Meinung aufdrängt und zu einem physischen oder psychischen Spießrutenlauf für sie führt (vgl. BVerfG Beschl. v. 08.06.2010 - 1 BvR 1745/06 -, juris Rn. 23). Dies wäre der Fall, wenn die die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen durch die Versammlung in eine unausweichliche Situation geraten, in der sie sich direkt und unmittelbar angesprochen sehen müssen. Eine derartige unausweichliche Situation ist gegeben, wenn die Versammlung so nahe an dem Eingang der Beratungsstelle stattfindet, dass die Versammlungsteilnehmer den Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten und die Frauen dem Anblick der als vorwurfsvoll empfundenen Plakate sowie Parolen und dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt sind (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 18.03.2022 - 2 B 375/22 -, juris Rn. 29; siehe auch VG Regensburg, Beschl. v. 14.10.2020 - RN 4 E 20.2426 - und VG Frankfurt, Urt. v. 02.12.2021 - 5 K 403/21.F -, beide juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach den genannten Maßstäben drohte im vorliegenden Fall keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der die Beratungsstelle ... aufsuchenden schwangeren Frauen durch die Versammlung der Klägerin. Zwar hätte ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen, die die Beratungsstelle hätten aufsuchen wollen, vorgelegen, weil sie von den Versammlungsteilnehmern beim Betreten der Beratungsstelle hätten gesehen werden können und hierdurch sowie durch die Versammlung an sichpsychischer Druck auf die Frauen ausgeübt worden wäre. Dieser Eingriff wäre jedoch durch die gegenläufigen Grundrechtspositionen der Versammlungsteilnehmer im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz gerechtfertigt gewesen. Denn eine unausweichliche Situation in dem zuvor beschriebenen Sinne wäre für die betroffenen schwangeren Frauen im vorliegenden Fall nicht entstanden. Nach der Versammlungsanmeldung sollte die Versammlung im Zeitraum vom 06.03. bis zum 14.04.2019 täglich von 09:00 bis 13:00 Uhr gegenüber der Beratungsstelle stattfinden. Dabei wäre die Beratungsstelle von der Versammlung durch eine 17 Meter breite, vierspurige und viel befahrene Straße getrennt. Die nach den Angaben der Klägerin in der Anmeldung bis zu 20 Teilnehmer der Versammlung sollten sich zu stillen Gebeten zusammenfinden, wobei zum Teil kleine Plakate mitgeführt werden würden. Anders als bei der sogenannten Gehsteigberatung (vgl. hierzu: Senat, Urt. v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 -, juris) sollte es nicht zu einer aktiven Ansprache sowie zur Weitergabe von Informationsmaterial kommen. Hierdurch wären die die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen nicht in die beschriebene unausweichliche Situation geraten, weil sich zwischen der Versammlung und der Beratungsstelle die beschriebene Straße befunden hätte. Damit hätten Frauen, die die Beratungsstelle aufsuchen wollten, der Versammlung und ihren Wirkungen durch ein Abwenden des Blickes entkommen können. Eine blockadeartige Versammlung in unmittelbarer Nähe zum Eingang der Beratungsstelle hätte diese Versammlung nicht dargestellt. Denn allein aus der bloßen Dauer einer Versammlung und der Anzahl der Versammlungsteilnehmer lässt sich eine Blockadewirkung in der Regel nicht ableiten. Des Weiteren kann für die Begründung einer blockadeartigen Versammlung auch nicht auf die Erfahrungen mit der Versammlung vom 14.02.2018 bis zum 25.03.2018 abgestellt werden, weil sich diese Versammlung direkt vor der Beratungsstelle und nicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Unabhängig hiervon konnte die Beklagte auch nicht substantiiert darlegen, dass es bei den vorangegangenen Versammlungen zu Beschwerden von betroffenen Schwangeren über Störungen, Einschüchterungen oder Belästigungen durch die Versammlungsteilnehmer gekommen ist. Die Gefahrenprognose setzt konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte voraus. Bloße Vermutungen genügen, wie gezeigt, nicht. Der Beklagten lagen im vorliegenden Verfahren keine Anzeigen oder Angaben von Frauen, die sich durch die vorherigen Versammlungen beschwert gefühlt hatten, selbst vor, sondern lediglich Berichte Dritter - namentlich von ... - über solche Beschwerden. Diese Berichte von Dritten beschränkten sich zudem auf wenige Angaben. Hier oblag es der Beklagten als Versammlungsbehörde, durch Nachfrage bei den Dritten - was auch unter Wahrung der Anonymität der Betroffenen möglich gewesen wäre - zumindest Zeit, Ort und genauen Inhalt der behaupteten Beschwerden zu ermitteln, um die für eine Gefahrenprognose in Betracht kommenden Tatsachen zu konkretisieren und im Bedarfsfall verifizieren zu können. Ohne dahingehende Ermittlungen zum Sachverhalt ist eine Versammlungsbehörde - wie hier die Beklagte - in einem Gerichtsverfahren auch nicht in der Lage, ihrer Darlegungsobliegenheit zum Sachverhaltsvortrag zu genügen und das Gericht in die Lage zu versetzen, die behaupteten Tatsachen, die Grundlage für die Gefahrenprognose sein sollen, seinerseits zu überprüfen. Diesen Amtsermittlungspflichten und Darlegungsobliegenheiten ist die Beklagte im vorliegenden Verfahren mit ihrem insoweit vagen Vortrag, der die angestellte Gefahrenprognose schon deshalb nicht tragen kann, nicht gerecht geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Durch die Versammlung drohte auch keine Beeinträchtigung des Beratungskonzepts des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Denn die Beklagte konnte nicht nachvollziehbar darlegen, weswegen es durch die Versammlungen zu einer Beeinträchtigung des Beratungskonzepts kommen sollte. Sofern vorgetragen wird, dass schwangere Frauen durch die Versammlung von der Beratung abgeschreckt werden könnten, bleibt es wiederum bei der bloßen Behauptung. Konkrete Vorfälle konnten hierzu nicht angegeben werden. Unabhängig hiervon würden durch die Versammlung weder der Inhalt der Beratung gemäß § 5 SchKG noch das Verfahren der Beratung nach § 6 SchKG beeinträchtigt. Insbesondere konnte durch die Versammlung auch die Anonymität der die Beratungsstelle aufsuchenden Frau gemäß § 6 Abs. 2 SchKG nicht gefährdet werden. Denn zum einen besteht das Recht auf Anonymität gemäß § 6 Abs. 2 SchKG nicht gegenüber jedem beliebigen Dritten, sondern nur gegenüber der die Schwangere beratenden Person. Überdies hätten die an der Versammlung teilnehmenden Personen die die Beratungsstelle aufsuchende Person zwar sehen können. Jedoch geht dieser flüchtige Anblick, der zudem über einen Abstand von 17 Metern erfolgt, nicht über das hinaus, was jeder Teilnehmer am Straßenverkehr sehen kann. Die Identität der jeweiligen Frau könnte somit nur dann offengelegt werden, wenn die Frau einem Teilnehmer der Versammlung zufällig bekannt wäre. Da die Versammlungsteilnehmer jedoch nicht beabsichtigt haben, die Identitäten der die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen den beratenden Personen gegenüber offenzulegen, würde § 6 Abs. 2 SchKG selbst in diesem Fall nicht beeinträchtigt werden. Des Weiteren könnten die Versammlungsteilnehmer nicht bei jeder Frau, die die Beratungsstelle ... aufsucht, davon ausgehen, dass die jeweilige Frau schwanger ist, weil der Beratungsstelle neben der Schwangerschaftskonfliktberatung auch noch anderweitige Aufgaben zukommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Ein Verstoß gegen die Frauenrechtskonvention ist - unabhängig von der Frage der Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Konvention durch eine Versammlung und insbesondere der subjektiv-rechtlichen Relevanz der Konventionsbestimmungen zumal in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen - durch die Versammlung ebenfalls nicht zu befürchten gewesen. Denn die von der Beklagten angesprochene Empfehlung des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau in CEDAW/C/DEU/CO/7-8, Ziff. 38 lit. b bezieht sich darauf, die verpflichtende Beratung vor einer Abtreibung vollkommen abzuschaffen, und nicht auf einen ungehinderten Zugang schwangerer Frauen zu den Beratungsstellen. Selbst wenn aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. e) der Konvention, nach dem eine Frau das gleiches Recht auf eine freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder haben soll, das Recht schwangerer Frauen auf einen ungehinderten Zugang zu den Beratungsstellen und die Chance auf eine unbeeinflusste, selbstverantwortliche Entscheidung abgeleitet werden könnte, so wäre dieses Recht durch die Versammlung nicht beeinträchtigt worden. Denn die Worte „freie Entscheidung“ in Art. 16 Abs. 1 Buchst. e) der Konvention beziehen sich in diesem Zusammenhang nicht auf eine vollkommene Freiheit von in der Gesellschaft vorhandenen gegensätzliche Auffassungen, sondern eine Freiheit von etwaigen staatlichen Zwängen. Die geplante Versammlung hätte in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch nicht die Möglichkeit gehabt, den die Beratungsstellen aufsuchenden Frauen ihre gegensätzliche Meinung aufzuzwingen. Vielmehr hätten sich die Frauen der Versammlung und den dort geäußerten Auffassungen durch einen Wechsel der Straßenseite und ein Abwenden des Blickes in beachtlichem Umfang entziehen können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Da II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 schon mangels einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtwidrig gewesen ist, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich auf die Fragen an, ob die Beklagte oder einzelne Mitarbeiter der Beklagten bei der Fertigung der Auflage gegen den Neutralitätsgrundsatz oder §§ 20, 21 LVwVfG verstoßen haben und welche Folgen derartige Verstöße gegebenenfalls nach sich ziehen würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>2. Die unter II. A. Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 angeordnete Androhung unmittelbaren Zwanges war ebenfalls rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Dies folgt daraus, dass die der Androhung zugrundeliegende Grundverfügung, nämlich II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.02.2019 rechtswidrig war und ex tunc als unwirksam anzusehen ist (vgl. zum Fall einer nicht erledigten Grundverfügung: Senat, Urt. v. 03.05.2021 - 1 S 512/19 -, juris Rn. 56).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>a) Voraussetzung für Fortsetzungsfeststellungsurteile nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist, dass sich der Verwaltungsakt vorher, also vor der gerichtlichen Entscheidung, erledigt hat. In Fällen dieser Art lässt § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anstelle der Aufhebung durch Urteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Feststellung durch Urteil genügen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, um dem Bürger funktionsgleichen Rechtsschutz gegenüber einer Inanspruchnahme aus einem rechtswidrigen Verwaltungsakt zu gewähren, wie er ihn mit einem Aufhebungsurteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO erreichen könnte. Daraus ergibt sich, dass der Verwaltungsakt, soweit das Gericht nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO dessen Rechtswidrigkeit festgestellt hat, keine Wirkung entfaltet und folglich nicht in Bestandskraft erwachsen kann. Kraft der gerichtlichen Entscheidung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist nicht mehr der Regelungsgehalt des Verwaltungsakts rechtlich maßgeblich, sondern die Rechtslage, die ohne Geltung des gerichtlich als rechtswidrig festgestellten Verwaltungsaktes besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.11.1997 - 5 C 1.96 -, juris Rn. 11, und Urt. v. 31.01.2002 - 2 C 7.01 -, juris Rn. 17 ff.)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>b) Ohne die vom Senat vorliegend für rechtswidrig befundeneGrundverfügung, nämlich II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 28.2.2019, ist dieAndrohung unmittelbaren Zwangs schon deshalb rechtswidrig, weil es an der gemäß § 2 LVwVG notwendigen wirksamen Grundverfügung für das Vollstreckungsverfahren fehlt, zu dem die Androhung unmittelbaren Zwangs gehört.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>IV. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:12pt"><tr><td><rd nr="69"/><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss vom 25. August 2022</span></strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 2 GKG für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,- EUR festgesetzt (vgl. Senat, Beschl. v. 07.07.2022 - 1 S 1113/22 -, juris). Die Androhung unmittelbaren Zwanges bleibt bei der Streitwertbemessung nach Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit außer Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,413 | ovgnrw-2022-08-25-11-a-86120a | {
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<p>Die Berufung wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Berufungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Kläger.</p>
<p>Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist nach eigenen Angaben am 10. März 1985 in E. ez-A. in Syrien geboren und syrischer Staatsangehöriger. Er reiste am 2. August 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. August 2017 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Eine EURODAC-Anfrage des Bundesamts ergab für den Kläger einen Treffer der Kategorie 2 für Griechenland vom 27. Februar 2016. Ein Treffer der Kategorie 1 hinsichtlich Griechenlands wies eine Asylantragstellung in Thessaloniki vom 19. April 2016 und ein weiterer Treffer der Kategorie 1 hinsichtlich Rumäniens vom 24. August 2016 in Giurgiu aus.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Anhörungen beim Bundesamt am 8. und 11. August 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe Syrien am 15. Januar 2015 verlassen und sich danach in der Türkei für ein Jahr und einen Monat, in Griechenland für ca. vier bis fünf Monate und in Rumänien vom 24. August 2016 bis zum 2. August 2017 aufgehalten. Er habe Syrien wegen des Krieges verlassen. Er habe befürchtet, als Reservist eingezogen zu werden. In Rumänien habe er auf das Wohnen im Flüchtlingscamp verzichtet, um arbeiten gehen zu können. Mit einem Freund zusammen habe er sich eine Wohnung gemietet. Er habe als Aushilfe für 120,- Euro im Monat in einem Döner-Laden gearbeitet. Ihm sei kein Integrationskurs angeboten worden, er habe die Sprache nicht lernen können und sei respektlos behandelt worden. Auf die Frage nach schutzwürdigen Belangen, die bei der Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zu berücksichtigen seien, verwies er auf einen in Deutschland lebenden Onkel.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Auf ein an die rumänischen Behörden gerichtetes Wiederaufnahmeersuchen vom 15. August 2017 teilten diese unter dem 29. August 2017 mit, dass dem Kläger am 3. Oktober 2016 in Rumänien der Flüchtlingsstatus gewährt worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Durch Bescheid vom 7. September 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.) und forderte den Kläger zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung auf. Dem Kläger wurde für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung nach Rumänien oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 3. Sätze 1 bis 3). Der Kläger dürfe nicht nach Syrien abgeschoben werden (Ziffer 3. Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG werde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 25. September 2017 Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt: Der angefochtene Bescheid verweise zu Unrecht auf Art. 16a Abs. 2 und 3 GG und §§ 26a und 29a AsylG. Ihm drohten zudem in Rumänien Verletzungen seiner europarechtlichen Grundrechte. Während des Asylverfahrens habe er in Rumänien Sozialleistungen erhalten und sei in einem Asylbewerberheim untergebracht gewesen, das einen mangelhaften Standard gehabt habe. Nach Zuerkennung des internationalen Schutzes seien die nach der Asylverfahrensrichtlinie vorgesehenen Leistungen entfallen. Er habe eine Arbeitsstelle in einem Restaurant gefunden, jedoch keinen Lohn erhalten. Als er einmal nachgefragt habe, sei er bedroht und verjagt worden. Einmal sei er auch von dem Arbeitgeber und seinen Mitarbeitern geschlagen worden, als er auf der Zahlung seines Lohns bestanden habe. Er habe daher nichts zum Leben gehabt und sich von Abfällen aus Mülltonnen ernährt. Er habe keinen Sprachkurs erhalten und sich nicht verständigen können. Mangels Sprachkenntnis sei er in einem Krankenhaus abgewiesen worden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Bescheid des Bundesamts vom 7. September 2017 aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des vorgenannten Bescheids zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Rumäniens vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Sie hat sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung bezogen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 13. Februar 2020 abgewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Unzulässigkeitsentscheidung nach Ziffer 1. des angegriffenen Bescheids sei nicht bereits deswegen rechtswidrig, weil das Bundesamt in der Begründung auch Bezug auf Art. 16a GG und § 26a AsylG nehme. Es habe die Unzulässigkeitsentscheidung allein auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt und die weiteren Normen nur zur Erläuterung angeführt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG lägen für den Kläger vor. Dessen Anwendbarkeit scheide auch nicht aufgrund der in Rumänien für anerkannt Schutzberechtigte herrschenden Lebensverhältnisse aus. Es herrschten nicht derart handgreiflich eklatante Missstände, die den Schluss zuließen, anerkannte Schutzberechtigte würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Anerkannte Schutzberechtigte hätten in Rumänien denselben freien Zugang zur Bildung, Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt und zur Sozialversicherung wie rumänische Staatsangehörige. Außerdem könnten sie trotz Schwierigkeiten Wohnraum erlangen. Es sei zu berücksichtigen, dass die typischerweise für die Mehrheit der Bevölkerung geltenden Standards in Rumänien deutlich niedriger seien als in Deutschland. Die rumänische Regierung arbeite mit dem Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) und anderen humanitären Organisationen bei der Bereitstellung von Schutz und Hilfe für international Schutzberechtigte zusammen. Darüber hinaus würden Nichtregierungsorganisationen konkrete Integrationsarbeit leisten durch Beratungen, Begleitung bei Behördengängen sowie die Bereitstellung von Bildungsangeboten, Sprachkursen, Unterkünften für Männer, Frauen und Familien mit Kindern, ebenso von Nahrung, Bekleidung, Schulbedarf oder Haushaltsgegenständen und finanziellen Hilfen etwa für medizinische Behandlungen. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK folge auch nicht aus dem Umstand, dass die anerkannten Schutzberechtigten zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel nicht ausreichend seien, um das Existenzminimum zu decken. Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte hätten denselben Zugang zum allgemeinen Sozialversicherungssystem wie rumänische Staatsbürger. Diese Leistungen stünden auch aus dem Ausland zurückgekehrten anerkannten Schutzberechtigten wie dem Kläger zu. Die in der mündlichen Verhandlung geschilderten Erlebnisse belegten nicht Schwachstellen des staatlichen und behördlichen Umgangs mit anerkannten Schutzberechtigten. Aus dem Vortrag des Klägers und der Erkenntnislage ergäben sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen eines hier allein in den Blick zu nehmenden zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung führt der Kläger aus: Die Lebensumstände anerkannter Schutzberechtigter in Rumänien verstießen gegen europäische Grundrechte. Die Verlängerung einer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung eines aus dem europäischen Ausland nach Rumänien zurückkehrenden Schutzberechtigten erfordere einen dort registrierten Wohnsitz. Zurückkehrenden Schutzberechtigten sei jedoch der Wohnungsmarkt verschlossen. Ohne ausreichende Sprachkenntnisse und ohne gültige Aufenthaltserlaubnis sei es diesen Personen nicht möglich, eine Arbeit zu finden, um sich die Anmietung einer Wohnung leisten zu können. Auch die staatlichen Hilfen seien der Höhe nach nicht ausreichend, um eine Wohnung finanzieren zu können. Zudem habe die Corona-Pandemie zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung in Rumänien mit einhergehender steigender Arbeitslosigkeit geführt, so dass die Integration in den Arbeitsmarkt zusätzlich erschwert sei.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt schriftsätzlich und sinngemäß,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2017 - mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3. getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf - aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Rumäniens bestehen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört worden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer sachverständigen Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die erteilte Auskunft vom 20. Juli 2022 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">A. Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">B. Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid des Bundesamts vom 7. September 2017 ist - soweit er streitbefangen ist - rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">I. Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen hier für den Kläger vor, weil Rumänien ihm Flüchtlingsschutz zuerkannt hat. Dass der Schutzstatus nicht mehr bestehen könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Anwendbarkeit von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet auch nicht aufgrund der in Rumänien für anerkannte Schutzberechtigte herrschenden Lebensverhältnisse aus.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt worden ist - dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 GRCh bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 ‑ C‑540 und 541/17 (Hamed und Omar) ‑, juris; ferner bereits EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) ‑, juris, Rn. 81 bis 97, und vom 19. März 2019 ‑ C‑297/17 u. a. (Ibrahim) ‑, juris, Rn. 83 bis 94.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Für die Anwendbarkeit des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU nimmt der EuGH einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh an, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon konnte der Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden, weil dem Kläger zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rückkehr nach Rumänien nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Rumänien in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum wird befriedigen können.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">International Schutzberechtigte haben Zugang zu Bildung, Wohnungen, Erwachsenenbildung, Arbeit, öffentlicher Gesundheitsfürsorge und Sozialleistungen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10; United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 19; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 4 f., und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.; vgl. auch VG Cottbus, Urteil vom 1. April 2021 - 5 K 1582/17.A -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Mai 2020 - 22 K 17460/17.A -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">2. Es besteht nicht die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Rumänien keine menschenwürdige Unterkunft finden und über einen längeren Zeitraum obdachlos sein wird.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">a. Auf der Grundlage der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisse und zum Zeitpunkt seiner Entscheidung allgemein zugänglichen Informationen sind international Schutzberechtigte in Rumänien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Obdachlosigkeit bedroht. Art. 1 lit. a) der Eilverordnung der Regierung Nr. 44/2004, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 178 vom 10. Oktober 2019, sieht für international Schutzberechtigte unter anderem das Recht auf eine Wohnung vor. Dieses Recht auf eine Wohnung, das ihnen ebenso wie rumänischen Staatsbürgern zukommt, können sie auch tatsächlich durchsetzen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 171 ff; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">aa. International Schutzberechtigte, die am staatlichen Integrationsprogramm teilnehmen und nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, können abhängig von deren Auslastung in den für die Unterbringung von Schutzsuchenden vorgesehenen staatlichen Regionalzentren wohnen. Sie dürfen dort zunächst für sechs Monate bleiben mit der Möglichkeit der Verlängerung um weitere sechs Monate in begründeten Fällen. Nach drei Monaten sind sie nach Art. 21 Abs. 5 der Eilverordnung der Regierung Nr. 44/2004 verpflichtet, hierfür Miete und Nebenkosten zu entrichten.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 171; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 5 f., und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der Miete variiert nach den einzelnen Regionalzentren. Die Mietkosten können von Nichtregierungsorganisationen (im Folgenden: NGOs) übernommen werden, bis Schutzberechtigte andere Finanzhilfen erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 172.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Für besonders schutzbedürftige Personen - unbegleitete Minderjährige, Personen mit Behinderung, schwangere Frauen, Opfer von Menschenhandel oder Alleinerziehende mit noch nicht erwachsenen Kindern - besteht nach Art. 34 Abs. 2 und Abs. 3 der Eilverordnung der Regierung Nr. 44/2004 zusätzlich die Möglichkeit, unabhängig von einer Teilnahme am Integrationsprogramm bis zur Feststellung der Beendigung dieser besonderen Schutzgründe kostenlos in Aufnahmeeinrichtungen untergebracht zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 171; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 5, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Zusätzlich hat der Jesuit Refugee Service (JRS) das Projekt „A New House“ in allen Regionalzentren eingeführt, finanziert durch das Nationalprogramm des Asylum, Migration and Integration Funds der Europäischen Union (AMIF), das die Miet- und Nebenkosten von international Schutzberechtigten zum Teil oder insgesamt trägt. Im Jahr 2019 erhielten 241 international Schutzberechtigte Miet- und Nebenkostenzuschüsse. Über dieses Projekt können Zuschüsse für zwölf Monate gewährt werden. Erhalten können sie umgesiedelte Schutzberechtigte, am Integrationsprogramm Teilnehmende sowie Schutzberechtigte in vulnerablen Situationen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 172.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Regionalzentren verfügen über eine ausreichende Kapazität. Zum 1. Januar 2022 waren von den 751 verfügbaren Plätzen 501 belegt, davon 221 durch international Schutzberechtigte.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 110 und 171.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">bb. International Schutzberechtigte haben denselben Rechtsanspruch auf Zugang zu Sozialwohnungen gemäß Art. 20 Abs. 1 des rumänischen Asylgesetzes wie rumänische Staatsbürger. Nach Abschluss des staatlichen Integrationsprogramms oder sobald Schutzberechtigte eine Arbeit finden, hat nach Art. 28 der Eilverordnung der Regierung Nr. 44/2004 das General Inspectorate for Immigration – Directorate for Asylum and Integration (IGI-DAI) die betreute Person einer Gemeinde zuzuführen, in der freie Stellen zur Verfügung stehen, und sie zu informieren, wie sie eine Sozialwohnung beziehen kann.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 172.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach der Auskunftslage stehen aber Sozialwohnungen nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung, sodass international Schutzberechtigte überwiegend auf den freien Wohnungsmarkt angewiesen sind. Für eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt übernimmt das IGI für einen Zeitraum von maximal einem Jahr 50% der Mietkosten. Mietzuschüsse werden darüber hinaus auch im Rahmen EU-geförderter Projekte gewährt.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 172 f.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Zwar ist international Schutzberechtigten die Anmietung einer Unterkunft auf dem freien Wohnungsmarkt im Vergleich zu rumänischen Staatsbürgern jedenfalls dann erschwert, wenn sie der rumänischen Sprache nicht mächtig sind. Es wird auch von Schwierigkeiten berichtet, einen Mietvertrag zu erhalten, der die von den Behörden geforderten Bedingungen für einen registrierten Wohnsitz erfüllt, da die Vermieter den Behörden oftmals nicht mitteilen wollen, dass sie ihre Wohnungen vermietet haben.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 156; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Es gibt jedoch keine Berichte darüber, dass international Schutzberechtigte der Obdachlosigkeit anheimfallen, also gezwungen sind, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln auf der Straße zu leben, ohne ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Das vollständige Fehlen von Hinweisen auf extreme materielle Not bei gleichzeitiger vielseitiger Berichterstattung über Beschwernisse oberhalb extremer Armut lässt nur den Schluss zu, dass extreme Not nicht oder allenfalls äußerst ausnahmsweise auftritt.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Cottbus, Urteil vom 1. April 2021 – 5 K 1582/17.A –, juris, Rn. 29, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Im Vergleich mit anderen EU-Mitgliedstaaten - etwa Italien oder Griechenland - hat Rumänien deutlich weniger Asylverfahren zu bearbeiten und anerkannte Schutzberechtigte zu integrieren. So wurden im Jahr 2021 nur 9.591 Asylanträge gestellt und in 1.126 Fällen wurde der internationale Schutz gewährt.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 8.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">b. Der Kläger wird demnach nicht der ernsthaften Gefahr von Obdachlosigkeit ausgesetzt sein. Es ist vielmehr zu erwarten, dass er eine Wohnung – jedenfalls auf dem freien Markt – finden wird. Dies hat er nach eigenen Angaben im Rahmen der Bundesamtsanhörung auch bereits unter Beweis gestellt. Er hat nämlich zusammen mit einem Freund nach der Anerkennung als Flüchtling eine Wohnung bezogen und eine Beschäftigung aufgenommen.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger befürchtet, aufgrund des Aufenthalts im europäischen Ausland bei einer Rückkehr keine Möglichkeit zu haben, eine Unterkunft zu finden, um seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, ist seine Sorge unbegründet. Die o. g. Leistungen stehen auch rückgeführten anerkannten Schutzberechtigten zu.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 5, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 1, 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Sowohl die Ausstellung als auch die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis durch die rumänischen Behörden bereiten in der Praxis keine Probleme.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 156.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">c. Die im Zuge des Angriffskrieges der Russischen Föderation auf die Ukraine erfolgte Fluchtbewegung von Ukrainern auch nach Rumänien begründet nicht die Gefahr für den Kläger, bei einer Rückkehr nach Rumänien keine menschenwürdige Unterkunft zu finden. Rumänien registrierte rund 80.000 ukrainische Flüchtlinge, die aber nicht in den allgemeinen Aufnahmezentren aufgenommen wurden, sondern vor allem privat organisierte Unterkünfte gefunden haben. Über 8.000 Ukrainer wurden zudem in öffentlichen Gebäuden und Schulen untergebracht.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 20. Juli 2022, S. 2 f.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">2. Der Kläger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr nach Rumänien ferner in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">a. Anerkannte international Schutzberechtigte haben Zugang zum Arbeitsmarkt.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 11.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">aa. Sie sind rumänischen Staatsbürgern hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt gemäß Art. 20 Abs. 2 des rumänischen Asylgesetzes gleichgestellt. Das Recht auf Zugang zum rumänischen Arbeitsmarkt besteht bereits nach dreimonatigem Aufenthalt, auch wenn das Asylverfahren noch anhängig ist. Erst recht wird dieser Zugang anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten gewährt. Erlaubt sind sowohl selbstständige Arbeit als auch abhängige Beschäftigungsverhältnisse.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 11; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 173.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">bb. Nach der Auskunftslage können international Schutzberechtigte in Rumänien trotz berichteter Schwierigkeiten eine Arbeit finden. In der Praxis können mangelnde Kenntnisse der rumänischen Sprache, und in einigen Fällen der englischen Sprache, den Zugang zum Arbeitsmarkt behindern. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt dabei auch von der Wirtschaftskraft der Stadt oder Region ab.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 11.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Den Schutzberechtigten werden beim Zugang zum Arbeitsmarkt staatliche Unterstützungen gewährt. In Rumänien ist jede Behörde (Innenministerium, Bildungsministerium, Arbeitsministerium, Gesundheitsministerium, etc) in ihrem jeweiligen Fachgebiet für die Integration von ausländischen Staatsangehörigen verantwortlich. Die Koordination liegt bei dem beim Innenministerium angesiedelten IGI. Die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen umfassen zum einen den Zugang zu Arbeit, Wohnung, Bildung, Krankenversorgung und Sozialleistungen, zum anderen die Umsetzung spezieller Integrationsprogramme zum Erwerb der rumänischen Sprache sowie kultureller und staatsbürgerlicher Bildung.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Um diese Ziele zu erreichen, unterstützt das IGI über seine Regionalzentren und im Rahmen eines bis zu zwölfmonatigen Integrationsprogramms die Schutzberechtigten mit verschiedenen Maßnahmen. Das Programm kann in Ausnahmefällen bei entsprechender Begründung sowie insbesondere bei Vulnerablen über die vorgesehene maximale Dauer von einem Jahr hinaus verlängert werden. Die Teilnahme am Migrationsprogramm muss binnen 90 Tagen ab Statuszuerkennung beantragt werden.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Des Weiteren wird den Schutzberechtigten die Teilnahme an einem Sprachkurs ermöglicht. Arbeitslose Berechtigte können zudem Umzugs-, Mobilitäts- oder sonstige Beihilfen erhalten, um sich in wirtschaftlich stärkeren Teilen des Landes niederzulassen und eine Arbeit zu finden. Die angebotenen Leistungen stehen auch rückgeführten anerkannten Schutzberechtigten zu.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 5, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die rumänische Nationalbank hat auf die von Schutzberechtigten berichteten Schwierigkeiten reagiert, Konten zu eröffnen, und erklärt, dass Banken verpflichtet sind, jedem ein Konto zu eröffnen. Trotz der noch immer bestehenden Schwierigkeiten finden sich in allen Landesteilen Banken, die auch international Schutzberechtigten ein Konto eröffnen.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 158.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">NGOs unterstützen Schutzberechtigte, eine Arbeit zu finden. Vor kurzem wurde in Kooperation der Global Help Association, der Internationalen Organisation für Migranten (IOM) und der Ökumenischen Vereinigung der Kirchen in Rumänien (AIDRom) in Giugiu ein neues regionales Integrationszentrum eröffnet. Aufgabe des Zentrums ist es, die soziale Eingliederung von Personen mit internationalem Schutzstatus und anderen Drittstaatsangehörigen unterstützen, die sich in den Bezirken Giurgiu, Calarasi, Ialomita, Teleorman, Olt und Dolj im Südosten Rumäniens niedergelassen haben. Das Zentrum bietet Unterstützung in Form von Informationen, Beratung, Bildung, kulturellen und sozialen Dienstleistungen und Sachleistungen und erleichtert Flüchtlingen und Migranten den Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 11.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Auch während der Corona-Pandemie bieten NGOs weiterhin Hilfsangebote, z. B. Sprachkurse, online und in Präsenzveranstaltungen, an.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 178 f.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Nach Auskunftslage sind Arbeitsplätze verfügbar, auch wenn das Lohnniveau regelmäßig recht gering ist. Insbesondere im Westen des Landes übersteigt das Angebot an Arbeitsplätzen die Anzahl der zur Verfügung stehenden Arbeitnehmer. Dort werden Arbeitskräfte selbst für unqualifizierte Arbeit gesucht. Hinderungsgründe, Arbeit in Rumänien finden zu können, bestehen insofern jedenfalls dann nicht, wenn von den Integrationsangeboten zur Sprachförderung und gegebenenfalls zur Qualifizierung Gebrauch gemacht und eine vergleichsweise niedrige Entlohnung in Kauf genommen wird.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 173 ff.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 7 f., und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">cc. Auch unter den Auswirkungen der anhaltenden Corona-Pandemie bestehen weiterhin Chancen für Schutzberechtigte, eine Arbeit zu finden.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Zwar hatten die Pandemie auch Auswirkungen auf den Zugang zum Arbeitsmarkt. Es kam insbesondere zu Entlassungen, Kurzarbeit und Gehaltskürzungen. Dies betraf insbesondere die von vielen Schutzberechtigten ausgeübten Tätigkeiten im Hotel- und Gaststättengewerbe.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 175.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Die wirtschaftliche Lage in Rumänien hat sich aber seit dem Jahr 2021 entscheidend verbessert. Rumänien ist in wirtschaftlicher Hinsicht von der Pandemie weniger stark betroffen als andere europäische Staaten. Das Land hat ein international beachtetes Wirtschaftswachstum demonstriert. Nach pandemiebedingtem Einbruch der Wirtschaftsleistung um 3,9 % im Jahr 2020 zeigte Rumäniens Wirtschaft bereits im ersten Quartal 2021 das mit 2,8 % größte Wachstum in der Europäischen Union. Damit konnte Rumänien im Vergleich zum Ende des vierten Quartals 2019 vor der Pandemie sogar ein Wirtschaftswachstum um 1 % vorweisen.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. Balkan Insight: Is Romania on Course to Sustained Growth?, 5. Juli 2021, S. 1.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die Erholung war in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 schneller als erwartet, was insbesondere auf die Industrieproduktion und die Einzelhandelsumsätze zurückzuführen ist. Verkehr, Gastgewerbe und Landwirtschaft waren 2020 die am stärksten betroffenen Sektoren, während sich das Baugewerbe mit einem Wachstum von 10 % als besonders widerstandsfähig erwies. Die starke Erholung setzte sich im ersten Quartal 2021 fort, das BIP erreichte das Vorkrisenniveau. Die Exporte waren besonders lebhaft und das Geschäftsvertrauen erholte sich. Die Inflation zog aufgrund der Strommarktliberalisierung und steigender Kraftstoffpreise stark an. Der Lohndruck hielt an, aber die Arbeitsmarktbedingungen verschlechterten sich, und die Arbeitslosenquote erreichte im März 5,5 % gegenüber 3,9 % vor der Pandemie. Auch in den Jahren 2022 und 2023 wird trotz steigender Inflation mit einem Wachstum der rumänischen Wirtschaft gerechnet.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. OECD, Economic Outlook, Volume 2021 Issue 1, Romania und Economic Outlook, Volume 2022 Issue 1, Romania.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Es finden sich keine aktuellen Berichte darüber, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Rumänien zur Verelendung von anerkannten Schutzberechtigten geführt hätte. Ebenso wenig gibt es Hinweise darauf, dass staatliche oder karitative Hilfe eingestellt wurde oder in Zukunft eingestellt werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Cottbus, Urteil vom 1. April 2021 - 5 K 1582/17.A -, juris, Rn. 29, m. w. N; vgl. anders noch zur Situation im Jahr 2020 VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 - 1 K 373/18.A -, juris, Rn. 69 ff.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">dd. Die etwa 80.000 registrierten nach Rumänien geflüchteten Ukrainer haben die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht wesentlich verändert. Da ein erheblicher Teil von ihnen aufgrund ihres Alters (ältere Menschen oder Kinder) oder aufgrund der Verantwortung für die Kinderbetreuung nicht arbeiten kann, sind in Rumänien weiterhin Arbeitsstellen auf dem offiziellen Arbeitsmarkt für Personen mit internationalem Schutzstatus verfügbar.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 20. Juli 2022, S. 3.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">b. Angesichts der sich aus diesen Erkenntnissen und Informationen ergebenden derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in Rumänien ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr eine Arbeit finden wird. Er ist in der Erwerbsfähigkeit nicht eingeschränkt und hat ausweislich seines Vortrags im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt schon bewiesen, dass er während seines Aufenthalts in Rumänien eine Arbeit, nämlich in einem Imbiss für umgerechnet 120 € im Monat, finden konnte. Soweit er vorgetragen hat, dass er für diese Arbeit keinen Lohn erhalten habe, ist dies unglaubhaft. Es widerspricht seinem Vortrag vor dem Bundesamt, wonach er einen Lohn in genannter Höhe erhalten habe. Zudem konnte er den eigenen Bekundungen nach mit einem Freund zusammen eine Wohnung anmieten und für etwa ein Jahr in Rumänien leben.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">3. Der Kläger wird im Falle seiner Rückkehr nach Rumänien auch Zugang zu staatlichen Unterstützungsleistungen haben, mit deren Hilfe er dort sein Existenzminimum sichern könnte.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">a. Der rumänische Staat gewährt Personen und Familien, deren monatliches Prokopfeinkommen bei 200 Lei oder darunter liegt, abhängig von den individuellen Umständen finanzielle Unterstützung durch geldwerte Leistungen und Sachleistungen, z. B. die kostenlose Bereitstellung von Strom und Heizung.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 6, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">b. Daneben stehen im Bedarfsfall auch Sozialleistungen in Form von Geldleistungen an Schutzsuchende und Schutzberechtigte zur Verfügung.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">aa. Personen mit internationalem Schutzstatus, die aus objektiven Gründen nicht über die notwendigen Mittel zum Lebensunterhalt verfügen, haben auf Antrag im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten des Staates Anspruch auf eine monatliche Beihilfe für einen Zeitraum von höchstens zwölf Monaten. Die Höhe der Beihilfe steht im Zusammenhang mit dem sozialen Referenzindikator gemäß den durch Regierungsbeschluss festgelegten Bedingungen. Um die Beihilfe zu erhalten, müssen international Schutzberechtigte an dem staatlichen Integrationsprogramm teilnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 179 ff.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Bargeldleistungen werden nach Anerkennung zunächst in Höhe des an Asylbewerber ausgezahlten Betrages (10 Lei pro Tag, entspricht ca. 68 € monatlich) für einen Zeitraum von zwei Monaten fortgezahlt. Danach erhalten anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte Zuschüsse in Höhe von monatlich 540 Lei (ca. 120 €) für einen Zeitraum von sechs Monaten mit der Möglichkeit der Verlängerung um weitere sechs Monate.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 6, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die für die Gewährung der Beihilfe zuständige Behörde ist die Bezirksagentur für Zahlungen und Sozialaufsicht (Agenția Județeanăpentru Plățiși Inspecție Socială, AJPIS).</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 181.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">In der Praxis wird der Antrag mit Unterstützung einer NGO innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung des internationalen Schutzes gestellt. IGI-DAI leitet die Akte des Begünstigten zur Prüfung an das AJPIS weiter. Dem Antrag sind die Entscheidung über die Gewährung des internationalen Schutzes, die Aufenthaltserlaubnis sowie eine Bescheinigung der örtlich zuständigen Geschäftsstelle des IGI-DAI über die Einschreibung in das Integrationsprogramm beizufügen. Zur Feststellung des Anspruchs auf Beihilfe führt die AJPIS innerhalb von zehn Tagen nach Eingang des Antrags eine Prüfung durch, um zu bestätigen, dass der Antragsteller nicht über die erforderlichen Mittel zum Lebensunterhalt verfügt. Der Exekutivdirektor der AJPIS genehmigt die Gewährung der finanziellen Beihilfe, beginnend mit dem Folgemonat, in dem der Antrag bei der Gebietskörperschaft registriert wurde, auf der Grundlage der vom IGI-DAI eingereichten Unterlagen. Bis zum ersten Monat der Zahlung der Beihilfe erhalten Leistungsempfänger, die über keine Existenzmittel verfügen, vom DAI Sachhilfe in Höhe der Asylbewerber gewährten Summe im Rahmen der verfügbaren Mittel, jedoch nicht länger als drei Monate. Im Jahr 2020 haben 588 Personen mit internationalem Schutzstatus diese Sachhilfe erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2020 Update, S. 174.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Daneben leisten auch karitative Einrichtungen und verschiedene NGOs im Rahmen unterschiedlicher meist EU-geförderter Projekte konkrete Hilfestellung. Die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Unterstützungsleistungen für international Schutzberechtigte gehen dabei teilweise sogar über das hinaus, was rumänischen Staatsangehörigen im Fall ihrer Hilfsbedürftigkeit angeboten wird.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 4 f., und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">bb. Des Weiteren haben Personen mit internationalem Schutzstatus, die am Integrationsprogramm teilnehmen, unter denselben Voraussetzungen wie rumänische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe in Form des garantierten Mindesteinkommens.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 183.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">c. Ausgehend von diesen Erkenntnissen besteht für den Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Rumänien auch vor Aufnahme einer Erwerbstätigkeit die Möglichkeit, sozial abgesichert zu sein.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">4. Auch die medizinische Versorgung ist in Rumänien gewährleistet. Anerkannte Schutzberechtigte haben in Rumänien denselben Zugang zur Gesundheitsversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung wie rumänische Staatsbürger. Durch eine einmalige Einzahlung in die Krankenversicherung verpflichtet sich der Versicherte zur Zahlung von zwölf Monatsbeiträgen in Höhe von jeweils 208 Lei (etwa 44 Euro). Soweit Personen, die keiner Arbeit nachgehen, Krankenversicherungsbeiträge entrichten müssen, können sie diese unter Umständen (jedenfalls zum Teil) von NGOs erstattet bekommen. Nichtversicherte Personen haben Zugang zu medizinischer Notfallversorgung.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 183; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 4, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">NGOs leisten auch Unterstützung bei der Überwindung praktischer Hindernisse, die sich für Personen mit internationalem Schutz aus Unkenntnis des rumänischen Gesundheitssystems etwa beim Zugang zum sog. Krankenversicherungshaus (Casa de Asigurări de Sănatate, CAS) oder zu einer hausärztlichen Versorgung ergeben können.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 183.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">II. Auch Ziffer 2) des angegriffenen Bescheids ist rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG sind nach den obigen Ausführungen nicht erfüllt. Aus diesem Grund ist auch die hilfsweise erhobene, auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gerichtete Verpflichtungsklage unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Insbesondere besteht im Hinblick auf die Corona-Pandemie kein Abschiebungshindernis. Zwar geriet die Kapazität des Gesundheitssystems in Rumänien im Herbst 2021 an die Grenze ihrer Belastbarkeit.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Vgl. Berichte des Mitteldeutschen Rundfunks, Rumänien. Die Pandemie der Ungeimpften, vom 2. Oktober 2021, S. 4, und des Tagesspiegels, Ärzte in Rumänien beschreiben Corona-Lage als „apokalyptisch“, vom 21. Oktober 2021, S. 4.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Die rumänischen Behörden sind jedoch bemüht, sowohl Asylbewerber und Schutzberechtigte vor der Pandemie zu schützen und beziehen sie insbesondere in die staatliche Impfkampagne mit ein.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 1.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">III. Die in Ziffer 3) des Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung ist auch nicht unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Zwar ist die dem Kläger vom Bundesamt gesetzte dreißigtägige Ausreisefrist rechtswidrig, weil bei einer auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist nach § 36 Abs. 1 AsylG eine Woche beträgt. Die zu seinen Gunsten längere, erst 30 Tage nach Bekanntgabe des Bescheids ablaufende Ausreisefrist verletzt den Kläger aber nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 51.18 -, juris, Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Einer Abschiebung steht auch nicht (mehr) eine Weigerung Rumäniens entgegen, Überstellungen aus dem europäischen Ausland entgegenzunehmen. Soweit die rumänische Dublin Unit unter dem 28. Februar 2022 gegenüber den Mitgliedstaaten erklärt hat, wegen des Flüchtlingsstroms aus der Ukraine bis auf weiteres Dublin-Überstellungen auszusetzen, hat sie unter dem 11. Mai 2022 ausgeführt, trotz limitierter Kapazität weiter eingehende Überstellungen in dringenden Fällen, etwa wegen des Ablaufs von Überstellungsfristen, zu akzeptieren. In einer weiteren Mitteilung vom 24. Mai 2022 hat sie erklärt, Überstellungen würden schrittweise wieder entgegengenommen.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">D. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Insbesondere hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die hier entscheidungserheblichen Rechtsfragen - insbesondere zur Anwendbarkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Maßstäbe für einen Ausschluss der Unzulässigkeitsentscheidung wegen einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRCh oder des Art. 3 EMRK - sind geklärt.</p>
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"id": 823,
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 19 B 956/22 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-09-01T10:01:41 | 2022-10-17T11:09:39 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0825.19B956.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p>
<p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss zu ändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, den Antragsteller zum Schuljahr 2022/2023 vorläufig in die Klasse 5 der N. B. Gesamtschule in N1. aufzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit ihrer Beschwerde machen die Antragsteller erfolglos geltend, die Entscheidung der Schulleiterin, die Zahl der in die Klasse 5 aufzunehmenden Schülerinnen und Schüler nach § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW zu begrenzen, sei angesichts der in der Stellungnahme der Schulleiterin vom 21. Juli 2022 dokumentierten Ermessenserwägungen rechtsfehlerhaft.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Nach § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW kann die Schulleiterin im Einvernehmen mit dem Schulträger die Zahl der in die Klasse 5 einer Schule der Sekundarstufe I oder mit Sekundarstufe I aufzunehmenden Schüler begrenzen, wenn ein Angebot für Gemeinsames Lernen (§ 20 Abs. 2) eingerichtet wird (Nr. 1), rechnerisch pro Parallelklasse mindestens zwei Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf aufgenommen werden (Nr. 2) und im Durchschnitt aller Parallelklassen der jeweilige Klassenfrequenzrichtwert nach der Verordnung zur Ausführung des § 93 Abs. 2 SchulG NRW nicht unterschritten wird (Nr. 3).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Schulleiterin hat hier von dem in § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW eingeräumten Ermessen rechtmäßig Gebrauch gemacht und entschieden, in den sechs Parallelklassen der Klasse 5 den Bandbreitenhöchstwert von 29 (6 x 29 = 174) wegen der 18 aufzunehmenden Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf um den Wert 2 zu unterschreiten und insgesamt 162 (6 x 27) Schüler aufzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Ohne Erfolg bleibt zunächst der Einwand der Antragsteller, die Ermessenserwägungen hätten nicht erst in der zweiten Julihälfte „nachgereicht“ werden dürfen, sondern zum Zeitpunkt der Entscheidung nach § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW „vorliegen“ müssen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller damit rügen, dass die entscheidenden Ermessenserwägungen nicht nachgeschoben werden dürften, setzen sie sich nicht mit der überzeugenden Feststellung des Verwaltungsgerichts auseinander, wonach die Schulleiterin ihre Ermessenserwägungen weder ausgetauscht noch ergänzt hat, sondern die als Anlage zur Antragserwiderung vom 22. Juli 2022 abgegebene Erklärung zum Zustandekommen ihrer Entscheidung über die Begrenzung der Zahl der aufzunehmenden Schülerinnen und Schüler die tatsächlich maßgeblichen Erwägungen zutreffend wiedergibt (S. 6 des Beschlusses).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller die anfänglich fehlende Dokumentation der Ermessenserwägungen beanstanden und sich auf Rechtsprechung zu beamtenrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren berufen, lassen sich die dort geltenden besonderen Dokumentationspflichten auf die Entscheidung nach § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW allenfalls begrenzt übertragen. Vielmehr bleibt es hier bei den allgemeinen Regeln und können im Einzelfall auch eine Begründung im Widerspruchsbescheid oder nachträglich verfasste und erstmals im Gerichtsverfahren vorgelegte Stellungnahmen ausreichend sein, um die Ausübung des durch § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW eingeräumten Ermessens zu dokumentieren.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2020 - 19 B 998/20 -, juris, Rn. 6, und vom 19. Oktober 2018 - 19 B 1353/18 -, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Die Antragsteller dringen ebenfalls nicht mit ihrem Einwand durch, dass die von der Schulleiterin in ihrer Stellungnahme unter Nr. 2 angeführten Gesichtspunkte der besonderen Herausforderung der Lehrkräfte durch inklusives Arbeiten sowie des mit dem inklusiven Arbeiten einhergehenden erhöhten Platzbedarfs nicht geeignet seien zu begründen, weshalb eine Begrenzung gerade auf 27 Schülerinnen und Schüler pro Klasse gerechtfertigt erscheine.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Damit ist weder ein Ermessensdefizit noch ein sonstiger Ermessensfehler dargelegt. Die Schulleiterin hat sich ausweislich der vorgelegten Stellungnahme bewusst dafür entschieden, den möglichen Ermessensspielraum auszunutzen. Die Begrenzung der Aufnahmekapazität entspricht dem Klassenfrequenzrichtwert im Durchschnitt aller Parallelklassen, der nach § 46 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 SchulG NRW nicht unterschritten werden darf (6 x 27 = 162). Sie hat die von ihr gewählte Begrenzung nachvollziehbar und schlüssig mit der Aufnahme von 18 Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf und den damit verbundenen Herausforderungen begründet. Diese Begründung ist nicht deshalb lückenhaft, weil die Schulleiterin nicht noch einmal aus der entgegengesetzten Perspektive erläutert hat, aus welchen Gründen sie die Aufnahmekapazität nicht auf 163 oder 164 Schüler festgelegt hat. Die Schulleiterin hat bei ihrer Entscheidung nicht darauf abgestellt, dass ein Unterricht mit 163 Schülern nicht möglich wäre, sondern ermessensfehlerfrei zugrunde gelegt, dass die Reduzierung auf 162 Schüler hilft, die besonderen Herausforderungen des inklusiven Unterrichts gut zu bewältigen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich verhelfen auch die Einwände der Antragsteller gegen die Erwägung unter Nr. 3 der Stellungnahme der Schulleiterin vom 21. Juli 2022 der Beschwerde nicht zum Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Senat kann offen lassen, ob die Ermessenserwägung der Schulleiterin zu etwaigen zukünftigen Aufnahmen von nach N1. zuziehenden Gesamtschulkindern ermessensfehlerfrei ist. Diese Frage ist unerheblich, weil die Ermessenserwägung zu Nr. 2 die Begrenzungsentscheidung der Schulleiterin eigenständig trägt. Das hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt (S. 6 des Beschlusses). Gegen diese Feststellung haben die Antragsteller auch keine Beschwerderüge erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Senat weist lediglich zur Klarstellung darauf hin, dass ein Freihalten von Schulplätzen für künftig zuziehende Kinder an einer Schule mit Anmeldeüberhang unvereinbar ist mit dem Rechtsanspruch auf Ausschöpfung der gesetz- und verordnungsrechtlich bestimmten Aufnahmekapazität, der sich aus dem landesverfassungsrechtlichen Anspruch der abgelehnten Kinder und deren Eltern auf Zugang zum öffentlichen Bildungswesen unter zumutbaren Bedingungen ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 28. August 2018 ‑ 19 B 1153/18 ‑, juris, Rn. 13 m. w. N., und vom 29. Juli 2011 ‑ 19 B 718/11 ‑, juris, Rn. 7; VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. August 2021 ‑ 18 L 1384/21 ‑, juris, Rn. 26; VG Aachen, Urteil vom 18. Januar 2019 ‑ 9 K 2380/18 ‑, juris, Rn. 19; vgl. auch VG Arnsberg, Beschluss vom 8. April 2008 ‑ 10 L 173/08 ‑, juris, Rn. 26 ff</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Der Senat hat die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aus Billigkeit für nicht erstattungsfähig erklärt. Sie hat sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt, weil sie keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Die Bedeutung der Schulaufnahme für die Antragsteller, auf die es nach § 47, § 52 Abs. 1 GKG für die Streitwertfestsetzung ankommt, bestimmt der Senat in ständiger Ermessenspraxis in Anlehnung an Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 38.4 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Sonderbeilage Januar, S. 11) im vorläufigen Rechtsschutzverfahren mit der Hälfte des Auffangwerts nach § 52 Abs. 2 GKG, also 2.500,00 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 17. März 2022 ‑ 19 B 56/22 ‑, juris, Rn. 10 m. w. N., vom 27. Mai 2021 ‑ 19 E 428/21 ‑, NVwZ-RR 2021, 696, juris, Rn. 5, und vom 30. November 2016 - 19 B 1066/16 -, NWVBl. 2017, 122, juris, Rn. 47.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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346,357 | vg-dusseldorf-2022-08-25-4-l-176222 | {
"id": 842,
"name": "Verwaltungsgericht Düsseldorf",
"slug": "vg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 L 1762/22 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:34 | 2022-10-17T11:09:35 | Beschluss | ECLI:DE:VGD:2022:0825.4L1762.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Der Antrag wird abgelehnt.</strong></p>
<p><strong>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p>
<p><strong>Der Streitwert wird auf 15.000 Euro festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 17. August 2022 sinngemäß gestellte Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>1.</strong><span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Duldungsverfügung aufzuheben,</p>
</li>
<li><strong>2.</strong><span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage vom selben Tage ‑ 4 K 5794/22 ‑ gegen die Duldungsverfügung der Antragsgegnerin vom 12. August 2022 (Az. 00/00-XX-0000/00) wiederherzustellen und hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung anzuordnen,</p>
</li>
<li><strong>3.</strong><span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung der Duldungsverfügung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache anzuordnen,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">I. Der auf Aufhebung der Vollziehungsanordnung gerichtete Antrag zu 1. ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Duldungsverfügung ist mit einer formell ausreichenden Begründung im Sinne des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO versehen. Die Pflicht, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen, soll vorrangig die Behörde mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG zwingen, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzuges besonders sorgfältig zu prüfen. Daneben hat die Begründungspflicht den Zweck, den Betroffenen über die für die Behörde maßgeblichen Gründe ihrer Entscheidung zu informieren und in einem möglichen Rechtsschutzverfahren dem Gericht die Erwägungen zur Kenntnis zu bringen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 5. Januar 2012 – 4 B 1250/11 -, juris, Rn. 2.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Verweis der Antragsgegnerin auf die Dauer des Verfahrens, die fortgeführte Nutzung trotz Nutzungsuntersagung sowie auf die Umweltgefährdung durch die Nutzung der unversiegelten Fläche als Parkfläche lässt erkennen, dass sie den Ausnahmecharakter der Anordnung erkannt hat und gibt die für den Sofortvollzug ausschlaggebenden Gesichtspunkte ausreichend wieder. Auf die inhaltliche Richtigkeit der Begründung kommt es wegen der dem Gericht im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorbehaltenen Interessenabwägung nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">II. Der Antrag zu 2. ist ebenfalls unbegründet. Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Lasten der Antragstellerin aus. Im Falle der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit kann das Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherstellen beziehungsweise hinsichtlich der gesetzlich sofort vollziehbaren Zwangsmittelandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 112 JustG NRW) anordnen. Voraussetzung ist, dass das private Aussetzungsinteresse des Betroffenen das öffentliche Sofortvollzugsinteresse überwiegt. Dies ist nur der Fall, wenn der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und damit ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung nicht besteht oder wenn ansonsten das private Interesse des Antragstellers, vorerst von den Folgen einer Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bewahrt zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">1. Die Duldungsverfügung der Antragsgegnerin vom 12. August 2022, mit welcher der Antragstellerin als (Haupt-)Mieterin des Grundstücks U.------straße 00-000 aufgegeben wurde, die Umzäunung des Grundstücks und die Unterbindung der ungenehmigten Nutzung durch Sicherheitspersonal im Wege der Ersatzvornahme zu dulden, um die bestandskräftige Nutzungsuntersagung gegen die Q. Q1. GmbH, die Beigeladene zu 2., als Nutzerin des Grundstücks durchzusetzen, erweist sich bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">a) Soweit die Antragstellerin in formeller Hinsicht einen Anhörungsmangel geltend macht und insoweit ausführt, dass der vereinbarte Termin zur Akteneinsicht nicht habe wahrgenommen werden können, die Antragsgegnerin keinen neuen Termin vereinbart, sondern die Duldungsverfügung erlassen habe und im Wege der Zwangsvollstreckung vorgegangen sei, lässt sie außer Acht, dass die Antragsgegnerin mit ihrem Anhörungsschreiben vom 12. Juli 2022 – zugestellt am 19. Juli 2022 – eine Frist zur Stellungnahme bis zum 26. Juli 2022 gesetzt hatte und die Antragstellerin binnen dieser Frist am 26. Juli 2022 lediglich angezeigt hat, dass die Abgabe einer Stellungnahme beabsichtigt sei und um Akteneinsicht gebeten werde. Die Antragstellerin war nicht gehalten, diese angekündigte Stellungnahme abzuwarten, zumal die Antragstellerin Gründe, weshalb ihr eine fristgerechte Stellungnahme verwehrt wäre, nicht angeführt hat. Dessen ungeachtet wäre der Mangel auch nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW geheilt, da die Antragsgegnerin das Vorbringen aus der Antragsbegründung zur Kenntnis genommen und gewürdigt hat, wenngleich ohne Einfluss auf das Ergebnis.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b) In materieller Hinsicht ist die angegriffene Duldungsverfügung von § 58 Abs. 2 BauO NRW 2018 gedeckt. Danach haben die Bauaufsichtsbehörden u.a. bei der Nutzung und der Nutzungsänderung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden. Sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die Vorschrift ermächtigt die Behörde auch dazu, zur Überwindung von Vollstreckungshindernissen einer bauaufsichtlichen Verfügung eine Duldungsverfügung zu erlassen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 1994 - 4 B 129/94 - in BauR 94, 494, juris; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 8. Juli 2009 – 3 M 84/09 -, juris, Rn. 12; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Juni 1990 – 3 S 1036/90 – zitiert nach juris, Rn. 3 m.w.N; Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. März 1997 – 1 EO 232/96 –, juris, Rn. 53 m.w.N; a.A.: VG Würzburg, Urteil vom 8. Juli 2021 – W 5 K 19.818 –, juris Rn. 34 m.w.N., wonach die – im Falle von § 82 Satz 2 BauO NRW allerdings tatbestandlich mit der Generalklausel identische - Spezialermächtigung für eine Nutzungsuntersagung einschlägig ist.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Eine solche Maßnahme liegt hier vor. Mit dem Duldungsgebot wird ein Hindernis für die Vollstreckung von bauaufsichtlichen Ordnungsverfügungen, insbesondere Beseitigungs- oder Nutzungsuntersagungen im Sinne von § 82 BauO NRW, im Hinblick auf etwa entgegenstehende private Rechte Dritter beseitigt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">aa) In materieller Hinsicht setzt eine Duldungsverfügung zunächst eine gegen einen anderen gerichtete Verfügung voraus, aus der vollstreckt werden soll. Ob diese Verfügung ihrerseits rechtmäßig sein muss oder ob deren Wirksamkeit ausreicht, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zum Erfordernis der Rechtmäßigkeit auch im Falle der Bestandskraft, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Februar 2014 – 2 A 983/13 –, juris m.w.N.; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 8. Juli 2009 – 3 M 84/09 -, juris, Rn. 16 und VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Juni 1990 – 3 S 1036/90 – zitiert nach juris, Rn. 3 m.w.N; a.A. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. März 2012 – 1 CS 12.282 – juris, Rn. 13, wonach bei einer Duldungsanordnung gegen einen lediglich obligatorisch Berechtigten die Wirksamkeit der Verfügung ausreichen soll.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Frage kann vorliegend dahinstehen. Denn die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 13. Dezember 2019 in der Gestalt der Verfügung vom 17. Februar 2020, mit der der Beigeladenen zu 2. unter anderem aufgegeben wurde, das Grundstück U.------straße 00-000 nicht mehr als Park- und Abstellfläche für Fahrzeuge zu nutzen, zu vermieten oder zur Verfügung zu stellen, und deren Vollstreckung durchgesetzt werden soll, ist zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, auf den wegen des Charakters der Nutzungsuntersagung als Dauerverwaltungsakt abzustellen ist, rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die gegen diese Ordnungsverfügung gerichtete Klage mit rechtskräftigem Urteil vom 28. September 2020 – 4 K 1539/20 – abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist insoweit ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">„Die angefochtene Ordnungsverfügung vom 17. Februar 2020 findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 81 Abs. 1 und 82 Satz 2 Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen 2018 (BauO NRW). Danach kann die Bauaufsichtsbehörde die Einstellung der Arbeiten anordnen, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt werden und die Nutzung von Anlagen untersagen, wenn diese im Widerspruch zu öffentlichen-rechtlichen Vorschriften genutzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Nutzung der streitgegenständlichen Grundstücke als gewerbliche Parkplatzfläche ist vorliegend unstreitig baurechtlich nicht genehmigt. Gleiches gilt für etwaige Bauarbeiten.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die formell baurechtswidrige Nutzung begründet eine Störung und für die Zukunft eine konkrete Gefahr für das Rechtsgut der öffentlichen Sicherheit unter dem Gesichtspunkt der Integrität der Rechtsordnung. Dies rechtfertigt grundsätzlich ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Inanspruchnahme der Klägerin als Betreiberin ist rechtmäßig, weil ermessensfehlerfrei, zumal die Beklagte hier parallel gegen die Eigentümerin als Zustandsstörerin vorgegangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung begegnet auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit (§ 15 OBG NRW) mit Blick auf den – inzwischen dritten gestellten Bauantrag - keinen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Zwar kann die Stellung eines Bauantrags die Nutzungsuntersagung als unverhältnismäßig erscheinen lassen, wenn das Vorhaben nach Auffassung der Bauaufsichtsbehörde offensichtlich genehmigungsfähig ist und der Erteilung der Baugenehmigung auch sonst keine Hindernisse entgegenstehen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 18. Dezember 2013 - 7 B 1143/13 -, juris Rn. 10, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 10 B 684/13 -, n.v., und Beschluss vom 31. Oktober 2011 - 2 B 1091/11 -, juris Rn. 20, 22.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Eine offensichtliche Genehmigungsfähigkeit des dritten, bis dato erneut unvollständigen Bauantrages ist hier nicht gegeben, so dass offen bleiben kann, ob das wiederholte Einreichen nahezu identischer Bauanträge hier im Einzelfall rechtsmissbräuchlich ist .</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Gegen das ausgesprochene Verbot, neue Fahrzeuge auf dem Grundstück abstellen zu lassen, ist rechtlich nichts zu erinnern.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Schließlich konnte die Beklagte auch verlangen, alle auf dem Grundstück abgestellten Fahrzeuge bis spätestens 4 Wochen nach Zustellung des Bescheides zu entfernen. Dies ist der Klägerin auch möglich, da § 3 (1) Nr. 1.1 Satz 3 ihrer AGB ihr gestattet, Fahrzeuge ihrer Kunden auf nahe gelegene Parkgelände zu überführen und zu parken.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die gesetzten Fristen sind angemessen. Die Ordnungsverfügung ist nach alldem rechtmäßig“.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen mit der Maßgabe, dass Bedenken an der Rechtmäßigkeit nach wie vor nicht ersichtlich sind.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin mit ihrem Einwand, die Duldungsverfügung sei unverhältnismäßig, weil die Antragsgegnerin das Vorhaben „schlicht habe genehmigen können“, der Sache nach auch die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagung wegen offensichtlicher Genehmigungsfähigkeit des Bauantrages bestreitet, greift dieser Einwand nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Möglichkeit einer Genehmigung kann der Vollstreckung einer bestandskräftigen Ordnungsverfügung – wie bei der hier wegen formeller Illegalität ausgesprochenen Nutzungsuntersagung –</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">zur Nutzungsuntersagung wegen formeller Illegalität: OVG NRW, Beschluss vom 7. Juli 2022 – 10 B 638/22 – juris, Rn. 8 unter Verweis auf OVG NRW, Beschluss vom 19. Juli 2011 – 10 B 743/11 -, juris, Rn. 4,</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">allenfalls dann entgegenstehen, wenn der erforderliche Genehmigungsantrag gestellt und die Genehmigungsfähigkeit nach Ansicht der Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt – hier im Zeitpunkt der Vollstreckung - offensichtlich gegeben ist. Dies ist hier indes nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Insofern mag dahinstehen, ob die Baugenehmigung für die Beigeladene zu 2. aufgrund der durch die Beigeladene zu 1. als Eigentümerin erklärten Kündigung des (Haupt-) Mietverhältnisses, welche der Antragstellerin am 11. November 2021 zugestellt wurde und die derzeit Gegenstand einer Räumungsklage vor dem Landgericht X. - 00 O 00/00 - ist, überhaupt noch ausnutzbar ist und deshalb die Baugenehmigung wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses zu versagen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Denn die derzeitige formell illegale Nutzung ist nicht offensichtlich materiell genehmigungsfähig. Vielmehr bestehen aus der insoweit maßgeblichen Sicht der Behörde</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 7. Juli 2022 – 10 B 638/22 – juris, Rn. 10 unter Verweis auf OVG NRW, Beschluss vom 14. Februar 2014 – 2 A 1181/13 -, juris, Rn. 11 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">auch erhebliche materiellrechtliche Bedenken an einer Genehmigungsfähigkeit der Stellplatznutzung. Insoweit wird auf die Stellungnahme des Umweltamtes vom 9. August 2022 Bezug genommen, wonach das Grundstück über keine ordnungsgemäße Niederschlagsentwässerung verfügt, das anfallende Niederschlagswasser als stark belastet anzusehen ist und die zum Bauantrag vorgelegten Unterlagen nicht den Vorgesprächen entsprechen und weitere Angaben erforderlich sind, ferner auf die Stellungnahme des Stadtplanungsamtes vom 11. August 2022, wonach das Vorhaben auch gegen Bauplanungsrecht verstößt, sowie auf die Stellungnahme des Garten-, Friedhofs- und Forstamtes vom 17. August 2022, wonach das Vorhaben den Begrünungsfestsetzungen des zwischenzeitlich in Kraft getretenen Bebauungsplans widerspricht und die nach der Baumschutzsatzung erforderlichen Abstände missachtet.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Eine (abschließende) Prüfung der Genehmigungsfähigkeit, die auch nach dem jüngsten Schriftsatz der Antragstellerin vom 24. August 2022 aus Behördensicht nicht vorliegt, muss daher dem auf Erteilung der Baugenehmigung gerichteten anhängigen Klageverfahren 4 K 1821/21 vorbehalten bleiben, in dem die Antragsgegnerin unter dem 19. August 2022 Stellung genommen und auf die vorerwähnten Stellungnahmen Bezug genommen hat. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die tatsächliche Nutzung im Zeitpunkt der Ersatzvornahme (ca. 3.800 Fahrzeuge) auch das Maß der zur Genehmigung gestellten Parkplatznutzung (1.177 Fahrzeuge) weit überschreitet. Eine Ausnahme von dem Grundsatz, wonach die formelle Illegalität der aufgenommenen Nutzung deren Untersagung rechtfertigt, scheidet daher im vorliegenden Verfahren aus. Anderenfalls würde der gesetzestreue Bürger, der eine genehmigungspflichtige Nutzung nur auf der Grundlage einer Baugenehmigung aufnimmt, gegenüber dem rechtswidrig Handelnden ungerechtfertigt benachteiligt.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Juli 2022 – 10 B 638/22 – juris, Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Nutzungsuntersagungsverfügung hat sich nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Überprüfung auch nicht durch einen zwischenzeitlichen Wechsel der Untermieterin erledigt.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Entgegen den Behauptungen der Antragstellerin kann von einem Wegfall des Untermietverhältnisses nicht ausgegangen werden. Denn eine Kündigung oder sonstige Beendigung des Mietverhältnisses zwischen der Antragstellerin als Hauptmieterin mit der Beigeladenen zu 2. als Untermieterin ist vorliegend nicht dargelegt. Gegen eine solche Beendigung des Mietverhältnisses spricht zudem, dass die Beigeladene zu 2. als Untermieterin das Verfahren 4 K 1821/22 auf Erteilung einer Baugenehmigung (nach wie vor) betreibt und dort nachdrücklich auf ihre Stellung als Untermieterin verweist. So führt sie in der Klagebegründung vom 13. Dezember 2021 in dem vorgenannten Verfahren aus:</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">„Die Klägerin ist Komplementärin der U.------straße Vermietungskommanditgesellschaft mbH & Co. KG und hat von dieser das streitgegenständliche Grundstück in Untermiete angemietet. Dass sie hier Untermieterin ist, hat aber keine negative Auswirkung auf die Erteilung der Baugenehmigung“, Bl. 34 GA zu 4 K 1821/22.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Im Schriftsatz an das Landgericht vom 9. Mai 2022 zu dem Verfahren 00 O 00/00 gegen die Beigeladene zu 1. führt sie aus:</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">„Sie kann daher ihr Besitzrecht als Untermieterin aus dem Besitzrecht der [U.------straße Vermietungskommanditgesellschaft mbH & Co. KG] gem. dem Mietervertrag vom 21.07.2020 ableiten“ (S. 5 des Schriftsatzes, Bl. 237 GA 4 K 1821/22).</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Weiter heißt es auf Seite 7 des Schriftsatzes:</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">„Die [U.------straße Vermietungskommanditgesellschaft mbH & Co. KG] ist eine Vermietungs-Verwaltungs-GmbH. Das operative Geschäft wird von der [Q. Q1. GmbH] geführt. […] Die [Q. Q1. GmbH] betreibt hier in der Nähe des Flughafens X. einen Park - und Shuttle-Service. Ihr Angebot richtet sich in erster Linie an Kunden, die auf Grund einer Flugreise einen gesicherten Stellplatz für ihr Pkw in der Nähe des Flughafens suchen, aber nicht unbedingt die dort verlangen hohen Stellkosten bezahlen möchten.“</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Diesen Schriftsatz hat sie noch am 22. Juni 2022 im Verfahren 4 K 1821/21 dem erkennenden Gericht vorgelegt.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Dies alles wäre sinnentleert, wenn das Untermietverhältnis tatsächlich bereits mit dem Abschluss des Untermietvertrages mit der T. GmbH am 15. September 2021 sowie der angeblichen eigenen Betriebsaufgabe und Betriebsaufnahme durch die T. GmbH beendet worden wäre. Vor diesem Hintergrund ist auch der zuletzt unter dem 24. August 2022 vorgebrachte Einwand, der Bauantrag sei „zu keiner Zeit von der Q2. GmbH als Untermieterin der Klägerin“ gestellt worden, nicht ansatzweise nachvollziehbar. Stattdessen hat die Beigeladene zu 2. die Antragsgegnerin noch am 7. Juli 2022 um Stundung offener Forderungen ersucht, was im Falle einer vorherigen Betriebsaufgabe ebenfalls nicht nachvollziehbar wäre. Außerdem wurde nach Aktenlage von der Antragsgegnerin noch am 11. August 2022 die unveränderte Betriebsfortführung durch die „Q3. Q4. “ ermittelt und bis zuletzt noch am 16. August 2022 Arbeiter vor Ort bei der Abfertigung des gewerblichen Parkservice angetroffen, die auf Nachfrage angaben, für die Q. Q1. GmbH tätig zu sein. Letzteres wird durch das schlichte Bestreiten im vorliegenden Verfahren nicht durchgreifend in Frage gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auch hat die Beigeladene zu 2. auf die Anhörung vom 3. Februar 2022 und auf die Androhung der Ersatzvornahme keinerlei Mitteilung über einen Wechsel des Nutzers gemacht. Gleiches gilt für die Antragstellerin. Schließlich hat auch die Beigeladene zu 1. in ihrer Stellungnahme vom 24. August 2022 erklärt, dass ihr die T. GmbH nicht bekannt sei und sie keine Kenntnis von einem angeblichen Untermietverhältnis habe, obwohl nach § 15 Abs. 1 Satz 1 des Hauptmietvertrages vom 12. Juli 2019 der Mieter ohne vorherige Zustimmung des Vermieters nicht berechtigt ist, den Gebrauch der Mietsache – ganz oder teilweise – einem Dritten zu überlassen, insbesondere das Mietobjekt weiterzuvermieten. Rechtstreues Verhalten der Antragstellerin unterstellt hätte die Beigeladene zu 1. dem Abschluss eines (neuen) Untermietvertrages vorher zustimmen und damit Kenntnis vom Untermietvertrag haben müssen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Dass die Beigeladene zu 2. ausweislich des Gewerberegisters zum 1. Juni 2022 – und nicht schon zur behaupteten Betriebseinstellung und Betriebsaufnahme durch die T. GmbH am 15. September 2021 – ihren Betrieb abgemeldet hat, ist mit Blick auf die nach obigen Ausführungen jedenfalls fortgesetzte faktische Betriebsfortführung durch die Q. Q1. GmbH unerheblich.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">In Anbetracht dieser Umstände sprechen nach derzeitigem Sachstand gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die behauptete Aufgabe der Nutzung durch die Beigeladene zu 2. lediglich vorgeschoben ist. Ungeachtet dessen stellt dies selbst dann, wenn der T. GmbH, die ihrerseits Adressatin einer Duldungsverfügung vom 24. August 2022 ist, tatsächlich die Eigenschaft einer faktischen (Mit-)Betreiberin zukommen sollte, einen Umstand dar, auf den sich die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren nach Treu und Glauben wegen unzulässiger Rechtsausübung nicht berufen kann, weil die Aufnahme des Parkplatzbetriebes durch die T. GmbH erstmals anlässlich der Durchführung der gegen die Beigeladenen zu 2. gerichteten Ersatzvornahme geltend gemacht wurde und damit allem Anschein nach einer missbräuchlichen und daher rechtlich nicht schutzwürdigen Umgehung der Ordnungspflicht dient.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dem aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) abgeleiteten, auch im öffentlichen Prozessrecht geltenden Verbot unzulässiger Rechtsausübung BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2002 – 2 BvR 957/99 –, juris Rn. 2; BVerwG, Urteil vom 18. Januar 2001 – 3 C 7.00 –, juris Rn. 28; Hess.VGH, Beschluss vom 4. Januar 1994 – 4 N 1793/93 –, juris Rn. 39.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die sich in dem Zusammenhang weiterhin stellende Frage, ob die T. GmbH zugleich gemäß § 58 Abs. 3 BauO NRW als Rechtsnachfolgerin der Beigeladenen zu 2. anzusehen ist, weil sie – ungeachtet eines zivilrechtlichen Nachfolgetatbestandes – als Inhaberin der tatsächlichen Gewalt in deren dinglich begründete bauordnungsrechtliche Position eintritt,</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">bejahend: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Mai 2019 – OVG 2 S 19.19 –, juris („neuer Mieter als Rechtsnachfolger“); OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 1. März 2017 – 2 L 31/15 –, juris; Hess.VGH, Beschluss vom 1. Dezember 2014 – 3 B 1633/14 –, juris; VG Cottbus, Beschluss vom 13. Oktober 2016 – 3 L 244/16 –, juris; verneinend etwa Thür. OVG, Beschluss vom 20. Dezember 2013 – 1 EO 312/13 –, juris,</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">bedarf damit vorliegend keiner abschließenden Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">bb) Weiter setzt eine Duldungsverfügung voraus, dass sie erforderlich ist, insbesondere weil die Vollstreckung wegen des fehlenden Einverständnisses des Duldungsverpflichteten nicht durchgesetzt werden kann, der zur Duldung verpflichtete Dritte gleichfalls Störer ist und die Behörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 9. Juli 1992 – 10 A 1478/89 –, juris; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 8. Juli 2009 – 3 M 84/09 -, juris, Rn. 16; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Juni 1990 – 3 S 1036/90 – juris, Rn. 3 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen vor.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Ohne die Duldungsverfügung gegen die Antragstellerin als Hauptmieterin, die an dem gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung vom 17. Februar 2020 von der Beigeladenen zu 2. betriebenen Klageverfahren 4 K 1539/20 prozessual nicht beteiligt war, wäre die gegen die Beigeladene zu 2. als Untermieterin mit Bescheid vom 12. August 2022 festgesetzte und nunmehr durchgeführte Ersatzvornahme nicht durchsetzbar.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die zwischenzeitlich durch die Beigeladene zu 1. als Eigentümerin ausgesprochene Kündigung des am 21. Juli 2020 mit der Antragstellerin geschlossenen (Haupt-) Mietvertrages führt zu keiner anderen Bewertung. Zwar wäre ein Besitz- bzw. Nutzungsrecht der Antragstellerin, welches durch die Ersatzvornahme potenziell verletzt werden könnte, im Falle der Wirksamkeit der Kündigung bereits vorher entfallen. Die Wirksamkeit der Kündigung ist indes Gegenstand eines vor dem Landgericht X. – 00 O 00/00 – anhängig zivilgerichtlichen Verfahrens und steht damit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht fest.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Das Einverständnis der Antragstellerin zu der das Mietobjekt betreffenden Vollstreckungsmaßnahme ist demnach erforderlich und liegt – anders als das mit Schreiben vom 2. August 2022 erklärte Einverständnis der Beigeladenen zu 1. – nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Gegen die Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme gegen die Beigeladene zu 2. ist ebenfalls rechtlich nichts zu erinnern. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird entsprechend § 117 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf die diesbezüglichen – zutreffenden – Ausführungen in der Antragserwiderung vom 18. August 2022 zu 4. bb) (S. 16 - 19), denen die Antragstellerin nicht entgegen getreten ist, Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist als Hauptmieterin des Grundstücks Zustandsstörerin gemäß § 18 Abs. 2 OBG NRW und als Vermieterin an ihre Komplementärin zugleich Handlungsstörerin im Sinne von § 17 Abs. 2 OBG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 10 A 2783/20 –, juris, zur doppelten Ordnungspflicht des Hauptmieters als Zustands- und Handlungstörer.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Ermessensausübung ist ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin einen Ermessensfehler damit begründet, die Antragsgegnerin habe sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen, weil sie die zu vollstreckende Nutzungsuntersagung nur durch willkürliche Verzögerung der Bescheidung des von der Beigeladenen zu 2. gestellten Bauantrages habe aufrechterhalten können, geht dies schon deshalb im Ansatz fehl, weil es der Beigeladenen zu 2. oblag, vor Aufnahme der Parkplatznutzung deren Legalisierung abzuwarten und durch entsprechend rechtstreues Verhalten den Erlass der Nutzungsuntersagung zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Auch der Einwand, die Duldungsverfügung sei unverhältnismäßig, weil die Antragsgegnerin das Vorhaben schlicht habe genehmigen oder zumindest bis zum Abschluss des auf die Erteilung der Genehmigung gerichteten gerichtlichen Verfahrens 4 K 1821/21 habe dulden können, greift nicht durch. Denn die Möglichkeit einer Genehmigung kann der Vollstreckung einer bestandskräftigen Ordnungsverfügung – wie bei der hier wegen formeller Illegalität ausgesprochenen Nutzungsuntersagung – allenfalls dann entgegenstehen, wenn der erforderliche Genehmigungsantrag gestellt und die Genehmigungsfähigkeit nach Ansicht der Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt – hier im Zeitpunkt der Vollstreckung - offensichtlich gegeben ist. Dies ist hier wie vorstehend dargelegt nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin die Erforderlichkeit der Duldungsverfügung mit der Begründung verneint, die Antragsgegnerin habe stattdessen gegen die Antragstellerin im Wege der Ordnungsverfügung als milderes Mittel vorgehen müssen, geht der Einwand schon deshalb ins Leere, weil eine entsprechende Ordnungsverfügung vorliegt. Die an die Antragstellerin adressierte, über die Beigeladene zu 2. als Komplementärin der Antragstellerin wirksam zugestellte Ordnungsverfügung vom 5. März 2020 (Bl. 199 ff, 202 BA 8 zu 4 K 5794/22) ist auch bestandskräftig.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Es ist auch nicht ermessensfehlerhaft, dass die Antragsgegnerin die Vollstreckung aus der gegen die Beigeladene zu 2. erlassenen Ordnungsverfügung betreibt und gegen die Antragstellerin im Wege der Duldungsverfügung vorgeht und nicht (unmittelbar) aus der gegen die Antragstellerin ergangenen Ordnungsverfügung vom 5. März 2020 gegen diese vollstreckt. Ein Vorgehen gegen die Beigeladene zu 2. als die von der Antragsgegnerin – wie ausgeführt – umfangreich ermittelte Betreiberin des operativen Stellplatzgeschäfts und Inhaberin der tatsächlichen Gewalt i.S.d. § 18 Abs. 2 OBG NRW lässt Ermessensfehler unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Gefahrenabwehr nicht erkennen. Im Übrigen hätte es auch im Falle einer gegen die Antragstellerin gerichteten Vollstreckung einer weiteren Duldungsverfügung gegen einen Dritten bedurft.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Interessenabwägung im Übrigen fällt zu Lasten der Antragstellerin aus. In aller Regel begründet bereits die formelle Illegalität der fraglichen Nutzung ein erhebliches öffentliches Interesse an deren sofortiger Verhinderung. Anderenfalls würde nämlich der Vorteil, nicht zugelassene Nutzungen bis zum Eintritt der Bestandskraft einer sie untersagenden Ordnungsverfügung wegen der aufschiebenden Wirkung der dagegen gerichteten Klage aufnehmen und fortführen zu können, einen erheblichen Anreiz bieten, dies auch tatsächlich zu tun. Auf diese Weise würde nicht nur die Ordnungsfunktion des Bauaufsichtsrechts entwertet, sondern auch der gesetzestreue Bürger, der die Aufnahme einer bislang nicht genehmigten baulichen Nutzung nur auf der Grundlage einer vollziehbaren Baugenehmigung verwirklicht, gegenüber dem – bewusst oder unbewusst – rechtswidrig Handelnden in bedenklicher, das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit erschütternder Weise bevorzugt.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Januar 2006 – 10 B 2159/05 –, juris Rn. 7 m.w.N. und vom 2. Februar 2012 – 2 B 1525/11 –, juris Rn. 42 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus gehen von den nunmehr über 3.000 Fahrzeugen, die auf unbefestigtem und nicht gegen Auslaufen von Betriebsstoffen gesicherten Grund stehen, erhebliche Umweltgefahren aus, die ohne weiteres ein öffentliches Interesse an der zwangsweisen Durchsetzung der Nutzungsuntersagung begründen. Die durch eine weitere Nutzung fortbestehende Gefahr für die Umwelt wird durch eine etwaige in der Vergangenheit liegende Parkplatznutzung/Kontamination nicht in Frage gestellt. Die gegenläufigen wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin vermögen dies nicht aufzuwiegen, zumal der rechtswidrige Zustand bereits erhebliche Zeit andauert und eine Substanzverletzung mit der Umzäunung des Grundstücks nicht einhergeht.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">2. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der mit der Duldungsverfügung verbundenen Zwangsgeldandrohung scheidet ebenfalls aus.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Zwangsgeldandrohung ist offensichtlich rechtmäßig. Sie beruht auf §§ 55 Abs. 1, 57, 60 und 63 VwVG NRW. Soweit vorgetragen wird, die Höhe des Zwangsgeldes orientiere sich an der Grundstücksfläche, wenngleich die Antragstellerin nicht Betreiberin der Parkfläche sondern lediglich Hauptmieterin sei, greift dies nicht durch. Denn die Größe der Fläche bietet auch einen Anhalt für die Höhe der der Antragstellerin zukommenden Mieteinnahmen.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">III. Der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gestellte Annexantrag auf vorläufige Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung der Duldungsverfügung war aus den vorstehend unter II. dargelegte Gründen ebenfalls abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 14. a) und in Anlehnung an Ziff. 13. a) des Streitwertkatalogs der Bausenate des OVG NRW 2019. Bei der streitgegenständlichen Duldungsverfügung handelt es sich um eine Maßnahme zur Durchsetzung der Vollstreckung. Ausgehend von einem angedrohten Zwangsgeld in Höhe von 200 Euro pro Fahrzeug und etwa 3.000 Fahrzeugen erscheint für die Duldungsverfügung die Hälfte des sich ergebenden Betrages sachgerecht. Wegen der Vorläufigkeit war dieser Betrag noch einmal zu halbieren.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst einfach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst einfach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
|
346,356 | vg-koln-2022-08-25-5-kammer | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 5. Kammer | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:34 | 2022-10-17T11:09:35 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0825.5KAMMER.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1.</p>
<p>Das in der Hauptsache erledigte Verfahren wird eingestellt.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte und die Beigeladene zu gleichen Teilen mit Ausnahme ihrer außergerichtlichen Kosten, die sie selber tragen.</p>
<p>2.</p>
<p>Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist indischer Staatsangehöriger. Er begehrte nach erfolgreichem Masterabschluss im Bundesgebiet im Fach Sportmanagement die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18 b Abs. 1 AufenthG.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 06.08.2021 legte der Kläger der Beklagten einen Arbeitsvertrag mit der S. GmbH aus C. C1. vor. In der Erklärung des Arbeitgebers zum Beschäftigungsverhältnis auf dem Vordruck der Beigeladenen ist die Arbeitnehmertätigkeit als „Sports Beratung zwischen Deutschland & Indien“ bezeichnet, bei einer 40-zigstündigen Arbeitsstundenzahl zu einem monatlichen Bruttoentgelt von 2000,- €. Als Qualifikation des Arbeitnehmer wurde unter der Ziffer 7. im Formblatt „kein Abschluss“ und unter Sonstiges (Ziffer 7.4) als für die Ausübung der Beschäftigung einschlägige Kenntnisse, Fertigkeiten, Berufserfahrung vermerkt: MBA & MA in International Sports and Event Management eingetragen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag lag der Arbeitsvertrag vom 30.06.2021 bei, darin wurde das Aufgabengebiet der Beschäftigung wie folgt beschrieben: „Der Arbeitnehmer wird als IT-Kraft eingestellt. Zu den wesentlichen Tätigkeiten des Arbeitnehmers zählen die technische und inhaltliche Betreuung der Website des Arbeitgebers mit besonderem Fokus auf das Online-Marketing sowie die Betreuung des Sports Managements.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Email vom 30.08.2021 wurde der Beschäftigung mangels Einhaltung der tariflichen bzw. ortsüblichen Bedingungen für vergleichbare Tätigkeiten von der Bundesagentur für Arbeit abgelehnt. Diese betrügen mindestens 3.400,00 € im Monat.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte teilte dem Kläger per Email die Entscheidung mit folgendem Zusatz mit: <em>“Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit und kann hieran nichts ändern. Sie müssen die Entscheidung so akzeptieren und können mir einen geänderten Arbeitsvertrag gerne zur Prüfung übersenden.“</em></p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach weiterem Emailaustausch, der im Wesentlichen aus Nachfragen des Klägers bei der Beklagten über die Höhe eines angemessenen Gehalts bestanden, übersandte der Kläger unter dem 08.10.2021 einen Arbeitsvertrag über die Vollzeitbeschäftigung als Sports Management Berater zu einem Gehalt von 3.400,- € bei demselben Arbeitgeber. In der Beschreibung des Aufgabengebiets heißt es: Zu den wesentlichen Tätigkeiten zählen die technische inhaltliche Betreuung des Sport Managements zwischen Deutschland und Indien.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Unter dem 15.10.2021 wurde die Zustimmung durch die Beigeladene erneut verweigert mit dem Zusatz: Laut vorliegender Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis ist der Antragsteller keine akademische Fachkraft, da er keinen Abschluss besitzt. Bei einer erneuten Anfrage bitten wir Nachweise beizufügen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ob diese Entscheidung dem Kläger mitgeteilt wurde, lässt sich den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen, denn unter dem 18.10.2021 wurde dem Kläger vom Sachbearbeiter der Beklagten mitgeteilt, dass keine Entscheidung der Bundesagentur vorläge.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unter dem 12.11.2021 ist in den Verwaltungsvorgängen eine weitere Ablehnung der Beigeladenen eines Zustimmungsantrags vom 12.11.2021 abgeheftet, dieses Mal mit der Begründung: Laut zuständigem Arbeitgeberservice hat der Arbeitgeber die für die Arbeitsmarktliche Stellungnahme erforderlichen Informationen (Betriebsnummer) nicht eingereicht.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diese Ablehnung wurde dem Kläger unter dem 15.11.2021 per Email mitgeteilt. Eine Begründung wurde nicht gegeben. Zusätzlich wurde in der Email ausgeführt: <em>Wir haben keinen Einfluss auf Entscheidungen von Agentur für Arbeit. Wenn Sie und Ihr Arbeitgeber Fragen zu dieser Entscheidung haben, kontaktieren Sie Agentur für Arbeit Köln, Herr K. ..</em></p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Unter dem 18.11.2021 wurde der Kläger zur bevorstehenden Ablehnung seines Antrages auf Erteilung bzw. Verlängerung seines Aufenthalts abzulehnen, angehört.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Kläger meldete sich daraufhin per Email in englischer Sprache und erklärte, dass er vergeblich versucht habe, Herrn K. . in L. zu kontaktieren. Er äußerte sich sehr besorgt über seinen Aufenthalt, da er zur Zeit keine Papiere habe, die einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet nachwiesen. Er äußerte ferner seine Enttäuschung über die erneute Ablehnung, da er schon viel Mühe, Zeit und Geld in die Bewerbung gesteckt habe. Er äußerte Verständnis gegenüber der Beklagten, dass die Entscheidung nicht von ihr beeinflusst werden könne, aber er bat um eine 3-Monatige Verlängerung, um Herrn K. . zu kontaktieren oder einen anderen Job zu finden.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Unter dem 29.11.2021 reichte er einen in deutscher Sprache abgefassten schriftlichen Antrag auf Fristverlängerung von 2 Wochen ein, um zwischenzeitlich die Unstimmigkeiten mit der Agentur für Arbeit zu beheben.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Fristverlängerung wurde per Email gewährt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Daraufhin teilte der Kläger der Beklagten in englischer Sprache mit, dass er das Rote Kreuz in der Angelegenheit eingeschaltet habe und dieses meinte, es läge nur ein Kommunikationsproblem zwischen dem zukünftigen Arbeitgeber und der Beigeladenen vor. Sein zukünftiger Arbeitgeber werde die Arbeitsagentur kontaktieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Am 01.12.2021 teilte der Kläger mit, dass es seinem zukünftigen Arbeitgeber gelungen sei, mit der Beigeladenen Kontakt aufzunehmen und das Problem fehlender Unterlagen wohl gelöst sei.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Unter dem 02.12.2021 forderte die Beklagte den Kläger auf, erneut den vollständigen Arbeitsvertrag und die Erklärung des Arbeitgebers zum Beschäftigungsverhältnis zu übersenden, da die Beklagte eine erneute Anfrage bei der Agentur für Arbeit stellen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auf weitere Nachfrage des Klägers konkretisierte die Beklagte, dass auch die alte Arbeitgebererklärung eingereicht werden könne.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Unter dem 06.12.2021 erhielt der Kläger eine einmonatige Verlängerung seiner Fiktionsbescheinigung.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Arbeitgeber reichte eine am 28.12.2021 unterzeichnete Arbeitgebererklärung ein, die inhaltlich identisch mit der unter dem 06.08.2021 eingereichten ist nur das monatliche Gehalt wurde auf 3.400,- € erhöht. Der beiliegende Arbeitsvertrag vom 28.12.2021 bezeichnet die Tätigkeit als Sports Business Consultant. Als wesentliche Tätigkeit des Arbeitnehmers wurde „Sportpartnerschaft zwischen Indien und Europa in Fußball, Esports und Hockey“ aufgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Am 24.02.2022 wurde die laut Ausdruck am 24.02.2022 eingereichte Anfrage mit der Begründung abgelehnt, dass die am 02.02.2022 schriftlich vom Arbeitgeber angeforderte Unterlage (vollständige Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis) nicht bis zum 16.02.2022 eingereicht worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ohne weitere Anhörung erließ die Beklagte unter dem 03.03.2022, zugestellt per Postzustellungsurkunde am 08.03.23022, den mit dem vorliegenden Verfahren angegriffenen Bescheid, mit dem die Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger abgelehnt wurde, er aufgefordert wurde, das Bundesgebiet zu verlassen und ihm die Abschiebung in die Republik Indien angedroht wurde.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Unter dem 25.03.2022 hat der Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Regelung der Vollziehung – 5 L 494/22 – gestellt. Mit Beschluss vom 28.07.2022 wurde die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 03.03.2022 angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Er trägt im Wesentlichen vor, dass die Ablehnung der Zustimmung zum Arbeitsvertrag vom 28.12.2022 rechtswidrig sei.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Er hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verpflichten, unter Aufhebung der Ordnungsverfügung zur Durchführung des Aufenthaltsgesetzes vom 03.03.2022 über den Antrag des Klägers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in Form einer Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist dem entgegengetreten.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Am 25.04.2022 hat die Beklagte den Pass des Klägers eingezogen. Mit Schriftsatz vom 17.08.2022 erklärte sie sich bereit, dem Kläger nach Zustimmung der Bundesaget zur Beschäftigung Sports Business Consultant bei der Firma S. zu erteilen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren ist daraufhin von den Beteiligten für erledigt erklärt worden. Es ist wechselseitiger Kostenantrag gestellt worden. Der Hintergrund der Erledigung war folgender:</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Im Juni 2022 ist außergerichtlich durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers eine erneute Anfrage an die Beigeladene gestellt worden. Mit Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis vom 17.06.2022 wurde die Beschäftigung als unbefristeter Arbeitsvertrag zu einem monatlichen Bruttogehalt von 3.400,- € als IT- Mitarbeiter mit Tätigungsbeschreibung technische u. inhaltliche Betreuung der Webseite, Online-Marketing, Betreuung des Sport-Manager beschrieben. Weiterhin wurde die Qualifikation des Arbeitnehmers als „kein Abschluss“ angegeben und unter „Sonstiges“ die beiden akademischen Abschlüsse des Klägers MBA Sport Management Madrid und MA in International Sports and Event Management der University of Applied Sciences Berlin aufgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die erneuter Ablehnung der Beigeladenen mit der Begründung „Der vorhandene Hochschulabschluss befähigt nicht zur Ausübung der beabsichtigten Tätigkeit“ wurde dem Prozessbevollmächtigten unter dem 15.07.2022 mitgeteilt und unter dem 19.07.2022 in das hiesige Verfahren eingeführt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 29.07.2022 ist die Agentur für Arbeit, Zentrale Auslands- und Fachvermittlung Bonn beigeladen worden.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Sie hat die Ablehnung vom 14.07.2022 mit der Begründung „mangelnde Befähigung“ damit erklärt, dass der Arbeitgeber-Service der Agentur für Arbeit Koblenz-Mayen nach Rückfrage bestätigt habe, dass keine Befähigung vorliege. Es lägen unterschiedliche Arbeitsverträge mit unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen vor, diese Unplausibilität sei auch nach Anforderung der Unterlagen durch den zuständigen Arbeitgeber-Service nicht aufgehoben. Die ausgeübte Tätigkeit entspreche nicht dem Studienprofil. Die Beigeladene habe nun eine neue Zustimmungsanfrage mit der Tätigkeit Sport Business Consultant veranlasst.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Unter dem 15.08.2022 erklärte sie, dass unter der Tätigkeit „Sport Business Consultant“ die Tätigkeit dem Hochschulabschluss entspräche. Sobald eine neue Zustimmungsanfrage seitens der Ausländerbehörde erfolge, könne die Zustimmung erteilt werden.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dem daraufhin erneut gestellten Antrag wurde seitens der Beigeladenen am 17.08.2022 zugestimmt und in der Folge dieses Verfahren für erledigt erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 18.08.2022 erklärte die Beigeladene, dass mit Zustimmung zur Beschäftigung nach § 39 AufenthG i.V.m. § 18b Abs. 1 AufenthG das Verwaltungsinternum der Beigeladenen seine Beendigung finde. Sie regte an, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist das übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärte Verfahren einzustellen. Unter den gegebenen Umständen entspricht es billigem Ermessen i.S.v. § 161 Abs. 2 VwGO, die Kosten der Beklagten zur Hälfte aufzuerlegen. Das Gericht verkennt nicht, dass die Beklagte den Kläger ohne Verzögerung klaglos gestellt hat, als die Zustimmung der Beigeladenen vorlag. Allerdings hat sie dem Kläger zuvor mehrfach per Email unzutreffende Hinweise bzw. Belehrungen hinsichtlich der Unmöglichkeit, sich gegen die Entscheidung der Beigeladenen wehren zu können, erteilt. Diese Hinweise waren nicht nur rechtlich falsch, sie waren auch geeignet, bei dem nicht rechtkundigen Kläger grundlegende Fehlvorstellungen über das deutsche Verwaltungsverfahren hervorzurufen, insbesondere, dass Entscheidungen der Verwaltung einfach hinzunehmen seien.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die stattdessen naheliegenden Hinweise, die sich aus dem konkreten Zustimmungsersuchen ergaben, etwa hinsichtlich der unzutreffenden Angaben zum akademischen Abschluss des Klägers (ohne Abschluss) bzw. unterschiedlichen Arbeitsbeschreibungen, hat die Beklagte dem Kläger nicht erteilt.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Es wäre aber unbillig, der Beklagten die Kosten vollständig aufzuerlegen, denn die Beigeladene hat nach Auffassung der Berichterstatterin durch ihre mangelhafte Kommunikation mit der Beklagten und dem Kläger den Rechtsstreit zurechenbar verursacht.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Einer Beigeladenen, die keinen Sachantrag gestellt hat, können Kosten nur nach Maßgabe des § 155 Abs. 4 VwGO auferlegt werden, vgl. § 153 Abs. 3 Satz 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">§ 155 Abs. 4 VwGO ist damit die Regel zu entnehmen, dass Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, der sie durch sein Verschulden verursacht hat, und diese der grundsätzlich fehlenden Kostentragungspflicht bei fehlendem Sachantrag vorgeht.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dabei ist Verschulden nicht nach § 276 BGB zu bestimmen, sondern so wie in § 60 VwGO. Der Begriff des Verschuldens in § 60 bezieht sich auf eine Obliegenheitsverletzung,</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Eyermann/Hoppe, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 2022 § 60 Rn. 9</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18 b Abs. 1 AufenthG als Fachkraft mit akademischer Ausbildung. Nach § 39 Abs. 2 AufenthG unterliegt die Erlaubnis der Beschäftigung der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Vorschrift kann die Bundesagentur für Arbeit der Ausübung einer Beschäftigung durch eine Fachkraft gemäß den §§ 18a oder 18b zustimmen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">1. sie nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer beschäftigt wird,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">2. sie</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">a) gemäß § 18a oder § 18b Absatz 1 eine Beschäftigung als Fachkraft ausüben wird, zu der ihre Qualifikation sie befähigt, oder</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">b) gemäß § 18b Absatz 2 Satz 2 eine ihrer Qualifikation angemessene Beschäftigung ausüben wird,</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">3. ein inländisches Beschäftigungsverhältnis vorliegt und,</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">4. sofern die Beschäftigungsverordnung nähere Voraussetzungen in Bezug auf die Ausübung der Beschäftigung vorsieht, diese vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Das hier im konkreten Fall geführte Verfahren der Zustimmung zu einer Beschäftigung entspricht nicht den Vorgaben des § 25 Verwaltungsverfahrensgesetz Bund oder NRW hinsichtlich der Beratungs- und Auskunftspflicht der Behörden. Das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes dürfte auf die Tätigkeit der Beigeladenen im Rahmen des § 39 AufenthG anzuwenden sein, da § 1 SGB X eine solche Tätigkeit nicht umfasst.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Kommunikation der Beigeladenen und der Beklagten mit dem Kläger war unzureichend. Nach Aktenlage der Beklagten sind dem Kläger nicht alle Informationen der Beigeladenen zugegangen. Der Umstand, dass Nachfragen der Beigeladenen an den zukünftigen Arbeitgeber dem Kläger nicht kommuniziert wurden, hier die fehlende Betriebsnummer des Arbeitgebers, hat dazu geführt, dass der Kläger nicht selbst reagieren konnte. Er hätte beim Arbeitgeber selbst nach der Betriebsnummer fragen können. Der Kläger hat sich in mustergültiger Weise nach Möglichkeiten erkundigt, was er tun könnte, um das Arbeitsangebot zustimmungsfähig zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der vorliegende Fall ist dadurch geprägt, dass der Kläger zu einem bloßen Objekt einer staatlichen Verwaltung geworden ist, die in einem von Außenkontakten abgeschotteten Raum nicht weiter begründete Entscheidungen trifft. Die gegebenen Kurzbegründungen bekommen dadurch etwas Orakelhaftes. Zwar sind sämtliche Begründungen für die hier erfolgten Verweigerungen der Zustimmungen rechtlich möglich, aber es fehlt jedweder Verweis bzw. Subsumtion auf den konkreten Fall. Das gilt selbst für die allererste Verweigerung der Zustimmung wegen zu geringen Monatsgehalts. Wie das erforderliche Monatsgehalts von 3.400,- € ermittelt wurde, bleibt offen.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist die Ablehnung der Beigeladenen vom Juli 2022 bezüglich der fehlenden Qualifikation des Klägers nicht nachvollziehbar. Die Beigeladene hat bis zum erledigenden Ereignis auch dem Gericht gegenüber nicht erklärt, warum der nicht weiter reglementierte Beruf des IT-Technikers nicht von einer Person mit akademischen Abschluss ausgeübt werden könne, sondern sie hat sich auf die nicht näher begründete ablehnende Entscheidung des Arbeitgeber-Service Koblenz-Mayen berufen.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung entspricht auch nicht den Verwaltungsvorschriften, die die Praxis der Beigeladenen lenken sollen. Die Anwendungshinweise 18b.1.2 des BMI zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz (BGBl I 2019, 1307) gehen von einem weitem Tätigkeitsfeld von Akademikern aus. Dort heißt es: „Die Einschätzung des Arbeitgebers soll stärker berücksichtigt werden. Hat der Arbeitgeber mit seinen Angaben im Vordruck „Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis“ bestätigt, dass er die ausländische Fachkraft mit dem vorhandenen Berufsabschluss für die beabsichtigte Tätigkeit einstellen will, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die ausländische Fachkraft durch ihre Qualifikation zur Tätigkeit befähigt ist. Damit wird akademischen Fachkräften der Berufseinstieg auch unterhalb ihrer Qualifikation ermöglicht. In jedem Fall muss es sich um eine qualifizierte Beschäftigung handeln.“</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Berichterstatterin verkennt nicht, dass jeder einzelne zur Zustimmung vorgelegte Arbeitsvertrag Unstimmigkeiten enthielt, die es erforderlich oder jedenfalls Veranlassung gegeben hätten, beim Kläger oder beim Arbeitgeber um Klarstellung bzw. Erläuterung zu bitten. Die konkrete mangelhafte und indirekte Kommunikation führt aber dazu, dass das Verfahren der Fachkräfteeinwanderung zum Hürdenlauf wird. Nicht jeder Arbeitgeber ist bereit und in der Lage, ein Jahr auf einen Arbeitnehmer zu warten.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Auch bei dem Kläger dürfte dieses Verfahren nicht dazu beigetragen haben, das Vertrauen in eine allein dem verfassten Recht unterworfene Verwaltung zu festigen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grund war die Beigeladene an den Kosten hälftig zu beteiligen.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Ziffer 1 dieses Beschlusses ist unanfechtbar (entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 2, § 158 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Anträge und Erklärungen können ohne Mitwirkung eines Bevollmächtigten schriftlich eingereicht oder zu Protokoll der Geschäftsstelle abgegeben werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem das Verfahren sich erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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346,355 | vg-koln-2022-08-25-5-k-190222 | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 5 K 1902/22 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:33 | 2022-10-17T11:09:35 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0825.5K1902.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1.</p>
<p>Das in der Hauptsache erledigte Verfahren wird eingestellt.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte und die Beigeladene zu gleichen Teilen mit Ausnahme ihrer außergerichtlichen Kosten, die sie selber tragen.</p>
<p>2.</p>
<p>Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist indischer Staatsangehöriger. Er begehrte nach erfolgreichem Masterabschluss im Bundesgebiet im Fach Sportmanagement die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18 b Abs. 1 AufenthG.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 06.08.2021 legte der Kläger der Beklagten einen Arbeitsvertrag mit der S. GmbH aus C. C1. vor. In der Erklärung des Arbeitgebers zum Beschäftigungsverhältnis auf dem Vordruck der Beigeladenen ist die Arbeitnehmertätigkeit als „Sports Beratung zwischen Deutschland & Indien“ bezeichnet, bei einer 40-zigstündigen Arbeitsstundenzahl zu einem monatlichen Bruttoentgelt von 2000,- €. Als Qualifikation des Arbeitnehmer wurde unter der Ziffer 7. im Formblatt „kein Abschluss“ und unter Sonstiges (Ziffer 7.4) als für die Ausübung der Beschäftigung einschlägige Kenntnisse, Fertigkeiten, Berufserfahrung vermerkt: MBA & MA in International Sports and Event Management eingetragen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag lag der Arbeitsvertrag vom 30.06.2021 bei, darin wurde das Aufgabengebiet der Beschäftigung wie folgt beschrieben: „Der Arbeitnehmer wird als IT-Kraft eingestellt. Zu den wesentlichen Tätigkeiten des Arbeitnehmers zählen die technische und inhaltliche Betreuung der Website des Arbeitgebers mit besonderem Fokus auf das Online-Marketing sowie die Betreuung des Sports Managements.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Email vom 30.08.2021 wurde der Beschäftigung mangels Einhaltung der tariflichen bzw. ortsüblichen Bedingungen für vergleichbare Tätigkeiten von der Bundesagentur für Arbeit abgelehnt. Diese betrügen mindestens 3.400,00 € im Monat.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte teilte dem Kläger per Email die Entscheidung mit folgendem Zusatz mit: <em>“Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit und kann hieran nichts ändern. Sie müssen die Entscheidung so akzeptieren und können mir einen geänderten Arbeitsvertrag gerne zur Prüfung übersenden.“</em></p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach weiterem Emailaustausch, der im Wesentlichen aus Nachfragen des Klägers bei der Beklagten über die Höhe eines angemessenen Gehalts bestanden, übersandte der Kläger unter dem 08.10.2021 einen Arbeitsvertrag über die Vollzeitbeschäftigung als Sports Management Berater zu einem Gehalt von 3.400,- € bei demselben Arbeitgeber. In der Beschreibung des Aufgabengebiets heißt es: Zu den wesentlichen Tätigkeiten zählen die technische inhaltliche Betreuung des Sport Managements zwischen Deutschland und Indien.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Unter dem 15.10.2021 wurde die Zustimmung durch die Beigeladene erneut verweigert mit dem Zusatz: Laut vorliegender Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis ist der Antragsteller keine akademische Fachkraft, da er keinen Abschluss besitzt. Bei einer erneuten Anfrage bitten wir Nachweise beizufügen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ob diese Entscheidung dem Kläger mitgeteilt wurde, lässt sich den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen, denn unter dem 18.10.2021 wurde dem Kläger vom Sachbearbeiter der Beklagten mitgeteilt, dass keine Entscheidung der Bundesagentur vorläge.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unter dem 12.11.2021 ist in den Verwaltungsvorgängen eine weitere Ablehnung der Beigeladenen eines Zustimmungsantrags vom 12.11.2021 abgeheftet, dieses Mal mit der Begründung: Laut zuständigem Arbeitgeberservice hat der Arbeitgeber die für die Arbeitsmarktliche Stellungnahme erforderlichen Informationen (Betriebsnummer) nicht eingereicht.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diese Ablehnung wurde dem Kläger unter dem 15.11.2021 per Email mitgeteilt. Eine Begründung wurde nicht gegeben. Zusätzlich wurde in der Email ausgeführt: <em>Wir haben keinen Einfluss auf Entscheidungen von Agentur für Arbeit. Wenn Sie und Ihr Arbeitgeber Fragen zu dieser Entscheidung haben, kontaktieren Sie Agentur für Arbeit Köln, Herr K. ..</em></p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Unter dem 18.11.2021 wurde der Kläger zur bevorstehenden Ablehnung seines Antrages auf Erteilung bzw. Verlängerung seines Aufenthalts abzulehnen, angehört.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Kläger meldete sich daraufhin per Email in englischer Sprache und erklärte, dass er vergeblich versucht habe, Herrn K. . in L. zu kontaktieren. Er äußerte sich sehr besorgt über seinen Aufenthalt, da er zur Zeit keine Papiere habe, die einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet nachwiesen. Er äußerte ferner seine Enttäuschung über die erneute Ablehnung, da er schon viel Mühe, Zeit und Geld in die Bewerbung gesteckt habe. Er äußerte Verständnis gegenüber der Beklagten, dass die Entscheidung nicht von ihr beeinflusst werden könne, aber er bat um eine 3-Monatige Verlängerung, um Herrn K. . zu kontaktieren oder einen anderen Job zu finden.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Unter dem 29.11.2021 reichte er einen in deutscher Sprache abgefassten schriftlichen Antrag auf Fristverlängerung von 2 Wochen ein, um zwischenzeitlich die Unstimmigkeiten mit der Agentur für Arbeit zu beheben.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Fristverlängerung wurde per Email gewährt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Daraufhin teilte der Kläger der Beklagten in englischer Sprache mit, dass er das Rote Kreuz in der Angelegenheit eingeschaltet habe und dieses meinte, es läge nur ein Kommunikationsproblem zwischen dem zukünftigen Arbeitgeber und der Beigeladenen vor. Sein zukünftiger Arbeitgeber werde die Arbeitsagentur kontaktieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Am 01.12.2021 teilte der Kläger mit, dass es seinem zukünftigen Arbeitgeber gelungen sei, mit der Beigeladenen Kontakt aufzunehmen und das Problem fehlender Unterlagen wohl gelöst sei.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Unter dem 02.12.2021 forderte die Beklagte den Kläger auf, erneut den vollständigen Arbeitsvertrag und die Erklärung des Arbeitgebers zum Beschäftigungsverhältnis zu übersenden, da die Beklagte eine erneute Anfrage bei der Agentur für Arbeit stellen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auf weitere Nachfrage des Klägers konkretisierte die Beklagte, dass auch die alte Arbeitgebererklärung eingereicht werden könne.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Unter dem 06.12.2021 erhielt der Kläger eine einmonatige Verlängerung seiner Fiktionsbescheinigung.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Arbeitgeber reichte eine am 28.12.2021 unterzeichnete Arbeitgebererklärung ein, die inhaltlich identisch mit der unter dem 06.08.2021 eingereichten ist nur das monatliche Gehalt wurde auf 3.400,- € erhöht. Der beiliegende Arbeitsvertrag vom 28.12.2021 bezeichnet die Tätigkeit als Sports Business Consultant. Als wesentliche Tätigkeit des Arbeitnehmers wurde „Sportpartnerschaft zwischen Indien und Europa in Fußball, Esports und Hockey“ aufgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Am 24.02.2022 wurde die laut Ausdruck am 24.02.2022 eingereichte Anfrage mit der Begründung abgelehnt, dass die am 02.02.2022 schriftlich vom Arbeitgeber angeforderte Unterlage (vollständige Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis) nicht bis zum 16.02.2022 eingereicht worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ohne weitere Anhörung erließ die Beklagte unter dem 03.03.2022, zugestellt per Postzustellungsurkunde am 08.03.23022, den mit dem vorliegenden Verfahren angegriffenen Bescheid, mit dem die Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger abgelehnt wurde, er aufgefordert wurde, das Bundesgebiet zu verlassen und ihm die Abschiebung in die Republik Indien angedroht wurde.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Unter dem 25.03.2022 hat der Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Regelung der Vollziehung – 5 L 494/22 – gestellt. Mit Beschluss vom 28.07.2022 wurde die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 03.03.2022 angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Er trägt im Wesentlichen vor, dass die Ablehnung der Zustimmung zum Arbeitsvertrag vom 28.12.2022 rechtswidrig sei.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Er hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verpflichten, unter Aufhebung der Ordnungsverfügung zur Durchführung des Aufenthaltsgesetzes vom 03.03.2022 über den Antrag des Klägers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in Form einer Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist dem entgegengetreten.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Am 25.04.2022 hat die Beklagte den Pass des Klägers eingezogen. Mit Schriftsatz vom 17.08.2022 erklärte sie sich bereit, dem Kläger nach Zustimmung der Bundesaget zur Beschäftigung Sports Business Consultant bei der Firma S. zu erteilen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren ist daraufhin von den Beteiligten für erledigt erklärt worden. Es ist wechselseitiger Kostenantrag gestellt worden. Der Hintergrund der Erledigung war folgender:</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Im Juni 2022 ist außergerichtlich durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers eine erneute Anfrage an die Beigeladene gestellt worden. Mit Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis vom 17.06.2022 wurde die Beschäftigung als unbefristeter Arbeitsvertrag zu einem monatlichen Bruttogehalt von 3.400,- € als IT- Mitarbeiter mit Tätigungsbeschreibung technische u. inhaltliche Betreuung der Webseite, Online-Marketing, Betreuung des Sport-Manager beschrieben. Weiterhin wurde die Qualifikation des Arbeitnehmers als „kein Abschluss“ angegeben und unter „Sonstiges“ die beiden akademischen Abschlüsse des Klägers MBA Sport Management Madrid und MA in International Sports and Event Management der University of Applied Sciences Berlin aufgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die erneuter Ablehnung der Beigeladenen mit der Begründung „Der vorhandene Hochschulabschluss befähigt nicht zur Ausübung der beabsichtigten Tätigkeit“ wurde dem Prozessbevollmächtigten unter dem 15.07.2022 mitgeteilt und unter dem 19.07.2022 in das hiesige Verfahren eingeführt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 29.07.2022 ist die Agentur für Arbeit, Zentrale Auslands- und Fachvermittlung Bonn beigeladen worden.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Sie hat die Ablehnung vom 14.07.2022 mit der Begründung „mangelnde Befähigung“ damit erklärt, dass der Arbeitgeber-Service der Agentur für Arbeit Koblenz-Mayen nach Rückfrage bestätigt habe, dass keine Befähigung vorliege. Es lägen unterschiedliche Arbeitsverträge mit unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen vor, diese Unplausibilität sei auch nach Anforderung der Unterlagen durch den zuständigen Arbeitgeber-Service nicht aufgehoben. Die ausgeübte Tätigkeit entspreche nicht dem Studienprofil. Die Beigeladene habe nun eine neue Zustimmungsanfrage mit der Tätigkeit Sport Business Consultant veranlasst.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Unter dem 15.08.2022 erklärte sie, dass unter der Tätigkeit „Sport Business Consultant“ die Tätigkeit dem Hochschulabschluss entspräche. Sobald eine neue Zustimmungsanfrage seitens der Ausländerbehörde erfolge, könne die Zustimmung erteilt werden.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dem daraufhin erneut gestellten Antrag wurde seitens der Beigeladenen am 17.08.2022 zugestimmt und in der Folge dieses Verfahren für erledigt erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 18.08.2022 erklärte die Beigeladene, dass mit Zustimmung zur Beschäftigung nach § 39 AufenthG i.V.m. § 18b Abs. 1 AufenthG das Verwaltungsinternum der Beigeladenen seine Beendigung finde. Sie regte an, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist das übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärte Verfahren einzustellen. Unter den gegebenen Umständen entspricht es billigem Ermessen i.S.v. § 161 Abs. 2 VwGO, die Kosten der Beklagten zur Hälfte aufzuerlegen. Das Gericht verkennt nicht, dass die Beklagte den Kläger ohne Verzögerung klaglos gestellt hat, als die Zustimmung der Beigeladenen vorlag. Allerdings hat sie dem Kläger zuvor mehrfach per Email unzutreffende Hinweise bzw. Belehrungen hinsichtlich der Unmöglichkeit, sich gegen die Entscheidung der Beigeladenen wehren zu können, erteilt. Diese Hinweise waren nicht nur rechtlich falsch, sie waren auch geeignet, bei dem nicht rechtkundigen Kläger grundlegende Fehlvorstellungen über das deutsche Verwaltungsverfahren hervorzurufen, insbesondere, dass Entscheidungen der Verwaltung einfach hinzunehmen seien.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die stattdessen naheliegenden Hinweise, die sich aus dem konkreten Zustimmungsersuchen ergaben, etwa hinsichtlich der unzutreffenden Angaben zum akademischen Abschluss des Klägers (ohne Abschluss) bzw. unterschiedlichen Arbeitsbeschreibungen, hat die Beklagte dem Kläger nicht erteilt.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Es wäre aber unbillig, der Beklagten die Kosten vollständig aufzuerlegen, denn die Beigeladene hat nach Auffassung der Berichterstatterin durch ihre mangelhafte Kommunikation mit der Beklagten und dem Kläger den Rechtsstreit zurechenbar verursacht.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Einer Beigeladenen, die keinen Sachantrag gestellt hat, können Kosten nur nach Maßgabe des § 155 Abs. 4 VwGO auferlegt werden, vgl. § 153 Abs. 3 Satz 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">§ 155 Abs. 4 VwGO ist damit die Regel zu entnehmen, dass Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, der sie durch sein Verschulden verursacht hat, und diese der grundsätzlich fehlenden Kostentragungspflicht bei fehlendem Sachantrag vorgeht.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dabei ist Verschulden nicht nach § 276 BGB zu bestimmen, sondern so wie in § 60 VwGO. Der Begriff des Verschuldens in § 60 bezieht sich auf eine Obliegenheitsverletzung,</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Eyermann/Hoppe, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 2022 § 60 Rn. 9</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18 b Abs. 1 AufenthG als Fachkraft mit akademischer Ausbildung. Nach § 39 Abs. 2 AufenthG unterliegt die Erlaubnis der Beschäftigung der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Vorschrift kann die Bundesagentur für Arbeit der Ausübung einer Beschäftigung durch eine Fachkraft gemäß den §§ 18a oder 18b zustimmen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">1. sie nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer beschäftigt wird,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">2. sie</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">a) gemäß § 18a oder § 18b Absatz 1 eine Beschäftigung als Fachkraft ausüben wird, zu der ihre Qualifikation sie befähigt, oder</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">b) gemäß § 18b Absatz 2 Satz 2 eine ihrer Qualifikation angemessene Beschäftigung ausüben wird,</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">3. ein inländisches Beschäftigungsverhältnis vorliegt und,</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">4. sofern die Beschäftigungsverordnung nähere Voraussetzungen in Bezug auf die Ausübung der Beschäftigung vorsieht, diese vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Das hier im konkreten Fall geführte Verfahren der Zustimmung zu einer Beschäftigung entspricht nicht den Vorgaben des § 25 Verwaltungsverfahrensgesetz Bund oder NRW hinsichtlich der Beratungs- und Auskunftspflicht der Behörden. Das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes dürfte auf die Tätigkeit der Beigeladenen im Rahmen des § 39 AufenthG anzuwenden sein, da § 1 SGB X eine solche Tätigkeit nicht umfasst.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Kommunikation der Beigeladenen und der Beklagten mit dem Kläger war unzureichend. Nach Aktenlage der Beklagten sind dem Kläger nicht alle Informationen der Beigeladenen zugegangen. Der Umstand, dass Nachfragen der Beigeladenen an den zukünftigen Arbeitgeber dem Kläger nicht kommuniziert wurden, hier die fehlende Betriebsnummer des Arbeitgebers, hat dazu geführt, dass der Kläger nicht selbst reagieren konnte. Er hätte beim Arbeitgeber selbst nach der Betriebsnummer fragen können. Der Kläger hat sich in mustergültiger Weise nach Möglichkeiten erkundigt, was er tun könnte, um das Arbeitsangebot zustimmungsfähig zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der vorliegende Fall ist dadurch geprägt, dass der Kläger zu einem bloßen Objekt einer staatlichen Verwaltung geworden ist, die in einem von Außenkontakten abgeschotteten Raum nicht weiter begründete Entscheidungen trifft. Die gegebenen Kurzbegründungen bekommen dadurch etwas Orakelhaftes. Zwar sind sämtliche Begründungen für die hier erfolgten Verweigerungen der Zustimmungen rechtlich möglich, aber es fehlt jedweder Verweis bzw. Subsumtion auf den konkreten Fall. Das gilt selbst für die allererste Verweigerung der Zustimmung wegen zu geringen Monatsgehalts. Wie das erforderliche Monatsgehalts von 3.400,- € ermittelt wurde, bleibt offen.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist die Ablehnung der Beigeladenen vom Juli 2022 bezüglich der fehlenden Qualifikation des Klägers nicht nachvollziehbar. Die Beigeladene hat bis zum erledigenden Ereignis auch dem Gericht gegenüber nicht erklärt, warum der nicht weiter reglementierte Beruf des IT-Technikers nicht von einer Person mit akademischen Abschluss ausgeübt werden könne, sondern sie hat sich auf die nicht näher begründete ablehnende Entscheidung des Arbeitgeber-Service Koblenz-Mayen berufen.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung entspricht auch nicht den Verwaltungsvorschriften, die die Praxis der Beigeladenen lenken sollen. Die Anwendungshinweise 18b.1.2 des BMI zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz (BGBl I 2019, 1307) gehen von einem weitem Tätigkeitsfeld von Akademikern aus. Dort heißt es: „Die Einschätzung des Arbeitgebers soll stärker berücksichtigt werden. Hat der Arbeitgeber mit seinen Angaben im Vordruck „Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis“ bestätigt, dass er die ausländische Fachkraft mit dem vorhandenen Berufsabschluss für die beabsichtigte Tätigkeit einstellen will, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die ausländische Fachkraft durch ihre Qualifikation zur Tätigkeit befähigt ist. Damit wird akademischen Fachkräften der Berufseinstieg auch unterhalb ihrer Qualifikation ermöglicht. In jedem Fall muss es sich um eine qualifizierte Beschäftigung handeln.“</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Berichterstatterin verkennt nicht, dass jeder einzelne zur Zustimmung vorgelegte Arbeitsvertrag Unstimmigkeiten enthielt, die es erforderlich oder jedenfalls Veranlassung gegeben hätten, beim Kläger oder beim Arbeitgeber um Klarstellung bzw. Erläuterung zu bitten. Die konkrete mangelhafte und indirekte Kommunikation führt aber dazu, dass das Verfahren der Fachkräfteeinwanderung zum Hürdenlauf wird. Nicht jeder Arbeitgeber ist bereit und in der Lage, ein Jahr auf einen Arbeitnehmer zu warten.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Auch bei dem Kläger dürfte dieses Verfahren nicht dazu beigetragen haben, das Vertrauen in eine allein dem verfassten Recht unterworfene Verwaltung zu festigen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grund war die Beigeladene an den Kosten hälftig zu beteiligen.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Ziffer 1 dieses Beschlusses ist unanfechtbar (entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 2, § 158 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Anträge und Erklärungen können ohne Mitwirkung eines Bevollmächtigten schriftlich eingereicht oder zu Protokoll der Geschäftsstelle abgegeben werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem das Verfahren sich erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,327 | ovgnrw-2022-08-25-4-a-174821a | {
"id": 823,
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<p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 1.6.2021 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Aus der Antragsbegründung ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehörs verletzt hat (Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das in Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verankerte Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Ein Gericht ist nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.12.2014 – 4 C 35.13 –, juris, Rn. 42.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Derartige Umstände sind vorliegend weder vorgetragen noch ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Bezogen auf das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hat die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen, sie leide an erheblichen Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit und bedürfe rund um die Uhr der Pflege und Betreuung. Die wenigen in Pakistan noch lebenden Verwandten seien – wie die Klägerin – schon betagt und nicht mehr bereit oder in der Lage, die Versorgung und Betreuung der Klägerin zu übernehmen. Mit diesem Vortrag hat sich das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils (Urteilsabdruck, Seite 6, vorletzter Absatz) auseinandergesetzt und hierzu ausgeführt, von einem Abschiebungsverbot könne nicht ausgegangen werden, weil die Klägerin zum einen deutlich jünger als ihr Ehemann sei, zum anderen mache sie in der mündlichen Verhandlung auch keinen „kranken“ Eindruck. Insbesondere sei von Klägerseite kein ärztliches Attest vorgelegt worden, aus dem sich ein besonderes Gesundheitsrisiko für die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Pakistan ergeben würde. Dass das Verwaltungsgericht die Situation der Klägerin bei Rückkehr nach Pakistan anders als die Klägerin bewertet hat, führt nicht auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Allein der Umstand, dass das Verwaltungsgericht das Vorbringen der Klägerin gegenüber dem Bundesamt, auf das die Klägerin in ihrer Klagebegründung pauschal Bezug genommen hat und welches auch Angaben zu ihrer wirtschaftlichen Situation in Pakistan enthielt (vgl. Niederschrift über die Anhörung der Klägerin vom 3.7.2019, Seite 4), in seinem Urteil nicht ausdrücklich aufgegriffen hat, rechtfertigt nicht die Annahme, das Gericht habe dieses Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen. Die Klägerin ist den Ausführungen der Beklagten zur Möglichkeit der Sicherung ihres Existenzminimums bei Rückkehr nach Pakistan in dem angegriffenen Bescheid (Bescheidabdruck, Seite 11) erstinstanzlich nicht substantiiert entgegengetreten, sondern hat das Vorliegen von Abschiebungsverboten im Wesentlichen mit ihrem Gesundheitszustand und nur ergänzend pauschal mit der fehlenden Betreuung durch in Pakistan verbliebene nahe Angehörige begründet. Ausgehend von diesem Vorbringen musste sich das Verwaltungsgericht, das keine Betreuungsbedürftigkeit der Klägerin festgestellt hat, unter Gehörsgesichtspunkten nicht damit auseinandersetzen, ob der Klägerin im Fall ihrer alleinigen Rückkehr nach Pakistan Obdachlosigkeit und Verelendung droht. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist für die Gefahrenprognose nach § 60 Abs. 5 AufenthG vielmehr von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der – wenngleich notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehrt. Dies gilt auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 – 1 C 45.18 –, BVerwGE 166, 113 = juris, Rn. 15 ff.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Klägerin gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Tochter nach Deutschland eingereist war, ist in ihrem Fall gerade mit Blick auf die Betreuungsbedürftigkeit ihres Ehemanns, für den ein Abschiebungsverbot festgestellt worden ist, auf eine gemeinsame Rückkehr in dem Familienverband abzustellen, welcher zum Zwecke der Betreuung tatsächlich aufrechterhalten worden ist. Auf eine alleinige Rückkehr kommt es hingegen nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen erschöpfen sich die Einwände der Klägerin gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Wertungen in Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Solche ist dem sachlichen Recht zuzurechnen und rechtfertigt, sofern sie – wie hier – nicht von Willkür geprägt ist, von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21.9.2020 ‒ 4 A 798/20.A, juris, Rn. 15 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.</p>
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346,326 | vg-gottingen-2022-08-25-1-e-18922 | {
"id": 614,
"name": "Verwaltungsgericht Göttingen",
"slug": "vg-gottingen",
"city": 378,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 1 E 189/22 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-08-27T10:01:16 | 2022-10-17T11:09:31 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag vom 11.08.2022, über den das Verwaltungsgericht aufgrund der nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindenden Rechtswegverweisung des Amtsgerichts D. vom 19.08.2022 zu entscheiden hat, bleibt ohne Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Es ist bereits zweifelhaft, ob der Antragsteller vorliegend antragsberechtigt ist. Nach § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG kann die die Abschiebung durchführende Behörde eine Durchsuchung der Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zu dem Zweck seiner Ergreifung vornehmen, soweit der Zweck der Durchführung der Abschiebung es erfordert. Allerdings ist die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen gemäß § 71 Abs. 1 Satz 4 AufenthG i. V. m. Ziffern 2.7.3 des Runderlasses des Innenministeriums vom 13.08.2019 die für die Durchführung von Abschiebungen in Niedersachsen zentral zuständige Stelle. Nach dem Rückführungserlass des Innenministeriums vom 07.07.2021 umfasst diese Zuständigkeit der Landesaufnahmebehörde auch die Abholung der Ausreisepflichtigen aus der Wohnung einschließlich der Aufforderung, sich der Abschiebung zu stellen. Die die Abschiebung durchführende Behörde im Sinne des § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG dürfte damit nicht der Antragsteller, sondern die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben, weil die hier ausdrücklich zur Nachtzeit (um 3.30 Uhr) geplante Durchsuchung offensichtlich unzulässig ist. Der Antragsteller begründet die vorgesehene Uhrzeit mit den Vorgaben der dänischen Behörden, die eine Überstellung nur bis 14 Uhr akzeptieren würden, so dass der einzige in Betracht kommende und bereits terminierte Flug ab E. um 9.45 Uhr sonst nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Nach § 58 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darf die Wohnung zur Nachtzeit (d.h. zwischen 21 und 6 Uhr, vgl. § 104 Abs. 3 StPO) nur betreten oder durchsucht werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird. In § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wird klargestellt, dass die vom Antragsteller ausschließlich zur Begründung angeführte Organisation der Abschiebung gerade keine solche Tatsache ist. Andere Tatsachen, die eine Durchsuchung zur Nachtzeit erfordern, hat der Antragsteller nicht dargelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Für eine Anwendung der vom Antragsteller für seinen Antrag hilfsweise herangezogenen §§ 24, 25 NPOG bleibt vorliegend kein Raum, da die neu geschaffenen § 58 Abs. 6 bis 10 AufenthG für die Durchsuchung zum Zweck der Sicherung der Abschiebung (und nicht mit dem Ziel der Gefahrenabwehr) spezielle Regelungen vorsehen (vgl. BGH, Beschluss vom 12.07.2022 – 3 ZB 6/21 –, juris Rn. 14 ff.). Im Übrigen wäre die geplante Durchsuchung zur Nachtzeit hier nach § 24 Abs. 4 NPOG ebenfalls unzulässig, weil die in § 24 Abs. 2 Nrn. 3, 4 und Abs. 3 NPOG genannten Voraussetzungen nicht vorliegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da das Verfahren gerichtskostenfrei ist und die Auslagen des Antragstellers nicht erstattungsfähig sind. Angesichts der fehlenden Beteiligung des Betroffenen handelt es sich nicht um ein kontradiktatorisches Verfahren (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 30.09.2019 – 2 S 262/19 –, juris Rn. 24).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006867&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,325 | vg-stade-2022-08-25-6-b-108122 | {
"id": 619,
"name": "Verwaltungsgericht Stade",
"slug": "vg-stade",
"city": 355,
"state": 11,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 B 1081/22 | 2022-08-25T00:00:00 | 2022-08-27T10:01:15 | 2022-10-17T11:09:31 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den Widerruf ihrer Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte am Standort H. -Straße I., J..</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Am 30. Januar 2019 erteilte der Antragsgegner der Antragstellerin eine Erlaubnis gemäß § 12 des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) zum Betrieb einer Prostitutionsstätte unter der Anschrift H. -Straße I., J.. Die Erlaubnis wurde für drei Arbeitsräume erteilt. Bestandteil der Erlaubnis ist das von der Antragstellerin vorgelegte Betriebskonzept vom 15. Januar 2018 (Bl. 44 – 48 BA001) mit den Ergänzungen vom 9. Juli 2018 (Bl. 92 BA001). Die Erlaubnis wurde mit drei Auflagen erteilt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. Es ist bis zum 15.03.2018 ein Reinigungsplan zu erstellen. In diesem Plan ist aufzuführen, was, von wem, wie oft und mit welchen Reinigungsmitteln gereinigt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. In der Gästetoilette sind ab sofort Einmalhandtücher oder Hand-Luft-Duschen bereitzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3. Beim Whirlpool sind ab sofort regelmäßig Wasserproben durch ein akkreditiertes Labor durchzuführen. Die Untersuchungsbefunde sind dem Fachdienst Gesundheit beim Landkreis K. vierteljährlich zu übersenden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Am 22. Januar 2022 veranlasste der Antragsgegner die Überprüfung der Zuverlässigkeit der Antragstellerin und ihrer Geschäftsführerin gemäß § 15 Absatz 3 ProstSchG. Mit Schreiben vom 31. Januar 2022 informierte der Antragsgegner die Geschäftsführerin der Antragstellerin hierüber und bat um Vorlage aktueller Führungszeugnisse der Geschäftsführerin und weiterer im Betrieb beschäftigter Personen sowie um die Vorlage steuerlicher Unbedenklichkeitsbescheinigungen. Die daraufhin von der Geschäftsführerin der Antragstellerin übersandten Führungszeugnisse ihrer Person und zwei weiterer Mitarbeiterinnen enthielten keine Eintragungen. Für die Antragstellerin und ihre Geschäftsführerin wurden steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanzamtes L. vom 5. April 2022 vorgelegt. Ein von dem Antragsgegner eingeholter Gewerbezentralregisterauszug enthielt keine Eintragungen, hinsichtlich der Antragstellerin und ihrer Geschäftsführerin lagen keine Insolvenzbekanntmachungen vor und die Polizeiinspektion M. teilte am 15. Februar 2022 mit, dass ihr keine Erkenntnisse hinsichtlich der Antragstellerin oder ihrer Geschäftsführerin vorlägen. Für die Geschäftsführerin der Antragstellerin lagen vier Eintragungen im Schuldnerverzeichnis vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Am 13. Mai 2022 führte der Antragsgegner eine örtliche Überprüfung der Prostitutionsstätte in der H. -Straße I. durch. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll vom selben Tag, die anfertigen Lichtbilder und Skizzen, sowie auf den Vermerk des Antragsgegners vom 16. Mai 2022 verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 2. Juni 2022 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zum beabsichtigen Widerruf der Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte an. Zur Begründung führte er aus, dass bei der Vorortkontrolle am 13. Mai 2022 elf Verstöße festgestellt worden seien: In einem Whirlpool sei das Wasser verunreinigt gewesen (Nummer 1), in keinem Raum sei das Notrufsystem funktionsfähig und im Arbeitszimmer 3 sei das Telefon nicht funktionsfähig gewesen (Nummer 2), Räume für sexuelle Dienstleistungen würden auch als Schlaf- und Wohnräume genutzt (Nummer 3), der im Betriebskonzept beschriebene Betriebsablauf finde nicht statt (Nummer 4), es sei niemand anwesend, der das vereinnahmte Geld an die Prostituierten auszahlen könne (Nummer 5), den Prostituierten seien keine Quittungen und Mietverträge ausgehändigt worden und im Betrieb seien keine Angaben über anwesende Prostituierte vorgehalten worden (Nummer 6), es seien keine Einlasskontrollen durch Dritte erfolgt (Nummer 7), es seien keine Hygieneartikel und Kondome von der Antragstellerin zur Verfügung gestellt worden (Nummer 8), es seien Prostituierte tätig gewesen, die nicht über die erforderlichen Bescheinigungen nach den §§ 5 und 10 ProstSchG verfügten (Nummer 9), der Betrieb sei gegenüber der Erlaubnis um zwei weitere Arbeitszimmer erweitert worden (Nummer 10), wobei in einem dieser Arbeitszimmer kein Fenster und damit kein Fluchtweg bei Brandgefahr vorhanden sei (Nummer 11). Prostitutionsstätten müssten aber gemäß § 18 Absatz 1 Satz 1 ProstSchG nach ihrem Betriebskonzept sowie nach ihrer Lage, Ausstattung und Beschaffenheit den erforderlichen Anforderungen genügen. Erforderlich sei nach § 18 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 ProstSchG, dass die einzelnen, für sexuelle Dienstleistungen genutzten Räume über ein sachgerechtes Notrufsystem verfügten und nach § 18 Absatz 2 Satz 1 Nummer 7 ProstSchG, dass die für sexuelle Dienstleistungen genutzten Räume nicht zur Nutzung als Schlaf- oder Wohnraum bestimmt seien. Verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass diese Mindestanforderungen während des Betriebes eingehalten werden, sei gemäß § 18 Absatz 5 ProstSchG der Betreiber einer Prostitutionsstätte. Darüber hinaus sei das Betriebskonzept in mehreren Punkten nicht eingehalten worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin nahm am 16. Juni 2022 Stellung. Sie führte im Wesentlichen aus, dass die durchgeführte Vorortkontrolle durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegne, weil kein berechtigter Vertreter der Antragstellerin hinzugezogen worden sei. Die Prostitutionsstätte sei insbesondere auch am Tag der Vorortkontrolle am 13. Mai 2022 geschlossen gewesen, was dem Antragsgegner auch am selben Tag anlässlich der Kontrolle in einem anderen, von der Antragstellerin betriebenen Bordell, mitgeteilt worden sei. Es fänden Sanierungs- und Renovierungsarbeiten statt, die noch ca. 1-2 Wochen andauerten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 21. Juli 2022 widerrief der Antragsgegner die der Antragstellerin erteilte Erlaubnis zum Betrieb der Prostitutionsstätte in der H. -Straße I. in N. O. (Ziffer 1). Sie ordnete die sofortige Vollziehung an (Ziffer 2) und legte die Kosten des Verfahrens in Höhe von 360,00 Euro der Antragstellerin auf (Ziffer 3).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung berief sie sich auf die festgestellten elf Verstöße und führte ergänzend aus: Aus dem Internetauftritt des Betriebes sei entnommen worden, dass die Prostitutionsstätte von Montag bis Samstag in der Zeit von 13:00 Uhr bis 23:59 Uhr betrieben werde. Entsprechend sei der Betrieb am 13. Mai 2022 gegen 20:00 Uhr aufgesucht worden. Durch das geöffnete Küchenfenster habe man eine Frau gebeten, die Tür zu öffnen, da die Türklingel defekt gewesen sei. Die Tür sei nicht geöffnet worden. Auch eine telefonische Kontaktaufnahme sei gescheitert. Bei erneuter Anfahrt der Prostitutionsstätte gegen 21:45 Uhr habe die Prostituierte „Frau C.“ geöffnet, die nach eigener Aussage gerade von einem Hausbesuch bei einem Freier gekommen sei. Die Prostitutionsstätte sei dann mit Frau C. und Polizeibeamten begangen worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Eine Rücksprache mit dem Gesundheitsamt habe ergeben, dass seit längerer Zeit kein Untersuchungsbericht des Wassers im Whirlpool mehr vorgelegt worden sei. Dies sei aber gemäß Auflage 3 der Erlaubnis vom 30. Januar 2019 erforderlich. Es drohten Gesundheitsgefahren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Am Tag der Vorortkontrolle hätten sich mindestens zwei Prostituierte in dem Betrieb aufgehalten und ihre Dienstleistungen angeboten. Neben dem Klingelschild sei die Handynummer einer Prostituierten angebracht gewesen, sodass von einem Normalbetrieb und nicht von einer Schließung des Betriebs aufgrund von Sanierungs-, Renovierungs- und Umbauarbeiten ausgegangen werde. Da keine fest angestellte Barfrau, die die Einlasskontrolle vorzunehmen gehabt habe, vor Ort gewesen sei, seien die Prostituierten schutzlos in den Räumlichkeiten aufhältig gewesen. Im Notfall hätten sie sich nur gegenseitig schützen können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Da die Koffer der im Betrieb tätigen Frauen vorhanden gewesen seien, der Kühlschrank gefüllt, eine warme Mahlzeit zubereitet und die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten im Personalraum feststellbar gewesen seien, sei davon auszugehen, dass sich die Frauen bereits über Tage, gegebenenfalls auch Wochen oder Monate, in dem Betrieb aufgehalten hätten. „Echte Ruheräume“ habe es für die Prostituierten nicht gegeben, sondern nur einen Personalbereich mit Sitzecke. Es sei deswegen davon auszugehen, dass die Prostituierten während ihres Aufenthalts im Betrieb die Arbeitsräume auch als Ruheraum genutzt hätten. Der Bar- und Tresenbereich sei nicht ausreichend beleuchtet und nicht nutzbar gewesen, weil dort das Gepäck einer Prostituierten gelagert worden sei. Insgesamt habe die Prostitutionsstätte einen dreckigen Eindruck in allen Zimmern hinterlassen. Der Reinigungs- und Desinfektionsplan werde offensichtlich nicht beachtet. Hinweise auf Sanierungs- oder Renovierungsarbeiten, z.B. zusammengestellte oder abgedeckte Möbel, ein Trittschutz oder herumstehende Werkzeuge, habe es bei der Vorortkontrolle nicht gegeben. Die vorgefundenen, leicht verderblichen Lebensmittel (frische Pilze, Lauchzwiebeln, Kohlköpfe, etc.) und benutzen Sektgläser wiesen nicht auf die von der Antragstellerin im Anhörungsverfahren behauptete Benutzung der Küche durch Bauarbeiter hin. Auch die Aufforderung neben dem Klingelschild, telefonisch einen Termin bei einer Prostituierten zu reservieren sei sinnfrei, sofern Bauarbeiten in der Prostituiertenstätte tatsächlich stattgefunden hätten. Dann hätte zumindest ein weiteres Schild angebracht sein müssen, dass der Betrieb aktuell geschlossen sei. Der Duschbereich in dem linken Zimmer des Anbaus sei noch nicht vollständig verfliest gewesen. Das Zimmer sei von Frau C. genutzt worden. In beiden Zimmern des Anbaus hätten die Duschwannen und Waschbecken gefehlt. In beiden Zimmern – auch in dem fensterlosen – seien große Doppelbetten aufgestellt gewesen, was der Darstellung der Antragstellerin widerspreche, der Raum sei als Abstellraum genutzt worden. Im Personalraum, im Arbeitsraum 1 und im linken Zimmer des Anbaus seien Damenschuhe und Damenkleidung – auch Unterwäsche – vorgefunden worden. Die Räume hätten insgesamt einen belebten und bewohnten Eindruck gemacht und seien offensichtlich zu Wohn- und Prostitutionszwecken genutzt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Betriebsablauf finde nicht wie in Abschnitt IV Nummer 1 des Betriebskonzepts dargestellt statt (Erstkontakt im Bar- bzw. Tresenbereich, Verhandlung zwischen der Prostituierten und ihren Kunden über Dienstleistung und Preis, Zahlung in bar oder mit EC-Karte, unmittelbare Auskehrung der per EC-Gerät vereinnahmten Zahlungen an die Prostituierte), sondern der Erstkontakt und die Verhandlung erfolgten telefonisch zwischen der Prostituierten und dem Kunden. Bei Ankunft des Kunden werde dieser von der Prostituierten eingelassen und auf ihr Zimmer gebracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Frau C. habe auf wiederholte Nachfrage erklärt, dass Hygieneartikel und Kondome selbst beschafft werden müssten. In den Arbeitsräumen 2 und 3 seien keine Kondome vorhanden gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 24 Absatz 1 ProstSchG trage der Betreiber eines Prostitutionsgewerbes mindestens eine Mitverantwortung für die Sicherheit und Gesundheit der Personen, die in der Prostitutionsstätte tätig seien. Daraus folge eine Pflicht, sich aktiv um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der in seinem Betrieb tätigen Prostituierten zu kümmern. Es reiche dabei nicht aus, z. B. Hinweise zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz zu erteilen und im Übrigen auf die Eigenverantwortung der Betroffenen zu vertrauen. Die Einhaltung von Mindestanforderungen sei kein Service, den der Betreiber den Prostituierten gegenüber erbringe und der zwischen den Parteien verhandelbar sei. Der Betreiber müsse die von ihm ergriffenen Maßnahmen auf Wirksamkeit und Umsetzung laufend prüfen. Aufgrund der Vielzahl von Verstößen, gerade auch gegen das konzessionierte Betriebskonzept, sei die Erlaubnis zum Betrieb der Prostitutionsstätte zu widerrufen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei wegen der präventiven Schutzfunktion des Prostituiertenschutzgesetzes und aus Gründen des öffentlichen Interesses an der Einhaltung der rechtlichen Vorgaben des Erlaubnisbescheides vom 30. Januar 2019 begründet. Es könne nicht hingenommen werden, dass einer Betreiberin einer Prostitutionsstätte, die nicht die rechtlichen Schutz- und Sicherungsanforderungen erfüllte und dadurch eine Gefahr für die in der Prostitutionsstätte tätigen Prostituierten und für die sich dort aufhaltenden Kunden darstelle, durch Inanspruchnahme verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes weiterhin die Möglichkeit der Weiterführung des Betriebs gewährt werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin hat am 28. Juli 2022 Klage gegen den Bescheid erhoben (Az.: P.), über die noch nicht entschieden wurde, und den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung macht sie geltend, dass während der von dem Antragsgegner vorgenommenen Vorortkontrolle am 13. Mai 2022 die Prostitutionsstätte – wie in den Tagen davor und auch danach und auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt – geschlossen gewesen sei. Ein Betrieb habe seinerzeit nicht stattgefunden und finde auch jetzt noch nicht wieder statt. Denn es erfolgten Sanierungs- und Renovierungsmaßnahmen. Die Wiedereröffnung des Betriebes sei spätestens zum 31. August 2022 geplant. Eine Anhörung zur Anordnung der sofortigen Vollziehung sei unterblieben. Ihr Betriebskonzept halte sie stets ein und wenn es einmal nicht eingehalten worden sein sollte, rechtfertige dies nicht den Widerruf der Erlaubnis. Denn es stünden mildere Mittel zur Verfügung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Sie verfüge über keine Homepage. Etwaige, über Google abrufbare Öffnungszeiten seien nicht von ihr autorisiert. Soweit der Antragsgegner den Betrieb um „kurz nach 20:00 Uhr“ aufgesucht habe, sei dies keine übliche Geschäftszeit. Bereits aus der äußeren Anmutung und der verschlossenen und verschlossen gehaltenen Prostitutionsstätte habe sich dem Antragsgegner erschließen müssen, dass die Prostitutionsstätte nicht betrieben werde. Die vor Ort erlangten Aussagen Angetroffener seien nicht verwertbar, weil diese nicht über ihr Aussageverweigerungsrecht belehrt worden seien. Dem Antragsgegner seien die Kontaktdaten der Geschäftsführerin der Antragstellerin bekannt gewesen und er habe sie jederzeit kontaktieren können, dies aber nicht getan. Insofern könne sich der Antragsgegner auch nicht auf eine mangelnde Kooperationsbereitschaft berufen. Soweit Frau C. erklärt habe, sie komme gerade von einem Hausbesuch bei einem Freier, folge daraus gerade, dass Frau C. ihre Dienste nicht in den Räumen der Prostitutionsstätte angeboten habe. Die Begehung des Betriebes mit Frau C. stelle einen Verfahrensverstoß dar, weil Frau C. nicht vertretungsberechtigt sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Whirlpool sei in der „Nach-Corona-Zeit“ nicht mehr benutzt worden, wie es sich dem Antragsgegner aufgrund der geringen Temperatur und des geringen Füllstandes habe aufdrängen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Die neben dem Klingelschild angebrachte Handynummer sei ihr nicht zuzurechnen und die Anbringung sei auch nicht von ihr veranlasst oder geduldet worden. Das Schild sei mittlerweile entfernt worden. Etwaige „Privat-Veranstaltungen“ von Prostituierten seien von ihr weder veranlasst noch gefördert oder geduldet worden; sie seien bei geschlossenem Betrieb unterbunden worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Weshalb der Kühlschrank gefüllt gewesen sei, sei erklärt worden. Die Küche sei unter anderem von Frau C. genutzt worden. Der Küchenbereich werde als Sozialbereich genutzt, keinesfalls nutzten die Prostituierten ihre Arbeitsräume als Ruheräume, auch nicht bei geöffnetem Betrieb.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Zum Nachweis über erfolgte Sanierungs-, Renovierungs- und Umbauarbeiten verweise sie auf eine Rechnung der Firma Q. vom 16. Mai 2022 und auf eine eidesstattliche Versicherung ihrer Geschäftsführerin und eines Gesellschafters vom 28. Juli 2022. Die Maßnahmen dauerten noch ca. vier Wochen an. Die vor Ort tätigen Handwerker und Bauarbeiter bereiteten sich oftmals ihre Mahlzeiten selbst zu, was insbesondere auch der Lage des Hauses in einem Gewerbegebiet ohne kulinarisch-infrastrukturelle Anbindung und der damit verbundenen Zeitersparnis geschuldet sei. In den vorgefundenen benutzen Sektgläsern habe sich Kaffee befunden, außerdem habe Frau C. offenbar auch als Vorfreude auf den beginnenden Urlaub Sekt ausgegeben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Ein Hinweis an Kunden darauf, dass der Betrieb aktuell geschlossen sei, sei unterblieben, weil dies die Kunden verschrecke. Es sei sinnvoller, telefonischen Kontakt mit potentiellen Kunden zu suchen, ihnen die Situation zu erklären und sie persönlich zu vertrösten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Wegen der Sanierungs- und Renovierungsarbeiten habe man im Abstellraum ein Bett untergebracht. Dass Frau C. in dem Betrieb der Prostitution nachgegangen sei von dem Antragsgegner nicht dargelegt worden und werde bestritten. Herumliegende Kleidungsstücke und Schuhe indizierten keinen Betrieb. Dass der Erstkontakt und die Verhandlung zwischen der Prostituierten und dem Kunden stattfinde werde bestritten. Aus der Abrechnung des EC-Gerätes ergebe sich, dass seit dem Jahr 2021 keine Transaktionen mehr stattgefunden hätten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Es treffe nicht zu, dass keine gültigen Bescheinigungen nach § 5 und § 10 ProstSchG vorlägen. Solche hätten bei der Antragstellerin angefordert werden können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Eines Widerrufs der Erlaubnis habe es nicht bedurft. Weder sei ein solcher erforderlich noch angemessen. Er sei übermäßig und willkürlich. Die Antragstellerin sei bisher nicht negativ in Erscheinung getreten. Der Widerruf und die Anordnung des Sofortvollzuges seien unverständlich, unbegründet und ermessensfehlerhaft. Der Antragsgegner sei distanzlos und übergriffig vorgegangen und voreingenommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Das Aussetzungsinteresse überwiege das öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug. Insbesondere sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig, weil zuvor keine Anhörung erfolgt sei. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung komme einem Berufsverbot gleich. Für ihre Rechtmäßigkeit reiche die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung – die hier nicht einmal gegeben sei – nicht aus. Vielmehr sei ein hinreichendes Vollzugsinteresse erforderlich, welches hier nicht gegeben sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin beantragt wörtlich,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">die aufschiebende Wirkung der Klage bzgl. Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides des Beklagten vom 21.07.2022 zu Az. R. wiederherzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Er beruft sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid und führt ergänzend aus: Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei kein Verwaltungsakt. Deshalb sei eine Anhörung nicht erforderlich. Der Vergleich zu einem Berufsverbot gehe fehl, weil die Antragstellerin noch weitere Prostitutionsstätten betreibe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Das Gericht versteht den Antrag der anwaltlich vertretenen Antragstellerin gemäß den §§ 88, 122 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ausweislich seines Wortlauts derart, dass die Antragstellerin sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur gegen den unter Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides verfügten Widerruf und nicht auch gegen die unter Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides verfügte Kostentragungspflicht wendet. Ausführungen zu § 80 Absatz 6 VwGO sind demnach nicht erforderlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>So verstanden hat der Antrag keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Er ist nach § 80 Absatz 5 Satz 1, 2. Alternative VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ein Fall des § 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 VwGO liegt vor, weil der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Widerrufs unter Ziffer 2 seines Bescheides vom 21. Juli 2022 angeordnet hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formal nicht zu beanstanden. Der Antragsgegner hat in ausreichender Weise gemäß § 80 Absatz 3 Satz 1 VwGO schriftlich begründet, warum er das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung als gegeben erachtet. Das Begründungserfordernis dieser Vorschrift ist erfüllt, wenn die Behörde die Erwägungen offenlegt, die sie im konkreten Fall veranlasst haben, von der Möglichkeit des § 80 Absatz 2 Satz1 Nummer 4 VwGO Gebrauch zu machen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Hier hat der Antragsgegner ausgeführt, dass die präventive Schutzfunktion des Prostituiertenschutzgesetzes und das öffentliche Interesse an der Einhaltung der rechtlichen Vorgaben des Erlaubnisbescheides vom 30. Januar 2019 die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit begründet. Die Nichterfüllung der rechtlichen Schutz- und Sicherungsanforderungen und die dadurch entstehende Gefahr für die in der Prostitutionsstätte tätigen Prostituierten und für die sich dort aufhaltenden Kunden sei nicht hinnehmbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Dadurch bringt er zum Ausdruck, dass das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage hinter dem Vollzugsinteresse zurücktreten müsse. Aus den Erwägungen des Antragsgegners und insbesondere aus dem Hinweis auf die der Antragstellerin am 30. Januar 2019 erteilten Erlaubnis ergibt sich, dass er sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst war und eine entsprechende Abwägung getroffen hat. Gleichwohl weist das Gericht darauf hin, dass es nicht die Annahme des Antragsgegners teilt, der Weiterbetrieb eines möglicherweise die rechtlichen Schutz- und Sicherungsanforderungen nicht erfüllenden Betriebes während des laufenden Hauptsacheverfahrens könne nicht hingenommen werden. Denn dass dies jedenfalls grundsätzlich möglich ist ergibt sich gerade aus dem gesetzlichen Regelfall des § 80 Absatz 1 Satz 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Einer gesonderten Anhörung zur Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 1 des Niedersächsischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (NVwVfG) in Verbindung mit § 28 Absatz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) bedurfte es nicht, weil die Anordnung der sofortigen Vollziehung keinen Verwaltungsakt im Sinne von § 1 NVwVfG in Verbindung mit § 35 Satz 1 VwVfG darstellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Auch im Übrigen besteht keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Widerruf der Erlaubnis wiederherzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Nach § 80 Absatz 5 Satz 1, 2. Alternative VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage wiederherstellen, wenn die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes nicht im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt. Das Gericht entscheidet also auf der Grundlage einer Abwägung der widerstreitenden Interessen; das sind hier das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung der behördlichen Verfügung einerseits und das Interesse der Antragstellerin, bis zur Entscheidung über ihre Klage weiterhin eine Prostitutionsstätte zu betreiben, andererseits. Dabei fallen die Erfolgsaussichten der erhobenen Klage entscheidend mit ins Gewicht. Ergibt die Einschätzung, dass diese voraussichtlich erfolgreich sein wird, überwiegt das private Aussetzungsinteresse, da an dem Vollzug eines voraussichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse bestehen kann. Ergibt die Bewertung hingegen, dass die Klage voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird, besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids, soweit ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse anzunehmen ist. Ist der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache offen, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung zu ermitteln, wessen Interesse für die Dauer des Hauptsacheverfahrens der Vorrang einzuräumen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Vorliegend ist bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass die von der Antragstellerin erhobene Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte ohne Erfolg bleiben wird, da dieser aller Voraussicht nach zu Recht erfolgt ist und eine subjektive Rechtsverletzung der Antragstellerin im Sinne des § 113 Absatz 1 Satz 1 VwGO daher nicht vorliegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Der unter Ziffer 1 des Bescheides vom 21. Juli 2022 verfügte Widerruf beruht auf der Rechtsgrundlage des § 23 Absatz 2 Nummer 1 ProstSchG und ist voraussichtlich formell und materiell rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Er ist insbesondere formell rechtmäßig, weil die nach § 1 NVwVfG in Verbindung mit § 28 Absatz 1 VwVfG erforderliche Anhörung erfolgt ist. Der Antragsgegner hat in dem Anhörungsschreiben vom 2. Juni 2022 die festgestellten elf Verstöße aufgeführt und der Antragstellerin Gelegenheit gegeben, zu diesen Vorwürfen Stellung zu nehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Der Widerruf ist materiell rechtmäßig. Nach § 23 Absatz 2 Nummer 1 ProstSchG ist die Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte zu widerrufen, wenn nachträglich Tatsachen eintreten, die die Versagung nach § 14 Absatz 1 Nummer 2 ProstSchG rechtfertigen würden. Gemäß § 14 Absatz 1 Nummer 2 ProstSchG ist die Erlaubnis zu versagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die antragstellende Person oder eine als Stellvertretung, Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes vorgesehene Person nicht die für den Betrieb eines Prostitutionsgewerbes erforderliche Zuverlässigkeit besitzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Unzuverlässig ist, wer nach dem Gesamtbild seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, dass er das von ihm ausgeübte Gewerbe in Zukunft ordnungsgemäß betreiben wird. Dabei beinhaltet die Entscheidung über die Unzuverlässigkeit eine Prognose, ob in Zukunft ein Fehlverhalten des Gewerbetreibenden wahrscheinlich ist. Grundlage der Prognoseentscheidung sind die in der Vergangenheit und Gegenwart liegenden Tatsachen, die die nicht ordnungsgemäße Gewerbeausübung in der Zukunft wahrscheinlich erscheinen lassen. Dabei entspricht es den allgemeinen Grundsätzen des Rechts der Gefahrenabwehr, umso strengere Anforderungen an die Zuverlässigkeit zu stellen, je schutzwürdiger die Rechtsgüter sind, die gefährdet werden können, und je höher der mögliche Schaden ist (vgl. VG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 7. Juli 2020 – 12 B 28/20 –, juris Rn. 26 unter Verweis auf die st. Rspr. vgl. BVerwG, Urt. v. 7. November 2012 – 8 C 28/11 –, Rn. 18 - 19, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Die Unzuverlässigkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der vom Gericht voll nachzuprüfen ist. Die Tatsachen, auf die die Unzuverlässigkeit gestützt werden soll, müssen gewerbebezogen sein, das heißt die Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden im Hinblick auf das konkret ausgeübte Gewerbe in Frage stellen. Es gibt keine Unzuverlässigkeit schlechthin (Marcks in: Landmann/Rohmer, GewO, Werkstand: 86. EL Februar 2021, § 35 Rn. 28 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner hat nach diesem Maßstab voraussichtlich mit Recht angenommen, dass der Antragstellerin die prostitutionsgewerberechtliche Zuverlässigkeit fehlt. Zur Begründung nimmt das Gericht auf den angefochtenen Bescheid Bezug und macht sich dessen Begründung zu eigen. Die Antragstellerin hat mehrere Verstöße gegen ihr Betriebskonzept, gegen das Prostituiertenschutzgesetz und gegen die ihr erteilte Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte und deren Auflagen begangen, die in der Gesamtschau die von dem Antragsgegner getroffene negative Prognose rechtfertigen. Im Einzelnen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>1. Das verunreinigte Wasser im Whirlpool (vgl. Nummer 1 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße) widerspricht dem mit der Auflage Nummer 3 der Erlaubnis vom 30. Januar 2019 in Verbindung mit § 17 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 ProstSchG verfolgten Ziel des Gesundheitsschutzes der im Prostitutionsgewerbe tätigen Prostituierten, der übrigen Beschäftigten sowie der Kunden dar. Die Einwendung der Antragstellerin hiergegen, der Whirlpool sei nicht funktionsfähig und auch nicht benutzt worden, werde aber trotzdem „regelmäßig gewartet und entsprechend der [ihr] erteilten Erlaubnis beprobt und kontrolliert“, ist widersprüchlich und wird als Schutzbehauptung angesehen. Dem Gericht erschließt sich nicht, aus welchen Gründen die Antragstellerin den Whirlpool – wenn auch nur zu einem geringen Füllstand – mit Wasser befüllt und vierteljährlich durch ein akkreditiertes Labor untersuchen lässt (vgl. Auflage Nummer 3 der Erlaubnis vom 30. Januar 2019), wenn dieser nicht funktionsfähig ist. Es bestehen außerdem Zweifel daran, dass die Antragstellerin die Untersuchungen tatsächlich hat vornehmen lassen, weil die Untersuchungsbefunde dem Antragsgegner nach dessen Vorbringen nicht vorgelegt wurden und auch im gerichtlichen Verfahren nicht vorgelegt worden sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>2. Die Feststellung, dass in keinem Raum das Notrufsystem funktionsfähig und im Arbeitszimmer 3 das Telefon nicht funktionsfähig gewesen sei (vgl. Nummer 2 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße), stellt die Antragstellerin – soweit für das Gericht ersichtlich – selbst nicht in Abrede. Sie beruft sich vielmehr darauf, dass diese zum Zeitpunkt der Kontrolle am 13. Mai 2022 auch nicht erforderlich gewesen seien, weil kein Prostitutionsbetrieb und keine Prostitution stattgefunden hätten. Die Tatsache, dass in keinem Raum das Notrufsystem funktionsfähig und im Arbeitszimmer 3 das Telefon nicht funktionsfähig war, stellt einen Verstoß gegen Ziffer III der Ergänzungen zu dem Betriebskonzept der Antragstellerin vom 9. Juli 2018 und § 18 Absatz 2 Nummer 2 ProstSchG dar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Das Gericht geht auch davon aus, dass zum Zeitpunkt der Kontrolle am 13. Mai 2022 in dem Betrieb der Antragstellerin Prostitution stattfand. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob dies im Einvernehmen oder auch nur in Kenntnis der Antragstellerin geschah. Denn zu den wesentlichen Pflichten der Antragstellerin als Betreiberin eines Prostitutionsgewerbes gehört es, etwaigen Verstößen in ihrem Bordellbetrieb wirksam entgegenzutreten. Den Betreiber eines Prostitutionsgewerbes trifft eine Aufsichtspflicht über seinen Betrieb. Art und Umfang der zu treffenden Maßnahmen bestimmen sich nach der jeweiligen Gefahrenlage und hängen daher auch von dem Betriebskonzept und der Gestaltung der Betriebsräume ab, die erforderlichenfalls verändert werden müssen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 29. März 2021 – 4 B 387/20 –, juris bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz). Bestandteil dieser Aufsichtspflicht ist, dass die Antragstellerin den Prostitutionsbetrieb während der Zeit der behaupteten Renovierungsarbeiten wirksam unterbindet, wenn die Prostitutionsstätte in dieser Zeit den Anforderungen des Betriebskonzepts und des Prostituiertenschutzgesetzes nicht genügt. Diese Aufsichtspflicht hat die Antragstellerin hier verletzt. Die Antragstellerin hat keine bzw. nicht ausreichende Maßnahmen ergriffen, um die Prostitution in ihrem Betrieb während der behaupteten Renovierungsarbeiten zu unterbinden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>Dass zum Zeitpunkt der Kontrolle am 13. Mai 2022 Prostitution – auch – in dem Betrieb der Antragstellerin stattfand, steht für das Gericht nach den Feststellungen des Antragsgegners fest. Für einen Betrieb spricht insbesondere die Tatsache, dass sich weder im Internet noch vor Ort Hinweise darauf finden lassen, dass der Betrieb zur Zeit geschlossen ist. Im Gegenteil bieten die in dem Betrieb tätigen Prostituierten ihre Dienstleistungen weiterhin telefonisch und im Internet ohne Einschränkungen an. Für einen Betrieb sprechen weiter die Umstände, dass sich zum Zeitpunkt der Kontrolle am 13. Mai 2022 Prostituierte im Betrieb der Antragstellerin aufhielten und dass benutzte Betten, Kleidungsstücke, Unterwäsche und Sektgläser vorgefunden wurden. Ebenso die Tatsache, dass keinerlei Werkzeuge und Arbeitsmaterialien vorgefunden wurden, die auf Renovierungsarbeiten hindeuteten. Das Vorbringen der Antragstellerin vermag diese Feststellungen nicht hinreichend in Zweifel zu ziehen. Soweit die Antragstellerin andeutet, die zum Zeitpunkt der Kontrolle nicht mehr anwesenden Bauarbeiter hätten möglicherweise aus den vorgefundenen Sektgläsern Kaffee getrunken und die in der Küche vorgefundene warme Mahlzeit zubereitet, folgt das Gericht dem nicht, sondern hält das Vorbringen für eine Schutzbehauptung. Dasselbe gilt für das Vorbringen der Antragstellerin, man habe den zunächst als Abstellraum genutzten Raum des Betriebes nur deswegen mit einem Doppelbett ausgestattet, um dieses Doppelbett vor den im Zusammenhang mit den Renovierungsarbeiten anfallenden Verschmutzung zu schützen. Das ist insbesondere deswegen nicht plausibel, weil dies die einzige, von der Antragstellerin in Bezug auf die Renovierungsarbeiten getroffene Schutzmaßnahme ist. Zu Recht weist der Antragsgegner in diesem Zusammenhang daraufhin, dass laufende Renovierungsarbeiten – insbesondere Maler- und Fliesenarbeiten – gewöhnlich weitere Schutzmaßnahmen, z.B. Tritt-, Staub- oder Tropfschutz erwarten lassen. Auch die von der Antragstellerin vorgelegte Rechnung vom 16. Mai 2022 über Maler- und Fliesenarbeiten über einen Zeitraum vom 5. bis 16. Mai 2022 vermag die behauptete Betriebsschließung nicht zu belegen. Der Betrieb ist nach dem Vorbringen der Antragstellerin seit mindestens vier Monaten (Mai – August 2022) geschlossen, wobei über das Ende der Renovierungsarbeiten unterschiedliche Angaben gemacht wurden. Es ist nicht plausibel, dass in diesem Zeitraum nur eine einzige Rechnung geschrieben wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>3. Die Feststellung, dass Räume, die für sexuelle Dienstleistungen genutzt wurden auch als Schlaf- und Wohnräume genutzt werden (vgl. Nummer 3 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße), steht im Widerspruch zu Ziffer III.8 des Betriebskonzepts der Antragstellerin vom 15. Januar 2018 und § 18 Absatz 2 Nummer 7 ProstSchG. Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang auf den Barbereich und die Küche verweist, folgt daraus nichts Anderes. Denn nach dem Wortlaut des § 18 Absatz 2 Nummer 7 ProstSchG kommt es nicht auf die Trennung von Dienstleistungs- und Aufenthaltsräumen, sondern auf die Trennung von Dienstleistungs- und Schlafräumen an. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen des Gerichts verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>4. Der Umstand, dass während der Prostitution in dem Betrieb neben den Prostituierten keine weiteren, insbesondere nicht die von der Antragstellerin benannten, Personen anwesend sind (vgl. Nummern 4 und 7 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße), widerspricht Ziffer IV.1 des Betriebskonzepts und § 18 Absatz 1 Nummer 1 ProstSchG. Zutreffend weist der Antragsgegner darauf hin, dass die in dem Betrieb der Antragstellerin beschäftigten Prostituierten ohne die Anwesenheit eines Mitarbeiters der Antragstellerin schutzlos sind. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen des Gerichts verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>5. Die Tatsache, dass keine Hygieneartikel und Kondome von der Antragstellerin zur Verfügung gestellt worden sind (vgl. Nummer 8 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße), stellt einen Verstoß gegen Ziffer IV.3 der Ergänzungen zu dem Betriebskonzept und § 24 Absatz 2 Satz 2 ProstSchG dar. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen des Gerichts verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>6. Dass der Betrieb gegenüber der Erlaubnis um zwei weitere Arbeitszimmer erweitert wurde, von denen eines über keinen Fluchtweg verfügt (vgl. Nummern 10 und 11 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße), steht in Widerspruch zu Ziffer III.1 des Betriebskonzepts und der raumbezogenen Erlaubnispflicht des § 12 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 ProstSchG. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen des Gerichts verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>7. Das Gericht vermag dem Vorbringen des Antragsgegners nur teilweise zu folgen, niemand habe das vereinnahmte Geld an die Prostituierten auszahlen und ihnen Quittungen und Mietverträge aushändigen können (vgl. Nummern 5 und 6 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße). Die Nichtanwesenheit der von der Antragstellerin benannten Personen gefährdet zwar die Sicherheit der im Betrieb tätigen Prostituierten und stellt damit einen Verstoß gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 18 Absatz 1 Nummer 1 ProstSchG dar (s.o.). Es ist aber nicht ersichtlich, dass es erforderlich wäre, das vereinnahmte Geld jederzeit an die Prostituierten auszahlen zu können und ihnen Quittungen auszustellen. Denn nach dem von der Antragstellerin vorgelegten Kontoauszügen hat diese im maßgeblichen Zeitraum kein Geld von den Prostituierten vereinnahmt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>8. Weiter vermag das Gericht dem Vorbringen des Antragsgegners nicht zu folgen, im Betrieb seien keine Angaben über anwesende Prostituierte vorgehalten worden und Prostituierte seien tätig gewesen, die nicht über die erforderlichen Bescheinigungen nach den §§ 5 und 10 ProstSchG verfügten (vgl. Nummern 6 und 9 der von der Antragstellerin in ihrem Bescheid vom 21. Juli 2022 festgestellten Verstöße). Denn die Antragstellerin wendet dagegen zu Recht ein, dass diese Unterlagen bei ihr von dem Antragsgegner auch nicht angefordert wurden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>9. In der Gesamtschau rechtfertigt die Anzahl und die Schwere der festgestellten Verstöße gegen das Betriebskonzept und das Prostituiertenschutzgesetz die Annahme, dass die Antragstellerin die Einhaltung auch in Zukunft nicht gewährleisten wird. Etwas Anderes folgt nicht aus dem Umstand, dass die Antragstellerin zuvor nicht negativ in Erscheinung getreten ist. Denn das ist keine besondere Leistung der Antragstellerin, sondern Mindestvoraussetzung für den Betrieb einer Prostitutionsstätte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>Bei § 23 Absatz 2 Nummer 1 ProstSchG handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, die der Behörde keinen Ermessensspielraum eröffnet. Das Gericht lässt offen, ob der teilweise vertretenen Rechtsansicht zu folgen ist, dass bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unzuverlässigkeit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen ist (vgl. VG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 7. Juli 2020 – 12 B 28/20 –, juris Rn. 47 ff.). Daran bestehen Zweifel, weil eine solche gesonderte Verhältnismäßigkeitsprüfung auch bei Gewerbeuntersagungen nach § 35 der Gewerbeordnung nicht erforderlich ist. Jedenfalls ist eine Verhältnismäßigkeit aber gegeben. Denn der Widerruf ist kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin aus Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit Artikel 12 Absatz 1 GG. Denn der Schutzbereich des Artikel 12 Absatz 1 GG der Antragstellerin ist durch den Widerruf der Erlaubnis nur nach Maßgabe des Artikel 19 Absatz 3 GG und vor dem Hintergrund, dass sie weitere Prostitutionsstätten betreibt, nur in geringem Maße betroffen. Dieser Eingriff kann durch vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden. Eine solche ist in dem Schutz der Prostituierten zu sehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner war insbesondere nicht gehalten, zunächst ein milderes Mittel anzuwenden. Den vom Gesetzgeber vorausgesetzten hohen Anforderungen an die Zuverlässigkeit von Prostitutionsgewerbetreibenden zum Schutz der sensiblen Rechtsgüter der persönlichen Freiheit, der sexuellen Selbstbestimmung, der körperlichen Integrität und der persönlichen Sicherheit von Prostituierten und Kunden hat der Betreiber einer Prostitutionsstätte im vollen Umfang Rechnung zu tragen. Dem legitimen Anspruch der Antragstellerin, nicht für alle Zeiten vom Prostitutionsgewerbe ausgeschlossen zu werden, ist aufgrund der Vorschrift des § 15 Absatz 1 Nummer 2 ProstSchG genüge getan, wonach in der Regel nicht die erforderliche Zuverlässigkeit besitzt, wem innerhalb der letzten fünf Jahre vor Antragstellung die Erlaubnis zur Ausübung eines Prostitutionsgewerbes entzogen wurde. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift eine Regelung getroffen, wonach nach Ablauf von fünf Jahren die Regelvermutung der Unzuverlässigkeit bei einer erneuten Beantragung einer Erlaubnis nicht mehr gelten soll (vgl. VG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 7. Juli 2020 – 12 B 28/20 –, juris Rn. 49).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>An der sofortigen Vollziehbarkeit des Widerrufs der Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte besteht im vorliegenden Fall auch ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, welches das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin an der weiteren prostitutionsgewerblichen Tätigkeit im Rahmen ihrer Berufsfreiheit nach Artikel 19 Absatz 3 GG in Verbindung mit Artikel 12 Absatz 1 GG überwiegt. Das besondere öffentliche Vollzugsinteresse ergibt sich dabei aus dem Schutz der in dem Betrieb der Antragstellerin tätigen Prostituierten und ihrer Kunden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Absatz 1 VwGO, wonach der unterlegene Teil die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat. Hier unterliegt die Antragstellerin.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß § 53 Absatz 2 Nummer 2 in Verbindung mit § 52 Absatz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) in Anlehnung an die Nummern 1.5 und 54.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Danach ist der Streitwert nach der sich aus dem Antrag für den Antragsteller ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Nach Nummer 54.1 des Streitwertkataloges ist für eine Klage betreffend eine Gewerbeerlaubnis oder Gaststättenkonzession als Streitwert der Jahresgewinn dieses Gewerbes anzusetzen, mindestens aber 15.000 Euro. Da dem Gericht weder der erzielte noch der erwartete Jahresgewinn der von der Antragstellerin betriebenen Prostitutionsstätte bekannt ist, legt es den Mindestbetrag von 15.000 Euro zu Grunde (im Ergebnis auch Nds. OVG, Beschl. v. 17. Oktober 2019 - 7 ME 48/19 – n.v.). Dieser Betrag ist aufgrund der Vorläufigkeit des vorliegenden Verfahrens entsprechend Nummer 1.5 des Streitwertkataloges zu halbieren (15.000 Euro/2 = 7.500 Euro).</p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE220032043&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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<p>Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.05.2022 wird aufgehoben.</p><p>Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig.</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 15.01.2022 über die Türkei, Bulgarien und Serbien kommend auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Er gab an, am 2001 in Kabul geborener afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens sunnitischer Prägung zu sein. Er stellte am 03.02.2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 11.05.2022 gab der Kläger ausweislich des in den Akten befindlichen Protokolls an, in Bulgarien zur Asylantragstellung gezwungen worden zu sein, man habe ihn in ein Gefängnis gesteckt. Dort sei ihm gesagt worden, wenn er Fingerabdrücke abgebe, bekäme er auch etwas zu essen, ansonsten nicht. In Österreich hätten die Beamten solange mit ihnen gestritten, bis er und andere Flüchtlinge auch dort einen Asylantrag gestellt hätten. In Bulgarien sei er geschlagen worden, insbesondere die Polizei habe sie schlecht behandelt. Sie hätten in der Unterkunft kein richtiges Essen erhalten, es sei auch nicht nach dem Essen abgeräumt und sauber gemacht worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Das Bundesamt richtete am 09.02.2022 ein Wiederaufnahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Bulgarien. Die bulgarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 23.02.2022 ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme des Klägers gemäß Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Bescheid vom 23.05.2022, zugestellt ausweislich der Postzustellungsurkunde am 28.05.2022, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Bulgarien wurde angeordnet (Nr. 3), das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Am 31.05.2022 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg erhoben und zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, einen Rechtsanspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland zu haben. Er sei nach der ersten Einreise in Bulgarien zunächst zurück in die Türkei gebracht worden, habe es dann aufgrund der ausweglosen Situation in Afghanistan erneut versucht. In Sofia sei er dann aufgehalten und in das Flüchtlingslager P. gebracht worden, wo er 15 Tage verbracht habe. Dort sei er von vier Polizisten auf einer Toilette bzw. den Sanitäranlagen ohne Kamera verprügelt worden, mit Fäusten und Schlagstöcken. Dabei sei seine rechte Hand gebrochen worden; er habe jedoch Bulgarien nach diesem Schock dringend verlassen wollen und deshalb habe seine Hand nicht verarztet werden können, sie sei falsch zusammengewachsen. Die Vorstellung, nach Bulgarien zurück zu müssen, mache ihm Alpträume. Er könne nicht in einem Land leben, in dem er sich so diskriminiert fühle und Angst vor der Polizei haben müsse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Der Kläger beantragt sachdienlich,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="8"/>den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.05.2022 aufzuheben,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>hilfsweise festzustellen, dass ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="11"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Beschluss vom 22.06.2022 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (A 14 K 1476/22).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Ebenfalls mit Beschluss vom 22.06.2022 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 20.07.2022 auf mündliche Verhandlung verzichtet, der Kläger hingegen hat mit Schreiben vom 19.07.2022 ausdrücklich um eine mündliche Verhandlung gebeten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 24.08.2022 angehört. Hinsichtlich des Inhalts seiner Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten des Bundesamts vor. Diese Akten werden ebenso wie die Erkenntnismittel, die in der Ladung mitgeteilten und auf der Homepage des VGH Mannheim veröffentlichten und jeweils aktualisierten Liste (Bulgarien, Quartal 3 - 2022) aufgeführt sind, zum Gegenstand der Entscheidung gemacht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Hierauf sowie auf die Gerichtsakte und die gewechselten Schriftsätze wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergänzend Bezug genommen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Einzelrichterin durfte am 24.08.2022 verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht anwesend war, denn sie ist in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 23.05.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Nicht Bulgarien, sondern Deutschland ist für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>1. Zwar durfte das Bundesamt gemäß der sekundären Zuständigkeitskriterien der Art. 18 Abs. 1 b) und 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst davon ausgehen, dass Bulgarien für die Wiederaufnahme des Klägers und die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist, nachdem Bulgarien dem Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 09.02.2021 mit Schreiben vom 23.02.2022 unter Hinweis auf eine Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO entsprochen hatte. Eine weitere Überprüfung der Zuständigkeit Bulgariens erfolgt insoweit nicht, da nach der Formulierung in Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO sowie nach der im Wiederaufnahmeverfahren strukturell gegebenen vorrangigen Prüfungskompetenz des Erstantragsstaats eine Überprüfung der primären Zuständigkeit durch den Zweitantragsstaat im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 02.04.2019 - Rs C-582/17 – <H und R>, juris Rn. 58 ff; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 29 Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs steht die Zuständigkeit Bulgariens damit grundsätzlich fest. Denn Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO findet nur Anwendung, wenn der Mitgliedstaat, in dem zuvor ein Antrag gestellt wurde, bereits - nach Abschluss des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats - seine Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags bejaht und mit der Prüfung des Antrages nach der Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) begonnen hat. Eine erneute Anwendung der Regeln über das Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit, darunter in erster Linie der in Kapitel III der Dublin III-VO niedergelegten Kriterien, erübrigt sich in einem solchen Fall (vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 67 u. 80)</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>2. Es kommt aber vorliegend die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO zum Tragen. Danach darf ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall ist – wenn sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats nicht feststellen lässt – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind im Fall des Klägers erfüllt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulment-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). Unionsweit betrug die Anerkennungsquote im Jahr 2016 hingegen 56 % (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, S. 6, aufrufbar: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/DG-HOME-Letter-to-BG-6-July-2017.pdf), im Jahr 2019 46% (AIDA, aaO, S. 49 f.). Die Europäische Kommission hatte im Juli 2017 ein Ermahnungsschreiben an Bulgarien gerichtet (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, aaO, S. 6 f.), das Grund für den kurzzeitigen Anstieg im Jahr 2019 gewesen sein dürfte. Der Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 von Amnesty International führt an, dass es zu Diskriminierung bei der Anerkennung von Asylsuchenden komme. Staatsbürger aus Pakistan, dem Irak und Algerien würden eine automatische Ablehnung erhalten. Zudem sei die Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Afghanistan signifikant niedriger als im Rest der EU (AI 2020: Human Rights Review in Europe – Review of 2019 – Bulgaria, S. 1, verfügbar in der Asyldokumentation). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gelten Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine, China und Algerien für die Asylbehörde SAR als offensichtlich unbegründet. Asylsuchende aus diesen Ländern liefen zudem Gefahr, dass ihr Antrag während der Administrativhaft geprüft wird. Diese Praxis werde als Abschreckungsmethode angewandt (SFH (2019): Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, S. 17). Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dies nach der Machtübernahme der Taliban geändert haben könnte, aktuelle Erkenntnismittel stellen vielmehr fest, dass die Asylanträge der afghanischen Asylwerber weiterhin in beschleunigten Verfahren ganz überwiegend sogar als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, da Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 9).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien – ohne Anhörung, denn eine solche hat nach Angaben des Klägers nicht stattgefunden - abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert (Valeria Ilareva, Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der Dublin-Rückkehrer nach Bulgarien, 30.06.2016, S. 7). Nach neueren Erkenntnissen erhalten Folgeantragsteller hingegen keine Registrierungskarte und haben auch kein Recht auf materielle Versorgung. Sie haben lediglich ein Recht auf Übersetzerleistungen, während die Zulässigkeit ihres Folgeantrags im Eilverfahren geprüft wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 10). Soweit eine Entscheidung über das Asylgesuch in Abwesenheit gefällt und zugestellt worden ist, muss der Betroffene ohnehin damit rechnen, in Administrativhaft genommen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 18). Zudem besteht ein relevantes Risiko von Personen aller Herkunftsländer, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als Folgeantragsteller behandelt und in einer Hafteinrichtung festgehalten zu werden, wo ihnen eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GrCh droht (so für Personen, die sich während der Prüfung ihres Antrags in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auch VG Freiburg, Urteil vom 04.02.2016 - A 6 K 1356/14 -, VG Minden, Urteil vom 21.09.2016 - 3 K 2346/15.A -, VG Göttingen, Urteil vom 14.03.2017 - 2 A 141/16 -; jeweils juris; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09.06.2017 - A 2 K 3727/17 -).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>c<span style="text-decoration:underline">) </span>Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht. An die Widerlegung dieser Vermutung sind wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat für Asylantragsteller aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass auch dem Antragsteller im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCh droht. Es müssen also Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und daher wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizierbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 37, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. – Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits in massiver Form eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde wiederholt und gezielt geschlagen, sowohl im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt aus der Türkei nach Bulgarien, unter Einsatz von Fäusten, Gürteln und elektrischen Schlagstöcken sowie durch Fußtritte, als auch systematisch in dem Flüchtlingslager Pospanci, wo er durch das Wachpersonal – wie die anderen Flüchtlinge – mit Bedacht in von Überwachungskameras nicht einsehbare Bereiche verbracht und dort verprügelt worden war. Die Verweigerung ärztlicher Hilfe im Falle ernsthafter Verletzungen war Teil dieser bewussten Misshandlungen; infolge der unterbliebenen ärztlichen Versorgung ist die durch die Schläge erlittene Fraktur der rechten Hand des Klägers nicht richtig verheilt. Auch die von dem Kläger glaubhaft geschilderte Beobachtung, dass mit in der Flüchtlingsunterkunft vorhandenem Obst nicht die Flüchtlinge versorgt wurden, sondern das Wachpersonal das Obst für sich behielt, entspricht nicht einer menschenwürdigen Behandlung der Asylsuchenden. Bei dem Aufgriff durch die Grenzpolizei hatte er sich zudem zusammen mit den anderen aufgegriffenen Flüchtlingen vollständig entkleiden müssen, einschließlich der Unterwäsche. Er wurde all seiner Wertgegenstände einschließlich des Bargelds beraubt. Anschließend erhielt er lediglich die Unterhose zurück und musste in dieser Weise „bekleidet“, ohne Schuhe, ungeachtet der Jahreszeit im späten November, die Grenze zur Türkei überschreiten, völlig mittellos. Die psychischen Verletzungen aufgrund der erlebten Entwürdigungen vervollständigen die gravierenden Folgen der Vorkommnisse.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die anschaulichen und detaillierten Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sind dabei uneingeschränkt glaubhaft, sie enthalten individuelle Einzelheiten und finden zudem ihre Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen (siehe hierzu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, 24.07.2020, S. 15f.; Mathias Fiedler und Marc Speer, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, S. 42-47 mit einzelnen Berichten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 12-14).</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). Ebenso wie die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln, Oldenburg und Hannover aus dem Jahr 2020 stellt das VG Potsdam unter Berücksichtigung der Situation in Bulgarien seit Ausrufung der Pandemielage mit Urteil vom 11.01.2022 fest, dass dies sogar für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte gilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>dd) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>2021 war ein weiteres Jahr der „Null-Integration“. Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA Country Report: Bulgaria, 01.02.2022, S. 88). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts „Sova Harris“ im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten – Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integratonsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der – allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>ee) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 90; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2022, S. 90; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA Country Report Bulgaria 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf „Zentren für temporäre Unterbringung“ Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren „eigenen vier Wänden“ leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S. 21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen – was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submisson For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt. Der Verbindungsbeamte des BM.I für Bulgarien übermittelte am 21.05.2021 eine Auskunft der bulgarischen Staatsagentur für Flüchtlinge, aus der sich ergibt, dass es in Bulgarien keine NGO gibt, welche die Unterbringung für einen längeren Zeitraum gewährleistet, es bestehe eventuell die Möglichkeit für eine kurzfristige Unterbringung von bspw. einer Woche (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021, S. 4). Die Caritas als eine jener NGOs, die vor Ort Hilfe anbieten, hat mitgeteilt, dass die Unterbringungskapazitäten nur Platz für knapp 5.700 Menschen böten und längst erschöpft seien (BFA, aaO, 19.07.2021, S. 5).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde – allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>ff) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 97). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76). Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es „sicherlich möglich“ ist, mit dem Lohn für „einige“ dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 EUR pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 01.02.2022, S. 69).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 –, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 – 7 A 10.903/18 –, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten – und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten -, aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag – in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>gg) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 98; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 EUR monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 EUR monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 EUR im Landesschnitt, 397 EUR für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 EUR ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes „vielfältiges Programme“ verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>hh) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2021, S. 70 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 EUR für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind – so genannte „Out of Pocket“-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>ii) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die „Civil Squads for the Protection of Women and the Faith“ (CSPWF), die „Organization for the Protection of Bulgarian Citizens“ (OPBC), die „Military Union Vasil Levski“ (MU), das „Vasil Levski Committee for National Salvation“ (CNS) und das „Shipka Bulgarian National Movement“ (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S. 26 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die „Null-Integration“ seit nunmehr neun Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>d) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht dem Kläger selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen ein „Automatismus der Verelendung“ und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Der Kläger hat – wie bereits ausgeführt - eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGrCH durch körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen sowie durch die beschriebenen entwürdigenden Zustände beim Aufgriff durch die bulgarischen Grenzbeamten, die Abschiebung in die Türkei im November nur mit Unterhose „bekleidet“ sowie durch die systematischen Körperverletzungen durch das Wachpersonal in dem Flüchtlingslager Pospanci hinnehmen müssen, mit gravierenden Folgen für seine körperliche und seelische Gesundheit. Eine solche entwürdigende und erniedrigende Behandlung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche eines jungen Erwachsenen, es ist nachvollziehbar, dass diese Ergebnisse seine psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigt, er unter Schlafstörungen und unter Albträumen leidet. Schon vor diesem Hintergrund ist ihm die Rückkehr in das Land, in dem er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bereits mehrfach ausgesetzt war, nicht zumutbar. Zudem gehört er der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die aufgrund der Folgen dieser Behandlung zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihm nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder er über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der oben dargestellten Hindernisse die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>3. Da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsanordnung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Einzelrichterin durfte am 24.08.2022 verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht anwesend war, denn sie ist in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 23.05.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Nicht Bulgarien, sondern Deutschland ist für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>1. Zwar durfte das Bundesamt gemäß der sekundären Zuständigkeitskriterien der Art. 18 Abs. 1 b) und 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst davon ausgehen, dass Bulgarien für die Wiederaufnahme des Klägers und die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist, nachdem Bulgarien dem Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 09.02.2021 mit Schreiben vom 23.02.2022 unter Hinweis auf eine Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO entsprochen hatte. Eine weitere Überprüfung der Zuständigkeit Bulgariens erfolgt insoweit nicht, da nach der Formulierung in Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO sowie nach der im Wiederaufnahmeverfahren strukturell gegebenen vorrangigen Prüfungskompetenz des Erstantragsstaats eine Überprüfung der primären Zuständigkeit durch den Zweitantragsstaat im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 02.04.2019 - Rs C-582/17 – <H und R>, juris Rn. 58 ff; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 29 Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs steht die Zuständigkeit Bulgariens damit grundsätzlich fest. Denn Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO findet nur Anwendung, wenn der Mitgliedstaat, in dem zuvor ein Antrag gestellt wurde, bereits - nach Abschluss des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats - seine Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags bejaht und mit der Prüfung des Antrages nach der Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) begonnen hat. Eine erneute Anwendung der Regeln über das Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit, darunter in erster Linie der in Kapitel III der Dublin III-VO niedergelegten Kriterien, erübrigt sich in einem solchen Fall (vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 67 u. 80)</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>2. Es kommt aber vorliegend die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO zum Tragen. Danach darf ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall ist – wenn sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats nicht feststellen lässt – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind im Fall des Klägers erfüllt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulment-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). Unionsweit betrug die Anerkennungsquote im Jahr 2016 hingegen 56 % (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, S. 6, aufrufbar: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/DG-HOME-Letter-to-BG-6-July-2017.pdf), im Jahr 2019 46% (AIDA, aaO, S. 49 f.). Die Europäische Kommission hatte im Juli 2017 ein Ermahnungsschreiben an Bulgarien gerichtet (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, aaO, S. 6 f.), das Grund für den kurzzeitigen Anstieg im Jahr 2019 gewesen sein dürfte. Der Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 von Amnesty International führt an, dass es zu Diskriminierung bei der Anerkennung von Asylsuchenden komme. Staatsbürger aus Pakistan, dem Irak und Algerien würden eine automatische Ablehnung erhalten. Zudem sei die Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Afghanistan signifikant niedriger als im Rest der EU (AI 2020: Human Rights Review in Europe – Review of 2019 – Bulgaria, S. 1, verfügbar in der Asyldokumentation). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gelten Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine, China und Algerien für die Asylbehörde SAR als offensichtlich unbegründet. Asylsuchende aus diesen Ländern liefen zudem Gefahr, dass ihr Antrag während der Administrativhaft geprüft wird. Diese Praxis werde als Abschreckungsmethode angewandt (SFH (2019): Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, S. 17). Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dies nach der Machtübernahme der Taliban geändert haben könnte, aktuelle Erkenntnismittel stellen vielmehr fest, dass die Asylanträge der afghanischen Asylwerber weiterhin in beschleunigten Verfahren ganz überwiegend sogar als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, da Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 9).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien – ohne Anhörung, denn eine solche hat nach Angaben des Klägers nicht stattgefunden - abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert (Valeria Ilareva, Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der Dublin-Rückkehrer nach Bulgarien, 30.06.2016, S. 7). Nach neueren Erkenntnissen erhalten Folgeantragsteller hingegen keine Registrierungskarte und haben auch kein Recht auf materielle Versorgung. Sie haben lediglich ein Recht auf Übersetzerleistungen, während die Zulässigkeit ihres Folgeantrags im Eilverfahren geprüft wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 10). Soweit eine Entscheidung über das Asylgesuch in Abwesenheit gefällt und zugestellt worden ist, muss der Betroffene ohnehin damit rechnen, in Administrativhaft genommen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 18). Zudem besteht ein relevantes Risiko von Personen aller Herkunftsländer, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als Folgeantragsteller behandelt und in einer Hafteinrichtung festgehalten zu werden, wo ihnen eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GrCh droht (so für Personen, die sich während der Prüfung ihres Antrags in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auch VG Freiburg, Urteil vom 04.02.2016 - A 6 K 1356/14 -, VG Minden, Urteil vom 21.09.2016 - 3 K 2346/15.A -, VG Göttingen, Urteil vom 14.03.2017 - 2 A 141/16 -; jeweils juris; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09.06.2017 - A 2 K 3727/17 -).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>c<span style="text-decoration:underline">) </span>Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht. An die Widerlegung dieser Vermutung sind wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat für Asylantragsteller aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass auch dem Antragsteller im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCh droht. Es müssen also Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und daher wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizierbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 37, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. – Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits in massiver Form eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde wiederholt und gezielt geschlagen, sowohl im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt aus der Türkei nach Bulgarien, unter Einsatz von Fäusten, Gürteln und elektrischen Schlagstöcken sowie durch Fußtritte, als auch systematisch in dem Flüchtlingslager Pospanci, wo er durch das Wachpersonal – wie die anderen Flüchtlinge – mit Bedacht in von Überwachungskameras nicht einsehbare Bereiche verbracht und dort verprügelt worden war. Die Verweigerung ärztlicher Hilfe im Falle ernsthafter Verletzungen war Teil dieser bewussten Misshandlungen; infolge der unterbliebenen ärztlichen Versorgung ist die durch die Schläge erlittene Fraktur der rechten Hand des Klägers nicht richtig verheilt. Auch die von dem Kläger glaubhaft geschilderte Beobachtung, dass mit in der Flüchtlingsunterkunft vorhandenem Obst nicht die Flüchtlinge versorgt wurden, sondern das Wachpersonal das Obst für sich behielt, entspricht nicht einer menschenwürdigen Behandlung der Asylsuchenden. Bei dem Aufgriff durch die Grenzpolizei hatte er sich zudem zusammen mit den anderen aufgegriffenen Flüchtlingen vollständig entkleiden müssen, einschließlich der Unterwäsche. Er wurde all seiner Wertgegenstände einschließlich des Bargelds beraubt. Anschließend erhielt er lediglich die Unterhose zurück und musste in dieser Weise „bekleidet“, ohne Schuhe, ungeachtet der Jahreszeit im späten November, die Grenze zur Türkei überschreiten, völlig mittellos. Die psychischen Verletzungen aufgrund der erlebten Entwürdigungen vervollständigen die gravierenden Folgen der Vorkommnisse.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die anschaulichen und detaillierten Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sind dabei uneingeschränkt glaubhaft, sie enthalten individuelle Einzelheiten und finden zudem ihre Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen (siehe hierzu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, 24.07.2020, S. 15f.; Mathias Fiedler und Marc Speer, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, S. 42-47 mit einzelnen Berichten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 12-14).</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). Ebenso wie die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln, Oldenburg und Hannover aus dem Jahr 2020 stellt das VG Potsdam unter Berücksichtigung der Situation in Bulgarien seit Ausrufung der Pandemielage mit Urteil vom 11.01.2022 fest, dass dies sogar für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte gilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>dd) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>2021 war ein weiteres Jahr der „Null-Integration“. Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA Country Report: Bulgaria, 01.02.2022, S. 88). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts „Sova Harris“ im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten – Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integratonsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der – allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>ee) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 90; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2022, S. 90; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA Country Report Bulgaria 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf „Zentren für temporäre Unterbringung“ Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren „eigenen vier Wänden“ leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S. 21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen – was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submisson For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt. Der Verbindungsbeamte des BM.I für Bulgarien übermittelte am 21.05.2021 eine Auskunft der bulgarischen Staatsagentur für Flüchtlinge, aus der sich ergibt, dass es in Bulgarien keine NGO gibt, welche die Unterbringung für einen längeren Zeitraum gewährleistet, es bestehe eventuell die Möglichkeit für eine kurzfristige Unterbringung von bspw. einer Woche (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021, S. 4). Die Caritas als eine jener NGOs, die vor Ort Hilfe anbieten, hat mitgeteilt, dass die Unterbringungskapazitäten nur Platz für knapp 5.700 Menschen böten und längst erschöpft seien (BFA, aaO, 19.07.2021, S. 5).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde – allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>ff) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 97). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76). Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es „sicherlich möglich“ ist, mit dem Lohn für „einige“ dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 EUR pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 01.02.2022, S. 69).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 –, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 – 7 A 10.903/18 –, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten – und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten -, aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag – in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>gg) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 98; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 EUR monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 EUR monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 EUR im Landesschnitt, 397 EUR für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 EUR ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes „vielfältiges Programme“ verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>hh) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2021, S. 70 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 EUR für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind – so genannte „Out of Pocket“-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>ii) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die „Civil Squads for the Protection of Women and the Faith“ (CSPWF), die „Organization for the Protection of Bulgarian Citizens“ (OPBC), die „Military Union Vasil Levski“ (MU), das „Vasil Levski Committee for National Salvation“ (CNS) und das „Shipka Bulgarian National Movement“ (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S. 26 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die „Null-Integration“ seit nunmehr neun Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>d) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht dem Kläger selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen ein „Automatismus der Verelendung“ und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Der Kläger hat – wie bereits ausgeführt - eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGrCH durch körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen sowie durch die beschriebenen entwürdigenden Zustände beim Aufgriff durch die bulgarischen Grenzbeamten, die Abschiebung in die Türkei im November nur mit Unterhose „bekleidet“ sowie durch die systematischen Körperverletzungen durch das Wachpersonal in dem Flüchtlingslager Pospanci hinnehmen müssen, mit gravierenden Folgen für seine körperliche und seelische Gesundheit. Eine solche entwürdigende und erniedrigende Behandlung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche eines jungen Erwachsenen, es ist nachvollziehbar, dass diese Ergebnisse seine psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigt, er unter Schlafstörungen und unter Albträumen leidet. Schon vor diesem Hintergrund ist ihm die Rückkehr in das Land, in dem er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bereits mehrfach ausgesetzt war, nicht zumutbar. Zudem gehört er der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die aufgrund der Folgen dieser Behandlung zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihm nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder er über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der oben dargestellten Hindernisse die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>3. Da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsanordnung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
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346,893 | olgstut-2022-08-24-4-u-7422 | {
"id": 147,
"name": "Oberlandesgericht Stuttgart",
"slug": "olgstut",
"city": null,
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"jurisdiction": null,
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} | 4 U 74/22 | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-10-12T10:01:29 | 2022-10-17T11:11:00 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>1.</strong></p><p><strong>Auf die Berufung des Verfügungsklägers vom 02.06.2022 wird das Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 02.05.2022 - Az. 5 O 78/22 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:</strong></p><p><strong>a.</strong></p><p><strong>Die Verfügungsbeklagten - jeder für sich - haben es zu unterlassen, von dem Grundstück G…str. xx in … E… (Flurstück Nr.: …, …) aus, einen Baukran in den Luftbereich über dem Grundstück des Verfügungsklägers in der G…str. .., … E… (Flurstück Nr.: …) zu schwenken oder schwenken zu lassen.</strong></p><p><strong>b.</strong></p><p><strong>Den Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das Unterlassungsgebot in Ziffer 2 ein Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 EUR und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht.</strong></p><p><strong>2.</strong></p><p><strong>Die Verfügungsbeklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.</strong></p><p/>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Von einer Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 313a Abs. 1 S. 1, 542 Abs. 2 S. 1 ZPO abgesehen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die zulässige Berufung des Verfügungsklägers ist begründet.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Das Landgericht hat nur § 1004 BGB geprüft und übersehen, dass die Verfügungsbeklagten das in § 7d NRG BW (Hammerschlags- und Leiterrecht) vorgesehene Verfahren für eine Inanspruchnahme des Grundstücks des Verfügungsklägers nicht eingehalten haben. Deshalb ist ihnen diese Inanspruchnahme derzeit schon wegen verbotener Eigenmacht gemäß §§ 858, 862 BGB im Wege der einstweiligen Verfügung zu untersagen, ohne dass es darauf ankäme, ob den Verfügungskläger materiell-rechtlich eine entsprechende Duldungspflicht - etwa aus § 905 S. 2 BGB - treffen könnte (vgl. OLG München, Urteil vom 15.10.2020 – 8 U 5531/20, juris Rn. 8).</td></tr></table><table><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Jedes Einschwenken des Baukrans in den Luftraum über dem Grundstück des Verfügungsklägers stellt - ob mit oder ohne Lasten - eine Beeinträchtigung des Besitzes im Sinne des § 858 BGB dar. Es liegt ein Eingriff in die tatsächliche Herrschaftsmacht und damit ein dem Inhalt des Besitzes widersprechender Zustand vor (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 11.01.2011, 4 W 43/10, juris Rn. 12; OLG Karlsruhe, Urteil vom 11.12.1991 – 6 U 121/91, juris Rn. 17 ff; Staudinger/Bund, § 858 BGB Rn. 33).</td></tr></table><table><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Das nicht von einer Zustimmung des Verfügungsklägers gedeckte Verhalten der Verfügungsbeklagten - die mit Anwaltsschreiben vom 10.11.2021 umgekehrt sogar zur unverzüglichen Unterlassung des Überschwenkens des Grundstücks aufgefordert wurden - stellt damit eine verbotene Eigenmacht im Sinne des § 858 Abs. 1 BGB dar.</td></tr></table><table><tr><td>a.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Verfügungsbeklagten können sich hinsichtlich des Überschwenkens, das sowohl mit Last als auch ohne als „Übergreifen von Geräten“ auf das Nachbargrundstück im Sinne des § 7d NRG BW anzusehen ist, nicht auf das sog. Hammerschlags- und Leiterrecht gemäß § 7d NRG BW berufen, denn die Verfügungsbeklagten haben das nach Absatz 2 dieser Vorschrift vorgegebene Verfahren zumindest nicht vollständig eingehalten. Entgegen der gesetzlichen Vorgaben haben sie die Absicht, das Nachbargrundstück benutzen zu wollen, unstreitig nicht zwei Wochen vor Beginn der Benutzung angezeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Selbst wenn die Verfügungsbeklagten unter Einhaltung der Voraussetzungen des § 7d Abs. 2 NRG BW dem Verfügungskläger die beabsichtigte Inanspruchnahme rechtzeitig angezeigt hätten, so wären die Verfügungsbeklagten - wenn der Verfügungskläger dem widersprochen oder auf die Anzeige auch überhaupt nicht geantwortet hätte - nicht berechtigt gewesen, das vermeintliche Recht gegenüber dem Verfügungskläger eigenmächtig im Wege der Selbsthilfe durchzusetzen. Vielmehr muss der Nachbar in einer solchen Situation notfalls Duldungsklage erheben und darf das Nachbargrundstück dann erst auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung in Anspruch nehmen (BGH, Urteil vom 14.12.2012 - V ZR 49/12, juris Rn. 15 zur inhaltsgleichen Regelung des § 16 NachbG NRW; OLG Hamm, Beschluss vom 13.10.2011 – 5 W 48/11, juris Rn. 13 f; OLG München, Urteil vom 15.10.2020 – 8 U 5531/20, juris Rn. 18; Grüneberg/Herrler, 81. Aufl., § 858 BGB Rn. 6).</td></tr></table><table><tr><td>b)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Auf einen Notstand i.S.v. § 904 BGB berufen sich die Verfügungsbeklagten nicht - ein solcher ist auch nicht ersichtlich.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Eines Ausspruches zur vorläufigen Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, weil das vorliegende Urteil als zweitinstanzliche Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Verfügung keinem Rechtsmittel mehr unterliegt (§ 542 Abs. 2 S. 1 ZPO) und ohne besonderen Ausspruch endgültig vollstreckbar ist.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die zulässige Berufung des Verfügungsklägers ist begründet.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Das Landgericht hat nur § 1004 BGB geprüft und übersehen, dass die Verfügungsbeklagten das in § 7d NRG BW (Hammerschlags- und Leiterrecht) vorgesehene Verfahren für eine Inanspruchnahme des Grundstücks des Verfügungsklägers nicht eingehalten haben. Deshalb ist ihnen diese Inanspruchnahme derzeit schon wegen verbotener Eigenmacht gemäß §§ 858, 862 BGB im Wege der einstweiligen Verfügung zu untersagen, ohne dass es darauf ankäme, ob den Verfügungskläger materiell-rechtlich eine entsprechende Duldungspflicht - etwa aus § 905 S. 2 BGB - treffen könnte (vgl. OLG München, Urteil vom 15.10.2020 – 8 U 5531/20, juris Rn. 8).</td></tr></table><table><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Jedes Einschwenken des Baukrans in den Luftraum über dem Grundstück des Verfügungsklägers stellt - ob mit oder ohne Lasten - eine Beeinträchtigung des Besitzes im Sinne des § 858 BGB dar. Es liegt ein Eingriff in die tatsächliche Herrschaftsmacht und damit ein dem Inhalt des Besitzes widersprechender Zustand vor (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 11.01.2011, 4 W 43/10, juris Rn. 12; OLG Karlsruhe, Urteil vom 11.12.1991 – 6 U 121/91, juris Rn. 17 ff; Staudinger/Bund, § 858 BGB Rn. 33).</td></tr></table><table><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Das nicht von einer Zustimmung des Verfügungsklägers gedeckte Verhalten der Verfügungsbeklagten - die mit Anwaltsschreiben vom 10.11.2021 umgekehrt sogar zur unverzüglichen Unterlassung des Überschwenkens des Grundstücks aufgefordert wurden - stellt damit eine verbotene Eigenmacht im Sinne des § 858 Abs. 1 BGB dar.</td></tr></table><table><tr><td>a.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Verfügungsbeklagten können sich hinsichtlich des Überschwenkens, das sowohl mit Last als auch ohne als „Übergreifen von Geräten“ auf das Nachbargrundstück im Sinne des § 7d NRG BW anzusehen ist, nicht auf das sog. Hammerschlags- und Leiterrecht gemäß § 7d NRG BW berufen, denn die Verfügungsbeklagten haben das nach Absatz 2 dieser Vorschrift vorgegebene Verfahren zumindest nicht vollständig eingehalten. Entgegen der gesetzlichen Vorgaben haben sie die Absicht, das Nachbargrundstück benutzen zu wollen, unstreitig nicht zwei Wochen vor Beginn der Benutzung angezeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Selbst wenn die Verfügungsbeklagten unter Einhaltung der Voraussetzungen des § 7d Abs. 2 NRG BW dem Verfügungskläger die beabsichtigte Inanspruchnahme rechtzeitig angezeigt hätten, so wären die Verfügungsbeklagten - wenn der Verfügungskläger dem widersprochen oder auf die Anzeige auch überhaupt nicht geantwortet hätte - nicht berechtigt gewesen, das vermeintliche Recht gegenüber dem Verfügungskläger eigenmächtig im Wege der Selbsthilfe durchzusetzen. Vielmehr muss der Nachbar in einer solchen Situation notfalls Duldungsklage erheben und darf das Nachbargrundstück dann erst auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung in Anspruch nehmen (BGH, Urteil vom 14.12.2012 - V ZR 49/12, juris Rn. 15 zur inhaltsgleichen Regelung des § 16 NachbG NRW; OLG Hamm, Beschluss vom 13.10.2011 – 5 W 48/11, juris Rn. 13 f; OLG München, Urteil vom 15.10.2020 – 8 U 5531/20, juris Rn. 18; Grüneberg/Herrler, 81. Aufl., § 858 BGB Rn. 6).</td></tr></table><table><tr><td>b)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Auf einen Notstand i.S.v. § 904 BGB berufen sich die Verfügungsbeklagten nicht - ein solcher ist auch nicht ersichtlich.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Eines Ausspruches zur vorläufigen Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, weil das vorliegende Urteil als zweitinstanzliche Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Verfügung keinem Rechtsmittel mehr unterliegt (§ 542 Abs. 2 S. 1 ZPO) und ohne besonderen Ausspruch endgültig vollstreckbar ist.</td></tr></table></td></tr></table> |
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346,807 | fg-munster-2022-08-24-7-k-376419-e | {
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} | 7 K 3764/19 E | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-10-04T10:01:41 | 2022-10-17T11:10:46 | Urteil | ECLI:DE:FGMS:2022:0824.7K3764.19E.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Tatbestand</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Streitig ist, ob die Höhe des Gewinnzuschlags nach § 6b Abs. 7 des Einkommensteuergesetzes – EStG – verfassungsgemäß ist.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Kläger werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielt Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft und ermittelt seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich nach einem abweichenden Wirtschaftsjahr (01.07. bis 30.06.).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">In dem land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen des Klägers befand sich ein Grundstück mit einer Größe von 65.100 qm. Von diesem Grundstück veräußerte er eine Teilfläche (ca. 30.100 qm) an M T zu einem Kaufpreis von 145.500 EUR. Die Kaufpreiszahlung sollte durch die Stadt U erfolgen, welche zu diesem Preis ein Grundstück von M T erworben hatte. Besitz, Nutzen und Lasten sowie alle Gefahren sollten am Tage der Kaufpreiszahlung übergehen (vgl. notarieller Vertrag vom 28.03.2011, UR-Nr. 000/2011, Notar N in U, vgl. Sonderakte Grund und Boden). Der Kaufpreis wurde am 27.06.2011 in Höhe von 45.500 EUR und am 07.10.2011 in Höhe von 100.000 EUR gezahlt (vgl. Anlage zum Jahresabschluss 2011/2012 in der Sonderakte Grund und Boden).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger bildete für das Wirtschaftsjahr 2011/2012 eine Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG in Höhe von 64.698,67 EUR (vgl. Jahresabschluss 2011/2012). Eine Betriebsprüfung durch das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung E führte zu einer Erhöhung der Rücklage auf einen Betrag von 66.648,99 EUR, da der Prüfer von einem geringeren Buchwert des veräußerten Grundstücks und damit von einem höheren Veräußerungsgewinn ausging (vgl. Prüfungsbericht vom 27.03.2014 Tz. 2.2 und 2.5 sowie Anlage 1 Seite 2, Bl. 57 ff. der Gerichtsakte, sowie Überwachungsbogen in der Bilanzakte 2015/2016).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Stadt T bescheinigte mit Schreiben vom 22.12.2017, dass der Grunderwerb durch notariellen Vertrag vom 28.03.2011 zum Zwecke der Vorbereitung oder Durchführung von städtebaulichen Sanierungs- oder Entwicklungsmaßnahmen (Erweiterung eines Sportgeländes) erfolgt sei. Es sei gelungen, eine direkt an das bisherige Sportplatzgelände angrenzende Fläche von M T zu erwerben, und zwar unter der Voraussetzung, dass der Kläger ihm eine Ackerfläche überträgt (vgl. Bl. 78 f. der Gerichtsakte).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger löste die Rücklage in den Wirtschaftsjahren 2014/2015, 2015/2016 und 2016/2017 in Höhe von jeweils 22.216,33 EUR auf. Als Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG setzte er für das Wirtschaftsjahr 2014/2015 einen Betrag in Höhe von 3.998,94 EUR (entspricht 18 % von 22.216,33 EUR), für das Wirtschaftsjahr 2015/2016 einen Betrag in Höhe von 2.665,96 EUR (entspricht 12 % von 22.216,33 EUR) und für das Wirtschaftsjahr 2016/2017 einen Betrag in Höhe von 1.332,97 EUR (entspricht 6 % von 22.216,33 EUR) an (vgl. Überwachungsbogen in der Bilanzakte 2015/2016, Jahresabschlüsse zum 30.06.2015, 30.06.2016 und 30.06.2017, Bl. 14 der Gerichtsakte).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Einkommensteuer für 2015 berücksichtigte der Beklagte zunächst Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft in Höhe von 40.537 EUR und dabei erklärungsgemäß – jeweils hälftig – Gewinnzuschläge in Höhe von 3.998,94 EUR für das Wirtschaftsjahr 2014/2015 und in Höhe von 2.665,96 EUR für das Wirtschaftsjahr 2015/2016. Die Steuerfestsetzung erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 05.02.2019). Sodann änderte er die Steuerfestsetzung für 2015 und setzte den Gewinnzuschlag für die aufgelöste Rücklage im Wirtschaftsjahr 2015/2016 in Höhe von 5.331,84 EUR (entspricht 24 % von 22.216 EUR) an. Dies führte zu einer Erhöhung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft für 2015 um 1.333 EUR auf einen Gesamtbetrag von 41.870 EUR (Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 25.06.2019, Überwachungsbogen in der Bilanzakte 2015/2016).</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung für 2016 berücksichtigte der Beklagte Gewinnzuschläge für das Wirtschaftsjahr 2015/2016 in Höhe von 5.331,92 EUR (entspricht 24 % von 22.216,33 EUR) und für das Wirtschaftsjahr 2016/2017 in Höhe von 6.665,10 EUR (entspricht 30 % von 22.217 EUR). Er setzte die Zuschläge jeweils hälftig für das Jahr 2016 an; damit ergaben sich für 2016 Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft in Höhe von 49.181 EUR (Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 25.06.2019, Überwachungsbogen in der Bilanzakte 2015/2016). Aus hier nicht streitbefangenen Gründen änderte der Beklagte die Einkommensteuerfestsetzung für 2016 mit Einkommensteuerbescheid vom 25.07.2019.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit den gegen die Einkommensteuerfestsetzungen für 2015 und 2016 gerichteten Einsprüchen wendeten sich die Kläger gegen die Höhe der Gewinnzuschläge und baten, die Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung – AO – abzuwarten.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte lehnte ein Ruhen des Verfahrens ab und wies die Einsprüche mit Einspruchsentscheidung vom 11.11.2019 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er an, § 6b Abs. 7 EStG regele eine Gewinnerhöhung um 6 % des aufgelösten Rücklagenbetrages für jedes Wirtschaftsjahr, in dem die Rücklage bestanden habe. Ein Ruhen des Verfahrens scheide aus, da der Gewinnzuschlag keine Verzinsung im Sinne des § 238 AO sei.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit der dagegen gerichteten Klage machen die Kläger geltend, dass die Höhe des Gewinnzuschlags nach § 6b Abs. 7 EStG verfassungswidrig sei. Die Erwägungen, welche der Bundesfinanzhof – BFH – zur Verfassungswidrigkeit der Zinsen nach §§ 233a, 238 AO (BFH-Beschlüsse vom 25.04.2018 IX B 21/18, BStBl II 2018, 415 und vom 03.09.2018 VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279) und das Finanzgericht Hamburg zur Verfassungswidrigkeit der Abzinsung von Verbindlichkeiten nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG (FG Hamburg Beschluss vom 31.01.2019 2 V 112/18, EFG 2019, 525) angestellt hätten, seien auf § 6b Abs. 7 EStG übertragbar. Auch bei dem dort geregelten Gewinnzuschlag in Höhe von 6 % p.a. handele es sich um eine Verzinsung. Angesichts der dauerhaften Niedrigzinsphase sei allenfalls eine Verzinsung von 3 % p.a. gerechtfertigt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Er ist der Auffassung, dass § 6b Abs. 7 EStG einen Gewinnzuschlag und keine Verzinsung regele. Der Zuschlag solle zwar auch den faktischen Zinsvorteil einer Steuerstundung ausgleichen, stelle aber keine Verzinsung dar (Marchal in Herrmann/Heuer/Raupach, § 6b EStG Rn. 149).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Entscheidungsgründe</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist unbegründet. Die Einkommensteuerbescheide für 2015 vom 25.06.2019 und für 2016 vom 25.07.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.11.2019 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Die von dem Beklagten angesetzten Gewinnzuschläge entsprechen den Vorgaben des § 6b Abs. 7 EStG (dazu I.). Die Höhe des Gewinnzuschlags ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong> Der Gewinn des Klägers war um die vom Beklagten angesetzten Gewinnzuschläge zu erhöhen (§ 6b Abs. 7 EStG).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> § 6b EStG dient dem Zweck, die aufgrund bestimmter Veräußerungsvorgänge aufgedeckten stillen Reserven steuerrechtlich nicht sofort zu erfassen, sondern sie auf ein Reinvestitionsgut zu übertragen (BFH-Urteil vom 09.07.2019 X R 7/17, BStBl II 2020, 635).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Nach § 6b Abs. 1 Satz 1 EStG kann der Steuerpflichtige, der ein dort genanntes Wirtschaftsgut seines Anlagevermögens – z.B. Grund und Boden – veräußert, im Wirtschaftsjahr der Veräußerung von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten der in § 6b Abs. 1 Satz 2 EStG bezeichneten Wirtschaftsgüter einen Betrag bis zur Höhe des bei der Veräußerung entstandenen Gewinns abziehen. Soweit er diesen Betrag nicht abzieht, kann er im Wirtschaftsjahr der Veräußerung eine den steuerlichen Gewinn mindernde Rücklage bilden (§ 6b Abs. 3 Satz 1 EStG). Nach § 6b Abs. 3 Satz 2 EStG kann der Steuerpflichtige bis zur Höhe der Rücklage von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten der in § 6b Abs. 1 Satz 2 EStG bezeichneten Wirtschaftsgüter, die in den folgenden vier Wirtschaftsjahren angeschafft oder hergestellt worden sind, im Wirtschaftsjahr ihrer Anschaffung oder Herstellung einen Betrag abziehen. Die Rücklage ist in Höhe des abgezogenen Betrags gewinnerhöhend aufzulösen (§ 6b Abs. 3 Satz 4 EStG).</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ist eine Rücklage am Schluss des vierten auf ihre Bildung folgenden Wirtschaftsjahres noch vorhanden, so ist sie grundsätzlich in diesem Zeitpunkt gewinnerhöhend aufzulösen (§ 6b Abs. 3 Satz 5 HS. 1 EStG). Werden Anlagegüter zum Zweck der Vorbereitung oder Durchführung von städtebaulichen Sanierungs- oder Entwicklungsmaßnahmen an einen der in § 6b Abs. 8 Satz 2 EStG bezeichneten Erwerber – insbesondere an eine Gebietskörperschaft – übertragen, so gilt eine um drei Jahre verlängerte Reinvestitionsfrist (§ 6b Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 EStG). Diese Voraussetzungen sind durch eine Bescheinigung einer nach Landesrecht zuständige Behörde nachzuweisen (§ 6b Abs. 9 EStG). Der Bescheinigung kommt die Eigenschaft eines Grundlagenbescheides zu (vgl. Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.07.2001 3 V 15/01, EFG 2001, 1358; Marchal in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 6b EStG Rn. 155).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Steuerpflichtige ist während des Laufs der Reinvestitionsfrist befugt, die Rücklage ganz oder teilweise gewinnerhöhend aufzulösen oder auf ein anderes Reinvestitionsgut ganz oder teilweise zu übertragen (BFH-Urteil vom 29.04.2020 XI R 39/18, BStBl II 2021, 517).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Soweit eine nach § 6b Abs. 3 Satz 1 EStG gebildete Rücklage gewinnerhöhend aufgelöst wird, ohne dass ein entsprechender Betrag nach § 6b Absatz 3 EStG abgezogen wird, ist der Gewinn des Wirtschaftsjahres, in dem die Rücklage aufgelöst wird, für jedes volle Wirtschaftsjahr, in dem die Rücklage bestanden hat, um 6 % des aufgelösten Rücklagenbetrags zu erhöhen (§ 6b Abs. 7 EStG). Das Wirtschaftsjahr der Veräußerung stellt kein volles Wirtschaftsjahr dar (Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 26.09.1991 10 K 77/87, EFG 1992, 178; Loschelder in Schmidt, EStG, § 6b Rn. 88).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Nach diesen Maßstäben sind die von dem Beklagten angesetzten Gewinnzuschläge in Höhe von 3.998,94 EUR (18 %) für das Wirtschaftsjahr 2014/2015, in Höhe von 5.331,84 EUR (24 %) für das Wirtschaftsjahr 2015/2016 und in Höhe von 6.665,10 EUR (30 %) für das Wirtschaftsjahr 2016/2017 nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Denn Kläger hat die im Wirtschaftsjahr 2011/2012 gebildete Rücklage in den Wirtschaftsjahren 2014/2015, 2015/2016 und 2016/2017 in Höhe von jeweils22.216,33 EUR aufgelöst. Ein Abzug von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines anderen Wirtschaftsgutes ist nicht erfolgt. Damit hat die Rücklage mit Ablauf des Wirtschaftsjahres 2014/2015 drei volle Wirtschaftsjahre (18 %), mit Ablauf des Wirtschaftsjahres 2015/2016 vier volle Wirtschaftsjahre (24 %) und mit Ablauf des Wirtschaftsjahres 2016/2017 fünf volle Wirtschaftsjahre (30 %) bestanden.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Eine vollständige Auflösung der Rücklage bereits am Schluss des vierten auf ihre Bildung folgenden Wirtschaftsjahres (Wirtschaftsjahr 2015/2016) war nicht erforderlich, da im Streitfall die um drei Jahre verlängerte Reinvestitionsfrist nach § 6b Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 EStG zu Anwendung kam. Denn die Stadt T hat mit Schreiben vom 22.12.2017 bestätigt, dass der notarielle Vertrag vom 28.03.2011 zum Zwecke der Vorbereitung oder Durchführung von städtebaulichen Sanierungs- oder Entwicklungsmaßnahmen abgeschlossen worden ist. Das Schreiben entfaltet als Bescheinigung i. S. v. § 6b Abs. 9 EStG Bindungswirkung im Sinne eines Grundlagenbescheids. Die Bindungswirkung erstreckt sich auf die bescheinigten Umstände und deren Qualifikation als städtebauliche Sanierungs- oder Entwicklungsmaßnahme i. S. v. § 6b Abs. 8 EStG, so dass eine weitergehende Überprüfung insoweit weder durch das Finanzamt noch im nachfolgenden finanzgerichtlichen Verfahren durch das Finanzgericht erfolgen kann (vgl. dazu auch Marchal in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 6b EStG Rn. 155).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong> Die Höhe des Gewinnzuschlags ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. § 6b Abs. 7 EStG verstößt nicht gegen Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG –. Der Senat sieht keine Veranlassung, das Verfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht – BVerfG – gemäß Artikel 100 Abs. 1 GG die Frage vorzulegen, ob § 6b Abs. 7 EStG mit dem Grundgesetz vereinbar ist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zwar führt § 6b Abs. 7 EStG zu einer verfassungsrechtlich relevanten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen, die Anlagegüter veräußern (dazu 1.). Gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz erweist sich diese Ungleichbehandlung aber als verfassungsgemäß (dazu 2.). Auch im Hinblick auf die Neuregelung zur Höhe der Nachzahlungs- und Erstattungszinsen in § 238 Abs. 1a EStG ergibt sich kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (dazu 3.).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Steuerpflichtige, die eine nach § 6b Abs. 3 Satz 1 EStG gebildete Rücklage gewinnerhöhend auflösen, ohne einen entsprechenden Betrag nach § 6b Abs. 3 EStG von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Ersatzwirtschaftsgutes abzuziehen, werden durch den nach § 6b Abs. 7 EStG anzusetzenden Gewinnzuschlag gegenüber Steuerpflichtigen, die eine Rücklage nicht gebildet haben, und gegenüber Steuerpflichtigen, die nach Bildung einer Rücklage einen Abzug von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Ersatzwirtschaftsgutes vorgenommen haben, ungleich behandelt (dazu a). Diese Ungleichbehandlung wird nicht durch Ausgleichsmechanismen an anderer Stelle beseitigt (dazu b).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> § 6b Abs. 7 EStG führt zu einer Ungleichbehandlung, da der Gewinnzuschlag nicht bei allen Steuerpflichtigen, die Anlagegüter veräußern, anzusetzen ist. Der Ansatz des Gewinnzuschlags setzt voraus, dass der Steuerpflichtige erstens eine gewinnmindernde Rücklage nach § 6b Abs. 3 Satz 1 EStG gebildet und zweitens bei der gewinnerhöhenden Auflösung der Rücklage keinen Abzug von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Ersatzwirtschaftsgutes vorgenommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die verfassungsrechtlich relevante Ungleichheit liegt damit in einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung der durch den Gewinnzuschlag belasteten Steuerpflichtigen gegenüber Steuerpflichtigen, bei denen ein solcher Zuschlag nicht zu berücksichtigen ist, durch die typisierende Annahme eines durch eine spätere Besteuerung des Veräußerungsvorgangs entstandenen potentiellen Liquiditätsvorteils in Höhe von jährlich 6 %. Insoweit beanstanden die Kläger die ungerechtfertigte Benachteiligung der gewinnzuschlagsbelasteten Steuerpflichtigen, weil der bei ihnen potentiell entstehende Vorteil, der durch den Gewinnzuschlag abgeschöpft werden soll, mit dem jährlichen Zuschlag von 6 % nicht mehr realitätsgerecht bemessen sei.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Die Ungleichbehandlung wird nicht durch Ausgleichsmechanismen an anderer Stelle wieder vollständig kompensiert (vgl. dazu BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 106 ff.). Insbesondere wirken sich die auf den Gewinnzuschlag entfallende Mehrsteuern nicht steuermindernd aus (vgl. § 12 Nr. 3 EStG).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz erweist sich die Ungleichbehandlung von Steuerpflichtigen, die Anlagegüter veräußern, als verfassungsgemäß.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> Liegt eine Ungleichbehandlung vor, so hat die weitere Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesfinanzhofs nach folgenden Grundsätzen zu erfolgen (vgl. auch Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, in: 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Festschrift für den Bundesfinanzhof, Seite 501 ff.):</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"><strong>aa)</strong> Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282,Rn. 110 f.).</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für Einzelne verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 110 f.).</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong> Gleichheitsrechtlicher Ausgangspunkt im Steuerrecht ist der Grundsatz der Lastengleichheit. Die Steuerpflichtigen müssen dem Grundsatz nach durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet werden. Der Gleichheitssatz belässt dem Gesetzgeber einen weit reichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes. Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Dabei steigen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit dem Ausmaß der Abweichung und ihrer Bedeutung für die Verteilung der Steuerlast insgesamt (BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 1 BvL 11/14, BVerfGE 148, Rn. 96). Der Steuergesetzgeber darf aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung typisieren und dabei die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen, wenn die daraus erwachsenden Vorteile im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen, er sich realitätsgerecht am typischen Fall orientiert und ein vernünftiger, einleuchtender Grund vorhanden ist (BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 1 BvL 11/14, BVerfGE 148, Rn. 136).</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs geltend diese Grundsätze auch bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von steuerrechtlichen Verzinsungstatbeständen. Dabei geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass eine gesetzliche Zinssatztypisierung, die sich evident von realitätsgerechten Verzinsungen am Markt entfernt, den gleichheitsrechtlichen Anforderungen nicht mehr genügt (BFH-Urteil vom 09.07.2019X R 7/17, BStBl II 2020, 635, Rn. 34 zu dem Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG bis zum Jahr 2009; bestätigt durch BFH-Urteil vom 29.04.2020 XI R 39/18, BStBl. 2021, 517; vgl. auch BFH-Urteil vom 22.05.2019 X R 19/17, BStBl II 2019, 795, Rn. 71 zu dem Abzinsungssatz von 5,5 % für unverzinsliche Verbindlichkeiten nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 EStG für das Jahr 2010; BFH-Urteil vom 14.07.2020 VIII R 3/17, BStBl II 2020, 813, Rn. 41 zu dem Zinssatz von 5,5 % für die Bestimmung des Barwerts von Rentenforderungen nach § 13 Abs. 1 BewG für das Jahr 2013; BFH-Beschluss vom 25.04.2018 IX B 21/18, BStBl II 2018, 415, Rn. 18 zu Nachzahlungszinsen von monatlich 0,5 % nach §§ 233a, 238 AO für Verzinsungszeiträume ab 2015; vgl. auch FG Köln, Vorlagebeschluss vom 12.10.2017 10 K 977/17, EFG 2018, 287, Rn. 65 zum Rechnungszinsfuß von 6 % zur Ermittlung von Pensionsrückstellungen für das Jahr 2015).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks"><strong>cc)</strong> Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommen die bereichsspezifischen Konkretisierungen für das Steuerrecht bei der Vollverzinsung nach §§ 233a, 238 AO nicht zum Tragen, da es sich bei Nachzahlungszinsen nicht um eine Steuer, sondern um steuerliche Nebenleistungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AO – also um Geldleistungspflichten, die neben einer Steuer entstehen – handelt. Demnach richtet sich die Verfassungsmäßigkeit der §§ 233a, 238 AO nach einer strengen Verhältnismäßigkeitsanforderung. Zinsen bedürfen zur Wahrung der Belastungsgleichheit eines über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden, besonderen sachlichen Rechtfertigungsgrundes, der eine deutliche Unterscheidung gegenüber der Steuer ermöglicht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Allerdings geht auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass der Gesetzgeber bei der Auswahl des Zinsgegenstands und der Bemessung des Zinssatzes typisierende Regelungen treffen und sich dabei in erheblichem Umfang von Praktikabilitätserwägungen mit dem Ziel der Einfachheit der Zinsfestsetzung und-erhebung leiten lassen darf. Begrenzt wird sein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum dadurch, dass die von ihm geschaffenen Zinsregelungen grundsätzlich in der Lage sein müssen, den mit ihnen verfolgten Belastungsgrund realitätsgerecht abzubilden. Werden Zinsen als steuerliche Nebenleistungen allein zum Zweck des Vorteilsausgleichs erhoben, bedeutet dies, dass die Differenzierung nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen werden muss, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Zins abgegolten werden soll. Dabei kann verfassungsrechtlich lediglich überprüft werden, ob der Zinssatz evident unzureichend ist, den Vorteil realitätsgerecht abzubilden (BVerfG-Beschlüsse vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 115, 149 ff. und vom 30.06.2022 2 BvR 737/20, juris, Rn. 105).</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Bei der Prüfung, ob der Zinsvorteil durch den gesetzlichen Zinssatz von 6 % realitätsgerecht abgebildet wird, orientiert sich das Bundesverfassungsgericht an den Kreditzinsen für Unternehmen (Kredite an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften von über 1 Jahr bis 5 Jahre, Zinsniveau zwischen 3 % und 3,5 %), berücksichtigt aber auch Habenzinsen für Kapitalanlagen, Kreditzinsen für Privathaushalte und den Basiszinssatz (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 204 ff.). Auf dieser Grundlage kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass spätestens ab dem Jahr 2014 ein strukturelles Niedrigzinsniveau eingetreten ist, welches evident von dem von dem in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssatz abweicht (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 205, 213).</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Dabei betont das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass die anderen Verzinsungstatbestände einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürfen, da die Entstehung dieser Zinsen auf einen Antrag bzw. eine freiwillige Entscheidung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 243).</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Gemessen an diesen Anforderungen verstößt der Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG nicht gegen Artikel 3 Abs. 1 GG.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks"><strong>aa)</strong> Der Gewinnzuschlag wurde durch das 2. Haushaltsstrukturgesetz vom 22.12.1981 (BGBl. I 1981, 1523; BStBl. I 1981, 235) eingefügt und damit begründet, dass in den Fällen, in denen begünstigte Reinvestitionen nicht vorgenommen werden, aber durch Bildung einer Rücklage eine Stundungswirkung erzielt worden ist, keine wirtschaftspolitische Notwendigkeit besteht, dem Steuerpflichtigen den eingetretenen Zinsvorteil zu belassen. In diesen Fällen soll durch Erhöhung des Gewinns der gewährte Zinsvorteil wieder ausgeglichen werden (BT-Drucksache 9/842, Seite 66).</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass mit dem Gewinnzuschlag die Steuerstundung abgegolten werden soll, die infolge der Rücklagenbildung für im Ergebnis nicht reinvestierte Veräußerungsgewinne entsteht (Ausgleich eines Zinsvorteils). Im wirtschaftlichen Ergebnis handelt es sich um die Verzinsung und damit den Gegenwert dafür, dass sich der betreffende Veräußerungsgewinn steuerlich nicht im Wirtschaftsjahr seines Entstehens, sondern erst in den Folgejahren auswirkt (BFH-Urteil vom 15.03.2000 I R 17/99, BStBl II 2001, 251, Rn. 19). Dabei wird aus steuertechnischen Gründen nicht individuell die Steuer ermittelt und verzinst, die ohne Rücklagenbildung im Veräußerungsjahr zusätzlich angefallen wäre. Vielmehr wird der Gewinn des Wirtschaftsjahres, in dem die Rücklage aufgelöst wird, um einen Betrag in Höhe von 6 % der Rücklage für jedes volle Wirtschaftsjahr erhöht, in dem die Rücklage bestanden hat (BFH-Urteil vom 26.10.1989 IV R 83/88, BStBl II 1990, 290, Rn. 10).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus soll der Gewinnzuschlag einer missbräuchlichen Inanspruchnahme entgegenwirken (BFH-Urteil vom 09.07.2019 X R 7/17, BStBl II 2020, 635, Rn. 34; so auch Heger in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 6b Rn. H 2; Loschelder in Schmidt, EStG, § 6b Rn. 88; Marchal in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 6b EStGRn. 149; a.A. Jesse, FR 2022, 1, 11).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Damit steht fest, dass § 6b Abs. 7 EStG einen über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden, besonderen sachlichen Rechtfertigungsgrund (Ausgleich von Zinsvorteilen, Missbrauchsvermeidung) aufweist und damit sogar den strengen Anforderungen, welche das Bundesverfassungsgericht an steuerliche Nebenleistungen stellt, genügt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong> Der Gewinnzuschlag in Höhe von 6 % weicht zwar erheblich von den Zinssätzen für Unternehmenskredite (insbesondere Kredite an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften bis 1 Mio. EUR bei einer Laufzeit von über einem Jahr bis fünf Jahre/Neugeschäft) ab. In den hier betroffenen Jahren entwickelten sich diese Kreditzinsen wie folgt (vgl. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank für März 2013, 47*, März 2014, 47*, März 2015, 47*, März 2016, 47*, März 2017, 47* und März 2018, 47*):</p>
<span class="absatzRechts">49</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td></td>
<td><p>Geringster Zinssatz</p>
</td>
<td><p>Höchster Zinssatz</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2012</p>
</td>
<td><p>3,56 %</p>
</td>
<td><p>4,49 %</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2013</p>
</td>
<td><p>3,5 %</p>
</td>
<td><p>3,69 %</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2014</p>
</td>
<td><p>2,97 %</p>
</td>
<td><p>3,64 %</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2015</p>
</td>
<td><p>2,87 %</p>
</td>
<td><p>3,09 %</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2016</p>
</td>
<td><p>2,57 %</p>
</td>
<td><p>2,87 %</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2017</p>
</td>
<td><p>2,54 %</p>
</td>
<td><p>2,60 %</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Auch sind diese Zinssätze vorrangig als Vergleichsmaßstab heranzuziehen, da § 6b EStG nur bei Gewinneinkünften Anwendung findet und die Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG im Ergebnis zu einer Stundung der auf den Veräußerungsgewinn entfallenden Steuer führt (so im Ergebnis auch BFH-Urteil vom 09.07.2019 X R 7/17, BStBl II 2020, 635, Rn. 39).</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks"><strong>cc)</strong> Trotz dieser erheblichen Abweichung erweist sich der Gewinnzuschlag in Höhe von 6 % aus folgenden Gründen als verfassungsgemäß:</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong>(1</strong>) Der Gewinnzuschlag soll nicht nur den unberechtigten Zinsvorteil ausgleichen, sondern auch die missbräuchliche Inanspruchnahme der Rücklage verhindern. Angesichts dieses Gesetzeszwecks steht dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Typisierungsbefugnis ein weitreichender Entscheidungsspielraum zu (vgl. BFH-Urteil vom 09.07.2019 X R 7/17, BStBl II 2020, 635, Rn. 34). Anders als bei Nachzahlungszinsen ist er nicht gehalten, sich ausschließlich an dem zu erzielenden Zinsvorteil zu orientieren.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Soweit in der Literatur (Jesse, FR 2022, 1, 11) angezweifelt wird, dass der Gewinnzuschlag auch der Missbrauchsvermeidung dient, so können die angeführten Argumente nicht überzeugen. Es trifft zwar zu, dass die Rücklage keine Reinvestitionsabsicht voraussetzt (BFH-Urteil vom 12.12.2000 VIII R 10/99, BStBl II 2001, 282). Der Zweck der Missbrauchsvermeidung ergibt sich aber daraus, dass der Gesetzgeber mit der Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG keine voraussetzungslose Stundungsmöglichkeit schaffen, sondern vielmehr volkswirtschaftlich wünschenswerte Neuinvestitionen erleichtern wollte (vgl. BT-Drucksache 9/842, Seite 66).</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks"><strong>(2)</strong> Der Gewinnzuschlag in Höhe von 6 % führt nur dann zu einer Verzinsung der „gestundeten“ Steuer in Höhe von 6 %, wenn für den Steuerpflichtigen in dem Wirtschaftsjahr der Rücklagenbildung und in dem Wirtschaftsjahr der Rücklagenauflösung derselbe individuelle Steuersatz gilt. Gilt für das Bildungsjahr ein höherer Steuersatz, so führt der Gewinnzuschlag zu einer „Verzinsung“ von unter 6 %. Damit kann der Steuerpflichtige durch die Rücklagenbildung Progressionsvorteile erzielen (vgl. dazu auch von Rosenberg/Müller, DB 1990, 2433). Insbesondere kann er – wie der Streitfall exemplarisch zeigt – den Veräußerungsgewinn durch die sukzessive Auflösung der Rücklage auf mehrere Wirtschaftsjahre verteilen und so in besonderem Maße seine Progression senken.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks"><strong>(3)</strong> Der Gesetzgeber hat sich bei der Höhe des Gewinnzuschlags nicht nur an der Höhe der Kreditzinsen, sondern auch an der Höhe der Renditeerwartungen der betroffenen Unternehmen orientiert. Unter Berücksichtigung der Renditeerwartungen scheidet eine evidente Abweichung von dem durch die Rücklage gewährten Vorteil aus. Denn in den Jahren 2012 bis 2017 lag die Gesamtkapitalrendite zwischen 7,13 % und 7,50 % (so jedenfalls die Berechnung von Schätzlein, FR 2020, 947) und damit über dem Gewinnzuschlag von 6 %.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Renditeerwartung als Anknüpfungspunkt ergibt sich jedenfalls aus der Gesetzesbegründung zur Höhe des Rechnungszinsfußes von 6 % für Pensionsrückstellungen nach § 6a EStG (vgl. BT-Drucksache 9/842, Seite 66). Da mit demselben Gesetz (2. Haushaltsstrukturgesetz vom 22.12.1981 (BGBl. I 1981, 1523; BStBl. I 1981, 235) auch der Gewinnzuschlag in Höhe von ebenfalls 6 % eingeführt worden ist, ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch insoweit die Renditeerwartungen in den Blick genommen hat (a.A. Jesse, FR 2022, 1, 11).</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong>(4)</strong> Für einen weitreichenden Entscheidungsspielraum spricht schließlich die Verfügbarkeit des im Rahmen des § 6b Abs. 7 EStG geltenden Differenzierungskriteriums.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Steuerpflichtige setzt sich durch die Bildung der Rücklage bewusst dem Risiko aus, in einem späteren Veranlagungszeitraum einen Gewinnzuschlag versteuern zu müssen, falls es nicht zu der Anschaffung oder Herstellung des Ersatzwirtschaftsgutes kommt. Der Gewinnzuschlag ist damit auf eine Willensentscheidung des Steuerpflichtigen zurückzuführen. Er kann die Zulage ohne weiteres dadurch vermeiden, dass er von der Bildung der Rücklage absieht. Zudem profitiert der Steuerpflichtige vorübergehend von der Bildung der Rücklage, da der Veräußerungsgewinn zunächst unversteuert bleibt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Damit können die Wertungen, welche das Bundesverfassungsgericht für die verfassungsrechtliche Prüfung der – vom Steuerpflichtigen nicht zu beeinflussenden – Nachzahlungszinsen vorgenommen hat, nicht auf den Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG übertragen werden (vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Rn. 243).</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks"><strong>(5)</strong> Angesichts der vorstehenden Ausführungen kann dahinstehen, ob eine Verfassungswidrigkeit des Gewinnzuschlags für den hier betroffenen Zeitraum (bis einschließlich Wirtschaftsjahr 2016/2017) auch deshalb ausscheidet, weil das Bundesverfassungsgericht die Vollverzinsung nach §§ 233a, 238 AO – ungeachtet ihrer Verfassungswidrigkeit ab dem Jahr 2014 – für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 für weiter anwendbar erklärt hat (vgl. zu diesem Gedanken BFH-Beschluss vom 23.05.2022 V B 4/22 (AdV), DStR 2022, 1548, Rn. 30 zu Säumniszuschlägen).</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong> Ein Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG ergibt sich schließlich nicht daraus, dass der Gesetzgeber die Nachzahlungs- und Erstattungszinsen (§ 233a AO) mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12.07.2022 (BGBl. I 2022, 1142) – in Umsetzung des BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282) – auf monatlich 0,15 % (1,8 % p.a.) abgesenkt hat (§ 238 Abs. 1a EStG n.F.). Es kann dahinstehen, ob in der unterschiedlichen Höhe der Zinsen nach § 233a AO und dem Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu sehen ist, da die Neuregelung in § 238 Abs. 1a EStG n.F. erst ab dem 01.01.2019 gilt, wohingegen vorliegend lediglich der Zeitraum bis zum 30.06.2017 streitbefangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong> Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).</p>
|
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} | 5 RBs 179/22 | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-09-27T10:01:36 | 2022-10-17T11:10:34 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0824.5RBS179.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wird verworfen.</p>
<p>Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird verworfen.Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens trägt der Betroffene (§ 473 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG).</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Generalstaatsanwaltschaft hat bzgl. Zulassungsantrages Folgendes ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">„I.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht Marl hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 105,00 EUR verurteilt (Bl. 100 ff. d. A.).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses in Anwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers verkündete (Bl. 77 ff. d. A.) und auf Anordnung der Vorsitzenden vom 25.02.2022 (Bl. 94 d. A.) dem Verteidiger des Betroffenen am 07.03.2022 zugestellte (Bl. 108 d. A.) Urteil hat der Betroffene mit ausschließlich per Telefax übermittelten und am 07.02.2022 auf dem Telefax-Wege bei dem Amtsgericht Marl eingegangenem Schreiben seines Verteidigers vom selben Tag Rechtsbeschwerde eingelegt und diese mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet (Bl. 97 f. d. A.).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das als Rechtsbeschwerde bezeichnete Rechtsmittel des Betroffenen ist als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zu werten (§ 300 StPO). Der so verstandene Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde erweist sich bereits als unzulässig, da er nicht den Vorgaben des § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO genügt und dieser Vormangel zur Unwirksamkeit der Antragstellung und somit zur Unzulässigkeit des Antrages insgesamt führt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1)</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO haben Rechtsanwälte und Verteidiger die Rechtsbeschwerde und ihre Begründung als elektronisches Dokument, das den Vorgaben des § 32a StPO genügt, zu übermitteln. Auch im Zulassungsverfahren sind dabei sämtliche Förmlichkeiten, die für die Rechtsbeschwerde gelten, einzuhalten, da es sich bei dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde um kein eigenständiges Rechtsmittel handelt, sondern lediglich die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG von der Zulassung derselben abhängt (zu vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl., § 80, Rn. 5), so dass auch für den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde die aus § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO folgenden Formerfordernissen für die Übermittlung gelten.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2)</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der zeitliche Anwendungsbereich des § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO ist eröffnet. Die vorbezeichneten Vorschriften sind nach Art. 33 Abs. 3 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017 (BGBl I S. 2229) am 01.01.2020 in Kraft getreten. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist am 07.02.2022 bei dem Amtsgericht Marl eingegangen, somit also nach Inkrafttreten der vorbezeichneten Vorschriften.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">3)</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auch der personelle Anwendungsbereich des § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO ist eröffnet, weil der Antragsteller sowohl Rechtsanwalt als auch Verteidiger des Betroffenen ist.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">4)</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">§ 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO ist auch sachlich anwendbar, da es sich bei dem Schriftsatz vom 07.02.2022 sowohl um die Einlegung der Rechtsbeschwerde als auch deren Begründung handelt, der nach den vorbezeichneten Vorschriften durch einen Rechtsanwalt oder Verteidiger elektronisch einzureichen ist.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">An dieser elektronischen Übermittlung fehlt es hier, weil der vorbezeichnete Rechtsmittelschriftsatz entgegen den Vorgaben des § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 2 StPO nicht elektronisch, sondern mittels einfachen Telefaxes an das Amtsgericht Marl übermittelt worden ist. Dies genügt den Formvorgaben des § 32d S. 2 StPO nicht (zu vgl. AG Köln, Beschluss vom 15.03.2022 - 582 Ls 6/22 185 Js 756/21 -).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dieser Vormangel führt zur Unwirksamkeit und damit zur Unzulässigkeit des Antrages.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">5)</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Eine schriftliche Antragstellung war auch nicht ausnahmsweise gem. § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 3 StPO zulässig. Nach dieser Vorschrift bleibt die Übermittlung eines Schriftstücks in Papierform zulässig, wenn eine Übermittlung in elektronischer Form aus technischen Gründen vorübergehend unmöglich ist. Diese vorübergehende Unmöglichkeit ist gem. § 110c OWiG i. V. m. § 32d S. 4 StPO glaubhaft zu machen, was hier unterblieben ist.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">6)</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Auch eine Rückgabe der Sache an das Amtsgericht Marl zum Zwecke des weiteren Vorgehens nach § 110c OWiG i. V. m. § 32a Abs. 6 StPO scheidet vorliegend aus. Denn diese Vorschrift ist nur dann anwendbar, wenn das elektronisch übermittelte Dokument für die Bearbeitung durch das Gericht nicht geeignet ist. Hier fehlt es jedoch bereits an der Übermittlung eines elektronischen Dokumentes, so dass die Anwendbarkeit des § 110c OWiG i. V. m. § 32a Abs. 6 StPO von vornherein ausscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">7)</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Da der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde somit unwirksam gestellt und damit insgesamt unzulässig ist, ist dem Senat die Prüfung von Zulassungsgründen verwehrt.“</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Ergänzend bemerkt der Senat, dass § 32a Abs. 6 StPO hier schon deswegen nicht zur Anwendung kommen kann, weil es sich bei dem per Telefax eingereichten Rechtsmittelschriftsatz nicht um ein elektronisches Dokument im Sinne der Vorschrift handelt, welches – etwa wegen eines falschen Dateiformats (vgl. § 2 ERRV; BT-Drs.18/9416 S. 48) – zur Bearbeitung durch das Gericht nicht geeignet war.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war dem Betroffenen weder auf seinen Antrag vom 04.07.2022 hin, noch von Amts wegen zu gewähren. Zwar liegt hier erkennbar kein Verschulden des Betroffenen vor, sondern allenfalls ein solches seines Verteidigers, welches dem Betroffenen nicht zugerechnet wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 44 Rdn. 18; Graf in: KK-StPO, 8. Aufl., § 32d Rdn. 5). Der Wiedereinsetzungsantrag ist aber jedenfalls deswegen unzulässig, weil die versäumte Handlung – nämlich Anbringung eines Zulassungsantrages und einer Rechtsmittelbegründung auf dem vorgeschriebenen Übermittlungsweg (s.o.) – nicht fristgerecht erfolgt ist (§ 44 Abs. 2 S. 2 StPO). Zwar heißt es in den Gesetzesmaterialien, dass die Möglichkeit der formgerechten Nachholung der Erklärung, die elektronisch einzureichen gewesen wäre, sich nach den „allgemeinen Regeln“ richte (BT-Drs. 18/9416 S. 51). Dies bedeutet aber nicht, dass nunmehr der per Telefax eingereichte Rechtsmittelschrift auf diesem Wege wegen der allgemeinen Regel des § 345 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG als (formgerechte) Nachholung der verabsäumten Handlung angesehen werden könnte. Dies würde die gesetzliche Regelung des § 32d StPO leer laufen lassen. Vielmehr ist die verabsäumte Handlung hier in einer (auch) dem § 32d StPO genügenden Art und Weise nachzuholen (OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.02.2022 – 1 Ss 28/22 = BeckRS 2022, 3740). Dies ist hier nicht geschehen. Der Betroffene beantragt vielmehr selbst mit Schriftsatz vom 04.07.2022 allein, wegen eines Anwaltsverschuldens so gestellt zu werden, wie es bei formgerechter Einreichung der Fall gewesen wäre. Hinzu kommt (bzgl. einer Wiedereinsetzung auf Antrag), dass der Betroffene entgegen § 45 Abs. 2 S. 1 StPO nicht vorgetragen und glaubhaft gemacht hat, wann er von der nicht fristgerechten Rechtsmitteleinlegung und -begründung in einer dem § 32d StPO genügenden Weise erfahren hat. Die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 22.06.2022, die darauf hinweist, ist ausweislich der weiteren Antragsschrift vom 18.07.2022 am 24.06.2022 zur Post gegeben worden. Der Betroffene hat sie auch – das ergibt sich aus seinem Schreiben vom 04.07.2022 – erhalten. Die Angabe des Empfangsdatums erübrigt sich nicht, weil etwa die Fristwahrung evident wäre. Bei einer möglichen Postlaufzeit von einem Tag wäre ein Zugang der Antragsschrift bereits am 25.06.2022 möglich gewesen. Fristablauf (der 02.07.2022 war ein Samstag) wäre dann am 04.07.2022 gewesen. Das Schreiben des Betroffenen vom 04.07.2022 ist per Telefax aber erst am 05.07.2022, im Original erst am 06.07.2022 beim Oberlandesgericht eingegangen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Da der Betroffene jedenfalls spätestens seit dem 04.07.2022 (Datum seines eigenhändigen Wiedereinsetzungsgesuchs) von der nicht formgerechten Einreichung des Rechtsmittelschriftsatzes Kenntnis hatte, ist die einwöchige Frist zur Nachholung der versäumten Handlung bereits verstrichen. Der Betroffene hat auch nicht dargelegt, dass die Versäumung dieser Frist wiederum auf einem ihm nicht zurechenbaren Anwaltsverschulden beruht, dass er also etwa rechtzeitig einen Anwalt um formgerechte Nachholung der verabsäumten Handlung ersucht, diese aber von ihm nicht nachgeholt wurde o.ä. Für einen derartigen Verfahrensgang ist auch sonst nichts ersichtlich. Der Fall ist insoweit mit dem des OLG Oldenburg, welches dem dortigen Betroffenen eine erneute Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsantrags eingeräumt hat (OLG Oldenburg a.a.O.) nicht vergleichbar.</p>
|
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} | 6z L 1021/22 | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-09-14T10:01:30 | 2022-10-17T11:10:06 | Beschluss | ECLI:DE:VGGE:2022:0824.6Z.L1021.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der gestellte Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, die Antragstellerin im weiteren Verlauf ihres für das Wintersemester 2022/2023 noch laufenden Bewerbungsverfahrens auf einen Studienplatz der Humanmedizin mit sofortiger Wirkung unverzüglich auch unter Berücksichtigung des von ihr erzielten Testergebnisses im Medizinertest (TMS) insbesondere hinsichtlich der noch durchzuführenden Nachrückverfahren, und zwar auch mit Wirkung für die weiterhin noch durchzuführenden Auswahlverfahren der Hochschulen, zu beteiligen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg. Die Antragstellerin hat nicht gemäß § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anspruch auf Berücksichtigung des Ergebnisses ihres Tests für medizinische Studiengänge (TMS) im laufenden Vergabeverfahren zusteht.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Studienplätze im Studiengang Humanmedizin werden in einem zentralen Vergabeverfahren nach den Regelungen des in allen Bundesländern ratifizierten, am 1. Dezember 2019 in Kraft getretenen Staatsvertrages über die Hochschulzulassung (Vergabe-Staatsvertrag) in Verbindung mit den in den einzelnen Ländern erlassenen, die Vorgaben des Staatsvertrages konkretisierenden Rechtsverordnungen vergeben. Diese Verordnungen müssen nach Art. 12 Abs. 2 des Vergabe-Staatsvertrages in den für die zentrale Vergabe wesentlichen Punkten übereinstimmen. Im Folgenden wird – auch stellvertretend für die einschlägigen Verordnungen der übrigen Länder – auf die Verordnung über die Vergabe von Studienplätzen in Nordrhein-Westfalen (StudienplatzVVO NRW) vom 13. November 2020 (GVBl. NRW 2020, S. 1060), zuletzt geändert durch Verordnung vom 23. Mai 2022 (GVBl. NRW, S. 739), Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Offen bleiben mag, ob die Antragsgegnerin für die Geltendmachung des von der Antragstellerin verfolgten Begehrens überhaupt passivlegitimiert ist. Dies lässt sich deshalb bezweifeln, weil der TMS in denjenigen Zulassungsquoten, deren Studienplätze die Antragsgegnerin gemäß Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Vergabe-Staatsvertrag im eigenen Namen verteilt (Vorabquoten, Abiturbestenquote), keine Rolle spielt. Soweit die Studienplätze von den Hochschulen selbst vergeben werden (Zusätzliche Eignungsquote, Auswahlverfahren der Hochschulen) leistet die Antragsgegnerin gemäß Art. 5 Abs. 1 Nr. 2 Vergabe-Staatsvertrag lediglich „Unterstützung“, wird also als Verwaltungshelferin tätig. Ein Anspruch auf Berücksichtigung des TMS in diesen Quoten müsste daher möglicherweise gegen die jeweilige Hochschule geltend gemacht werden.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Antragstellerin steht aber jedenfalls in der Sache kein Anspruch auf Beteiligung am Vergabeverfahren unter Einbeziehung des Testergebnisses zu. Sie hat nämlich nicht glaubhaft gemacht, dass sie das Testergebnis ordnungsgemäß entsprechend den auf der Grundlage von § 6 Abs. 2 StudienplatzVVO NRW beruhenden Vorgaben der Stiftung in das Online-Bewerbungssystem eingepflegt hat. Sie hat die Daten zu ihrem TMS zwar offenbar am Vormittag des 30. Juni 2022 auf dem Bewerbungsportal eingegeben. Bedauerlicherweise hat sie es aber versäumt, die eingegebenen Daten durch Betätigung der Schaltfläche „Daten übermitteln“ endgültig zu einem Teil ihres Bewerbungs-Datensatzes zu machen. Dies hat die Antragsgegnerin durch die Vorlage des Systemprotokolls belegt, das zwar eine entsprechende Datenübermittlung nach der ersten Eingabe von Daten der Antragstellerin verzeichnet (am 2. Mai 2022 um 17:12 Uhr), bei der nachträglichen Erfassung des TMS aber lediglich die Abmeldung vom System (am 30. Juni 2022 um 10:28 Uhr) dokumentiert. Der Vortrag der Antragstellerin steht dem letztlich nicht entgegen. In ihrer Eidesstattlichen Versicherung vom 11. August 2022 erklärt die Antragstellerin, sie könne sich nicht erinnern, ob ein weiterer Button zu betätigen gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Da die Antragstellerin das Ergebnis ihres TMS somit nicht innerhalb der maßgeblichen Frist für das Nachreichen von Unterlagen (§ 6 Abs. 1 S. 3 letzter Halbsatz StudienplatzVVO NRW: 20. Juli) übermittelt hat, durfte und darf die Antragsgegnerin es nicht berücksichtigen. Ob der Antragstellerin mangelnde Sorgfalt vorgehalten werden kann, ist dabei unerheblich. Denn bei den Fristen des § 6 Abs. 1 S. 3 StudienplatzVVO NRW handelt es sich kraft ausdrücklicher Anordnung des Verordnungsgebers um „Ausschlussfristen“. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Versäumung einer Frist ist damit ausgeschlossen (§ 32 Abs. 5 Verwaltungsverfahrensgesetz NRW). Im Übrigen ist festzustellen, dass jedenfalls der im Verwaltungsvorgang enthaltene Text „Wichtige Hinweise zur Berücksichtigung der TMS-Ergebnisse bei der Bewerbung über Hochschulstart“, der sich nach Angabe der Antragsgegnerin Ende Mai bereits auf ihrer Homepage befand, (unter Ziffer 6) deutlich und verständlich auf die Notwendigkeit hinweist, die Eingabe des Testergebnisses durch das Betätigen des Buttons „Daten übermitteln“ abzuschließen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nach ständiger Rechtsprechung ist die Statuierung der in Rede stehenden Ausschlussfristen mit Blick auf die Besonderheiten der Studienplatzvergabe sachgerecht und notwendig und unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Von der Antragsgegnerin ist innerhalb eines recht kurzen Zeitraums eine sehr große Zahl von Zulassungsanträgen (mehrere zehntausend) im Zentralen Verfahren zu bearbeiten und praktisch jede nachträgliche Veränderung des Datenbestandes führt zu einer Verschiebung in den Auswahllisten. Das durchzuführende Auswahl- und Verteilungsverfahren kann erst in Gang gesetzt werden, wenn sämtliche für die Auswahl und Verteilung erheblichen Daten aller Bewerber feststehen. Das Interesse der Allgemeinheit und auch der Studienbewerber selbst an einer funktionierenden und rechtzeitigen Vergabe der Studienplätze rechtfertigt eine strikte Handhabung der den Studienbewerbern gesetzten Fristen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. <a href="http://www.juris.testa-de.net/jportal/portal/t/1ft7/page/jurisw.psml?pid=Dokumentanzeige&${__hash__}38;showdoccase=1&${__hash__}38;js_peid=Trefferliste&${__hash__}38;documentnumber=1&${__hash__}38;numberofresults=4&${__hash__}38;fromdoctodoc=yes&${__hash__}38;doc.id=MWRE211017019&${__hash__}38;doc.part=K&${__hash__}38;doc.price=0.0${__hash__}focuspoint">OVG NRW, Beschlüsse vom 12. September 2011 - 13 A 1090/11</a> - und vom 7. Dezember 2010 - 13 B 1481/10 -, juris; VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 13. Dezember 2012 - 6z K 4229/12 - sowie Beschlüsse vom 10. September 2019 - 6z L 1304/19 - und vom 19. Oktober 2021 - 6z L 1318/21 -.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gegen den Beschluss zu 1. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 1. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Gegen den Beschluss zu 2. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
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346,491 | vg-ansbach-2022-08-24-an-3-s-2201183 | {
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} | AN 3 S 22.01183 | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-09-08T10:01:54 | 2022-10-17T11:09:57 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>1. Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.</p>
<p>3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p>I.</p>
<p><rd nr="1"/>Der Antragsteller wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung oberirdischer Brunnenstationen über den Trinkwasserbrunnen WF 12, WF 13 und WF 14 auf dem Grundstück S* … straße, FlNr. …, Gemarkung … Der Antragsteller ist Eigentümer des Waldgrundstücks FlNr. …, Gemarkung … Das Grundstück liegt unmittelbar an der S* … straße und grenzt nordöstlich an das Waldgrundstück FlNr. …, Gemarkung …, auf dem durch den Beigeladenen die Errichtung oberirdischer Brunnenstationen geplant ist, an.</p>
<p><rd nr="2"/>Der Beigeladene betreibt zur Trinkwasserversorgung der Stadt … und des Ortsteils … mehrere Tief- und Flachbrunnen im Wasserschutzgebiet … Aufgrund des baulichen Zustands der 1969 errichteten Flachbrunnen WF 02, WF 03, und WF 04 sollen diese zurückgebaut und drei neue Flachbrunnen errichtet werden. Mit Schreiben vom 14. September 2021, bei der Antragsgegnerin eingegangen am 17. September 2021, legte der Beigeladene einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung zur Errichtung der oberirdischen Brunnenstationen über den Brunnen WF 12, WF 13 und WF 14 vor. Dem beigefügten Erläuterungsbericht ist zu entnehmen, dass für den Neubau der Brunnen eine vorübergehende Baufläche von ca. 400 qm pro Brunnen vom Baumbestand befreit werden soll und nach Beendigung des Rückbaus der drei alten Brunnen diese Standorte vornehmlich über Naturverjüngung, soweit notwendig auch über Ersatzpflanzungen, dem Wald zugeführt werden sollten. Auswirkungen auf das Grundwasser seien durch die geplanten Arbeiten nicht zu erwarten. Eine ursprünglich geplante Zuwegung für die neu zu errichtenden Brunnen wurde im weiteren Verfahren nicht mehr verfolgt. Der Antragsteller hatte in den Bauantragsunterlagen seine Nachbarzustimmung verweigert.</p>
<p><rd nr="3"/>Das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten … (AELF) stellte in einer Stellungnahme vom 11. Oktober 2021 fest, dass es durch den Brunnenbau auf 400 qm Wald zu einer Nutzungsänderung und dem dauerhaften Verlust der Waldeigenschaft komme, was einer erlaubnispflichtigen Rodung entspreche. Einer Rodung könne aus forstlicher Sicht nur unter Auflagen zugestimmt werden.</p>
<p><rd nr="4"/>Das Stadtplanungsamt des Antragsgegners stimmte dem Bau der oberirdischen Brunnenstationen zu und führte aus, dass das Grundstück im wirksamen Flächennutzungsplan mit integriertem Landschaftsplan der Stadt … als Fläche für Wald dargestellt sei. Ein rechtsverbindlicher Bebauungsplan bestehe nicht. Der fragliche Bereich sei darüber hinaus in der rechtskräftigen Landschaftsschutzverordnung als Landschaftsschutzgebiet festgesetzt und befinde sich im Schutzgebiet für Grund- und Quellwassergewinnung (Fassungsbereich 1) der Wasserfassung des Zweckverbandes zur Wasserversorgung … Mit Bescheid vom 4. April 2022 erteilte die Antragsgegnerin die Baugenehmigung für die Errichtung der oberirdischen Brunnenstationen. Unter der Überschrift „Auflagen und Hinweise“ wurde der Erläuterungsbericht des Zweckverbandes vom 14. September 2021 zum Bestandteil der Baugenehmigung gemacht. Hinsichtlich des Brunnenbaus wurde darauf hingewiesen, dass es durch den Brunnenbau auf 400 qm Wald zu einer Nutzungsänderung und dem dauerhaften Verlust der Waldeigenschaft komme. Dies entspreche einer Rodung und bedürfe gemäß Art. 9 Abs. 2 BayWaldG der Erlaubnis. Im Verfahren seien die Vorgaben des Art. 9 Abs. 4 bis 7 BayWaldG sinngemäß zu beachten. Der Rodung könne aus forstlicher Sicht gemäß Art. 9 Abs. 5 BayWaldG nur unter Auflagen zugestimmt werden: Die Baumaßnahmen seien auf das notwendigste Maß zu beschränken; Durchführung einer flächengleichen Ersatzaufforstung auf den Flächen der drei alten Brunnen WF02 bis WF04 unmittelbar nach deren Rückbau auf der FlNr. … Gemeinde …, Gemarkung …; der Nachweis über die Ersatzaufforstung sei dem AELF … innerhalb von 3 Jahren anzuzeigen.</p>
<p><rd nr="5"/>Eine Ausfertigung der Baugenehmigung wurde dem Antragsteller mittels Postzustellungsurkunde am 8. April 2022 zugestellt.</p>
<p><rd nr="6"/>Mit Schreiben vom 21. April 2022, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangen am 25. April 2022, erhob der Antragsteller Klage gegen die Baugenehmigung der Stadt … und beantragt gleichzeitig,</p>
<p>die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.</p>
<p><rd nr="7"/>Zur Begründung trug er vor, dass durch die bauliche Maßnahme die Wasserversorgung seines Baumbestandes auf dem Grundstück … gestört oder zumindestens stark beeinträchtigt werde, so dass es zum Absterben seines Waldes komme. Darüber hinaus erfolge durch den Bau ein erheblicher Eingriff in die Natur, da 400 qm Wald gerodet werden müssten. Die im Wald lebenden Wildtiere würden aus allen umliegenden Waldgrundstücken vertrieben. Dies habe einen stark negativen Einfluss auf sein Waldgrundstück.</p>
<p><rd nr="8"/>Die Antragsgegnerin führte mit Schreiben vom 12. Mai 2022 aus, dass unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange sowie der Aufnahme von Auflagen die Baugenehmigung zu erteilen gewesen sei. Die Bedenken des Antragstellers könnten nicht bestätigt werden. Die Rodung dürfe gemäß Art. 9 Abs. 5 BayWaldG nur unter Auflagen durchgeführt werden. Das Anlegen des Weges werde nicht mehr beabsichtigt und sei nicht Bestandteil der Baugenehmigung. Der Bau der oberirdischen Brunnenstationen diene dem Zweck einer optimalen Trinkwasserversorgung. Eine dadurch eintretende Beeinträchtigung der Wasserversorgung des Waldes des Antragstellers sei nicht ersichtlich.</p>
<p><rd nr="9"/>Die Antragsgegnerin beantragt,</p>
<p>den Antrag abzulehnen.</p>
<p><rd nr="10"/>Mit Beschluss vom 18. Mai 2022 wurde der Zweckverband zur Wasserversorgung … notwendig zum Verfahren beigeladen.</p>
<p><rd nr="11"/>Mit gerichtlichem Schreiben vom 18. Mai 2022 wurde der Beigeladene auf die Regelung des § 55d VwGO hingewiesen. Daraufhin übermittelte der Beigeladene über das besondere Behördenpostfach der Stadt … ein Schreiben unter dem Briefkopf des Zweckverbandes zur Wasserversorgung … vom 24. Mai 2022, unterzeichnet durch zwei Beschäftigte des Zweckverbandes zur Wasserversorgung … Der Beigeladene führte aus, dass die drei neuen Brunnenstationen als Abschlussbauwerk für die bereits errichteten Brunnen WF 12 bis WF 14 errichtet würden. Diese Brunnen seien Ersatzbrunnen für die Brunnen WF 02 bis WF 04, die auf dem gleichen Flurstück lägen und zwischenzeitlich qualifiziert zurückgebaut seien. Die Brunnen WF 02 bis WF 04 seien im Jahr 1964 errichtet worden. Die Entnahme von Grundwasser sei mit wasserrechtlichen Bescheiden vom 9. Oktober 1969 und 9. Oktober 1997 bewilligt worden. Die aktuelle Bewilligung sei bis 31. Dezember 2027 befristet. Aufgrund von Alterserscheinungen sei mit dem Wasserwirtschaftsamt … die Errichtung von drei Ersatzbrunnen bei vollständigem Rückbau der Altbrunnen abgestimmt worden. Mit Bescheid vom 9. November 2021 sei Einverständnis mit dem Neubau der drei Brunnen unter Bezug auf den Bescheid zum Rückbau der Brunnen gleichen Datums erteilt worden. Die Tiefbauarbeiten zur Errichtung der neuen Brunnen WF 12 bis WF 14 seien im Zeitraum Januar bis April 2022 fertiggestellt worden. Derzeit würden die ersten Entnahmevorgänge durchgeführt. Für die ordnungsgemäße Funktion der Brunnen zur Einspeisung in das Trinkwassernetz seien noch die Brunnenstationen als Abschlussbauwerke zu errichten.</p>
<p><rd nr="12"/>Es sei nicht geplant, die bisher bewilligte Entnahmemenge zu erhöhen, es sollten nur die durch den Rückbau der Altbrunnen fehlenden Mengen ersetzt werden. Zudem befänden sich die Brunnen etwas weiter südwestlich der Altstandorte, so dass für das im Osten und im Zustrom des Flurstücks … der Gemarkung … gelegene Flurstück … durch die Grundwasserförderung keine weiteren Beeinträchtigungen zu erwarten seien. Durch die Brunnenstationen ergebe sich keine Änderung der Gesamtwaldfläche auf dem Flurstück … der Gemarkung … Die Brunnenstationen der neuen Brunnen hätten den gleichen Platzbedarf wie die ursprünglichen unterirdischen Brunnenschächte, die ebenfalls baumfrei hätten gehalten werden müssen. Die Altbrunnen seien komplett zurückgebaut, so dass die Flächen wieder einer forstwirtschaftlichen Nutzung zugeführt würden. Damit sei kein Abwandern von Wildtieren zu befürchten. Zudem seien die Fassungsbereiche, und damit auch das Flurstück …, dem geltenden Regelwerk konform lückenlos eingezäunt, so dass lediglich vereinzelte Tiere sich im Fassungsbereich aufhielten.</p>
<p><rd nr="13"/>Der Beigeladene beantragt,</p>
<p>den Antrag abzulehnen.</p>
<p><rd nr="14"/>Mit Schreiben vom 25. Mai 2022 zeigten sich die Bevollmächtigten des Antragstellers an.</p>
<p><rd nr="15"/>Mit gerichtlichem Schreiben vom 5. Juli 2022 wurde der Beigeladene erneut auf das Erfordernis einer Übermittlung nach § 55a VwGO hingewiesen.</p>
<p><rd nr="16"/>Der Bevollmächtigte des Antragstellers begründete den Antrag mit Schreiben vom 20. Juli 2022. Durch die Inbetriebnahme der geplanten Brunnenanlage sei eine nicht unwesentliche Beeinträchtigung der Wasserversorgung des Baumbestandes auf dem Nachbargrundstück des Antragstellers im Vergleich zum vorherigen Zustand zu befürchten, ebenso wie eine Gefährdung der beabsichtigten Nutzung als Waldgrundstück. Eine entsprechende Nutzung sei gerade im Regionalplan und Waldfunktionsplan vorgesehen und habe Bedeutung für den regionalen Klimaschutz. Die Eingriffe seien nicht gerechtfertigt. Die Erforderlichkeit werde mangels Begründung bestritten. Nicht ersichtlich sei, weshalb es zu einem vollständigen Rückbau bestehender Brunnenanlagen und vollständiger Errichtung neuer Brunnenanlage kommen müsse. Hierdurch würden offenkundig eine Gefährdung des klägerischen Grundstücks in Kauf genommen und naturschutzrechtliche Belange über Maßen verletzt. Die gewählte Vorgehensweise, vermutlich aus rein finanziellen Aspekten heraus, sei besonders fraglich. Bereits durch die Neuerrichtung selbst sei eine umfangreiche Entnahme von Wasser zu erwarten, weswegen das Grundstück des Klägers nur noch mit weniger Grundwasser versorgt werden könne.</p>
<p><rd nr="17"/>Es sei zu befürchten, dass im Zuge der streitgegenständlichen Baugenehmigung die drohenden naturschutzrechtlichen Eingriffe in unzutreffendem Maße berücksichtigt worden seien. Im Erläuterungsbericht der Beigeladenen werde unmissverständlich dargelegt, dass für den Neubau der Brunnen „eine vorübergehende Baufläche von ca. 400 qm pro Brunnen vom Baumbestand befreit werden“ müsse. Im Verfahren sei jedoch ausschließlich die Rodungsfläche für einen Brunnen, also 400 qm, in die Abwägung einbezogen worden.</p>
<p><rd nr="18"/>Der Beigeladene nahm mit Schriftsatz vom 9. August 2022, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach auf dem Postweg eingegangen am 15. August 2022, erneut Stellung. Die im Juni 2022 durchgeführten Leistungstests ergäben, dass die Absenkung noch geringer ausfalle als in den Brunnen bisher gemessen. Es sei keine Beeinträchtigung des Baumbestandes auf dem Grundstück des Antragstellers zu befürchten. Die Grundwasserentnahme erfolge seit 1969 auf Basis der gültigen wasserrechtlichen Bescheide des Landratsamtes … Der Neubau der Brunnen führe nicht zu einer Veränderung der Entnahmemenge. Die neuen Brunnen lägen zehn bis 15 m südlich der zurückgebauten Altbrunnen, so dass sich die Entfernung zum Grundstück des Antragstellers erhöht habe. Damit sei mit einer etwas geringeren Absenkung an dieser Stelle zu rechnen.</p>
<p><rd nr="19"/>Durch die Brunnenstationen ergebe sich keine Veränderung der Gesamtwaldfläche, da auch bereits für die alten Brunnenschächte eine vergleichbare Fläche habe freigehalten werden müssen.</p>
<p><rd nr="20"/>Im Übrigen diene die Grundwasserentnahme nicht finanziellen Interessen, sondern der öffentlichen Daseinsversorgung.</p>
<p><rd nr="21"/>Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.</p>
<p>II.</p>
<p><rd nr="22"/>Der zulässige Antrag, der als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid auszulegen ist, ist unbegründet.</p>
<p><rd nr="23"/>1. Nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, soweit der Klage - wie im vorliegenden Fall - aufgrund § 80 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt. Hierbei trifft das Gericht eine originäre Ermessensentscheidung, welche sich in erster Linie an den Erfolgsaussichten der Hauptsache (BayVGH, B. v. 26.4.2021 - 15 CS 21.1081 - juris Rn. 22) orientiert. Dem Charakter des vorläufigen Rechtsschutzes entspricht es, dass diese Prüfung grundsätzlich nur summarisch erfolgt, da für eine Beweisaufnahme grundsätzlich bei diesen Verfahren kein Raum bleibt. Bei offenen Erfolgsaussichten wird die Ermessensentscheidung anhand einer Interessenabwägung getroffen (BayVGH a.a.O.).</p>
<p><rd nr="24"/>2. Die Anfechtungsklage hat nach summarischer Prüfung wohl keine Aussicht auf Erfolg, da die angegriffene Baugenehmigung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<p><rd nr="25"/>Einem Kläger kommt im Rahmen einer Drittanfechtungsklage gegen eine an einen Dritten gerichtete Baugenehmigung kein Vollüberprüfungsanspruch zu. Vielmehr kann der Kläger als Nachbar nur solche Rechtsverletzungen ins Feld führen, die auf Normen beruhen, die in qualifizierter und individualisierter Weise gerade auch dem Schutz des Klägers dienen (BayVGH, B. v. 26.5.2020 - 15 ZB 19.2231 - juris Rn. 8). Ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung des Nachbarrechtsschutzes kommt dabei grundsätzlich nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nachbarliche Abwehrrechte verfassungskonform ausgestaltet hat und unter Einschluss der Grundsätze des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitstellt (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.2021 - 15 CS 21.1081 - juris Rn. 23 m.w.N.).</p>
<p><rd nr="26"/>Soweit ein Vorhaben im Außenbereich in Streit steht, sind solche drittschützenden Belange regelmäßig nur aus dem Gebot der Rücksichtnahme, wie es sich etwa in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB manifestiert, ableitbar (BayVGH, B. v. 23.12.2016 - 9 CS 16.1672 - juris Rn. 13). Es betrifft jedoch auch Fälle, in denen nicht schädliche Umwelteinwirkungen, sondern sonstige nachteilige Wirkungen in Rede stehen (BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1/04 - juris Rn. 11). Ein allgemeiner Schutzanspruch des Nachbarn auf die Bewahrung des Außenbereichs und damit ein Abwehranspruch gegen Vorhaben, die im Außenbereich objektiv nicht genehmigungsfähig sind, besteht - unabhängig davon, ob das Grundstück des Nachbarn im Außenbereich oder Innenbereich liegt - nicht (BayVGH, B.v. 23.1.2018 - 15 CS 17.2575 - juris Rn. 20 m.w.N.).</p>
<p><rd nr="27"/>Das genehmigte Vorhaben, ein der öffentlichen Versorgung mit Trinkwasser dienende bauliche Anlage im Außenbereich (§ 35 Abs. 1 Nr. 3 BauGB), erweist sich aller Voraussicht nach dem Antragsteller gegenüber nicht als rücksichtslos.</p>
<p><rd nr="28"/>Das Maß der gebotenen Rücksichtnahme hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. etwa BVerwG, U.v. 18.11.2004, a.a.O.).</p>
<p><rd nr="29"/>Soweit sich der Antragsteller auf Veränderungen der Grundwasserversorgung seines Waldgrundstücks mit der Folge des Absterbens des Baumbestandes beruft, fehlt es bei summarischer Prüfung an einer Rücksichtslosigkeit des Vorhabens. Der Antragsteller hat seine Bedenken insoweit nicht ausreichend plausibilisiert und glaubhaft gemacht. Vielmehr handelt es sich um eine reine Mutmaßung ohne jegliche Beweiskraft.</p>
<p><rd nr="30"/>Der Beigeladene hat auf dem Grundstück FlNr. … der Gemarkung … bisher drei Trinkwasserbrunnen (WF 02 bis WF 04) betrieben, die durch die neu errichteten drei Brunnen (WF 12 bis WF 14) ersetzt wurden. Die Grundwasserentnahme ist seit 1969 mittels unterschiedlicher wasserrechtlichen Bewilligungen/Erlaubnisse genehmigt.</p>
<p><rd nr="31"/>Befürchtet ein Nachbar Beeinträchtigung in seiner Belange durch eine wasserrechtliche Erlaubnis, ist er nicht nur befugt, diese vor den Verwaltungsgerichten anzufechten, sondern auch - will er sein Interesse wahren - darauf angewiesen, seine Rechte im Verfahren geltend zu machen (VG Ansbach, U.v. 12.9.2006 - AN 9 K 06.01146 - juris Rn. 50 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 3.7.1987 - 4 C 41/86 - juris Rn. 17). Hat der Antragsteller eine entsprechende Geltendmachung versäumt, kann er dies nicht im Rahmen eines baurechtlichen Genehmigungsverfahren für die oberirdischen Brunnenstationen, die der ordnungsgemäßen Funktion der Brunnen zur Einspeisung in das Trinkwassernetz dienen und auf die sich die wasserrechtliche Erlaubnis/Bewilligung gerade nicht erstreckt, nachholen. Insoweit wird eine wasserrechtliche Genehmigung selbständig neben einer Baugenehmigung erteilt, so dass mit einer Klage gegen die Baugenehmigung nicht Fehler im wasserrechtlichen Verfahren geltend gemacht werden können (so z.B. BayVGH, B.v. 17.3.2020 - 1 ZB 18.2516 - juris Rn. 4 zum Fehlen einer wasserrechtlichen Erlaubnis).</p>
<p><rd nr="32"/>Im Übrigen hat der Beigeladene versichert, dass mit den neuen Brunnen und den dazugehörenden Abschlussbauwerken, die Gegenstand der streitgegenständlichen Baugenehmigung sind, keine Erhöhung der Entnahmemengen, die sich ohnehin im genehmigten Rahmen der wasserrechtlichen Erlaubnis/Bewilligung halten müssen, einhergeht. Vielmehr soll mit den Brunnen WF 12 bis WF 14 die durch den Rückbau der Brunnen WF 02 bis WF 04 entfallene Fördermenge ersetzt werden. Insoweit kann das Gericht auch die Einlassung des Beigeladenen berücksichtigen, auch wenn die eingereichten Schriftsätze nicht den Anforderungen an eine elektronische Einreichung gemäß § 55d VwGO i.V.m. § 55a VwGO erfüllen. Zwar führt die Nichteinhaltung der Pflicht, vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln, grundsätzlich zu einer (Form) Unwirksamkeit von Prozesserklärungen (z.B. BayVGH, B.v. 6.5.2022 - 10 ZB 22.827 - juris Rn. 2 m.w.N), jedoch bewirkt der Verstoß gegen die elektronische Einreichungspflicht kein Verwertungsverbot (Ulrich in: Schoch/Schneider, VwGO § 55d Rn. 27), insbesondere da das Gericht spätestens im Hauptsacheverfahren im Rahmen der Amtsermittlungspflicht die entsprechenden Tatsachenfeststellungen anderweitig beschaffen müsste.</p>
<p><rd nr="33"/>Aber auch mit der Rüge eines erheblichen Eingriffs in die Natur durch Rodungsarbeiten und die Vertreibung von im Wald lebenden Wildtieren kann der Antragsteller nicht die Verletzung eigener, drittschützender Rechts geltend machen. Die Normen des Bundesnaturschutzgesetzes, des Bayerischen Naturschutzgesetzes, des Bundeswaldgesetzes und des Bayerischen Waldgesetzes entfalten keine nachbarschützende Wirkung. Die Ziele und Grundsätze des Naturschutzes und der Landschaftspflege sind dem öffentlichen Interesse zuzuordnen. Durch das Naturschutzrecht werden nur die Interessen der Allgemeinheit geschützt und es ist nicht dazu bestimmt, dem Schutz Dritter zu dienen. Auch der Tier- und Pflanzenschutz verfolgt vielmehr das Ziel des Gemeinwohls (BVerwG, U.v. 17.1.2001 - 6 CN 3.00 - juris Rn. 8). Der verfassungsrechtlich verankerte Umweltschutz als Staatsziel begründet kein Abwehrrecht. Es handelt sich ausschließlich um objektiv-rechtlich zu verstehende Verfassungssätze ohne anspruchsbegründende Wirkung. Ein „Grundrecht auf Umweltschutz“ existiert nicht (BayVGH, B.v. 27.7.2010 - 15 CS 10.37 - juris Rn. 25; VG Potsdam, U.v. 11.7.2022 - 4 K 573/19 - juris Rn. 54 m.w.N.; VG München, B.v. 30.8.2021 - M 1 SN 21.2740 - juris Rn. 26).</p>
<p><rd nr="34"/>Entsprechend ist es nicht beachtlich, ob das AELF … die zu rodende Fläche hinsichtlich der Größe zutreffend bewertet hat. Letztlich kommt es durch den Rückbau der Altbrunnen und der anschließenden Ersatzaufforstung, wie in der Auflage A127 des streitgegenständlichen Bescheides vorgegeben, nicht zu einer Veränderung des Waldbestandes.</p>
<p><rd nr="35"/>Daher war der Antrag abzulehnen.</p>
<p><rd nr="36"/>3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Da sich der Beigeladene mangels formunwirksamer Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es auch nicht der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO, ihm einen Kostenerstattungsanspruch zuzusprechen.</p>
<p><rd nr="37"/>Die Entscheidung zum Streitwert fußt auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs.</p>
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<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
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<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 8. Kammer - vom 15. Dezember 2020 wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p></dd>
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<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte begehrt die Zulassung der Berufung gegen das einem Informationsbegehren der Klägerin teilweise stattgebende Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2020.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin betreibt ein Unternehmen, welches sich u.a. auf die Errichtung, Vermietung und den Verkauf von modularen Containeranlagen spezialisiert hat. In der Vergangenheit stand sie mit dem Land Schleswig-Holstein in geschäftlicher Beziehung, zuletzt im Zuge des Zustroms von Asylsuchenden im Jahre 2015. Am 19. Oktober 2015 kam es zur Vergabenummer ZB-60-15-1023000-4121-2 zum Abschluss einer dritten Rahmenvereinbarung für die „Montage, Miete und Demontage von Wohn- und Sanitärcontainern (Rahmenvereinbarung) für bis zu 2.500 Personen“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Ebenfalls am 19. Oktober 2015 kam es zu einer Auftragsvergabe des Beklagten an die Firmen E... (Vergabenummer ZB-60-15-0991000-4121.2) und A...(Vergabenummer ZB-60-15-0988000-4121.2). Wie die Auftragsvergabe an die Klägerin kam der Zuschlag auch hier ohne Teilnahmewettbewerb zustande. Der Auftrag an die Firma E... ist mit „Kauf einer Containeranlage“ näher beschrieben und sollte der Schaffung von Wohnkomplexen für Asylsuchende dienen. Zu einem Abruf von Wohn- und Sanitärcontainern kam es nicht. Stattdessen wurden Modulbauten in Holzbauweise abgerufen, die für den Aufbau von Büro- und Seminargebäuden u.a. an der Universität in Flensburg verwendet wurden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verwaltungsrechtsstreits sind derzeit zwei Verfahren vor Zivilgerichten anhängig, in denen es einerseits um Zahlungsansprüche im Zusammenhang mit der dritten Rahmenvereinbarung vom 19. Oktober 2015 und die Nichtberücksichtigung der Klägerin bei der Vergabe an ein anderes Unternehmen und andererseits um die Vergabe von Modulbauten durch den Beklagten an die Firma E... (letzteres anhängig beim Landgericht Kiel, Az. 13 O 379/19) geht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Am 23. März 2017 beantragte die Klägerin Akteneinsicht für sämtliche Unterlagen, die die Vergabe an sie selbst betreffen (Vergabenummer ZB-60-15-1023000-4121-2) sowie die Vergabe an die Firmen E... (Vergabenummer ZB-60-15-09910004121.2) und A... (Vergabenummer ZB-60-15-0988000-4121.2). Außerdem beantragte sie, Akteneinsicht in sämtliche Unterlagen, die die Umwandlung von Containern für Flüchtlinge in Modulgebäude, insbesondere für Seminar- und Bürogebäude der Universität Flensburg betrafen, unabhängig davon, ob eine Vergabe stattgefunden habe oder nicht. Schließlich umfasste der Antrag auf Akteneinsicht die Unterlagen zu einer Veräußerung, versuchten Veräußerung, Schenkung oder versuchten Schenkung von Wohncontainern durch die Beklagte oder die Gebäudemanagement Schleswig-Holstein AöR (GMSH) an Dritte, sofern es sich dabei um Container handelt, die im Jahr 2015 mit oder ohne ein Vergabeverfahren durch ihn oder die GMSH an Dritte zum Zwecke der Unterbringung von Asylsuchenden beschafft worden waren. Die Klägerin begründete ihr rechtliches Interesse an der Einsicht mit dem Vorliegen von Vertragsverletzungen und Rechtsverstößen, die bei ihr zu einer achtstelligen Schadenssumme geführt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 15. Mai 2017 gewährte der Beklagte der Klägerin zunächst Einsicht in die Unterlagen zur Vergabe an sie selbst, schloss den behördeninternen Schriftverkehr sowie Informationen zur Schätzung des Auftragswertes von dem Einsichtsrecht aber aus. Die übrigen Anträge lehnte der Beklagte ab, weil das öffentliche Interesse an der Geheimhaltung das Auskunftsinteresse der Allgemeinheit überwiege. Den dagegen erhobenen Widerspruch wie der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2017 als unbegründet zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Am 29. September 2017 hat die Klägerin Klage erhoben und beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 15. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2017 zu verpflichten, ihr unbeschränkte Akteneinsicht entsprechend ihres Antrages vom 23. März 2017 in sämtliche Informationen in Schrift-, Bild-, Ton- oder Datenverarbeitungsform oder auf sonstigen Informationsträgern hinsichtlich der folgenden Vergabeverfahren und Informationen zu gewähren, dabei insbesondere jeweils in Bezug auf die Vergabeentscheidung, die vertraglichen Unterlagen, den Schriftverkehr mit dem jeweiligen Auftragnehmer (sofern nicht die Klägerin die Adressatin war),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den behördeninternen Schriftverkehr und den Schriftverkehr mit der Gebäudemanagement Schleswig-Holstein AöR (GMSH)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. Vergabenummer ZB-60-15-1023000-4121.2 (Vergabe an die Klägerin, Auftrag vom 19. Oktober 2015),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. Vergabenummer ZB-60-15-0988000-4121.2 (Vergabe an die Firma A... aus U..., Auftrag vom 19. Oktober 2015 von 3.000 Wohnmodulen),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3. Vergabenummer ZB-60-15-0991000-4121.2 (Vergabe an die Firma E... aus D... vom 19. Oktober 2015 zum Kauf von 1.670 Wohnmodulen),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">4. Vergabenummer unbekannt (Vergabe zur Umwandlung von Containern für Flüchtlinge in Modulgebäude, insbesondere für Seminar- und Bürogebäude der Universität Flensburg durch die Firma S.M. GmbH, die S.R. GmbH oder ein anderes Unternehmen oder mehrere andere Unternehmen; sollte keine Vergabe stattgefunden haben, so umfasst der Antrag auf Akteneinsicht alle Informationen, die den Vertragsschluss einschließlich der Vertragsanbahnung mit der entsprechenden Firma und die Durchführung der Maßnahmen betreffen, und alle direkt oder indirekt damit zusammenhängenden Informationen),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">5. Alle Informationen, welche die Veräußerung, versuchte Veräußerung, Schenkung oder versuchte Schenkung von Wohncontainern durch die Beklagte oder ihre Anstalt des öffentlichen Rechts an Dritte betreffen, sofern es sich dabei um Container handelt, die in 2015 mit oder ohne Vergabe durch den Beklagten oder ihre Anstalt des öffentlichen Rechts an Dritte zum Zwecke der Unterbringung von Flüchtlingen beschafft wurden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Mit Urteil vom 15. Dezember 2020 hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht der Klage teilweise stattgegeben. Der Beklagte wurde darin unter insoweitiger Aufhebung des Bescheides vom 15. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2017 verpflichtet, der Klägerin sämtliche Informationen in Schrift-, Bild-, Ton- oder Datenträgerverarbeitungsform oder sonstigen Informationsträgern betreffend</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. die Bekanntmachung der Aufträge zu den Vergabenummern ZB-6015-0988000-4121.2 sowie ZB-60-15-0991000-4121.2;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. die Umwandlung von Containern für Flüchtlinge in Modulgebäude, insbesondere für Seminar- und Bürogebäude der Universität Flensburg durch die Firma SM GmbH, die SR GmbH, die Firma E... oder ein anderes Unternehmen oder mehrere andere Unternehmen;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3. die Veräußerung, versuchte Veräußerung, Schenkung oder versuchte Schenkung von Wohncontainern durch die Beklagte oder die Gebäudemanagement Schleswig-Holstein AöR (GMSH) an Dritte, sofern es sich dabei um Container handelt, die im Jahr 2015 mit oder ohne ein Vergabeverfahren durch ihn oder die GMSH an Dritte zum Zwecke der Unterbringung von Asylsuchenden beschafft worden sind</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>zu gewähren. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 Satz 1 IZG-SH für sämtliche Anträge gegeben seien, in Bezug auf den Antrag zu 1 aber der Ausschlussgrund des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IZG-SH und in Bezug auf die Anträge zu 2 und 3 – mit Ausnahme der Bekanntmachung der Aufträge (Urteilstenor zu 1) – die Ausschlussgründe des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und des § 10 Satz 1 Nr. 3 IZG-SH entgegenstünden. Anders verhalte es sich mit dem Antrag zu 4. Für das Vorliegen von Ausschlussgründen obliege dem Beklagten die Darlegungslast. In Bezug auf die Umwandlung von Containern für Flüchtlinge in Modulgebäude sei weder hinreichend ersichtlich noch vorgetragen, dass ein förmliches Vergabeverfahren durchgeführt worden sei. Der Beklagte habe in den angegriffenen Bescheiden allerdings allein zu solchen Ablehnungsgründen vorgetragen, die sich auf durchgeführte Vergabeverfahren bzw. auf die Notwendigkeit des Schutzes von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen bezögen, ohne dies auf den im Klagantrag zu 4 benannten Vorgang zu konkretisieren. Auch der Grundsatz des Schutzes des Kernbereiches der exekutiven Eigenverantwortung stehe einer Informationserteilung nicht entgegen (Urteilstenor zu 2). An einer entsprechenden Darlegung von Ausschlussgründen durch den Beklagten mangele es schließlich auch in Bezug auf den Antrag zu 5 (Urteilstenor zu 3).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Gegen das am 17. März 2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 13. April 2021 einen auf den stattgebenden Urteilstenor zu 2 beschränkten Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt und diesen am 12. Mai 2021 begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das Vorbringen des Beklagten, das den Prüfungsumfang für das Oberverwaltungsgericht bestimmt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht. Das Vorliegen der Voraussetzungen des allein geltend gemachten und auf den stattgebenden Urteilstenor zu 2 beschränkten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung liegen vor, wenn ein Erfolg des Rechtsmittels, dessen Zulassung beantragt wird, mindestens ebenso wahrscheinlich ist, wie ein Misserfolg (std. Rspr. des Senats, Beschl. v. 14.10.1999 - 4 L 83/99 -, juris Rn. 3). Für die Darlegung derartiger Zweifel bedarf es der Infragestellung eines einzelnen tragenden Rechtssatzes oder einer erheblichen Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten (Senat, Beschl. v. 27.01.2021 - 4 LA 165/19 -, juris Rn. 4; Beschl. v. 14.10.1999 - 4 L 83/99 -, juris Rn. 3; BVerfG, Beschl. v. 16.01.2017 - 2 BvR 2615/14 -, juris Rn. 19 m.w.N.). Der Antragsteller muss sich mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen und im Einzelnen substantiiert ausführen, welche Erwägungen er für unzutreffend hält und aus welchen Gesichtspunkten sich die Unrichtigkeit dieser Erwägungen ergibt. Der Antragsteller muss ferner darlegen, dass und aus welchen Gründen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf diesen – aus seiner Sicht fehlerhaften – Erwägungen beruht, d.h. die dargestellten Zweifel müssen im konkreten Fall entscheidungserheblich sein. Aus ihnen muss sich die Unrichtigkeit der Entscheidung im (allein relevanten) Ergebnis ergeben; auf die Richtigkeit einzelner Elemente der Urteilsbegründung kommt es nicht an (OVG Schleswig, Beschl. v. 27.01.2021 - 4 LA 165/19 -, juris Rn. 14; Beschl. v. 16.06.2021 - 3 LA 56/20 -, juris Rn. 31; Beschl. v. 14.05.1999 - 2 L 244/98 -, juris Rn. 19 f.). Entscheidend ist allein das Ergebnis der Entscheidung, also die Richtigkeit des Urteils nach dem Sachausspruch in der Urteilsformel (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.03.2004 - 7 AV 4.03 - juris Rn. 8 f.). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>1. Dies gilt zunächst für die Rüge, der Urteilstenor zu 2 sei nicht ausreichend bestimmt und die darin enthaltene "Globalverpflichtung" zur Herausgabe "sämtlicher" Informationen nicht vollstreckungsfähig, weil nicht ersichtlich sei, welche konkreten Unterlagen, Informationen und Schriftstücke offenzulegen seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>a. Für diese Rüge kommt eine Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO von vornherein nicht in Betracht. Denn dieser Zulassungsgrund dient der inhaltlichen Kontrolle der erstinstanzlichen Entscheidung (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 74). Die in Rede stehende „Richtigkeit“ meint die Richtigkeit des Urteils nach dem Sachausspruch in der Urteilsformel und damit deren (Ergebnis-)Richtigkeit (BVerwG, Beschl. v. 10.03.2004 - 7 AV 4.03 - juris Rn. 8 f.). Dies erklärt, warum Gegenstand der Darlegung ernstlicher Zweifel die Urteilsgründe und mit ihnen die die Entscheidung tragenden Rechtssätze oder hierfür erhebliche Tatsachenfeststellungen sind, die zu dem in der Urteilsformel ausgedrückten Sachausspruch geführt haben. Derartige Darlegungen enthält die Begründung der Rüge des nicht hinreichend bestimmten Urteilstenors nicht und könnten vom Beklagten insoweit auch nicht erbracht werden, da es ihm an dieser Stelle nicht um die inhaltliche Richtigkeit des Sachausspruchs, sondern „nur“ um dessen Bestimmtheit und Vollstreckbarkeit geht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>b. Gründe für eine Zulassung der Berufung ergeben sich darüber hinaus auch nicht aus dem denkbaren Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen Vorliegens eines der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die den Verfahrensablauf regelt, also den Weg zu dem Urteil und die Art und Weise des Urteilserlasses, nicht aber die sachliche Entscheidung und deren Inhalt betrifft (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 187). Da bereits der Klageantrag den Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis absteckt, ist insoweit an die Regelung des § 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO anzuknüpfen. Danach soll die Klage – neben der Bezeichnung der Beteiligten und des Klagebegehrens – einen bestimmten Antrag enthalten. Art und Umfang des begehrten Rechtsschutzes und der Streitgegenstand richten sich nach dem Klageantrag; schon er muss deshalb hinreichend bestimmt und aus sich heraus verständlich sein. Aus dem Klageantrag kann ein stattgebendes Urteil erwachsen mit einer Urteilformel i.S.d. § 117 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; aus dieser wiederum soll schließlich eine Zwangsvollstreckung zu erwarten sein, die das Vollstreckungsverfahren nicht unter Fortsetzung des Streits mit Sachfragen überfrachtet. Welche Anforderungen sich aus dem Bestimmtheitsgebot ergeben, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen materiellen Rechts und von den Umständen des Einzelfalles ab (BVerwG, Urt. v. 05.09.2013 - 7 C 21.12 -, juris Rn. 54; Riese in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 82 Rn. 25). Dass die Urteilsformel genau formuliert sein muss, verdeutlicht sich im Übrigen in § 168 Abs. 2 VwGO, weil für die Zwecke der Vollstreckung ein Urteil ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe ausgefertigt werden kann (Kilian/Hissnauer in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 117 Rn. 72). Der Beklagte macht allerdings weder einen entsprechenden Verfahrensmangel geltend noch ergibt sich, dass ein solcher Verfahrensmangel bezüglich des Urteilstenors zu 2 tatsächlich vorliegt. Die Unbestimmtheit wird unter Verweis auf eine – nicht näher erläuterte – „Globalverpflichtung“ zur Herausgabe „sämtlicher“ Informationen nur behauptet. Es wird aber nicht dargelegt, dass die gerügte Urteilsformel auch dann als zu unbestimmt anzusehen ist, wenn man sie in ihrem Kontext liest, sie anhand von Tatbestand und Entscheidungsgründen auslegt und sie vor dem Hintergrund des der Sachentscheidung zugrundeliegenden materiellen Rechts – etwa der Begriffsbestimmungen in § 2 Abs. 1 IZG-SH – bewertet. Schließlich kennen weder das Gericht noch die antragstellende oder eine sonstige außenstehende Person den Bestand an Akten und Informationen und die Form der Vorgangsverwaltung einer informationspflichtigen Stelle. Diese ist deshalb nach § 4 Abs. 2 Satz 4 IZG-SH auch gehalten, die antragstellende Person bei der Stellung und Präzisierung ihres Antrages zu unterstützen. Umso mehr ist es an ihr, überzeugende Gründe vorzutragen, warum ein auf Informationszugang gerichteter Antrag und ein darauf aufbauendes stattgebendes Verpflichtungsurteil nicht ausreichend bestimmt sein sollte, um gegebenenfalls auch vollstreckt werden zu können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Dies alles berücksichtigend erscheint der Urteilstenor zu 2 für einen Außenstehenden im Übrigen nicht als zu unbestimmt. Die Verpflichtung ist inhaltlich und zeitlich auf den Vorgang der „Umwandlung von Containern für Flüchtlinge in Modulgebäude, insbesondere für Seminar- und Bürogebäude“ einer Universität begrenzt. Schon anhand des Urteilstatbestandes und der -gründe müsste sich dieser „Vorgang der Umwandlung“ bei chronologischer Aktenführung hinreichend klar von dem des vorangegangenen Vergabeverfahrens, welches mit dem Zuschlag i.S.d. § 127 GWB n.F. endet, und des in diesem Rahmen geschlossenen Kaufvertrages abgrenzen und trennen lassen. Ausweislich der Urteilsgründe bezieht sich der gewährte Schutz aus § 9 Abs. 1 Nr. 3 IZG-SH nur auf das Verfahren der Auftragsvergabe und die inter-und intrabehördlichen Informationen, die im Rahmen des vergaberechtlichen Entscheidungsprozesses ausgetauscht worden sind (insbesondere der vorbereitende behördeninterne Schriftverkehr und Informationen zur Schätzung bzw. Zusammensetzung des Auftragswertes), nicht aber auf die spätere Ausführung des Auftrags i.S.d. § 128 GWB n.F. und der Abwicklung der Kaufverträge. Bestätigt wird dies durch das Vorbringen des Beklagten zur Begründung des Zulassungsantrages, wonach die Umwandlung tatsächlich nicht im Rahmen eines neuerlichen Vergabeverfahrens, sondern im Rahmen der Abwicklung durch eine Vertragsänderung erfolgte, nachdem im Verlauf des Jahres 2016 klargeworden war, dass die gekauften Container für den ursprünglich vorgesehenen Zweck nicht mehr benötigt würden. Auf Seite 7 im 4. Absatz der Begründung führt der Beklagte in einem anderen Zusammenhang aus, dass es sich „bei der angesprochenen ‚Umwandlung von Containern‘ genau um den soeben dargestellten Vorgang“ handele.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>2. Weiter macht der Beklagte geltend, dass die Ausführungen des Gerichts zum klägerischen Antrag zu 4 (Urteilsabdruck S. 30 f.) in tatsächlicher Hinsicht unzutref-fend seien. Fehlerhaft gehe es davon aus, dass die Nichtdurchführung eines Vergabeverfahrens zur „Umwandlung von Containern“ dazu führe, dass die vorgetragenen Ablehnungsgründe nicht trügen. Dem liege offenbar in tatsächlicher Hinsicht ein Missverständnis bzw. ein Fehler bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes zugrunde. Um die aus Sicht des Beklagten bestehenden Missverständnisse auszuräumen, stellt er sodann den entsprechenden Sachverhalt im Zusammenhang dar. Auch dies führt nicht zur Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>a. Mit diesem Vorbringen rügt der Beklagte vorrangig verwaltungsgerichtliche Tatsachenfeststellungen, auf denen sodann fehlerhafte rechtliche Annahmen beruhen sollen. Er lässt aber offen, ob er geltend machen will, dass das Gericht einen bereits vorliegenden Sachverhalt falsch gewürdigt – und somit gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen – oder ob es den aus Sicht des Beklagten maßgeblichen Sachverhalt entgegen § 86 Abs. 1 VwGO nicht ausreichend aufgeklärt haben soll. Beide Varianten bleiben ohne Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>aa. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Bestimmung ist grundsätzlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen (materiellen) Recht zuzurechnen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.03.2021 - 4 BN 35.20, juris Rn. 15 m.w.N.), da sie – ebenso wie etwa eine unrichtige Gesetzesauslegung – den inneren Vorgang der richterlichen Rechtsfindung betrifft (BVerwG, Beschl. v. 02.11.1995 - 9 B 710.94 -, juris Rn. 4; VGH München, Beschl. v. 27.02.2017 - 20 ZB 17.30078 -, juris Rn. 2 m.w.N.). Ein Verstoß gegen diese Bestimmung liegt vor, wenn das Gericht das vorliegende Tatsachenmaterial unzureichend verwertet, indem es den ermittelten oder vorgetragenen Sachverhalt unrichtig oder nicht vollumfänglich erfasst bzw. übergeht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.02.2012 - 9 B 77.11 -, juris Rn. 7; Beschl. v. 28.03.2012 - 8 B 76.11 -, juris Rn. 7; Beschl. v. 02.11.1995 - 9 B 710.94 -, juris Rn. 4).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Die Rüge einer fehlerhaften Sachverhalts- bzw. Beweiswürdigung ist grundsätzlich geeignet, das Vorbringen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu stützen. Hierfür bedarf es der Darlegung gewichtiger Anhaltspunkte dafür, dass die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts augenscheinlich nicht zutreffen oder etwa wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind (Beschl. des Senats v. 27.01.2021 - 4 LA 165/19 -, juris Rn. 8 f. m.w.N.). Dergleichen lässt sich den Ausführungen im Zulassungsantrag nicht entnehmen. Der Beklagte legt nicht dar, dass die gerügte Fehlerhaftigkeit der tatsächlichen Feststellungen darauf beruhen könnte, dass der nunmehr im Zusammenhang dargestellte Sachverhalt entweder dem Verwaltungsgericht bereits bekannt gewesen sein sollte oder dass er – der Beklagte – den Sachverhalt bereits erstinstanzlich vorgetragen hätte und dass dieser sodann vom Gericht nicht richtig erfasst bzw. übergangen worden wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>bb. Naheliegender erscheint es deshalb, dass der Beklagte einen Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO rügen will. Danach erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen und zieht dabei die Beteiligten heran. Bei einem Verstoß gegen diese Pflicht handelt es sich zwar um einen Verfahrensmangel (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, VwGO § 124 Rn. 191 m.w.N.), doch können sich die Gründe, aus denen heraus ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer Entscheidung bestehen, auch aus einer verfahrensfehlerhaften Ermittlung und Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ergeben. Eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen Vorliegens eines Verfahrensfehlers kommt aber nur in Betracht, wenn auch eine entsprechende Verfahrensrüge über § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zu einer Zulassung führen würde. Dies ist geboten, um die Konsistenz der Zulassungsgründe zu sichern. Eine Verfahrensrüge wiederum erfordert die Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese zu einer für den Rechtsmittelführer günstigeren Entscheidung hätten führen können (Senat, Beschl. v. 27.01.2021 - 4 LA 165/19 -, juris Rn. 7 m.w.N.). Zudem muss entweder dargelegt werden, dass bereits in der Vorinstanz auf die Vornahme der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung hingewirkt worden ist oder dass sich dem Ausgangsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (BVerwG, Beschl. v. 06.03.1995 - 6 B 81.94 -, juris Rn. 3). Dies leistet der Zulassungsantrag nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte legt schon nicht dar, warum die von ihm nunmehr vorgetragenen Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen hätten aufgeklärt und sich insoweit eine weitere Sachverhaltsermittlung hätte aufdrängen müssen bzw. eine solche geboten gewesen wäre. Unberücksichtigt bleibt, dass das Verwaltungsgericht dem Beklagten in Bezug auf den Klageantrag zu 4 und hier in Bezug auf das Vorliegen von Ausschlussgründen i.S.d. §§ 9 und 10 IZG-SH ausdrücklich die Darlegungslast auferlegt und dazu ausgeführt hat, dass die erforderlichen Angaben so detailliert und nachvollziehbar sein müssten, dass das Vorliegen des Geheimhaltungsgrundes tatsächlich angenommen werden könne. Sodann hat es festgestellt und begründet, warum es daran mangele (ab Seite 30, 2. Absatz des Urteils). Weder tritt der Beklagte der Auferlegung der Darlegungslast und den vom Gericht formulierten Anforderungen entgegen noch bedenkt er die Folgen für die von ihm angenommene gerichtliche Aufklärungspflicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Inhaltlich ist gegen die Auferlegung der Darlegungslast nichts zu erinnern. Sie ist materiell-rechtlich begründet mit der Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Informationszugangsfreiheit und Informationsrestriktion (so zum Bundesrecht: Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorb. §§ 3 bis 6 Rn. 61 ff.), wie sie sich auch im schleswig-holsteinischen Landesrecht findet. Beruft sich die informationspflichtige Stelle auf eine Ausnahme von dem grundsätzlich nach Maßgabe des § 3 IZG-SH gegebenen Informationsanspruch, muss sie eine ernsthafte und konkrete Gefährdung des geschützten öffentlichen Interesses anhand der Umstände des Einzelfalles nachvollziehbar, d.h. schlüssig, darlegen (OVG Schleswig, Beschl. v. 28.02.2017 - 15 P 1/15 -, juris Rn. 29). Dieser rechtliche Ansatz wurde mit Einführung des Transparenzgebotes in Art. 53 der Landesverfassung (GVOBl. Schl.-H. 2014 S. 328) und den Anpassungen im Informationszugangsgesetz speziell in den §§ 9 und 10 (GVOBl. Schl.-H. 2017 S. 328) vom Gesetzgeber letztlich bestätigt. Ausdrücklich hat er das bei der Frage der Auskunftsverweigerung bestehende Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt. Während früher bei Vorliegen von Auskunftsverweigerungstatbeständen das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe überwiegen musste, muss nunmehr ein überwiegendes öffentliches oder privates Informationsverweigerungsinteresse bestehen (LT-Drs. 18/2115 S. 31 und 18/4409 S. 14 f.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Von einer bestehenden Darlegungslast im erstinstanzlichen Verfahren ausgehend hätte der Beklagte im Zulassungsverfahren darlegen müssen, warum das Verwaltungsgericht dennoch veranlasst gewesen sein sollte, den Sachverhalt durch eigene Ermittlungen weiter aufzuklären und wie diese Ermittlungen hätten aussehen sollen in einem Fall, in dem die relevanten Tatsachen und Erkenntnismöglichkeiten nur dem Beklagten selbst bekannt sind. Auch dass er selbst auf die Vornahme einer weiteren Sachverhaltsaufklärung hingewirkt hätte, ergibt sich nicht. Schließlich wird auch eine etwaige Verletzung richterlicher Hinweispflichten (§ 86 Abs. 3 VwGO) nicht gerügt. Nach alledem lässt sich anhand des Vorbringens im Zulassungsverfahren eine Verletzung der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht nicht feststellen, so dass auch ernstliche Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des Urteils nicht festgestellt werden können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>b. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beklagte das Zulassungsverfahren zum Anlass nimmt, den entsprechenden Sachverhalt nunmehr „im Zusammenhang“ darzustellen, um das von ihm angenommene „Missverständnis in tatsächlicher Hinsicht“ auszuräumen. Die vom Beklagten in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellte These, dass für die Vertragsänderung kein neues formelles Vergabeverfahren durchzuführen gewesen wäre und deshalb kein vergaberechtswidriges Vorgehen festzustellen sei, aber dennoch Ablehnungsgründe i.S.d. §§ 9, 10 IZG-SH gegeben sein könnten, weil sich das ursprüngliche Vergabeverfahren insoweit fortsetze, ist vorliegend nicht zu klären und eröffnet daher auch nicht den Weg in die Berufung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Zwar ist für den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO im Grundsatz anerkannt, dass der Antragsteller bis zum Ablauf der Antragsbegründungsfrist die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts auch durch neues Vorbringen in Frage stellen kann und zwar auch dann, wenn die Tatsachen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht bereits vorlagen und dem Antragsteller bekannt waren, er sie also schon in erster Instanz hätte vortragen können (Senat, Beschl. v. 14.10.1999 - 4 L 83/99 -, juris Rn. 4; Rudisile in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 124 Rn. 26f-k m.w.N.). Allerdings bedarf dies wegen der unter a. bb. genannten Konsistenz der Zulassungsgründe einer Einschränkung für den Fall, dass der Antragsteller – wie hier – die ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils auf den Verfahrensfehler einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht stützt. Denn die Aufklärungsrüge stellt ihrerseits kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Vorinstanz zu kompensieren (BVerwG, Urt. v. 20.03.2012 - 5 C 1.11 -, juris Rn. 25; OVG des Saarl., Beschl. v. 08.03.2022 – 2 A 49/21 –, juris Rn. 19, beide m.w.N.), so dass ein eigenes erstinstanzliches Versäumnis nicht mehr nachgeholt werden kann, um damit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zu begründen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
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<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zum Ablauf von 14 Tagen nach Bekanntgabe einer neuen Auswahlentscheidung untersagt, die ausgeschriebene Stelle der Sachgebietsleitung für das Sachgebiet ... Schulentwicklung und interne Evaluation mit dem Beigeladenen zu besetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 20.343,60 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der wörtlich gestellte Antrag der Antragstellerin,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die ausgeschriebene Stelle der Sachgebietsleitung (m/w/d) für das Sachgebiet ... Schulentwicklung und interne Evaluation mit der ausgewählten Bewerberin zu besetzen und die Stellenbesetzung durch Aushändigung einer Ernennungsurkunde zu vollziehen, bis eine rechtsfehlerfreie und unanfechtbare Entscheidung über ihre Bewerbung vorliegt oder sich ihre Bewerbung aus anderweitigen Gründen erledigt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>ist zulässig und begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Nach der Bestimmung des § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint (Satz 2). Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO hat der Antragsteller sowohl die Eilbedürftigkeit der gewährten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Antragstellerin steht ein Anordnungsgrund zur Seite; denn der Antragsgegner beabsichtigt, die streitgegenständliche Stelle mit dem Beigeladenen zu besetzen. Mit seiner Ernennung würde sich der Bewerbungsverfahrensanspruch der Antragstellerin faktisch erledigen. Die Ernennung könnte mit Blick auf den Grundsatz der Ämterstabilität (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 09.07.2007 – 2 BvR 206/07 –, juris Rn 13; OVG Schleswig, Beschluss vom 02.09.2016 – 2 MB 21/16 –, juris Rn. 9) nicht mehr rückgängig gemacht werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsanspruch ist in beamtenrechtlichen Konkurrentenverfahren glaubhaft gemacht, wenn der unterlegene Bewerber darlegt, dass die Auswahlentscheidung fehlerhaft war und seine Aussichten, bei erneuter Auswahlentscheidung ausgewählt zu werden, zumindest offen sind, seine Auswahl mithin möglich erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.09.2002 – BvR 857/02 –, juris Rn. 83; BVerwG, Beschluss vom 20.01.2004 – 2 VR 3.03 –, juris Rn.8; OVG Schleswig, Beschluss vom 28.04.2017 – 2 MB 5/17 –, n.v.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die Auswahlentscheidung des Antragsgegners war fehlerhaft. Es ist nicht auszuschließen, dass bei einer erneuten Entscheidung die Auswahl zugunsten der Antragstellerin erfolgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) gewährt ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Dementsprechend hat jeder Bewerber Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über sein Beförderungsbegehren (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch). Dem Grundsatz der Bestenauslese entspricht es dabei, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen und als vorrangiges Auswahlkriterium auf die aktuellen dienstlichen Beurteilungen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.02.2003 – 2 C 16.02 –, juris Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 04.10.2012 – 2 BvR 1120/12 –, juris Rn. 12). Maßgeblich ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil, welches anhand einer Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte gebildet wurde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2015 – 2 BvR 1958/13 –, juris Rn. 58, Kammerbeschlüsse vom 14.10.2012 – 2 BvR 1120/12 –, juris Rn. 12 und vom 09.08.2016 – 2 BvR 1287/16 –, juris Rn. 79).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>In bestimmten Fällen lässt es Art. 33 Abs. 2 GG zu, dass der Dienstherr die Kandidaten im Anschluss an den Vergleich der Gesamturteile anhand der für das Beförderungsamt wesentlichen Einzelaussagen der dienstlichen Beurteilungen weiter vergleicht. Dies kommt insbesondere bei einem wesentlich gleichen Gesamtergebnis in Betracht. Gerade dann kommt den Einzelaussagen nach dem Sinn und Zweck der dienstlichen Beurteilungen, über Leistung und Eignung der Beamten ein differenziertes Bild zu geben, besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2015 – 2 BvR 1958/13 –, juris Rn. 32, Kammerbeschluss vom 09.08.2016 – 2 BvR 1287/16 –, juris Rn. 76).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Erst wenn die Bewerber aufgrund ihrer dienstlichen Beurteilungen als im Wesentlichen gleich geeignet einzustufen sind, ist ein Rückgriff auf das leistungsbezogene Erkenntnismittel eines sogenannten strukturierten Auswahlgesprächs zulässig (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.04.2010 – 1 WB 39.09 –, juris, Rn. 39; OVG Schleswig, Beschluss vom 27.02.2019 – 2 MB 22/18 –, juris Rn. 21).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Gemessen an diesen Maßstäben liegen bereits nicht im Wesentlichen gleiche Beurteilungen vor. Die Antragstellerin und der Beigeladene wurden im gleichen Beurteilungszeitraum mit dem gleichen Gesamtleistungsergebnis beurteilt. Die Antragstellerin erhielt die Notenstufe „B“ (die Leistungsanforderungen werden deutlich übertroffen) und der Beigeladene wurde mit dem Zahlenwert „4“ (die Anforderungen werden deutlich übertroffen) bewertet. Beide Bewerber erhielten die zweithöchste Notenstufe in einer Skala von fünf Notenstufen (E-A und 1-5). Ob aber nach ihrem Gesamtergebnis wesentlich gleiche Beurteilungen vorliegen, die einen solchen weiteren Vergleich ermöglichen, richtet sich nicht allein nach dem formalen Gesamturteil. Vielmehr sind auch etwaige Unterschiede im Maßstab der Beurteilung der Bewerber zu berücksichtigen. Solche Unterschiede kommen etwa dann in Betracht, wenn sich bei konkurrierenden Bewerbern die dienstlichen Beurteilungen auf unterschiedliche Statusämter beziehen, da an Inhaber eines höheren statusrechtlichen Amtes von vornherein höhere Erwartungen zu stellen sind als an Inhaber eines niedrigeren statusrechtlichen Amtes. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht ausnahmslos und kann nicht schematisch auf jeden Fall der Beförderungskonkurrenz angewendet werden. Vielmehr hängt das zusätzlich zu berücksichtigende Gewicht der in einem höheren Statusamt erteilten Beurteilung von den Umständen des Einzelfalls ab (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17.02.2017 – 2 BvR 1558/16 –, juris Rn. 21; OVG Schleswig, Beschluss vom 27.02.2019 – 2 MB 22/18 –, juris Rn. 6).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Vorliegend liegen indes zwei Statusämter zwischen der Antragstellerin und dem Beigeladenen. Die Antragstellerin unterhielt im maßgeblichen Beurteilungszeitraum das Amt einer Regierungsschuldirektorin (A 15 gemäß Anlage 1 SHBesG) während der Beigeladene im entsprechenden Zeitraum im Amt eines Studienrats (A 13 gemäß Anlage 1 SHBesG) beurteilt wurde. Da der Beigeladene auch nicht mit einer besseren Gesamtbewertung beurteilt wurde, kann er den Leistungsvorsprung der Antragstellerin durch ihre Tätigkeit in einem höheren Statusamt nicht ausgleichen. Es ist zwar anerkannt, dass ein Statusrückstand im Einzelfall durch leistungsbezogene Kriterien kompensiert werden kann. Das zusätzlich zu berücksichtigende Gewicht der besseren, aber in einem niedrigeren Statusamt erteilten Beurteilung hängt jedoch von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.02.2017 – 2 BvR 1558/16 –, juris Rn. 21). Bei einem Unterschied von zwei Statusämtern, selbst wenn der Beamte im statushöheren Amt eine schlechtere Beurteilung aufweist – was hier nicht der Fall ist –, erscheint eine vollständige „Kompensation“ eines statusniedrigeren Beamten (auch mit um einer Note besseren Beurteilung) nicht möglich mit der Folge, dass insgesamt von einer besseren Beurteilung des Beamten im statushöheren Amt auszugehen ist. Von einer gleichen Beurteilungslage oder gar einer gleichen Eignung kann nicht gesprochen werden (so in einem vergleichbaren Fall: Beschluss der Kammer vom 04.09.2018 – 12 B 43/18 –, juris Rn. 25).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Daran ändert auch die bessere Erfüllung des Anforderungsprofils durch den Beigeladenen nichts. Unabhängig von der Frage, ob das Anforderungsprofil der Stellenausschreibung überhaupt auf „gute Kenntnisse über die schulbezogene Bildungslandschaft in Schleswig-Holstein“ als Kriterium der Bestenauslese abstellen durfte, ist die Erfüllung des deklaratorischen Merkmales durch den Beigeladenen nicht dazu geeignet, den Leistungsvorsprung der Antragstellerin auszugleichen. Zwar kann die Berücksichtigung eines rechtmäßig aufgestellten Anforderungsprofils dazu führen, dass einem Bewerber, der dessen Voraussetzungen am besten erfüllt, bei der Stellenbesetzung selbst dann der Vorzug gegeben werden darf, wenn seine Befähigung und dienstlichen Leistungen im Vergleich zu den Mitbewerbern (geringfügig) schlechter beurteilt worden sind (OVG Bautzen, Beschluss vom 15.08.2011 – 2 B 93/11 –, juris Rn. 24). Vorliegend erfüllt die Antragstellerin jedoch vier der fünf deklaratorischen Anforderungsmerkmale, während der Beigeladene fünf erfüllt. Dieser geringfügige Unterschied kann den Leistungsvorsprung anhand der dienstlichen Beurteilungen nicht ausgleichen. In diesem Zusammenhang weist die Antragstellerin zu Recht darauf hin, dass sie als externe Bewerberin aus einem anderen Bundesland das deklaratorische Merkmal der Kenntnis der schleswig-holsteinischen Bildungslandschaft nur schwer erfüllen kann. Zwar ist es denkbar, dass auch externe Bewerber Vorerfahrungen in Schleswig-Holstein gesammelt haben. Dies wird in der Praxis aber kaum die Regel darstellen. Deshalb ist die Wichtigkeit dieses Anforderungsmerkmals – unabhängig davon, ob es überhaupt zulässig ist – als eher gering einzustufen. Wäre dieses Merkmal von äußerster Relevanz für den Antragsgegner, hätte er die Stellenausschreibung nicht auch an Bewerberinnen und Bewerber aus anderen Bundesländern richten dürfen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Daraus folgt, dass der Antragsgegner die Antragstellerin und den Beigeladenen nicht als gleichwertig ansehen durfte. Die Durchführung eines Auswahlgesprächs war mithin rechtswidrig. Ein Rückgriff auf die durch das Auswahlgespräch gewonnen Erkenntnisse ist unzulässig (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 27.02.2019 – 2 MB 22/18 –, juris Rn. 20).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da er keinen Antrag gestellt und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und beträgt ein Viertel der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen.</p></dd>
</dl>
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<br>
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346,436 | vg-munchen-2022-08-24-m-1-s-22426 | {
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<div>
<p>I. Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>II. Die Antragsteller haben als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens zu tragen.</p>
<p>III. Der Streitwert wird auf EUR 250,-- festgesetzt.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p>I.</p>
<p><rd nr="1"/>Die Antragsteller wenden sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Zwangsgeldandrohung, die der Antragsgegner wegen eines angenommenen Verstoßes gegen Lärmauflagen beim Betrieb einer Gaststätte erlassen hat.</p>
<p><rd nr="2"/>Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. 9... Gem. …, das mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaut ist. Pächter der Antragsteller betreiben dort ein Restaurant. Den Antragstellern wurden mit Genehmigung vom 24. Juli 2012 und vom 7. August 2015 Baugenehmigungen erteilt, die unter anderem die teilweise Nutzung des Gebäudes als Gaststätte zulassen. Als Auflage wurde festgesetzt, dass die Fenster aller Gaststättenräume mindestens als Fenster der Schallschutzklasse 3 nach VDI 2719 ausgeführt werden müssen und während der Öffnungszeiten der Gaststätte geschlossen zu halten sind.</p>
<p><rd nr="3"/>Im Juli 2021 wandte sich ein Nachbar an das Landratsamt und wies darauf hin, dass sich auf den Freiflächen an der nördlichen Grundstücksgrenze öfter auch noch um Mitternacht und später Gäste aufhielten, die sich lautstark unterhielten und lachten. Des Öfteren stünden die Eingangstür und gelegentlich auch eine große Fenstertür des Lokals auf der Nordseite während der Öffnungszeiten offen, sodass entsprechender Lärm nach außen dringe. Die Küchentür auf der Nordseite und das Küchenfenster stünden sogar die meiste Zeit offen, dies täglich bis Mitternacht und auch länger. Dadurch ergebe sich erhebliche Lärm- und Geruchsbelästigungen. Es werde darum gebeten, für die Einhaltung der Auflagen zu sorgen. Die Polizei sei noch nicht gerufen worden.</p>
<p><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 20. August 2021 wies das Landratsamt die Antragsteller auf das Auflagenkonvolut in den Baugenehmigungen hin und merkte an, dass eine Beschwerde hinsichtlich Lärm- und Geruchsbelästigungen beim Landratsamt eingegangen sei, sodass die Antragsteller an die Einhaltung der Auflagen erinnert würden. Sollten die Auflagen nachweislich nicht eingehalten werden, behielte man sich ein bauaufsichtliches Einschreiten vor.</p>
<p><rd nr="5"/>Der Nachbar wandte sich mit erneuter E-Mail im September 2021 an das Landratsamt und wies darauf hin, dass sich an der Situation nichts geändert habe. Die Küchentür des Betriebs stehe mit Betreten der ersten Person bis zum Verlassen der Küche durch die letzte Person zwischen 0:00 und 2:00 Uhr permanent offen, mal ganz, mal einen Spalt, sodass eine andauernde Lärm- und Geruchsbelästigung vorliege.</p>
<p><rd nr="6"/>Mit E-Mail vom … Oktober 2021 teilten die Antragsteller dem Landratsamt mit, das bestätigt werde, dass die baulichen Auflagen eingehalten würden und diese im Pachtvertrag mit dem Gastronomiepächter zum Vertragsgegenstand gemacht worden seien. Dem Pächter sei das Schreibens vom 20. August 2021 zugestellt worden, und er sei nochmal an der laufenden Einhaltung der Auflagen erinnert worden.</p>
<p><rd nr="7"/>Am 21. Oktober 2021 wies das Landratsamt die Antragsteller darauf hin, dass bei weiteren Beschwerden eine Baukontrolle vorgenommen werden müsse. Sofern die Auflagen nicht eingehalten würden, ergehe ein entsprechender Bescheid.</p>
<p><rd nr="8"/>Das Landratsamt führte am 18. November 2021 eine Baukontrolle zur Überprüfung, ob die Küchentür während der Betriebszeit offensteht. Dabei wurde festgestellt, dass die Tür einen Spalt weit offen stand, und es wurden entsprechende Farbfotos gefertigt (S. 101 der Behördenakte Teil 13).</p>
<p><rd nr="9"/>Mit Bescheid vom 30. Dezember 2021 drohte das Landratsamt gegenüber den Antragstellern ein Zwangsgeld von 1.000 EUR an für den Fall, dass wie unter Ziffer B.3 der Baugenehmigung vom 24. Juli 2012 und Nr. 2 der Baugenehmigung vom 7. August 2015 beauflagt, die Fenster der Gaststättenräume während der Öffnungszeiten der Gaststätte nicht vollständig geschlossen gehalten werden. Die Auflage sei mit Blick auf das Gebot der Rücksichtnahme angeordnet worden. Nachdem die Antragsteller als Bauherrn ihren Verpflichtungen trotz formloser Aufforderungen nicht nachgekommen sein, sei die Auflage der Baugenehmigungen mit Zwangsgeldern zu bewehren gewesen. Ein milderes Mittel stehe nach den bisherigen fruchtlosen Bemühungen nicht zu Gebote.</p>
<p><rd nr="10"/>Die Antragsteller haben durch ihre Bevollmächtigte am … Januar 2022 Anfechtungsklage (M 1 K 22.425) gegen den Bescheid vom 30. Dezember 2021 erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Zugleich suchen die Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nach und beantragen,</p>
<p><rd nr="11"/>Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 30. Dezember 2021, Az. …, wird angeordnet.</p>
<p><rd nr="12"/>Die Zwangsgeldandrohung sei rechtswidrig. Das Geschlossenhalten sämtlicher Türen der Gaststätte sei in den Baugenehmigungsbescheiden nicht beauflagt worden. Die Zwangsgeldandrohung stütze sich auf eine Auflage, die lediglich Fenster, nicht jedoch Türen zum Gegenstand habe. Der Antragsgegner versuche mit der Zwangsgeldandrohung etwas anderes als dem Grundverwaltungsakt durchzusetzen. Hilfsweise werde darauf hingewiesen, dass die Auflage unbestimmt und damit rechtswidrig wäre, wenn diese auch bezüglich der Türen gelten solle. Im Übrigen könne der Gaststättenbetrieb mit dieser Auflage nicht erfolgen, weil kein Gast die Gaststätte betreten und keine Bedienung der Gäste im Außenbereich erfolgen könne, sodass keine Vollstreckungsfähigkeit vorliege. Im Übrigen sei auch nicht hinreichend bestimmt, welche Fenster welcher Räume von der Auflage erfasst werden sollten. Die Zwangsgeldandrohung sei überdies ermessensfehlerhaft. Der Antragsgegner gehe von einem unrichtigen Sachverhalt aus, weil er nicht berücksichtige, dass sich nur ein einzelner Anwohner beschwert habe. Die Beeinträchtigung seien nicht nachgewiesen. Trotz über 4-jähriger Betriebszeit lägen keine weiteren Beschwerden vor. Der Antragsgegner habe in seinem Schreiben vom 20. August 2021 an die Antragsgegner schlicht den Sachverhalt des Nachbarn als wahr unterstellt; ein nachgewiesener Verstoß gegen irgendeine Auflage liege jedoch nicht vor. Auch bei der Baukontrolle sei nur festgestellt worden, dass die Küchentür einen Spalt weit geöffnet gewesen sei, wobei dieser so schmal gewesen sei, dass er auf den Fotos in der Akte kaum bis gar nicht zu erkennen sei. Es sei jedoch nicht festgestellt worden, dass irgendeines der Fenster geöffnet gewesen sei. Mangels Angabe zur Uhrzeit der Kontrolle sei auch nicht nachgewiesen, dass die Küchentür während der Öffnungszeiten offengestanden habe. Im Übrigen wäre bei Wahrunterstellung die Maßnahme unverhältnismäßig, weil es sich um einen Erstverstoß handeln würde und die Türe nur einen minimalen Spalt offen gestanden habe. Die Antragsteller hätten erst einmal anderweitig zur Einhaltung der Auflage „Türenschließen“ angehalten werden müssen. Der pauschale Hinweis auf die Einhaltung der Auflagen sei unzureichend.</p>
<p><rd nr="13"/>Der Antragsgegner legte die Akten vor und beantragt Klageabweisung; eine Antragstellung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erfolgte nicht.</p>
<p><rd nr="14"/>Das Gericht hat den Antragsgegner gebeten, bis zur Entscheidung des Gerichtes über diesen Antrag von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen abzusehen.</p>
<p><rd nr="15"/>Für den Vortrag im Übrigen und die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, auch im Verfahren M 1 K 22.425, und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.</p>
<p>II.</p>
<p><rd nr="16"/>Der Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.</p>
<p><rd nr="17"/>I. Der Antrag, der gerichtet ist auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen die Zwangsgeldandrohung im Bescheid vom 30. Dezember 2021, ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a VwZVG zulässig.</p>
<p><rd nr="18"/>II. Der Antrag ist unbegründet, weil die Klage in der Hauptsache nach summarischer Prüfung keine Aussicht auf Erfolg hat. Der in Rede stehende Bescheid erweist sich vielmehr als voraussichtlich rechtmäßig und verletzt die Antragsteller nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzverfahrens anzustellende Interessenabwägung geht zu Lasten der Antragsteller aus.</p>
<p><rd nr="19"/>1. Rechtsgrundlage für die selbständige Androhung des Zwangsgelds ist Art. 36 i.V.m. Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Art. 31 VwZVG. Wird die Pflicht zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nicht oder nicht vollständig oder nicht zur gehörigen Zeit erfüllt, kann die Vollstreckungsbehörde einen Pflichtigen zur Erfüllung durch ein Zwangsgeld anhalten. Das Zwangsgeld muss grundsätzlich schriftlich angedroht werden; diese Androhung kann mit dem Grundverwaltungsakt verbunden werden, Art. 36 Abs. 2 Satz 1 VwZVG, zwingend ist dies gleichwohl nicht.</p>
<p><rd nr="20"/>a) Es liegt eine bestandskräftige Verpflichtung der Antragsteller vor, die grundsätzlich Gegenstand von Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung sein kann, vgl. Art. 18 Abs. 1, Art. 19 VwZVG. Der streitigen Zwangsgeldandrohung liegt ausweislich des Bescheidstenors die Auflage Ziffer B.3 der Baugenehmigungen vom 24. Juli 2012 und vom 7. August 2015 zugrunde, soweit diese die Antragsteller verpflichtet, die Fenster der Gaststättenräume während der Öffnungszeiten geschlossen zu halten.</p>
<p><rd nr="21"/>b) Die Verpflichtung ist hinreichend bestimmt, Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG. Die hier streitige Handlungsverpflichtung, die Fenster der Gaststättenräume zu den Öffnungszeiten geschlossen zu halten, ist nach dem objektiven Empfängerhorizont unmissverständlich. Es besteht kein Anlass, von dem allgemeinen Verständnis der im Bescheid verwendeten Begriffe abzuweichen oder diese näher auszulegen.</p>
<p><rd nr="22"/>aa) Es besteht zunächst keinerlei Unklarheit über die Reichweite des Begriffs des Fensters. Zweifellos sind von dem Begriff „Fenster“ nach natürlichem Begriffsverständnis „Türen“ nicht umfasst. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um Gebäudeöffnungen, gleichwohl unterscheiden sie sich in ihrer Zweckbestimmung. Ein Fenster dient in erster Linie dem Lichteinfall und der Belüftungsmöglichkeit; eine Tür dem Betreten. Ein Auslegungsbedarf ist damit nicht erkennbar. Selbst wenn sich das Landratsamt nach Erlass des Bescheids in einer E-Mail vom 31. Januar 2022 (vgl. Anlage AS 13, Bl. 36 der Gerichtsakte) auf den Standpunkt stellt, dass der Begriff des geschlossenen Fensters auch geschlossene Türen beinhalte, ist dies nicht zum (abweichenden) Regelungsgegenstand des Bescheids geworden. Das Landratsamt hat sich an dem objektiven Begriffsverständnis festhalten zu lassen.</p>
<p><rd nr="23"/>bb) Soweit die Antragspartei vorträgt, es sei unklar, welche Fenster die Schließverpflichtung betreffe, teilt das Gericht diese Bedenken nicht. Aus dem ersten Satz der in Rede stehenden Auflage ergibt sich, dass Gegenstand der Auflage „die Fenster aller Gaststättenräume“ sind. Damit handelt es sich um die Fenster aller der Gaststätte funktional zugeordneten Räume. Für die Vollziehbarkeit der Auflage muss nicht zwischen unterschiedlichen Raumtypen wie etwa dem Gastraum und der Küche differenziert oder diese einzeln benannt werden. Auch soweit das Landratsamt in der E-Mail vom 31. Januar 2022 (a.a.O.) meint, dass die Verpflichtung zum Geschlossenhalten der Gebäudeöffnungen (nur) solche in Richtung Norden betreffe, ist dies nicht - einschränkend - zum Regelungsgegenstand des Bescheids geworden.</p>
<p><rd nr="24"/>c) In der Verwaltungsvollstreckung sind die Möglichkeiten der Erhebung von Einwendungen beschränkt. Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Anspruch sind nur zulässig, soweit die geltend gemachten Gründe erst nach Erlass des Grundverwaltungsaktes entstanden sind und mit förmlichen Rechtsbehelfen nicht mehr geltend gemacht werden können, Art. 21 Satz 2 VwZVG. Ist wie hier die Androhung mit dem Grundverwaltungsakt nicht verbunden und ist dieser unanfechtbar, kann die Androhung nur insoweit angefochten werden, als eine Rechtsverletzung durch die Androhung selbst behauptet wird, Art. 38 Abs. 1 Satz 3 VwZVG.</p>
<p><rd nr="25"/>Derartige, berücksichtigungsfähige Einwendungen sind hier nicht vorgetragen worden. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob die Behörde einen Verstoß gegen die in Rede stehende Auflage nachweisen kann. Es ist für die Androhung des Zwangsgeldes unmaßgeblich, dass bei der Baukontrolle am 18. November 2021 kein Verstoß gegen die Auflage des Geschlossenhaltens der Fenster festgestellt wurde, sondern lediglich die geöffnete Tür. Die Frage, ob die Antragsteller gegen die Auflage verstoßen, ist nicht im gegen die Androhung des Zwangsgeldes gerichteten Rechtsschutzverfahren zu prüfen, weil dieser Einwand sich nicht auf eine mögliche Rechtsverletzung durch die Androhung selbst bezieht (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2010 - 1 CS 10.1389 - juris Rn. 14).</p>
<p><rd nr="26"/>Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer nachträglich erlassenen, isolierten Zwangsgeldandrohung ist nicht die Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen gegen eine bestandskräftig festgestellte Verpflichtung verstoßen wird. Vielmehr ist der Nachweis eines entsprechenden Verstoßes erst Voraussetzung für die Fälligstellung eines angedrohten Zwangsgeldes (vgl. Art. 31 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1, Art. 23 Abs. 1 Nr. 2 VwZVG). Die Zwangsgeldforderung wird erst fällig, wenn die Pflicht „nicht erfüllt“ wird. Gegen die Fälligkeitsmitteilung und die damit einhergehende Zahlungsaufforderung verbleiben den Antragstellern ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten; gegen Vollstreckungsmaßnahmen können sie sich mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zur Wehr setzen und daneben Feststellungsklage nach § 43 VwGO im Hinblick auf die Fälligkeitsmitteilung erheben. Im Rahmen dieser Verfahren ist dann insbesondere die Frage von Bedeutung, ob der Pflichtige seine ihm nach der Grundverfügung obliegende Verpflichtung erfüllt hat oder nicht (vgl. zum Vorstehenden: BayVGH, B.v. 27.9.2010 - 1 CS 10.1389 - juris Rn. 17). Im Übrigen ändert der Erlass einer Zwangsgeldandrohung nichts daran, dass nachfolgend der Antragsgegner beweispflichtig für die Feststellung eines Auflagenverstoßes wäre. Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, dass der Grundverwaltungsakt grundsätzlich bereits im Zeitpunkt seines Erlasses mit einer Androhung der Vollstreckung durch Zwangsmittel verbunden werden (vgl. Art. 36 Abs. 2 Satz 1 VwZVG), ohne dass naturgemäß ein Verstoß vorliegen kann. Geschieht dies nicht, ist die Behörde nicht gehindert, später eine isolierte Zwangsgeldandrohung zu erlassen, ohne dass sie zu diesem Zeitpunkt einen bereits erfolgten Auflagenverstoß nachweisen müsste. Für eine nachträgliche Zwangsgeldandrohung kann nichts anderes gelten als für eine unmittelbar mit dem Grundverwaltungsakt verbundene (BayVGH, B.v. 27.9.2010 - 1 CS 10.1389 - juris Rn. 19). Es kann dahinstehen, ob für den Erlass einer Zwangsgeldandrohung zumindest konkrete Anhaltspunkte für einen gegenwärtigen oder künftigen Verstoß gegen die durchzusetzende Verpflichtung vorliegen müssen. Die vom Nachbarn gegenüber dem Landratsamt mehrfach und sachlich-differenziert geäußerten Beschwerden bieten hinreichenden Anlass für die Behörde, die Antragsteller im Wege der Androhung eines Zwangsgeldes auf die Einhaltung der ohnehin bestehenden Verpflichtung hinzuweisen. Der Androhung kommt die Funktion einer präventiven Ermahnung, sich an das in der Grundverfügung enthaltene Ge- oder Verbot zu halten, ungeachtet der Tatsache zu, ob bereits eine Zuwiderhandlung festgestellt wurde oder in nächster Zeit zu erwarten sein könnte (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2010 - 1 CS 10.1389 - juris Rn. 19).</p>
<p><rd nr="27"/>d) Die Androhung des Zwangsgeldes entspricht noch pflichtgemäßem Ermessen des Landratsamts. Zwar wird der Bescheid auch damit begründet, dass die Antragsteller ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien und bisherige Bemühungen des Antragsgegners fruchtlos geblieben seien. Ähnlich gibt der Antragsgegner in seiner Klageerwiderung vom 10. März 2022 zu verstehen, dass das Zwangsgeld angedroht worden ist, weil die Küchentüre geöffnet vorgefunden worden war, und er geht von bereits erfolgten Verstößen gegen die Auflage aus (vgl. dort unter 2. „Sollten die Kläger die immissionsschutzrechtliche Auflage weiter nicht beachten […]“). Zwar kann vom Vorliegen dieser Annahmen nicht zwingend ausgegangen werden. Gleichwohl liegt hierin kein zur Rechtswidrigkeit der Zwangsgeldandrohung führender Ermessensfehler. Denn allein die Beschwerden des Nachbarn, dass auch Fenster geöffnet seien, und auf die sich der Antragsgegner sowohl im Bescheid, als auch im Klageerwiderungsschriftsatz bezieht, reichen für sich genommen aus, die Antragsteller im Wege einer Zwangsgeldandrohung nachdrücklich auf ihre Verpflichtung hinweisen zu können (vgl. hierzu vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2010 - 1 CS 10.1389 - juris Rn. 21).</p>
<p><rd nr="28"/>e) Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit bestehen nach alledem auch angesichts des geringen Eingriffs, den die Zwangsgeldandrohung bedeutet, nicht. Weitere durchgreifende Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung, insbesondere ihrer Höhe (vgl. hierzu Art. 31 Abs. 2 VwZVG) sind nicht ersichtlich.</p>
<p><rd nr="29"/>Der Antrag war daher mit der Kostenfolge gemäß § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.</p>
<p><rd nr="30"/>Die Festsetzung des Streitwerts auf EUR 250 beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffern 1.7.1. und 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Er beläuft sich im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes auf ein Viertel der Höhe des angedrohten Zwangsgelds von EUR 1.000.</p>
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346,381 | lsgnihb-2022-08-24-l-8-so-5622-b-er | {
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} | L 8 SO 56/22 B ER | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-09-01T10:01:05 | 2022-10-17T11:09:38 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 25. Mai 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller begehrt zum Ausgleich seines inflationsbedingten Kaufkraftverlustes im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung höher Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin bewilligte dem allein in seiner Wohnung lebenden Antragsteller mit Bescheid vom 4.3.2022 für den Zeitraum vom 1.5.2022 bis zum 30.4.2023 seine Altersrente ergänzende Grundsicherungsleistungen in Höhe von 631,39 €, wobei sie neben den Unterkunfts- und Heizkosten einen Regelbedarf von 449,00 € berücksichtigte. Dagegen erhob der Antragsteller am 23.3.2022 im Wesentlichen mit der Begründung Widerspruch, wegen der exorbitanten Preissteigerungen im Jahr 2022 sei ein Regelbedarf in Höhe von 620,00 € der Leistungsberechnung zu Grunde zu legen. Am 4.5.2022 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Hildesheim einen entsprechenden Eilantrag gestellt. Die begehrte höhere Regelleistung begründe sich insbesondere aus der seit Juli 2021 exorbitant gestiegenen Inflationsrate; eine Situation, die sich durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft habe. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe schon in seinem Beschluss vom 23.7.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/12) ausgeführt, dass der Gesetzgeber bei einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter zeitnah darauf reagieren müsse. Die ohnehin strukturell defizitäre Regelleistung sei aufgrund der extremen Preissteigerungen evident unzureichend. Der zur gleichen Problematik ergangene ablehnende Eilbeschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 - S 43 AS 1/22 ER -, auf den sich die Antragsgegnerin berufe, überzeuge nicht. Der Gesetzgeber dürfe nicht mehr abwarten, sondern müsse zur Sicherung des Existenzminimums unverzüglich handeln. Die Einmalzahlung von 200,00 € für Juli 2022 sowie das 9,00 €-Ticket für den ÖPNV seien nicht ausreichend. Das strukturelle Defizit könne nur durch eine Anhebung der Regelleistung ausgeglichen werden. Wegen der Einzelheiten des Antragsvorbringens wird auf die ausführlichen Schriftsätze des Antragstellers vom 2. und 13.5.2022 verwiesen. Die Antragsgegnerin hat ihren angegriffenen Bescheid verteidigt und auf den vorgenannten Beschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 verwiesen. Den Widerspruch des Antragstellers hat sie mit Widerspruchsbescheid vom 23.5.2022 zurückgewiesen. Daraufhin hat der Antragsteller am 30.5.2022 bei dem SG Hildesheim Klage erhoben. Mit Bescheid vom 1.6.2022 hat die Antragsgegnerin ihren Bescheid vom 4.3.2022 für den Zeitraum vom 1.7.2022 bis zum 30.4.2023 (wegen Berücksichtigung eines Betriebskostenguthabens im Juli 2022 und neuer Vorauszahlungen ab August 2022) bei unveränderter Berücksichtigung eines Regelbedarfs von 449,00 € geändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Das SG hat den Eilantrag mit Beschluss vom 25.5.2022 abgelehnt. Der Antragsteller habe den erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin habe den Regelbedarf in der gesetzlich bestimmten Höhe von 449,00 € der Leistungsberechnung zu Grunde gelegt. Eine Abweichung von der durch den Gesetzeswortlaut eindeutig bestimmten Höhe der Regelbedarfe im Wege einer verfassungskonformen Auslegung sei wegen der Bindung der Antragsgegnerin und auch der Gerichte an die Gesetze (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht möglich. Allein das BVerfG sei ermächtigt, die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen festzustellen. Die Kammer habe aber gegen die ab dem 1.1.2022 geltende Höhe der Regelbedarfe auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das BVerfG habe in seinem vom Antragsteller zitierten Beschluss vom 23.7.2014 mit Gesetzeskraft festgestellt, dass die Vorschriften über die Festsetzung der Höhe und die Fortschreibung der Regelsätze mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Bei der Auswertung der EVS 2018 gemäß der ab dem 1.1.2022 geltenden Fassung des RBEG habe sich der Gesetzgeber wiederum an den Vorgaben des BVerfG orientiert und hinsichtlich der Berechnungsmethoden und einbezogenen Bedarfe nur unerhebliche Veränderungen vorgenommen. Die vom Antragsteller beschriebenen Preissteigerungen seien zwar nicht zu verkennen. Bei der Frage, ob sie zu einer Verfassungswidrigkeit der geltenden Regelbedarfe führe, sei aber zu berücksichtigen gewesen, dass die Legislative darauf bereits u.a. durch einen Heizkostenzuschuss, die Einführung des 9,00 €-Tickets, die Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe und eine Einmalzahlung reagiert habe. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass trotz dieser Maßnahmen und der ab 1.1.2022 erfolgten Erhöhung der Regelsätze eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen eingetreten wäre, auf die der Gesetzgeber durch eine Neufestsetzung des Regelbedarfs hätte reagieren müssen, lägen nicht vor. Es lasse sich nicht feststellen, dass die Höhe der Regelleistungssätze evident unzureichend sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat am 8.6.2022 Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt, mit der er sein Begehren unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen sowie ergänzender Begründung weiterverfolgt und hilfsweise beantragt, „die Regelleistung 2022 vorläufig pauschal um 30 bis 40 Prozent zu erhöhen“. Weiter beantragt er hilfsweise, ihm „analog § 27a Abs. 4 SBG XII ohne Anrechnung gemäß § 37 Abs. 1 SGB XII die Differenz von mtl. 171,00 € (620,00 € abzgl. 449,00 €) vorläufig monatlich zuzusprechen“. Das SG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es sich zur Begründung weitgehend auf den Beschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 bezogen habe, ohne auf seine mit Schriftsatz vom 13.5.2022 gegen diesen Beschluss ausführlich vorgebrachten Argumente einzugehen, und auch nicht auf die umfangreiche Begründung seines Eilantrags eingegangen sei. Das SG habe seinen Rechtsschutz unzulässig verkürzt, weil es unzutreffend davon ausgegangen sei, dass eine einstweilige Anordnung grundsätzlich nicht eine Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen dürfe. Eine Gesetzeskraft der Entscheidung des BVerfG vom 23.7.2014 stehe seinem Begehren nicht entgegen, weil diese Entscheidung sich auf die Regelleistung 2011 und nicht auf diejenige des Jahres 2021 mit Fortschreibung für 2022 beziehe. Die Regelleistung 2021 und damit auch ihre Fortschreibung für 2022 sei wegen der exorbitanten Preissteigerungen vor allem auch für Nahrungsmittel (von 8,6 % über 11,1 % und 12,7 % im Mai bzw. Juni 2022 auf 14,8 im Juli 2022) und Strom evident unzureichend. Die Sozialgerichte müssten sich nach der Rechtsprechung des BVerfG schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Die Weigerung der Bundesregierung, eine aktuelle Anpassung der Regelleistung 2022 vorzunehmen, wie es das BVerfG für den hier gegebenen Fall unvermittelt auftretender, extremer Preissteigerungen bereits mit seiner Entscheidung vom 23.7.2014 verlangt habe, untergrabe die Menschenwürde. Neben der Einmalzahlung von 200,00 € nach § 144 SGB XII sei seinem Konto im Juli 2022 ein Erstattungsbetrag der Postbank von 223,79 € wegen rechtswidrig erhobener Kontoführungsgebühren gutgeschrieben worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hält den Beschluss des SG für zutreffend.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Das SG hat den Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Ob das SG den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzt hat und unzutreffend davon ausgegangen ist, eine einstweilige Anordnung dürfe die Hauptsache nicht vorwegnehmen, ist unerheblich. Der Senat prüft die Sache im Beschwerdeverfahren ohnehin in vollem Umfang und entscheidet sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht neu. Allerdings ist klarzustellen, dass der Schriftsatz des Antragstellers vom 13.5.2022 entgegen seiner Spekulation, bei dem SG würden seine Schriftsätze verschwinden, am 16.5.2022 bei dem SG eingegangen ist, in der Akte abgeheftet wurde und von der Richterin am Folgetag der Antragsgegnerin zur Kenntnis und eventuellen Stellungnahme übersandt worden ist. Des Weiteren war das SG auch nicht gehalten, sich mit jedem der vom Antragsteller zahlreich vorgebrachten Argumente auseinanderzusetzen. Es hat seine Entscheidung auch nicht auf ein Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gestützt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - juris) dürfen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Anfechtungs- und (wie hier) Vornahmesachen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Art. 19 Abs. 4 GG stellt jedoch besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn wie hier ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In einem solchen Fall müssen die Gerichte nach der vorgenannten Entscheidung des BVerfG, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen; Fragen des Grundrechtsschutzes sind einzubeziehen. Ist dem Gericht hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, ebenda).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Davon ausgehend hat der Antragsteller einen (Anordnungs-)Anspruch auf Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 620,00 € nicht glaubhaft gemacht. Die erfolgte Berücksichtigung eines Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 von 449,00 € entspricht - was auch der Antragsteller nicht in Zweifel zieht - den gesetzlichen Vorschriften (§§ 41 Abs. 2, 42 Nr. 1, 28 nebst Anlage, 28a, 27a Abs. 1 SGB XII i.V.m.§ 8 RBEG vom 9.12.2020, BGBl. I S. 2855, sowie §§ 1 und 2 der aufgrund der Ermächtigung in § 40 SGB XII erlassenen Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung vom 13.10.2021 (RBSFV 2022). Darüberhinausgehende Leistungen durch Zugrundlegung eines höheren Regelsatzes kann der Senat wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zusprechen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung verbietet der Rechtsprechung zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln, Wertungswidersprüche aufzulösen oder Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Die Rechtsauslegung und -fortbildung findet ihre Grenze jedoch in der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz. Richterliche Rechtsfortbildung darf deshalb nicht dazu führen, dass der Richter sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begibt und damit Befugnisse beansprucht, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat (vgl. BVerfG Beschluss vom 26.9.2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 - juris Rn. 44 ff). Aufgrund der durch die o.g. Vorschriften klar bestimmten Regelsatzhöhe besteht kein Raum, über eine verfassungskonforme (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG) Auslegung der Vorschriften zu einem höheren Regelsatz zu kommen. Erst recht ist der Senat als Fachgericht nicht befugt, den zuständigen Träger allein auf der Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Leistungsgewährung zu verpflichten. Die Konkretisierung dieses Grundrechts, das als Geldleistungsanspruch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für öffentliche Haushalte verbunden ist, ist vielmehr ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Wie er den Umfang der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums durch Geld-, Sach- und Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Die Fachgerichte sind deshalb nicht befugt, einem Antragsteller unmittelbar gestützt auf Normen der Verfassung die in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren erstrebten (höheren) Leistungen zuzusprechen (vgl. Burkiczak in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 86b Rn. 86 ff., 93 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Aus den vorgenannten Gründen scheitert auch der erste Hilfsantrag des Antragstellers, seine Regelleistung (von 449,00 €) pauschal um 30 bis 40 % zu erhöhen. Dafür gibt es keinerlei gesetzliche Grundlage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Der zweite Hilfsantrag des Antragstellers hat ebenfalls keinen Erfolg. Er hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen unter zusätzlicher Berücksichtigung der Differenz von 171,00 € (seines Erachtens bedarfsdeckender Regelsatz von 620,00 € abzgl. des berücksichtigten Regelsatzes von 449,00 €) analog § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII. Eine (nach oben) abweichenden Regelsatzfestsetzung setzt voraus, dass ein durch die Regelbedarfe abgedeckter Bedarf nicht nur einmalig, sondern für eine Dauer von voraussichtlich mehr als einem Monat unausweichlich in mehr als geringem Umfang oberhalb durchschnittlicher Bedarfe liegt, wie sie sich nach den bei der Ermittlung der Regelbedarfe zugrundeliegenden durchschnittlichen Verbrauchsausgaben ergeben, und die dadurch bedingten Mehraufwendungen begründbar nicht anderweitig ausgeglichen werden können. Der Antragsteller macht aber nicht einen im vorgenannten Sinne erheblich oberhalb des durchschnittlichen Bedarfs liegenden Bedarf geltend, sondern - und dies ist von der Vorschrift nicht erfasst - generell höhere durchschnittliche Bedarfe aller Leistungsberechtigten. Für eine analoge Anwendung der Vorschrift auf diese Konstellation ist kein Raum, weil der generelle durchschnittliche Bedarf in Gestalt der Regelsätze durch den Gesetzgeber festgelegt ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Senat sieht keine Veranlassung, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der o.g. Vorschriften zur Regelung der Regelsatzhöhe vorzulegen. In - wie hier - Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt eine Aussetzung und Vorlage an das BVerfG in aller Regel nicht in Betracht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.10.2010 - 1 BvR 2037/10 zu 3 b), zitiert nach Burkiczak, a.a.O., § 86 b Rn. 89 Fn. 161; Beschluss des erkennenden Senats vom 17.11.2011 - L 8 AY 80/11 B ER, L 8 AY 81/11 B ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.2.2018 - L 20 AY 4/18 B ER - juris Rn. 39 und Beschluss vom 19.4.2021 - L 19 AS 391/21 B ER - juris Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.10.2011 - L 7 AY 3998/11 ER-B - juris Rn. 8; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 13, 39). Eine zeitnahe Entscheidung des BVerfG auf eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG, die der Eilbedürftigkeit des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens entspräche, wäre nicht zu erwarten. Zudem hat der Senat nicht die Überzeugung davon zu gewinnen vermocht, dass die gegenwärtige Regelsatzhöhe evident unzureichend (zu diesem Prüfungsmaßstab vgl. BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 -1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rn. 141) ist, das Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Die von dem Antragsteller dargelegte und allgemein bekannte erhebliche Steigerung der Verbraucherpreise aufgrund der Inflation zumindest seit Anfang des Jahres sprechen zwar deutlich dafür, dass die Höhe der Regelsätze schon gegenwärtig nicht mehr ausreichen, das Existenzminimum zu sichern. Der Antragsteller weist auch zutreffend darauf hin, dass der Gesetzgeber zeitnah auf eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter reagieren muss. Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten (BVerfG, Beschluss vom 23.7. 2014 - 1 BvL 10/12 u.a., juris Rn.144). Zu berücksichtigen ist aber, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber die Gefahr inflationsbedingt unzureichender existenzsichernder Leistungen durchaus erkannt, bereits (u.a. durch das 9,00 €-Ticket, den sog. Tankrabatt sowie die Einmalzahlung von 200,00 € an Leistungsberechtigte nach dem SGB II und dem SGB XII im Juli 2022) darauf reagiert haben und weitere Entlastungen auch von Empfängern existenzsichernder Leistungen angekündigt sind („Drittes Entlastungspaket“). Der Gesetzgeber kommt seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung also - wenn auch aufgrund der zuvor im demokratischen Willensbildungsprozess erforderlichen politischen Abstimmung unter schwierigen Rahmenbedingungen durchaus nach, wenn auch nicht so zügig und in der Weise, wie dies von den auf existenzsichernde Leistungen angewiesenen Menschen verständlicherweise erwartet wird. Daher vermag der Senat eine evident unzureichende Regelsatzhöhe gegenwärtig nicht zu erkennen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat unter Berücksichtigung der o.g. vom Gesetzgeber bereits erfolgten und angekündigten weiteren Entlastungsmaßnahmen in der Zusammenschau mit seinem eine existenzgefährdende Unterdeckung seines Regelbedarfs nicht konkret darlegenden Vorbringen und seinen im Juli 2022 erzielten zusätzlichen Einnahmen von 423,79 € auch den erforderlichen Anordnungsgrund, die besondere Eilbedürftigkeit der Sache, nicht glaubhaft gemacht. Er weist zwar in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass sich sein Eilantrag auf die Zeit bis zum Ende des Bewilligungszeitraums am 30.4.2023 erstreckt. In Anbetracht der Ankündigung des dritten Hilfspakets und der ab dem 1.1.2023 zu erwartenden Leistungsreform mit der Einführung des Bürgergeldes, für das der Bundesminister für Arbeit und Soziales auch eine deutliche Erhöhung der Regelsätze angekündigt hat, ergibt sich aber auch daraus keine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Existenzgefährdung des Antragstellers aufgrund eines evident unzureichende Regelsatzes.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.</p></dd>
</dl>
</div></div>
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346,371 | vg-koln-2022-08-24-6-m-6322 | {
"id": 844,
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"slug": "vg-koln",
"city": 446,
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 6 M 63/22 | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-08-31T10:01:20 | 2022-10-17T11:09:37 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0824.6M63.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Vollstreckungsschuldnerin wird ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 EUR für den Fall angedroht, dass sie ihrer Verpflichtung aus der mit Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29.07.2022 unter dem Aktenzeichen 15 B 1177/21 erlassenen einstweiligen Anordnung zur Beantwortung der Frage zu 4.</p>
<p> „Auf wessen Veranlassung im Gesundheitsministerium wurde akzeptiert, dass die Firma S.. E.. GmbH lange nach dem 30. April 2020 anliefern konnte und diese gleichwohl be- zahlt wurde?“</p>
<p>nicht binnen drei Tagen nach Zustellung dieses Beschlusses nachkommt.</p>
<p>Die Vollstreckungsschuldnerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht ist als Gericht des ersten Rechtszuges nach § 172 Satz 1 VwGO für den Antrag auf Erlass eines Vollstreckungsbeschlusses zuständig. Der Umstand, dass der hier zu vollstreckende Beschluss erst im Beschwerdeverfahren durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen erlassen worden ist, ändert daran nichts. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen wird erst dann für die hier begehrte Vollstreckungshandlung zuständig, wenn Beschwerde gegen den Vollstreckungsbeschluss erhoben wird.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur dann bestehenden Anordnungsbefugnis des Beschwerdegerichts: OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2013 – 16 E 100/13 –, juris, Rn. 13 - 15.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht entscheidet nach der genannten Norm durch Beschluss in der Besetzung gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. Pietzner/Möller, in: Schoch/Schneider u. a., 42. EL Juli 2022, § 172 VwGO Rn. 40.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Vollstreckungsantrag der Vollstreckungsgläubigerin vom 22.08.2022 ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die beantragte Vollstreckungsmaßnahme ist § 172 Satz 1 VwGO. Danach kann das Gericht auf Antrag unter Fristsetzung ein Zwangsgeld bis 10.000,00 EUR durch Beschluss androhen, wenn die Behörde unter anderem im Fall des § 123 VwGO der ihr in der einstweiligen Anordnung auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen liegen vor.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen unter dem Aktenzeichen 15 B 1177/21 im Beschluss vom 29.07.2022 erlassene – rechtskräftige – einstweilige Anordnung ist gemäß § 168 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ein Vollstreckungstitel.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Eine Vollstreckungsklausel ist entbehrlich, da es ihrer nur in den – hier nicht vorliegenden – Fällen des § 929 Abs. 1 ZPO, der gemäß § 123 Abs. 3 VwGO für einstweilige Anordnungen entsprechend gilt, bedarf. Die einstweilige Anordnung, aus der vollstreckt wird, ist der Vollstreckungsschuldnerin nach nicht bestrittener Auskunft der Vollstreckungsgläubigerin am 01.08.2022 – von Amts wegen – zugestellt worden.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht der Vollstreckungsschuldnerin fehlt es dem Vollstreckungstitel nicht an einem vollstreckungsfähigen Inhalt. Die mit dem Beschluss u.a. auferlegte Verpflichtung zur Beantwortung der Frage zu 4. ist insbesondere hinreichend bestimmt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Ein Titel ist nur dann bestimmt genug und zur Zwangsvollstreckung geeignet, wenn er den Anspruch des Gläubigers ausweist und Art, Inhalt und Umfang der Leistungspflicht bezeichnet. Bei einer Verpflichtung zur Vornahme einer unvertretbaren Handlung – wie hier – muss die zur Erfüllung geeignete Handlung im Titel hinreichend konkretisiert und für die Durchführenden klar erkennbar sein. Lässt der Wortlaut des Titels Deutungen offen, ist notfalls der Inhalt des Titels durch Auslegung festzustellen. Dabei muss der Titel jedoch aus sich heraus für eine Auslegung genügend bestimmt sein oder jedenfalls sämtliche Kriterien für seine Bestimmbarkeit eindeutig festlegen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.01.2020 – 2 O 131/19 –, juris, Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran fehlt es dem Titel in Bezug auf die hier zu vollstreckende Auskunftspflicht nicht an Bestimmtheit. Die zu beantwortende Frage zu 4. lautet:</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">„Auf wessen Veranlassung im Gesundheitsministerium wurde akzeptiert, dass die Firma S. E. GmbH lange nach dem 30. April 2020 anliefern konnte und diese gleichwohl bezahlt wurde?'</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Frage zielt ersichtlich auf die Benennung derjenigen Person/en, auf deren Veranlassung akzeptiert wurde, dass die besagte Firma „lange nach dem 30. April 2020 anliefern konnte und diese gleichwohl bezahlt wurde“. Bereits bei einer wörtlichen Betrachtung dieser Frage („auf <em>wessen</em> Veranlassung“) ist erkennbar, dass eine konkrete Auskunft über die Person des Handelnden begehrt wird. Denn bei objektiver Betrachtung der Frage geht der Fragesteller ersichtlich davon aus, dass hier eine oder mehrere Person/en die erfragte Veranlassung bewirkt hat/haben. Die Vollstreckungsschuldnerin kann in Ansehung der Fragestellung mithin klar erkennen, dass sie, um ihre Verpflichtung zu erfüllen, die betreffende/n Person/en nennen müsste. Jedenfalls unter Heranziehung der Gründe des zu vollstreckenden Beschlusses vom 29.07.2022 lässt sich eindeutig bestimmen, was von der Vollstreckungsschuldnerin verlangt wird. Denn dort (Seite 12 des Beschlussabdrucks) führt das Oberverwaltungsgericht unter Hinweis auf eine bislang nicht vollständige Beantwortung der Frage aus, dass die unter dem 14.03.2022 erteilte Antwort offen lasse, „auf wen die erfragte Veranlassung innerhalb des Ministeriums zurückgeht“. Daraus folgt zwanglos, dass zur Beantwortung der Frage anzugeben ist, „auf wen die erfragte Veranlassung innerhalb des Ministeriums zurückgeht“, m.a.W. wer die in der Frage beschriebene Handlung („...akzeptiert, dass ...“) veranlasst hat.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Vollstreckungsschuldnerin hat ihre so verstandene Verpflichtung aus dem Beschluss nicht erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dass die Frage nicht bereits durch die Antwort vom 14.03.2022 beantwortet wurde, ist bereits durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen im zu vollstreckenden Beschluss festgestellt worden. Auf die entsprechenden Ausführungen (Seite 12 des Beschlussabdrucks), denen die Kammer folgt, kann insoweit Bezug genommen werden.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Frage ist aber auch nicht durch die Ergänzung der Antwort vom 14.03.2022 durch das Schreiben vom 08.08.2022 beantwortet worden. Dort heißt es wörtlich:</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">„Sofern beim Vorliegen zwingender logistischer Gründe unter bestimmten Voraussetzungen nach dem 30. April 2020 angeliefert wurde, beruht dies auf Entscheidungen, die im Zusammenwirken zwischen dem jeweils betroffenen Lieferanten, dem Bundesministerium für Gesundheit unter Wahrung der vorgesehenen Zuständigkeiten im Bundesministerium und den Dienstleistern des Bundes getroffen wurden.“</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Frage, auf wen die erfragte Veranlassung innerhalb des Ministeriums zurückgeht, ist mit der Angabe „Bundesministerium für Gesundheit unter Wahrung der vorgesehenen Zuständigkeiten im Bundesministerium“ nicht beantwortet. Die Antwort benennt ersichtlich nicht die betreffende/n Person/en im Ministerium, sondern verweist darauf, dass die vorgesehenen Zuständigkeiten gewahrt worden seien. Unabhängig davon, dass danach nicht gefragt war, sind der Vollstreckungsgläubigerin die betreffende/n Person/en im Ministerium nicht genannt, sondern lediglich Kriterien mitgeteilt worden, anhand derer sie möglicherweise durch weitere Recherchetätigkeit ermitteln könnte, wen die Vollstreckungsschuldnerin mit ihrer Antwort meint. Mit dem sinngemäßen Verweis auf weitere Rechercheansätze kann eine auf die Benennung von Personen abzielende Frage indes nicht beantwortet werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vollstreckungshindernisse sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere ist nicht dargetan, dass der Vollstreckungsschuldnerin eine Benennung der Person/en nicht möglich wäre.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Höhe des angedrohten Zwangsgelds von 5.000,00 EUR ist angemessen, um der Vollstreckungsschuldnerin nunmehr Veranlassung zu geben, ihrer Verpflichtung in der gebotenen Weise nachzukommen. Dabei hat das Gericht berücksichtigt, dass vorliegend zwar das erste Zwangsgeld angedroht wird, die Höhe jedoch im Hinblick auf eine zeitlich nur beschränkte Verwertbarkeit der Information unter dem Gesichtspunkt der Nachrichtenaktualität mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist. Aus dieser Erwägung heraus rechtfertigt sich auch die Setzung einer Erfüllungsfrist von (nur) drei Tagen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung eines Streitwerts ist entbehrlich, da eine streitwertunabhängige Festgebühr nach Nr. 5301 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG)</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">anfällt.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen entscheidet, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht. In Streitigkeiten über Kosten, Gebühren und Auslagen ist die Beschwerde nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der VwGO im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
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346,328 | vg-koln-2022-08-24-22-l-120222a | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
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} | 22 L 1202/22.A | 2022-08-24T00:00:00 | 2022-08-27T10:01:28 | 2022-10-17T11:09:32 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0824.22L1202.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<table cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>1.</p>
</td>
<td><p>Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>2.</p>
</td>
<td><p>Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Antragsteller.</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller besitzt die Staatsangehörigkeit der Republik Aserbaidschan. Er verließ sein Heimatland unter Verwendung seines Reisepasses und eines von der Deutschen Botschaft in Baku am 19. Dezember 2013 ausgestellten Visum am 23. Dezember 2013 und reiste über Österreich am 24. Dezember 2013 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 3. Januar 2014 einen Asylantrag. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung trug der Antragsteller im Wesentlichen vor: Er habe einen eigenen Laden im Handelszentrum C. besessen. Die Leiterin dieses Handelszentrums habe eines Tages die Miete drastisch erhöht. Deswegen habe er sich an einen Journalisten der Zeitung B. gewandt, der anschließend auch darüber berichtet habe. Die Zeitung habe wegen dieser Berichterstattung eine Strafe zahlen müssen. Irgendjemand müsse dann verraten haben, dass er die Information an den Journalisten weitergegeben habe, denn die Leiterin des Handelszentrums habe daraufhin ihre Leute und später auch die Polizei zu ihm geschickt, um ihn einzuschüchtern. Die Leiterin habe seinen Laden schließlich versiegelt. Später sei der Laden sogar angezündet worden. Er habe sich deswegen an das Innenministerium und andere öffentliche Stellen, unter anderem die Ehefrau des Präsidenten, gewandt, aber keine Antwort erhalten. Er sei seit 2012 Mitglied der Aserbaidschanischen Volksfront. Er habe an Demonstrationen teilgenommen und für die zur Volksfront gehörenden Zeitung B. Geld gesammelt. Dies sei sowohl der Polizei als auch der Leiterin des Handelszentrums bekannt gewesen. Damit hätten sie ihn unter Druck gesetzt. Daraufhin habe er den Entschluss gefasst, Aserbaidschan zu verlassen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Den Asylantrag des Antragstellers lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 21. August 2014 zum Geschäftszeichen 0000000-000 als offensichtlich unbegründet ab. Der Vortrag des Antragstellers sei unglaubhaft, weil er lückenhaft und widersprüchlich sei. Hiergegen erhob der Antragsteller am 29. August 2014 beim Verwaltungsgericht Münster Klage, die das Aktenzeichen 2 K 1867/14.A hatte.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 8. Juni 2015 versuchte die zuständige Ausländerbehörde des Kreises Warendorf, den Antragsteller nach Aserbaidschan abzuschieben. Während er auf dem Flughafen Frankfurt/Main in einem Zimmer warten musste, versuchte er, sich mit seinem Gürtel zu strangulieren. Mit Beschluss vom 9. Juni 2015 ordnete das Amtsgericht Warendorf die Sicherungshaft gegen den Antragsteller bis zur möglichen Abschiebung, längstens jedoch bis zum 9. September 2015 an. Mit Beschluss vom 17. Juni 2015 ordnete das Verwaltungsgericht Münster unter dem gerichtlichen Aktenzeichen 2 L 815/15.A die aufschiebende Wirkung der gegen die Abschiebungsandrohung erhobenen Klage 2 K 1867/14.A an.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Klageverfahren beim Verwaltungsgericht Münster reichte der Antragsteller Bescheinigungen über seine Mitgliedschaft in der Volksfront-Partei zur Gerichtsakte. Er trug ergänzend vor, exilpolitisch aktiv zu sein. Auch in Deutschland habe er an Demonstrationen teilgenommen. In Aserbaidschan sei mittlerweile ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet und ein Untersuchungshaftbefehl durch die Ermittlungsbehörde für Schwerverbrechen erlassen worden. Mit rechtskräftigem Urteil vom 20. September 2016 wies das Verwaltungsgericht Münster die Klage ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass das Vorbringen des Antragstellers insgesamt unglaubhaft sei. Der Vortrag im Klageverfahren sei von Steigerungen des bisherigen Vorbringens gekennzeichnet. Bei der Anhörung durch das Bundesamt habe noch ein geschäftlicher Streit des Antragstellers mit der Leiterin des Handelszentrums im Zentrum des geschilderten Verfolgungsschicksals gestanden. In der mündlichen Verhandlung habe der Antragsteller dann sein langjähriges politisches Engagement als einzige Grundlage für das Vorgehen sowohl der Leiterin des Handelszentrums als auch der Polizei hingestellt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 16. Februar 2017 beantragte der Antragsteller beim Bundesamt festzustellen, dass zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote bezogen auf die Republik Aserbaidschan vorliegen. Mit Schreiben vom 10. März 2017 teilte der Kreis Warendorf dem Bundesamt mit, dass, nachdem die Reisefähigkeit des Antragstellers amtsärztlich bestätigt worden sei, beabsichtigt sei, den Antragsteller Anfang Mai 2017 nach Aserbaidschan abzuschieben. Die Abschiebung nach Aserbaidschan erfolgte dann am 15. Mai 2017. Mit Bescheid vom 25. September 2019 lehnte das Bundesamt unter dem Geschäftszeichen 0000000-000 den Antrag des Antragstellers auf Feststellung von Abschiebungsverboten ab. Rechtsmittel hiergegen legte der Antragsteller nicht ein.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 13. April 2022 beantragte der Antragsteller persönlich bei der Außenstelle im Ankunftszentrum Bonn die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. In seiner schriftlichen Begründung führte er im Wesentlichen aus: Nach seiner Abschiebung habe er sich für etwa 20 Tage in Aserbaidschan aufgehalten und sei dann in die Ukraine gegangen. Dort habe er viereinhalb Jahre gelebt. Er sei die ganze Zeit in sozialen Netzwerken als politischer Aktivist tätig gewesen. Im Jahr 2019 habe es – soweit er wüsste – eine Vorladung der Polizei seines Heimatortes, in dem er noch immer gemeldet sei, gegeben. Diese bzw. eine Kopie könne er, soweit erforderlich, nachreichen. Deshalb habe er Angst, nach Aserbaidschan zurückzukehren. Nachdem in der Ukraine der Krieg ausgebrochen sei, sei er nach Deutschland gekommen. Nach Beendigung der Kriegshandlungen sei er bereit, wieder in die Ukraine zurückzukehren. Neue Beweismittel habe er nicht. Er könne aber Zeugen benennen, die für ihn aussagen könnten.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 30. Mai 2022 (Gesch.-Z.: 0000000-000), dem Antragsteller am 30. Juni 2022 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, lehnte das Bundesamt den Folgeantrag als unzulässig (Ziffer 1) sowie den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 25. September 2019 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab (Ziffer 2). Es drohte die Abschiebung nach Aserbaidschan an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lägen nicht vor. Die vorgebrachten exilpolitischen Aktivitäten seien bereits im Asylerstverfahren sowie im anschließenden Klageverfahren gewürdigt worden. Auch einen Zusammenhang zwischen den angeblichen exilpolitischen Aktivitäten und der behaupteten polizeilichen Vorladung habe der Antragsteller nicht schlüssig darlegen können. Hinzu komme, dass dem Antragsteller die Existenz einer polizeilichen Vorladung als vermeintlich neuer Sachverhalt bereits seit 2019 bekannt sei, so dass der Folgeantrag auch aus diesem Grund unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat am 4. Juli 2022 beim Verwaltungsgericht Aachen Klage erhoben und den vorliegenden Eilantrag gestellt. Mit Beschluss vom 19. Juli 2022 hat sich das Verwaltungsgericht Aachen für örtlich unzuständig erklärt und sowohl das Klage- als auch das vorliegende Eilverfahren an das Verwaltungsgericht Köln verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung nimmt der Antragsteller Bezug auf „die Angaben in der Anhörung“. Eine darüber hinausgehende Antragsbegründung erfolgte nicht.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 4266/22.A gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">den Antrag abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Sie bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahrens 22 K 4266/22.A sowie der in beiden Verfahren beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachstehend unter 2. genannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ein ausdrücklicher PKH-Antrag befindet sich in der Antragsschrift zwar nicht. Allerdings wird darin ausgeführt, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragsschrift – was zutrifft – beilägen und dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bestreite. Darin dürfte zumindest ein konkludenter PKH-Antrag zu sehen sein.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der zulässige, insbesondere fristgemäß, weil innerhalb der Wochenfrist der §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellte Antrag ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Bei der vom Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffenden Entscheidung darüber, ob die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die insoweit gemäß § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entscheidung der Antragsgegnerin anzuordnen ist, ist das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung abzuwägen, wobei allerdings gemäß § 36 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 AsylG, der gemäß § 71 Abs. 4 AsylG entsprechend anzuwenden ist, eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bescheides in Betracht kommt. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Entscheidung des Bundesamts einer rechtlichen Überprüfung wahrscheinlich nicht standhält.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben fällt die Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids vom 30. Mai 2022 und dem Öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung zu Lasten des Antragstellers aus. Denn es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung. Das Bundesamt ist nach summarischer Prüfung in seinem Bescheid nämlich zu Recht davon ausgegangen, dass insoweit die Voraussetzungen des § 34 AsylG vorliegen. Denn der Folgeantrag ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unzulässig, da die besonderen Zulässigkeitsanforderungen der § 71 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 51 VwVfG nicht vorliegen (dazu a). Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG sind nicht ersichtlich (dazu b)</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die besonderen Zulässigkeitsanforderungen des § 71 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 51 VwVfG verlangen, dass sich die der Erstentscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Asylbewerbers geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Ein Asylfolgeantrag ist ferner nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen, § 51 Abs. 2 VwVfG. Die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG ist nach der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für asylrechtliche Folgeanträge indes nicht mehr anzuwenden. Denn Art. 40 der RL 2013/32 (Verfahrensrichtlinie) sieht solche Fristen nicht vor und ermächtigt auch die Mitgliedstaaten nicht dazu, solche Fristen vorzusehen. Ausschlussfristen für die Stellung eines Asylfolgeantrags sind nach der aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts vorrangig zu berücksichtigenden Richtlinie vielmehr ausgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 – C-18/20 –, juris, Rn. 55; siehe auch VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 3. August 2022 – 12a K 4352/21.A –, juris, Rn. 17 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Für die Bejahung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Asylverfahrens wegen nachträglicher Änderung der Sachlage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ist – neben dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 VwVfG – notwendig, dass der Folgeantragsteller eine Änderung im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt; er muss substantiiert die Umstände darlegen, die sich nach Abschluss des früheren Verfahrens geändert haben sollen. Außerdem ist die Geeignetheit der neuen Tatsachen für eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung schlüssig darzutun. Es genügt nicht, dass lediglich pauschale Behauptungen aufgestellt werden. Die Darlegungen des Folgeantragstellers müssen eine günstigere Entscheidung zumindest als möglich erscheinen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. März 2000 – 2 BvR 39/98 –, juris, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 14. März 2017 – A 11 K 7407/16 –, juris, Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen der § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht vor und ist ein weiteres Asylverfahren daher nicht durchzuführen, § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Die Ausführungen des Antragstellers in seiner schriftlichen Begründung des Folgeantrags stellen lediglich pauschale Behauptungen dar, die durch nichts belegt sind. Der bloße Hinweis darauf, dass er Zeugen benennen könne, genügt ersichtlich nicht, seine pauschalen Behauptungen zu substantiieren. Im Übrigen widerspricht sich der Antragsteller selbst, wenn er einerseits angibt, ggf. eine Kopie der polizeilichen Vorladung nachreichen zu können, andererseits aber vorträgt, keine Beweismittel vorlegen, sondern lediglich Zeugen benennen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Aber auch ungeachtet dessen lässt sich den pauschalen Behauptungen des Antragstellers – diese als wahr unterstellt – nicht entnehmen, inwiefern sich die Umstände nach Abschluss des Asylerstverfahrens in flüchtlingsrelevanter Weise geändert haben sollen. Das Bundesamt weist insoweit zu Recht darauf hin, dass die vom Antragsteller behaupteten oppositionellen sowie exilpolitischen Aktivitäten bereits Gegenstand des ursprünglichen Asylerstverfahrens gewesen und auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren beim Verwaltungsgericht Münster gewürdigt worden sind. Dass sich die Aktivitäten des Antragstellers während der letzten Jahre qualitativ oder auch nur quantitativ geändert hätten, trägt der Antragsteller nicht vor. Dem Bundesamt ist schließlich auch insoweit Recht zu geben, als nicht ersichtlich ist, inwieweit die vermeintliche polizeiliche Vorladung aus dem Jahr 2019 mit den exilpolitischen Aktivitäten des Antragstellers im Zusammenhang steht. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller von der polizeilichen Vorladung nur vom Hörensagen weiß und daher selbst nicht sicher sein kann, in welchem Zusammenhang diese, sollte es sie tatsächlich geben, ergangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Nicht zu folgen ist dem Bundesamt indes in der Einschätzung, dass der Folgeantrag auch deshalb unzulässig sei, weil die Existenz der polizeilichen Vorladung als vorgeblich neuer Sachverhalt bereits seit 2019 bekannt sei. Dieses Argument dürfte mit Blick auf die oben erwähnte Rechtsprechung des EuGH, wonach Ausschlussfristen für Folgeanträge europarechtlich ausgeschlossen seien, rechtlich unzulässig sein. Es dürfte demgegenüber nur darauf ankommen, dass solche Umstände vorgetragen werden, die sich nach dem Abschluss des Asylerstverfahrens ereignet haben. Diese Voraussetzung wäre hier erfüllt gewesen, weil das Asylerstverfahren bereits im Jahr 2016 abgeschlossen war. Auch ist es vor dem Hintergrund, dass sich der Antragsteller nach seinem Vortrag in den letzten Jahren in der Ukraine aufgehalten habe, nachvollziehbar, dass er diesen Sachverhalt dem Bundesamt nicht bereits im Jahr 2019 vorgetragen hat. Diese abweichende rechtliche Einschätzung wirkt sich jedoch angesichts der obigen Ausführungen hier nicht entscheidungserheblich aus.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller ist den im Wesentlichen zutreffenden Ausführungen des Bundesamts im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren nicht entgegengetreten. Eine substantiierte Antragsbegründung hat der Antragsteller ohnehin nicht vorgelegt bzw. durch seine Prozessbevollmächtigte vorlegen lassen. Soweit in der Antragsschrift auf „die Angaben in der Anhörung“ Bezug genommen wird, erschließt sich bereits nicht, was genau damit gemeint sein soll. Im Asylfolgeverfahren fand eine Anhörung des Antragstellers nicht statt. Sollte auf die Anhörung im Asylerstverfahren Bezug genommen werden, so ist dies wegen § 51 Abs. 1 VwVfG von vornherein nicht geeignet, einen Asylfolgeantrag zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Es bestehen ferner auch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes vom 30. Mai 2022.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dabei kann hier dahinstehen, ob über Abschiebungsverbote in einem Asylfolgeverfahren nur zu entscheiden ist, wenn – wovon das Bundesamt in ständiger Verwaltungspraxis ausgeht – auch insoweit die Voraussetzungen der § 51 Abs. 1 bis 3 bzw. § 51 Abs. 5 i. V. m. §§ 48, 49 VwVfG erfüllt sind oder – wofür einiges spricht – deren Vorliegen in jedem Fall (erneut) zu prüfen ist. Nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG stellt das Bundesamt in Fällen unzulässiger Asylanträge i. S. d. § 29 Abs. 1 AsylG fest, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 18, 20, und Beschlüsse vom 27. April 2017 – 1 B 6.17 –, juris, Rn. 5, und vom 3. April 2017 – 1 C 9.16 –, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zu den unzulässigen Asylanträgen i. S. d. § 29 Abs. 1 AsylG gehört nach Ziffer 5 der Norm auch der Folgeantrag. Nach dem Wortlaut des § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG in der seit dem 6. August 2016 geltenden Fassung des Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 ist deshalb auch die Entscheidung über Folgeanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG entgegen der bis zum 5. August 2016 geltenden Rechtslage unabhängig davon, ob ein Grund nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegt oder die bestandskräftige frühere Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG gemäß § 51 Abs. 5 i. V. m. §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen zurückzunehmen oder zu widerrufen ist, mit der Feststellung zu verbinden, ob die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots erfüllt sind. Insoweit werden in der hierzu ergangenen Rechtsprechung allerdings Bedenken vorgebracht, ob diese voraussetzungslose Überwindung der Bestandskraft der vorangegangenen Entscheidung von der Regelungsabsicht des Gesetzgebers umfasst war. Die Begründung des Gesetzentwurfs (vgl. Bundestags-Drucksache 18/8615, Seite 18 und 52) weist die Neufassung nur als eine Folgeänderung aus, ohne den Willen einer sachlichen Änderung erkennen zu lassen. Vorliegend kann dahinstehen, ob ein offensichtliches Versehen des Gesetzesgebers anzunehmen und § 31 Abs. 3 AsylG einschränkend dahin auszulegen ist, dass eine Prüfungs- und Entscheidungspflicht des Bundesamts für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei Folgeanträgen nur unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG besteht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">So aber VG Aachen, Beschluss vom 23. April 2021 – 10 L 164/21.A –, juris, Rn. 26 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 12. Juni 2020 – 8 A 486/17 –, juris, Rn. 37 ff., und Beschluss vom 16. März 2020 – 17 AE 1084/20 –, juris, Rn. 26 ff.; VG Trier, Urteil vom 21. Januar 2020 – 1 K 3689/18.TR –, juris, Rn. 16, jeweils m. w. N. Offen lassend OVG NRW, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris, Rn. 25 ff.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter hält eine einschränkende Auslegung der Vorschrift nicht für geboten. Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG setzt voraus, dass durch die Abschiebung entweder elementare, in der EMRK niedergelegte Rechten verletzt werden, oder dass von der Abschiebung für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgeht. Es erscheint daher angesichts der hier in Rede stehenden Rechtsgüter ohne weiteres sachlich gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber vom Bundesamt anlässlich einer Entscheidung über Folgeanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG eine (erneute) Prüfung von Abschiebungsverboten verlangt, die nicht den Einschränkungen der §§ 51, 48, 49 VwVfG unterworfen ist.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Frage bedarf hier jedoch letztlich keiner abschließenden Entscheidung, weil der Antragsteller jedenfalls in der Sache keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG hat. Insoweit wird auf die – in der Sache zutreffenden – Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 1. Kammer - vom 29. Juni 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 10.000,00 Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p><strong> I. </strong>Die Antragsteller begehren im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Feststellung, dass sie berechtigt seien, in den von ihnen betriebenen Spielhallen einen Raucherraum einzurichten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Mit Art. 5 des Gesetzes zur Änderung spielhallenrechtlicher Bestimmungen vom 26. Januar 2022 (Nds. GVBl. v. 31.1.2022, S. 36, 41) wurde das in § 1 des Niedersächsischen Nichtraucherschutzgesetzes (Nds. NiRSG) normierte Rauchverbot zum 1. Februar 2022 auch auf „Spielhallen im Sinne des § 1 Abs. 4 des Niedersächsischen Spielhallengesetzes“ erstreckt (vgl. Ziff. 12 der Norm). Für Spielhallen wurden keine Ausnahmen in § 2 Nds. NiRSG - wie beispielsweise die Möglichkeit zur Einrichtung von vollständig umschlossenen Räumen als Raucherräumen, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 6 und § 2 Abs. 2 Nds. NiRSG - geregelt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Den Antrag der Antragsteller hat das Verwaltungsgericht Braunschweig mit Beschluss vom 29. Juni 2022 abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, es bestünden bereits Zweifel an der Zulässigkeit der Anträge. Jedenfalls seien die Eilanträge aber unbegründet. Die Antragsteller hätten zunächst keinen Anordnungsgrund i.S.d. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht. Wegen der beantragten (vorläufigen) Vorwegnahme der Hauptsache seien hier erhöhte Anforderungen zu stellen. Die Antragsteller hätten jedoch nicht dargelegt, dass ihnen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Soweit die Antragsteller behaupteten, seit Inkrafttreten des Rauchverbotes in Spielhallen zum 1. Februar 2022 hätten sich ihre Umsätze um etwa 30% verringert, hätten sie dies durch keinerlei Nachweise glaubhaft gemacht. Erst recht sei nicht erkennbar, dass die Spielhallen der Antragsteller nicht mehr gewinnbringend betrieben werden könnten. Unabhängig davon sei auch ein Anordnungsanspruch nicht gegeben. Die maßgeblichen Vorschriften des Niedersächsischen Nichtraucherschutzgesetzes begegneten keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Es sei auch unter Berücksichtigung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden, dass für Spielhallen im Gegensatz zu Einrichtungen im Sinne des Ausnahmetatbestandes des § 2 Abs. 1 Nr. 6 Nds. NiRSG und zu Gaststätten gemäß § 2 Abs. 2 Nds. NiRSG nicht die Möglichkeit der Errichtung eines Raucherraums gegeben sei. Der Gesetzgeber verfolge mit dem Rauchverbot in Spielhallen neben dem Ziel des Nichtraucherschutzes gerade auch die Prävention pathologischen Spielens und den Schutz der Spieler durch Unterbrechung des Spielflusses. Vor dem Hintergrund dieses Ziels lägen hier bereits keine vergleichbaren Sachverhalte vor, bzw. rechtfertige das genannte Ziel die Ungleichbehandlung der verschiedenen Einrichtungen. Auch eine Verletzung der grundrechtlich durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit der Antragsteller sei nicht gegeben. Die Bekämpfung und Verhinderung von Glücksspielsucht wiege nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der sich das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht angeschlossen habe, besonders schwer, da es sich um ein besonders wichtiges Gemeinwohlziel handele. Es rechtfertige sogar Regelungen, die - wie beispielsweise das Verbundverbot und das Abstandsgebot - dazu führen könnten, dass Spielhallenbetreiber wegen der Gesamtbelastung nicht nur in Einzelfällen ihren Beruf aufgeben müssten. Von einer unverhältnismäßigen Überregulierung könne auch unter Berücksichtigung des Sperrsystems und weiterer bereits bestehender Regelungen nicht ausgegangen werden. Das Sperrsystem wirke lediglich nachgelagert bei Personen, die bereits einer Selbst- oder Fremdsperre unterlägen, dagegen bewirkten Maßnahmen zur Unterbrechung des Spielflusses eine „vorgelagerte“ Prävention von Spielsucht. Unter Berücksichtigung des dem Landesgesetzgeber zukommenden Einschätzungsspielraums könne nicht angenommen werden, dass mit dem uneingeschränkten Rauchverbot für Spielhallen kein zusätzlicher suchtpräventiver Zweck mehr erreicht werden könne. In Deutschland spielten trotz fortwährender Bemühungen immer noch 250.000 bis 300.000 Menschen problematisch oder gar pathologisch (LT-Drs. 18/10441).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde. Sie tragen vor, ein Anordnungsgrund i.S.v. § 123 VwGO liege entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts vor. Die lediglich zeitlich befristete Vorwegnahme der Hauptsache führe insoweit nicht schon zu erhöhten Anforderungen, weil sie ihre materiell-rechtliche Position nicht verändere. Die überwiegend rauchenden Stammgäste suchten ihre Spielhallen gerade auch deshalb auf, weil in diesen Spielhallen geraucht werden dürfe. Wenn diese rauchenden Spielgäste aufgrund des absoluten Rauchverbots und der fehlenden Möglichkeit zur Einrichtung eines Raucherraumes die Spielhallen nicht mehr aufsuchten, sei zu befürchten, dass sie ihre Spielhallen aufgrund der wirtschaftlichen Verluste nicht mehr würden betreiben können. Auch ein Anordnungsanspruch sei glaubhaft gemacht. Die Nichteinbeziehung von Spielhallen in den Ausnahmetatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 6 Nds. NiRSG stelle gerade eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung gegenüber allen übrigen Gebäuden und Einrichtungen dar, in denen der Gesetzgeber die Einrichtung von Raucherräumen erlaube. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung ergebe sich weder durch den mit der Einbeziehung von Spielhallen in das Nichtraucherschutzgesetz verfolgten Zweck, Spielgäste und Mitarbeitende vor den Gefahren des Passivrauchens zu schützen, noch durch das Ziel der Suchtprävention im Zusammenhang mit der Unterbrechung des Spielflusses. Beide Ziele ließen sich durch einen umschlossenen Raucherraum, in dem keine Spielgeräte aufgestellt würden, gleichermaßen erreichen. Ein Raucherraum stelle das mildere Mittel gegenüber einem ausnahmslosen Rauchverbot dar. Die Regelung greife zudem unverhältnismäßig in ihre von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit ein. Der Spielerschutz sei bereits hinreichend gewährleistet. Gerade durch das am 1. Februar 2022 in Kraft getretene Niedersächsische Spielhallengesetz sei das Spielerschutzniveau für sämtliche in Niedersachsen zu betreibende Spielhallen noch einmal signifikant angehoben worden. Ferner müssten sämtliche Spielhallen an das bundesweite, spielformübergreifende Sperrsystem („OASIS“) angeschlossen werden. Damit trage der Gesetzgeber den Belangen der Suchtprävention im Verhältnis zu den unternehmerischen Interessen der Spielhallenbetreiber angemessen Rechnung. Zusätzliche Regelungen - wie das streitgegenständliche absolute Rauchverbot - seien nicht mehr verhältnismäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die zulässige Beschwerde der Antragsteller bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen es nicht, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben, denn sie erschüttern nicht die tragenden Annahmen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (vgl. zu diesem Maßstab Senatsbeschl. v. 6.4.2022 - 14 ME 180/22 -, juris Rn. 7 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p><strong>1. </strong>Die tragende Annahme des Verwaltungsgerichts, dass bereits kein Anordnungsgrund vorliege, wird mit dem Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Zweifel gezogen. Der Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit der Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Senatsbeschl. v. 27.4.2022 - 14 ME 116/22 -, juris Rn. 12; NdsOVG, Beschl. v. 19.10.2010 - 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider, VwGO, Stand: 42. EL Februar 2022, § 123 Rn. 81).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Dabei ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass hier erhöhte Maßstäbe an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes anzulegen sind, weil die Antragsteller eine Vorwegnahme der Hauptsache begehren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO ist nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 - 1 WDS-VR 2/04 -, juris Rn. 3) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 17; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 - 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 27.4.2022 - 14 ME 116/22 -, juris Rn. 13; NdsOVG, Beschl. v. 12.5.2010 - 8 ME 109/10 -, juris Rn. 15).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller erstreben eine solche Vorwegnahme der Hauptsache. Denn das Ziel der von ihnen begehrten Regelungsanordnung - Feststellung der Berechtigung zur Einrichtung eines Raucherraumes entgegen § 1 Abs. 1 Nr. 12 Nds. NiRSG - ist mit dem Ziel des Klageverfahrens identisch. Dem steht nicht entgegen, dass die im einstweiligen Anordnungsverfahren erstrebte Rechtsstellung unter der auflösenden Bedingung des Ergebnisses des Klageverfahrens stünde. Denn auch die bloße vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt dem jeweiligen Antragsteller die mit dem Klageverfahren verfolgte Rechtsposition und stellt ihn - ohne dass diese Rechtsstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte - vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - 2 ER 301/89 -, juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 27.4.2022 - 14 ME 116/22 -, juris Rn. 14; NdsOVG, Beschl. v. 12.3.2012 - 8 ME 159/11 -, juris Rn. 13 und Beschl. v. 8.10.2003 - 13 ME 342/03 -, juris Rn. 29; OVG RP, Beschl. v. 21.10.1987 - 12 B 109/87 -, NVwZ-RR 1988, 19).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Der danach nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorwegnehmenden vorläufigen Feststellung kommt hier nicht in Betracht. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Antragsteller nicht hinreichend glaubhaft gemacht haben, dass ihnen unter dem von ihnen benannten Gesichtspunkt der Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Ein die Vorwegnahme der Hauptsache ausnahmsweise rechtfertigender schwerer und unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteil kann zwar dann gegeben sein, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die soziale, berufliche oder wirtschaftliche Existenzgrundlage des jeweiligen Antragstellers gefährdet ist und dies seine Grundrechte aus Art. 12, 14 GG berührt (vgl. Senatsbeschl. v. 27.4.2022 - 14 ME 116/22 -, juris Rn. 15; NdsOVG, Beschl. v. 12.3.2012 - 8 ME 159/11 -, juris Rn. 13; OVG RP, Beschl. v. 21.10.1987 - 12 B 109/87 -, NVwZ-RR 1988, 19; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 66c).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Eine solche wirtschaftliche Existenzgefährdung ergibt sich aus den Ausführungen der Antragsteller auch unter Berücksichtigung ihres Beschwerdevorbringens indes nicht. Ihre Angaben bleiben vielmehr pauschal und unsubstantiiert. Es fehlen insbesondere konkrete Angaben zu den befürchteten Umsatzverlusten. Die Antragsteller hätten zumindest nachvollziehbare Angaben zum Umsatz vor Inkrafttreten des absoluten Rauchverbots in Spielhallen sowie zu den Veränderungen seit Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Februar 2022 - also vor immerhin einem halben Jahr - machen können und müssen. Dies ist nicht geschehen. Das Verwaltungsgericht hat auch schlüssig und nachvollziehbar Gesichtspunkte benannt, die gegen eine Existenzgefährdung sprechen. Insbesondere hat es darauf hingewiesen, dass schon vor dem Inkrafttreten des für alle Spielhallen in Niedersachsen geltenden Rauchverbotes in einer Vielzahl von Spielhallen ein Rauchverbot bestanden habe (vgl. § 10a Abs. 5 NGlüSpG a.F.). Es sei aber nicht erkennbar, dass dieser Umstand dazu geführt hätte, dass betroffene Spielhallen nicht mehr lukrativ hätten geführt werden können oder gar hätten aufgegeben werden müssen. Eine solche Verpflichtung zur Einhaltung eines Rauchverbotes sei insbesondere in einem Auswahlverfahren nach § 10a des Niedersächsischen Glücksspielgesetzes in der seinerzeit geltenden Fassung von maßgeblicher Bedeutung gewesen. Soweit die Antragsteller dem entgegenhalten, diese Verpflichtung habe in der Entscheidungssphäre der spielhallenbetreibenden Personen gelegen, vermag dies die Argumentation des Verwaltungsgerichts nicht zu entkräften.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p><strong>2. </strong>Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Antragsteller die selbständig tragende Annahme des Verwaltungsgerichts, dass auch ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden sei, ebenfalls nicht durchgreifend in Frage stellen. Mit Recht hat das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Vorwegnahme der Hauptsache auch insoweit strengere Maßstäbe zugrunde gelegt und darauf abgestellt, dass ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache sprechen müsse (BVerfG, Beschl. v. 30.4.2009 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 18; BVerwG, Beschl. v. 26.11.2013 - 6 VR 3.13 -, juris Rn. 5, 7; Beschl. v. 10.2.2011 - 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 2.6.2022 - 14 ME 240/22 -, juris Rn. 3 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die (vorläufige) Feststellung, dass die Antragsteller in ihren Spielhallen berechtigt sind, Raucherräume einzurichten, voraussetzen würde, dass die gesetzliche Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 Nds. NiRSG nicht angewendet bzw. durch eine Ausnahmeregelung entsprechend § 2 Abs. 1 Nr. 6 bzw. § 2 Abs. 2 Nds. NiRSG modifiziert würde. Eine solche Verfahrensweise im Verfahren nach § 123 VwGO ist zwar durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts hat zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes - jedenfalls im Hauptsacheverfahren - erst nach deren Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor Erlass der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Entscheidung in der Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.3.2014 - 2 BvL 2/13 -, juris Rn. 17; Senatsbeschl. v. 6.4.2022 - ME 180/22 -, juris Rn. 27).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Verwerfung eines formellen Gesetzes als verfassungswidrig muss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedoch die Ausnahme bleiben und ist auf Fälle evidenter Verfassungswidrigkeit beschränkt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2011 - 2 BvR 2362/11 -, juris Rn. 5 m.w.N.; Beschl. v. 5.9.2005 - BvR 1781/05 -, Rn. 13 m.w.N.; Senatsbeschl. v. 6.4.2022 - ME 180/22 -, juris Rn. 28; NdsOVG, Beschl. v. 9.10.2020 - 10 ME 207/20 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Beschl. v. 13.9.2017 - 7 ME 77/17 -, juris Rn. 5; NdsOVG, Beschl. v. 21.2.2013 - 2 NB 20/13 -, juris, Rn. 10 m.w.N; NdsOVG, Beschl. v. 21.12.2006 - 2 NB 347/06 -, juris, Rn. 32 m.w.N.; HambOVG, Beschl. v. 10.10.2001 - 3 NC 150/00 -, juris Rn. 8).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Das Beschwerdevorbringen legt nicht dar, dass die Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 Nds. NiRSG entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts evident verfassungswidrig ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p><strong>a) </strong>Ein Gleichheitsverstoß (Art. 3 Abs. 1 GG) ist bereits deswegen nicht offenkundig, weil es dem Gesetzgeber erklärtermaßen (vgl. LT-Drs. 18/10441, S. 31f.) nicht lediglich um den Schutz von Nichtrauchern, sondern darüber hinaus auch um die Prävention pathologischen Spielens geht. Glücksspielsuchtgefährdete Spielerinnen und Spieler seien häufig Raucherinnen und Raucher. Zeitliche Limitierungen des Spiels und Unterbrechungen des Spielflusses böten Schutz vor pathologischen Spiel. Ein Rauchverbot in Spielhallen führe dazu, dass Raucherinnen und Raucher außerhalb der Spielhallen Rauchpausen einlegten und somit der Spielfluss unterbrochen werde. Das Verwaltungsgericht hat vor diesem Hintergrund auch nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass das Verlassen der Spielhalle zum Zwecke des Rauchens eine größere Distanz zum Spielgeschehen schaffe, als es das Aufsuchen eines Raucherraumes innerhalb der Spielhalle vermöge. Entgegen dem Beschwerdevorbringen bedarf es für diese Annahme auch keiner wissenschaftlichen Studien, dies ist vielmehr ohne Weiteres plausibel.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Auch soweit die Beschwerde geltend macht, ein Raucherraum könnte weiter von den Spielautomaten entfernt sein als der Eingangsbereich vor der Spielhalle, zieht dies die Argumentation des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel. Das Verwaltungsgericht hat erkennbar gerade nicht auf eine Entfernung zu den Spielgeräten in Metern abgestellt, sondern auf die psychische Distanz, die ein Verlassen der Spielhalle mit sich bringt: Für eine Fortsetzung des Spiels müsse gerade erneut der Entschluss zum Betreten der Spielhalle gefasst werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p><strong>b) </strong>Auch eine Verletzung der grundrechtlich durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit ist jedenfalls nicht evident. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bekämpfung und Verhinderung von Glücksspielsucht besonders schwer wiege, da es sich um ein besonders wichtiges Gemeinwohlziel handele. Dieses Ziel rechtfertige es auch, dass Regelungen zu seiner Verwirklichung dazu führten, dass wegen der Gesamtbelastung nicht nur in Einzelfällen Spielhallenbetreiber ihren Beruf möglicherweise aufgeben müssen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.3.2017 - 1 BvR 1314/12 u.a., juris Rn. 158; vgl. auch NdsOVG, Beschl. v. 14.6.2022 - 11 ME 143/22 -, juris Rn. 15 f.; Beschl. v. 2.8.2021 - 11 ME 104/21 -, juris; Urt. v. 12.7.2018 - 11 LC 400/17 -, juris Rn. 44; Beschl. v. 5.9.2017 - 11 ME 169/17 -, juris Rn. 13 ff.). Von einer unverhältnismäßigen Überregulierung könne daher auch im Hinblick auf die bereits bestehenden Regelungen zum Schutz der Spieler nicht ausgegangen werden. Trotz dieser Regelungen spielten weiterhin eine hohe Zahl von Menschen problematisch oder gar pathologisch. Weitere Schutzmaßnahmen seien daher verhältnismäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Diesen Ausführungen tritt das Beschwerdevorbringen nicht substantiiert entgegen. Soweit die Antragsteller - wie schon in der ersten Instanz - auf die bereits geltenden Regelungen zum Schutz der Spieler verweisen, ist dem entgegen zu halten, dass es dem Gesetzgeber angesichts der hohen Zahl an Menschen mit problematischem bzw. pathologischem Spielverhalten (vgl. LT-Drs. 18/10441, S. 29: 250.000 bis 300.000) nicht verwehrt sein dürfte, weitere Maßnahmen zu etablieren. Auch der Einwand der Beschwerde, die Maßnahme erschwere auch Menschen ohne problematisches Spielverhalten die Nutzung des Glücksspielangebots, greift nicht durch. Gerade auch präventiv wirkende Maßnahmen des Gesetzgebers sind zur Bekämpfung und Verhinderung von Spielsucht geeignet und erforderlich. Solche Maßnahmen richten sich notwendigerweise an Spielerinnen und Spieler, die - noch - kein problematisches oder pathologisches Spielverhalten zeigen und sollen dem Entstehen eines solchen Verhaltens entgegenwirken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG und folgt der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts. Auf die Begründung wird Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006860&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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|
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346,854 | olgk-2022-08-23-3-u-19021 | {
"id": 822,
"name": "Oberlandesgericht Köln",
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} | 3 U 190/21 | 2022-08-23T00:00:00 | 2022-10-07T10:01:53 | 2022-10-17T11:10:53 | Urteil | ECLI:DE:OLGK:2022:0823.3U190.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24.11.2021 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn – Az. 1 O 369/20 – teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p>
<ul class="ol"><li><p>1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.406,76 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit dem 25.03.2021 zu zahlen.</p>
</li>
</ul>
<ul class="ol"><li><p>2. Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung der Klägerin zurückgewiesen.</p>
</li>
</ul>
<ul class="ol"><li><p>3. Die Kosten des Rechtsstreits in 1. Instanz tragen die Klägerin zu 39 % und die Beklagte zu 61 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 27 % und die Beklagte zu 73 %.</p>
</li>
</ul>
<ul class="ol"><li><p>4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p>
</li>
</ul>
<ul class="ol"><li><p>5. Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
</li>
</ul><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 544 Abs. 2 Nr. 1, 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden. In der Sache hat die Berufung der Klägerin teilweise Erfolg, weshalb das landgerichtliche Urteil teilweise abzuändern war.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 07.07.2022 nunmehr statt des bisher geltend gemachten sog. „großen“ Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB den sog. „kleinen“ Schadensersatz geltend macht, ist dies auch ohne Einwilligung der Beklagten möglich. Eine Klageänderung gemäß § 533 ZPO liegt bei einem Wechsel von der Geltendmachung des „großen“ auf den „kleinen“ Schadensersatzanspruch nicht vor, da es insoweit lediglich um die Berechnungsmethode in Bezug auf den Schaden geht. Wechselt der Geschädigte die Art der Schadensberechnung, ohne seinen Antrag auf einen abgewandelten Lebenssachverhalt zu stützen, liegt hierin keine Klageänderung (BGH, Urteil vom 23. Juni 2015, XI ZR 536/14, Rn. 33; BGH, Urteil vom 5. August 2014, XI ZR 172/13, WM 2014, 1763, Rn. 11; BGH, Urteile vom 9. Oktober 1991, VIII ZR 88/90, BGHZ 115, 286, 289 ff. und vom 9. Mai 1990, VIII ZR 237/89, WM 1990, 1748, 1749 f.; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 26. Januar 2022, 2 U 139/21, Rn. 18, mwN, juris, alle Entscheidungen im Folgenden zitiert nach juris). Es handelt sich bei Beanspruchung des Minderwerts lediglich um eine andere Bemessung des Vertrauensschadens (BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, Rn. 9).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ursprünglich stand der Klägerin gegen die Beklagte dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB zu. Dass die Beklagte durch das Inverkehrbringen des mit einem Motor des Typs EA 189 ausgestatteten streitgegenständlichen Fahrzeugs eine unerlaubte Handlung im Sinne des § 826 BGB begangen hat, bedarf in Anbetracht der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur etwa BGH Urteile vom 25.05.2020, VI ZR 252/19; vom 30.07.2020, VI ZR 354/19, 367/19, 397/19, 5/20) keiner weiteren Erörterung mehr. Dieser war von der Klägerin zunächst auf den sog. „großen“ Schadensersatzanspruch, d.h. auf Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich der Nutzungsvorteile Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs wegen des Motors EA 189 gerichtet. Dem geschädigten Käufer steht es frei, im Rahmen des Anspruchs aus § 826 BGB statt des „großen“ Schadensersatzes den „kleinen“ Schadensersatz zu wählen, wobei er das Auto behält und als Schaden den Betrag ersetzt verlangt, „um den er den Kaufgegenstand - gemessen an dem objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung - zu teuer erworben hat“ (BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, Rn. 15). Da es sich hierbei nur um die Bemessung des verbliebenen Vertrauensschadens und nicht um die Frage einer Anpassung des Vertrags handelt, braucht der Geschädigte in diesem Fall auch nicht nachzuweisen, dass sich der Vertragspartner auf einen Vertragsschluss zu einem niedrigeren Preis eingelassen hätte (BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, Rn. 21).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Berufung hat das Landgericht im Ergebnis zu Recht eine Verjährung des Anspruchs aus § 826 BGB angenommen. Der Beklagten steht nach § 214 BGB ein dauerndes Leistungsverweigerungsrecht zu.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">a.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung ist das Landgericht zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Anspruch der Klägerin der regelmäßigen Verjährungsfrist des § 195 BGB von drei Jahren unterliegt (grundlegend zu den Dieselfällen: BGH, Urteil vom 17.12.2020, VI ZR 739/20).</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 199 Abs. 1 BGB beginnt diese Frist mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste. Konkret auf die sog. Dieselverfahren bezogen genügt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für den Beginn der Verjährung gemäß § 199 Abs. 1 BGB, dass der geschädigte Fahrzeugkäufer Kenntnis vom sogenannten Dieselskandal im allgemeinen, von der konkreten Betroffenheit seines Fahrzeugs und von der Relevanz dieser Betroffenheit für seine Kaufentscheidung hat, wobei letztere Kenntnis nicht gesondert festgestellt werden muss, sondern naturgemäß beim Geschädigten vorhanden ist (BGH, Urteil vom 21.12.2021, VI ZR 212/20, Rn. 14; Beschluss vom 15.09.2021, VII ZR 294/20, Rn. 6; Urteil vom 17.12.2020, VI ZR 739/20 Rn. 21 ff.; Urteil vom 10.02.2022, VII ZR 365/21, Rn. 16 - 17).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zu Unrecht ist das Landgericht von grob fahrlässiger Unkenntnis der Klägerin von den Anspruchsvoraussetzungen gem. § 199 BGB bereits Ende des Jahres 2015 ausgegangen. Eine solche ist erst 2016 anzunehmen. Die Klägerin hat zwar eine positive Kenntnis vom Dieselskandal im Allgemeinen zum Ende des Jahres 2015 nicht in Abrede gestellt, eine positive Kenntnis von der individuellen Betroffenheit ihres Fahrzeugs aber bestritten. Nach dem Urteil des BGH vom 10.02.2022 zu Az. VII ZR 396/21, Rn. 26 ff., ist kein schwerwiegender Obliegenheitsverstoß in eigenen Angelegenheiten und damit keine grob fahrlässige Unkenntnis anzunehmen, wenn ein Gläubiger, der schon 2015 allgemeine Kenntnis vom Dieselskandal erlangt hat, in dem verbleibenden kurzen Zeitraum seit Bekanntwerden des sogenannten Dieselskandals und der Freischaltung der betreffenden Online-Plattform im Oktober 2015 bis zum Jahresende 2015 keinen Gebrauch davon gemacht hat, die Betroffenheit des eigenen Fahrzeugs zu ermitteln. Mit Rücksicht darauf, dass die Beklagte seit September 2015 mit zahlreichen Informationen an die Öffentlichkeit getreten ist und auch weitere Erklärungen angekündigt hatte, sei ein Zuwarten zumindest bis zum Ende des Jahres 2015 nicht schlechterdings unverständlich (BGH, VII ZR 396/21, Urteil vom 10.02.2022, Rn. 27). Aber ausgehend von einer schon 2015 gegebenen allgemeinen Kenntnis vom sog. Dieselskandal – unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitablaufs – habe eine Klagepartei jedenfalls bis Ende 2016 Veranlassung, die Betroffenheit ihres eigenen Fahrzeugs zu ermitteln, ansonsten handele sie grob fahrlässig iSv § 199 BGB (vgl. BGH Urteil vom 10.02.2022, VII ZR 679/21, Rn. 30 ff.). Dieser Auffassung tritt der Senat bei.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Da die Klägerin zudem nicht bestritten hat, im Februar 2016 mit individuellem Kundenanschreiben von der Beklagten über die individuelle Betroffenheit ihre Fahrzeugs informiert worden zu sein, ist nach den vorstehenden Grundsätzen für 2016 sogar positive Kenntnis von den ihren Schadensersatzanspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners iSv § 199 BGB festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB begann nach den vorstehenden Erwägungen mithin mit Ablauf des Jahres 2016 zu laufen, Verjährung trat somit mit Ablauf des Jahres 2019 ein.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Erhebung der unter dem 20.12.2020 eingereichten und der Beklagten am 25.03.2021 zugestellten Klage ist in bereits verjährter Zeit erfolgt, sodass keine Hemmungswirkung gem. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB mehr eintreten konnte.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">b.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Berufung ist es der Beklagten nicht gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auf die Verjährung zu berufen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 49 - 50, mwN).</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Eine unzulässige Rechtsausübung setzt voraus, dass der Schuldner den Gläubiger durch sein Verhalten objektiv - sei es auch unabsichtlich - von der rechtzeitigen Klageerhebung abgehalten hat und die spätere Verjährungseinrede unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls mit dem Gebot von Treu und Glauben unvereinbar wäre. Insoweit ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die Klägerin hat aufgrund des Verhaltens der Beklagten nicht darauf vertrauen dürfen, sie werde sich nicht auf Verjährung berufen. Die Beklagte hat sie durch das Aufspielen des Software-Updates nicht davon abgehalten, rechtzeitig verjährungshemmende Maßnahmen zu ergreifen. Soweit sie ihre Schadensersatzpflicht oder die Verantwortlichkeit ihres Vorstands für die Manipulationen in Abrede stellt, handelt es sich um ein prozessuales Verhalten zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 49 - 50, mwN).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">4.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ein zunächst mit der Berufung von der Klägerin noch geltend gemachter Anspruch aus §§ 826, 31 BGB aufgrund behaupteter Mängel des Software Updates, wird von ihr, wie sie mit Schriftsatz vom 29.07.2022, Bl. 429 GA, klargestellt hat, nicht weiterverfolgt. Damit sind Ausführungen des Senats hierzu nicht veranlasst.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">5.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Berufung hat jedoch teilweise Erfolg, soweit das Landgericht einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf sog. Restschadensersatzanspruch gemäß § 852 BGB verneint hat.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">a.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug aufgrund des bei Abholung auf dem Tacho angezeigten Stands von 15 km um ein Gebrauchtfahrzeug gehandelt hat.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Beurteilung, ob ein Fahrzeug neu oder gebraucht ist, kann nach Auffassung des Senats nicht alleine darauf abgestellt werden, ob dieses 0 Kilometer aufweist. Anknüpfend an die umfangreiche Rechtsprechung zum Vorliegen eines Sachmangels eines Neufahrzeugs – vgl. etwa die Nachweise bei Staudinger/Matusche-Beckmann (2013), Kommentar zum BGB, § 424, Rn. 190 ff. - gibt es weitere Kriterien, die darüber entscheiden, ob ein Fahrzeug als Neuwagen oder als Gebrauchtwagen gilt. Ob das Fahrzeug schon eine geringe Anzahl von Kilometern im unteren zweistelligen Bereich gefahren ist, ist danach nicht maßgeblich. Nach der Rechtsprechung des BGH liegt im Verkauf eines Neuwagens durch einen Kfz-Händler grundsätzlich die Zusicherung, dass das verkaufte Fahrzeug die Eigenschaft hat, "fabrikneu" zu sein (BGH, Urteil vom 12.01.2005 – VIII ZR 109/04 –, Rn. 11, m.w.N., juris). Ein unbenutztes Kraftfahrzeug ist fabrikneu, wenn und solange das Modell dieses Fahrzeugs unverändert weitergebaut wird, wenn es keine durch eine längere Standzeit bedingte Mängel aufweist und wenn zwischen Herstellung des Fahrzeugs und Abschluss des Kaufvertrages nicht mehr als zwölf Monate liegen (BGH, Urteil vom 12.01.2005 – VIII ZR 109/04 –, Rn. 12, m.w.N., juris). Alleine eine vereinbarte Überführungsfahrt löst bereits einen Kilometerstand aus, der nach allgemeiner Auffassung an der Eigenschaft der Fabrikneuheit aber nichts ändert (Staudinger, a.a.O, Rn. 192). Ist eine Überführungsfahrt – wie vorliegend – nicht vereinbart, soll ein Neuwagenkäufer nach Reinking/Eggert, Der Autokauf, Rn. 563, dennoch mit einem Tachostand von 50 km rechnen müssen (vgl. Staudinger a.a.O., Rn. 198). Ein Kfz, das bereits zum öffentlichen Verkehr auf einen bestimmten Kfz-Halter zugelassen war, kann nach allgemeiner Auffassung nicht mehr als fabrikneu bezeichnet werden. Das gilt auch dann, wenn der erste Käufer den Wagen noch nicht benutzt hat (vgl. Staudinger a.a.O., Rn. 199). Nicht fabrikneu ist auch ein Fahrzeug, das bereits als Vorführwagen benutzt wurde oder nicht ganz unerhebliche Beschädigungen erlitten hat (vgl. Staudinger a.a.O., Rn. 200 f.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen kann im vorliegenden Fall kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Pkw um ein Neufahrzeug handelt. Insoweit hat die Klägerin schon erstinstanzlich zu Recht angeführt (Bl. 563 GA), dass das Fahrzeug mit dem Kilometerstand von nur 15 km auf sie für den öffentlichen Verkehr erstzugelassen worden ist (Anlage K 2, Bl. 64 GA). Weder überschreitet der Tachostand die für Neuwagen durchaus übliche Kilometerzahl von bis zu 50 km noch war es zuvor auf eine andere konkrete Person für den öffentlichen Verkehr zugelassen. Es hat also nicht einmal eine Tageszulassung auf den Händler gegeben. Die geringe Kilometerzahl spricht dafür, dass es lediglich zu einem werkseitigen Rangieren nach der Produktion gekommen ist, womöglich, um das Fahrzeug auf die Klägerin zuzulassen, denn auch die Zulassungsbescheinigung steht mit 8,40 € in der von der Klägerin mit der Klageschrift vorgelegten Rechnung. Zum Kauf ist es zudem – wie sich aus dieser Rechnung vom 07.10.2013 (Anlage K 1, Bl. 63 GA) ebenfalls ergibt - auf Bestellung der Klägerin vom 15.08.2013 beim Händler gekommen. Das Fahrzeug ist mithin erst nach Bestellung der Klägerin nach ihren Wünschen produziert worden. Die Bereitstellung des Fahrzeugs erfolgte ferner für die Klägerin bei der Beklagten, da die Klägerin das sog. Selbstabholer-Paket A 1 bezahlt hat, was eine Selbstabholung des Fahrzeugs in der Autostadt bei der Beklagten bedeutet. Der Händler hatte also rein faktisch keine Nutzungsmöglichkeit. Im Falle der Selbstabholung des Fahrzeugs in der Autostadt nach Produktion und Erstzulassung auf den Selbstabholer kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass es sich um den Erwerb eines Gebrauchtfahrzeugs vom Händler als einem Dritten, der das Fahrzeug zunächst von der Beklagten zum gebrauchten Weiterverkauf erworben hätte, handelt. Vielmehr hat die Klägerin von der Autohaus A GmbH & Co.KG ein Neufahrzeug unter Bereitstellung bei der Beklagten erworben.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">b.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Für diese Konstellation hat der BGH mit Urteilen von 21.02.2022, VIa ZR 8/21 und VIa ZR 57/21 bei Nichtdurchsetzbarkeit des Anspruchs aus § 826 BGB einen Restschadensersatzanspruch nach § 852 BGB gegen den Fahrzeughersteller bejaht.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Beklagten scheitert eine Anwendbarkeit von § 852 BGB im Streitfall nicht am Normzweck; § 852 BGB bedarf keiner teleologischen Reduktion. Der Bundesgerichtshof hat § 852 BGB in seinen Entscheidungen vom 21.02.2022 zu VIa ZR 8/21, Rn. 55 bis 62, und VIa ZR 57/21, Rn. 12, auf die Dieselverfahren ausdrücklich für anwendbar erklärt. Er hat auch ausgeführt, seiner Anwendbarkeit stehe nicht die Möglichkeit entgegen, sich an der Musterfeststellungsklage zu beteiligen, so dass auch dieser Einwand der Beklagten fehlgeht. Die Musterfeststellungsklage habe den Rechtsschutz der Verbraucher verbessern und nicht verschlechtern sollen. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">c.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Hat der Ersatzpflichtige durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt, so ist er gemäß § 852 Satz 1 BGB auch nach Eintritt der Verjährung des Anspruchs auf Ersatz des aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Schadens zur Herausgabe nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung verpflichtet. Für die Beurteilung ist nach der Rechtsprechung des BGH eine wirtschaftliche Betrachtung geboten, da es sich bei dem Anspruch aus § 852 BGB um eine Fortsetzung des Schadensersatzanspruchs in einem anderen rechtlichen Kleid handele (BGH, Urteil vom 21.02.2022, VIa ZR 8/21, Rn. 68). Es kommt deshalb nicht darauf an, auf welchem Weg die Vermögensverschiebung stattgefunden hat; insbesondere muss sie sich nicht unmittelbar zwischen dem Ersatzpflichtigen und dem Verletzten vollzogen haben (BGH, Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 68). Soweit der Erwerber aufgrund des ungewollt abgeschlossenen Kaufvertrags nach § 826 BGB geschädigt ist, geht ein daraus resultierender Vermögensvorteil des ihn schädigenden Fahrzeugherstellers daher auch nach § 852 Satz 1 BGB auf seine Kosten (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 71).</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Erlangt und herauszugeben hat die Beklagte nach § 852 Satz 1 BGB in diesem Fall die vom Händler ihr gegenüber erbrachte Leistung. Allerdings gelten für den Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB mit Rücksicht auf seine Rechtsnatur als nach Verjährungseintritt fortbestehender Restschadensersatzanspruch die für den Schadensersatzanspruch bis zum Eintritt der Verjährung anzuwendenden Regeln. Wie der ursprünglich bestehende Schadensersatzanspruch unterliegt deshalb auch der Restschadensersatzanspruch der Vorteilsausgleichung (BGH, Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 83). Zum einen ist deshalb der Wert der gezogenen Nutzungen von dem erlangten Händlereinkaufspreis in Abzug zu bringen. Dies gilt wegen des schadensersatzrechtlichen Bereicherungsverbots auch für diejenigen Nutzungen, die der Geschädigte nach Eintritt der Verjährung gezogen hat. Zum anderen kann die Herausgabe des entsprechend verringerten Händlereinkaufspreises nur Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des erworbenen Kraftfahrzeugs begehrt werden. Insofern erschöpft sich die Bedeutung des ursprünglich geschuldeten Schadensersatzes für den Restschadensersatz im Sinne des § 852 Satz 1 BGB keineswegs in einer bloßen Vergleichsbetrachtung und einer einfachen Limitierung durch den ursprünglichen Zahlbetrag (so aber etwa BeckOGK/Eichelberger, BGB, Stand: 1. Dezember 2021, § 852 Rn. 25 f.; MünchKommBGB/Wagner, 8. Auflage, § 852 Rn. 6). Vielmehr hat die Rechtsnatur des in § 852 Satz 1 BGB geregelten Anspruchs eine dreifache Limitierung zur Folge. Zunächst ist der seitens des Händlers vom Geschädigten vereinnahmte Kaufpreis um die Händlermarge zu reduzieren. Anschließend ist von dem so ermittelten Händlereinkaufspreis der Wert der vom Geschädigten gezogenen Nutzungen in Abzug zu bringen. Und schließlich schuldet der Schädiger Restschadensersatz nur Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des erworbenen Fahrzeugs (BGH, Urteil vom 21. Februar 2022 – VIa ZR 57/21 –, Rn. 16; Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 83).</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">d.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Da es dem geschädigten Käufer freisteht, im Rahmen des Anspruchs aus § 826 BGB statt des „großen“ Schadensersatzes den sogenannten „kleinen“ Schadensersatz zu wählen(BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, Rn. 15), steht ihm diese Wahlmöglichkeit auch im Rahmen des § 852 Satz 1 BGB offen. Denn es handelt sich bei dem Restschadensersatzanspruch aus § 852 Satz 1 BGB um die (lediglich der Höhe nach auf das Erlangte gedeckelte) Fortsetzung des ursprünglichen Schadensersatzanspruchs aus § 826 BGB (s.a. OLG München, Urteil vom 19.05.2022, 24 U 4614/21, Rn. 13).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">e.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt für die Höhe des „kleinen“ Schadensersatzanspruchs ist der Betrag, um den der Kläger „den Kaufgegenstand - gemessen an dem objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung - zu teuer erworben hat“ (BGH, Urteil vom 06.07.202, VI ZR 40/20, Rn. 15, s.a. OLG München, Urteil vom 19. Mai 2022, 24 U 4614/21, Rn. 17). Die Bemessung hat vom objektiven Wert des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses auszugehen, bei dessen Bestimmung die mit der Prüfstanderkennungssoftware verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko dem Kläger nachteiliger behördlicher Anordnungen, zu berücksichtigen sind. Denn das Wertverhältnis der vertraglich geschuldeten Leistungen ändert sich nicht dadurch, dass eine der Leistungen nachträglich eine Auf- oder Abwertung erfährt; der Vertrag wird dadurch nicht günstiger oder ungünstiger (BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, Rn. 23).</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Der Senat schätzt diesen Minderwert zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im vorliegenden Fall gemäß § 287 Abs. 1 ZPO auf 20 % des Bruttokaufpreises, mithin 20 % von 26.400,- € = 5.280,00 €. Da der Schaden bereits im Abschluss des Kaufvertrages über das bemakelte Fahrzeug liegt, ist der Anwendungsbereich des § 287 ZPO eröffnet (vgl. auch in Bezug auf die Bemessung der Schadenshöhe BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, Rn. 10). Die Klagepartei hat zur Darlegung des merkantilen Minderwerts im Zeitpunkt des Abschlusses des streitgegenständlichen Kaufvertrags auf den Parteienvertretern und dem Gericht aus einem Parallelverfahren bekannte Gutachten der Kfz-Sachverständigen B und C Bezug genommen. Das Gutachten B ermittelt einen Minderwert von ca. 20 % bei einem Motor EA 189 zzgl. weiterer 10 % für das Update. Das Gutachten C ermittelt 10-30 % an Minderwert. Das OLG München setzt in seinem Urteil vom 19.05.2022, 24 U 4614, Rn. 17 einen Minderwert von 10 % an. Das OLG Nürnberg schätzt ihn mit Urteil vom 22.09.2021, 12 U 3164/19, Rn. 53, unter Berücksichtigung des Updates auf 15 %. Da das streitgegenständliche Fahrzeug aufgrund des Motors EA 189 konkret von einer Stilllegung bedroht war, hält der Senat im Einklang mit den angeführten Schätzungen einen Minderwert von 20 % für angemessen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der tatsächliche Wert des Fahrzeugs betrug damit bei Erwerb 21.120,00 € (26.400,00 € – 5.280,00 €).</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Bei der Bemessung des kleinen Schadensersatzes sind weiter die vom Geschädigten gezogenen Nutzungen und der Restwert des Fahrzeugs schadensmindernd anzurechnen, allerdings erst dann und nur insofern, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, Rn. 22).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">(a)</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Senat schätzt die Gesamtlaufleistung von Personenkraftwagen mit Dieselmotor in ständiger Rechtsprechung regelmäßig auf 300.000 km. Nach der vom BGH in ständiger Rechtsprechung für zutreffend erachteten Formel (vgl. nur Urteil vom 24.01.2022, VI a ZR 100/21, Rn. 24) ermittelt sich bei Ansatz der von der Klägerin zum Zeitpunkt der mündlichen Berufungsverhandlung gefahrenen Kilometer folgende Nutzungsentschädigung:</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">(142.431 km – 15 km) x 26.400,- €</span> = 12.533,24 €</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks"> 300.000 km – 15 km</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">(b)</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Den ebenfalls als Vorteil zu berücksichtigenden Restwert des streitgegenständlichen Fahrzeugs schätzt der Senat auf Grundlage der Wertermittlung durch die Internetseite der „D“ (Internetadresse 1) auf 6.500,00 €. Die Bewertung berücksichtigt die Postleitzahl des Eigentümers, die Erstzulassung, den Fahrzeugtyp nach Fahrzeugschein und die konkrete Laufleistung.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(c)</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Nach dem Urteil des BGH vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, Rn. 24, ist eine etwaige Aufwertung des Fahrzeugs durch das Software-Update als nachträgliche Maßnahme der Beklagten, die gerade der Beseitigung der Prüfstanderkennungssoftware dienen sollte, als Vorteil zu berücksichtigen. Die Beweislast liegt insoweit bei der Beklagten. Die Beurteilung, ob und inwieweit sich durch das Software-Update die Wertdifferenz zwischen Leistung und Gegenleistung reduziert habe, bleibt dem Betragsverfahren vorbehalten, genauso wie die Frage, ob und inwieweit sich Nachteile tatsächlicher und rechtlicher Art, die dem Vortrag der Klägerin zufolge mit dem Software-Update verbunden sein sollen (Stilllegungsgefahr wegen Thermofenster, Risiken technischer Art, Gefahr von Steuernachforderungen), auf die Bewertung dieses Vorteils auswirken.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Da durch das Update das Risiko der Betriebsuntersagung gebannt worden ist, denn eine solche ist nach Prüfung und Freigabe des Updates durch das KBA nicht mehr zu erwarten, liegt aus Sicht des Senats in dem Update grundsätzlich ein zu berücksichtigender Vorteil, auch wenn diskutiert wird, ob ein im Update etwa vorhandenes Thermofenster Folgeschäden zu verursachen geeignet ist. Dieser mögliche Vorteil des Updates schlägt sich – genauso wie etwaige Nachteile - vorliegend aber bereits im schon abgezogenen Restwert nach Internetadresse 1 nieder, und bedarf keiner gesonderten Bewertung. Die dortigen Preise geben die aktuellen Marktpreise wieder. Sie beziehen sich regelmäßig auf fahrbereite Fahrzeuge, mithin Fahrzeuge, die über das Update verfügen müssen, denn sonst wären sie stillgelegt. Gesichtspunkte, die darüber hinaus eine Bewertung erfordern, vermag der Senat nicht zu erkennen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Summe der auf Seiten der Klägerin nach diesem Maßstab anzurechnenden Vorteile beträgt damit 19.033,24 € (12.533,24 € + 6.500,00 €) und übersteigt den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs von 21.120,00 € nicht.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">(d)</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der „kleine“ Schadensersatzanspruch der Klägerin nach § 852 BGB ist jedoch in seiner Höhe nicht nur durch den seiner Berechnung im Ansatz zugrunde liegenden „kleinen“ Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB limitiert, sondern insbesondere durch das von der Beklagten Erlangte, welches wie unter 5 c. ausgeführt einer dreifachen Limitierung unterliegt. Denn der verjährte Anspruch aus § 826 BGB bleibt zwar als solcher bestehen, wird aber in seinem durchsetzbaren Umfang auf das durch die unerlaubte Handlung auf Kosten des Geschädigten Erlangte beschränkt, soweit es nach Maßgabe der bereicherungsrechtlichen Vorschriften zu einer Vermögensmehrung des Ersatzpflichtigen geführt hat (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 51 - 53). Dies korrespondiert damit, dass die Wahlmöglichkeit zwischen „kleinem“ und „großem“ Schadensersatz nur der Dispositionsfreiheit des Geschädigten mit Blick auf die Frage dient, ob er das erworbene Auto behalten oder zurückgeben möchte. Die Wahl des „kleinen“ Schadensersatzes soll den Geschädigten nicht wirtschaftlich besser stellen als er bei der Wahl des „großen“ Schadensersatzes stünde.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Damit ist abschließend ein betragsmäßiger Vergleich mit dem „großen“ Schadensersatz nach § 852 BGB vorzunehmen. Nur der niedrigere der beiden Beträge steht der Geschädigten zu.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Hierfür sind zunächst vom Bruttokaufpreis die Händlermarge sowie der Wert der gezogenen Nutzungen in Form der gefahrenen Kilometer abzuziehen. Zusätzlich ist der Restwert des Fahrzeugs in Abzug zu bringen, da die Klägerin dieses Zug um Zug gegen die Zahlung an die Beklagte hätte herausgeben müssen. Da die Beklagte dem von der Klägerin angeführten und vom Senat in der mündlichen Verhandlung geschätzten Ansatz von 15 % Händlermarge nicht entgegengetreten ist, ergibt sich folgende Rechnung:</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">26.400,00 € - 3.960,00 € - 12.533,24 € - 6.500 = 3.406,76 €</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der so ermittelte Betrag des von der Beklagten Erlangten in Höhe von 3.406,76 € liegt niedriger als der unter 5.e. ermittelte Minderwert des streitgegenständlichen Fahrzeugs von 5.280,00 €. Der Anspruch der Klägerin nach § 852 BGB ist nach den vorgenannten Grundsätzen auf den niedrigeren Betrag begrenzt.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">f.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte kann diesem Anspruch nicht mit Erfolg die Einrede der Verjährung entgegenhalten. Zum einen unterliegt der Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB gemäß § 852 Satz 2 BGB einer Verjährungsfrist von zehn Jahren ab seiner Entstehung, die bei weitem nicht abgelaufen ist. Zum anderen handelt es sich bei Geltendmachung des kleinen Schadensersatzes anstelle des großen wie ausgeführt nur um eine andere Berechnung des Vertrauensschadens, so dass die hiesige Klage geeignet gewesen ist, die Verjährung auch bezüglich der erst 2022 geänderten Klageanträge zu unterbrechen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">6.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von mit der Berufung weiterverfolgten 2.025,36 €.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Der Geltendmachung dieser Schadensposition nach § 826 BGB kann die Beklagte erfolgreich die Einrede der Verjährung entgegensetzen. Dies hat der BGH in seinen Urteilen vom 21.02.2022, VIa ZR 8/21 und VIa ZR 57/21 für dem vorliegenden Fall vergleichbare Konstellationen festgestellt. Nach dem Grundsatz der Schadenseinheit gilt der gesamte Schaden, der auf einem bestimmten einheitlichen Verhalten beruht, mit der ersten Vermögenseinbuße als eingetreten, sofern mit weiteren wirtschaftlichen Nachteilen bereits beim Auftreten des ersten Schadens gerechnet werden kann. Die Verjährung des Ersatzanspruchs erfasst damit auch solche nachträglich eintretenden Schäden, die im Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs und der Kenntnis des Gläubigers vom Erstschaden als möglich voraussehbar waren. Tritt eine als möglich vorhersehbare Spätfolge ein, wird für sie keine eigene Verjährungsfrist in Lauf gesetzt (BGH, Urteile vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 74 ff.; VIa ZR 57/21, Rn. 19 ff., mwN). Die Erwägungen, die zu dem Ergebnis führen, der Anspruch auf Leistung von Schadensersatz in Höhe des verauslagten Kaufpreises sei verjährt, greifen daher auch hier.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Eine Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten folgt auch nicht aus § 852 Satz 1 BGB. Nach § 852 BGB muss der Schädiger nicht mehr für einen Schaden einstehen, dem auf seiner Seite kein eigener wirtschaftlicher Vorteil entspricht. Die Vermögensnachteile, die der Klägerin durch die Beauftragung der Rechtsanwälte mit der vorgerichtlichen Geltendmachung ihres Schadensersatzanspruchs entstanden sind, haben nicht zu einer Vermögensmehrung bei der Beklagten geführt (vgl. BGH, Urteile vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 77; VIa ZR 57/21, Rn. 21, jew. mwN).</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist auch nicht aus § 280 Abs. 1 und 2, § 286 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt des Schuldnerverzugs zum Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten der Klägerin verpflichtet. Die Klägerin behauptet mit ihrer Klageforderung einen Verzugseintritt aufgrund des Schreibens ihrer vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten. Die Kosten der den Verzug begründenden Mahnung stellen aber keinen Schaden infolge des Verzugs dar (BGH, Urteile vom 21. Februar 2022, VIa ZR 8/21, Rn. 78; VIa ZR 57/21, Rn. 22).</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 97 Abs. 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit findet seine Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Revision wird nicht zugelassen, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert des Rechtsstreits 1. Instanz war von Amts wegen abweichend von der landgerichtlichen Streitwertfestsetzung auf 17.665,19 € herabzusetzen, § 63 III Nr. 2 GKG (Antrag zu 1): 17.665,19 € (Kaufpreis von 26.400,- €, auf den sich die Klägerin unter Ansatz von 75 % Bruttokaufpreis Nutzungsvorteile in Höhe von 8.734,81 € nach dem einzigen bekannten Kilometerstand per dortiger mündlicher Verhandlung hat anrechnen lassen wollen); Antrag zu 2): kein eigenständiger Streitwert wegen wirtschaftlicher Identität mit dem Antrag zu 1), § 3 ZPO; Antrag zu 3): -, § 4 ZPO). Die landgerichtliche Festsetzung des Streitwerts auf bis 30.000,- € lässt unberücksichtigt, dass die Klägerin sich mit den von ihr bereits in 1. Instanz formulierten Klageanträgen die von ihr gezogenen Nutzungsvorteile auf den geltend gemachten Kaufpreisrückzahlungsanspruch anrechnen lässt. Ihr wirtschaftliches Interesse war daher von Anfang an lediglich auf den um die Nutzungsvorteile reduzierten saldierten Betrag gerichtet.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt bis 11.07.2022 14.753,59 € (26.400,- € - 11.646,41 €), ab dem 12.07.2022 (Tag nach der Zustellung des geänderten Antrags) 6.600,- €.</p>
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346,772 | ovgnrw-2022-08-23-12-b-81922 | {
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<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO erfolgte Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führt nicht zur Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig bis zu einer Entscheidung im Widerspruchsverfahren Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für den Besuch der I. schule in C. /C1. zu gewähren, abgelehnt. Die für die begehrte Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Erfolgsaussichten lägen nicht vor. Die Beschulung an der I. schule stelle keine geeignete Maßnahme zur Ermöglichung einer angemessenen Schulbildung dar. Aufgrund der bestandskräftigen Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs (Bescheid vom 21. Februar 2019) stehe fest, dass die Antragstellerin eine sonderpädagogische Unterstützung mit dem Förderschwerpunkt Lernen benötige. Das sei bei der I. schule, die keine Förderschule sei und nicht ersichtlich sonderpädagogisch qualifiziertes Personal beschäftige, nicht gewährleistet. Ferner sei eine Beschulung im staatlichen Schulsystem nicht unmöglich oder unzumutbar. Auch der Vortrag der Antragstellerin, sei habe bei der Hospitation in der Förderschule U.------weg gemerkt, dass sie sozial und lebenspraktisch viel weiter entwickelt sei und deswegen wieder eine Sonderrolle inne gehabt habe, zeige dies nicht. Es fehle ferner ein Bericht der Förderschule, aus dem sich die Ungeeignetheit einer dortigen Beschulung ergeben könnte. Soweit der Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie Ostermann unter dem 12. Juli 2021 ausführe, die Antragstellerin sei für den Förderbereich Lernen zu leistungsstark, sei u. a. nicht ersichtlich, wer dies konstatiert habe. Darüber hinaus sei auch kein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden, weil nicht erkennbar sei, dass die Antragstellerin bzw. ihre Eltern die Schulkosten nicht zumindest vorläufig (weiterhin) selbst übernehmen könnten. Schließlich dürfte es wegen der nur wenigen im Schulhalbjahr bis zu den Sommerferien verbleibenden Wochen an einer Eignung der Hilfe und damit einem Anordnungsanspruch fehlen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die mit der Beschwerde dagegen erhobenen Einwendungen der Antragstellerin führen nicht zum Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist sowohl mit dem Haupt- als auch mit dem erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Hilfsantrag bereits unzulässig. Bei einem Rechtsstreit um die Gewährung von Jugendhilfe kann ebenso wie im Bereich der Sozialhilfe ein Hilfeanspruch grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Oktober 2021 - 12 A 2661/20 -, juris Rn. 5, vom 8. Oktober 2020 - 12 E 450/20 -, juris Rn. 8, und vom 14. Juli 2020 - 12 B 1488/19 -, juris Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Eine ausdrückliche Regelung trifft der ablehnende Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Februar 2022 zu dem Zeitraum, über den mit ihm entschieden worden ist, nicht.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Regelmäßig ist von der Regelung der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung erfasst. Ein abweichender Bewilligungszeitraum kann ausdrücklich benannt sein, kann sich aber auch durch Auslegung aus dem maßgeblichen Bescheid ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Oktober 2021 - 12 A 2661/20 -, juris Rn. 5, vom 8. Oktober 2020 - 12 E 450/20 -, juris Rn. 8, und vom 14. Juli 2020 - 12 B 1488/19 -, juris Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Entsprechendes gilt im Fall der Ablehnung einer solchen Bewilligung. Auch der eine Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich durch Auslegung aus dem maßgeblichen Bescheid ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Oktober 2020 - 12 E 450/20 -, juris Rn. 8, und vom 14. Juli 2020 - 12 B 1488/19 -, juris Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dabei ist der auch im Jugendhilferecht geltende Grundsatz zeitabschnittsweiser Bewilligung zu berücksichtigen. Denn Voraussetzungen für eine Bewilligung sind auf der Grundlage der jeweils bestehenden Verhältnisse, die sich ändern können, immer wieder neu vom Träger der Jugendhilfe zu prüfen. Nur wenn die bei der vorangegangenen Hilfe gegebenen Verhältnisse fortbestehen, wird die konkrete Jugendhilfemaßnahme in gleicher Art auch für den nachfolgenden Zeitabschnitt erbracht. Ergeben sich hingegen Änderungen, wird nur entsprechend dem neuen Bedarf geleistet. Zur aktuellen Feststellung dieses Bedarfs dient grundsätzlich auch das Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII), mit dessen Sinn und Zweck sich die einmalige Gewährung einer Maßnahme bis zum Erreichen eines bestimmten Alters kaum vereinbaren ließe.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Dezember 2003 - 12 E 945/02 -, juris Rn. 1.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Für den hier streitgegenständlichen Hilfebedarf geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es naheliegt, die Zeitabschnitte, die zu einer weiteren Prüfung des Hilfebedarfs Anlass geben können und deshalb den Regelungszeitraum einer Bescheidung naturgemäß begrenzen, bei Hilfen, die mit der Schulbildung im Zusammenhang stehen, nach Schuljahren zu bestimmen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Oktober 2021 - 12 A 2661/20 -, juris Rn. 7, und vom 14. Juli 2020 - 12 B 1488/19 -, juris Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Danach ist hier eine Regelung nur bis zum Ende des Schuljahres 2021/2022 getroffen worden, das allerdings bereits bei Einlegung der Beschwerde beendet war. Dass die Entscheidung im Widerspruchsverfahren hier noch aussteht, steht mit Blick auf den Grundsatz der zweitabschnittweisen Bewilligung diesem Regelungsgegenstand nicht entgegen. Vielmehr zeigt das von der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren u. a. angeführte Schreiben der Bezirksregierung L. vom 2. Februar 2022, in dem den Eltern der Antragstellerin die "Beendigung der sonderpädagogischen Unterstützung" (gemeint möglicherweise: Aufhebung der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs) mitgeteilt wird, dass zwischenzeitlich möglicherweise ein maßgeblich veränderter jugendhilferechtlicher Hilfebedarf eingetreten ist oder dieser sogar (teilweise) entfallen ist. Die Sachgerechtigkeit der - im Schulbereich regelmäßig auf Schuljahre oder sogar nur auf Schulhalbjahre begrenzten - zeitabschnittsweisen Bewilligung kommt darin gerade zum Ausdruck. Ob und welcher Hilfebedarf auch für die folgenden Schuljahre gegeben ist, bedarf einer neuen Überprüfung durch den Jugendhilfeträger auf der Grundlage der (gegebenenfalls) veränderten Verhältnisse.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von in der Vergangenheit liegenden Bewilligungszeiträumen besteht im verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz regelmäßig - so auch hier - nicht. Der erstmals im Beschwerdeverfahren hilfsweise gestellte Antrag auf Verpflichtung zur Bewilligung von Eingliederungshilfe (Übernahme Privatschulkosten) für das erste Schulhalbjahr 2022/2023 ist - unabhängig von der Frage der Statthaftigkeit einer darin möglicherweise liegenden Antragserweiterung - aus den genannten Gründen ebenfalls unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist außerdem - auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens - mit seinem Haupt- und Hilfsantrag unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Die für die hier mit dem Antrag begehrte Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Erfolgsaussichten liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dies dürfte allerdings nicht bereits daraus folgen, dass die Beschulung an der I. schule deswegen als ungeeignete Hilfemaßnahme angesehen werden müsste, weil die Bezirksregierung L. mit Bescheid vom 21. Februar 2019 festgestellt hat, dass für die Antragstellerin Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung mit dem Förderschwerpunkt Lernen besteht und dieser, wie erstinstanzlich festgestellt, an der I.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"> schule nicht hätte gewährleistet werden können. Denn die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren ein an ihre Eltern gerichtetes Schreiben der Bezirksregierung L. vom 2. Februar 2022 vorgelegt, wonach "nach Überprüfung der eingereichten Unterlagen" die sonderpädagogische Förderung "beendet" werde. Dieses Schreiben legt nahe, dass seitens der für die Feststellung des Förderbedarfs nach der "Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung" (AO-SF) zuständige Bezirksregierung kein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf mehr gesehen wird. Allerdings wird weder nachvollziehbar, auf der Grundlage welcher (eingereichter) Unterlagen diese Entscheidung getroffen worden ist, noch welche Motivlage der auf Anfrage der I. Privatschule, nicht der Antragstellerin oder ihrer Eltern, erfolgten Überprüfung zugrunde lag.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon liegt indessen ein Anordnungsanspruch gleichwohl nicht vor, weil nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit eine Beschulung an einer öffentlichen Schule unmöglich oder unzumutbar ist bzw. die begehrte Beschulung an der I. Privatschule die einzige in Betracht kommende Möglichkeit für eine angemessene Schulbildung darstellt. Nur dann, wenn sich der dem Jugendhilfeträger bei der Entscheidung über die Art und Weise der Gewährung der Hilfeleistung zukommende Beurteilungsspielraum in dieser Weise verengt hat, besteht ein Anspruch auf die begehrte Hilfemaßnahme.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 4. August 2022 - 12 A 1205/21 -, juris, vom 30. März 2020 - 12 A 1896/17 -, juris Rn. 8 m. w. N., vom 20. September 2017 - 12 B 989/17 -, juris Rn. 8, 11, Urteil vom 11. August 2015 - 12 A 1350/14 -, juris Rn. 91.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beruft sich in diesem Zusammenhang im Wesentlichen darauf, dass die zweiwöchige Hospitation in der Förderschule "Am U.------weg " ausgereicht habe, um das Schulsystem kennen zu lernen und um einschätzen zu können, dass es ungeeignet sei, die Teilhabebeeinträchtigung zu mindern oder gar zu beseitigen. Dass eine solche eigene Einschätzung nicht ausreichend ist, eine fachlich fundierte, hier offenbar u. a. auch auf der Grundlage des umfassenden Sonderpädagogischen Gutachtens aus dem Jahr 2019 getroffene Entscheidung über den Hilfebedarf in Frage zu stellen, hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend dargestellt (vgl. Seite 5 der Beschlussabschrift). Soweit die Beschwerde erneut auf den Arztbrief des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie P. vom 24. Februar 2022 verweist, wonach sich gezeigt habe, dass die Antragstellerin an der Förderschule unterfordert gewesen sei, ist nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage der Facharzt diese Aussage getroffen hat. Insbesondere ist diese Einschätzung, wie die Beschwerde aber möglicherweise meint, nicht rechtlich bindend. Die Auswahl der konkret geeigneten Hilfemaßnahmen unterliegt vielmehr der Beurteilung des Jugendamtes. Jedenfalls bietet die Einschätzung des Facharztes keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass für die Antragstellerin ausschließlich die Beschulung an der I. schule in Betracht kommt. Entsprechendes gilt für die im Beschwerdeverfahren vorgelegte eidesstattliche Versicherung des Vaters der Antragstellerin, wonach die Förderschule nicht geeignet gewesen sei, weil die Antragstellerin dort zu den Besten der Klasse gehört habe und ihr die dadurch entstandene Sondersituation missfallen habe.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Beschwerde kann die Antragstellerin nichts für sich daraus herleiten, dass die Antragsgegnerin ihr keine (weiteren) konkreten Beschulungsalternativen benannt hat. Die Antragstellerin besuchte bereits mit Beginn des Schuljahres 2021/22 die I. schule und lehnte neben dem Besuch einer Förderschule auch den Besuch einer Gesamtschule (nicht nur der in der Vergangenheit besuchten Gesamtschule J ) ab, obwohl dies nach dem Sonderpädagogischen Gutachten in Betracht kam. Der Hinweis der Beschwerde, eine Beschulung an einer (anderen) Gesamtschule stehe in diametralem Widerspruch zu den Ausführungen der Gesamtschule J im Schulbericht, lässt jedenfalls im vorliegenden Eilverfahren nicht erkennen, dass eine Beschulung an einer öffentlichen Schule, gegebenenfalls mit ergänzenden Hilfen, unzumutbar (gewesen) wäre.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</p>
|
346,771 | ovgnrw-2022-08-23-10-d-25420ne | {
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<p>Der Bebauungsplan „Q. -N.-straße / T.-straße “ der Stadt N1. ist unwirksam.</p>
<p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Antragsgegnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 von Hundert des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Antragstellerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 von Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin wendet sich gegen den Bebauungsplan „N.-straße / T.-straße – Q.“ der Stadt N1. (im Folgenden: Bebauungsplan). Sie ist seit Februar 2017 Eigentümerin der im Plangebiet gelegenen Grundstücke Gemarkung T1., Flur 37, Flurstücke 72 (N.-straße 81 und F.-straße 5) und 74 (F.-straße 1-3).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Plangebiet ist nahezu identisch mit dem des 1970 in Kraft getretenen Bebauungsplans „N.-straße /F1.-straße – Q.“ (im Folgenden: Vorgängerbebauungsplan).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Es ist nördlich der F1.-straße entlang der T.-straße und der I.-straße mit Doppelhäusern bebaut. In diesem Teilbereich befinden sich auch zwei ursprünglich als Schulgebäude genutzte Baudenkmäler. Südlich der F1.-straße stehen auf den großen Grundstücken der Antragstellerin drei achtgeschossige Wohngebäude. Östlich davon gibt es eine öffentliche Grünfläche mit Spielplatz. Daran schließen sich weiter östlich drei- und viergeschossige Wohnhäuser und entlang der N2.-straße eine Blockrandbebauung mit zwei- bis dreigeschossigen Gebäuden aus der Gründerzeit an.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Aufstellungsverfahren nahm im Wesentlichen folgenden Verlauf: Der Planungsausschuss beschloss in seiner Sitzung am 20. September 2016 die Aufstellung des Bebauungsplans.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Nach der frühzeitigen Beteiligung der Öffentlichkeit und der Behörden im Jahre 2016 gab es nach der Planbegründung Bestrebungen eines Investors für eine bauliche Nachverdichtung auf den Grundstücken der Antragstellerin. Es seien zwar mehrere Bebauungsvorschläge erörtert worden, doch habe letztlich „auf eine Nachverdichtung an dieser Stelle verzichtet werden“ sollen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Planentwurf mit der Begründung lag in der Zeit vom 26. März 2019 bis zum 28. Mai 2019 öffentlich aus. Die Antragstellerin gab hierzu keine Stellungnahme ab. Parallel dazu fand die Beteiligung der Behörden und der sonstigen Träger öffentlicher Belange statt. Der Rat beschloss den Bebauungsplan in seiner Sitzung am 10. Oktober 2019 als Satzung. Der Satzungsbeschluss wurde im Amtsblatt vom 15. November 2019 bekannt gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan setzt ein gegliedertes Allgemeines Wohngebiet (WA<sub>1</sub> bis WA<sub>11</sub>) fest. Für die Grundstücke der Antragstellerin, die im WA<sub>8</sub> liegen, bestimmt er eine Grundflächenzahl von 0,4, lässt maximal acht Vollgeschosse zu und setzt Baugrenzen jeweils entlang der Außenwände der drei vorhandenen achtgeschossigen Wohngebäude fest.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nach der Planbegründung sollen die Festsetzungen des Bebauungsplans an den Bestand angepasst und moderate bauliche Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen werden. Die Nutzung des Schulgebäudes an der T.-straße sei bereits eingestellt worden. Der Vorgängerbebauungsplan habe dort eine große Fläche für eine Nutzung als Schule vorgesehen und keine Festsetzungen für die vorhandene Wohnbebauung getroffen. Diese Wohnbebauung solle nunmehr gesichert und fortentwickelt werden. Auch der Standort der Grundschule an der N2.-straße solle in absehbarer Zeit aufgegeben werden. Für diese Flächen, zu denen auch die der Turnhalle und des Bolzplatzes gehörten, schaffe der Bebauungsplan die planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Entwicklung von Wohnbebauung. Südlich der F1.-straße solle im Wesentlichen der Bestand gesichert werden. Der Rat wolle mit dem Bebauungsplan Potenziale für eine Innenentwicklung nutzen, künftige Bebauung in einen bereits besiedelten Bereich lenken und damit eine moderate Nachverdichtung ermöglichen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat am 12. November 2020 den Normenkontrollantrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Ihr Rechtsschutzbedürfnis stehe außer Frage, zumal der Vorgängerbebauungsplan unwirksam sei. Seine Festsetzungen zur zulässigen Höhe baulicher Anlagen seien unbestimmt, weil der jeweils untere Bezugspunkt für die Bestimmung der Bauhöhen nicht festgelegt sei. Zudem fehle der Beitrittsbeschluss des Rates zur Genehmigung des Vorgängerbebauungsplans durch die Landesbaubehörde S.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan sei wegen seiner fehlerhaften Ausfertigung unwirksam. Für die textliche Festsetzung Nr. 7 Abs. 5, die zudem unbestimmt sei, fehle eine Ermächtigungsgrundlage. § 9 Abs. 1 Nr. 24 BauGB gestatte nur die Festsetzung von konkreten baulichen und sonstigen Vorkehrungen. Solche Vorkehrungen seien auf der Planurkunde nicht einmal ansatzweise genannt. Selbst bei einer Heranziehung der Planbegründung sei eine eindeutige Auslegung der Festsetzung, in der nur von Vorkehrungen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen die Rede sei und die keine Beschränkung auf bauliche oder technische Maßnahmen enthalte, nicht möglich.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auch die textliche Festsetzung Nr. 7 Abs. 3 sei unbestimmt. Die zeichnerischen Festsetzungen sähen insoweit nur einen Bereich mit einer Lärmbelastung größer 60 dB(A) und einen solchen mit einer Lärmbelastung kleiner/gleich 60 dB(A) vor. Es sei unklar, ob der Bereich, in dem die Lärmbelastung größer 60 dB(A) sei, im Süden der zeichnerischen Eintragung nur bis zu der dort festgesetzten öffentlichen Verkehrsfläche reiche oder ob dazu auch das Plangebiet südlich dieser öffentlichen Verkehrsfläche gehöre. Die Planbetroffenen könnten auch nicht erkennen, welcher konkreten Lärmbelastung ihre jeweiligen Grundstücke ausgesetzt seien. Die entsprechenden Isophonlinien hätten entweder in der Planzeichnung selbst oder in einem Beiblatt zur Planurkunde eingezeichnet werden müssen, um eine parzellengenaue Abgrenzung der verschiedenen Lärmpegelbereiche kenntlich zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan beruhe zudem auf Abwägungsfehlern. Der Belang der Innenentwicklung sei bei der Abwägungsentscheidung nicht ausreichend berücksichtigt worden. In der Planbegründung sei der Belang der Innenentwicklung zwar unter Nr. 3.2 „Ziele der Planung“ behandelt worden, doch beschränkten sich sämtliche Maßnahmen der Nachverdichtung auf den Teilbereich nördlich der F1.‑straße. Im Vergleich zum Vorgängerbebauungsplan seien überdies die ehemals großzügig festgesetzten überbaubaren Grundstücksflächen durch eng um die vorhandenen Gebäude gezogene Baugrenzen so verkleinert worden, dass die Errichtung neuer Gebäude nur nach Beseitigung des bisherigen Baubestandes möglich sei. Auch die maximal zulässige Gebäudehöhe entspreche der Höhe der vorhandenen Bebauung, sodass im Ergebnis jede Nachverdichtung auf den Grundstücken südlich der F1.-straße unmöglich sei. Es sei auch nicht erkennbar, dass das Prinzip der Innenentwicklung zugunsten anderer, vom Rat als höherrangig eingestufter öffentlicher oder privater Belange zurückgestellt worden sei. Die Aussage, dass zusätzliche Baukörper in den Bereichen F1.-straße und N.-straße nicht geplant seien, lasse keinen Rückschluss auf eine hinter dieser Aussage stehende Abwägung erkennen. Der Rat gebe keine Begründung dafür, weshalb die innerhalb des Plangebiets gelegenen beträchtlichen innerstädtischen Freiflächen uneingeschränkt erhalten bleiben sollen. Ebenso wenig lasse sich eine solche Begründung aus den Aufstellungsvorgängen entnehmen. Im Aufstellungsverfahren sei nur untersucht worden, ob sich ein alternativer Standort für den veralteten Bolzplatz im Plangebiet finden lasse. Dies sei angesichts der Größe und Lage ihrer, der Antragstellerin, Grundstücke, die unmittelbar an eine rund 7.600 qm große öffentliche Grünfläche mit Spielplatz angrenzten, nicht nachvollziehbar, zumal die großen begrünten Freiflächen auf ihren Grundstücken im Privateigentum stünden. Im Verhältnis zur Größe ihrer Grundstücke seien die dafür gegebenen Nutzungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Dem Rat hätte sich aufdrängen müssen, diese Umstände unter den Aspekten des angespannten Wohnungsmarktes und der Innenentwicklung stärker in den Blick zu nehmen. Stattdessen sei er offenbar fälschlich davon ausgegangen, dem Aspekt der Innenentwicklung durch die Festsetzungen in dem Teilbereich zwischen der T.‑straße und der F1.-straße ausreichend Rechnung getragen zu haben. Auch eine unvollständige Abwägung sei fehlerhaft.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">den Bebauungsplan der Stadt N1. „N.-straße / T.‑straße – Q.“ für unwirksam zu erklären.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">den Antrag abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Sie trägt vor, der Antragstellerin fehle bereits das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag. Die planungsrechtliche Situation würde sich auch bei einem Erfolg des Normenkontrollantrags nicht zu ihren Gunsten ändern, da dann der Vorgängerbebauungsplan mit nahezu identischen Festsetzungen wieder aufleben würde. Da der Rat mit dem Bebauungsplan deutlich gemacht habe, dass eine Erweiterung der Bebauungsmöglichkeiten im südlichen Plangebiet nicht in Betracht komme, sei nicht zu erwarten, dass er – sollte sich der Bebauungsplan als unwirksam erweisen – einen neuen Bebauungsplan aufstellen werde, dessen Festsetzungen für die Antragstellerin möglicherweise günstiger wären.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Antrag sei auch unbegründet. Die Ausfertigung sein nicht wegen des in der Unterschriftenleiste auf der Planurkunde fehlenden Datums des Satzungsbeschlusses unwirksam. Die Einwände der Antragstellerin gegen die textlichen Festsetzungen Nr. 7 Abs. 3 und 5 seien unbegründet. Der Begriff „Schallschutzmaßnahmen“ umfasse denknotwendig bauliche Maßnahmen, die schädliche Umwelteinwirkungen abwehren sollten. Das „natürliche“ Schallschutzmaßnahmen gemeint sein könnten, sei auch angesichts der geringen Distanz zu den Verkehrsflächen fernliegend.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Isophonlinie veranschauliche eindeutig die Bereiche mit Lärmbelastungen größer beziehungsweise kleiner/gleich 60 dB(A). Die Planbetroffenen könnten anhand der Planurkunde in Verbindung mit den in der schalltechnischen Untersuchung betrachteten Immissionsorten eindeutig die für ihre jeweiligen Grundstücke prognostizierten Lärmbelastungen ermitteln und erkennen, ob die Grundstücke in dem Bereich lägen, in dem gegebenenfalls Schallschutzmaßnahmen erforderlich seien.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die durch den Vorgängerbebauungsplan festgelegten Bebauungsmöglichkeiten im Südlichen Teil des Plangebiets blieben erhalten. Der Plangeber sei nicht verpflichtet, jedes einzelne Grundstück innerhalb eines Plangebiets für Maßnahmen der Innenentwicklung vorzusehen. Eine solche habe der Rat als Abwägungsdirektive sehr wohl im Blick gehabt. Er habe aber keine städtebaulich adäquate Möglichkeit gesehen, insbesondere auf den Grundstücken der Antragstellerin eine größere bauliche Ausnutzung zu ermöglichen, die auch der Unterbringung des ruhenden Verkehrs, dem Nachbarschutz sowie dem Schutz der Bäume und des Klimas Rechnung getragen hätte. Im Bewusstsein der planungsrechtlichen Situation sei der Rat davon ausgegangen, dass der fragliche Bereich bereits bebaut sei. Auch wenn die Freiflächen auf den Grundstücken der Antragstellerin auf den ersten Blick großzügig dimensioniert erschienen, kämen sie nur in eingeschränktem Umfang für eine potenzielle Erweiterung der Bebauung in Betracht. Vor den Außenwänden der drei achtgeschossigen Wohngebäude seien jeweils Abstandsflächen mit einer erheblichen Tiefe von Bebauung freizuhalten. Auch lägen die notwendigen Rettungswege und Aufstellflächen für die Feuerwehr innerhalb dieser Freiflächen. Eine bauliche Nachverdichtung auf den Grundstücken der Antragstellerin würde zudem den dort vorhandenen Hochhäusern die ihnen im Vorgängerbebauungsplan zugedachte Funktion als städtebauliche Dominante nehmen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Festschreibung der bestehenden städtebaulichen Situation auf den Grundstücken der Antragstellerin sei weder willkürlich noch unverhältnismäßig. Für die Sicherung des „status quo“ sprächen mehrere städtebaulich relevante öffentliche Belange. Der in der Abwägung zu berücksichtigende öffentliche Belang, sparsam und schonend mit Grund und Boden umzugehen, stehe mit dem Plankonzept nicht im Widerspruch. Es gebe keine Verpflichtung, bereits bebaute Flächen durch die Festsetzung weiterer Bebauungsmöglichkeiten weiter baulich zu verdichten.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs habe die Antragstellerin keine Bedenken gegen die nun von ihr beanstandeten Festsetzungen des Bebauungsplans vorgetragen. Für den Rat sei mithin nicht erkennbar gewesen, dass der Wunsch der Antragstellerin, die Bebauung auf ihren Grundstücken wesentlich zu erweitern, in die Abwägung einzustellen gewesen wäre. Die Erwartung der Planbetroffenen, dass sich durch die Planung die planungsrechtlichen Bedingungen generell zu ihren Gunsten verbessern würden, sei nicht schutzwürdig und damit bei der Abwägung nicht zu beachten.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Aufstellungsvorgänge (Beiakten Hefte 1 bis 9) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin ist nach § 47 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Die Antragsbefugnis wegen einer möglichen Eigentumsverletzung ist grundsätzlich zu bejahen, wenn sich – wie hier – der Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks gegen eine Festsetzung des Bebauungsplans wendet, die unmittelbar sein Grundstück betrifft und damit Inhalt und Schranken seines Grundeigentums bestimmt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Ist die Antragsbefugnis des Antragstellers zu bejahen, hat er regelmäßig auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse für den Normenkontrollantrag, es sei denn, dessen Ergebnis wäre für ihn wertlos, weil es seine Rechtsstellung nicht verbessern würde.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. August 2020 – 4 CN 4.19 –, juris, Rn. 10 f.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Für die Überprüfung eines Bebauungsplans kann es ein Rechtschutzinteresse auch dann geben, wenn – würde der Plan für unwirksam erklärt – ein älterer, für den Antragsteller ungünstigerer Bebauungsplan wieder aufleben würde, sofern nach den jeweiligen Fallumständen die Prognose gerechtfertigt ist, dass der Plangeber bei einem Erfolg des Normenkontrollantrags einen neuen Bebauungsplan aufstellen würde, der für den Antragsteller möglicherweise günstigere Regelungen enthielte.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. September 1997 – 4 BN 17.97 –, und vom 14. März 2018 – 6 BN 3.17 –, juris, Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Danach ist jedenfalls dann von einem Rechtsschutzinteresse eines Antragstellers auszugehen, wenn der Plangeber bei einem Erfolg des Normenkontrollantrags nach § 1 Abs. 3 BauGB objektiv-rechtlich zur Neuplanung verpflichtet wäre oder er hat erkennen lassen, dass er unabhängig davon einen neuen Bebauungsplan aufstellen würde, der für den Antragsteller möglicherweise günstigere Festsetzungen enthielte. Für die Annahme eines Rechtsschutzinteresses in der hier gegebenen Situation ist allein maßgeblich, ob überhaupt damit zu rechnen ist, dass ein neuer Bebauungsplan aufgestellt werden würde. Bejahendenfalls ist es angesichts des nunmehr geäußerten konkreten Interesses der Antragstellerin an einer baulichen Nachverdichtung ihrer Grundstücke und einer Berücksichtigung dieses Interesses bei einer künftigen Abwägung jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass ein solcher Bebauungsplan insoweit für sie günstiger sein könnte als die bisherigen Pläne. Danach ist von einem Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin, die dargelegt hat, dass auch der Vorgängerbebauungsplan unwirksam sei, auszugehen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist auch begründet.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan ist nicht ordnungsgemäß ausgefertigt. Für das nordrhein-westfälische Landesrecht ist in der Rechtsprechung geklärt, dass es mangels ausdrücklicher normativer Vorgaben für die Ausfertigung von Bebauungsplänen ausreichend, aber auch erforderlich ist, wenn eine Originalurkunde geschaffen wird, auf welcher der (Ober-)Bürgermeister als Vorsitzender des Rates, des zuständigen Beschlussorgans der Gemeinde, zeitlich nach dem Ratsbeschluss und vor der Verkündung der Satzung schriftlich bestätigt, dass der Rat an einem näher bezeichneten Tag diesen Bebauungsplan als Satzung beschlossen habe.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. März 2017 – 10 D 6/16.NE –, juris, Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Das hier in dem Ausfertigungsvermerk fehlende Datum des Satzungsbeschlusses führt dazu, dass sich der Ausfertigung nicht mit der für die Wirksamkeit einer Rechtsnorm notwendigen Klarheit die Feststellung der Identität der zu verkündenden Fassung der Rechtsnorm mit der vom Normgeber beschlossenen Fassung entnehmen lässt. Das fehlende Datum mag unschädlich sein, wenn auf der Planurkunde an einer anderen Stelle das Datum des Satzungsbeschlusses vermerkt ist,</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Januar 2006 – 7 D 8/04.NE –, juris, Rn. 77; Nds OVG, Urteil vom 11. Februar 2020 – 1 KN 183/17 –, juris, Rn. 31,</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">doch gibt es hier einen solchen Vermerk an einer anderen Stelle auf der Planurkunde nicht. Soweit die Antragsgegnerin unter Hinweis auf die Ausführungen des Niedersächsischen OVG in dem zitierten Urteil geltend macht, dass der Bebauungsplan an dem betreffenden Tag nur Gegenstand eines einzigen Satzungsbeschlusses gewesen sei, sodass die Gefahr einer Verwechselung nicht bestehe, ändert dies an dem aufgezeigten Ausfertigungsmangel nichts. Die Ausfertigung auf der Planurkunde soll sicherstellen und dokumentieren, dass der Rat an einem bestimmten Tag diesen Bebauungsplan, das heißt einen mit dem Inhalt der Planurkunde identischen Bebauungsplan, beschlossen hat, und nicht etwa einen inhaltlich davon abweichenden Bebauungsplan. Dies hat der (Ober-)Bürgermeister mit seiner Unterschrift auf der Planurkunde zu bestätigen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan hat keine weiteren Mängel.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Formelle Fehler, die nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB beachtlich wären und zu seiner Unwirksamkeit führen würden, sind nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan ist auch nach seiner Grundkonzeption im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB städtebaulich gerechtfertigt. Dem Bebauungsplan liegt ausweislich der im Tatbestand dargestellten Planbegründung eine von städtebaulich legitimen Zielen getragene positive Planungskonzeption zugrunde, weil der Rat beabsichtigt, insbesondere im nördlichen Teil des Plangebiets Wohnbebauung zur Schaffung von Wohnraum zu ermöglichen (§ 1 Abs. 6 Nr. 2 BauGB).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die erstmals in der mündlichen Verhandlung geäußerte Kritik der Antragstellerin an der textlichen Festsetzung Nr. 7 Abs. 5 ist unbegründet. Als Ermächtigungsgrundlage für diese Festsetzung kommt § 9 Abs. 1 Nr. 24 BauGB in Betracht. Von den verschiedenen Festsetzungsmöglichkeiten, die die Vorschrift enthält, kann der Plangeber hier nur die Festsetzung von baulichen und sonstigen technischen Vorkehrungen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes sowie zur Vermeidung oder Minderung solcher Einwirkungen gewollt haben. Der Einwand der Antragstellerin, der Rat habe keine konkreten baulichen oder sonstigen technischen Vorkehrungen festgesetzt, ist unbegründet. Dass der Rat – wie die Antragstellerin vorträgt – mit der Festsetzung auch Schallschutzmaßnahmen „natürlicher Art“ wie Anpflanzungen oder Begrünung von Dächern und Wänden gemeint haben könnte, die nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt wären, liegt bei der gebotenen Auslegung dieser Festsetzung fern. Die textlichen Festsetzungen unter Nr. 7 betreffen alle das Schalldämmmaß von Außenbauteilen, sodass nicht zweifelhaft sein kann, dass der Rat auch mit der Festsetzung Nr. 7 Abs. 5, wonach für Terrassen, Balkone und Loggien unter bestimmten Voraussetzungen Schallschutzmaßnahmen zu treffen sind, nur bauliche oder technische Schallschutzmaßnahmen im Auge gehabt hat. Weitere Einzelheiten können gegebenenfalls in einem nachfolgenden Baugenehmigungsverfahren festgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2006 – 4 BN 55.05 –, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Das von der Antragstellerin zur Begründung ihrer Auffassung herangezogene Urteil des Senats vom 20. März 2002 – 10a D 48/99.NE –, juris, Rn. 5, betraf einen anderen Fall. Der Senat hatte in dieser Entscheidung eine Festsetzung, nach der „durch geeignete bauliche Maßnahmen sicherzustellen (ist), dass die Ausbreitung des Lärms in südliche bis östliche Richtung vermieden wird“, für unbestimmt gehalten, weil vor allem unklar sei, was der Plangeber unter einer „Vermeidung der Ausbreitung von Lärm“ verstehe und der Normadressat nicht erkennen könne, in welchem Umfang er die „Ausbreitung von Lärm zu vermeiden“ habe. Einen verallgemeinerungsfähige Aussage, bei einer Festsetzung von Schallschutzmaßnahmen seien diese beispielhaft zu benennen, lässt sich der zitierten Entscheidung nicht entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Auch die textliche Festsetzung Nr. 7 Abs. 3 ist nicht – wie die Antragstellerin meint – unbestimmt, weil etwa unklar wäre, ob der in der Planurkunde dargestellte Bereich mit einer Lärmbelastung größer 60 dB(A) nur bis zu der als öffentliche Verkehrsfläche festgesetzten F1.-straße reicht oder ob auch das Plangebiet südlich davon dazu gehört. Das in diesem Zusammenhang von der Antragstellerin angesprochene Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2012 – 7 D 64/10.NE –, juris, Rn. 68 ff., betraf wiederum einen anderen Fall, in dem es um eine Festsetzung ging, in der Lärmpegelbereiche der Kategorien III, IV, V und VI angesprochen waren, die der Plangeber in der Planurkunde nicht hinreichend konkret bezeichnet hatte und deren jeweiliger Geltungsbereich auch unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und des erkennbaren Willens des Plangebers nicht durch Auslegung ermittelt werden konnte. So liegt der Fall hier nicht. Die Planurkunde stellt zeichnerisch – ergänzt durch die Eintragung der jeweils prognostizierten Außenschallpegel – lediglich zwei Bereiche mit unterschiedlichen Lärmbelastungen dar, nämlich einen vollständig umgrenzten Bereich mit einem Außenschallpegel kleiner/gleich 60 dB(A) und einen sich jenseits dieser Umgrenzung in alle Richtungen ausdehnenden Bereich mit einem Außenschallpegel größer 60 dB (A) dar. Soweit die Antragstellerin meint, es sei unklar, ob der Bereich mit einem Außenschallpegel größer 60 dB (A) am nördlichen Rand der F1.-straße ende, überzeugt ihr dafür bemühtes Argument, wonach in Planurkunden die Flächen mit unterschiedlichen Festsetzungen durch die Begrenzungen festgesetzter öffentlicher Verkehrsflächen üblicherweise voneinander abgegrenzt würden, schon deshalb nicht, weil die den Bereich mit einem Außenschallpegel kleiner/gleich 60 dB(A) umschließende Isophonlinie einschließlich der Eintragungen der prognostizierten Außenschallpegel ungeachtet ihrer Bezeichnung in der Legende auf der Planurkunde keine planerischen Festsetzungen im eigentlichen Sinne sind. Die Einzeichnung und die Eintragungen machen nur – quasi informatorisch – das Ergebnis der im Aufstellungsverfahren eingeholten schalltechnischen Begutachtung auf der Planurkunde kenntlich. Auch wenn den planbetroffenen Grundstückseigentümern gleichwohl ein Interesse zuzugestehen sein mag, der Planurkunde die Lärmbelastung ihrer jeweiligen Grundstücke entnehmen zu können, weil diese Lärmbelastung sich auf die Vorgaben zur Bebauung der Grundstücke auswirken kann, ist dies hier ohne weiteres möglich. Bei verständiger Würdigung aller Umstände drängt es sich auf, dass mit der Einzeichnung und den zugehörigen Eintragungen die Lärmbelastung im gesamten Plangebiet dargestellt werden soll. Insoweit sprechen bei zwangloser Betrachtung nicht nur die Einzeichnung und die Eintragungen für sich, sondern fehlen auch jegliche Anhaltspunkte für die von der Antragstellerin für möglich gehaltenen anderen Sichtweise. Wäre es nämlich so, wie sie vorträgt, fehlten für die südlich der F1.-straße gelegenen Flächen jegliche Angaben zu deren Lärmbelastung, was der Rat, der an die Überschreitung eines Außenlärmpegels von 60 dB(A) im gesamten Plangebiet bestimmte Anforderungen gestellt hat, sicher nicht gewollt hat.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan beruht auch nicht auf beachtlichen Fehlern bei der nach § 1 Abs. 7 BauGB gebotenen Abwägung.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 1 Abs. 7 BauGB sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Das Abwägungsgebot umfasst als Verfahrensnorm das Gebot zur Ermittlung und Bewertung des Abwägungsmaterials (§ 2 Abs. 3 BauGB) und stellt inhaltlich Anforderungen an den Abwägungsvorgang und an das Abwägungsergebnis. Es ist verletzt, wenn eine sachgerechte Abwägung überhaupt nicht stattfindet, wenn in die Abwägung Belange nicht eingestellt werden, die nach Lage der Dinge hätten eingestellt werden müssen, wenn die Bedeutung der betroffenen Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens ist dem Abwägungserfordernis genügt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde im Widerstreit verschiedener Belange für die Bevorzugung des einen und damit notwendigerweise für die Zurückstellung des anderen Belangs entscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. September 2015 – 10 D 82/13.NE –, juris, Rn. 30.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Darstellung der Antragstellerin sind die jeweils festgesetzten überbaubaren Grundstücksflächen auf den ihr gehörenden Flächen im Bebauungsplan und im Vorgängerbebauungsplan im Wesentlichen identisch. Ihre Kritik, ehemals großzügig ausgestaltete überbaubare Grundstücksflächen seien durch eng um die vorhandenen Gebäude gezogene Baugrenzen verkleinert worden, ist unzutreffend. Der Bebauungsplan verhindert also nicht etwa eine bislang planungsrechtlich mögliche Nachverdichtung auf ihren Grundstücken, sondern er belässt es hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen bei der gegebenen planungsrechtlichen Situation.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg macht die Antragstellerin geltend, dass der Belang der Innenentwicklung im Rahmen der Abwägungsentscheidung nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Dass der Rat sämtliche Möglichkeiten zu einer Nachverdichtung auf den Teilbereich des Plangebiets nördlich der F1.-straße begrenzt hat, erklärt sich damit, dass er einen konkreten Planungsbedarf nur für den Bereich zwischen der T.-straße und der F1.-straße gesehen hat, weil dort die bisherige Nutzung größerer Flächen zu Schulzwecken aufgegeben worden ist beziehungsweise aufgegeben werden soll. Für den Bereich südlich der F1.-straße hat der Rat, wie sich aus der Planbegründung ergibt, keinen Anlass für eine Festsetzung zusätzlicher überbaubarer Grundstücksflächen gesehen und deshalb insoweit nur geringfügige Änderungen unter Berücksichtigung des vorhandenen Gebäudebestandes vorgenommen. Diese Entscheidung ist nicht zu beanstanden, zumal die Antragstellerin im Rahmen der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs – drei Jahre nachdem sie erfolglos mit Überlegungen zu einer baulichen Entwicklung auf ihren Grundstücken an die Antragsgegnerin herangetreten war – keine Stellungnahme zu der insoweit unveränderten Planung mehr abgegeben und keine konkreten Planungsabsichten geäußert hat.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Der Rat musste auch nicht, wie die Antragstellerin offenbar meint, anlässlich der Aufstellung des Bebauungsplans eine Nachverdichtung sämtlicher Flächen im Plangebiet konkret in Erwägung ziehen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Nach § 1 Abs. 5 Satz 3 BauGB soll die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen. § 1a Abs. 2 Satz 1 BauGB ergänzt hierzu mit Blick auf den Umweltschutz, dass mit Grund und Boden sparsam und schonend umgegangen werden soll; dabei sind zur Verringerung der zusätzlichen Inanspruchnahme von Flächen für bauliche Nutzungen die Möglichkeiten der Entwicklung der Gemeinde insbesondere durch Wiedernutzbarmachung von Flächen, Nachverdichtung und andere Maßnahmen zur Innenentwicklung zu nutzen sowie Bodenversiegelungen auf das notwendige Maß zu begrenzen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die in § 1a Abs. 2 Satz 1 (und 2) BauGB genannten Belange setzen der Gemeinde im Rahmen der planerischen Abwägung keine strikten, unüberwindbaren Grenzen. Der Gesetzgeber hat diesen Belangen auch keinen generellen gesetzlichen Vorrang eingeräumt. Ob sich die genannten Belange im Einzelfall durchsetzen, hängt von dem Gewicht der ihnen gegenüberstehenden abwägungserheblichen öffentlichen beziehungsweise privaten Belange ab. Ein Zurückstellen der in § 1a Abs. 2 Sätze 1 und 2 BauGB genannten Belange bedarf einer Rechtfertigung, die dem Gewicht dieser vom Gesetzgeber herausgehobenen Belange Rechnung trägt.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Juni 2008 – 4 BN 8.08 –, juris, Rn. 4.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Diese gesetzlichen Vorgaben zum sparsamen Umgang mit Grund und Boden zielen darauf ab, eine weitere Inanspruchnahme unbebauter Flächen im Außenbereich zu vermeiden. Daraus folgt jedoch nicht, dass die planende Gemeinde etwa gehalten wäre, in jedem Baugebiet die größtmögliche Nachverdichtung anzustreben oder die bislang zulässige Baudichte zu erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. Nds OVG, Urteil vom 14. Mai 2019 – 1 KN 101/17 –, juris, Rn. 86.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Es ist danach nicht zu beanstanden, dass der Rat, der ausweislich der Plangebegründung den vorhandenen Bestand im Plangebiet ermittelt und seiner Planung zugrunde gelegt hat, nur im nördlichen Teil des Plangebiets zusätzliche Bebauungsmöglichkeiten in Erwägung gezogen und letztlich festgesetzt hat. Ob die Ausführungen in der Antragserwiderung, wonach auf den Grundstücken der Antragstellerin nur in eingeschränktem Umfang Erweiterungsflächen vorhanden seien, tragfähig sind, bedarf vor diesem Hintergrund keine Vertiefung.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen bestand für den Rat insbesondere wegen der bereits erheblichen baulichen Ausnutzung der Grundstücke der Antragstellerin mit drei jeweils achtgeschossigen Wohnhäusern, kein Anlass, dort die Festsetzung größerer Baufenster in Betracht zu ziehen. Er hat der Antragstellerin mit den Festsetzungen des Bebauungsplans auch keine Baurechte genommen, sondern sich insoweit an die Festsetzungen des Vorgängerbebauungsplans angelehnt und ihr damit die bisherigen Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Ausnutzung ihrer Grundstücke belassen. Demgegenüber hat die Antragstellerin innerhalb der Frist des § 215 Abs. 1 BauGB und auch danach keine substanziellen Rügen erhoben, mit denen sie eine unangemessene Einschränkung ihrer Eigentumsrechte aufgezeigt hätte.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
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<p>Das angegriffene Urteil wird geändert.</p>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 00. T. 1990 geborene Kläger zu 1. und die am 0. K. 1994 geborene Klägerin zu 2. sind syrische Staatsangehörige, Kurden, Sunniten und miteinander verheiratet. Der Kläger zu 3. ist der am 00. P. 2015 in Deutschland geborene Sohn der Kläger zu 1. und 2.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zu 1. verließ Syrien das erste Mal im Sommer 2012 in Richtung Türkei, kehrte dann nach Syrien zurück und reiste endgültig Ende 2013 oder Anfang 2014 in die Türkei aus. Dort lernte er die Klägerin zu 2. kennen und heiratete sie am 28. September 2014 in Istanbul. Sodann reisten sie über Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich am 1. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 7. September 2016 einen Asylantrag.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 wurden die Anträge der Kläger als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet. Mit Beschluss vom 7. März 2017 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 11628/16.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Tenors des Bescheides des Bundesamtes vom 1. Dezember 2016 an. Mit Schreiben vom 6. März 2018 teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit, den Bescheid vom 1. Dezember 2016 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">In seiner Anhörung durch das Bundesamt am 28. März 2018 erklärte der Kläger zu 1. auf die Frage nach seiner letzten offiziellen Anschrift im Heimatland: Damaskus, Stadtteil Ruknaldin. Er habe als Schneider gearbeitet und sein Geschäft ca. zehn Monate vor der Ausreise geschlossen. Wegen seiner Augen habe er sich vom Wehrdienst freigekauft. Mitglied der Armee oder einer nichtstaatlichen, bewaffneten Gruppierung sei nicht gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, aus welchen Gründen er Ende 2013 bzw. Anfang 2014 sein Heimatland verlassen habe, antwortete der Kläger zu 1., der Hauptgrund sei die Sache mit seinem Bruder gewesen. Seine Familie könnte von der Armee wegen der Fahnenflucht seines Bruders verfolgt werden. Als die Vorfälle in Syrien angefangen hätten, sei sein Bruder zum Wehrdienst einberufen worden und habe diesen im Raum Homs abgeleistet. Nach Ende seiner Wehrdienstzeit sei er nicht entlassen worden, sondern habeweiter als Reservist dienen müssen. Irgendwann sei er geflohen. Sein Vater habe dann gemeint, dass auch er - der Kläger zu 1. - ausreisen solle, damit er nicht eingezogen werde. Er sei dann in die Türkei gegangen und habe dort für ca. 1,5 Jahre mit seinen Cousins zusammengearbeitet. Nach einem kurzen Aufenthalt in Syrien sei er dann wieder in die Türkei gereist und habe sich dort eine gewisse Zeit aufgehalten und sich dann auf die Reise nach Deutschland gemacht. Er sei mehrfach zwischen der Türkei und Syrien hin- und hergereist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage nach seinem Hauptgrund für den Asylantrag gab der Kläger zu 1. an, sein Hauptgrund sei die Arbeit gewesen. Aufgrund der Lebensbedingungen, der allgemeinen Umstände und der fehlenden Arbeit habe er sich zur Ausreise entschlossen. Die Preise seien stark angestiegen. Zu 80 % sei die Ausreise wegen der Arbeit passiert, da er dort seine Tätigkeit nicht weiter habe ausüben können. Seine Familie habe dann Druck auf ihn ausgeübt. Er habe sich nicht in die dortigen Probleme verstricken und sich heraushalten wollen. Er habe sich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen wollen. Sein Bruder sei desertiert und habe Fahnenflucht begangen. In so einem Fall verfolgten die Sicherheitsbehörden dann die ganze Familie und er befürchtete, deswegen selbst zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Sein Bruder sei im Jahr 2012 desertiert, genauer könne er das aber nicht mehr sagen. Es seien aber keine konkreten Schritte unternommen worden, ihn zum Wehrdienst einzuberufen. Ihm persönlich sei vor der Ausreise aus Syrien nichts passiert.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, was er bei der Rückkehr nach Syrien befürchte, erklärte der Kläger zu 1.: Dort müsse er von null anfangen. Er habe dort nichts mehr. Dann wäre da auch noch die Sache mit den Wehrdienst, von dem er bedroht sei. Die Lage dort sei nicht ruhig, es gäbe z.B. die Freie Syrische Armee (FSA) oder andere Gruppierungen, was sich auch negativ auf seine Arbeit und das Leben auswirke.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Auf die Bitte, seine Aussage zur erklären, Syrien zu 80 % aufgrund der Arbeitssituation verlassen zu haben, gab der Kläger zu 1. an: Der Umsatz sei stark eingebrochen. Früher habe man ungefähr 2500 syrische Lira täglich bekommen und später diese Summe nicht einmal pro Woche.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob er ansonsten Probleme mit Behörden oder der Polizei gehabt habe, verneinte der Kläger zu 1.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In der Anhörung legte der Kläger zu 1. sein Militärbuch vor, in dem vermerkt ist, dass er am 21.06.2009 vom Wehrdienst befreit worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, welche persönlichen Umstände konkret zu ihrer Ausreise aus Syrien geführt hätten, antwortete die Klägerin zu 2.: Sie hätten Angst vor dem Krieg und vor den Raketen in Syrien gehabt. Die Lage in Syrien sei sehr schlecht gewesen, sie hätten dort in Armut gelebt. Zu dieser Zeit habe es in Syrien Demonstrationen gegeben, es sei geschossen worden und es habe Explosion gegeben. Dies seien die Hauptgründe für ihre Ausreise gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, was ihr persönlich vor der Ausreise aus Syrien passiert sei, gab die Klägerin zu 2. an, ihr persönlich sei Gott sei Dank nichts passiert, aber den Nachbarn sei etwas widerfahren, manche seien verletzt worden. Sie hätten Angst um ihre Sicherheit gehabt. Sie hätten befürchtet, dass die Situation noch schlechter werde, deswegen seien sie ausgereist. Der Hauptgrund für ihre Ausreise sei gewesen, dass die Lage dort sehr gefährlich gewesen sei und es dort auch keine Sicherheit gegeben habe. Als sie in die Türkei eingereist seien, dachte sie, dass es nur eine vorübergehende Situation sei, bis sich die Lage in Syrien beruhigt habe. Die Lage in Syrien sei allerdings immer heikler und brisanter geworden. Sie seien dann in der Türkei geblieben und irgendwann hätten sie sich entschieden, weiter nach Deutschland zu reisen. Sie hätten die Türkei verlassen, da dort die Situation schlecht gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob sie Probleme mit Behörden oder Polizei gehabt habe, verneinte die Klägerin zu 2.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 25. Mai 2018 erkannte das Bundesamt den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte aber unter Nr. 2 des Bescheides die Asylanträge im Übrigen ab.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben am 30. Mai 2018 Klage erhoben und zur Begründung auf das Vorbringen im Asylverfahren verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben schriftsätzlich beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides vom 25. Mai 2018 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 18. November 2020, der Beklagten zugestellt am 20. November 2020, die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids vom 25. Mai 2018 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, den Klägern drohe aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung, des Aufenthalts im westlichen Ausland, wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit und unter dem Aspekt der Sippenhaft sowie hinsichtlich des Klägers zu 1. wegen der Entziehung vom Wehrdienst und hinsichtlich der Klägerin zu 2. wegen der Herkunft aus Harasta/Ost-Ghouta im Falle der Rückkehr eine politische Verfolgung.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat am 27. November 2020 beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen. Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 8. November 2021 zugelassen. Die Beklagte hat die Berufung am 11. November 2021 begründet.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte trägt vor, zurückkehrenden syrischen Asylbewerbern drohe nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie sich im Ausland aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt hätten. Männer, die sich durch Ausreise ins Ausland dem Militärdienst entzogen hätten, würden im Falle der unterstellten Rückkehr nicht durch den syrischen Staat politisch verfolgt. Auch der Umstand der Herkunft aus einem früher von Rebellen beherrschten Gebiet (hier Harasta/Ost-Ghouta) begründe keine flüchtlingsrelevante Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Des Weiteren würden Kurden als solche wegen ihrer Volkszugehörigkeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vom syrischen Staat politisch verfolgt. Auch fände eine Sippenverfolgung aufgrund Wehrdienstentziehung durch nahe Verwandte nicht statt.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zu 1. ist in der mündlichen Verhandlung vom 23. August 2022 ergänzend befragt worden. Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bescheid des Bundesamts vom 25. Mai 2018 ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u.a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 13, und vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55 (60 f.), Rdnr. 22, 24.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (164), Rdnr. 16.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Furcht der Kläger vor politischer Verfolgung unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zu 1. hat nicht vorverfolgt das Land verlassen. Auch in der Annahme, dass der Bruder des Klägers zu 1. in Syrien vom Militärdienst desertiert ist, ist der Kläger zu 1. vor seiner Ausreise weder deswegen politisch verfolgt worden noch stand eine solche Verfolgung unmittelbar bevor. Er hat bei seiner Anhörung durch das Bundesamt angegeben, ihm sei vor der Ausreise aus Syrien nichts passiert, seine Familie könnte - lediglich hypothetisch - von der Armee wegen der Fahnenflucht des Bruders verfolgt werden. Konkrete (drohende) Verfolgungshandlungen vor seiner Ausreise hat der Kläger zu 1. indes nicht - auch nicht in der mündlichen Verhandlung - geschildert. Ausdrücklich hat er dort erklärt, dass ihm in Syrien vor seiner Ausreise nichts passiert sei.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger zu 1. drohte in Syrien auch keine Einziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee. Er hat in seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgetragen, sich erfolgreich wegen eines Augenleidens (Kurzsichtigkeit) vom Wehrdienst freigekauft zu haben. Dies ist so auch in seinem Militärbuch vermerkt. Der Kläger zu 1. sagt selbst aus, dass konkrete Schritte, ihn zum Wehrdienst einzuberufen, in Syrien nicht unternommen worden seien. Dies entspricht auch der Erkenntnislage. Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel aus medizinischen Gründen Untaugliche, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Es bestehen danach keine Anhaltspunkte, dass eine Ausnahme von der Wehrdienstpflicht - wie hier beim Kläger zu 1. - von der syrischen Armee bei der Einberufungspraxis generell nicht beachtet wird.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien aus dem COI-CMS, Version 5 vom 24.01.2022, S. 67.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dass sich der Kläger zu 1. nach seinen Angaben gleichwohl „freikaufen“ musste, steht in keinem Widerspruch hierzu. Gerade auch bei medizinischer Untauglichkeit kann es zur Zahlung von Bestechungsgeldern kommen.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. The Danish Immigration Service (DIS), Syria Military Service, Mai 2020, S. 21.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Abgesehen davon wäre die Heranziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee keine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgung gewesen. Die Heranziehung zum Militärdienst ist für sich genommen flüchtlingsrechtlich nicht relevant, sondern nur dann, wenn sie auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal zielt, also auf die Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Dies war und ist bei der Rekrutierung durch die syrische Armee nicht der Fall. Vielmehr rekrutierte und rekrutiert die syrische Armee unter allen ethnischen und religiösen Gruppen.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 53 f. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Heranziehung zum Militärdienst zielte und zielt auch nicht auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Rekruten ab, etwa um (vermutete) Oppositionelle zu disziplinieren, sondern diente und dient allein der Auffüllung der durch Todesfälle, Desertion und Überläufer, zuletzt auch durch die notwendige Entlassung älterer Jahrgänge stark dezimierten syrischen Armee.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Urteile vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 44 f., und vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 50 f. und 60 f., jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin zu 2. schilderte bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt ebenfalls keine asylrechtlich erhebliche Vorverfolgung in Syrien. Ihre Familie - damals war sie mit dem Kläger zu 1. noch nicht zusammen - hatte sich vielmehr wegen des Bürgerkriegs und der schlechten wirtschaftlichen Lage zur Ausreise entschlossen; ihr persönlich ist vor der Ausreise nichts passiert.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Den Klägern drohte keine Verfolgung durch den syrischen Staat aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit. Kurden werden vom syrischen Staat nicht wegen ihrer Volkszugehörigkeit verfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2018 - 14 A 618/18.A -, juris, Rdnr. 30 f. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Den Klägern droht auch bei einer (unterstellten) Rückkehr nach Syrien zum jetzigen Zeitpunkt keine Verfolgung durch den syrischen Staat. Insbesondere droht dem Kläger zu 1. eine Verfolgung durch den syrischen Staat nicht deswegen, weil er sich durch seine Flucht ins Ausland einem (drohenden) Militärdienst in der syrischen Armee entzogen hätte. Der Kläger zu 1. ist ausweislich seines Militärbuchs bereits vor seiner Ausreise offiziell vom Militärdienst befreit gewesen, so dass ihm eine Wehrdienstentziehung nicht zur Last gelegt werden wird. Dass diese Befreiung in der Vergangenheit auch beachtet wurde, wird durch den Umstand belegt, dass er im Besitz seines Reisepasses gewesen ist und legal 2012/2013 in die Türkei aus- und auch wieder nach Syrien einreisen konnte. Hingegen dürfen ungediente Wehrpflichtige das Land nicht verlassen und ihnen wird regelmäßig der Reisepass abgenommen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 15.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zu 1. hat bei einer (unterstellten) Rückkehr nach Syrien ferner nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch das syrische Regime wegen der Desertion seines Bruders zu befürchten. Auch nach einer Desertion des Bruders ist der Kläger zu 1. nach seinen eigenen Angaben durch syrische Sicherheitskräfte vor seiner Ausreise weder befragt noch drangsaliert worden. Erst nach seiner Ausreise sollen vor vier Jahren syrische Sicherheitskräfte den Vater des Klägers zu 1. aufgesucht und sich nach dem Aufenthaltsort des Bruders erkundigt haben. Weitere Konsequenzen für die Familie des Klägers zu 1. hatte dies nicht. Warum hingegen bei einer (unterstellten) Rückkehr der Kläger zu 1. wegen der Desertion seines Bruders vom syrischen Regime jetzt verfolgt werden sollte, ist mit dieser Vorgeschichte nicht nachvollziehbar und deckt sich im Übrigen auch nicht mit der Auskunftslage zur Situation von Familienangehörigen von Deserteuren.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Zahlreiche Quellen gehen schon davon aus, dass Familienmitgliedern von Deserteuren oder Überläufern hieraus keine Konsequenzen drohen. Die Einstellung des syrischen Regimes gegenüber Familienangehörigen hat sich offensichtlich - schon aus Kapazitätsgründen der syrischen Regierung bei der Verfolgung der großen Anzahl der davon eventuell Betroffenen - während des Bürgerkriegs gewandelt. (Nur) zu Beginn des Konflikts hatten Familienangehörige wohl regelmäßig mit Konsequenzen zu rechnen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. EASO, Syria Military service, Country of Origin Information Report, April 2021, S. 38; DIS, Syria Military Service, Mai 2020, S. 37.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Anderen Erkenntnismitteln ist zwar auch zu entnehmen, dass die syrische Armee die Familie eines Deserteurs über den Betroffenen befragen kann. Familienangehörige können danach Repressalien wie Hausdurchsuchungen, Befragungen, Bedrohungen, Erpressungen erfahren, um den Aufenthaltsort des Betroffenen herauszubekommen oder diesen so unter Druck zu setzen, dass er sich stellt.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. DIS, Syria Military Service, Mai 2020, S. 37; AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 15; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. Fassung März 2021, S. 137.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Allein mit der Zielrichtung, den Deserteur ausfindig zu machen und letztendlich festnehmen zu können, stellt sich eine möglicherweise gewaltsame Fahndung nach Deserteuren und Überläufern als eine Verfolgungshandlung dar, der bei Familienangehörigen die notwendige Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei eben diesen fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Es kann zwar in diesem Zusammenhang auch zu Inhaftierungen von Familienangehörigen kommen. Allerdings wird hiervon nur im Zusammenhang mit hochrangigen Deserteuren berichtet, die z.B. Armeemitglieder getötet oder an Operationen gegen die Armee teilgenommen haben.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien aus dem COI-CMS, Version 5 vom 24.01.2022, S. 74.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Gefahrerhöhend können sich daneben auch die Herkunft der Familie aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet oder der politische und religiöse Hintergrund der Familie auswirken.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. DIS, Syria Military Service, Mai 2020, S. 38.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Solche gefahrerhöhenden Umstände hat der Kläger zu 1. aber weder vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Es kann dann zwar sein, dass die Gefahr besteht, dass Familienangehörige des Deserteurs zur Armee rekrutiert werden, um diesen an der Front zu ersetzen. Eine Einziehung als „Ersatzmann“ zum Militärdienst stellt indes keine politische Verfolgung dar, weil sie nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal beim Betroffenen anknüpft. Der Umstand, dass Familienangehörige eines Deserteurs zum Militärdienst eingezogen werden, zeigt vielmehr, dass das syrische Regime ihnen keine oppositionelle Grundeinstellung generell unterstellt.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Den Klägern droht ferner bei einer Rückkehr nach Syrien nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil sie Syrien illegal verlassen haben, in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben und sich seit 2015 hier aufhalten. Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine politische Verfolgung droht wegen einer ihnen zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Gründen im Einzelnen OVG NRW, Urteile vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A -, juris, Rdnr. 33 ff., vom 18. April 2019 - 14 A 2608/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 7. Februar 2018 - 14 A 2390/16.A -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 30 ff., und vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -, juris, Rdnr. 28 ff.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Daran hält der Senat fest.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Politische Verfolgung aus diesen Gründen ebenso verneinend OVG S.-A., Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 -, juris, Rdnr. 57; OVG Berlin-Bbg., Urteile vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 12. Februar 2019 - OVG 3 B 27.17 -, juris, Rdnr. 17 ff., und vom 22. November 2017 - 3 B 12.17 -, juris, Rdnr. 27 ff.; OVG M.-V., Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 -, juris, Rdnr. 40 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 -, juris, Rdnr. 42 ff.; Bay. VGH, Urteile vom 21. September 2020 - 21 B 19.32725 -, juris, Rdnr. 23 ff., und vom 9. Mai 2019 - 20 B 19.30534 -, juris, Rdnr. 31 ff.; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2020 - 8 A 780/17.A -, juris, Rdnr. 24 f., und Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A -, juris, Rdnr. 60 ff.; Schl.-H. OVG, Urteile vom 19. Juni 2019 - 5 LB 24/19 -, juris, Rdnr. 32 f., und vom 4. Mai 2018 - 2 LB 17/18 -, juris, Rdnr. 35 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 20. Februar 2019 - 2 LB 152/18 -, juris, Rdnr. 29 ff.; Sächs. OVG, Urteile vom 6. Februar 2019 - 5 A 1066/17.A -, juris, Rdnr. 24 ff., und vom 7. Februar 2018 - 5 A 1245/17.A -, juris, Rdnr. 21 ff.; OVG Saarl., Urteile vom 14. November 2018 - 1 A 609/17 -, juris, Rdnr. 36 ff., und vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 -, juris, Rdnr. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rdnr. 18 ff.; OVG Rh.-Pf., Urteile vom 20. September 2018 - 1 A 10215/17.OVG -, juris, S. 11 f., und vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -, juris, Rdnr. 55 ff.; Thür. OVG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 -, juris, Rdnr. 60 ff.; Hamb. OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A -, juris, Rdnr. 62 ff.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Das angefochtene Urteil und das klägerische Vorbringen geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Den Klägern - insbesondere der Klägerin zu 2. - drohen auch nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil sie aus Ost-Ghouta und damit einem ehemals von der Opposition beherrschten Gebiet stammen. Diese Eigenschaft teilt die Klägerin zu 2. mit einer unüberschaubaren Zahl anderer Bürgerkriegsopfer aus den - früher - großen, von Rebellen beherrschten Gebieten. Erkenntnisse für eine politische Verfolgung - ggf. im Wege der Sippenverfolgung - dieser Gruppe ohne individuelle verfolgungsbegründende Umstände liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. März 2022 - 14 A 942/21.A -.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Solche individuellen Umstände haben die Kläger nicht vorgetragen.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Mangels drohender politischer Verfolgung der Kläger zu 1. und 2. fehlt es somit auch an einem Anknüpfungspunkt für eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Klägers zu 3. im Wege der Sippenverfolgung.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
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346,638 | ovgnrw-2022-08-23-14-a-371618a | {
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<p>Das angefochtene Urteil wird geändert.</p>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der am 00. K. 1991 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger, Araber und sunnitischen Glaubens. Er lebte zuletzt mit seinen Eltern und Geschwistern in der Stadt Maarat an-Numan im Gouvernement Idlib. Der Kläger verließ Syrien nach seinen Angaben im Jahr 2011 oder 2013 und blieb zunächst für drei Jahre oder 1,5 Jahre in der Türkei. Am 20. Juli 2015 verließ er die Türkei und reiste über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich am 15. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 26. November 2015 einen Asylantrag.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im persönlichen Gespräch mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens am 26. November 2015 gab der Kläger an, ungefähr am 30. Januar 2013 Syrien verlassen zu haben und zunächst 1,5 Jahre in der Türkei verbracht zu haben, bevor er am 15. August 2015 eingereist sei.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 11. März 2016 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Mit Urteil des Verwaltungsgerichts vom 17. August 2016 - 20 K 2038/16.A - wurde dieser Bescheid aufgehoben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">In seiner ersten Anhörung durch das Bundesamt am 29. März 2017 erklärte der Kläger, im Juli 2011 sein Heimatland verlassen zu haben und im August 2015 nach Deutschland eingereist zu sein. Er habe zuletzt in der Stadt Maarat an-Numan gelebt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage nach seinem Wehrdienst, der nach seinen Angaben ursprünglich ein Jahr und neun Monate hätte dauern sollen, gab der Kläger weiter an, dieser habe Ende Januar 2009 begonnen. Er sei ein Wachposten bei einer Panzereinheit in Latakia gewesen. Wegen des Krieges sei sein Dienst verlängert worden. Als der Krieg ausgebrochen sei, hätten die einfachen Soldaten die Kasernen nicht mehr verlassen und keine Nachrichten mehr verfolgen dürfen. Sein Vorgesetzter sei B. N. E. gewesen. Der Brigadegeneral I. L. B1. -J. sei der Befehlshaber der ganzen Einheit gewesen. Ihm sei von der Armee das Militärheft abgenommen worden. Sein Dienst sei dann verlängert worden. Er sei noch sieben Monate gezwungen worden, als Soldat tätig zu sein. Er sei dann im Juli 2011 desertiert und zurück in seinen Heimatort gegangen. Es sei aber nicht nur die syrische Armee, vor der er in Latakia geflüchtet sei. Da Idlib von der Freien Syrischen Armee (FSA) kontrolliert worden sei, sei er gleich nach seiner Desertion aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Er sei dann mit der Familie geflüchtet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, was ihm persönlich vor der Ausreise aus Syrien passiert sei, gab der Kläger an, desertiert zu sein. Zu dem Zeitpunkt sei sein Heimatort von der FSA besetzt gewesen. Diese hätten auch rekrutiert. So sei er mit der Familie geflüchtet und im Juli 2011 ausgereist. Er habe für keinen kämpfen wollen. Die Familie habe sowohl vor dem Regime als auch vor der FSA Angst gehabt. Seine Stadt sei zu ¾ zerstört worden, es sei aus der Luft gebombt worden. In seinem Ort seien alle gegen Assad gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wurde am 23. Oktober 2017 erneut durch das Bundesamt angehört. Er gab an, dass er Syrien im Mai 2011 verlassen habe. Sein Wehrpass liege bei den syrischen Militärbehörden, er sei grün gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, was ihm persönlich vor der Ausreise aus Syrien passiert sei, erklärte der Kläger, er sei mit 19 zur Armee gekommen, das müsse 2009 oder 2010 gewesen sein. Erst sei er in Aleppo gewesen, dann sei er nach Latakia kommandiert worden. Er sei dort ein Jahr und neun Monate gewesen, das sei der eigentliche Grundwehrdienst gewesen. Danach sei er aber nicht entlassen worden, sondern habe noch sieben Monate als Reservist dienen sollen. Er habe die Kaserne nicht verlassen dürfen, nicht nach Hause gedurft. In Kampfhandlungen sei er nicht verwickelt gewesen. Er sei genau an seinem 19. Geburtstag, dem 00. K. 2010, in die Armee eingetreten. Er sei bei der Panzergruppe Nr. 826 gewesen, habe mit den Panzern aber nichts zu tun gehabt, weil er nur ein Wachmann gewesen sei. Sieben Monate sei er Reservist gewesen. 2011 habe er dann seinen Chef gebeten, nach Dschabla gehen zu dürfen, um Geld zu holen. Er habe dort Familienangehörige gehabt, bei denen er sich für zwei Wochen versteckt habe.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, wie es nach Dschabla weitergegangen sei, antwortete der Kläger, nach den zwei Monaten in Dschabla sei er nach Banyas gegangen, wo er einen Monat und zwei Wochen gewesen sei. Dort habe er Kontakt zur FSA bekommen, die ihm mit einem Auto mit Fahrer geholfen habe, auf dem Weg nach Hause die Checkpoints der Armee zu umgehen. Seine Familie habe mit der FSA in Idlib gesprochen, die dann ihre Kameraden in Banyas kontaktiert habe, damit er Hilfe erhalte. Das sei im Juli 2011 gewesen. Er sei dann noch zwei Monate in seinem Heimatort gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob er von der FSA bedroht worden sei, verneinte der Kläger. Er verneinte ebenfalls die Frage, ob sie etwas vom Kläger als Gegenleistung für die Hilfe gewollt hätten. Auf Vorhalt, dies bei seiner ersten Anhörung anders geschildert zu haben, gab der Kläger an, das so nicht gesagt zu haben. In Banyas hätte die FSA nichts von ihm gewollt, in seinem Heimatort hätten sie gewollt, dass er mit ihnen kämpfe.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Auf weiteren Vorhalt, er hätte bei dem geschilderten zeitlichen Ablauf nicht bereits in der ersten Jahreshälfte 2011 ausreisen können, erklärte der Kläger, er sei im November 2012 ausgereist.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, was er bei der Rückkehr nach Syrien befürchte, gab der Kläger an, Angst vor beiden Seiten zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 23. Oktober 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte aber unter der Nr. 2 den Asylantrag im Übrigen ab und führte zur Begründung aus: Der Kläger habe seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Der Sachvortrag sei unschlüssig. Er sei nicht in der Lage gewesen, die grobe Optik seines Wehrpasses zu beschreiben. Die Nachvollziehbarkeit des Vortrages scheitere auch daran, dass er Widersprüchliches zur Dauer seines Wehrdienstes, der folgenden Reservistenzeit und seinen weiteren Fluchtstationen mit dem mehrfach abgefragten Ausreisedatum aus Syrien dargelegt habe. Unterstelle man die Angaben zur Dauer des Wehrdienstes (21 Monate), der Reservistenzeit (7 Monate) und des Aufenthalts an drei verschiedenen Fluchtpunkten (5 ½ Monate) als glaubhaft, so erscheine nur der November 2012 als Fluchtdatum plausibel. Dieser Termin sei schließlich vom Kläger auf mehrfache Vorhalte und nach mehrmaliger Nachfrage und Berechnung genannt worden. Dass er seinen Dienst in Richtung Dschabla verlassen habe und sich eben dort versteckt haben wolle, erscheine nicht plausibel. Der Bescheid wurde als Einschreiben am 7. November 2017 zur Post gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 20. November 2017 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 23. Oktober 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil verpflichtet, dem Kläger unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts vom 23. Oktober 2017 die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 des Asylgesetzes - AsylG - zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Ausreise aus Syrien führe für männliche Personen bis etwa 42 Jahren - aber auch für ältere Personen - zum Vorwurf der Wehrdienstentziehung, weshalb ein erhöhtes Risiko bestehe, bei einer Rückkehr nach Syrien im Rahmen der Rückkehrbefragung bzw. in deren Anschluss wegen unterstellten illoyalen Verhaltens und regimefeindlicher Gesinnung menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zu Folter ausgesetzt zu werden. Aber auch unabhängig vom Vorliegen des individuell gefahrerhöhenden Umstandes des Wehrdienstentzugs drohe vorliegend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 2 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), die eine Rückkehr nach Syrien unzumutbar mache. Auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisquellen gehe das Gericht davon aus, dass die syrische Regierung bereits die illegale Ausreise aus dem Land, den Aufenthalt im westlichen Ausland und das Stellen eines Asylantrages als Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansehe. Das Urteil ist der Beklagten am 6. September 2018 zugestellt worden.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat am 27. September 2018 beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen. Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 19. Februar 2021 zugelassen. Die Beklagte hat die Berufung am 24. Februar 2021 begründet. Die Beklagte trägt vor, rückkehrenden syrischen Asylbewerbern drohe wegen eines gestellten Asylantrages, ihres Aufenthalts im (westlichen) Ausland und eventuell wegen illegalen Verlassens Syriens nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung durch das Assad-Regime. Auch müssten Männer, die sich durch Ausreise ins Ausland dem Militärdienst entzogen hätten, im Falle der (unterstellten) Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch den syrischen Staat befürchten. Unter Bezugnahme auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid müssten bei einer Gesamtbewertung der Ungereimtheiten und offenkundigen Widersprüche die Angaben des Klägers zu einer Desertion als nicht glaubhaft bewertet werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Verwaltungsgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Kläger stellt keinen Antrag.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Er verweist darauf, dass er vorgetragen habe, aus dem aktiven Militärdienst desertiert zu sein. Nach der Rechtsprechung des Senats sei offen, ob Personen, die bereits in das militärische System eingegliedert und mit militärischen Aufgaben betraut gewesen seien, ihre Einheiten oder Posten aber verlassen hätten (Deserteure) und Personen, die zu dem syrischen Staat feindlichen Kräften übergelaufen seinen (Überläufer), heute bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohe. Ferner weist der Kläger auf den Bericht des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen vom 28. Juni 2022 über zivile Todesopfer in der Arabischen Republik Syrien und den Bericht des britischen Home Office von Juni 2022 über Rückkehrer nach Syrien hin.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 23. August 2022 ergänzend befragt worden. Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bescheid des Bundesamts vom 23. Oktober 2017 ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u.a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 13, und vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55 (60 f.), Rdnr. 22, 24.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (164), Rdnr. 16.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Es ist dabei Sache des Ausländers, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung bzw. frühere (unmittelbar drohende) Verfolgungen schlüssig vorzutragen. Er muss von sich aus unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht bzw. bereits stattgefunden hat. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. Oktober 2001 - 1 B 24.01 -, NVwZ 2002, Beilage Nr I 3, 40-41 = juris, Rdnr. 5, und vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, NVwZ-RR 1990, 379 = juris, Rdnr. 8.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist weder mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger bereits vor seiner Ausreise in Syrien (unmittelbar) von Verfolgung bedroht war (1.) noch, dass danach Gründe eingetreten sind, die es unabhängig von einer etwaigen Vorverfolgung rechtfertigen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von begründeter Furcht vor Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Syrien auszugehen (2.).</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist, so dass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU nicht zu Gute kommt. Eine Vorverfolgung setzt voraus, dass der Asylbewerber bereits eine Verfolgung erlitten hat oder eine solche unmittelbar bevorstand.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Funke-Kaiser, in Gemeinschaftskommentar zum AsylG, Loseblattsammlung (Stand: 4. Juli 2022), vor II-3, Rdnr. 346.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat bei seinen Anhörungen vor dem Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung keine (drohende) Verfolgung durch den syrischen Staat geschildert. Auch eine Verfolgung durch die seinen Heimatort Maarat an-Numan in der Region Idlib kontrollierende FSA hat er nicht dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Nach seinen Schilderungen ist der in Latakia stationierte Kläger - er will dort zunächst seinen Militär- und daran unmittelbar anschließend seinen Reservedienst bei einer Panzereinheit als Wachmann abgeleistet haben - desertiert und hat sich nach Zwischenaufenthalten in Dschabla und Banyas dem Zugriff der syrischen Armee entzogen, indem es ihm gelungen ist, trotz der Checkpoints in seine Heimatstadt in der Region Idlib zurückzukehren, die seinerzeit durch die FSA und derzeit durch die Hayat Tahrir al Sham (HTS) kontrolliert wurde bzw. wird. Der Kläger hat zutreffend vorgetragen, dass sein Heimatort seinerzeit von der FSA besetzt gewesen sei. Repressalien durch die syrische Armee wegen der angeblichen Desertion des Klägers konnten daher dort nicht erfolgen und sind auch nach den Schilderungen des Klägers nicht erfolgt. Auch hat der Kläger bei seinen Anhörungen keine Verfolgung durch die FSA geschildert. Bei seiner ersten Anhörung durch das Bundesamt hat er lediglich abstrakt angegeben, dass die FSA auch rekrutiere. Eine konkrete Bedrohung durch die FSA beschrieb der Kläger nicht. Gegenteiliges schilderte der Kläger bei seiner zweiten Anhörung insoweit, dass die FSA ihm auf Bitten seiner Familie geholfen habe, an den Checkpoints vorbei in seinen Heimatort in der Provinz Idlib zurückzukehren, ohne etwas dafür bekommen zu wollen; er sei durch die FSA auch nicht bedroht worden. Erst auf Vorhalt gab der Kläger an, dass die FSA von ihm gewollt habe, dass er für sie kämpfe. Allein Rekrutierungsversuche durch Rebelleneinheiten begründen aber keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung. Eine konkrete Bedrohung durch die FSA schilderte der Kläger bei seinen Anhörungen auch nicht. Vielmehr erklärte er zu seinen Fluchtgründen ganz allgemein, dass er für keinen kämpfen wolle und dass seine Stadt durch die Bombardierungen zu ¾ zerstört gewesen sei. Nichts anderes gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an. Danach will er Syrien aus Furcht vor dem Krieg und den Bombardierungen aus der Luft verlassen haben.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">2. Dem Kläger droht bei einer (unterstellten) Rückkehr nach Syrien zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Insbesondere droht ihm eine Verfolgung durch den syrischen Staat nicht deswegen, weil er vom aktiven Reservedienst bei einer Panzer-einheit desertiert wäre.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Desertion wird gemäß dem syrischen Militärstrafgesetz - Gesetzesdekret Nr. 61/1950 -</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">vgl. UNHCR, Inoffizielle Übersetzung der Art. 98 bis 114 syrMStG (Gesetzesdekret Nr. 61/1950); EASO, Syria Military service, Country of Origin Information Report, April 2021, S. 35,</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure (deserters), die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sog. externe Desertion), unterfallen Artikel 101 syrMStG, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorsieht. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. Überläufer zum Feind (defectors) werden mit dem Tod bestraft (Artikel 102 syrMStG).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Gegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder die als regimekritisch wahrgenommen werden, werden außerdem Strafverfahren gemäß dem Terrorbekämpfungsgesetz (Gesetz Nr. 19 vom 2. Juli 2012) durchgeführt. Das Gesetz sieht schwere Strafen - von langjährigen Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe - für Personen vor, bei denen festgestellt wird, dass sie „terroristische“ Handlungen begangen haben.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 19.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er in Syrien dem aktiven Reservedienst bei einer Panzereinheit angehört hat und dort desertiert ist.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Schon seine Militärzeit bei einer Panzereinheit in der Nähe von Latakia ist unglaubhaft. Der Kläger will nach seinen Schilderungen beim Bundesamt den Militärdienst bei der Panzergruppe Nr. 826 in Latakia als Wachposten abgeleistet haben, bevor er sich unter einem Vorwand aus der Kaserne entfernt und danach nicht wieder zurückgekehrt sein will. Seine Darstellung des Militärdienstes und der Desertion in der mündlichen Verhandlung war viel zu widersprüchlich und vage, um den Eindruck eines tatsächlich erlebten Geschehens zu vermitteln. Während er sich bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt zumindest noch daran erinnern konnte, dass sein Wehrpass grün gewesen sei, gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, sich an keinerlei Details seines Militärbuches erinnern zu können. Dies ist umso verwunderlicher, als dass syrischen Wehrpflichtigen das Militärbuch mit der Musterung ausgehändigt wird und sie dieses bis zu ihrer Einziehung bei sich führen, um sich ggf. an den zahlreichen Checkpoints im Land ausweisen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18. Januar 2018, S. 5.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Auch die Schilderung seiner Musterung und Einberufung zum Militärdienst in der mündlichen Verhandlung haben den Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger tatsächlich beim syrischen Militär gewesen ist. Das Rekrutierungsprozedere</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">vgl. SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18. Januar 2018, S. 5,</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">beginnt damit, dass sich alle syrischen Männer im Alter von 17 Jahren beim zuständigen Rekrutierungsbüro ihr Militärbuch abholen und sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man dann einberufen, indem man sich entweder selbstständig beim zuständigen Rekrutierungsbüro meldet oder von der Polizei vorgeladen wird. Gelten die Männer als gesund, werden sie innerhalb der nächsten drei bis sechs Monate eingezogen. Einen solchen Ablauf hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht ansatzweise schildern können. Er will zu keinem Zeitpunkt auf seine gesundheitliche Eignung untersucht worden sein, obschon dies angesichts seiner bereits damals vorhandenen Kurzsichtigkeit auf der Hand gelegen hätte. Auch blieben seine weiteren Angaben zu seiner Militärdienstzeit in der mündlichen Verhandlung völlig vage und detailarm. Obschon der Kläger ca. zweieinhalb Jahre bei der Armee gewesen sein will, konnte er wesentliche, die Militärdienstzeit prägende Einzelheiten nicht benennen. So konnte sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht mehr daran erinnern, welcher Militäreinheit er angehört haben will. Das genaue Aussehen seiner Uniform konnte er nicht beschreiben und auch nicht angeben, wo genau sich die syrische Nationalflagge auf der Uniform befand. Die genaue Typenbezeichnung seines Gewehres kannte er nicht, obschon er dieses jeden Tag als Wachmann getragen haben will, er zu Beginn der Ausbildung gelernt haben will, dieses in ein bis zwei Minuten auseinanderzubauen, und damit auch Schießübungen unternommen haben will. In dieses Gesamtbild fügt sich nahtlos ein, dass der Kläger die eigentliche Militärausbildung in der mündlichen Verhandlung völlig substanzlos schilderte. Auf die Aufforderung, seine Ausbildungszeit konkret zu beschreiben, gab er lediglich an, bei der Ausbildung zum Wachmann seien dies Sport und das Zerlegen- bzw. Zusammensetzen der Waffe gewesen. Auch auf konkrete Nachfragen des Senats, ob zudem geschossen oder in der Formation marschiert worden sei, wurden diese Punkte vom Kläger nur bestätigt, er war indes nicht in der Lage, weitere Details hierzu zu geben oder weitere Einzelheiten seines Dienstes von sich aus zu beschreiben.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der Senat glaubt dem Kläger auch nicht seine angebliche Desertion, die so abgelaufen sein soll, dass er den Militärstützpunkt unter einem Vorwand nach Dschabla verlassen haben will, dort untergetaucht und über Banyas mit Hilfe von Schmugglern, die von seiner Familie kontaktiert worden sein sollen, wieder in seinen Heimatort in der Region Idlib zurückgekehrt sein will. Gegen die Glaubhaftigkeit dieses Vortrags spricht vor allem der Umstand, dass der Kläger sich in Dschabla, wohin er mit Erlaubnis seines Dienstvorgesetzten zum Geldabheben gehen durfte, ca. zwei Monate bei Verwandten versteckt haben will, ohne dass dort nach ihm gesucht worden sein soll. Da sein Vorgesetzter wusste, dass der Kläger nach Dschabla gehen wollte, hätte es nahe gelegen, dass man dort auch nach ihm gesucht hätte. Diese Ungereimtheit vermochte der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht aufzulösen. Auf einen entsprechenden Vorhalt meinte der Kläger lediglich, in Dschabla sei er ja nicht bei Leuten gewesen, die zur Familie gehört hätten (S. 4 des Protokolls), obschon er dies so noch kurz zuvor in der mündlichen Verhandlung angegeben hatte („Ich bin aber nicht zurückgegangen, sondern war dann ein oder zwei Monate bei meinen Verwandten, die mich dann nach Banyas geschmuggelt haben“, S. 3 des Protokolls). Auch der Umstand, dass die Familie den Kläger über die Fluchtpläne einfach über das Handy informiert haben soll, ist völlig unplausibel, weil er bei seiner Anhörung selbst angegeben hat, in der Kaserne sozusagen abgeschirmt gelebt zu haben. Sie hätten die Kaserne nicht verlassen und auch keine Nachrichten mehr verfolgen dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers spricht zudem die von ihm geschilderte zeitliche Abfolge von Einberufung, Militärzeit, Desertion und Ausreise. Auffällig ist, dass der Kläger schon im Verwaltungsverfahren widersprüchliche Angaben zu seinem Ausreisedatum gemacht hat. So will er nach seinen Angaben im Verwaltungsverfahren zuerst ungefähr am 30. Januar 2013 ausgereist sein (1,5 Jahre in der Türkei), dann im Mai/Juli 2011 (drei Jahre in der Türkei) und zuletzt im November 2012 das Land verlassen haben (ca. zwei Jahre in der Türkei), wobei nur die Ausreise im November 2012 unter Berücksichtigung der von ihm angegebenen Einberufung, der Militärdienstzeit und der Zeit in Dschabla, Banyas und Maarat an-Numan „passt“. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger dann an, Syrien im April oder Mai 2013 verlassen zu haben. Diese Ungereimtheiten vermochte der Kläger nicht zu erklären. Er gab auf Vorhalt in der mündlichen Verhandlung nur an, damals sehr mit seiner Familie beschäftigt gewesen zu sein und immer alles ganz schnell zu vergessen. Dies wie auch der weitere Erklärungsversuch des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er könne sich an alle Einzelheiten der Militärzeit nicht mehr erinnern, weil sie zu lange zurückläge, überzeugt nicht. Es mag sein, dass man sich nach sieben Jahren nicht mehr an jedes Detail dieser Zeit erinnern kann. Es ist aber zu erwarten, dass die essentiellen Grundzüge, wie die Bezeichnung der Einheit, die Uniform, der Tagesblauf und die Grundausbildung, beschrieben werden können und auch der chronologische Ablauf einer angeblichen Desertion mit Untertauchen und Ausreise in seinen wesentlichen Zügen widerspruchsfrei geschildert werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Ist nach alldem dem Kläger ein Militärdienst bzw. eine Desertion nicht abzunehmen, droht ihm bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat aus einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründe, weil er sich durch seine Flucht ins Ausland dem - bislang offensichtlich nicht abgeleisteten - Wehrdienst in der syrischen Armee entzogen hat.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Allein eine mögliche Heranziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee stellt dabei keine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgung dar. Die Heranziehung zum Militärdienst ist für sich genommen flüchtlingsrechtlich nicht relevant, sondern nur dann, wenn sie auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal zielt, also auf die Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Dies war und ist bei der Rekrutierung durch die syrische Armee nicht der Fall. Vielmehr rekrutierte und rekrutiert die syrische Armee unter allen ethnischen und religiösen Gruppen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 53 f. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Heranziehung zum Militärdienst zielte und zielt auch nicht auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Rekruten ab, etwa um (vermutete) Oppositionelle zu disziplinieren, sondern diente und dient allein der Auffüllung der durch Todesfälle, Desertion und Überläufer, zuletzt auch durch die notwendige Entlassung älterer Jahrgänge stark dezimierten syrischen Armee.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Urteile vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 44 f., und vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 50 f. und 60 f., jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Allerdings ist damit zu rechnen, dass der Kläger in Syrien wegen Wehrdienstentziehung gesucht wird.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">In Syrien besteht eine Militärdienstpflicht für Männer vom vollendeten 18. bis zum 42. Lebensjahr. Syrische Männer sind verpflichtet, sich nach Vollendung des 18. Lebensjahrs beim örtlichen Rekrutierungsbüro ihres Geburtsortes, an dem sie im Zivilregister registriert sind, zu melden. Unterlassen sie dies, werden sie vom örtlichen Rekrutierungsbüro mittels der Polizei vorgeladen. Ignorieren sie die Vorladung, werden sie nach einer gewissen Zeit auf die Liste der gesuchten Wehrdienstentzieher gesetzt. Die Namen der Wehrdienstentzieher werden in einer zentralen Datenbank erfasst, auf die die Grenzbeamten an den Grenzübertrittstellen Zugriff haben. Nach Art. 98 des syrischen Militärstrafgesetzes - syrMStG - wird jede militärdienstpflichtige Person, die in Friedenszeiten nicht innerhalb eines Monats auf die Einberufung reagiert und flüchtet, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen hat, mit Gefängnis von einem bis zu sechs Monaten bestraft. Nach Art. 99 syrMStG wird jede militärdienstpflichtige Person, die in Kriegszeiten nicht auf die Einberufung reagiert oder eingeschrieben worden ist und flüchtet, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen hat, je nach Dauer der Entziehung und je nachdem, ob sie sich freiwillig stellt oder verhaftet wird, mit Gefängnis von einem Monat bis zu einer zeitigen Freiheitsstrafe bestraft.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18. Januar 2018, S. 1 - 3; DIS, Syria. Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015, S. 11 und 16 f.; EASO, Syria. Military Service, April 2021, S. 20; DIS, Syria. Military Service, Mai 2020, S. 11; UNHCR, Inoffizielle Übersetzung der Art. 98 bis 114 des Militärstrafgesetzes (Gesetzesdekret Nr. 61/1950).</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Diese Strafvorschriften werden jedoch in Syrien nach den Erkenntnissen des Senats im Falle einfacher Wehrdienstentziehung durch Flucht ins Ausland nicht angewandt; eine Verurteilung wegen Wehrdienstentziehung wird voraussichtlich nicht erfolgen. Wehrdienstentzieher werden bei einer Rückkehr nach Syrien vielmehr lediglich festgenommen und zur Ableistung ihres Militärdienstes eingezogen. Die Festnahme und Einziehung zum Militärdienst dürfte mit einer kurzfristigen Inhaftierung des Wehrdienstentziehers einhergehen, um sein Untertauchen zu verhindern. Der Senat lässt offen, ob bereits in dieser kurzfristigen Inhaftierung eine flüchtlingsrechtsrelevante Verfolgung liegt oder während der kurzfristigen Inhaftierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrechtsrelevanten Übergriffen auf den Wehrdienstentzieher zu rechnen ist. Jedenfalls würden weder die Inhaftierung noch etwaige Übergriffe - auch in der Haft - auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abzielen, insbesondere nicht auf eine (unterstellte) politische oder religiöse Überzeugung.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Da der Kläger wahrscheinlich auf die Liste der gesuchten Wehrdienstentzieher gesetzt worden ist, wird er voraussichtlich bei einer Rückkehr nach Syrien über den Flughaften Damaskus oder eine andere vom syrischen Staat kontrollierte Grenzübertrittstelle verhaftet werden. Allerdings soll laut der syrischen Nachrichtenagentur SANA die Einreise- und Passabteilung des Innenministeriums der Arabischen Republik Syrien im Dezember 2018 alle Grenzstellen angewiesen haben, syrische Staatsbürger nicht zu inhaftieren, deren Militärdienstpflicht überfällig ist. Einreisende syrische Staatsbürger, deren Meldung zum Wehr- oder Reservedienst überfällig ist, sollen ihr Rekrutierungsbüro binnen 15 Tagen (Wehrdienstpflichtige) oder 7 Tagen (Reservedienstpflichtige) aufsuchen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. SANA, Immigration issues instructions not to detain citizens overdue to join military service at border crossings, vom 24. Dezember 2018, https://bit.ly/32FO3G6.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Der Senat bezweifelt jedoch, dass diese Anweisung bei einer Rückkehr von Wehrdienstentziehern nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere vom syrischen Staat kontrollierte Grenzübertrittsstelle beachtet werden wird, da die syrischen Sicherheitskräfte in diesem Fall damit rechnen müssten, dass der Wehrdienstentzieher in Syrien untertauchen und sich dem Militärdienst weiterhin entziehen wird. Der Senat hält es für wahrscheinlicher, dass die syrischen Sicherheitskräfte den Wehrdienstentzieher festnehmen und zum Militärdienst einziehen werden. Zu diesem Zweck wird der Wehrdienstentzieher voraussichtlich allenfalls kurzfristig, etwa für ein oder zwei Wochen, maximal drei Wochen inhaftiert werden, bis ein spezialisierter Militärangehöriger anwesend ist, der entscheidet, ob der Wehrdienstentzieher seinen Militärdienst antreten muss oder nicht.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen (BFA) hat im Dezember 2021 vier Experten dazu befragt, was passieren würde, wenn ein Wehrdienstverweigerer, der vom Regime gesucht werde, nach Syrien zurückkehren würde. Prof. Dr. C. (Universität Lyon) meinte, Wehrdienstentzieher würden zur Armee geschickt, weil sie - das syrische Regime - Soldaten bräuchten. Gefängnis sei ein netter Ort im Vergleich zur Front. Prof. Dr. V. (Universität Amsterdam) führte - zusammengefasst - aus, wenn ein gesuchter Wehrdienstentzieher an einem Kontrollpunkt gefasst werde, werde er auf der Stelle verhaftet und zur Armee geschickt, am häufigsten in eine aktive Kriegszone, wo die Gewalt am bedrohlichsten sei. Im weiteren Verlauf des Interwies führte er dann - zusammengefasst - aus, Inhaftierung sei ein sehr realistisches Szenario für Wehrdienstentzieher. Das Regime sei der Meinung, dass Wehrdienstentzieher für die Zeit, die sie sich dem Wehrdienst entzogen hätten, bestraft werden müssten. Die Bestrafung sei oft eine Gefängnisstrafe. Diese könne länger oder kürzer ausfallen, aber es sei wahrscheinlich, dass man zuerst für eine Weile inhaftiert und dann mit dem Befehl entlassen werde, sich beim nächsten Militärstützpunkt zu melden, um rekrutiert und in die Schlacht geschickt zu werden. Da es an zwei von drei Bürgerkriegsfronten derzeit ruhig sei, könne es sich das Regime leisten, die Leute ins Gefängnis zu stecken statt sie zu verhaften und direkt an die Front zu schicken. L1. L2. (Gastwissenschaftler am Carnegie Middle East Center, Beirut) meinte, Wehrdienstentzieher würden für eine Weile ins Gefängnis geschickt, zum Beispiel für eine oder zwei Wochen, höchstens drei Wochen, bis ein spezialisierter Militärangehöriger anwesend sei, der entscheide, wer als Soldat in die Armee einrücken müsse. N1. S. , ein syrischer Journalist und Medienexperte, nahm an, Wehrdienstentzieher würden festgenommen. Aber was immer er sagen würde, würde nicht stimmen, weil sie keine Einzelheiten kennen würden. Sie würden niemanden kennen, der ein Wehrdienstentzieher und zurückgekehrt sei.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation. Syrien. Wehrdienst, vom 27. Januar 2022, S. 11 - 18.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Der Senat zieht aus diesen Äußerungen den Schluss, dass es am wahrscheinlichsten ist, dass Wehrdienstentzieher bei einer Rückkehr nach Syrien verhaftet und allenfalls kurzfristig, etwa für ein bis zwei Wochen, höchstens drei Wochen inhaftiert werden, bis ein spezialisierter Militärangehöriger entscheidet, ob er seinen Militärdienst antreten muss oder nicht. Eine längere Inhaftierung als ein bis zwei Wochen, höchstens drei Wochen hält der Senat für unwahrscheinlich. Soweit Prof. Dr. V. ausführte, die Gefängnisstrafe könne auch länger ausfallen, folgt der Senat dem nicht. Die diesbezüglichen Äußerungen Prof. Dr. V1. waren widersprüchlich. Zunächst meinte er, wenn ein gesuchter Wehrdienstentzieher an einem Kontrollpunkt gefasst werde, werde er sofort zur Armee geschickt werden. Später meinte er dann, er würde für eine längere oder kürzere Zeit zur Bestrafung für die Wehrdienstentziehung inhaftiert. Auch die von Prof. Dr. V. für seine zweite Einschätzung gegebene Begründung überzeugt den Senat nicht. Es trifft zwar zu, dass die Intensität des Bürgerkriegs in Syrien in den vergangenen Jahren abgenommen hat. Soweit ersichtlich, findet derzeit keine größere Offensive der syrischen Armee statt. Es finden aber nach wie vor Kämpfe zwischen Einheiten des Regimes und seiner Verbündeten und bewaffneten Oppositionsgruppen im Süden der sog. Deeskalationszone in der Provinz Idlib statt. Auch strebt das syrische Regime unverändert die Rückgewinnung der Kontrolle über ganz Syrien an. Die Streitkräfte des Regimes sind aber mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch und personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben. Dies führt zum Beispiel in den Provinzen Quneitra, Daraa und Suweida dazu, dass die tatsächliche Hoheit häufig bei lokal verwurzelten Gruppierungen liegt.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 8 - 11.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Der Senat teilt daher die Einschätzung Prof. Dr. C1. , dass die syrische Armee nach wie vor einen hohen Personalbedarf hat, was eher für eine kürzere als für eine längere Inhaftierung spricht.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Bei der mithin allenfalls zu erwartenden bis zu dreiwöchigen Inhaftierung handelt es sich nicht um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Nach dieser Vorschrift gilt als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, weil die allenfalls zu erwartende kurzfristige Inhaftierung eines rückkehrenden Wehrdienstentziehers keine Strafverfolgung oder Bestrafung wäre, sondern allein dazu dienen würde sicherzustellen, dass der Wehrdienstentzieher sich seiner Militärdienstpflicht nicht (erneut) entzieht. Dies ergibt sich eindeutig aus der oben zitierten Einschätzung L1. L3. , die Inhaftierung würde nur so lange dauern, bis ein spezialisierter Militärangehöriger anwesend sei, der entscheide, wer als Soldat in die Armee einrücken müsse. Diese Einschätzung ist auch plausibel. Einerseits benötigt die syrische Armee nach wie vor - wie noch weiter ausgeführt wird - viele Soldaten. Andererseits ist es aber auch plausibel, dass es unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Syrien ein bis zwei oder sogar drei Wochen dauern kann, bis der spezialisierte Militärangehörige das Gefängnis aufsucht, in dem der Wehrdienstentzieher inhaftiert ist, um zu entscheiden, ob er in die Armee einrücken muss. Die Musterung und Einziehung von Wehrpflichtigen obliegt in Syrien nämlich, wie dargestellt, grundsätzlich dem für den Ort seiner Registrierung zuständigen örtlichen Rekrutierungsbüro.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18. Januar 2018, S. 2 und 4.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Dies gilt auch bei einer Festnahme und Inhaftierung des Wehrdienstentziehers. Nach den Ausführungen einer in Syrien tätigen humanitären Organisation gegenüber dem Dänischen Einwanderungsdienst im Februar 2020 seien Wehrdienstentzieher, die sich gestellt hätten oder die gefasst worden seien, als Bestrafung für die Wehrdienstentziehung für zwei bis 14 Tage in einem Militärgefängnis inhaftiert worden. Anschließend seien sie von den Rekrutierungsbehörden ihrer Herkunftsregion zum Militärdienst geschickt worden.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. DIS, Syria. Military Service, Mai 2020, S. 87, Nr. 336.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Angesichts der Zerstörungen und Beschädigungen der syrischen Infrastruktur ist es nachvollziehbar, dass nach der Verhaftung eines Wehrdienstentziehers zwei bis 14 Tage oder ein bis zwei oder sogar drei Wochen vergehen können, bis der für die Entscheidung über seine Einziehung zuständige Militärangehörige des Rekrutierungsbüros seiner Heimatregion in dem Gefängnis erscheint, in dem der Wehrdienstentzieher inhaftiert ist, und über seine weitere Verwendung entscheidet. Daher überzeugt die Angabe der in Syrien tätigen Organisation nicht, die von ihr beobachteten Inhaftierungen seien als Bestrafung für die Wehrdienstentziehung erfolgt, und ist die entsprechende Einschätzung Prof. Dr. V1. ebenfalls nicht plausibel.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Auch etwaige Übergriffe des Gefängnispersonals während einer (kurzfristigen) Inhaftierung würden nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zum Zwecke der Bestrafung erfolgen. Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amts sind die Haftbedingungen in Syrien in allen Gefängnissen gleich schlecht, besonders schlecht aber in den Haftanstalten, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind. Misshandlungen von Gefangenen erklären sich danach - soweit sie nicht gegen (vermeintlich) Oppositionelle eingesetzt werden (dazu unten) - aus der allgemein gestiegenen Gewaltbereitschaft des Gefängnispersonals.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Der zu erwartende Einsatz des Klägers in der syrischen Armee - auch mit der Versetzung an die Front - ist keine Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Hierfür bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte. Selbst der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge ist der Ansicht, es bestehe für alle Rekruten die potentielle Gefahr eines Kampfeinsatzes an der Front.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (6. aktualisierte Fassung, März 2021), S. 127; ebenso DIS, Syria. Military Service, Mai 2020, S. 13 f.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Soweit der Hohe Kommissar darüber hinaus meint, Berichte deuteten darauf hin, dass Rekruten aus „versöhnten“ Gebieten besonders gefährdet seien, innerhalb weniger Tage oder Wochen nach ihrer Festnahme und mit nur minimalem Training an vorderster Front für den Kampf eingesetzt zu werden, einschließlich als Bestrafung für ihre vermeintliche Illoyalität,</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (6. aktualisierte Fassung, März 2021), S. 127 f.; noch weitergehend: UNHCR, Relevant Country of Orgin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 9.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">tragen die von ihm zitierten Quellen diese Einschätzung nicht.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Prof. Dr. V. differenziert nicht zwischen Personen aus von der Regierung zurückeroberten Gebieten, ehemaligen Rebellenkämpfern und Oppositionsaktivisten und stützt seine Aussage, diese Männer würden zur Bestrafung an die Front geschickt, ausschließlich auf pauschale Behauptungen. Aus der Aussage der Syrian Civic Plattform (SCP), die dort genannten Personen seien durch Feldexekutionen oder in Kämpfen gestorben, ergibt sich nicht, dass deren Einziehungen zum Wehrdienst zur Bestrafung erfolgte. Bei der zitierten Äußerung von TIMEP handelt es sich um eine bloße Behauptung ohne erkennbare Tatsachengrundlage. Der zitierte Artikel „Reconciling with death, disappearance and fear“ der Syrian Association for Citiziens‘ Dignity (SACP) vom 24. Juli 2019 trägt ebenfalls nicht deren Schlussfolgerung, Zwangsrekrutierung diene der Regierung zur Auslöschung regierungsfeindlicher Elemente. Aus ihm ergibt sich lediglich, dass Rekruten, die einen sogenannten Versöhnungsprozess durchlaufen hatten, an der Front wegen angeblich geplanter Desertion erschossen oder in Kämpfen mit Rebellen getötet wurden. Das Middle East Institute gibt lediglich Spekulationen einer von ihm interviewten Quelle wieder. Bei der vom Hohen Kommissar zitierten Aussage von Ninar al-Ra’i (EUI) handelt es sich ebenfalls um reine Spekulation.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Es bestehen auch sonst keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass (ehemalige) Wehrdienstentzieher während der Ableistung ihres Wehrdienstes anders behandelt werden als andere Wehrpflichtige. Soweit Prof. Dr. V. gegenüber dem österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen ausführte, Wehrdienstentzieher würden höchstwahrscheinlich die schlechtesten Arbeiten zu verrichten haben, sie würden schickaniert und geschlagen werden,</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">vgl. BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation. Syrien. Wehrdienst, 27. Januar 2022, S. 16,</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">handelt es sich dabei letztlich, soweit Prof. Dr. V. meint, Wehrdienstentzieher würden insoweit schlechter behandelt werden als andere Wehrpflichtige, um Spekulation. Der Senat hat keine stichhaltigen, tatsachenbasierten Erkenntnisse, dass (ehemalige) Wehrdienstentzieher während der Ableistung ihres Wehrdienstes in der syrischen Armee anders behandelt werden als andere Wehrpflichtige.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch L2. L1. , in: BFA, a.a.O., S. 18 oben.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Ob die allenfalls zu erwartende kurzfristige Inhaftierung des Wehrdienstentziehers von ein oder zwei Wochen, höchstens drei Wochen mit Blick auf die Haftbedingungen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellen würde, kann der Senat offen lassen. Nach der vorgenannten Vorschrift gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG unter anderem Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist. Zu diesen Rechten gehört auch Art. 3 EMRK. Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Haftbedingungen können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sein. Es kommt hierbei auf die Umstände des Einzelfalls an, unter anderem auf die Dauer der Haft, die Größe des Haftraums und dessen Belegung, Belüftung und Beleuchtung, auf die hygienischen Zustände, die Versorgung mit Getränken und Nahrungsmitteln, deren Qualität, den Zugang zu medizinischer Behandlung und anderes mehr.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa EGMR, Urteile vom 6. Oktober 2015 - 80442/12 -, NVwZ 2016, 1387 (1390 ff.), Rdnr. 93 ff., vom 10. Juni 2014 - 51318/12 -, EuGRZ 2016, 104 (105), Rdnr. 24 ff., und vom 15. Juli 2002 - 47095/99 -, NVwZ 2005, 303 (304 f.), Rdnr. 96 ff.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Nach den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Kriterien könnten die Haftbedingungen für Wehrdienstentzieher in der allenfalls zu erwartenden bis zu dreiwöchigen Haft eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 sind die Haftbedingungen in Syrien nach Berichten von humanitären und Menschenrechtsorganisationen sowie der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für Syrien (CoI), die im Wesentlichen auf der Dokumentation tausender Einzelschicksale beruhen, unverändert grausam und menschenverachtend. Dies gelte generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Haftanstalten, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht seien. Seit Ausbruch des Konflikts hätten sich die Zustände danach aufgrund von Überfüllung und einer gestiegener Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert. Gefangene seien auf engstem Raum untergebracht, Nahrungsrationen würden nicht oder nicht in ausreichender Menge und Qualität zur Verfügung gestellt, die hygienischen Zustände seien katastrophal und eine medizinische Versorgung bestehe kaum.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 22; ebenso: USDOS, Syria 2021 Human Rights Report, S. 10 f.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Wie die Haftbedingungen für einen nach Syrien zurückgekehrten Wehrdienstentzieher konkret sein werden, vermag der Senat indes nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Ein Artikel der Oppositions-Website Alsouria Net vom 8. Januar 2019 benennt als Haftanstalten, in denen junge Männer (Wehr- und Reservedienstentzieher) üblicherweise für eine Woche, zwei Wochen oder einen Monat inhaftiert würden, bevor sie zu den Zentren (Militärbasen) B1. -Drej, B1. -Banak und Hananou gebracht würden, die Gefängnisse der Militärpolizei in B1. -Balouna und B1. -Qaboun.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung (März 2021), S. 133, Fn. 592; Alsouria Net, The Regime Issues Lists for 15,000 People Wanted for the Army, 8. K. 2019.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Im Anhang I des Berichts der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien des Menschenrechtsausschusses der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 11. März 2021 wird die Haftanstalt der Militärpolizei in B1. -Qaboun als eine solche gekennzeichnet, in der in der Vergangenheit (im Zeitraum von 2011 bis 2020) Folter, sexuelle Gewalt, unmenschliche, erniedrigende Behandlung und erzwungenes Verschwinden/Incommunicado-Haft vorgekommen seien (S. 32). Nähere Informationen enthält der Bericht jedoch nicht, insbesondere nicht, worin die unmenschliche, erniedrigende Behandlung konkret bestanden haben soll und ob von dieser sowie von Folter und (sexueller) Gewalt auch Wehrdienstentzieher betroffen waren. Nähere Informationen über die Haftbedingungen in der Haftanstalt in B1. -Balouna hat der Senat ebenfalls nicht.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Der Senat kann dies letztlich dahinstehen lassen, weil es jedenfalls an einer Verknüpfung mit einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">So auch Bay. VGH, Urteil vom 2. Mai 2022 - 21 B 19.34314 -, juris, Rdnr. 60 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 22. April 2022 - 2 LB 147/18 -, juris, Rdnr. 58 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 8. März 2022 - 3 L 74/21 -, juris, Rdnr. 36 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 -, juris, Rdnr. 29 ff.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Wie bereits ausgeführt, würde die Inhaftierung des Klägers allein dem Zweck dienen, ihn dem Militärdienst zuzuführen, und damit nicht an eine (unterstellte) politische Gesinnung, religiöse Überzeugung oder einen anderen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen. Auch etwaige Misshandlungen, das heißt körperliche Übergriffe des Gefängnispersonals, würden nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen, sondern willkürlich erfolgen. Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amts sind die Haftbedingungen in Syrien in allen Gefängnissen gleich schlecht, besonders schlecht aber in den Haftanstalten, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind. Misshandlungen von Gefangenen erklären sich danach aus der allgemein gestiegenen Gewaltbereitschaft des Gefängnispersonals. Es bestehen jedoch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass das syrische Regime Wehrdienstentzieher als politisch Oppositionelle betrachtet. Hiergegen spricht entscheidend, dass es Wehrdienstentzieher und (vermeintlich) politisch Oppositionelle nicht gleich behandelt. Wehrdienstentzieher werden nicht bestraft, sondern lediglich zum Militärdienst eingezogen, während das syrische Regime (vermeintlich) politisch Oppositionelle unnachsichtig und mit aller Härte verfolgt, unter anderem durch Inhaftierung und Folter in den verschiedenen Gefängnissen der Geheimdienste und im Militärgefängnis Sednaya, um Geständnisse und Informationen zu erpressen, die Betroffenen für - aus der Sicht des syrischen Regimes - oppositionelle Betätigung oder Unterstützung der Opposition zu bestrafen und ihren Widerstandswillen zu brechen. Die Folter und die Haftbedingungen für (vermeintlich) Oppositionelle in den Gefängnissen der Geheimdienste und im Militärgefängnis Sednaya sind so hart, dass zahlreiche Gefangene daran gestorben sind.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu UNHRC, Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic vom 11. März 2021, S. 8 ff., §§ 16 ff.; ai, It breaks the human. Torture, disease and death in Syria’s prisons, August 2016.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Einer derart harten Behandlung werden Wehrdienstentzieher während ihrer allenfalls kurzfristigen Inhaftierung voraussichtlich nicht unterworfen werden. Weder die allgemeinen Haftbedingungen noch (etwaige) Misshandlungen durch das Gefängnispersonal oder während der Ableistung des Wehrdienstes bieten daher einen tragfähigen Anhalt für die Annahme, dass das syrische Regime, das Gefängnispersonal oder die syrische Armee Wehrdienstentziehern eine oppositionelle Gesinnung unterstellt.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Es auch nicht plausibel, dass das syrische Regime Wehrdienstentziehern generell oder auch nur regelmäßig eine oppositionelle Gesinnung unterstellt. Es ist offensichtlich, dass viele junge syrische Männer sich dem Wehrdienst nicht deshalb entzogen haben, weil sie in Opposition zum Assad-Regime stehen oder aus Gewissensgründen, sondern aus Furcht, in Kampfhandlungen getötet oder verwundet zu werden. Dies wird auch dem syrischen Regime, den syrischen Sicherheitskräften und der syrischen Armee nicht verborgen geblieben sein.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Da nach der Überzeugung des Senats weder die (allenfalls) zu erwartende kurzfristige Inhaftierung von Wehrdienstentziehern in Syrien noch die Haftbedingungen während der Inhaftierung noch die Behandlung (ehemaliger) Wehrdienstentzieher während ihrer Ableistung des Wehrdienstes eine Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG sind, entfällt auch die hieran vom Gerichtshof der Europäischen Union geknüpfte „starke Vermutung“ für eine Verknüpfung dieser Verfolgungshandlung mit einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe. Der Gerichtshof der Europäischen Union stützt die von ihm entwickelte „starke Vermutung“ für eine solche Verknüpfung gerade unter anderem darauf, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgegangen sei, dass die Verfolgungshandlung des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) im Allgemeinen mit zumindest einem der fünf Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in Zusammenhang stehe.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 -, NVwZ 2021, 319 (323), Rdnr. 58.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die anderslautende Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen teilt der Senat nicht. Das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen stützt seine Entscheidung im Wesentlichen darauf, der dortige Kläger habe seinen Militärdienst im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG verweigert, indem er sich nach Erreichen seines 18. Lebensjahres nicht in Syrien zum Militärdienst gemeldet habe. Der Militärdienst des Klägers würde auch in einem Konflikt stattfinden und sehr wahrscheinlich Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Der Kläger habe auch als Wehrdienstentzieher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung oder Bestrafung wegen seiner Militärdienstverweigerung zu befürchten. Es sprächen überwiegende Gründe für die Annahme, dass der Kläger als einfacher Wehrdienstentzieher bei einer Rückkehr jedenfalls festgenommen und zur Bestrafung für einige Tage inhaftiert werden würde, bevor er einberufen und militärisch verwendet würde. Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Inhaftierung des Klägers erreiche auch die gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erforderliche Intensität einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte. Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG sei auch mit einem Verfolgungsgrund verknüpft. Die starke Vermutung, dass die Militärdienstverweigerung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG mit einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3b AsylG im Zusammenhang stehe, sei im vorliegenden Fall plausibel.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Bremen, Urteil vom 23. März 2022 - 1 LB 484/21 -, juris, Rdnr. 39 ff.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Diese Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen überzeugen den Senat nicht. Das Oberverwaltungsgericht stützt seine Einschätzung, es sprächen überwiegende Gründe dafür, dass die Inhaftierung und die damit verbundenen Misshandlungen und erniedrigenden Behandlungen jedenfalls auch zur Bestrafung der Wehrdienstentzieher erfolgten, lediglich auf die Aussagen der von der Dänischen Einwanderungsbehörde am 21. Februar 2020 befragten in Syrien arbeitenden humanitären Organisation und Fadel Abdel Ghanys (SNHR), dass die Inhaftierungen zur Bestrafung der Wehrdienstentzieher erfolgten, sowie auf die Aussage des Auswärtigen Amts, das syrische Regime mache bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung Gebrauch.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks"> Vgl. OVG Bremen, a.a.O., Rdnr. 73.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Aussagen der in Syrien arbeitenden humanitären Organisation und Fadel Abdel Ghanys, die (kurzfristigen) Inhaftierungen seien als Bestrafung für die Wehrdienstentziehung erfolgt, wurden von diesen aber nicht näher erläutert und sind auch nicht plausibel. Näher liegt die Annahme, dass die (kurzfristige) Inhaftierung allein der Sicherung vor (erneutem) Untertauchen diente. Soweit das Auswärtige Amt in seinem Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021) vom 29. November 2021 ausführt, das Regime mache bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) Gebrauch (S. 19), stützt dies die Annahme des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen ebenfalls nicht, denn eine Bestrafung von rückkehrenden Wehrdienstentziehern nach dem Anti-Terror-Gesetz ist in der Praxis gerade nicht zu erwarten, sondern dass der Wehrdienstentzieher zum Militärdienst eingezogen und zu diesem Zweck allenfalls kurzfristig inhaftiert wird.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen zur Verknüpfung der von ihm erwarteten unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung von Wehrdienstentziehern in der Haft mit einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vermögen ebenfalls nicht zu überzeugen. Die vom Gerichtshof der Europäischen Union diesbezüglich aufgestellte „starke Vermutung“ greift nicht ein. Die weiteren Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts überzeugen ebenfalls nicht. Das Oberverwaltungsgericht führt insoweit aus, es erscheine plausibel, dass der syrische Staat eine Wehrdienstentziehung jedenfalls als Illoyalität gegenüber seinem Regime auslege, denn Wehrdienstentzieher hätten sich dem Erhalt oder jedenfalls der Stabilisierung des Regimes in Anbetracht aufständischer Kräfte und einem noch immer herrschenden Bürgerkrieg nicht zur Verfügung gestellt und damit nicht zugunsten des syrischen Regimes Stellung bezogen. Im Weiteren stützt das Oberverwaltungsgericht seine Einschätzung auf eine Reihe von Äußerungen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, des Europäischen Asylunterstützungsbüros, des Auswärtigen Amts und des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen, denen zufolge das syrische Regime bei der Einstufung, was als abweichende politische Meinung betrachtet werde, sehr weite Kriterien anwende, wozu jede Form von Kritik, Widerstand oder unzureichender Loyalität gegenüber der Regierung zähle, was regelmäßig zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffende Person führe, dass Wehrdienstentziehungen nach wie vor wahrscheinlich als politisch regierungsfeindlicher Akt, als Ausdruck des politischen Dissenses und als mangelnde Bereitschaft angesehen würden, das Vaterland gegen terroristische Bedrohungen zu schützen, und dass Rückkehrende von den Sicherheitsbehörden nach wie vor als Feiglinge und Fahnenflüchtige, schlimmstenfalls als Verräter oder Anhänger von Terroristen angesehen würden.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks"> Vgl. OVG Bremen, a.a.O., Rdnr. 78.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Es mag sein, dass der syrische Staat Wehrdienstentziehung als illoyal gegenüber dem Regime betrachtet und dass die syrischen Sicherheitskräfte rückkehrende Wehrdienstentzieher als Feiglinge und Fahnenflüchtige ansehen werden. Derartige Ansichten werden aber voraussichtlich nicht negativer auf die zu erwartende Behandlung von Wehrdienstentziehern durchschlagen. Denn nach dem vom Oberverwaltungsgericht selbst zitierten Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 29. November 2021 sind die Haftbedingungen in allen Gefängnissen in Syrien gleich schlecht, besonders schlecht aber in den Haftanstalten, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind. Es bestehen aber keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme, dass das syrische Regime Wehrdienstentzieher als politisch Oppositionelle betrachtet. Es mag zunächst sein, dass die Kriterien dafür, wen das syrische Regime als oppositionell betrachtet, weit sind. Soweit der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, das Europäische Asylunterstützungsbüro und das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen behaupten, hierunter fielen auch Wehrdienstentzieher, mangelt es hierfür jedoch an einer tragfähigen Begründung.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Erwägungen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (6. aktualisierte Fassung, März 2021), sind diesbezüglich in sich widersprüchlich. Einerseits schreibt der Hohe Kommissar, zu den Personen, denen regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt werde, zählten unter anderem Wehrdienstentzieher und Deserteure (S. 102), ohne dies nachvollziehbar zu begründen. Andererseits schreibt der Hohe Kommissar, Wehrdienstentzieher, die für Regierungsgegner gehalten würden, unterlägen laut Berichten dem Risiko einer besonders strengen Behandlung während der Festnahme, beim Verhör und in Haft sowie, nach der Einziehung, während des Militärdienstes (S. 133), geht also davon aus, dass Wehrdienstentzieher nicht per se als oppositionell wahrgenommen würden.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">In seinen Informationen über das Herkunftsland Syrien vom 7. Mai 2020 schreibt der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, unabhängige Beobachter notierten, dass Wehrdienstentziehung von der Regierung wahrscheinlich als eine politische, regierungsfeindliche Handlung angesehen werde (S. 9 mit Fn. 33). Die von ihm zitierten Beobachter begründen aber ihre Einschätzung nicht oder nicht tragfähig. T. L4. (HRW) begründet ihre dort zitierte Auffassung nicht näher, Personen aus früher von der Opposition gehaltenen Gegenden, die von der syrischen Regierung zwangsrekrutiert worden seien, werde sehr wahrscheinlich, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, wahrscheinlich eine regierungsfeindliche Meinung unterstellt, möglicherweise auch Personen aus Gebieten unter regierungsfeindlicher Kontrolle. Ebenso belegt Prof. Dr. V. seine (pauschalierende) Aussage nicht, alle anderen (außer Alawiten), insbesondere Sunniten aus der Arbeiterklasse aus rebellischen Gegenden (wie Ost-Ghouta), würden als der Armee illoyal wahrgenommen und routinemäßig misshandelt, litten unter gewaltsamen, schikanösen Ritualen und hätten oft ein körperliches Training auszuhalten, das nach europäischen Maßstäben als Folter bewertet werden würde, und einige von ihnen würden an der Front auf der Stelle erschossen und ihr Tod als Selbstmord, Unfall oder im Kampf bezeichnet. Prof. Dr. V. benennt für seine Ausführungen lediglich zwei Quellen, nämlich zwei Alawiten, die lediglich eine finanzielle Kompensation von 8.000 $ zu zahlen gehabt hätten. Belege für seine weiteren Ausführungen nennt er nicht. Soweit der Hohe Kommissar weiter auf seine Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (5. aktualisierte Fassung vom November 2017), verweist, sind diese veraltet. Soweit der Hohe Kommissar weiter schreibt, Wehrdienstentzieher würden Berichten zufolge binnen Tagen oder Wochen nach ihrer Verhaftung mit oft nur minimalem Training als Bestrafung für ihre angenommene Illoyalität an die Front geschickt (S. 9 mit Fn. 36), tragen die von ihm zitierten Berichte diese Einschätzung ebenfalls nicht (siehe oben zur Frage der Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Das Europäische Asylunterstützungsbüro führt in seinem Länderleitfaden Syrien vom November 2021 aus, über die syrische Regierung werde berichtet, sie sehe unter anderem Wehrdienstentzieher als politische Dissidenten (S. 74), und verweist hierzu auf seinen Bericht „Syria. Targeting of individuals“ vom März 2020, und dieser für die entsprechenden Ausführungen (S. 13) wiederum auf den Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien des Menschenrechtsausschusses der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 31. Januar 2019. In diesem nennt die Untersuchungskommission „conscript deserters“ in einem Atemzug mit anderen Gruppen als solche, die allgemein als Unterstützer der Opposition wahrgenommen würden (§ 73). Es ist jedoch bereits unklar, wen die Untersuchungskommission mit „conscript deserters“ meint. Im englischen Sprachgebrauch gibt es „draft evaders“ (Wehrdienstentzieher), „deserters“ (Deserteure) und „defectors“ (Überläufer), aber keine „conscript deserters“. Auch das syrische Militärstrafgesetz differenziert zwischen solchen Personen, die geflüchtet sind, bevor sie sich ihrer Einheit angeschlossen haben (Art. 98 f. syrMStG) (= Wehrdienstentzieher), und solchen, die ihre Einheit verlassen haben (Art. 100 f. syrMStG) (= Deserteure). Abgesehen davon begründet die Untersuchungskommission ihre Aussage auch nicht.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">In seinem Bericht „Syria. Military Service“ von April 2021 führt das Europäische Asylunterstützungsbüro aus, während des gesamten Konflikts hätten Quellen berichtet, dass die syrische Regierung die Handlungen weiter Kategorien von Individuen als politischen Dissens betrachte, einschließlich Wehrdienstentziehern und Deserteuren (S. 12), verweist hinsichtlich Wehrdienstentziehern aber wiederum lediglich auf den genannten Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für Syrien vom 31. Januar 2019, auf die Erwägungen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom November 2017 und auf einen Artikel von B1. K1. vom 20. Juni 2016, dem sich für die genannte Auffassung jedoch nichts Tragfähiges entnehmen lässt.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen schließlich führt in seiner Länderinformation der Staatendokumentation: Syrien vom 24. Januar 2022 aus, Berichten zufolge betrachte die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (S. 74), und verweist hierzu auf seine entsprechende Aussage im „Fact Finding Mission Report Syrien“ vom August 2017 (S. 19) und dieser wiederum auf die entsprechende Aussage im Länderleitfaden des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom Februar 2017 (S. 23). Die hierin zitierten Berichte tragen indessen die genannte Aussage wiederum nicht.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Der Senat folgt auch nicht der anderslautenden Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Urteile vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 und OVG 3 B 90.18 - und vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18, OVG 3 B 108.18 und OVG 3 B 109.18 -). Das Oberverwaltungsgericht begründet seine jüngsten Entscheidungen im Wesentlichen damit, Wehrdienstentziehern drohe in Syrien eine Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, nämlich eine zeitweilige Inhaftierung oder dauerhaftes „Verschwinden“ sowie Fronteinsatz nach nur minimaler Ausbildung als Bestrafung. Es sei auch beachtlich wahrscheinlich, dass die syrische Regierung Wehrdienstpflichtigen wegen ihrer Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Haltung als Verfolgungsgrund zuschreibe.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 -, juris, Rdnr. 17 und 20 f., und - OVG 3 B 90.18 -, juris, Rdnr. 25 ff. und 32 f.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, Wehrdienstentziehern drohe in Syrien dauerhaftes „Verschwinden“, ist nicht nachvollziehbar. Alle aktuellen Berichte und Auskünfte sind sich darin einig, dass Wehrdienstentzieher in Syrien zum Militär eingezogen werden, sei es unmittelbar, sei es nach einer kürzeren oder längeren Inhaftierung. Soweit das Auswärtige Amt in seinem Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020) vom 4. Dezember 2020 gemeint haben sollte, auch Fälle, bei denen Rückkehrer in Syrien dauerhaft „verschwunden“ seien, könnten in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst stehen, wäre dies daher nicht nachvollziehbar. Abgesehen davon findet sich eine solche Aussage im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts nicht mehr.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 30.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Es mag sein, dass die syrische Armee in der Vergangenheit Rekruten mit nur minimaler Ausbildung in den Kampf geschickt hat. Die Absicht einer Bestrafung oder ein Strafcharakter dieser Einsätze ist jedoch nicht erkennbar. Die hierfür vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen angeführten Quellen tragen diese Behauptung nicht (siehe oben). Die genannte Vorgehensweise der syrischen Armee beruht offensichtlich auf ihrem notorischen Mangel an Soldaten, der auch erklärt, warum das syrische Regime Wehrdienstentzieher nicht mit Gefängnisstrafen bestraft, sondern einzieht und an die Front schickt, und der auch die wiederholten Amnestieversprechen der syrischen Regierung für Wehrdienstentzieher und Deserteure erklärt, um diese zu bewegen, sich freiwillig zu stellen und ihren Wehrdienst abzuleisten. Auch der Artikel „Reconciling with death, disappearence and fear“ der Syrian Association for Citizens‘ Dignity vom 24. Juli 2019 lässt als den wahren Grund, frisch rekrutierte Wehrpflichtige in den Kampf zu werfen, den Mangel der syrischen Armee an Soldaten erkennen (zu einem Kampfeinsatz in Nord-Hama am 22. Mai 2019).</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Auch die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, es sei beachtlich wahrscheinlich, dass die syrische Regierung Wehrdienstpflichtigen wegen ihrer Wehrdienstentziehung eine oppositionelle Haltung als Verfolgungsgrund zuschreibe, ist nicht tragfähig begründet. Die Voraussetzungen der diesbezüglich vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten „starken Vermutung“ liegen nicht vor. Die vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, dem österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und dem Europäischen Asylunterstützungsbüro zitierten Aussagen und Berichte tragen die Einschätzung nicht, Wehrdienstentziehung werde als regierungsfeindliche Handlung, als politischer Dissens oder als politische Opposition betrachtet. Im Übrigen mag es zutreffen, dass die syrischen Sicherheitsbehörden Wehrdienstentzieher als Feiglinge und Fahnenflüchtige ansehen. Dies wird aber voraussichtlich nicht auf ihre Behandlung durchschlagen.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Der Senat folgt schließlich auch nicht der Rechtsprechung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts. Dieses stützt seine Einschätzung, Militärdienstentziehern werde vom syrischen Regime eine oppositionelle Haltung zugeschrieben, im Wesentlichen darauf, es seien Fälle bekannt geworden, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Dies stehe überwiegend im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Ein Syrien-Experte weise darauf hin, dass alle, die sich dem Regime entzögen, als Oppositionelle betrachtet würden. Weiter stützt das Thüringer Oberverwaltungsgericht seine Einschätzung auf eine Reihe von Äußerungen von Syrien-Beobachtern aus dem Jahr 2017 sowie darauf, die syrische Regierung wende bei der Frage, wo Opposition beginne, sehr weite Kriterien an. Schließlich meint das Thüringer Oberverwaltungsgericht, die von ihm angenommenen Verfolgungshandlungen der Folter und der Verwendung von Wehrdienstentziehern als „Kanonenfutter“ indizierten eine politische Verfolgung.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vgl. Thür. OVG, Urteile vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 -, juris, Rdnr. 124 ff., und - 3 KO 167/18 -, juris, Rdnr. 126 ff.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Diese Begründung überzeugt den Senat nicht. Ein dauerhaftes Verschwinden von Wehrdienstentziehern ist nicht zu erwarten und die mögliche kurzfristige Inhaftierung deutet ebenfalls nicht auf eine zugeschriebene oppositionelle Haltung hin. Die vom Thüringer Oberverwaltungsgericht angeführte Auskunft des Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 12. März 2018, in der ein Syrien-Experte behauptet haben soll, dass alle, die sich dem Regime entzögen, als Oppositionelle betrachtet würden, hat der Senat nicht finden können. Diese Einschätzung ist im Übrigen auch nicht plausibel. Die vom Thüringer Oberverwaltungsgericht zitierten Einschätzungen aus dem Jahr 2017 sind veraltet. Dass die syrische Regierung bei der Ansicht, wo politische Opposition beginne, sehr weite Kriterien anwendet, bedeutet nicht, dass sie auch Wehrdienstentzieher als oppositionell betrachtet. Das Ausmaß Wehrdienstentziehern drohender Verfolgung in Syrien deutet gerade nicht darauf hin, dass das syrische Regime sie der Opposition zurechnet.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger droht ferner bei einer Rückkehr nach Syrien nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil er Syrien illegal verlassen hat, in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und sich seit 2015 hier aufhält. Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine politische Verfolgung droht wegen einer ihnen zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Gründen im Einzelnen OVG NRW, Urteile vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A -, juris, Rdnr. 33 ff., vom 18. April 2019 - 14 A 2608/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 7. Februar 2018 - 14 A 2390/16.A -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 30 ff., und vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -, juris, Rdnr. 28 ff.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Daran hält der Senat fest.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Politische Verfolgung aus diesen Gründen ebenso verneinend OVG S.-A., Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 -, juris, Rdnr. 57; OVG Berlin-Bbg., Urteile vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 12. Februar 2019 - OVG 3 B 27.17 -, juris, Rdnr. 17 ff., und vom 22. November 2017 - 3 B 12.17 -, juris, Rdnr. 27 ff.; OVG M.-V., Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 -, juris, Rdnr. 40 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 -, juris, Rdnr. 42 ff.; Bay. VGH, Urteile vom 21. September 2020 - 21 B 19.32725 -, juris, Rdnr. 23 ff., und vom 9. Mai 2019 - 20 B 19.30534 -, juris, Rdnr. 31 ff.; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2020 - 8 A 780/17.A -, juris, Rdnr. 24 f., und Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A -, juris, Rdnr. 60 ff.; Schl.-H. OVG, Urteile vom 19. Juni 2019 - 5 LB 24/19 -, juris, Rdnr. 32 f., und vom 4. Mai 2018 - 2 LB 17/18 -, juris, Rdnr. 35 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 20. Februar 2019 - 2 LB 152/18 -, juris, Rdnr. 29 ff.; Sächs. OVG, Urteile vom 6. Februar 2019 - 5 A 1066/17.A -, juris, Rdnr. 24 ff., und vom 7. Februar 2018 - 5 A 1245/17.A -, juris, Rdnr. 21 ff.; OVG Saarl., Urteile vom 14. November 2018 - 1 A 609/17 -, juris, Rdnr. 36 ff., und vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 -, juris, Rdnr. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rdnr. 18 ff.; OVG Rh.-Pf., Urteile vom 20. September 2018 - 1 A 10215/17.OVG -, juris, S. 11 f., und vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -, juris, Rdnr. 55 ff.; Thür. OVG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 -, juris, Rdnr. 60 ff.; Hamb. OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A -, juris, Rdnr. 62 ff.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Das angefochtene Urteil und das klägerische Vorbringen geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor. Der Bericht des britischen Home Office von Juni 2022, auf den der Kläger hinweist, enthält insoweit ebenfalls keine neuen Erkenntnisse. Ein dort zitierter Mitarbeiter der syrischen Menschenrechtsorganisation SJAC meint, Personen, die Syrien illegal verlassen und dies nicht vor ihrer Rückkehr bereinigt hätten, würden direkt in ein Militärgefängnis oder eine Abteilung des militärischen Sicherheitsdienstes geschickt (S. 10). Dies dürfte auf Wehrdienstentzieher wie den Kläger zutreffen. Es gibt aber keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass die syrischen Behörden dem Wehrdienstentzieher, auch wenn er Syrien illegal verlassen und in Europa einen Asylantrag gestellt hat, deshalb eine politisch oppositionelle Gesinnung unterstellen werden. Der Bericht des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen vom 28. Juni 2022 über zivile Todesopfer in Syrien zwischen 2011 und 2021 bietet hierfür ebenfalls keine Erkenntnisse.</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hätte bei einer Rückkehr nach Syrien ferner nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch die FSA zu befürchten. Auch wenn diese ihn vor seiner Ausreise aus Syrien zum Eintritt aufgefordert hätten, hat die FSA aber nichts unternommen, um das auch zwangsweise durchzusetzen. Es steht daher nicht zu erwarten, dass die FSA den Kläger nach seiner Rückkehr nach Syrien zwangsrekrutieren würde. Selbst wenn dem so wäre, würde dies mangels Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG keine flüchtlingsrechtsrelevante Verfolgung darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 der Zivilprozessordnung - ZPO -, § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Duldungsbescheids vom 27. Juli 2020.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin war verheiratet mit Herrn A (im Folgenden: Vollstreckungsschuldner). Mit diesem zusammen hatte die Klägerin das Flurstück XX/YY, Flur Z, verzeichnet im Grundbuch von S, Amtsgericht S, Blatt XXX (bis 19. Mai 2004 auf Blatt YYY), erworben. Das Grundstück wurde am 23. Dezember 2003 aufgelassen und die Eheleute am 19. Mai 2004 jeweils als hälftige Eigentümer eingetragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Vollstreckungsschuldner war in den Jahren 2001 und 2002 Umsatzsteuervorauszahlungen und Umsatzsteuernachzahlungen schuldig geblieben. Diese summierten sich einschließlich der Verspätungszuschläge, Zinsen und Säumniszuschläge bis zum 27. Juli 2004 auf eine fällige Forderung von 14.488,85 Euro auf. Wegen dieser beantragte der Beklagte beim zuständigen Amtsgericht S die Eintragung einer Zwangssicherungshypothek auf den Anteil des Vollstreckungsschuldners. Unter dem 09. August 2004 erfolgte die Eintragung in Abt. III unter lfd. Nr. 3 des Grundbuchs.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Zu jenem Zeitpunkt bestanden vorrangige Belastungen in Form einer Sicherungsgrundschuld zugunsten der L iHv. 165.000,00 Euro sowie - nur für den Anteil des Vollstreckungsschuldners - einer Sicherungshypothek für die Stadt P iHv. 29.531,59 Euro. Zugunsten der Stadt P wurde in der Folgezeit schließlich eine weitere Sicherungshypothek eingetragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Mit Grundstückskaufvertrag vom 13. September 2004 (UR-Nr. 428 des Notars W in P) verkaufte der Vollstreckungsschuldner seinen ihm gehörenden hälftigen Anteil an die Klägerin. Unter § 5 des Vertrages („Lastenfreistellung“) heißt es:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>1.) Der Verkäufer verpflichtet sich, den Kaufgegenstand frei von Belastungen in Abt. II und Abt. III des Grundbuchs und frei von schuldrechtlichen Ansprüchen Dritter zu übertragen, soweit nicht abweichende Regelungen erfolgen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>2.) Die in Abteilung lll Ziffer 1 bis 3 eingetragenen Rechte über insgesamt 209.020,44 werden als dingliche Last übernommen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>3.) Eine Befreiung des Erschienenen zu 1) (Anm.: des Vollstreckungsschuldners) von der persönlichen Schuldhaft bezüglich der Rechte Abteilung lll Ziffer 1 bis 3 erfolgt nicht.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Aufgrund der in § 6 des Grundstückkaufvertrages vereinbarten Auflassung erfolgte die Eintragung der Klägerin als alleinige Eigentümerin am 08. Oktober 2004.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Über das Vermögen des Vollstreckungsschuldners wurde am XX. Oktober 2009 beim Amtsgericht H unter dem Az. XX IN YY/ZZ das Insolvenzverfahren eröffnet. Dem Vollstreckungsschuldner wurde schließlich durch Beschluss vom YY. Dezember 2015 gem. § 300 Insolvenzordnung Restschuldbefreiung erteilt. Das Finanzamt hat für die der Zwangssicherungshypothek zugrundeliegenden Steuerforderungen im Insolvenzverfahren kein Absonderungsrecht iSd. § 49 f. Insolvenzordnung geltend gemacht. Eine Verwertung oder Geltendmachung des vom Vollstreckungsschuldner an die Klägerin veräußerten Grundstücksanteils durch den Insolvenzverwalter des Vollstreckungsschuldners zugunsten der Insolvenzmasse ist nicht erfolgt. Die Forderungen des Beklagten wurden zur Insolvenztabelle angemeldet und vom Insolvenzverwalter des Vollstreckungsschuldners unter lfd. Nr. 13 in voller Höhe festgestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 15. Oktober 2019 meldete sich der von der Klägerin mit der Löschung der Grundlasten beauftragte Notar M und bat um Hereingabe einer Löschungsbewilligung, da die Forderung - wie er erklärte - auskunftsgemäß nicht mehr bestehe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 22. Oktober 2019, dass die Zwangssicherungshypothek noch iHv. 14.353,22 Euro valutiere und die Übersendung einer Löschungsbewilligung nur nach Ausgleich der Steuerschulden erfolgen könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Im nachfolgenden Schriftwechsel stritten die Beteiligten sodann über die Entstehung der Steuerforderungen, weil der Beklagte unter Verweis auf § 30 AO Auskünfte über die zugrundeliegenden Steuerbescheide verweigerte, sowie die Wirkung der Restschuldbefreiung gegenüber dem Vollstreckungsschuldner und der unterlassenen Geltendmachung des Absonderungsrechts. Ferner berief sich die Klägerin auf den Eintritt der Zahlungsverjährung. Sie unterstrich ihr Begehren ferner damit, dass die Stadt P ihr Vorbringen anerkannt habe und die Löschungsbewilligungen für die zu ihren Gunsten eingetragenen Sicherungshypotheken am 23. Dezember 2019 erteilt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Mit Anwaltsschreiben vom 13. Juli 2020 wies die Klägerin schließlich darauf hin, dass der Erlass eines Duldungsbescheides nach §§ 323, 191 AO erforderlich sei, bevor der Beklagte aufgrund der Hypothek vollstrecken könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Unter dem 27. Juli 2020, zugestellt am 30. Juli 2020, erließ der Beklagte daraufhin den streitgegenständlichen Duldungsbescheid gestützt auf § 191 AO iVm. § 323 AO. Die zu vollstreckende Abgabenforderung bezeichnete er mittels Verweis auf die beigefügte Anlage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 17. August 2020, eingegangen am 24. August 2020, Einspruch ein. Der Duldungsbescheid sei rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten. Denn der Beklagte möge wegen § 301 InsO nach zivilrechtlichen Grundsätzen auch nach erteilter Restschuldbefreiung zur Verwertung der Hypothek berechtigt sein. Da § 191 AO indes einen vollstreckbaren Steueranspruch voraussetze, werde die Akzessorietät zwischen Forderung und Hypothek auf Ebene des Steuerrechts wiederhergestellt. Und da die Steuerschuld gegenüber dem Vollstreckungsschuldner gemäß §§ 286, 301 Abs. 1 InsO undurchsetzbar, mithin nicht vollstreckbar sei, fehle es an den notwendigen Voraussetzungen für einen Duldungsbescheid. Darüber hinaus sei eine Inanspruchnahme der Klägerin nach 16 Jahren der Untätigkeit verwirkt. Und schließlich sei der Duldungsbescheid schon deshalb rechtswidrig, weil es an jedweder Ausübung des Entschließungsermessens fehle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 23. September 2020 trat der Beklagte den Ausführungen insoweit entgegen, als er ausführlich die zivilrechtliche Durchsetzbarkeit aufgrund § 301 InsO hervorhob. Zur Verwirkung führte er aus, dass ein Duldungsbescheid keiner eigenständigen Festsetzungsfrist unterliege. Der Zahlungsanspruch gegenüber dem Vollstreckungsschuldner sei durch die Eintragung der Zwangssicherungshypothek wiederum unterbrochen, womit eine Verwirkung ausscheide. Ein Vertrauenstatbestand scheide zudem deshalb aus, weil der zwischen den Eheleuten geschlossene Grundstückskaufvertrag explizit auf die Belastung des Grundstücksteils verweise.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Ferner legte er seine Ermessenserwägungen dergestalt dar, dass die Inanspruchnahme der Klägerin erfolgt sei, weil diese den mit der Zwangssicherungshypothek belasteten Anteil des Vollstreckungsschuldners übernommen habe und daher eine Verwertung ihm gegenüber nicht mehr erfolgen könne. Einer Ermessensausübung, welchen von mehreren in Betracht kommenden Schuldnern es in Anspruch nehme oder eines Hinweises, dass die Vollstreckung gegen den Vollstreckungsschuldner zuvor keinen Erfolg gebracht habe, bedürfe es ferner nicht, da die Durchsetzung des Steueranspruchs allein auf das mit der Sicherungshypothek belastete Grundstück gerichtet sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin erneuerte ihre Auffassung im Schreiben vom 12. Oktober 2020. Ergänzend führte sie aus, dass die gesicherte Forderung für den Erlass eines Duldungsbescheids nach §§ 191, 323 AO „völlig unstreitig“ vollstreckbar sein müsse. Das Ergebnis möge der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Im Bereich der Eingriffsverwaltung stelle jedoch der Wortlaut einer Norm die äußere Grenze ihrer Auslegung dar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Mit Einspruchsentscheidung vom 06. Januar 2021 wies der Beklagte den Einspruch zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Hierin stellte er über die zuvor geäußerten Rechtsauffassungen hinaus heraus, dass die Forderungen des Beklagten zur Tabelle angemeldet worden seien und vom Insolvenzverwalter festgestellt worden seien. Bei titulierten und zur Tabelle festgestellten Forderungen werde der bisherige Titel in Form der Steuerbescheide bzw. Voranmeldungen durch den Tabelleneintrag aufgezehrt. Der Tabelleneintrag diene somit als Vollstreckungstitel für die am Insolvenzverfahren Beteiligten. Zutreffend führe die Klägerin aus, dass die Insolvenzforderungen grundsätzlich der dem Vollstreckungsschuldner erteilten Restschuldbefreiung unterlägen und danach als unvollkommene Forderungen nicht mehr vollstreckbar seien. Die Klägerin verkenne jedoch die gesetzliche Regelung des § 301 InsO und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen, soweit das Finanzamt für seine Forderungen ein Absonderungsrecht beanspruchen durfte. Entgegen der Ausführungen der Klägerin werde die Vollstreckbarkeit der Steuerforderungen nicht durch die dem Vollstreckungsschuldner erteilte Restschuldbefreiung berührt. Die Wirkungen der Restschuldbefreiung würden insoweit nicht für erlangte Absonderungsrechte der Insolvenzgläubiger gelten (§ 301 Abs. 2 S. 1 InsO). Die Forderungen seien in diesen Fällen weiterhin fällig und vollstreckbar. Das Finanzamt sei danach befugt gewesen, die Klägerin durch Duldungsbescheid in Anspruch zu nehmen. Dies gelte unabhängig davon, ob zuvor eine konkrete Anmeldung des Absonderungsrechts erfolgt sei, da Voraussetzung für eine Berücksichtigung nach § 301 Abs. 2 InsO nur das bloße Innehaben eines Absonderungsrechts an sich sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Zudem übersehe die Klägerin, dass sie als Übernehmerin des belasteten Grundstücksanteils nicht persönlich gegenüber dem Finanzamt hafte, sondern die Inanspruchnahme nur auf den mit der Zwangssicherungshypothek belasteten und von ihr übernommenen Grundstücksanteil gerichtet sei. Insoweit sei der ergangene Duldungsbescheid nur deklaratorischer Art, als dass der Klägerin hierdurch formell mitgeteilt worden sei, dass sie als Übernehmerin und Rechtsnachfolgerin die Vollstreckung in den vom Vollstreckungsschuldner übernommenen Grundstücksanteil zu dulden habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Weiter stehe - wie auch der Bundesgerichtshof - BGH - in seinem Urteil vom 22. März 2018, IX ZR 163/17 hinsichtlich einer Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz (AnfG) ausführe - eine dem Schuldner erteilte Restschuldbefreiung der Gläubigeranfechtung auch dann nicht entgegen, wenn der Gläubiger die Anfechtung(sklage), die Rechtshandlungen vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens betreffe, erst nach Aufhebung des Verfahrens erhebe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Auch wenn das Urteil des BGH (a.a.O) im Kern die Anfechtung nach § 18 AnfG betreffe, zeige sich doch anhand dieses Beispiels, dass mit der Restschuldbefreiung allein der Schuldner geschützt werde, dessen Vermögen im Rahmen des Insolvenzverfahrens vollständig zugunsten der Gläubiger verwertet worden ist. Gegenstand einer Gläubigeranfechtung nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens sei ehemaliges Vermögen des Schuldners, welches zur Insolvenzmasse gehört hätte und zugunsten aller Insolvenzgläubiger hätte verwertet werden müssen. Wenn ein Gläubiger danach zur Anfechtung - d.h. Geltendmachung und ggf. anschließender Durchsetzung im Wege der Zwangsvollstreckung - nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens und einer dem Schuldner erteilten Restschuldbefreiung berechtigt wäre, müsse dieses auch für den hier zu entscheidenden Fall gelten, in dem das Finanzamt bereits vor der dem Schuldner erteilten Restschuldbefreiung durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ein „insolvenzfestes“ Absonderungsrecht erworben habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Schließlich ergänzt der Beklagte zum Ermessen, dass weder anderweitige Duldungsschuldner bekannt seien, noch andere (mögliche) Duldungsbescheide mangels Vollstreckbarkeit möglich seien, zumal die Vollstreckung gegenüber dem Vollstreckungsschuldner aufgrund dessen rechtskräftig erteilter Restschuldbefreiung rechtlich unzulässig sei. Daher erscheine es auch unter diesen Erwägungen nur ermessensgerecht, die Klägerin als neue Eigentümerin des Grundstücks durch den Duldungsbescheid vom 27. Juli 2020 in Anspruch zu nehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 07. Februar 2021 bei Gericht eingegangener Klage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Hierin erklärt sie sich zunächst mit Nichtwissen hinsichtlich etwaiger Quotenzahlungen des Insolvenzverwalters auf die festgestellte Forderung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen erneuert und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren. Die Ausführungen des Beklagten zu Anfechtungen nach dem AnfG bzw. Vollstreckungen aufgrund des § 301 Abs. 2 S. 1 InsO seien zwar grundsätzlich zutreffend. In beiden Fällen setze die Abgabenordnung jedoch der Anfechtung bzw. der Vollstreckung insoweit eine Grenze, als weiterhin Voraussetzung sei, dass die Erstschuld selbst vollstreckbar sein müsse, um einen Duldungsbescheid erlassen zu können, weil der Duldungsbescheid gemäß § 218 AO nicht selbst Grundlage der Verwirklichung des Steueranspruchs sei. Damit weiche die Rechtslage von den vom BGH entschiedenen Fällen ab, wenn es sich beim Gläubiger um ein Finanzamt handele und dieses zwecks Verwertung zunächst einen Duldungsbescheid erlassen müsse.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Es verbiete sich auch, die materiell-rechtlichen Folgen des § 301 InsO zur Auslegung der verfahrensrechtlichen Anordnungen des § 191 AO heranzuziehen. Sie seien streng voneinander zu trennen - mit der Konsequenz, dass ein Duldungsbescheid nicht ergehen könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Das streitrelevante Grundstück wurde während des finanzgerichtlichen Verfahrens verkauft (Vertrag vom 15. September 2021). Aus dem Kaufpreis wurden am 10. November 2021 von den Käufern weisungsgemäß für die Klägerin 14.353,22 € „zur Ablösung [der] Restforderung(en)“ an den Beklagten gezahlt. Zuvor hatte der Beklagte am 19. Oktober 2021 die Löschungsbewilligung unter Erteilung eines Treuhandauftrags an den beurkundenden Notar übersandt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte hat erklärt, im Falle des Unterliegens in diesem Verfahren den gezahlten Betrag an die Klägerin auszukehren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Duldungsbescheid vom 27. Juli 2020 in der Gestalt des Einspruchsbescheids vom 6. Januar 2021 aufzuheben,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>hilfsweise - für den Fall, dass sich der angegriffene Verwaltungsakt auch ohne seine Aufhebung erledigt hat - gemäß § 100 Abs. 1 S. 4 FGO</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">festzustellen, dass der Duldungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig gewesen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Er meint, die Voraussetzungen für den Erlass eines Duldungsbescheids seien gegeben. Namentlich seien die Steueransprüche vor Insolvenzeröffnung beschieden, fällig geworden und auch durchsetzbar. Auch eine Tilgung sei durch den Vollstreckungsschuldner nicht erfolgt, ein Erlass nicht ausgesprochen worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>§ 251 Abs. 2 AO besage, dass sich nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Geltendmachung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis gegen den Steuerschuldner nach den Regeln der InsO vollziehe. Das bedeute, dass in der Wohlverhaltensphase bzw. im Fall einer Restschuldbefreiung die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zwar weiterhin erfüllbar seien, aber nicht mehr geltend gemacht werden könnten. Ausgenommen von der Wirkung der Restschuldbefreiung und dem Vollstreckungsverbot gegen den Schuldner seien u.a. Vormerkungen oder Rechte, die im Insolvenzverfahren zur abgesonderten Befriedigung berechtigen (§ 301 Abs. 2 InsO). Dinglich gesicherte Abgabenforderungen nähmen nicht an der Restschuldbefreiung teil. Diese dinglich gesicherten Ansprüche seien gegenüber dem Steuerschuldner weiterhin fällig und durchsetzbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Überdies würden eventuelle Einschränkungen des Insolvenzverfahrens oder Restschuldbefreiungen ausschließlich zugunsten des Insolvenzschuldners (hier: Vollstreckungsschuldners) wirken. Haftungs- oder Duldungsschuldner könnten sich hierauf nicht berufen. Dementsprechend habe der BFH entschieden, dass die insolvenzverfahrensbedingte Undurchsetzbarkeit dem Erlass eines Haftungsbescheids nicht entgegenstehe (Urteil v.15. Mai 2013, VII R 2/12, BFH/NV 2013, 1543). Das sei uneingeschränkt auf die Duldungskonstellation übertragbar.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>I. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 100 Abs. 1 S. 4 FGO zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>1. Der von der Klägerin in erster Linie gestellte Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts (Anfechtungsklage gemäß § 100 Abs. 1 S. 1 FGO) kann keinen Erfolg haben. Denn der Duldungsbescheid vom 27. Juli 2020 in der Gestalt des Einspruchsbescheids vom 6. Januar 2021 hat sich dadurch erledigt, dass die Klägerin mittelbar zur Erteilung der Löschungsbewilligung am 10. November 2021 14.353,22 € an den Beklagten gezahlt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>a. Im Falle freiwilliger Zahlungen an die Steuerbehörden hat der Zahlende das Bestimmungsrecht, welche Schuld getilgt werden soll (§ 225 Abs. 1 AO). Die Bestimmung kann in jeder Form, schriftlich, mündlich und auch konkludent, getroffen werden Sie muss nur ausreichend bestimmt sein. Dies ist im vorliegenden Fall geschehen, als die Zahlung ist „zur Ablösung [der] Restforderung(en)“ und zur Ermöglichung der Veräußerung aus dem Kaufpreis erfolgte. Zwar haben die Käufer des Grundstücks auf Weisung und gemäß den Abreden des Kaufvertrags, für die Klägerin gezahlt. Die Überweisung musste der Beklagte in der Gesamtschau aber so verstehen, dass auf Rechnung der Klägerin diejenigen Ansprüche getilgt werden sollten, für welche das Grundstück dinglich haftet, um so die Erteilung der Löschungsbewilligung zu ermöglichen. Denn vor der Veräußerung des Grundstücks hat die Klägerin ausführlich über die ursprüngliche Steuerschuld und die Zwangssicherungshypothek korrespondiert und die Erteilung einer Löschungsbewilligung erfordert. Sie hat sodann den Notar mit der Lastenfreistellung beauftragt, der von dem Beklagten wiederum die Hergabe zu treuen Händen erfordert hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Es hat auch keine persönliche Steuerschuld der Klägerin bestanden, die sie hätte tilgen können. Der Duldungsbescheid enthielt auch keinen an die Klägerin gerichteten, eigenständigen Zahlungsbefehl. Zwar hat der Beklagte in dem Duldungsbescheid die Möglichkeit aufgezeigt, dass die Klägerin die Vollstreckungsmaßnahme in das Grundstück durch Zahlung des Gesamtbetrages abwenden könne. Damit hat der Beklagte jedoch lediglich auf die von Rechts wegen bestehende Möglichkeit der Zahlung durch Dritte (§ 48 Abs. 1 AO) und die damit einhergehende Abwendungsbefugnis für die Zwangsvollstreckung hingewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Die vorgenommene Zahlung hat demnach zur Folge, dass der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis - jedenfalls im Verhältnis zum bisherigen Steuergläubiger - gemäß § 47 AO erlischt, wobei nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 48 Abs. 1 AO für die Erfüllungswirkung unerheblich ist, dass die persönliche Steuerschuld des Vollstreckungsschuldners durch die Klägerin als Dritte beglichen wurde. Für den Eintritt der Wirkung der Zahlung durch die Überweisung ist es weiter unerheblich, dass die Durchsetzung der Steuerforderung wegen § 301 Abs. 1 InsO gegenüber dem Vollstreckungsschuldner unmöglich ist. Denn durch die erteilte Restschuldbefreiung ist die Forderung nicht untergegangen, sondern lediglich undurchsetzbar geworden, war mithin weiterhin erfüllbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>b. Mit der so verstandenen Zahlung der Klägerin auf die Steuerschulden des Vollstreckungsschuldners hat sich der Duldungsbescheid auf sonstige Weise erledigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Ein Verwaltungsakt bleibt gemäß § 124 Abs. 2 AO wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Der Eintritt einer Erledigung richtet sich danach, ob der Regelungsgehalt des zu beurteilenden Verwaltungsakts fortwirkt oder entfällt (BFH, Urteil vom 26. September 2007, I R 43/06, Rz. 14 bei juris). Hiervon ausgehend ist aufgrund der erfolgten Zahlung auf die Steuerschulden von einer Erledigung des hierzu erlassenen Duldungsbescheides in sonstiger Weise auszugehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Als akzessorisch öffentlich-rechtliches Sicherungsmittel setzt die Duldungspflicht das Bestehen und Fortbestehen einer Abgabenschuld voraus. Mit dem Erlöschen des zu vollstreckenden Steueranspruchs hat der (bisherige) öffentliche Steuergläubiger die Vollstreckung, einschließlich der Vollstreckung in die dinglichen Sicherungsrechte, einzustellen und bereits getroffene Vollstreckungsmaßnahmen aufzuheben. Dies hat der Beklagte durch die Übersendung der Löschungsbewilligung für die für ihn eingetragene Zwangssicherungshypothek getan. Mit der Begleichung der Steuerschuld endet kraft Gesetzes die Duldungspflicht für die Zwangsvollstreckung. Die Zwangsvollstreckung ist ohne weiteres Zutun zu beenden. Damit ist zugleich die beschwerende Regelung des streitgegenständlichen Duldungsbescheides ex nunc entfallen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>2. Die Klägerin hat ihre Klage sodann - hilfsweise - umgestellt, indem sie „für den Fall, dass sich der Verwaltungsakt auch ohne seine Aufhebung erledigt hat“ die Feststellung der Rechtswidrigkeit begehrt. Die Zulässigkeit dieser Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 100 Abs. 1 S. 4 FGO ist zu bejahen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>a. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin den Antrag nur hilfsweise stellt. An seiner entgegenstehenden Rechtsprechung (Urteil v. 25. Juni 1975, I R 78/73, BStBl II 1976, 42) hat der BFH nicht weiter festgehalten (vgl. Urteil v. 16. April 1986, I R 32/84, BStBl II 1986, 736).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>b. Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit - und zwar in Gestalt der sog. Präjudizialität. Denn der entsprechenden Feststellung wohnt die Verpflichtung zur Rückerstattung gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 AO inne. Entsprechend hat der Beklagte mit Schreiben vom 29. Dezember 2021 mitgeteilt, im Falle des Unterliegens den erhaltenen Betrag iHv. 14.353,22 Euro zu erstatten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>II. Die Fortsetzungsfeststellungsklage hat indes in der Sache keinen Erfolg, als sich der Duldungsbescheid als rechtmäßig erweist. Denn die Voraussetzungen für den Erlass eines Duldungsbescheids sind gemäß §§ 191, 323 AO erfüllt (siehe Ziff. 1.). Ferner sind keine Ermessensfehler ersichtlich (Ziff. 2.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>1. Gemäß § 191 Abs. 1 Alt. 2 AO kann durch Duldungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Vollstreckung zu dulden. Die §§ 322, 323 AO konkretisieren dies im Falle der Eintragung einer Sicherungshypothek, für die wiederum nach § 322 Abs. 1 S. 2 AO die für die gerichtliche Zwangsvollstreckung geltenden Vorschriften, namentlich die §§ 864 bis 871 ZPO und das Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung anzuwenden sind, dahingehend, dass ein Duldungsbescheid nur dann erforderlich ist, wenn nach der Eintragung einer Sicherungshypothek ein Eigentumswechsel eingetreten ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>a. Danach konnte und musste in der vorliegenden Konstellation ein Duldungsbescheid ergehen. Denn zugunsten des Beklagten wurde zum einen unter dem 09. August 2004 eine Zwangssicherungshypothek auf den Anteil des Vollstreckungsschuldners in Abt. III unter lfd. Nr. 3 des Grundbuchs eingetragen. Zum anderen kam es aufgrund des Grundstückskaufvertrag vom 13. September 2004 (UR-Nr. XX des Notars W in P) zur Übertragung des hälftigen Anteils des Vollstreckungsschuldners an die Klägerin. Auf die bereits im Grundstückkaufvertrag vereinbarte Auflassung erfolgte die Eintragung der Klägerin als alleinige Eigentümerin am 08. Oktober 2004.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>b. Weiter sind die allgemeines Voraussetzungen des § 191 AO erfüllt. Vor Erlass eines Duldungsbescheides ist der Duldungspflichtige anzuhören. Der Duldungsbescheid ist nach § 191 Abs. 1 Satz 3 AO schriftlich zu erteilen und zu begründen (arg. § 121 Abs. 1 AO). Er muss inhaltlich bestimmt sein (§ 119 Abs. 1 AO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Eine Anhörung erfolgte insoweit, als die Klägerin ihrerseits die Nichtexistenz eines Duldungsbescheids mit Schreiben vom 13. Juli 2020 rügte und der Beklagte erst daraufhin den angefochtenen - schriftlichen und begründeten - Bescheid erließ. Dieser ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt. Denn dem von der Rechtsprechung aufgestellten Erfordernis, dass die der Anfechtung zugrundeliegenden Forderungen im Einzelnen aufgeführt sein müssen und dass der Gesamtbetrag, bis zu welchem der Anfechtungsgegner die Vollstreckung in das Erlangte zu dulden hat, ausgewiesen wird (vgl. BFH-Urteil vom 23. Oktober 2018 VII R 21/18, BStBl II 2019, 299, Rz. 11 bei juris), ist im Duldungsbescheid vom 27. Juli 2020 durch Beifügung der Anlage mit einer Einzelaufstellung der Forderungen Genüge getan worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>c. Die Klägerin hatte die Vollstreckung bis zur Zahlung auch nach dem Gesetz zu dulden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>aa. Der vormals im Eigentum des Vollstreckungsschuldners stehende Miteigentumsanteil wurde auf Antrag des Beklagten gemäß §§ 322 Abs. 1 S. 2 AO, 864 Abs. 2, 866 Abs. 1, 867 Abs. 1 ZPO durch Eintragung der Sicherungshypothek belastet. Hierdurch erwächst dem Beklagten ein Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung gemäß § 1147 BGB gegenüber dem jeweiligen Grundstückseigentümer.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>Am Vorliegen der Voraussetzungen für die Entstehung der Hypothek bestehen - jedenfalls bis zur Valuta von 14.353,22 Euro - keine Zweifel. Dies gilt namentlich für das Bestehen eines vollstreckbaren Titels, hier der Steuerbescheide, gegenüber dem seinerzeitigen Grundstückseigentümer. Die Klägerin hat sich diesbezüglich zulässigerweise mit Nichtwissen erklärt, als dem Beklagten der Nachweis des Bestehens des zugrundeliegenden Anspruchs obliegt. Denn anders als bei der Verkehrshypothek wird nicht gemäß §§ 1138, 891 BGB vermutet, dass die Sicherungshypothek in Höhe der eingetragenen persönlichen Forderung dem Gläubiger zustehe (§§ 1184, 1185 Abs. 2 BGB). Deshalb muss der Gläubiger einer Sicherungshypothek, der aus dem dinglichen Recht die Duldung der Zwangsvollstreckung in das belastete Grundstück begehrt (§ 1147 BGB), das Bestehen des persönlichen Anspruchs darlegen und gegebenenfalls beweisen (vgl. BGH, Urteil v. 19. November 1987, IX ZR 251/86, NJW-RR 1988, 459, Tz. 10 bei juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Seiner Darlegungslast hat der Beklagte durch die Auflistung in Anlage 1 zum Duldungsbescheid genügt. Den Strengbeweis vermag er indes hierdurch nicht zu führen. Und weitergehend vorgetragen hat der Beklagte bewusst nicht, als er die Steuerbescheide aufgrund seiner Verpflichtung aus § 30 AO nicht vorzulegen vermag. Insofern bleibt aus strengbeweislicher Sicht offen, ob der Anspruch bestandskräftig oder rechtskräftig festgesetzt worden ist. Anders als die Klägerin meint, führt dies indes nicht dazu, dass der Beklagte beweisfällig bliebe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><table class="Rsp">
<tr><th colspan="1" rowspan="1"></th></tr>
<tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Denn der Umstand, dass weder der Insolvenzverwalter noch einer der Insolvenzgläubiger noch der Schuldner der Feststellung der ursprünglich streitbefangenen Umsatzsteuerforderungen und Nebenforderungen zur Insolvenztabelle widersprochen haben, hat unstreitig zur vorbehaltlosen Feststellung zur Tabelle nach § 178 Abs. 1 InsO geführt. Und nach § 178 Abs. 3 InsO wirkt die in die Tabelle eingetragene und festgestellte Forderung wiederum wie ein rechtskräftiges Urteil (BFH, Beschluss v. 23.09.2005, V B 159/14, BFH/NV 2016, 60). Ein Gläubiger, der aufgrund einer durch rechtskräftiges Urteil oder rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zuerkannten Geldforderung die Eintragung einer Zwangshypothek auf dem Grundstück seines Vollstreckungsschuldners erwirkt hat und von diesem die Duldung der Zwangsvollstreckung in dessen Grundstück begehrt, ist des Nachweises wiederum enthoben (vgl. BGH, Urteil v. 19. November 1987, IX ZR 251/86, NJW-RR 1988, 459, Tz. 10 bei juris).<br>Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus eine hinreichende Gewissheit im Hinblick auf das Bestehen bereits zum Zeitpunkt der Eintragung der Sicherungshypothek - dies jedenfalls in Höhe des später festgestellten Betrages. Denn in Anbetracht der minimalen betragsmäßigen Abweichung (nach unten), die der Beklagte mit einer geringfügigen Auskehrung durch den Insolvenzverwalter erklärt, und in Ermangelung jedweden substantiieren Bestreitens seitens der Klägerin, bestehen keine Zweifel, denen nicht Schweigen geboten werden könnte.</p></td></tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>bb. Im Hinblick auf die - auch klägerseits erwähnte - Quotenzahlung vom Insolvenzverwalter infolge der Forderungsanmeldung ergeben sich für das Bestehen der Sicherungshypothek schließlich keine weiteren Rückschlüsse. Ist der klägerische Vortrag auch zutreffend, dass mit einer etwaigen Zahlung auf die Steuerschulden die Hypothek wegen der strengen Akzessorietät erlischt bzw. auf den Zahlenden übergeht, so fehlt es insoweit aber an substantiiertem Vortrag der Klägerin. Und dieser obliegt insoweit die Beweislast, soweit sie geltend machen will, der Anspruch, für den die Sicherungshypothek eingetragen ist, sei ganz oder teilweise gem. § 47 AO erloschen (FG Baden-Württemberg, Urteil v. 10. Februar 1995, 9 K 173/91, EFG 1995, 701). Auch im Übrigen gibt der Streitstoff hierfür nichts her. Vielmehr streiten die weiteren auf dem vormaligen Anteil des Vollstreckungsschuldners lastenden Sicherungshypotheken dafür, dass keine Verteilung stattgefunden hat. Die Dauer bis zur Restschuldbefreiung, nämlich nach Ablauf der Regelfrist von sechs Jahren, § 287 Abs. 2 InsO a.F. (gültig für Insolvenzen, deren Eröffnung vor dem 01. Oktober 2020 beantragt worden ist), deutet zudem darauf hin, dass eine signifikante Schuldtilgung nicht stattgefunden hat. Denn dann wäre es u.U. zu einer Verkürzung gem. § 300 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO a.F. gekommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>cc. Im Übrigen sind die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen erfüllt. Da Duldungsbescheide in § 218 Abs. 1 AO nicht genannt werden, können sie nicht als Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis dienen. Die Duldungspflicht ist daher streng akzessorisch zur Erstschuld. Für den Erlass eines Duldungsbescheids muss die zugrundeliegende Steuer daher festgesetzt, fällig und vollstreckbar sein und darf nicht durch Zahlungsverjährung oder auf andere Weise erloschen sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>(1) Die Vollstreckung erfolgt vorliegend aufgrund der in der Anlage aufgeführten Steuerforderungen. Diese sind aufgrund der Feststellung zur Tabelle, die für neuerliche Vollstreckungen ihrerseits den Titel darstellt (vgl. § 201 Abs. 2 S. 1 InsO), der alle bisherigen konsumiert (vgl. OVG Münster, Beschluss v. 16. Dezember 2019, 9 B 618/19, juris), rechtskräftig festgestellt und fällig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>(2) Sie sind, ob des vorliegenden vollstreckbaren Titels, auch vollstreckbar. Dem steht im hiesigen Fall auch nicht die dem Vollstreckungsschuldner erteilte Restschuldbefreiung, die nach § 201 Abs. 3 InsO den Grundsatz der Durchsetzbarkeit aus § 201 Abs. 1 und 2 InsO zu überwinden vermag, entgegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p>(a) Zwar haben die §§ 286 f., 301 Abs. 1 und 3 InsO zur Folge, dass sämtliche zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehenden Forderungen undurchsetzbar werden. Sie wandeln sich aus Sicht des Schuldners in unvollkommene Verbindlichkeiten, zu Naturalobligationen, die weiterhin erfüllbar, aber nicht erzwingbar sind. Dies hat zum einen zur Folge, dass eine Hypothek, auch eine Zwangssicherungshypothek (BGH, Urteil v. 10. Dezember 2020, IX ZR 24/20, NJW-RR 2021, 303), die eine Insolvenzforderung sichert, durch die Erteilung der Restschuldbefreiung nicht gemäß § 1163 Abs. 1 S. 2 BGB auf den Eigentümer übergeht. Weiter werden die Rechte der Insolvenzgläubiger aus einem solchen Recht, das im Insolvenzverfahren zur abgesonderten Befriedigung berechtigt, durch die Restschuldbefreiung gemäß § 301 Abs. 2 Satz 1 InsO auch im Übrigen nicht berührt. Die Hypothek berechtigt weiterhin zur Befriedigung aus dem belasteten Grundstück (vgl. § 1113 Abs. 1 BGB), als sie im Insolvenzverfahren gemäß § 49 InsO zur abgesonderten Befriedigung berechtigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>All dies ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht ernstlich streitig. Der Streit konzentriert sich auf die Frage, ob die zur Naturalobligation gewordene Steuerforderung des Beklagten gegen den Vollstreckungsschuldner aufgrund des fortbestehenden zivilrechtlichen Rechts zur Vollstreckung in das Grundstück „vollstreckbar“ ist im Sinne des abgabenrechtlichen Erfordernisses im Rahmen des Erlasses eines Duldungsbescheids. Der Senat ist der Auffassung, dass dies zu bejahen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p>(b) Man mag dies schon darauf stützen, dass die Restschuldbefreiung des Vollstreckungsschuldners nur zu seinen Gunsten wirkt und sich ein Dritter hierauf nicht berufen können soll (vgl. FG München, Urteil v. 20. Juni 2017, 2 K 1716/15, EFG 2018 915 f.). In der Allgemeinheit vermag dies jedoch nicht zu überzeugen, als die Wirkung gegenüber dem Vollstreckungsschuldner grundsätzlich die Vollstreckbarkeit der Steuerforderung entfallen lässt. Und gerade jene ist Voraussetzung für den Erlass eines Duldungsbescheids. Entsprechend betrifft die vom FG München (Urteil v. 20. Juni 2017, 2 K 1716/15, a.a.O.) bezüglich der Streitfrage in Bezug genommenen Entscheidung des BFH (Urteil v. 10. November 2020, VII R 8/19, BFH/NV 2021, 1091, Rz. 65 bei juris) die Konstellation, in der der Duldungsbescheid bereits vor Erteilung der Restschuldbefreiung erlassen wurde. Heißt: Im Zeitpunkt des Erlasses war die Steuerforderung noch vollstreckbar. Für den zeitlich umgekehrten, hier zu entscheidenden Fall, lässt sich hieraus mithin nichts ableiten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p>Soweit das FG München daneben auf den BGH verweist (Urteil v. 12. November 2015, IX ZR 301/14, BGHZ 2018, 1) gilt zunächst das Gleiche. Der BFH hat diese Entscheidung indes, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, mit Urteil vom 22. März 2018 (IX ZR 163/17) ergänzt und führt aus, dass eine dem Schuldner erteilte Restschuldbefreiung der Gläubigeranfechtung auch dann nicht entgegensteht, wenn der Gläubiger die Anfechtungsklage, die Rechtshandlungen vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens betrifft, erst nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens erhebt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><p>Dies hält der Senat jedoch nicht in der Form für übertragbar, dass Dritte einem Duldungsbescheid per se nicht die Restschuldbefreiung entgegenhalten dürfen. Denn für die rein zivilrechtliche Anfechtungskonstellation, heißt ohne Einkleidung in einen Duldungsbescheid, kommt es auf die Durchsetzbarkeit der Gläubigerforderung nicht an. Der BGH hatte sich dementsprechend mit der Frage zu befassen, ob aus systematischen Gründen etwas gegen die Anfechtung spricht, die insoweit grundsätzlich uneingeschränkt möglich ist. Dagegen muss im hiesigen Verfahren die Frage danach gestellt werden, ob von den strengen Voraussetzungen aus besonderen Gründen abgewichen werden kann oder muss.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_71">71</a></dt>
<dd><p>Unter dem von allen vorgenannten Entscheidungen als maßgeblich behandelten Topos der „Schutzwürdigkeit“ dürfte dies jedenfalls im vorliegenden Fall nicht der Fall sein. Denn die Restschuldbefreiung war bereits seit fast fünf Jahren erteilt, als der Duldungsbescheid erlassen worden ist. Allein der Zeitablauf streitet im vorliegenden Fall deshalb für die Klägerin und ihr Recht, sich darauf berufen zu dürfen, dass die Steuerforderung nicht mehr vollstreckbar sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_72">72</a></dt>
<dd><p>(c) In letzter Konsequenz kommt es darauf aber nicht an. Denn die Forderung ist aus systematischen Gründen als vollstreckbar iSd. §§ 191, 323 AO zu behandeln.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_73">73</a></dt>
<dd><p>Denn § 301 Abs. 2 S. 1 InsO durchbricht mittelbar die Undurchsetzbarkeit der besicherten Forderung. Zwar trifft er im Kern - anders als der Beklagte offenbar meint - keine Anordnung zur Durchsetzbarkeit der Forderung. Vielmehr bleibt nur das Recht, welches zur abgesonderten Befriedigung führt, von der Restschuldbefreiung unberührt. Ist damit indes die Vollstreckung zulässig und führt sie gleichzeitig zur Erfüllung der besicherten Forderung, so ist die Forderung insoweit auch noch durchsetzbar. M.a.W.: Wenn ein Gläubiger nach §§ 201 Abs. 1 und 2, 286 f., 301 Abs. 1-3 InsO noch aus dem zur Besicherung einer Forderung bestellten Recht, hier der Zwangssicherungshypothek, vollstrecken kann und so die Erfüllung der als Naturalobligation fortbestehenden Forderung herbeiführen kann, so ist die besicherte Forderung faktisch auch noch vollstreckbar. Denn ihre Erfüllung kann tatsächlich weiterhin zwangsweise herbeigeführt werden. Das muss für die Annahme einer vollstreckbaren Forderung iSd. §§ 191, 323 AO genügen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_74">74</a></dt>
<dd><p>Für eine solche Auslegung spricht, dass die andernfalls eintretende Ungleichbehandlung von zivilrechtlichen Gläubigern und Abgabengläubigern vermieden wird. Denn verneinte man das Bestehen einer vollstreckbaren Forderung, wäre die Vollstreckung einer Steuerforderung wegen der Notwendigkeit eines Duldungsbescheids nach § 323 AO (dauerhaft) unmöglich, wohingegen ein zivilrechtlicher Gläubiger uneingeschränkt vollstrecken kann, da es für seine Vollstreckung auf die zugrundeliegende Forderung nicht ankommt. Eine solche Ungleichbehandlung erscheint nicht angezeigt, gerade weil § 301 Abs. 2 InsO keine Unterscheidung zwischen den von der Restschuldbefreiung betroffenen Forderungen macht. Die klägerische Auffassung, dass ebendiese Unterscheidung vom Gesetzgeber - wenn auch ungewollt - durch § 323 AO etabliert worden sei und hingenommen werden müsse, überzeugt nicht. Der Senat meint vielmehr, dass das Widerspiel von § 301 Abs. 2 InsO auf der einen und §§ 191, 323 AO auf der anderen Seite einer systematischen Auslegung zugänglich ist. Und in diesem Zusammenhang ist zu konstatieren, dass - gerade weil die Auswirkung vom Gesetzgeber so nicht gewollt gewesen sein kann - die Regelung des § 301 Abs. 2 InsO auch auf das Steuerrecht ausstrahlt und insoweit die Vollstreckbarkeit anzunehmen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_75">75</a></dt>
<dd><p>Insoweit erkennt der Senat keine Beschränkung durch den Wortlaut der auszulegenden Normen. Denn weder die §§ 191, 323 AO, noch die Paragrafen des sechsten Teils der Abgabenordnung treffen konkrete Anordnungen für die Vollstreckbarkeit von Forderungen, die von der Restschuldbefreiung betroffen sind. So ist die Konstellation der vorausgegangenen systematischen Auslegung zugänglich. Zudem macht § 251 Abs. 2 AO deutlich, dass die Vorschriften der Insolvenzordnung auf die steuerverfahrensrechtlichen Regelungen ausstrahlen. Insofern hat der Senat auch keine Bedenken die materiellen Anordnungen der Insolvenzordnung als systematischen Anknüpfungspunkt für die Auslegung des Steuerverfahrensrechts heranzuziehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_76">76</a></dt>
<dd><p>Für den hiesigen Fall bedeutet dies: Da die Zwangssicherungshypothek zur Vollstreckung in den Miteigentumsanteil, der vormals dem Vollstreckungsschuldner zustand, möglich ist, weil sie zur abgesonderten Befriedigung berechtigt, ist die zugrunde liegende - grundsätzlich undurchsetzbare - Steuerforderung beschränkt auf die Geltendmachung des aus der Hypothek folgenden Rechts auch noch vollstreckbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_77">77</a></dt>
<dd><p>(3) Es ist schließlich weder Zahlungsverjährung eingetreten noch ist die Durchsetzung verwirkt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_78">78</a></dt>
<dd><p>(a) Aufgrund der strengen Akzessorietät der Duldungspflicht unterliegt sie keiner eigenständigen Verjährung, sondern ist auch insofern von der Steuerforderung abhängig. Und Zahlungsverjährung ist zugunsten des Vollstreckungsschuldners nicht eingetreten. Denn durch Eintragung der Zwangssicherungshypothek am 09. August 2004, welche nach § 322 Abs. 1 S. 2 AO iVm. §§ 866 Abs. 1, 867 ZPO eine Vollstreckungshandlung darstellt, wurde die Verjährung des streitrelevanten Steueranspruchs gemäß § 231 Abs. 1 Nr. 3 AO unterbrochen und dauerte gemäß § 231 Abs. 2 Nr. 3 AO jedenfalls bis zur Zahlung fort, da die Zwangssicherungshypothek zumindest bis zu jenem Zeitpunkt nicht erloschen war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_79">79</a></dt>
<dd><p>(b) Für eine Verwirkung ist zudem kein Raum.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_80">80</a></dt>
<dd><p>Verwirkung setzt regelmäßig voraus, dass ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, dass nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muss, wobei Zeitablauf allein noch nicht zur Verwirkung führt (BFH II R 9/01, BFH/NV 2006, 478 mwN).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_81">81</a></dt>
<dd><p>Im hiesigen Fall ist nur ein erheblicher Zeitablauf eingetreten. Irgendwelche Verhaltensweisen des Beklagten, seinen Anspruch nicht weiter geltend machen zu wollen, sind nicht erkennbar. Der Zeitablauf von „16 Jahren“ ist im Übrigen im Lichte des Umstandes zu sehen, dass das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Vollstreckungsschuldners von 2009 bis 2015 währte und in jener Zeit eine Vollstreckung nicht angezeigt war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_82">82</a></dt>
<dd><p>Dass die Klägerin auf die Nichtgeltendmachung vertraut hat, ist schließlich weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Aufgrund der in § 5 des Kaufvertrages vom 13. September 2004 vereinbarten Lastenfreistellung war sie über die Haftung des Grundstücks vollständig im Bilde. Dass sie gleichwohl ab einem bestimmten Zeitpunkt davon ausging, dass das Grundstück lastenfrei wäre, ist nicht erkennbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_83">83</a></dt>
<dd><p>2. Die Ermessensentscheidung des Beklagten, die Klägerin durch Duldungsbescheid in Anspruch zu nehmen, ist nicht zu beanstanden. In der Konstellation des § 323 AO kommt personell einzig die Klägerin in Frage, so dass es dahingehender Erwägungen nicht bedarf. Ferner sind die Überlegungen ausreichend, dass der Erlass anderer Duldungsbescheide mangels Vollstreckbarkeit nicht möglich sei und dass die Vollstreckung gegenüber dem Vollstreckungsschuldner aufgrund dessen rechtskräftig erteilter Restschuldbefreiung rechtlich unzulässig sei. Ermessenfehler sind auch im Übrigen nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_84">84</a></dt>
<dd><p>II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_85">85</a></dt>
<dd><p>III. Die Revisionszulassung hatte gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zu erfolgen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
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<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.100,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klageanträge zu 2., 4. und 5. seien unzulässig. Für die Klageanträge zu 2. und 4 habe die Klägerin das erforderliche Feststellungsinteresse nicht dargetan. Hinsichtlich des Klageantrags zu 2. liege ein Rehabilitations- bzw. Genugtuungsinteresse nicht vor; es sei nicht ersichtlich, dass der aufgehobene Teil der Ordnungsverfügung diskriminierenden Charakter gehabt oder sich aus ihm eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der Klägerin ergeben habe. Hinsichtlich des Klageantrags zu 4. sei keine Präjudizität für einen etwaig bevorstehenden Amtshaftungsprozess gegeben, die drittschützende Amtspflicht der Behörde zur Durchführung einer ordnungsgemäßen Bauzustandsbesichtigung beziehe sich auf für Leib und Leben des Bauherren sicherheitsrelevante Tatsachen, betreffe jedoch nicht den Vermögensschutz des Bauherren. Die Unzulässigkeit des Klageantrags zu 5. folge daraus, dass die Klägerin keinen entsprechenden bescheidungsfähigen Bauantrag bei der zuständigen Behörde gestellt habe. Der Klageantrag zu 1. sei zulässig, aber unbegründet. Die Ordnungsverfügung vom 22.8.2018 in der Gestalt des Schreibens der Beklagten vom 27.1.2021, wonach der Klägerin der Nachweis der Eintragung einer Grunddienstbarkeit für ein Geh- und Leitungsrecht zugunsten der Grundstücke P. -B. -Straße 28-24 durch Vorlage eines Grundbuchauszugs aufgegeben werde, sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Rechtsgrundlage sei § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2000. Danach könne eine Ordnungsverfügung nachträglich zur Durchsetzung einer der Baugenehmigung beigefügten Nebenbestimmung erlassen werden. Die bestandskräftige Baugenehmigung vom 27.10.1992 einschließlich der Nebenbestimmung Nr. 12 sei wirksam; Nichtigkeitsgründe bestünden nicht. Die Nebenbestimmung Nr. 12 der Baugenehmigung sei auch bestimmt und vollstreckbar. Dem Bauschein sei in Zusammenschau mit den Bauvorlagen eindeutig zu entnehmen, auf welches Grundstück sich die Baugenehmigung einschließlich der Nebenbestimmung Nr. 12 beziehe. Ermessensfehler seien nicht feststellbar. Nicht zu beanstanden sei auch die Androhung des Zwangsgelds. Die in den Anträgen zu 3. und 6. enthaltenen Anträge, das Zuziehen eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären, seien unbegründet, da ein solches nicht stattgefunden habe.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen der Klägerin führt nicht zur Zulassung der Berufung.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Es weckt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a) Dies gilt zunächst für ihre Einwendungen hinsichtlich des Klageantrags zu 1.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">aa) Ohne Erfolg rügt die Klägerin, das Verwaltungsgericht habe die im Wortlaut der Nebenbestimmung Nr. 12 zur Baugenehmigung vom 27.10.1992 nur geforderte Vorlage eines Grundbuchauszugs unkritisch mit der Forderung zur Eintragung einer Grunddienstbarkeit gleichgesetzt. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr auf Seite 10 des Urteilsabdrucks angenommen, Inhalt der Nebenbestimmung Nr. 12 sei die „Eintragung einer Grunddienstbarkeit bzw. deren Nachweis durch Vorlage eines Grundbuchauszuges“. Das ist nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">bb) Des Weiteren rügt die Klägerin, § 61 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW a. F. sei nicht als Ermächtigungsgrundlage geeignet. Soweit nachbarschützende Belange von einer Baugenehmigung betroffen seien, könnten nur die bauordnungsrechtlich subjektiv-öffentlich geschützten Abwehrrechte privater Dritter Gegenstand einer entsprechenden bauordnungsrechtlichen Auflage sein, Zugriffsrechte, die wie die Eintragung einer Grunddienstbarkeit ausschließlich dem Regelungsbereich des Zivilrechts unterfielen, dürften dagegen nicht einseitig hoheitlich per Zwang abverlangt werden, die Behörde dürfe nicht mit Auflagen die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen der Beteiligten untereinander gestalten. Diese Rüge greift ebenso wenig durch. Denn die- unterstellte - Rechtswidrigkeit der Nebenbestimmung Nr. 12 zur Baugenehmigung vom 27.10.1992 könnte der vom Verwaltungsgericht angenommenen Vollstreckbarkeit auf Grundlage der Bestandskraft der Baugenehmigung nicht entgegen gehalten werden.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt danach für die weiteren Einwände der Klägerin gegen die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung vom 27.10.1992 bzw. deren Nebenbestimmung Nr. 12, ihr Grundstück sei an die P. -B. -Straße angebunden und habe einen südlich gelegenen Eingang, so dass sie auf den Verbindungsweg zwischen der N. -F. -Straße im Westen und dem Geh- und Radweg östlich des Hauses mit der Nummer 14 nicht angewiesen sei, zudem komme der im Norden ihres Hauses gelegenen Gebäuderückseite ein besonderes Schutzbedürfnis zu, das durch die Nutzung des Verbindungswegs verletzt werde, die Nebenbestimmung Nr. 12 missachte die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 VwVfG NRW und sei ermessenswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">cc) Die Klägerin erschüttert ferner nicht die Bewertung des Verwaltungsgerichts, die bestandskräftige Baugenehmigung vom 27.10.1992 einschließlich der Nebenbestimmung Nr. 12 sei nicht nichtig.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Nebenbestimmung Nr. 12 leidet nicht an einem besonders schwerwiegenden und offensichtlichen Fehler im Sinne des § 44 Abs. 1 VwVfG NRW. Dafür ist es nicht ausreichend, dass die Nebenbestimmung dem Bauherren bzw. seinem Rechtsnachfolger keinen Vorteil einräumt. Ein Verwaltungsakt leidet nur dann an einem besonders schwerwiegenden Fehler, wenn er mit der Rechtsordnung unter keinen Umständen vereinbar ist. Der dem Veraltungsakt anhaftende Fehler muss diesen schlechterdings unerträglich, d. h. mit tragenden Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar erscheinen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.1.2012 - 1 A 1226/10 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das ist hier nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Ein besonders schwerwiegender und offensichtlicher Fehler ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerin, auf der streitigen Grundstücksfläche sei seit Erteilung der Baugenehmigung im Jahr 1992 keine Leitung verlegt worden, dies sei auch angesichts des Verlaufs sämtlicher üblicher Ver- und Entsorgungsleitungen aller Häuser über die P. -B. -Straße nicht erforderlich, so dass sich die Nebenbestimmung Nr. 12 als Willkür darstelle. Ebenso ist die Baugenehmigung einschließlich der Nebenbestimmung Nr. 12 nicht aufgrund einer mangelnden Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit nichtig.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Nebenbestimmung Nr. 12 ist auch nicht nichtig gemäß § 44 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW. Die Klägerin rügt, die Nebenbestimmung fordere die Vorlage eines Grundbuchauszugs „bis zur Inbenutzungnahme“, danach habe sich die Auflage im Sinne einer Ausschlussfrist „verbraucht“. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, bei verständiger Auslegung sei die Formulierung nicht so zu verstehen, dass die genannte Pflicht nach „Inbenutzungnahme“ entfallen solle, darin liege kein Verstoß gegen die durch den Wortlaut gezogene Auslegungsgrenze.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin zeigt auch keine ernstlichen Zweifel an der Bewertung des Verwaltungsgerichts auf, es liege kein Fall von § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG NRW vor. Sie rügt, die Nebenbestimmung Nr. 12 sei aufgrund eines bewussten und kollusiven Zusammenwirkens in Form eines „Etikettenschwindels“ sittenwidrig, vorliegend sei die eigentlich gewollte Anlage eines öffentlichen Fußwegs zur Erreichbarkeit der entgegen der Erschließungssituation in den Norden gelegten Hauseingänge unzulässig, so dass die zulässige Nutzung als rein privater Fußweg vorgeschoben worden sei, der ursprüngliche Bauherr habe eine „Baulastfläche“ beantragt, die Beklagte habe jedoch im weiteren Verfahren auf die Baulast verzichtet, da es an einem öffentlichen Interesse daran fehle. Die äußeren Umstände wie die vergleichbare Ausgestaltung der als öffentliche Verkehrsflächen gewidmeten Geh- und Radwege, die an den ehemals durchgehenden privaten Fußweg angrenzten bzw. in dessen unmittelbarer Nähe lägen, das ehemals nordwestlich ihres Grundstücks installierte Straßenschild sowie die Aufnahme des privaten Fußwegs in dem amtlichen Stadtplan der Beklagten vermittelten den Eindruck eines öffentlichen Weges. Dies bleibt ohne Erfolg. Damit wird die rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend erschüttert, dass auch bei Wahrunterstellung des Vortrags der Klägerin zu einem Zusammenwirken zwischen dem damaligen Bauherren und dem Bauamt der Beklagten eine Sittenwidrigkeit nicht anzunehmen ist. Ein Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne von § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG NRW muss nach dem Wortlaut des Gesetzes durch den Verwaltungsakt selbst gegeben sein und liegt z. B. dann vor, wenn der Verwaltungsakt etwas Sittenwidriges anordnet oder erlaubt. Ein Verstoß gegen die guten Sitten liegt indes nicht schon dann vor, wenn der Verwaltungsakt in einem angreifbaren Verfahren ergangen ist. Dies unterschiede ihn dann nämlich nicht mehr von anderen schlicht rechtswidrigen Verwaltungsakten, die grundsätzlich nur rücknehmbar, aber nicht nichtig sind.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.1.2012</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">- 1 A 1226/10 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für die von der Klägerin benannten äußeren Umstände.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg rügt die Klägerin ferner, die Nebenbestimmung Nr. 12 sei sittenwidrig im Sinne von § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG, da ein besonders grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bestehe. Der Hergabe des nördlichen Grundstücksteils zu Gunsten einer reinen Abkürzungsfläche für benachbarte Bauvorhaben bzw. eines eigentlich intendierten durchgehenden Verbindungswegs für die Allgemeinheit als „verkappte“ öffentliche Verkehrsfläche stehe kein eigener Vorteil für ihr Grundstück gegenüber, zumal ihr Haus das einzige mit einem südlich zur P. -B. -Straße geplanten und errichteten Eingang sei. Diese Rüge hat ebenfalls keinen Erfolg, weil schon angesichts der vergleichsweise geringen Größe der betroffenen Fläche und des Umstands, dass die Klägerin erst im Jahr 2017, also mehr als zehn Jahre nach dem Erwerb, bemerkt hat, dass es sich bei dem Weg um einen Teil des von ihr erworbenen Grundstücks handelt, ein besonders grobes Missverhältnis fern liegt.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Weiter rügt die Klägerin, die Nebenbestimmung Nr. 12 sei auch deshalb sittenwidrig, weil sie gutgläubig lastenfreies Eigentum nach § 892 BGB an dem Grundstück erworben habe. Auch damit legt sie schon deshalb keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils dar, weil § 892 Abs. 1 BGB in der vorliegenden Konstellation nicht einschlägig ist. Das Grundbuch war zum Zeitpunkt des Eigentumserwerbs der Klägerin nicht unrichtig im Sinne dieser Vorschrift, denn eine (eintragungspflichtige) Grunddienstbarkeit zu Lasten des von ihr erworbenen Flurstücks war nicht bestellt worden. Die bloße Verpflichtung zur Bestellung einer Grunddienstbarkeit aufgrund einer Baugenehmigung ist dagegen nicht in das Grundbuch einzutragen, so dass die Klägerin auch nicht darauf vertrauen konnte, eine solche Verpflichtung bestehe nicht. Nichts anderes ergibt sich aus der Löschung des vormals eingetragenen Entwicklungsvermerks aus dem Grundbuch. Schutzwürdiges Vertrauen kann die Klägerin ferner nicht darauf stützen, dass sie im Rahmen des Grundstückserwerbs die Baugenehmigung nicht erhalten haben will. Es hätte ihr als Erwerberin oblegen, deren Vorlage zu verlangen. Aus dem gleichen Grund ergibt sich daraus nicht die von der Klägerin angenommene „Verwirkung der Forderung aus der Auflage Nr. 12“.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin erschüttert mit ihrem Vorbringen ferner nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Nebenbestimmung Nr. 12 der Baugenehmigung sei bestimmt und vollstreckbar. Sie rügt, von einer hinreichenden Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit könne nicht die Rede sein, die Fläche für die Grunddienstbarkeit sei objektiv nicht im Lageplan erkennbar, die dort ausgewiesene „Baulastfläche“ für ein „Geh-, Fahr- und Leitungsrecht“ sei nicht einfach mit einer Fläche für eine zivilrechtliche Grunddienstbarkeit gleichzusetzen, es sei auch nicht zu erkennen, zugunsten welcher Flurstücke bzw. Bauvorhaben die Grunddienstbarkeit eingetragen werde solle, bei der Auslegung ergäben sich in mehrfacher Hinsicht Widersprüchlichkeiten. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass dem Bauschein in Zusammenschau mit den Bauvorlagen, insbesondere dem Lageplan, eindeutig zu entnehmen sei, auf welches Grundstück sich Genehmigung und Nebenbestimmung bezögen, sowohl die teilweise unrichtige Angabe des Flurstücks im Genehmigungsschreiben als auch die unrichtige Bezeichnung der Fläche im Lageplan seien daher unschädlich.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">dd) Schließlich erschüttert die Klägerin auch nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts, Ermessensfehler seien nicht feststellbar.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Sie rügt, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass die Auflage Nr. 12 zumindest eindeutig rechtswidrig sei, die teilweise Aufhebung der Ordnungsverfügung vom 22.8.2018 mit Schriftsatz vom 27.1.2021 enthalte keine Ermessenserwägungen. Es sei rechtsmissbräuchlich, ihr die Eintragung einer Grunddienstbarkeit aufzugeben, wenn die Beklagte im Jahr 1992 auf die Baulast als öffentliches Instrument zur Sicherung des Fußwegs verzichtet habe. Der Wegfall des Fußwegs als Abkürzung stelle keine Gefahr dar, vielmehr werde seitdem ihr Haus wieder zuverlässig von Post- und Paketzustellern aufgefunden. Der Durchgang über ihr Grundstück stelle nicht die einzige Zugangsmöglichkeit zu den nördlichen Hauseingängen der Hausnummern 28 bis 24 sowie 22 bis 14 dar. Da sie die Vorlage des Grundbuchauszugs nicht spätestens bei der Schlussabnahme kontrolliert habe, treffe die Beklagte ein maßgebliches Verschulden daran, dass die Grunddienstbarkeit nicht eingetragen und damit für die Klägerin nicht aus dem Grundbuch zu ersehen gewesen sei. Die Beklagte wolle die als rechtswidrig erkannte Auflage nur deshalb durchsetzen, damit die Eigentümer der Nachbargrundstücke in die Lage versetzt würden, zivilrechtlich gegen sie, die Klägerin, vorzugehen. Zudem müsse sie nur zugunsten der Flurstücke 1901 bis 1905 ein Geh- und Leitungsrecht eintragen lassen, tatsächlich würden aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die Eigentümer und Besucher der Flurstücke 1906 bis 1910 die Abkürzung über ihr Grundstück nutzen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Damit greift die Klägerin die Argumentation des Verwaltungsgerichts nicht hinreichend an, bei Verstößen gegen bestandskräftige Verwaltungsakte stelle das Einschreiten der Behörde im Rahmen des Entschließungsermessens die Regel dar, einen baurechtlich begründeten Ausnahmefall, aufgrund dessen ausnahmsweise nicht einzuschreiten gewesen wäre, habe die Beklagte ermessensfehlerfrei nicht angenommen. Im Übrigen spricht auch die Bestandskraft der Baugenehmigung einschließlich der Nebenbestimmung Nr. 12 gegen eine erneute Überprüfung der Rechtmäßigkeit im Rahmen der Ermessensentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">b) Auch hinsichtlich des Klageantrags zu 2. sind keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt, ein Feststellungsinteresse in Form eines Rehabilitierungs- und Genugtuungsinteresses liege vor. Nach der Kommentarliteratur sei ein solches Feststellungsinteresse zu verneinen, wenn die Ausgangsbehörde den Verwaltungsakt wegen seiner Rechtswidrigkeit aufgehoben und dies ausdrücklich und unmissverständlich anerkannt habe; da die Beklagte im Schriftsatz vom 27.1.2021 keine ausdrückliche Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit ausgesprochen habe, liege im Umkehrschluss ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse vor. Die ihr im Bescheid vom 22.8.2018 angedrohte Ersatzzwangshaft habe sie verängstigt und mit einer Straftäterin gleichgesetzt. Zudem berücksichtige das Verwaltungsgericht nicht, welchen rechtswidrigen und teilweise strafbaren Handlungen sie als Folge der gegen sie ergangenen Ordnungsverfügung der Beklagten ausgesetzt gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der von der Klägerin gezogene Umkehrschluss ergibt sich weder aus der von ihr zitierten Kommentarfundstelle noch trifft er der Sache nach zu. Der Bescheid vom 22.8.2018 weist lediglich auf die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der gerichtlichen Anordnung von Ersatzzwangshaft nach § 61 Abs. 1 VwVG NRW hin. Den von ihr vorgetragenen Handlungen Dritter kommt bei der Beurteilung eines auf den Bescheid vom 22.8.2018 bezogenen Genugtuungsinteresses kein durchgreifendes Gewicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">c) Ernstliche Zweifel zeigt die Klägerin auch nicht hinsichtlich des Klageantrags zu 4. auf.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Sie trägt vor, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse in Form einer Präjudizität für einen etwaig bevorstehenden Amtshaftungsprozess sei gegeben. Die nicht erfolgte Überprüfung der Vorlage der Grundbuchauszüge diene dem öffentlichen Glauben des Grundbuchs sowie dem Schutz ihres Vermögens als Dritte, zivilrechtliche Ansprüche gegen den Bauherrn oder den Verkäufer schieden aus, so dass ein subsidiärer Rückgriff auf die Beklagte eröffnet sei. Dies greift nicht durch. Der Klageantrag zu 4. bezog sich ausdrücklich allein auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des durch die Beklagte aufgehobenen Gebührenbescheids vom 22.8.2018. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, inwieweit die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieses Gebührenbescheids in einem Amtshaftungsprozess, der die Verletzung zur Pflicht einer ordnungsgemäßen Bauzustandsbesichtigung zum Gegenstand haben soll, erheblich sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">d) Schließlich legt die Klägerin auch keine ernstlichen Zweifel im Hinblick auf den Klageantrag zu 5. dar.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Sie rügt, über diesen Antrag habe das Verwaltungsgericht nicht zu entscheiden gehabt, da er nur bedingt gestellt gewesen sei, sie habe auch keine andere Baugenehmigung begehrt, sondern lediglich die Ausfertigung einer berichtigten, für ihr Vorhaben zutreffenden Baugenehmigung mit insbesondere dem richtigen Bauschein und dem Befreiungsbescheid.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diese Rügen bleiben ohne Erfolg. Soweit die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe über den Antrag nicht mehr zu entscheiden gehabt, zeigt sie damit keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses des verwaltungsgerichtlichen Urteils auf.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">2. Aus den vorstehenden Gründen führt das Zulassungsvorbringen auch nicht zu den von der Klägerin gesehenen besonderen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">3. Das Vorbringen der Klägerin führt ferner nicht zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">„wie weit der gutgläubige lastenfreie Erwerb gem. § 892 BGB greift, wenn ein Entwicklungsvermerk aus dem Grundbuch vor Auflassung und Eigentumseintragung gelöscht wurde, so dass aus dem abgeschlossenen Entwicklungsverfahren gem. § 144 BauGB keine Ansprüche gegen den gutgläubig lastenfrei erworben habenden Rechtsnachfolger mehr erhoben werde können“</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">sowie</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">„Wenn eine Grunddienstbarkeits-Forderung, wie hier z.B. für ein Geh- und Leitungsrecht, zugunsten dritter Grundstücke dann über das Entwicklungsverfahren Eingang als Auflage in eine Baugenehmigung gefunden hat, aber nicht im Grundbuch eingetragen wurde, muss dann diese für die Erschließung des Bauvorhabens bauordnungsrechtlich nicht erforderliche Auflage als „Ableger“ des Entwicklungsverfahrens nach dem BauGB, wie wir es rechtlich werten, nicht auch vom Schutz des gutgläubigen lastenfreien Erwerbs gem. § 892 BGB umfasst sein?“.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Diese Fragen sind nicht von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung. Ihre Beantwortung ergibt sich aus den vorstehend aufgezeigten Gründen ohne weiteres im Wege der Auslegung aus dem Gesetz, da § 892 BGB danach keine Anwendung findet.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">4. Das Zulassungsvorbringen führt des weiteren nicht zu der behaupteten Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin legt nicht dar, dass das Verwaltungsgericht von einem Rechtssatz in einer der von ihr benannten Entscheidungen abgewichen wäre. Sie formuliert schon keine Rechtssätze der angegriffenen Entscheidung einerseits und der als Divergenzentscheidungen benannten Urteile und Beschlüsse andererseits. Vielmehr rügt sie, das Verwaltungsgericht habe die benannten Entscheidungen nicht berücksichtigt oder deren Vorgaben verkannt. Die damit der Sache nach beanstandete vermeintlich fehlerhafte oder unterbliebene Anwendung von Rechtssätzen des Bundes- bzw. des Oberverwaltungsgerichts rechtfertigt keine Divergenzzulassung.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu etwa OVG NRW, Beschluss vom 7.2.2014 - 13 A 1900/13 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">5. Schließlich macht die Klägerin ohne Erfolg der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegende Verfahrensmängel geltend, auf denen die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt die Ablehnung ihrer Beweisanträge auf die Vernehmung von Zeugen und auf Heranziehung der Unterlagen der Beklagten hinsichtlich des Entwicklungsverfahrens gemäß § 144 BauGB. Das Verwaltungsgericht hat die Beweisanträge abgelehnt, weil sie sich überwiegend auf nicht hinreichend konkrete Tatsachen bezögen bzw. nicht entscheidungserheblich seien.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des auf die Vernehmung der Zeugen gerichteten Beweisantrags wendet die Klägerin ein, die Aussagen der Zeugen hätten ihren Vortrag eines bewussten und gewollten kollusiven Zusammenwirkens zwischen dem damaligen Bauherrn und der Beklagten mit großer Wahrscheinlichkeit bestätigt, dadurch wäre die Sittenwidrigkeit und Nichtigkeit der streitigen Auflage Nr. 12 nachzuweisen gewesen. Damit hat die Klägerin keinen durchgreifenden Verfahrensmangel dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat - wie oben dargestellt - zutreffend angenommen, auch bei einem unterstellten Zusammenwirken zwischen dem damaligen Bauherren und dem Bauamt der Beklagten sei die hohe Schwelle der Sittenwidrigkeit bzw. Nichtigkeit der Baugenehmigung nicht überschritten.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des auf die Beiziehung von Unterlagen gerichteten Beweisantrags rügt die Klägerin, wenn die streitige Auflage Nr. 12 als Teil des Entwicklungsverfahrens gemäß § 144 BauGB Eingang in die Baugenehmigung gefunden habe, könne sie sich auf ihren gutgläubigen lastenfreien Erwerb berufen; die Hintergründe der Aufnahme der streitigen Auflage in die Baugenehmigung wären für das Gericht als Rechtswidrigkeitsgrund der angegriffenen Ordnungsverfügung von prozessentscheidender Bedeutung gewesen. Damit legt sie keinen Fehler des Verwaltungsgerichts bei der Ablehnung des Beweisantrags dar. Ausgehend davon, dass die Baugenehmigung einschließlich der Nebenbestimmung Nr. 12 bestandskräftig ist, waren die weiteren Umstände des Zustandekommens dieser Regelung für die Entscheidung- wie dargelegt - unerheblich.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht war im Übrigen auch nicht im Wege der Amtsaufklärung (vgl. § 86 Abs. 1 VwGO) zur Erhebung der von der Klägerin begehrten Beweise verpflichtet.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und Abs. 3 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
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346,505 | vg-dusseldorf-2022-08-23-2-k-602920 | {
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} | 2 K 6029/20 | 2022-08-23T00:00:00 | 2022-09-10T10:01:23 | 2022-10-17T11:09:59 | Urteil | ECLI:DE:VGD:2022:0823.2K6029.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Die Klage wird abgewiesen.</strong></p>
<p><strong>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin steht als Polizeivollzugsbeamtin im Dienst des beklagten Landes. Sie leidet an einer Erkrankung, aufgrund derer ihr u.a. keine Augenbrauen und Wimpern wachsen.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 16. Oktober 2019 beantragte sie bei dem beklagten Land die Kostenübernahme für eine Permanent Make-up Behandlung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 lehnte das beklagte Land die Kostenerstattung ab. Zur Begründung heißt es: Der Umfang der Kostenerstattung nach der freien Heilfürsorge richte sich nach dem SGB V. Nach Durchsicht der eingereichten Unterlagen könne im Falle der Klägerin eine Kostenübernahme der beantragten Permanent Make-up Behandlung aus Mitteln der freien Heilfürsorge nicht befürwortet werden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 20. Januar 2020 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 2. April 2020 begründete. Die begehrte Behandlung sei zum Erhalt bzw. zur Wiederherstellung ihrer Polizeidienstfähigkeit notwendig, da keine bzw. eine verwischte geschminkte Augenbraue von dem polizeilichen Gegenüber als Schwachstelle wahrgenommen und dies für ihre dienstliche Tätigkeit hinderlich werden könne. Sie reichte überdies einen Forschungsbericht zum Erscheinungsbild von Polizisten ein.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 9. Oktober 2020 Untätigkeitsklage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 19. Februar 2021 hat das beklagte Land den Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Der Widerspruch sei zulässig, aber unbegründet. Eine Kostenerstattung hinsichtlich der begehrten Permanent Make-up Behandlung sei weder nach der freien Heilfürsorge noch nach einem Leistungsanspruch aus dem SGB V zu erkennen. Es sei davon auszugehen, dass ein Permanent Make-up gegenüber einem Farbauftrag mit marktüblichen kosmetischen Mitteln keinerlei nennenswerte Vorteile biete. Ferner sei ein Erscheinungsbild ohne Augenbrauen oder eine in Ausnahmefällen verwischte Augenbraue, die im Übrigen durch wasserfeste Schminke vermieden werden könne, für die polizeiliche Tätigkeit nicht hinderlich. Es sei nicht ersichtlich, dass Polizeivollzugsbeamte aufgrund fehlender Augenbrauen negativ in Bezug auf Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit wahrgenommen würden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Zur Klagebegründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, dass die Kostenerstattung für das Permanent Make-up im Rahmen der Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen zu gewähren sei und damit auch im Rahmen der – im gleichen Umfang gewährten – freien Heilfürsorge. Die Behandlung sei im Rahmen der freien Heilfürsorge aber auch selbst dann zu übernehmen, wenn diese im Rahmen der gesetzlichen Krankenkassen nicht erstattungsfähig wäre. Es handele sich um ein Heilmittel im Sinne von § 9 der Verordnung über die freie Heilfürsorge der Polizei (FHVOPol NRW), da es um eine Dienstleistung gehe. Mit Blick auf den Aspekt der Entstellung sei die Behandlung im Übrigen von § 2 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und 2 FHVOPol NRW erfasst.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><strong>das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides des Polizeipräsidiums X. vom 18. Dezember 2019 und des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2021 zu verpflichten, auf ihren Antrag vom 16. Oktober 2019 die Kosten für eine Permanent Make-up Behandlung zur Rekonstruktion der Augenbraun und des Wimpernkranzes zu übernehmen</strong></p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>und</strong></p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong>die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.</strong></p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt und vertieft es sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren. Ergänzend führt es aus, die Kosten für ein Permanent-Make-up könnten nicht den im Rahmen der freien Heilfürsorge einschlägigen Leistungen zugeordnet werden. Es handele sich insbesondere nicht um eine „Versorgung mit Hilfsmitteln“, da keine sächliche medizinische Leistung vorliege. Bei der Einfärbung von Hautpartien wie der Dauerpigmentierung von Augenbrauen verlören die in den menschlichen Körper eingebrachten Farbstoffe ihre rechtliche Eigenschaft als „Sache“ im Sinne von § 90 BGB; ihnen komme keine selbstständige Bedeutung mehr zu. Auch eine „Versorgung mit Heilmitteln“ sei nicht einschlägig, da die Permanent Make-up Behandlung den in § 9 FHVOPol NRW aufgeführten Maßnahmen nicht zugeordnet werden könne. Aufgrund der ähnlichen Normstruktur zu §§ 124 Abs. 1, 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V könne die Rechtsprechung analog herangezogen werden, wonach es sich bei Heilmitteln um nichtärztliche medizinische Dienstleistungen in Abgrenzung zu den Sachmitteln der Hilfsmittel handele und Heilmittel zur therapeutischen Einflussnahme auf den Krankheitszustand bestimmt seien, also zu Heilzwecken oder zur Sicherung eines Heilerfolgs eingesetzt würden. Um eine derartige medizinische Leistung handele es sich jedoch bei der Pigmentierung als oberflächlicher Tätowierung nicht. Selbst bei Annahme einer Krankheit würde mit der angestrebten Dauerpigmentierung die Erkrankung nicht bekämpft werden. Die Herstellung eines vermeintlich der Norm entsprechenden Aussehens zum Zwecke der Herstellung von Autorität genüge hierfür nicht. Das Fehlen von Augenbrauen beeinträchtige überdies nicht die Verwendbarkeit der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Polizeivollzugsbeamtin.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat den Rechtsstreit der Berichterstatterin mit Beschluss vom 9. August 2022 zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat durch die Einzelrichterin entschieden, da ihr der Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. August 2022 zur Entscheidung übertragen worden ist, § 6 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der Kosten einer Permanent Make-up Behandlung zur Rekonstruktion der Augenbraun und des Wimpernkranzes nicht zu. Der ablehnende Bescheid des beklagten Landes vom 19. Dezember 2019 und der Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2021 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin schon aus diesem Grunde nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 112 Abs. 2 Satz 1 LBG NRW haben Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte Anspruch auf freie Heilfürsorge, solange ihnen - wie der Klägerin - Besoldung zusteht. Nach Satz 3 umfasst die Heilfürsorge alle zu Erhaltung oder Wiederherstellung der Polizeidienstfähigkeit notwendigen und angemessenen Aufwendungen des Landes. Nach Satz 4 regelt das Nähere, insbesondere über den Umfang der freien Heilfürsorge und die Angemessenheit der Aufwendungen des Landes, das für Inneres zuständige Ministerium im Einvernehmen mit dem Finanzministerium durch Rechtsverordnung.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die auf dieser Grundlage erlassene FHVOPol NRW enthält in § 2 Abs. 1 Satz 3 einen in zehn Leistungstypen untergliederten Leistungskatalog. Danach umfasst der Anspruch auf freie Heilfürsorge die zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Polizeidienstfähigkeit notwendige und angemessene vorbeugende Gesundheitsfürsorge, einschließlich der Standardimpfungen gemäß aktuellem Impfkalender der ständigen Impfkommission (STIKO) und deren Auffrischungen (Nr. 1), ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie im Krankheitsfall (Nr. 2), zahnärztliche Behandlung einschließlich Zahnersatz (Nr. 3), Behandlung im Krankenhaus (Nr. 4), Behandlung in medizinischen Rehabilitationseinrichtungen (Nr. 5), Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln (Nr. 6), Versorgung mit Heilmitteln (Nr. 7), Versorgung mit Hilfsmitteln (Nr. 8), Behandlung im Ausland (Nr. 9), Vergütung von Fahrtkosten (Nr. 10).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind im Streitfalle nicht erfüllt. Ungeachtet der Frage, ob die streitgegenständliche Permanent Make-up Behandlung zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Polizeidienstfähigkeit der Klägerin notwendig ist, unterfällt sie jedenfalls schon nicht den enumerativ aufgezählten Leistungstypen des § 2 Abs. 1 Satz 3 FHVOPol NRW. Einzig in Betracht zu ziehen sind die Versorgung mit Heilmitteln (Nr. 7) und die Versorgung mit Hilfsmitteln (Nr. 8). Denn es handelt sich bei der - ausweislich des von der Klägerin vorgelegten Kostenvoranschlags von einer Kosmetikerin durchzuführenden - Permanent Make-up Behandlung offenkundig weder um eine Leistung der Gesundheitsfürsorge (Nr. 1) noch um eine (zahn-)ärztliche Behandlung (Nrn. 2 und 3) noch um eine Behandlung im Krankenhaus oder in einer medizinischen Rehabilitationseinrichtung (Nrn. 4 und 5) noch um eine Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln (Nr. 6) oder um eine Behandlung im Ausland (Nr. 9) oder gar um die Vergütung von Fahrtkosten (Nr. 10).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Auch als Heil- oder Hilfsmittel ist die streitgegenständliche Permanent Make-up Behandlung jedoch nicht im Rahmen der freien Heilfürsorge ersatzfähig. Dabei spricht aus den seitens des beklagten Landes angeführten Gründen bereits alles dafür, dass diese Leistungstypen im Streitfalle bereits begrifflich nicht einschlägig sind. Auch darauf kommt es jedoch nicht entscheidungserheblich an. Denn die Kostenerstattung nach der FHVOPol NRW ist für Heilmittel nur zu gewähren wenn sie vertrags- oder polizeiärztlich verordnet sind (vgl. § 9 Satz 1 FHVOPol NRW) und auch ein Anspruch auf Hilfsmittel besteht nur, wenn diese ärztlich verordnet sind (vgl. § 10 Satz 2 FHVOPol NRW). Daran fehlt es hier. Die Klägerin hat - worauf die Einzelrichterin bereits in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat - keine ärztliche Verordnung für die von ihr begehrte Permanent Make-up Behandlung vorgelegt.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Lediglich ergänzend sei Folgendes angemerkt:</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Argumentation der Beteiligten hinsichtlich des Leistungsumfangs des SGB V geht ins Leere. Die Behauptung der Klägerin, Leistungen der freien Heilfürsorge seien in gleichem Umfang zu gewähren, wie jene der gesetzlichen Krankenkassen, kann in dieser Pauschalität rechtlich nicht nachvollzogen werden. Vielmehr enthält die FHVOPol NRW - wie dargelegt - eigenständige Regelungen zu den Anspruchsvoraussetzungen. Zwar bestimmt § 2 Abs. 2 FHVOPol NRW, dass sich der Umfang der in § 2 Abs. 1 FHVOPol NRW genannten Leistungen, soweit die Verordnung nichts anderes bestimmt, nach den Vorschriften des SGB V richtet. Eine dem Leistungskatalog des § 2 Abs. 1 FHVOPol NRW unterfallende Leistung steht - wie gezeigt - im Streitfalle aber gerade nicht in Rede.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet des Vorstehenden ist das Gericht auch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die begehrte Permanent Make-up Behandlung zur Rekonstruktion der Augenbrauen und des Wimpernkranzes im Sinne von § 112 Abs. 2 Satz 3 LBG i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 3 FHVOPol NRW zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Polizeidienstfähigkeit der Klägerin notwendige ist. Mit dem Begriff der Polizeidienstfähigkeit wird darauf abgestellt, ob der Polizeivollzugsbeamte bzw. die Polizeivollzugsbeamtin zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder seinem bzw. ihrem statusrechtlichen Amt entsprechenden Stellung einsetzbar ist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2016 – 5 C 32.15 –, juris, Rn. 30.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Diese Einsatzfähigkeit ist bei der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts nicht aufgrund fehlender Augenbrauen oder Wimpern eingeschränkt und würde darüber hinaus zur Überzeugung des Gerichts auch nicht durch verwischte Schminke beeinträchtigt werden. Insbesondere teilt das Gericht die Befürchtung der Klägerin nicht, fehlende oder verwischte geschminkte Augenbrauen oder Wimpern seien ihrer Autorität abträglich und würden daher die Durchsetzungsfähigkeit polizeilicher Maßnahmen gefährden. Es ist davon auszugehen, dass in aller Regel die Durchsetzungsfähigkeit polizeilicher Maßnahmen durch das Tragen einer Uniform und die damit äußerlich kundgetane Neutralität und Legitimation der Beamtin bzw. des Beamten für hoheitliche Maßnahmen sichergestellt ist.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dem Fall der Vorgabe einer "Hemdkragengrenze" für die Haarlänge von Polizisten: BVerwG, Urteil vom 2. März 2006 – 2 C 3.05 –, juris, Rn. 21 ff.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht davon auszugehen, dass fehlende oder etwa verwischte Augenbrauen oder Wimpern im Falle der Klägerin geeignet sind, diese Legitimationsfunktion der Uniform nennenswert zu beeinträchtigen. Individuelle Merkmale eines Polizisten bzw. einer Polizistin sind nicht bereits dann geeignet, die Neutralitäts- und Legitimationsfunktion der Polizeiuniform zu beeinträchtigen, wenn sie die Mehrheit der Bevölkerung für die eigene Person ablehnt oder allgemein nicht für vorteilhaft hält. Vielmehr ist von einer Beeinträchtigung erst dann auszugehen, wenn der Beamte bzw. die Beamtin aufgrund des in Rede stehenden individuellen Merkmals von weiten Kreisen der Bevölkerung ausgegrenzt wird oder ihm bzw. ihr jedenfalls Vorbehalte der Art begegnen, die erwarten lassen, dass sie bei der Amtsausübung nicht ernst genommen werden oder ihnen das dabei erforderliche Vertrauen nicht entgegengebracht wird.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. März 2006 – 2 C 3.05 –, juris, Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dies ist hinsichtlich der fehlenden bzw. verwischten Augenbrauen oder Wimpern der Klägerin nicht der Fall. Zwar mag es zutreffend sein, dass es sich dabei im Einzelfall um eine Auffälligkeit handelt, die von dem jeweiligen polizeilichen Gegenüber durchaus wahrgenommen wird. Es erscheint indes fern liegend, dass Personen, die einer Polizeivollzugsbeamtin ohne oder mit verwischten Augenbrauen oder Wimpern mit Skepsis begegnen, sich deswegen ihren Anordnungen widersetzen, ihre Hinweise nicht ernst nehmen oder es ablehnen, sie in Notsituationen um Hilfe zu bitten. Die oben dargestellte, durch die Uniform herbeigefügte Legitimationswirkung sowie die ihrem Träger bzw. ihrer Trägerin verliehene Autorität werden dadurch bei lebensnaher Betrachtung nicht eingeschränkt. Hinzu tritt, dass die Klägerin nach dem Eindruck der Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung über ein sicheres und selbstbewusstes Auftreten verfügt und ihren Standpunkt zu vertreten weiß. Fehlende oder verwischte Augenbrauen oder Wimpern sind zur Überzeugung des Gerichts nicht geeignet, diese durch eine Vielzahl von Faktoren bewirkte Ausstrahlung nennenswert zu beeinträchtigen oder gar zu überlagern. In dieses Bild fügt sich, dass die Klägerin, nicht vorgetragen hat, dass es bei dienstlichen Einsätzen jemals gerade auf Grund ihrer fehlenden oder etwa verwischten Augenbrauen oder Wimpern zu Konflikten oder Schwierigkeiten gekommen ist.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Für die Feststellung der Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren ist kein Raum, da der Klägerin ohnehin nach Kostengrundentscheidung kein Kostenerstattungsanspruch zusteht.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss:</strong></p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird auf 1.040,- Euro festgesetzt.</strong></p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Absatz 3 Satz 1 GKG erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
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346,471 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-08-23-4-b-822 | {
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"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
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} | 4 B 8/22 | 2022-08-23T00:00:00 | 2022-09-08T10:00:41 | 2022-10-17T11:09:53 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0823.4B8.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 25. Februar 2022 gegen den Kostenerstattungsbescheid vom 7. Februar 2022 wird wiederhergestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner und die Antragsteller als Gesamtschuldner tragen die Kosten des Verfahrens zu je 1/2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Streitwert wird auf x € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller wenden sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Kostenerstattung für die Herstellung eines Mischwasseranschlusses.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks unter der Adresse A-Straße in A-Stadt, Flurstück x, Flur x, Gemarkung A-Stadt, welches aus dem ursprünglichen Flurstück x, Flur x, Gemarkung A-Stadt (xxx) hervorgegangen ist. Die Eintragung des neuen Grundstücks ins Grundbuch erfolgte am 11. März 2021.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Gemeinde A-Stadt betreibt auf Grundlage ihrer Abwasserbeseitigungssatzung vom 22. Juni 2004 (AWBS) die Abwasserbeseitigung des in ihrem Entsorgungsgebiet anfallenden Abwassers (Schmutz- und Niederschlagswasser) als öffentliche Einrichtung zur zentralen Schmutzwasserbeseitigung im Misch- und Trennsystem einschließlich des jeweils ersten Grundstücksanschlusses (zentrale Abwasserbeseitigung). Sie erhebt auf Grundlage ihrer Satzung über die Erhebung von Abgaben für die zentrale und dezentrale Abwasserbeseitigung (Beitrags- und Gebührensatzung) vom 30. November 2004 in der Fassung der 1. Nachtragssatzung vom 28. November 2013 (BGS) Beiträge für die Herstellung der zentralen öffentlichen Abwasserbeseitigungseinrichtungen und Kostenerstattung bzw. Aufwendungsersatz für zusätzliche Grundstücksanschlüsse nach Maßgabe der Abwasserbeseitigungssatzung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Mit E-Mail vom 17. August 2020 erkundigte sich die Antragstellerin zu 1) bei dem Antragsgegner unter anderem danach, wie eine Grundstücksteilung erfolgen könne und wie der Standort der Versorgungsleitungen des betroffenen Flurstücks x (x) eingesehen werden könnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Am selben Tag teilte der Antragsgegner der Antragstellerin zu 1) mit, dass eine Grundstücksteilung im Zuge des Kaufvertrages oder im Vorwege erfolgen könne. In der Straße x und teilweise in der Straße x sei eine Mischwasserversorgungsleitung sowie in der Straße x eine Regenwasserleitung vorhanden. Im Bereich des abzuteilenden Grundstücks (A-Straße) liege jedoch nur eine Regenwasserleitung und keine Mischwasserleitung, so dass entweder eine Verlängerung der Hauptleitung gegen Übernahme der Gebühren oder eine Verlegung der Abwasserleitung z. B. über das Grundstück x mit Gewährung eines Leitungsrechts erfolgen müsse.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Im November teilte der Antragsgegner der Antragstellerin zu 1) mit, dass eine Verlängerung des vorhandenen Mischwasserkanals in der Straße x möglich sei. Es sei eine Verlängerung von ca. 20 m erforderlich, wobei bei normalen Baugrundverhältnissen und einer unbelasteten Oberfläche die Kosten rund x € betragen würden. Kontaminiertes Oberflächenmaterial müsse vorschriftsmäßig entsorgt werden, weswegen eine Untersuchung der Oberfläche empfohlen werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Daraufhin schrieb die Antragstellerin zu 1) dem Antragsgegner, dass ihnen eine Verlängerung mehr zusagen würde. Sie bat außerdem um Auskunft, wie eine Oberflächenuntersuchung beauftragt werde, welche Kosten dafür entstehen würden und ob diese zuzüglich der x € zu zahlen seien. Weiter bat sie um Mitteilung, ob ein Festpreis verhandelt werden könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Intern heißt es in einer E-Mail des Antragsgegners, dass zu den Baukosten bei kontaminiertem Asphalt Entsorgungskosten noch x € für den Baugrundgutachter und x € für die Deponierung des Asphalts kalkuliert werden müssten. Die Antragstellerin zu 1) habe mithin mit Kosten in Höhe von x € zu rechnen. Ein Festpreis sei nicht möglich. Die Kosten würden sich nach dem tatsächlichen Aufwand der Fa. D aus dem Jahresvertrag ergeben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Mit E-Mail vom 8. Dezember 2020 stellten die Antragsteller einen Antrag auf Verlängerung der Mischwasserleitung und eine Oberflächenmaterialuntersuchung und erklärten, die Kostenübernahme für die dadurch entstehenden Kosten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Am 17. Februar 2021 stellten die Antragsteller einen Antrag auf Genehmigung des Anschlusses an die Abwasseranlagen, wobei sie ein Formular des Abwasserzweckverbandes Wirtschaftraum B-Stadt (X) verwendeten (Bl. 30 ff. der Verwaltungsakte).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Am 3. März 2021 erteilte der Antragsgegner den Antragstellern für das Grundstück unter der Adresse A-Straße in A-Stadt, Flur x, Flurstück Teil aus x die Genehmigung des Anschlusses ihres Grundstücks an die Ortsentwässerung A-Stadt, wobei als Rechtsgrundlage die Abwasserbeseitigungssatzung der Gemeinde x vom 29. November 2004 benannt wurde (Bl. 47 der Verwaltungsakte). Als Auflage wurde unter anderem ausgeführt, dass die Anschlussgenehmigung erst mit betriebsfertiger Herstellung der öffentlichen Abwasseranlagen wirksam sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>In der Zeit vom 24. Februar 2021 bis zum 14. Juni 2021 ließ die Gemeinde den Mischwasserkanal, der bislang in der Höhe der Grundstücke xx, x und x (Flurstücke x bzw. x) endete, in der Straße X um ca. 20 m von der Fa. D verlängern. Für die Tiefbauarbeiten rechnete diese am 23. August 2021 Werkleistungen in Höhe von xxx € ab (Bl. 76 ff. der Verwaltungsakte). Adressiert wurde die Rechnung an die Gemeinde A-Stadt über den Antragsgegner. Weiter heißt es „Rechnung A-Stadt x SW-Kanal + SW-GAK“. Danach folgt eine Leistungsauflistung, die unterteilt ist in Abschnitt 1: Zeitvertragsarbeiten für den X“ und „Abschnitt 2: Zeitvertragsarbeiten für das Amt C“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 7. Februar 2022 setzte der Antragsgegner gegen die Antragsteller einen Kostenerstattungsbetrag für die tatsächlichen Kosten der Herstellung des Mischwasseranschlusses auf dem Grundstück unter der Adresse A-Straße in A-Stadt, Flurstück x, Flur x, Gemarkung A-Stadt in Höhe von X € fest. Die Rechnung der Fa. D vom 23. August 2021 war dem Bescheid beigefügt. Als Grundlage des Bescheides wurde § 3 der Beitrags- und Gebührensatzung Schmutzwasserbeseitigung vom 30. November 2004 benannt. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass ein Widerspruch gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO keine aufschiebende Wirkung habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Dagegen erhoben die Antragsteller am 25. Februar 2022 Widerspruch und beantragten die Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung führten sie aus, dass die benannte Ermächtigungsgrundlage – § 3 der Beitrags- und Gebührensatzung Schmutzwasserbeseitigung des X – nicht einschlägig sei. Es liege kein Fall eines Zweitanschlusses vor, da das Grundstück nach der Grundstückteilung erstmals 2021 angeschlossen worden sei. Weiter sei § 3 der Satzung zu unbestimmt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller haben am 4. April 2022 um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Der Antragsgegner habe auf den Widerspruch vom 25. Februar 2022 nicht reagiert und es sei vergeblich die Aussetzung der Vollziehung beantragt worden. Der Kostenerstattungsbescheid sei offensichtlich rechtswidrig. Gemäß der Rechnung vom 23. August 2021 seien die Arbeiten an den Schmutzwasserentwässerungsleitungen „für den X“ durchgeführt worden. Erst ab der Position 02.00.0000 seien Zeitvertragsarbeiten für den Antragsgegner durchgeführt worden. Arbeiten, die für den X durchgeführt worden seien, dürften jedoch nicht über das Satzungsrecht der Gemeinde A-Stadt abgerechnet werden. Soweit der Bescheid mithin x € für Arbeiten für den X enthalte, sei er rechtswidrig. Im Übrigen sei eine Kostenerstattung in Höhe der Herstellungskosten auch nach dem Satzungsrecht der Gemeinde A-Stadt nicht gerechtfertigt, weil § 3 Satz 2 BGS gelte. Dieser schließe eine Erstattung von Zeitvertragsarbeiten für den X aus. Es handele sich auch nicht um einen „zusätzlichen Grundstücksanschluss“ i. S. d. § 3 Satz 2 letzter Halbs. BGS. Das Grundstück sei erstmalig durch Vermessung, Eintragung im Kataster und im Grundbuch im März 2021 entstanden. „Zusätzlich“ bedeute, dass bereits ein Grundstückanschluss vorhanden sein müsse. Dies sei auf ihrem Grundstück nicht der Fall gewesen. Eine Anwendung des § 3 Satz 1 BGS sei mithin ausgeschlossen. Die Satzung selbst hätte definieren müssen, was unter „zusätzlichen“ Grundstücksanschlüssen zu verstehen sei, da eine Gleichsetzung mit einem Erstanschluss nach Teilung dem Wortlaut widerspreche. Insoweit sei die Satzung der Gemeinde A-Stadt zu unbestimmt. Auch § 19 AWBS gelte nur für solche Grundstücke, die nicht Bestandteil der öffentlichen Abwasserbeseitigungseinrichtung seien. Die Leitungen in der öffentlichen Straße x seien aber solche, die auch im Eigentum der Gemeinde stehen würden. Im vorliegenden Fall gelte mithin § 2 BGS.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Mit gerichtlicher Verfügung vom 7. Juli 2022 hat das Gericht den Beteiligten mitgeteilt, dass kein Fall von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO vorliegen dürfte, woraufhin der Antragsgegner am 18. Juli 2022 die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 7. Februar 2022 angeordnet hat. Zur Begründung führt er aus, dass ohne die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eine gerichtliche Entscheidung in der Sache nicht ergangen wäre, mithin erst ein sich anschließendes Klageverfahren abgewartet werden müsste. Es bestünden jedoch an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides keine Zweifel, weswegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung im öffentlichen Interesse geboten sei. Die Verlängerung des Mischwasserkanals sei von den Antragstellern am 8. Dezember 2020 beantragt worden und es sei von ihnen auch erklärt worden, die Kosten tragen zu wollen. Die angefallene Rechnung habe nun die Gemeinde A-Stadt aus den liquiden Mitteln des Haushaltes bezahlen müssen. Die Mittel stünden demnach für andere zu finanzierende Aufgaben nicht mehr zur Verfügung. Die Kostenerstattung diene aber gerade dazu, dass die Finanzierung öffentlicher Aufgaben nicht gefährdet werde. Der Rechnungsausgleich führe bei der Gemeinde A-Stadt zu einer Liquidationseinbuße, die angesichts des Volumens des Gesamthaushaltes der Gemeinde A-Stadt von etwas mehr als x € im Jahre 2020 immerhin einen Anteil von rund 5 v.H. ausmache. Die in den Haushalt eingestellten Mittel würden jedoch dazu dienen, den Finanzbedarf der von der Gemeinde zu erledigenden Aufgaben zu decken, nicht aber der Finanzierung und Verschaffung von Vorteilen für private Grundstückseigentümer. Die Gemeinde sei keine Bank bzw. kein Kreditunternehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Dagegen führen die Antragsteller an, dass eine erneute Anordnung des Sofortvollzuges nicht erforderlich sei, da der Bescheid vom 7. Februar 2022 eine solche bereits ausdrücklich enthalte. Sie sei jedoch unwirksam, da sie nicht begründet worden sei. Eine Nachholung der Begründung sei im Klageverfahren oder einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht mehr möglich. Außerdem sei die erneute Anordnung des Sofortvollzuges vom 18. Juli 2022 trotz Bevollmächtigung nicht an den Prozessbevollmächtigen versandt worden und daher bereits unwirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller beantragen wörtlich,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruches vom 23. Februar 2022 gegen den Bescheid über die Kostenerstattung vom 8. Dezember 2020, Az. x, anzuordnen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. hilfsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruches vom 23. Februar 2022 gegen den Bescheid über die Kostenerstattung vom 7. Februar 2022 wiederherzustellen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3. weiter hilfsweise, die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit im Bescheid vom 7. Februar 2022, Az. x, aufzuheben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Mit Genehmigungserteilung am 3. März 2021 sei klar gewesen, dass zum Anschluss des Grundstückes der Antragsteller eine Vorstreckung des in der Straße x verlegten Mischwasserkanals erforderlich sein würde. Maßgeblich für die Kostenerstattung sei das Satzungsrecht der Gemeinde A-Stadt, nicht des X, da die Gemeinde A-Stadt nicht Mitglied des Zweckverbandes sei. Nach § 2 Abs. 4 AWBS sei der jeweils erste Grundstückanschluss Bestandteil der zentralen Grundstücksanschlüsse, zusätzliche und/oder nachträglich hergestellte Grundstücksanschlüsse seien nicht Bestandteil der zentralen öffentlichen Einrichtung. Gemäß § 3 Ziff. 4 AWBS sei Grundstücksanschluss der Verbindungskanal/die Verbindungsleitung vom öffentlichen Abwasserkanal (Hauptkanal/Sammler) bis max. hinter der Grenze bzw. bis zum ersten Übergabe-/Reinigungsschacht auf dem zu vermessenden Grundstück. § 19 AWBS bestimme, dass für die Herstellung, den Aus- und Umbau, die Änderung und Unterhaltung der zusätzlichen Grundstücksanschlüsse, die nicht Bestandteil der öffentlichen Abwasserbeseitigungseinrichtung sind, die Gemeinde Erstattung der Kosten bzw. der Ersatz der Aufwendungen in tatsächlicher Höhere fordern könne. Grundstücksanschlüsse, die nachträglich durch die Teilung oder zusätzliche Bebauung von Grundstücken erforderlich würden, würden als zusätzliche Grundstücksanschlüsse i.S.v. § 19 Satz 1 AWBS gelten, wenn kein Herstellungsbeitrag nach § 19 Satz 2 Halbs. 2 AWBS erhoben werde. Grundlage der Kostenerstattung sei hier § 3 BGS. Die Rechnung der Fa. D sei auf die Gemeinde A-Stadt ausgestellt und die Leistungen seien für die Gemeinde A-Stadt erbracht worden, was sich aus den Aufmaßbögen und Tagesberichten ergebe. Das in der Rechnung „Zeitvertragsarbeiten für den X bzw. das Amt C“ bezeichnet seien, sei daher unschädlich. Das ursprüngliche Grundstück X sei zudem in der Beitragskalkulation enthalten gewesen. Als Nachweis reicht der Antragsgegner eine kartographische Flächenübersicht ein. Für das ursprüngliche Grundstück sei mithin die sachliche Beitragspflicht bereits schon einmal entstanden, weswegen der Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung gelte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Der Hauptantrag der Antragsteller ist unter Berücksichtigung der Antragsbegründung und ihres Schriftsatzes vom 14. Juni 2022 in Anwendung von §§ 122 Abs. 1, 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres mit Schriftsatz vom 23. Februar 2022 erhobenen Widerspruches vom 25. Februar 2022 gegen den Kostenerstattungsbescheid vom 7. Februar 2022 begehren. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 haben die Antragsteller die Verlängerung der Mischwasserleitung beantragt, der Widerspruch als Grundlage der aufschiebenden Wirkung richtet sich jedoch gegen den Bescheid vom 7. Februar 2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Der so verstandene Hauptantrag ist bereits mangels Statthaftigkeit unzulässig, da kein Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO vorliegt. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen. Die Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO liegen nicht vor. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben oder Kosten. Kosten in diesem Sinne sind nur Gebühren und Auslagen, die den Beteiligten wegen der Durchführung eines Verwaltungsverfahrens auferlegt werden. Dazu zählen jedoch nicht die Aufwendungen für die Herstellung, Erhaltung und Erneuerung von Anschlussleitungen, die nach dem Kommunalabgabenrecht oder einer Satzung von den Anschlussnehmern zu ersetzen sind (VG Schleswig, Beschluss vom 26. Februar 2018 – 4 B 14/18 – n.v. m.w.N.; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 63).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Der Hilfsantrag zu 1) ist zulässig und begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft, weil der Widerspruch vom 25. Februar 2022 gegen den Bescheid vom 7. Februar 2022 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 18. Juli 2022 keine aufschiebende Wirkung hat. Entgegen der Ansicht der Antragsteller ist auch nicht bereits in der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 7. Februar 2022 eine Anordnung der sofortigen Vollziehung zu sehen. Vielmehr ist der Antragsgegner irrigerweise davon ausgegangen, dass auch Kostenerstattungsansprüche unter § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO fallen, da es in dem Bescheid wörtlich heißt: „Gemäß § 80 Abs. 2 Ziff. 1 Verwaltungsgerichtsordnung hat ein Widerspruch keine aufschiebende Wirkung.“ Für die rechtliche Beurteilung kommt es jedoch nicht auf die Annahme des Antragsgegners an, sondern auf die konkrete Rechtslage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine Zugangsvoraussetzung. Die Antragsteller mussten daher weder einen neuen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellen noch stellt es ein Problem dar, dass über den ursprünglichen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht entschieden worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann durch das Gericht die aufschiebende Wirkung im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 4, also in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, besonders angeordnet wurde, ganz oder teilweise wiederhergestellt werden. Die gerichtliche Entscheidung ergeht bei einer formell rechtmäßigen Anordnung der sofortigen Vollziehung auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse einerseits und das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen der Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts Bedeutung erlangen. Lässt sich die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen, weil an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig (vgl. zu diesem Merkmal: BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. September 1995 – 2 BvR 1179/95 – juris Rn. 46), bedarf es in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde im Einzelfall angeordnet wurde, noch eines besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung, das mit dem Interesse am Erlass eines Verwaltungsaktes in der Regel nicht identisch ist, sondern vielmehr ein qualitativ anderes Interesse ist (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Oktober 2003 – 1 BvR 1594/03 – juris Rn. 22). Lässt sich die Rechtmäßigkeit bei summarischer Prüfung nicht eindeutig beurteilen, bedarf es schließlich einer allgemeinen Interessenabwägung im Sinne einer Folgenabwägung (BVerwG, Beschluss vom 22. März 2010 – 7 VR 1/10 – juris Rn. 13; OVG Schleswig, Beschluss vom 6. August 1991 – 4 M 109/91 – juris Rn. 4).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>In Anwendung dieser Maßstäbe ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 18. Juli 2022 nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung zwar formell rechtmäßig (1.). Jedoch überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der durch Verwaltungsakt ausgesprochenen Zahlungsaufforderung vorliegend nicht das Interesse, von dem Vollzug der Zahlung vorläufig verschont zu bleiben, weil der Kostenerstattungsbescheid vom 7. Februar 2022 offensichtlich rechtswidrig ist und der Antragsgegner kein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung hat (2.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ist die Ausgangsbehörde zuständig für die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Vorliegend war der Antragsgegner gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 Amtsordnung (AmtsO) zuständig für den Erlass des Kostenerstattungsbescheides vom 7. Februar 2022 und damit auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung, da beides zu dem Bereich der Abwasserbeseitigung als Selbstverwaltungsaufgabe der amtsangehörigen Gemeinde A-Stadt zählt. Der Amtsvorsteher ist in Selbstverwaltungsangelegenheiten zuständige Behörde an Stelle der Bürgermeister der amtsangehörigen Gemeinden und führt die Verwaltungsgeschäfte. Der Amtsvorsteher hat die Verwaltungsakte als solche des Amtes zu erlassen; insoweit entfällt die Zuständigkeit der amtsangehörigen Gemeinde bzw. der Gemeindebehörde (OVG Schleswig, Beschluss vom 27. Januar 1999 – 2 L 84/97 – juris Rn. 10; VG Schleswig, Beschluss vom 31. März 2021 – 4 B 1/21 – juris Rn. 40). Unschädlich ist, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht zusammen mit dem Bescheid vom 7. Februar 2022 erfolgte, sondern mit Schreiben vom 18. Juli 2022 nachgeholt wurde (Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 41).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Die sofortige Vollziehung ist auch gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO schriftlich hinreichend begründet worden. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO setzt insoweit eine auf den konkreten Fall bezogene, nicht nur formelhafte schriftliche Begründung voraus, die aber nicht zwingend inhaltlich richtig sein muss (Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 84 f.; Hoppe, a.a.O., Rn. 55). Mit Schreiben vom 18. Juli 2022 ordnete der Antragsgegner die sofortige Vollziehung mit einer den genannten Anforderungen entsprechenden Begründung an, indem er ausführte, dass die Gemeinde rund 5 v. H. ihrer liquiden Mittel aus ihrem Haushalt eingesetzt habe, die für andere zu finanzierende Aufgaben nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Eine Anhörung war nach § 87 Abs. 1 Landesverwaltungsgesetz (LVwG) nicht erforderlich, weil es sich bei einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht um einen Verwaltungsakt handelt (Hoppe, a.a.O, Rn. 42).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>2. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der durch Verwaltungsakt ausgesprochenen Zahlungsaufforderung überwiegt vorliegend nicht das Interesse, von dem Vollzug der Zahlung vorläufig verschont zu bleiben, weil der Kostenerstattungsbescheid vom 7. Februar 2022 offensichtlich rechtswidrig ist (a.) und der Antragsgegner kein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung hat (b).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>a. Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist der Kostenerstattungsbescheid vom 7. Februar 2022 offensichtlich rechtswidrig, weil die Beitrags- und Gebührensatzung hinsichtlich des Erstattungsanspruches unwirksam ist. Mithin fehlt es dem Bescheid vom 7. Februar 2022 an einer Rechtsgrundlage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner stützt den Bescheid vom 7. Februar 2022 auf § 9a KAG i.V.m. § 3 Satz 1 BGS i.V.m. § 19 AWBS. Die Beitrags- und Gebührensatzung ist jedoch in Bezug auf die Kostenerstattung unwirksam. Satzungsmängel sind im Eilverfahren zu berücksichtigen, wenn sie sich aufdrängen, d.h. ein Satzungsmangel muss so offensichtlich und eindeutig sein, dass im Hauptsacheverfahren eine andere rechtliche Beurteilung nicht zu erwarten ist. Eine Klärung offener Fragen zur Gültigkeit der jeweiligen Abgabensatzung kann nicht Aufgabe des Eilverfahrens sein. Vielmehr hat die (Inzident-)Kontrolle der Satzung im dafür vorgesehenen Hauptsacheverfahren stattzufinden (OVG Schleswig, Beschluss vom 4. März 2022 – 5 MB 44/21 – juris Rn. 16; OVG Weimar, Beschuss vom 23. April 1998 – 4 EO 6/97 – juris Rn. 25 m.w.N.; Beschlüsse der Kammer vom 7. März 2019 – 4 B 105/18 – juris Rn. 8, vom 19. November 2018 – 4 B 83/18 – n.v. und vom 31. März .2021 – 4 B 1/21 – juris Rn. 24). Nur wenn Fehler offen zu Tage treten, ist dies im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu berücksichtigen (VG München, Beschluss vom 15. November 2005 – M 10 S 05.2876 – juris Rn. 18).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Zwar ist die Beitrags- und Gebührensatzung nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung formell wirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Die Gemeinde A-Stadt war als abwasserbeseitigungspflichtige Gemeinde gemäß der zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Fassung von § 31 Abs. 1 Satz 1, § 31 Abs. 3 Satz 2 Landeswassergesetz vom 6. Januar 2004 (LWG a.F.) i.V.m. § 1 Abs. 1 und §§ 6, 8 KAG zuständig für den Erlass der Beitrags- und Gebührensatzung, ebenso wie für den Erlass der Abwasserbeseitigungssatzung (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 LWG a.F.) sowie für die Regelung der Kostenerstattung nach § 9a KAG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Die Beitrags- und Gebührensatzung ist auch wirksam erlassen. Die jeweils mehrheitlich von der Gemeindevertretung beschlossene und vom Bürgermeister ausgefertigte Beitrags- und Gebührensatzung in der Fassung der 1. Nachtragssatzung wurde gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 der Hauptsatzung der Gemeinde A-Stadt vom 23. Oktober 2003 und vom 25. Juni 2009 durch Veröffentlichung im Bekanntmachungsblatt des Amtes C bekannt gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Materiell-rechtlich drängt sich jedoch ein Verstoß gegen höherrangiges Recht auf.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Die Beitrags- und Gebührensatzung in der Fassung der 1. Nachtragssatzung verstößt gegen das Zitiergebot des § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG, wonach Satzungen die Rechtsvorschriften angeben müssen, welche zum Erlass der Satzung rechtfertigen (vgl. OVG Schleswig, 12. Juni 2020 – 2 KN 2/18 – juris Rn. 15 ff.; Urteil vom 13. Februar 2020 – 2 LB 16/19 – juris Rn. 23 ff.; VG Schleswig, Urteil vom 26. September 2018 – 4 A 209/17 – juris Rn. 43 ff.). Sie nennt in der Eingangsformel § 4 GO und §§ 1, 2, 6, 8, 9 KAG. Die Zitierung des § 18 AWBS erst in der 1. Nachtragssatzung ist unschädlich, weil § 18 AWBS nicht Rechtsgrundlage für die Erhebung von Beiträgen und Gebühren ist und damit nicht zwingend zitiert werden muss (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 20. Dezember 2019 – 2 MB 28/18 – n.v.; VG Schleswig, Urteil vom 8. Dezember 2021 – 4 A 282/19 – juris Rn. 63). Weiter zitiert jedenfalls die Abwasserbeseitigungssatzung die §§ 31 und 31a LWG a.F. in der Eingangsformel, weswegen dies in der Beitrags- und Gebührensatzung entbehrlich ist. Insoweit unschädlich ist auch, dass nach der aktuellen Fassung des Landeswassergesetzes nun § 44 LWG zu zitieren wäre (vgl. dazu OVG Schleswig, Beschluss vom 20. Dezember 2019 – 2 MB 28/18 – n.v.; VG Schleswig, Urteil vom 24. September 2021 – 4 A 303/19 – juris Rn. 76 ff.; VG Schleswig, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 4 B 245/17 – juris Rn. 21 ff.). Nur in der Eingangsformel der 1. Nachtragssatzung wird § 9a KAG zitiert, ohne das damit auch die Eingangsformel der Ausgangssatzung vom 30. November 2004 rückwirkend geändert worden ist. Auch diese hätte aber nach Einführung des § 9a KAG zum 1. Januar 2004 diese Norm in der Eingangsformel nennen müssen, da die Regelung zu Kostenerstattungen bereits in der Ausgangssatzung enthalten war und nicht erst mit der 1. Nachtragssatzung hinzugefügt worden ist (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 13. Februar 2020 – 2 LB 16/19 – juris Rn. 22; VG Schleswig, Beschluss vom 9. Mai 2007 – 4 B 8/07 – juris Rn. 28 und zur Erforderlichkeit der rückwirkenden Änderung der Ausgangssatzung, vgl. VG Schleswig, Urteil vom 30. August 2021 – 9 A 10/18 – juris Rn. 25). Auch die Abwasserbeseitigungssatzung zitiert trotz des enthaltenen § 19 AWBS § 9a KAG in der Einleitungsformel nicht, weswegen auch diese gegen das Zitiergebot aus § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG verstößt. § 3 BGS und § 19 AWBS erweisen sich daher als unwirksam. Im Übrigen sind die Satzungen jedoch wirksam, da es sich bei der Kostenerstattung um einen Verstoß eines einzelnen, abtrennbaren Teils der Satzungen handelt und damit die Zitiergebotsverstöße jeweils nur zur Teilnichtigkeit dieses Satzungsbestandteils führen (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 16. Januar 2020 – 4 A 144/15 – juris Rn. 29).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Es wird darauf hingewiesen, dass die Beitrags- und Gebührensatzung und die Abwasserbeseitigungsatzung in Hinblick auf die Kostenerstattung außerdem auch nicht die Mindestanforderungen an eine Satzung nach § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG erfüllen. Gemäß § 9a Abs. 2 Satz 2 KAG findet dieser bei Kostenerstattungsansprüchen entsprechende Anwendung. Demnach muss eine Satzung den Gegenstand der Kostenerstattung, den Schuldner des Anspruchs, die Höhe und die Bemessungsgrundlage sowie den Zeitpunkt der Entstehung und Fälligkeit des Anspruches angeben (Habermann in: Praxis der Kommunalverwaltung, KAG, Stand: Januar 2016, § 9a Rn. 11). Weder die Beitrags- und Gebührensatzung noch die Abwasserbeseitigungssatzung regeln jedoch den Zeitpunkt der Entstehung, den Schuldner und die Fälligkeit des Kostenerstattungsanspruches.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Es sind auch keine anderen Rechtsgrundlagen ersichtlich auf die der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch gestützt werden könnte. Der allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch ist seit der Einführung des § 9a KAG nicht (mehr) anwendbar. § 9a KAG ersetzt diesen seit In-Kraft-Treten zum 1. Januar 2004 abschließend (VG Schleswig, Beschluss vom 9. Mai 2007 – 4 B 8/07 – juris Rn. 28; Habermann, a.a.O, Rn. 5).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Auch kann der Bescheid nicht auf die Kostenübernahmeerklärung der Antragsteller gestützt werden, weil darin kein Schuldanerkenntnis gesehen werden kann und sich die Kostenerstattung daher nach den Reglungen der Satzung richtet (vgl. zum Schuldanerkenntnis im öffentlichen Recht VG Cottbus, Urteil vom 18. Januar 2022 – 6 K 2078/18 – juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>b. Weiter fehlt es dem Antragsgegner am besonderen öffentlichen Interesse zur Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung des Kostenerstattungsbescheides vom 7. Februar 2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Bei dem besonderen öffentlichen Interesse muss es sich um ein besonderes Vollzugsinteresse handeln, welches über das Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. Oktober 2012 – 2 M 22/12 – juris Rn. 36; Beschluss vom 29. November 2017 – 3 M 271/17 – juris Rn. 17). Fiskalische Interessen können dabei nur ausnahmsweise ein besonderes öffentliches Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung begründen. Es bedarf einer über das bloße Haushaltsinteresse hinausgehenden, eigenständigen Rechtfertigung, die sich auch nicht in dem Kostenerstattungsinteresse erschöpfen darf, das jedem Leistungsbescheid immanent ist und daher keine besondere Eilbedürftigkeit begründet. Eine Ausnahme ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die fiskalischen Interessen hinreichend gewichtig sind und die Verwirklichung einer öffentlichen-rechtlichen Geldforderung ohne den sofortigen Vollzug (erst nach rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens) ernstlich gefährdet erscheint. Dabei muss die Gefährdungslage im Einzelfall festgestellt werden; gegenläufige Gesichtspunkte dürfen nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 29. November 2017 – 3 M 271/17 – juris Rn. 18; OVG Münster, Beschluss vom 6. Februar 2014 – 9 B 79/14 – juris Rn. 12)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Nach diesen Maßstäben sind mit Blick auf die Forderungshöhe von x € die fiskalischen Interessen der Gemeinde A-Stadt zwar hinreichend gewichtig. Der Antragsgegner hat jedoch nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Verwirklichung des Kostenerstattungsbescheides nach rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens ernsthaft gefährdet erscheint. Anhaltspunkte sind dafür auch nicht ersichtlich. Der Hinweis des Antragsgegners in der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 18. Juli 2022, dass die Gemeinde A-Stadt keine Bank bzw. Kreditunternehmen sei, ist zwar richtig, jedoch ist die Vorfinanzierung die Konsequenz der vom Gesetzgeber im Fall von Kostenerstattungsansprüchen geregelten aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO und der Grund für die Erforderlichkeit eines besonderen öffentlichen Interesses zur Rechtfertigung einer sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 159 Satz 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Danach beträgt der Streitwert in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO und – wie hier – bei sonstigen auf bezifferte Geldleistungen gerichteten Verwaltungsakten ¼ des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwertes, hier also ¼ von x €.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
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<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Streitwert wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Antragstellerin,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin ein Konto zu eröffnen, unbefristet und zu den üblichen Konditionen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der nach § 123 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO sind dabei sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. der materielle Anspruch, für den die Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet wird, nach § 920 Abs. 2 i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Durch die Eröffnung eines Girokontos durch die Antragsgegnerin würde dem Begehren der Antragstellerin in der Hauptsache für die Zeit bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren vollumfänglich entsprochen, was zu einer grundsätzlich unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache führen würde (vgl. OVG Berlin-Bbg, Beschluss vom 7. Mai 2014 – OVG 3 S 25.14 – juris Rn. 2; Beschluss vom 28. Mai 2012 – OVG 3 S 42.12 – juris Rn. 4). Entscheidend für eine ausnahmsweise Vorwegnahme der Hauptsache ist das Gewicht des Anordnungsgrundes. Erforderlich ist demnach, dass das Abwarten in der Hauptsache für die Antragstellerin schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.Oktober 1977 – 2 BvR 42/76 – BVerfGE 46, 166/180 f.; BVerwG, Beschluss vom 21.Janauar 1999 – 11 VR 8.98 – NVwZ 1999, 650).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Vorliegend hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass ihr schwerwiegende Nachteile in diesem Sinne drohen. Mit dem Begriff Glaubhaftmachung ist ein bestimmtes Maß an Überzeugungsbildung des Gerichts hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen angesprochen (Kuhla in Posser/Wolff, Beck’scher Online-Kommentar VwGO, Stand: 1. Juli 2022, § 123 Rn. 59a).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin trägt lediglich vor, dass es für sie unangemessen wäre und sie in der politischen Arbeit behindern würde, wenn sie mit einer Kontoeröffnung bis zur nächsten Landtagswahl warten müsste. Sie müsse als eigenständiger Landesverband die Möglichkeit haben, Mitgliederbeiträge einzuziehen und auch Spenden entgegenzunehmen. Tägliche Geldgeschäfte könnten nur mit einem Girokonto geführt werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Hieraus ergibt sich jedoch keine Dringlichkeit der Entscheidung, da weder ersichtlich ist, wofür die Antragstellerin ein Girokonto genau jetzt benötigt, noch worin die unzumutbaren Nachteile zu sehen sein sollten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Als weiteres Indiz dafür, dass es an der Dringlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung fehlt, kann gewertet werden, dass weitere denkbare Alternativen zur begehrten Eröffnung eines Girokontos für die Antragstellerin bestehen könnten, um ihr kurzfristig die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr zu sichern. So ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass einer Partei unter Umständen zugemutet werden kann, sich für einen gewissen Zeitraum des Girokontos eines Mitglieds oder Unterstützers zu bedienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.Mai 2014 – 2 BvR 1006/14 – juris). Dabei ist unbeachtlich, dass eine solche Nutzung nur vorübergehender Natur sein kann. Schließlich handelt es sich vorliegend um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem die Antragstellerin ohnehin nur eine einstweilige Anordnung erlangen könnte, die sich auf den Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache erstrecken würde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Ebenfalls steht einem die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden Anordnungsgrund entgegen, dass die Antragstellerin nicht dargelegt hat, dass sie auch bei keinem anderen Geldinstitut ein Girokonto eröffnen kann (vgl. OVG Berlin-Bbg, Beschluss vom 13. Februar 2012 – OVG 3 S 140.11 –, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Ein Bedürfnis oder besondere berücksichtigenswerte Umstände des Einzelfalls (kurzzeitig bevorstehende Wahlen o.ä.), welche die Eröffnung eines eigenen Girokontos für die Antragstellerin dringlich machen, sind für die Kammer auch im Übrigen nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertentscheidung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Eine Halbierung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kommt nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts mangels gesetzlichem Anhalt nicht in Betracht (Beschluss vom 13. Januar 2020 – 4 O 2/20 –).</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,415 | vg-koln-2022-08-23-8-l-110222a | {
"id": 844,
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"city": 446,
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 8 L 1102/22.A | 2022-08-23T00:00:00 | 2022-09-03T10:01:31 | 2022-10-17T11:09:44 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0823.8L1102.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<table cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage vom 29. Juni 2022 gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juni 2022 anzuordnen und festzustellen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland unzulässig ist,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist unzulässig. Dem Antragsteller fehlt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Ein solches ergibt sich weder aus einer drohenden Vollziehung, noch aus einer etwaigen Möglichkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Weiteren: Bundesamt), die Aussetzung der Vollziehung aufzuheben oder zu ändern, noch aus etwaigen Nebenfolgen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Es droht in Folge der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 4 VwGO unter Ziffer 5 des Bescheids vorliegend keine Vollziehung.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich auch nicht aus einer etwaigen Möglichkeit des Bundesamts, die Aussetzung der Vollziehung entsprechend den Ausführungen in der Bescheidbegründung zu jener Ziffer 5 abzuändern oder aufzuheben. Damit, dass der Antragsteller für einen solchen Fall bereits zum jetzigen Zeitpunkt Rechtsschutz begehrt, zielt er auf die Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes ab. Insoweit bedarf es eines besonders qualifizierten Rechtsschutzbedürfnisses, welches hier nicht vorliegt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Für vorbeugenden Rechtsschutz ist kein Raum, wo der Betroffene in zumutbarer Weise auf als angemessen und ausreichend anzusehenden nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Anderes gilt, wenn ein besonderes qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis die Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 19 Abs. 4 GG erfordert, etwa weil der drohende Verwaltungsakt aus rechtlichen Gründen nicht aufgehoben werden könnte, weil sonst vollendete Tatsachen geschaffen würden, weil ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstünde oder wenn ein mit Strafe oder Bußgeld bewehrter Verwaltungsakt droht.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Januar 2008 – 8 A 154/06 –, juris, Rn. 56 - 58.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Weder ist etwas dafür ersichtlich, dass eine Aufhebung der Aussetzung durch das Bundesamt in solcher Weise bevorsteht, dass diese Nähe eine vorbeugende Überprüfung rechtfertigt, noch ist Eilrechtsschutz bereits jetzt erforderlich, weil, sollte künftig eine Aufhebung erfolgen, ein dann zu stellender Antrag unzulässig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Fristenregelung des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG, wonach Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsandrohung innerhalb einer Woche nach deren Bekanntgabe zu stellen sind, steht der Zulässigkeit eines nach Aufhebung der Aussetzung zu stellenden Antrags nicht entgegen. Entweder ist nach Aufhebung der Aussetzung ein (weiterer) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig, weil entweder der Ablauf der Frist nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG erst mit dem Vorliegen einer <span style="text-decoration:underline">vollziehbaren</span> Abschiebungsandrohung beginnt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">vgl. unter Bezugnahme auf die Parallelregelung zu § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG, § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG, welche nur bei vollziehbaren Abschiebungsanordnungen eine eigenständige Regelungswirkung entfalten kann: VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 26. Juni 2020 – A 10 K 1685/20 –, juris, Rn. 5; ggf. in diese Richtung BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 – 1 C 19.19 –, juris, Rn. 58;</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">oder andernfalls, also bei Annahme einer Fristauslösung auch durch eine nicht vollziehbare Abschiebungsandrohung, bzgl. der Frist aus § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG ggf. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müsste,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 30. Juli 2020 – A 9 K 779.20 –, juris, Rn. 6,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">oder ein anderer Rechtsbehelf, auf den § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG keine Anwendung findet, ist möglich: Wenn bereits ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt wurde und das Gericht über diesen entschieden hat, ist grundsätzlich Raum für einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">vgl. VG München, Beschluss vom 8. Juni 2020 – M 1 S 19.50520 –, juris, Rn. 10,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">im Übrigen sind im Falle einer Aufhebung der Aussetzung nach – unterstelltem – Fristablauf die Voraussetzungen erfüllt, um einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO zu stellen,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. Dezember 2020 – 8 L 2250/20.A –, juris, Rn. 21 ff.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Verweis des Antragstellers auf diese Verfahrensarten ist auch zumutbar. Zwar kommt Anträgen in den Verfahren nach § 80 Abs. 7 und § 123 Abs. 1 VwGO nicht die Wirkung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG zu, wonach die Abschiebung bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig ist. Allerdings besteht erforderlichenfalls zur Sicherung des Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit einer Zwischenentscheidung (auch als Hänge- oder Schiebebeschluss bezeichnet).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu Letzterem: OVG NRW, Beschluss vom 5. November 2008 – 8 B 1631/08 –, juris, Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Auch die noch nicht abgeschlossene dogmatische Verfestigung hinsichtlich der Ausgestaltung des Eilrechtsschutzes in der vorliegenden Konstellation führt nicht dazu, dass ein dahingehender Verweis als nicht mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar anzusehen wäre. Zwar besteht über die Ausgestaltung im Einzelnen Unsicherheit, gleichwohl ist nicht ersichtlich, dass Ansichten vertreten werden würden, welche die Unzulässigkeit eines bei Aufhebung der Aussetzung gestellten Antrages zur Folge hätten.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsandrohung ergibt sich vorliegend auch nicht aus etwaigen ausländerrechtlichen Nebenfolgen einer stattgebenden verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG, die nach dem dortigen Satz 2 nicht gelten, sofern ein Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsan<span style="text-decoration:underline">ordnung</span> angeordnet hat, liegt hier schon kein Fall vor, der von der genannten Norm erfasst werden würde. § 1a Abs. 7 Satz 2 AsylbLG knüpft an Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, vorliegend beruht die Entscheidung jedoch auf § 29 Abs. Abs. 1 Nr. 2 AsylG („Drittstaatenbescheid“).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Wenn man annimmt, dass dem Antragsteller keine Ausübung einer Beschäftigung zu erlauben wäre, wenn die Überstellung (nur) aufgrund einer behördlichen Aussetzung untersagt ist, so ist schon weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Antragsteller ein dahingehendes Interesse hat noch die übrigen Voraussetzungen für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorliegen (vgl. insbesondere § 61 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Osnabrück, Beschluss vom 12. Mai 2020 – 5 B 95/20 –, juris, Rn. 10; anderer Ansicht: VG Karlsruhe, Beschluss vom 30. Juli 2020 – A 9 K 779/20 –, juris, Rn. 7 ff.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Soweit dem Antrag, festzustellen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland unzulässig ist, eigenständiger Gehalt zukommen sollte, ist der Antrag auch insoweit unzulässig. Ungeachtet der Frage der Statthaftigkeit fehlt es aus den ausgeführten Gründen an einem Rechtsschutzbedürfnis.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.</p>
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346,414 | vg-dusseldorf-2022-08-23-15-k-55520 | {
"id": 842,
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"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 15 K 555/20 | 2022-08-23T00:00:00 | 2022-09-03T10:01:31 | 2022-10-17T11:09:43 | Urteil | ECLI:DE:VGD:2022:0823.15K555.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Die am 2. Januar 2020 veröffentlichte Allgemeinverfügung der Beklagten vom 22. August 2019 wird aufgehoben.</strong></p>
<p><strong>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist Pferdebesitzerin, Freizeitreiterin und im Gemeindegebiet der Beklagten wohnhaft.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 00. Dezember 2017 veröffentliche die Beklagte im Amtsblatt der Stadt ihre Allgemeinverfügung vom 27. November 2017. Danach war das "... Reiten im Wald (...) in den westlich der Bundesautobahn A 0 gelegenen Waldflächen nur auf den, nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung gekennzeichneten, Reitwegen erlaubt ...".</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die Stadt habe etwa 350.000 Einwohner mit einer hohen und weiter anwachsenden Bevölkerungsdichte im innerstädtischen Bereich. Der Waldanteil betrage 30 %, wobei sich die Waldfläche in inselartigen Kleinflächen über das gesamte Stadtgebiet verteile. In den öffentlichen Wäldern habe sie angesichts einer stetigen Zunahme von Erholungssuchenden und veränderten Erholungsaktivitäten eine umfangreiche Erholungsstruktur aufgebaut. Die in ministeriellem Auftrag erstellte Studie "Freizeit- und Erholung Nutzung urbaner Wälder unter Berücksichtigung von Konflikten unterschiedlicher Freizeitnutzung untereinander und mit Biotop- und Artenschutzaspekten" aus dem Jahr 2010 ("Projektbericht") komme zu dem Ergebnis, dass die innerstädtischen Freiflächen insbesondere an Wochenenden intensiv genutzt würden. Um Konflikte zu vermeiden und die Attraktivität zu erhöhen seien bereits vor 25 Jahren städtischerseits Maßnahmen wie etwa der Bau von Reit‑ und Radwegen und die Ausweisung von Hundeauslaufgebieten ergriffen worden, um die unterschiedliche Freizeitnutzungen zu steuern, zu kanalisieren bzw. anspruchsspezifisch zu trennen. Gleichwohl gebe es ausweislich der Studie sowie nach den täglichen Erfahrungen des kommunalen Ordnungsdienstes aufgrund der weiteren Diversifizierung der Freizeitaktivitäten und ihrer zunehmenden Intensität Konflikte mit und unter den Wegenutzern. Die durch die Allgemeinverfügung getroffene Reitwegeregelung unterstütze die bisherigen Bemühungen, die Freizeitnutzung zu kanalisieren und den Ausbaustandard der Sparzierwege zu erhalten. Das Sperren einzelner Waldbereiche hätte hingegen nicht nur eine vermehrte Beschilderung zur Folge, sondern würde auch die Orientierung der Erholungssuchenden und die Nachvollziehbarkeit der unterschiedlichen Regelungen beeinträchtigen. Die Differenzierung zwischen den stark besiedelten Bereichen mit erhöhter Freizeitnutzung westlich der Bundesautobahn A 0 und dem östlich von ihr gelegenen Bereich mit lockerer Bebauung und geringem Freizeitdruck sei demgegenüber für die Betroffenen handhabbar.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Bereits am 00. Dezember 2017 hatte der Umweltausschuss der Beklagten auf Antrag zweier Ratsfraktionen einstimmig beschlossen, die Reitwegeregelung vom 27. November 2017 solle abgeändert und so gefasst werden, dass die Reitwege im gesamten Stadtgebiet auf das nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung gekennzeichneten Reitwegenetz beschränkt blieben.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im September 2018 übersandte die Beklagte den Entwurf vom 17. August 2018 zur Änderung der Allgemeinverfügung vom 27. November 2017 nebst zugehöriger Begründung zur Stellungnahme dem Landesbetrieb X. und I. NRW (Landesbetrieb), der Forstbetriebsgemeinschaft X1. a.V. (Forstbetriebsgemeinschaft), dem Pferdesportverband S. e.V., dem Stadtverband X1. der Vereinigung der G. und –G1. in Deutschland e.V. sowie den Ortsbauernschaften X1. P. und X2. und zwei Ortsbauern. Ebenfalls zur Stellungnahme erhielten die Vorbezeichneten und der X3. NRW von der Beklagten unter dem 26. August 2019 auch den Entwurf zur Änderung der Reitwegeregelung in der Fassung vom 22. August 2019.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Während sich die pferdesportlichen Organisationen gegen das Vorhaben aussprachen, befürwortete es die G2. . Der Landesbetrieb äußerte in seiner Stellungnahme vom 12. September 2018 zwar Bedenken gegen eine undifferenzierte Ausweitung der Allgemeinverfügung auf das gesamte Stadtgebiet, stimmte der Neuregelung aber mit der Begründung zu, dass die beabsichtigte Einschränkung des Reitverkehrs keine Verschlechterung für die von ihm zu vertretenden Schutzgüter bedeute. Unter dem 16. September 2019 erklärte er sein Einvernehmen zu der Änderungsfassung vom 22. August 2019.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach Kenntnisnahme durch ihren Umweltausschuss veröffentlichte die Beklagte im städtischen Amtsblatt (Nr. 1/2020) am 2. Januar 2020 die Allgemeinverfügung vom 22. August 2019. Danach ist das "... Reiten im Wald (...) im gesamten Stadtgebiet auf den, nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung gekennzeichneten, Reitwegen erlaubt ...".</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">In der dem Umweltausschuss vorgelegten Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, das Gebiet ihrer bevölkerungsreichen Großstadt umfasse neben einem dicht besiedelten Innenbereich große Freiraumflächen mit einem Waldanteil von 30 %. Die Wälder stellten einen wichtigen Erholungsraum für die Bevölkerung dar. Bewaldet seien nicht nur ein Großteil der Erholungsräume im Innenstadtbereich. In den Ortsrandlagen des Stadtgebietes gebe es ‑ bis auf die im Norden landwirtschaftlichen genutzten Flächen ‑ fast ausnahmslos Wald, der gut erschlossen sei. Dort vorhandene Naherholungsziele erhöhten den Druck auf diese Gebiete. Dem "Projektbericht" sei zu entnehmen, dass die städtischen Freiflächen wochentags und insbesondere am Wochenende intensiv genutzt würden.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die sich durch extreme Steigungsverhältnisse auszeichnende Topographie des Stadtgebiets habe gravierende Auswirkungen auf die Art und das Ausmaß der Erholungsnutzung. Abgesehen davon, dass sie sich in den in Naturschutzgebieten gelegenen Waldflächen auf das bestehende Wegenetz beschränke, nutze ein Großteil der Erholungssuchenden aus dem Wegenetz lediglich die ausgebauten Waldwirtschaftswege, weil deren Streckenführung starke Steigungen möglichst vermeide.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die topographischen Besonderheiten der Stadtlandschaft seien auch ursächlich dafür, dass sich unter den in den Wäldern Erholung Suchenden ein überdurchschnittlich hoher Anteil von aus ganz Nordrhein-Westfalen anreisenden Mountainbikern finde. Dies führe zu besonderen Konflikten zwischen diesen und anderen Nutzergruppen. Bei Talfahrten mit stark erhöhter Geschwindigkeit ergäben sich immer wieder durch Mountainbiker verursachte gefährliche Situationen für andere Wegenutzer. Im Wald illegal angelegte Mountainbikestrecken endeten zudem oftmals unvermittelt auf den Hauptwegen, was für deren Nutzer ebenfalls eine erhebliche Unfallgefahr begründe. Die Konfliktlage und die hieraus resultierenden Beschwerden stellten eine behördlich kaum zu bewältigende Herausforderung dar, der mit der erfolgten Ausweisung einer legalisierten Downhill-Strecke nur teilweise habe begegnet werden können. Eine Freigabe der Waldwirtschaftswege für das Reiten im Wald würde nicht nur die ohnehin schon sehr ausgeprägte Gesamtfrequentierung des Hauptwegenetzes erhöhen, da unter den Erholungssuchenden die Gruppe Reiter ‑ bei z. B. im Jahr 2018 ausgegebenen etwa 1.200 Reitplaketten ‑ zahlenmäßig stark vertreten sei, sondern auch die bereits bestehende Konfliktlage zwischen Mountainbikern und anderen Erholungssuchenden verschärfen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der auf den Wäldern aufgrund ihrer Nähe zum Ballungsraum Ruhrgebiet und wegen ihrer besonders guten Erschließung lastende Erholungsdruck, der sich bedingt durch die Topographie auf wenige Hauptwege konzentriere, sowie die Intensität der Nutzung der Wälder durch Mountainbiker und Reiter erfüllten die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Reitregelung.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Allgemeinverfügung verfolge das Ziel, das Reiten im Wald für Reiter und andere Erholungssuchenden möglichst konfliktarm zu gestalten. Sie diene auch der Abwehr von Gefahren, die bereits jetzt durch ein erhöhtes Aufkommen von Mountainbikern bestehe und durch das Reiten auf den stark frequentierten Hauptwegen noch verstärkt werden würde. Angesichts des gut ausgebauten Reitwegenetzes habe sich die Beschränkung der Reiter auf dessen Nutzung bereits vor der Änderung der zugrunde liegenden gesetzlichen Bestimmungen bewährt. Die getroffene Regelung sei deshalb nicht nur geeignet, das gesetzte Ziel zu erreichen, sondern hierzu auch erforderlich.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Reitverbote in den Parkanlagen zu erlassen, wo die Erholungsnutzung gegenüber der Waldwirtschaft im Vordergrund stehe, sowie für einen Großteil der Hauptwege mit besonders starker Frequentierung durch Reiter oder andere Nutzergruppen und zudem in den Bereichen, in denen eine verstärkte Nutzung durch Mountainbiker bekannt oder aber in denen im Wegekörper Schlacke verbaut sei, die bei Staubentwicklung gesundheitsgefährdende Stoffe freisetze, verursache einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand. Dieser sei durch die der Verwaltung zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu leisten. Zudem ließen sich solche Reitverbote schlecht ausschildern und seien für die Erholungssuchenden in der Örtlichkeit nur schwer nachzuvollziehen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Angesichts der aus Gründen der Gefahrenabwehr damit andernfalls notwendigen Sperrung einzelner Wege sei die durch die Allgemeinverfügung getroffene Maßnahme auch angemessen, da der tatsächliche Zugewinn an Reitmöglichkeiten bei einem Verzicht auf die Reitregelung und gleichzeitiger Sperrung einer Vielzahl von Wegen vergleichsweise gering ausfalle. Zudem sei Leben und die körperliche Unversehrtheit der Erholungssuchenden höher zu gewichten, als das Interesse der Reiter an einem vergrößerten Reitwegenetz.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat 3. Februar 2020, einem Montag, Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Sie ist der Auffassung, die Reitregelung vom 22. August 2019 sei schon formell rechtswidrig, da sie nicht der Rat der Beklagten als das für eine solche Entscheidung nach dem Gemeinderecht zuständige Organ beschlossen habe.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch materiell-rechtlich sei die Allgemeinverfügung rechtsfehlerhaft.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Gemessen an den Vorgaben des BTE-Gutachtens "Problemlösungen zum derzeitigen Stand der Reitregelung in Nordrhein-Westfalen" vom November 2010 ("BTE-Gutachten") habe die Beklagte schon keinen Sachverhalt ermittelt, der im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen einen Erholungsdruck für die von der Allgemeinverfügung erfassten Waldflächen belege. Dies gelte erst recht in Anbetracht der Tatsache, dass die ursprüngliche Regelung vom 27. November 2017 das östlich der Bundesautobahn A 0 gelegene Stadtgebiet nicht eingeschlossen habe. Zudem seien in der Vergangenheit bereits Waldwirtschaftswege zum Reiten freigegeben worden, ohne dass dies zu Beeinträchtigungen oder Gefährdungen anderer Erholungssuchenden geführt habe. Solche Vorfälle seien auch ebenso wenig dokumentiert wie durch das Reiten verursachte Schäden an Wegeflächen. Der Verweis auf den "Projektbericht" und das "BTE-Gutachten" könne derartige Feststellungen nicht ersetzen. Projektbericht und Gutachten stammten jeweils aus dem Jahr 2010 und enthielten deshalb keine Aussagen zu den tatsächlichen Verhältnissen bei Erlass der Allgemeinverfügung, auf die hier maßgeblich abzustellen sei.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Schon mangels der erforderlichen, durch die Beklagte aber nicht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen sei die Allgemeinverfügung auch ermessensfehlerhaft. Die getroffene Regelung verkenne zudem, dass es dem Willen des Gesetzgebers widerspreche, eine Reitregelung flächendeckend für das Stadtgebiet zu erlassen, anstatt eine solche Maßnahme auf einzelne Flächen zu beschränken. Auch dürfe eine Reitregelung nicht ‑ wie die Allgemeinverfügung der Beklagten ‑ lediglich die Abwehr abstrakter oder solcher Gefahren bezwecken, die aus dem verbotswidrigen Verhalten anderer Nutzergruppen resultierten. Der Verweis auf den mit der Sperrung einzelner Wege verbundenen Verwaltungsaufwand trage die Allgemeinverfügung weder im rechtlichen Ansatz noch im Tatsächlichen, da andere Kreise und Kommunen differenzierte Reitregelungen erlassen hätten.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>die am 2. Januar 2020 veröffentlichte Allgemeinverfügung der Beklagten vom 22. August 2019 aufzuheben.</strong></p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Sie ist der Auffassung, die angegriffene Allgemeinverfügung sei rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Begründung der Reitregelung vertiefend und ergänzend macht sie im Wesentlichen geltend, diese begegne in formeller Hinsicht keinen rechtlich durchgreifenden Bedenken, da ihr Erlass ein Geschäft der laufenden Verwaltung sei und deshalb nicht in die Ratszuständigkeit falle. Im Übrigen begründe der Verstoß gegen organschaftliche Zuständigkeitsbestimmungen für sich genommen auch keine klagefähige Rechtsposition.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Materiell-rechtlich sei die Allgemeinverfügung ebenfalls rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Nutzungsdruck auf die Naherholungsgebiete im Stadtgebiet sei bei rechnerisch 21,5 Einwohnern und 0,7 Reitern je Hektar gegenüber den in dem "BTE-Gutachten" für den Kreis N. getroffenen Feststellungen in etwa doppelt so hoch zu veranschlagen. Ebenso wie der Kreis N. liege zudem auch das Stadtgebiet im Einzugsbereich der Großstädte des Ruhrgebiets. Die dem "Projektbericht" zu Grunde liegende Untersuchung von vier Wäldern im Stadtgebiet stütze diese Annahme und belege Konflikte zwischen den verschiedenen Nutzgruppen. Das Auftreten solcher Konflikte entspreche auch den Erfahrungen der behördlichen Mitarbeiter.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der unter Auswertung der vor Erlass der Allgemeinverfügung eingeholten Stellungnahmen damit hinreichend ermittelte Sachverhalt trage auch den Erlass der Reitwegeregelung. Der festgestellte Interessen‑ und Nutzungskonflikt zwischen den Reitern auf der einen Seite und anderen Erholungssuchenden sowie den Grundeigentümer auf der anderen Seite habe in Gesprächsrunden vor Erlass der Reitwegeregelung aus dem Jahr 2017 und der jetzt angegriffenen Allgemeinverfügung nicht aufgelöst werden können. Hinzu komme, dass die Frequentierung der städtischen Naherholungsgebiete in den letzten beiden Jahren erheblich zugenommen habe, was anhand der Spuren auf und außerhalb des Wegenetzes sowie der Meldungen von Bürgern , der Naturschutzwacht, sowie von Förstern und Jägern und der Beobachtungen eigener Mitarbeiter im Gelände festzustellen sei. Dies gelte auch für den Bereich östlich der Bundesautobahn A 0, weshalb dieser in die angegriffene Allgemeinverfügung einbezogen worden sei. Dass sich deren Geltung auf das gesamte Stadtgebiet erstrecke, sei auch nicht neu, sondern entspreche der Entscheidung des Stadtrates aus Anlass der im Jahr 2012 erfolgten Novellierung des Reitwegerechts.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Im Stadtgebiet finde sich westlich und östlich des Stadtteils S1. ein Reitwegenetz mit insgesamt 30,5 km Länge, das durch die in der Straßenverkehrsordnung bzw. den naturschutzrechtlichen Vorgaben vorgesehenen Schilder ("weiße Pferd auf blauem Grund" bzw. "weißes Hufeisen") hinreichend ausgeschildert und mangels gravierender Schäden auch durchweg benutzbar sei. Hinzu komme die Möglichkeit des Reitens in der freien Landschaft.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin sei es vom Zweck des Gesetzes gedeckt, mit der Reitwegeregelung neben der Abwehr von Gefahren auch andere Ziele zu verfolgen. In die getroffene Ermessensentscheidung zum Erlass der Reitwegeregelung sei deshalb auch etwa das Interesse anderer Nutzergruppen an einer ungestörten Wege Nutzung sowie das Interesse der Eigentümer an der Erhaltung der Wege gegeneinander abwägend unter Berücksichtigung der gleichberechtigten Interessen der Reiter einzustellen gewesen. Zur Schaffung geeigneter Reitmöglichkeiten sehe das Gesetz als ‑ auch kombinierbare ‑ Optionen die Freigabe von Wegen, die Beschränkung des Reitens auf ausgewiesene Wege, die Wegesperrung in Einzelfällen sowie die Ausweisung von Reitwegen vor. Im Rahmen der Abwägung sei es angesichts des hohen Anteils an Radfahrern und Mountainbikern an der Wegenutzung und der durch bedingten konkreten Gefahren legitim, das Reiten vorrangig auf ein bereits vorhandenes Reitwegenetz zu beschränken, da sich andere Nutzergruppen nicht in gleicher Weise auf ein exklusives Wegenetz verweisen ließen. Mithin sei die stadtweite Beschränkung des Reitens im Wald Teil einer abgewogenen Gesamtplanung, die den Interessen aller Nutzengruppen diene und mit den der Verwaltung zur Verfügung stehenden Mitteln auch erreicht und erhalten werden könne. Eine derartige Beschränkung, die nach einzelnen Wegen differenziere, bedeute einen unverhältnismäßig hohen, kaum zu leistenden Ermittlungs‑ und Planungsaufwand, da das hierfür erforderlichen Zahlenmaterial neu zusammengetragen werden müsste.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 7. Juli 2022 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Eine eben solche Erklärung hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 25. Juli 2022 abgegeben.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach‑ und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Über das Klagebegehren kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Rechtsschutzgesuch ist als Anfechtungsbegehren (§ 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO) zulässig. Insbesondere ist die Klägerin als im Stadtgebiet der Beklagten wohnende Freizeitreiterin klagebefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO, da sie geltend machen kann, durch die mit der angegriffenen Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2 VwVfG NRW) verfügte Beschränkung des Reitens im Wald auf bestimmte Wege in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit verletzt zu sein.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch begründet. Die Allgemeinverfügung der Beklagten vom 22. August 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dies steht nach Lage der Akten zur Überzeugung des Gerichts auch ohne die Notwendigkeit einer weiteren Sachverklärung fest.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Allgemeinverfügung der Beklagten findet keine Stütze in der als Ermächtigungsgrundlage allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 58 Abs. 4 S. 1 des Gesetzes zum Schutz der Natur in Nordrhein-Westfalen (Landesnaturschutzgesetz – LNatSchG NRW) in der zuletzt durch das Gesetz vom 1. Februar 2022 (GV. NRW. S. 139) geänderten Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juli 2000 (GV. NRW. S. 568). Danach können die Kreise und kreisfreien Städte in Waldflächen, die in besonderem Maße für Erholungszwecke genutzt werden, im Einvernehmen mit der Forstbehörde und nach Anhörung der betroffenen Gemeinden und Waldbesitzer und Reiterverbände durch Allgemeinverfügung das Reiten im Wald auf die nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung gekennzeichneten Reitwege beschränken.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die danach für den Erlass der angegriffenen Reitregelung maßgeblichen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen liegen nicht vor. Die Allgemeinverfügung haften ‑ unter anderem ‑ formelle Fehler an, die rechtlich nicht unbeachtlich sind und deshalb zugleich auch die materielle Rechtswidrigkeit der getroffenen Maßnahme begründen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Oberbürgermeister der Beklagten war nicht befugt, die Reitregelung selbst zu treffen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Juli 1994 (GV. NW. 1994 S. 666), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 13. April 2022 (GV. NRW. S. 490), ist der Rat der Gemeinde für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Abgesehen von den in § 41 Abs. 1 Satz 2 GO NRW enumerativ aufgezählten Fällen kann der Rat die Entscheidung über bestimmte Angelegenheiten auf Ausschüsse oder den Bürgermeister übertragen (§ 41 Abs. 2 Satz 1 GO NRW). Geschäfte der laufenden Verwaltung gelten im Namen des Rats als auf den Bürgermeister übertragen, soweit nicht der Rat sich, einer Bezirksvertretung oder einem Ausschuss für einen bestimmten Kreis von Geschäften oder für einen Einzelfall die Entscheidung vorbehält (§ 41 Abs. 3 GO NRW).</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Bei den „Geschäften der laufenden Verwaltung“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt. Nach gefestigter Rechtsprechung fallen die nach Regelmäßigkeit und Häufigkeit üblichen Geschäfte darunter, deren Erledigung nach feststehenden Grundsätzen „auf eingefahrenen Gleisen“ erfolgt und die für die Gemeinde unter Berücksichtigung ihrer Größe und Finanzkraft weder wirtschaftlich noch grundsätzlich von wesentlicher Bedeutung sind.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 2019, 11 A 2057/17, juris Rdnr. 42,.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Danach zählt zwar die Veröffentlichung der Entscheidung über den Erlass einer Reitregelung zu den Geschäften der laufenden Verwaltung, nicht aber die Entscheidung, ob ‑ und gegebenenfalls inwieweit ‑ von der Ermächtigung des § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW Gebrauch gemacht werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Hierzu tendierend, aber offen gelassen: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 11. August 2020, 6 K 857/18, juris Rdnr. 50 ff.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Diese fällt vielmehr in die Zuständigkeit des Rates der Stadt. Eine Reitregelung gilt es weder häufig noch regelmäßig zu treffen. Sie ist eine gemäß § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW in das Ermessen des Entscheidungsträgers gestellte Grundsatzentscheidung über die Reitbefugnis in den Waldgebieten der Stadt, die regelmäßig Geltung für unbestimmte Zeit beansprucht und für alle Nutzer des Waldes von Bedeutung ist. Damit aber besitzt sie offensichtlich nicht nur den das Geschäft der laufenden Verwaltung bezeichnenden Bagatellcharakter.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dass der angegriffenen Allgemeinverfügung kein Beschluss des Rates der Beklagten zugrunde liegt, ist auch kein bloßer Verstoß gegen verwaltungsinterne Zuständigkeitsbestimmungen, mit dem sich kein Klagerecht begründen lässt.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">So aber VG Aachen, Urteil vom 8. August 2019, 5 K 1692/18, juris Rdnr. 47.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Missachtung der Ratszuständigkeit ist kein formeller Fehler, der gemäß § 46 VwVfG. NRW. unbeachtlich ist. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Eben dies lässt sich angesichts des Ermessenscharakters der Entscheidung nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW nicht feststellen. Anhaltspunkte, die die Annahme auch nur nahe legen könnten, der Rat der Beklagten sei rechtlich verpflichtet gewesen, eine Reitregelung mit dem Inhalt der angegriffenen Allgemeinverfügung zu beschließen, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Das Fehlen des erforderlichen Ratsbeschlusses führt jedenfalls hier auch zur materiellen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Allgemeinverfügung.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Folgen eines fehlenden Ratsbeschlusses über ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften: OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 2019, 11 A 2057/17, juris Rdnr. 54.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Ihr haftet ein Ermessensfehler im Sinne des § 114 S. 1 VwGO an, da der Rat der Beklagten, der zur Ausübung des nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW eröffneten Ermessens berufen ist, mit Entscheidung über den Erlass der Reitregelung nicht befasst war und deshalb das ihm obliegende Ermessen auch nicht ausgeübt hat.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die angefochtene Allgemeinverfügung ist zudem in formeller Hinsicht auch deshalb zu beanstanden, weil ihrem Erlass kein gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 VwVfG. NRW. von Amts wegen ausreichend ermittelter Sachverhalt zu Grunde liegt. Dies hat ebenfalls deren materielle Rechtswidrigkeit zur Folge, weil die insoweit darlegungs‑ und beweispflichtige Beklagte sich nicht mit Erfolg auf einen verifizierbaren Sachverhalt berufen kann, der geeignet ist, die getroffene Reitregelung zu rechtfertigen. Dies gilt sowohl für die von ihr vertretene Rechtsauffassung, sämtliche Wälder in ihrem Stadtgebiet würden im Sinne des § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW in besonderem Maße für Erholungszwecke genutzt, als auch für die Gründe, die aus Sicht der Beklagten den Erlass einer Reitwegeregelung in der durch die erlassene Allgemeinverfügung ausgestalteten Form erforderlich gemacht haben.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Ob eine Waldfläche § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW in besonderem Maße für Erholungszwecke genutzt werden, ist im Wege der Subsumtion in Frage kommender Sachverhalte unter die unbestimmten ‑ und damit vollständig der gerichtlichen Kontrolle unterliegenden ‑ Rechtsbegriffe "Waldfläche", "Erholungszweck" und "Nutzung in besonderem Maß" zu ermitteln. Da eine in Gestalt einer Allgemeinverfügung erlassene Reitwegeregelung angesichts der mit ihr verfügten beständigen Beschränkung des Reitens im Wald auf bestimmte Wege rechtlich als Dauerverwaltungsakt zu qualifizieren ist, ist für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit auf die Sach‑ und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ‑ bzw. hier der gerichtlichen Entscheidung über das Klagebegehren ‑ abzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der von der Beklagten aktenkundig gemachte Sachverhalt rechtfertigt die der angefochtenen Allgemeinverfügung zu Grunde liegende Annahme indes nicht, dass sämtliche Waldflächen im Stadtgebiet in gleicher Weise einem Erholungsdruck ausgesetzt sind, den der Erlass einer Reitregelung nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW voraussetzt. Offen bleiben kann, ob ‑ und gegebenenfalls hinsichtlich welcher Waldflächen ‑ die Ergebnisse des "Projektberichts" und / oder des "BTE-Gutachtens", die die Beklagte zur Begründung ihrer gegenteiligen Rechtsauffassung in Bezug genommen hat, auf Sachverhaltsfeststellungen beruhen, die Auskunft über die Erholungsnutzung einzelner Waldflächen ihres Stadtgebiets und deren Intensität enthalten. Solche Sachverhaltsfeststellungen können die hier in Rede stehende Reitregelung schon deshalb nicht tragen, weil sie angesichts ihres Alters keine hinreichend verlässliche Auskunft über die für den Erlass der Allgemeinverfügung vom 22. August 2019 maßgebliche Nutzung der Waldflächen geben können.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Sowohl der "Projektbericht" wie auch das "BTE-Gutachten" stammen aus dem Jahr 2010 und können deshalb auch nur bis dahin getroffene tatsächlichen Feststellungen auswerten. Auf der Grundlage dieser Sachverhaltsfeststellungen, die bei Erlass der Allgemeinverfügung mindestens 9 Jahre waren und bezogen auf den hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mehr als 11 Jahre alt sind, lassen sich indes keine belastbaren Aussagen über den derzeit auf den Waldflächen des Stadtgebietes lastenden Erholungsdruck treffen. Hierzu hätte es vielmehr zumindest auch aktualisierender Erhebungen durch die Beklagte bedurft.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Gegenteiliges ist weder dem "Projektbericht" noch dem "BTE-Gutachten" zu entnehmen. So benennt etwa das BTE-Gutachten auf Seite 117 als Informationsquellen statistisches Datenmaterial zur Einwohnerdichte, bei den Reiterverbänden vorgehaltene Daten sowie Besucherzählungen und die Zählung von Reitern im Gelände, um die ‑ neben anderem ‑ zur Bestimmung von "Gebieten mit besonderen Vorgaben für das Reiten" in Betracht kommenden Kriterien "starker Erholungsdruck" und "Reitaufkommen" auszufüllen. Da das so zu gewinnende Datenmaterial naturgemäß ständigen Veränderungen unterworfen ist, lässt sich kein allgemeiner Erfahrungssatz aufstellen, demzufolge sich die Erholungsnutzung der Waldflächen im Stadtgebiet der Beklagten nach Art und Ausmaß mit Blick auf die einzelnen Nutzergruppen und / oder in der Gesamtschau seit dem Jahr 2010 nicht verändert oder gar in rechtserheblichem Umfang zugenommen hat. Damit fehlt es aber der auf den "Projektbericht" und das "BTE-Gutachten" Annahme der Beklagten, der auf den Wäldern im Stadtgebiet lastende Erholungsdruck erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Reitregelung, weil die Wälder in der Nähe zum Ballungsraum Ruhrgebiet gelegen und die dortigen Wege besonders gut erschlossen seien, sich deren Nutzung bedingt durch die Topographie auf wenige Hauptwege konzentriere und Mountainbiker und Reiter die Waldflächen und ‑ wege intensiv nutzten, an der notwendigen Tatsachengrundlage.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Dies gilt insbesondere, soweit die Beklagte zur Rechtfertigung ihrer Allgemeinverfügung auf eine stark zugenommene Nutzung von Waldwegen und Waldflächen jenseits ausgewiesener Wege durch die Mountainbiker verweist. Die Einschätzung der Beklagten mag in der Sache zutreffen, auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht auch diese nicht. Die zu ihrem Beleg im Wesentlichen angeführten Beobachtungen eigener Mitarbeiter oder der Bediensteten von Forst‑ und Naturschutzbehörden bzw. Waldbesitzern beruht auf deren subjektiver Wahrnehmung, die nach Lage der Akten nicht hinreichend objektiviert ist. In dem Ende Dezember 2020 von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang (Beiakte Heft 5) finden sich etwa 20 Dokumente, die sich thematisch der Nutzung des Waldes durch Mountainbiker zuordnen lassen. Von diesen Dokumenten, die sich inhaltlich weit überwiegend mit der Nutzung des Waldes durch Mountainbiker jenseits von Wegeflächen befassen und verschiedene städtische Waldgebiete betreffen, datieren 10 aus dem Jahr 2020, 3 aus dem Jahr 2019, 5 aus dem Jahr 2018 und je eines aus den Jahren 2017 und 2016. Bei einer Fläche des Stadtgebiets von insgesamt gut 168 km²,</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">vgl. <span style="text-decoration:underline">https://www.X1</span>. .de/wirtschaft-stadtentwicklung/daten_fakten/index.php (letzter Aufruf 18. August 2022),</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">die nach der der Allgemeinverfügung beigefügten Begründung zu etwa 30 % ‑ und damit auf ca. 50 km² ‑ mit Wald bestockt ist, lässt sich aus den vorgelegten Dokumenten angesichts der Tatsache, dass die zu Grunde liegenden Sachverhalte nicht nur ein bestimmtes Waldgebiet betreffen und sich auf einen Zeitraum von 5 Jahren verteilen, allenfalls schlussfolgern, dass einzelne Mountainbiker in den vergangenen Jahren wiederholt an vereinzelten Stellen des Stadtgebiets für ihre Freizeitaktivitäten Waldflächen illegal nutzen. Einen Erholungsdruck, der im Sinne des § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW auf einer bestimmten Waldfläche oder gar den Waldflächen stadtweit in besonderer Weise lastet, belegt das illegale Verhalten einzelner Mitglieder einer bestimmten Nutzergruppe des Waldes für sich genommen nicht. Nicht klärungsbedürftig ist damit, ob und inwieweit die im Jahr 2020 im Vergleich zu den Vorjahren dokumentierte Zunahme der Verstöße nicht (auch) eine Ursache in den pandemiebedingten Einschränkungen Möglichkeiten gehabt hat, Freizeit zu gestalten.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Ein gemäß § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW auf den Waldflächen des Stadtgebiets der Beklagten lastender Erholungsdruck ergibt sich auch nicht mit Blick auf die Nutzung der Wälder durch Reiter, Radfahrer oder Wanderer. Während es zur Nutzung der Waldflächen durch Radfahrer oder Wanderer vollständig an tatsächlichen Feststellungen fehlt, die vorgetragen und / oder in den Verwaltungsvorgängen dokumentiert sind, ergibt sich aus den Fakten, die zu den Nutzergruppen, der Flächengröße der Stadt, der Zahl ihrer Einwohner und der Zahl der Reitpferde festgehalten sind, ebenfalls kein rechtserheblicher Erholungsdruck. Die Zahl der Einwohner der Stadt bzw. der durch die Erteilung einer Reitplakette erfassten Pferde im Stadtgebiet jeweils ins Verhältnis gesetzt zur Größe der vorhandenen Waldfläche mag insoweit indiziell bedeutsam sein, lässt für sich genommen aber keinen Rückschluss auf das Nutzungsverhalten der Einwohner bzw. Reiter und damit auf deren (potentielle) Inanspruchnahme des Wegenetzes im gesamten Waldgebiet der Stadt zu.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen musste sich der Beklagten die Notwendigkeit einer weiteren Sachverhaltsermittlung jedenfalls in Bezug auf den Erholungsdruck aufdrängen, der auf den östlich der Bundesautobahn A 0 gelegenen Waldflächen lastet. Schon weil sie diesen Bereich der Stadt unter Hinweis auf den dort geringen Freizeitdruck nicht in den Anwendungsbereich der Reitregelung vom 27. November 2017 aufgenommen hatte, bedurfte gerade die Ausweitung der Beschränkung der Reitbefugnis auf diesen Teil der Stadt einer expliziten, auf aktuellen Erkenntnissen beruhenden Rechtfertigung. Eine solche stellt das von Ratsfraktionen an die Verwaltung der Beklagten herangetragene Ansinnen, die von der Allgemeinverfügung vom 27. November 2017 nicht erfassten Waldflächen im Wege ihrer Änderung in den Geltungsbereich einer Bestimmung nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW aufzunehmen, offensichtlich nicht dar. Dass diesem Ansinnen ein rechtlich tragfähiger Grund im Sinne der Ermächtigungsnorm zu Grunde lag, war und ist ebenso wenig offensichtlich. Dies folgt schon aus dem Umstand, dass der Landesbetrieb in seiner Stellungnahme vom 12. September 2018 zu dem Änderungsvorhaben Bedenken gegen eine undifferenzierte Ausweitung der Allgemeinverfügung auf das gesamte Stadtgebiet geäußert hat. Dieser ‑ die Beklagte rechtlich nicht bindende ‑ Einwand einer sachverständigen Stelle hätte Anlass sein müssen, den Grund für die Bedenken zu eruieren, um ihn durch eigene (weitere) Sachverhaltsermittlungen gegebenenfalls auszuräumen. Eben dies ist nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Dass die Forderung nach einem Aufklärungsbedarf, der über die von ihr angestellten Sachverhaltsermittlungen hinausgeht, aus Sicht der Beklagten nur mit einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand zu erfüllen ist, entbindet sie nicht von der Pflicht, das Vorliegen der nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG erforderlichen Eingriffsvoraussetzungen zu ermitteln und verifizierbar darzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Der Einwand verkennt die aus dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG folgende Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht. Danach trifft die Beklagte de lege lata die Darlegungs‑ und Beweislast für das Vorliegen der durch den Gesetzgeber normierten Voraussetzungen, unter denen sie von seiner in § 58 Abs. 2 S. 1 LNatSchG NRW kodifizierten Grundsatzentscheidung, nach der das Reiten im Wald über den Gemeingebrauch an öffentlichen Verkehrsflächen hinaus zum Zwecke der Erholung auf privaten Straßen und Fahrwegen sowie auf den nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung gekennzeichneten Reitwegen auf eigene Gefahr gestattet ist, ausnahmsweise abweichen und ihrerseits durch eine Beschränkung der Reitbefugnis in das Recht der allgemeinen Handlungsfreit (Art. 2 Abs. 1 GG) der Adressaten der Allgemeinverfügung eingreifen darf.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Umfang der behördlichen Aufklärungspflicht auch: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 8. Februar 2019, 6 L 1503/18, juris Rdnr. 27.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Sollten sich behördlicherseits die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Einschreiten nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW regelmäßig wegen eines nicht leistbaren Verwaltungsaufwandes nicht hinreichend verlässlich feststellen lassen, kann dem lediglich durch eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen Rechnung getragen werden.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist die Berufung der Beklagten auf einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand auch in der Sache jedenfalls nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Abgesehen davon, dass der Ermittlungsaufwand von der Zahl und Größe der Flächen abhängt, für die der Erlass einer Reitregelung nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW in Betracht gezogen wird, lässt sich der durch das Gebot der Sachverhaltsermittlung erforderliche Verwaltungsaufwand jedenfalls teilweilweise durch den Rückgriff auf den Erkenntnisstand anderer Behörden mindern. So ist der Kammer aus anderen Verfahren, die die Rechtmäßigkeit von Reitregelungen betrafen, bekannt, dass sich Kommunen und Kreise zwecks Bestimmung des Maßes an Erholungsnutzung von Waldflächen etwa einer von der Forstverwaltung erstellten "Waldfunktionskarte" bedienen (können),</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu auch VG Gelsenkirchen vom 11. August 2020, 6 K 857/18, juris Rdnr. 81,</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">deren Feststellungen als Grundlage für die Identifizierung möglicherweise von § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW erfasster Waldgebiete und hieran gegebenenfalls anzuknüpfender weiterer Sachverhaltsermittlungen in Betracht kommen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist die gemäß § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW getroffene Ermessensentscheidung auch rechtsfehlerhaft (§ 114 S. 1 VwGO), soweit sie dazu dienen soll, den Gefahren zu begegnen, die sich aus der illegalen Nutzung von Waldflächen und Waldwegen durch Mountainbiker ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Da die Ermächtigungsgrundlage selbst den Zweck eines Einschreitens nicht einschränkt, ist die sich aus § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW ergebende behördliche Befugnis zum Einschreiten als Korrektiv zu der das Reiten im Wald unter den dort genannten Voraussetzungen allgemein erlaubenden Regelung des § 58 Abs. 2 S. 1 LNatSchG NRW zu verstehen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. Beschluss der Kammer vom 20. Juni 2018, 15 L 1007/18, juris Rdnr. 30.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Der Erlass einer Allgemeinverfügung nach § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW ist deshalb kein planerisches Instrument zum Ausgleich der verschiedenen Interessen, die sich aus der unterschiedlichen Art und Weise der Nutzung von Wegeflächen in Waldgebieten durch Erholungssuchende ergeben. Sie ist vielmehr Teil des durch den Gesetzgeber diesbezüglich selbst verwirklichten Gesamtkonzepts. Die durch § 58 LNatSchG NRW getroffene Reitregelung ist nämlich nach der Gesetzesbegründung das</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">"... Ergebnis einer umfassenden Abwägung der Rechte und Interessen der Grundeigentümer und Nutzungsberechtigten, der Belange der Erholungssuchenden, der Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie der Rechte und Interessen der Reiter gegeneinander und untereinander. In die Abwägung wurde auch die Frage nach Kontrolle und Vollzug der Vorschriften einbezogen. Das Ergebnis ist eine räumlich-differenzierte Regelung, die den Reitern unter Berücksichtigung des in Nordrhein-Westfalen unterschiedlich hohen Erholungsaufkommens grundsätzlich erweiterte Reitmöglichkeiten als bisher einräumt und zugleich den Kreisen und kreisfreien Städten als unteren Naturschutzbehörden und Kreisordnungsbehörden die Möglichkeit zur Lenkung des Reitverkehrs und zur Festlegung von Reitverboten im Einzelfall gibt und außerdem dem Grundeigentümer ein Recht auf Sperrung im Einzelfall einräumt ...".</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Gesetzentwurf der Landeregierung, LT-Drs. 16/11154, S. 170.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Damit ermächtigt die Regelung des § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW entgegen der Annahme, die die Beklagte ihrer Begründung für den Erlass der ersten Reitwegeregelung vom 27. November 2017 unter anderem zu Grunde gelegt hat, auch nicht dazu, durch eine Allgemeinverfügung die Freizeitnutzung allgemein zu kanalisieren oder den Ausbaustandard der Sparzierwege zu erhalten. Wegen ihres Ausnahmecharakters einer auf § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW gestützten Allgemeinverfügung, der sich aus der Gesetzesbegründung und der Systematik der Regelungen in Absatz 2 und Absatz 4 des § 58 LNatSchG NRW ergibt, bedarf ihr Erlass vielmehr einer Rechtfertigung, die auf den Einzelfall bezogen ihren Anlass in der vom Gesetzgeber als Regelfall gewollten gleichberechtigten Nutzung der Waldwege durch Erholungssuchende findet. Darunter fallen jedenfalls solche Gefahren nicht, die aus der illegalen Nutzung des Waldes und seiner Wege ‑ etwa durch Mountainbiker ‑ resultieren (können). Derartigen Gefahren kann ‑ und muss gegebenenfalls ‑ durch den Einsatz sonstiger (sonder‑)ordnungsrechtlich verfügbarer Mittel begegnet werden. Dabei wird nicht außer Acht bleiben dürfen, wer die abzuwehrenden Gefahren verursacht.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Da § 58 LNatSchG NRW die Vorstellung des Gesetzgebers zu Grunde liegt, dass im Begegnungsverkehr zwischen Reitern und anderen Erholungssuchenden in der Regel keine Konflikte zu erwarten sind, dient die in § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW enthaltene Ermächtigung zum Erlass von Reitwegeregelungen aber jedenfalls dem Zweck, aus Anlass von Konflikten, die entgegen der Regelannahme des § 58 Abs. 2 S. 1 LNatSchG NRW zwischen Reitern und anderen Erholungssuchenden im Einzelfall tatsächlich auftreten, den durch sie verursachten konkreten Gefahren für schützenswerte Rechtsgüter begegnen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. Beschluss der Kammer vom 20. Juni 2018, 15 L 1007/18, juris Rdnr. 32.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Solche Konfliktsituationen von rechtserheblicher Bedeutung sind indes weder durch die Beklagte für sämtliche ‑ oder auch nur einzelne ‑ Waldflächen des Stadtgebietes vorgetragen noch sonst ersichtlich. In den beigezogenen Verwaltungsvorgängen finden sich nur ganz vereinzelt Hinweise auf Beschwerden, die die Nutzung von Wegeflächen zu Reitzwecken betreffen. Keine der ‑ wenn überhaupt vor Ort nur verbal geführten ‑ Streitigkeiten zwischen Eigentümern bzw. anderen Nutzern von Wegeflächen und Reitern über die Frage, ob ein bestimmter Weg zu Reitzwecken genutzt werden darf, hat indes zu einer Verletzung oder auch nur einer Gefährdung für die von der Beklagten als zu schützend benannten Individualrechtsgüter Leben und Gesundheit geführt. Lediglich vorsorglich ist zudem festzustellen, dass den Verwaltungsvorgängen der Beklagten nicht entnommen werden kann, dass die (illegale) Nutzung von Waldflächen oder Waldwegen durch Mountainbiker Ursache für Konflikte zwischen Mountainbikern und Reitern gewesen ist.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Offen bleiben kann hier schließlich, ob eine Reitwegeregelung nach dem Sinn und Zweck des § 58 Abs. 4 S. 1 LNatSchG NRW zur Abwehr solcher Gefahren erlassen werden darf, die für andere Erholungssuchende dadurch entstehen (können) sollen, dass sie Staub einatmen, der durch das Reiten aufgewirbelt wird und gesundheitsgefährdende Stoffe enthält. Als Ermessenserwägung trägt diese Überlegung die angegriffene Allgemeinverfügung schon deshalb nicht, weil die Schlacke als das nach den Angaben der Beklagten Staub verursachende Material nach Aktenlage nicht in allen von der Reitregelung erfassten Wegeflächen verbaut ist und die Beklagte die Staubentwicklung beim Reiten sowie die von dem Staub ausgehenden Gesundheitsgefahren zwar behauptet, aber nicht belegt hat.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</strong></p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
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346,329 | ovgnrw-2022-08-23-9-a-91522 | {
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} | 9 A 915/22 | 2022-08-23T00:00:00 | 2022-08-27T10:01:29 | 2022-10-17T11:09:32 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0823.9A915.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 50.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">1. Aus den im Zulassungsverfahren dargelegten Gründen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">a. Die Klägerin meint, das Verwaltungsgericht habe die Frage, auf welche Ermächtigungsgrundlage die Bezirksregierung ihre Anordnung stützen durfte, nicht offen lassen dürfen. Gegenstand des Rechtsstreits sei der Teilwiderruf einer Herstellungserlaubnis. Dieser hätte allein auf die Ermächtigung in § 18 AMG gestützt werden dürfen, weil diese Vorschrift lex specialis zu § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG sei. Daraus ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Klägerin hat das Verwaltungsgericht die Frage nach der Ermächtigungsgrundlage für die im Streit stehende Anordnung der Bezirksregierung vom 20. März 2020 nicht offen gelassen. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils findet sich zwar die Formulierung, es bedürfe keiner abschließenden Entscheidung der Frage, ob die Anordnung ihre Rechtsgrundlage in § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG oder vorrangig in §§ 18 Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr. 6a AMG finde. Gleichwohl lässt sich den weiteren Ausführungen des Verwaltungsgerichts zweifelsfrei entnehmen, dass es § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG als einschlägige Rechtsgrundlage angesehen hat. Das räumt auch die Klägerin in ihrem weiteren Zulassungsvorbringen selbst ein, indem sie rügt, das Verwaltungsgericht habe, wie auch die Bezirksregierung, anstatt die Voraussetzungen eines Widerrufs zu prüfen, § 69 AMG bemüht, was einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalte.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Annahme des Verwaltungsgerichts, Rechtsgrundlage der streitigen Anordnung sei § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG, wird durch die Zulassungsbegründung nicht schlüssig in Frage gestellt. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, Gegenstand der Anordnung sei die Einschränkung der Herstellungserlaubnis aus dem Jahr 2014, und zwar in Bezug auf die bislang erlaubte Herstellung von Wirkstoffen aus Organextrakten vom Rind in Bezug auf Ausgangsmaterialien der Kategorie IA (Gewebe des zentralen Nervensystems und mit dem zentralen Nervensystem anatomisch in Verbindung stehendes Gewebe) gemäß Ph.Eur. 5.2.8. Ob insoweit die Voraussetzungen des § 18 AMG i. V. m. § 14 Abs. 1 Nr. 6a AMG vorlägen und die Vorschrift auch zu einer teilweisen Rücknahme gegenüber dem Wirkstoffhersteller berechtige, sei fraglich. Das müsse jedoch nicht geklärt werden, weil § 18 AMG schon im öffentlichen Interesse der Arzneimittelsicherheit kein abschließender Charakter in dem Sinne zuzumessen sei, dass Eingriffe in bestehende Herstellungserlaubnisse nur bei Vorliegen der speziellen Versagungsgründe des § 14 Abs. 1 AMG zulässig wären. Zu diesen Erwägungen, insbesondere dazu, ob § 18 AMG überhaupt für eine Teilaufhebung einschlägig wäre, ob die Voraussetzungen des § 18 AMG i. V. m. § 14 Abs. 1 Nr. 6a AMG im Streitfall vorlägen und wie verneinendenfalls dem Gebot der Arzneimittelsicherheit Rechnung getragen werden soll, wenn (nur) die Herstellung eines bestimmten Produkts dem geltenden Recht nicht mehr entspricht, verhält sich die Zulassungsbegründung nicht. Vielmehr wird lediglich pauschal behauptet, dass nach dem Prinzip „lex specialis derogat lex generalis“ die Generalklausel des § 69 AMG nicht anwendbar sei. Das genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">b. Die Klägerin meint weiter, sie verstoße nicht gegen das Europäische Arzneibuch (Ph.Eur.), namentlich nicht gegen die Regelungen in Ph.Eur. 5.2.8 („Minimierung des Risikos der Übertragung von Erregern der spongiformen Enzephalopathie tierischen Ursprungs durch Human- und Tierarzneimittel“). Sie habe ihre Pflicht zur Herstellung sicherer Wirkstoffe zweifellos erfüllt. Eine Nutzenbewertung sei von ihr nicht zu vorzunehmen. Auch aus diesem Vorbringen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Einwand der Klägerin, die von ihr hergestellten Wirkstoffe seien sicher, stellt das Urteil nicht schlüssig in Frage. Die Klägerin verweist insoweit auf die Ergebnisse einer Validierungsstudie zur Abreicherung und Inaktivierung von TSE/BSE während der Herstellung, die Erfüllung des 20-Punkte-Schemas des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, die Beschaffung der Ausgangsmaterialien aus Neuseeland und das geringe Alter der Spendertiere. Auf eine fehlende oder unzureichende Risikobeurteilung (vgl. Ph.Eur. 5.2.8 Abschnitt 4 i. V. m. Abschnitt 3.1) hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidung jedoch nicht gestützt. Es hat vielmehr angenommen, dass es an der ‑ zusätzlich zu einer Risikobeurteilung erforderlichen ‑ Vorlage einer Nutzen-Risiko-Analyse (vgl. Ph.Eur. 5.2.8 Abschnitt 5) durch die Klägerin fehle.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dagegen wendet die Klägerin lediglich ein, die Nutzenbewertung obliege nicht ihr als Wirkstoffherstellerin, sondern dem therapierenden und ein Rezepturarzneimittel verschreibenden Arzt. Mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu dem Erfordernis der Vorlage einer Nutzen-Risiko-Analyse durch die Klägerin selbst setzt sie sich jedoch nicht in einer den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise auseinander.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Regel Ph.Eur. 5.2.8 statuiere ein grundsätzliches Verbot der Verwendung hochinfektiöser Gewebe (Gewebe der Kategorie IA). Sie erlaube eine Ausnahme nur, wenn die Verwendung von Materialien der höchsten Gefährdungskategorie gerechtfertigt werden könne, was eine Risikobeurteilung und eine positive Nutzen-Risiko-Analyse erfordere. Dabei gelte das Verbot der Verwendung von Gewebe der Kategorie IA für alle Herstellungsebenen. Diese Gewebe dürften nicht nur bei der Herstellung von (Fertig-)Arzneimitteln nicht verwendet werden, sondern auch nicht bei der Herstellung von Ausgangsstoffen einschließlich der Wirkstoffe. Das Erfordernis eines derart umfassenden Verbots werde gerade im vorliegenden Fall sinnfällig, in dem es kein Zulassungsverfahren mit einer Prüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses durch das BfArM gebe, und eine qualifizierte Nutzen-Risiko-Abwägung vom Apotheker oder vom behandelnden Arzt kaum getroffen werden könne.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Zu dieser Erwägung, dass die Ph.Eur. 5.2.8 auch (bereits) für den Wirkstoffhersteller gilt (vgl. auch Ph.Eur. 5.2.8 Abschnitt 2, wonach auch die Herstellung von Wirkstoffen Gegenstand der Ph.Eur. 5.2.8 ist), verhält sich die Zulassungsbegründung nicht. Anhaltspunkte dafür, dass die Ph.Eur. 5.2.8 Wirkstoffhersteller von dem Erfordernis der Vorlage einer positiven Nutzen-Risiko-Analyse generell oder in bestimmten Fällen befreit und die Nutzen-Risiko-Bewertung in diesen Fällen allein dem behandelnden Arzt ‑ ohne Vorlage einer Nutzen-Risiko-Analyse ‑ überlässt, zeigt die Klägerin ebenfalls nicht auf.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand der Klägerin, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei eine gute Nutzen-Risiko-Abwägung durch die behandelnden Ärzte möglich und es sei nicht erkennbar, warum Arzt und Apotheker nicht in der Lage sein sollten, diese Nutzenbewertung vorzunehmen, ist danach unerheblich. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass der Nutzen der von der Klägerin hergestellten Wirkstoffe aus Materialien der Kategorie IA nicht belegt sei. Die vorgelegten Unterlagen litten schon im Ausgangspunkt daran, dass ein klar umrissener Nutzen der Wirkstoffe nicht beschrieben werde. Dies führe zur Unmöglichkeit einer Nutzen-Risiko-Abwägung. Ähnliches hat auch die Bezirksregierung im Klageverfahren und erneut im vorliegenden Zulassungsverfahren angeführt: Die Durchführbarkeit einer Nutzen-Risiko-Analyse sei bereits aufgrund offenbar fehlender validierter analytischer Methoden für einen Identitäts- und Wirksamkeitsnachweis fraglich. Für eine Nutzenbewertung sei die eindeutige Charakterisierung der Wirkstoffe durch Identifizierung der gewebetypischen RNA-Fragmente und ihrer noch vorhandenen wirksamen Eigenschaften nach den durchgeführten Maßnahmen zur Risikominimierung erforderlich. Die Klägerin arbeite nach den von ihr vorgelegten Maßnahmenplänen seit Jahren an der Entwicklung entsprechender analytischer Methoden, die bisher jedoch zu keinen validen Ergebnissen geführt hätten. Ohne analytische Differenzierung der wirksamen Komponenten könne der Nutzen jedoch nicht belegt werden, und zwar weder durch die Klägerin selbst noch durch den den Wirkstoff anwendenden Arzt (vgl. etwa S. 14 f. der Stellungnahme der Bezirksregierung L. vom 7. Dezember 2021). Dem ist die Klägerin nicht entgegengetreten.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">c. Ohne Erfolg wendet die Klägerin schließlich ein, die Monographie Ph.Eur. 5.2.8 entspreche nicht dem aktuellen Stand des Wissens, da inzwischen die Ergebnisse einer Studie vorlägen, mit der nachgewiesen werde, dass Gewebe von Tieren im Alter von bis zu sechs Monaten kein BSE-Risiko hätten. Unabhängig davon, dass dieser Vortrag erst nach Ablauf der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erfolgt ist, greift er schon deshalb nicht durch, weil, wie ausgeführt, das Verwaltungsgericht nicht auf eine etwaige unzureichende „Sicherheit“ der Wirkstoffe bzw. auf eine unzureichende Risikobeurteilung abgestellt hat. Entscheidungserheblich war vielmehr das Fehlen einer Nutzen-Risiko-Analyse und eines Belegs für den Nutzen der aus Materialien der Kategorie IA hergestellten Wirkstoffe.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Der Begriff der besonderen Schwierigkeiten im Sinne dieser Norm ist funktionsbezogen dahin auszulegen, dass besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten dann vorliegen, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern. Solche begründeten Zweifel hat die Klägerin, wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, nicht dargelegt. Das gilt namentlich auch, soweit die Klägerin meint, Schwierigkeiten bestünden vor allem im Hinblick auf „die Anforderung an die sichere Herstellung der Wirkstoffe und die insoweit geforderten Maßnahmen zur Gewährleistung der Reinheit und den Ausschluss des Risikos, eine TSE-Erkrankung zu übertragen“, weil dies „die Bewertung komplexer pharmazeutischer Regelwerke wie des Europäischen Arzneibuchs“ erfordere. Wie ausgeführt, waren Fragen nach der „sicheren Herstellung“ und der „Reinheit“ der von der Klägerin aus Materialien der Kategorie IA hergestellten Wirkstoffe für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich. Es hat seine Entscheidung vielmehr ‑ unabhängig von Fragen der erforderlichen Risikobeurteilung ‑ mit der fehlenden Vorlage einer Nutzen-Risiko-Analyse begründet und ausgeführt, dass der Nutzen der Wirkstoffe nicht belegt sei.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">3. Die Berufung ist schließlich nicht wegen der weiter geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">wie sich die Verantwortung von Wirkstoffherstellern im Verhältnis zu den verschreibenden Ärzten, insbesondere bei Rezepturarzneimittel, darstellt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Frage nach einer „Verantwortung“ würde sich in dieser Allgemeinheit in einem Berufungsverfahren jedoch weder entscheidungserheblich stellen noch wäre es möglich, sie in dieser allgemeinen Form in fallübergreifend weiterführender Weise zu beantworten. Sollte die Frage dahingehend zu verstehen sein, ob auch ein Wirkstoffhersteller, der Wirkstoffe zur Verwendung in Rezepturarzneimitteln herstellt, nach Ph.Eur. 5.2.8 zur Vorlage einer Nutzen-Risiko-Analyse verpflichtet sein kann, ist ein Klärungsbedarf mit dem Zulassungsvorbringen nicht dargelegt. Aus der von der Klägerin insoweit in Bezug genommenen Antragsbegründung zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergibt sich mangels Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts (dazu oben unter 1. b.) kein grundsätzlicher Klärungsbedarf.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p>
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"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 22 K 5199/20.A | 2022-08-22T00:00:00 | 2022-09-27T10:01:37 | 2022-10-17T11:10:34 | Urteil | ECLI:DE:VGK:2022:0822.22K5199.20A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.</p>
<p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.</p>
<p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit leistet in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger besitzt die Staatsangehörigkeit der Republik Aserbaidschan. Er reiste am 21. November 2019 mit einem tschechischen Visum von Georgien aus mit dem Flugzeug nach Prag. Von dort aus gelangte er auf dem Landweg über Österreich und die Slowakei in die Bundesrepublik Deutschland. Am 8. Februar 2020 kam er in Berlin an. Er stellte am 7. April 2020 einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte den Kläger am 2. Juli 2020 persönlich an. Bei seiner Anhörung trug der Kläger im Wesentlichen vor: Seine Eltern hätten sich auf Betreiben seines Großvaters im Jahr 1992 getrennt. Im Jahr 1994 habe sein Vater gesagt, dass er nach Russland gehen wolle. Etwa ein Jahr später habe er angefangen, seinen Großvater zu fragen, was mit seinem Vater sei. Der Großvater habe nie eine konkrete Antwort gegeben. Irgendwann habe sein Großvater zu ihm gesagt, dass er seinen Vater vergessen solle, weil dieser eine neue Familie habe und nichts mehr von seiner alten Familie wissen wolle. Später habe er dann erfahren, dass sein Vater nicht nach Russland gegangen, sondern gestorben sei. Über eine Nachbarin seines Großvaters, mit der er eine Beziehung gehabt habe, habe er an Informationen zu seinem Vater gelangen können. So ab Anfang 2010 habe er dann seinen Großvater zur Rede stellen wollen. Dieser habe ihm aber gesagt, dass er ihn mit der Sache in Ruhe lassen solle. Auch habe sein Großvater ihm gedroht, indem er darauf hingewiesen habe, dass sein Sohn Oberst bei der Polizei und sein Neffe Leiter der Geheimabteilung im Innenministerium sei. Damit habe er ihm zu verstehen geben wollen, so der Kläger, dass sein Großvater ihn jederzeit verschwinden lassen könne. Anschließend habe er Hilfe bei einem der besten Rechtsanwälte des Landes gesucht. Dieser habe ihm die Geschichte jedoch nicht geglaubt und direkt bei seinem Großvater nachgefragt. Ab diesem Zeitpunkt sei er verfolgt worden. Er habe immer Autos mit getönten Scheiben gesehen. Auch sei er mehrmals von anderen Personen geschubst worden. Damit habe er provoziert und in eine Schlägerei verwickelt werden sollen. Diese habe zum Ziel gehabt, gegen ihn etwas in der Hand zu haben, um ihn ins Gefängnis stecken zu können. Er habe allerdings nicht damit aufgehört, herauszufinden, warum sein Vater gestorben sei. Er habe zunächst die Sterbeurkunde seines Vaters besorgt und bei der Staatsanwaltschaft abgegeben, damit dort ein Verfahren eingeleitet würde. Der zuständige Ermittler habe ihm dann etwas später das angebliche Grab seines Vaters gezeigt. Der Grabstein sei aber zu frisch und mit lateinischen Buchstaben versehen gewesen. Er habe daher nicht geglaubt, dass es sich um das Grab seines Vaters gehandelt haben soll. Daraufhin habe er die Heiratsurkunde seiner Eltern beim Standesamt besorgt. Auch damit sei er zu einem Staatsanwalt gegangen und habe beantragt, die Todesursache zu ermitteln. Dabei sei herausgekommen, dass sein Vater an einer Leberzirrhose im Ferienhaus seines Großvaters gestorben sei. Schließlich habe ihn der Bezirksstaatsanwalt vorgeladen, um eine Aussage zu machen. Nachdem er alles erzählt habe, habe dieser ihm gesagt, dass man ihn wegen Verleumdung ins Gefängnis bringen könnte. Er habe ihm geraten, die Anzeige fallen zu lassen. Danach habe er den Eindruck gehabt, dass sein Telefon abgehört wird. Beschwerden beim Innenministerium und beim Ministerium für Nationale Sicherheit hätten nichts ergeben. Später habe ihn ein weiterer Staatsanwalt angerufen, dem er ebenfalls alles erzählt habe. Dieser Staatsanwalt habe ihn gefragt, weshalb er an der Todesursache seines Vaters zweifle. Während des Gesprächs habe der Staatsanwalt angedeutet, dass sein Vater angeschossen worden sei. Er habe das Gefühl gehabt, dass der Staatsanwalt ihn in eine Falle habe locken wollen, um ihn wegen Verleumdung dranzukriegen. Schließlich sei allerdings eine Obduktion durchgeführt worden. Diese habe nichts ergeben, weil – so der Kläger – alle damit betrauten Beamten bezahlt worden seien. Daraufhin habe er sich an Interpol gewandt, woraufhin er noch mehr beobachtet und verfolgt worden sei. Deswegen habe er in Absprache mit seiner Familie beschlossen, Aserbaidschan zu verlassen. Er sei zunächst in die Türkei gegangen. Eine kurze Zeit sei auch in Tunesien gewesen. Weil seine Mutter krank geworden sei, sei er aber wieder nach Aserbaidschan zurückgekehrt.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 7. September 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000), dem Kläger am 10. September 2020 persönlich übergeben, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2). Es erkannte weder den Flüchtlingsschutz noch den subsidiären Schutz zu (Ziffern 1 und 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4) und drohte die Abschiebung nach Aserbaidschan an (Ziffer 5). Schließlich befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Die Furcht vor Verfolgung sei aufgrund mangelnder Intensität der geltend gemachten Verfolgungshandlungen unbegründet. Dem Kläger sei letztlich nie etwas passiert. Er habe lediglich das Gefühl gehabt, beobachtet und verfolgt worden zu sein. Wie er zu der Erkenntnis gelangt sei, dass er verfolgt werde, habe er nicht schlüssig darlegen können. Daher lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohe.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 24. September 2020 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner Klage, die ursprünglich auch darauf gerichtet war, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, führt er im Wesentlichen aus: Er sei in seinem Heimatland bedroht, weil er die Todesursache seines Vaters aufklären wolle. Seine Verwandten, insbesondere sein Großvater und ein Onkel, würden ihre Stellung ausnutzen, um seine Bemühungen zu torpedieren. Zwar sei er bislang keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt gewesen. Er gehe allerdings davon aus, dass er mit subtileren Methoden mundtot gemacht werden solle. Seine Verwandten hätten darüber hinaus die entsprechenden Möglichkeiten, ihn zu töten.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus legt der Kläger mehrere Atteste des B. /K1. Krankenhauses in O. vor. Im Attest des Ambulanzarztes B. C. vom 27. Mai 2021 heißt es u.a.: „Patient Herr J. leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung [...] und posttraumatischen Belastungsstörung [...]. Die o.a. Störungen sind zweifeslohne auf Grund der Verfolgung und erlebten körperlichen und psychischen Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen im Herkunftsland entstanden. [...]“ In einem weiteren Attest desselben Arztes vom 23. August 2021 heißt es u.a.: „[...] Bei der körperlich-physikalischen Untersuchung – multiple Narben als Folter- und Misshandlungsspuren. [...] Anamnestisch: Verfolgung, Gewalterfahrungen, Folter und Misshandlungen in dem Herkunftsland. Es wurde gegen ihn mehrmals ein Mordversuch verübt. Psychologische und körperliche Misshandlungen. Mehrere Suizidversuche durch Strangulation. [...]“</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Im Nachgang zur mündlichen Verhandlung legt der Kläger ferner eine Kopie des Urteils des Zivilsenats des Appellationsgerichts C1. vom 6. Februar 2019 vor.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt zuletzt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2020 zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie weiter</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2020 zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschan vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes. Ergänzend trägt sie vor: Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen führten zu keiner geänderten Bewertung der Sachlage. Diese genügten weder den gesetzlichen, noch den höchstrichterlichen Anforderungen. Auch befassten sich die Stellungnahmen nicht mit wesentlichen Widersprüchen im Vortrag des Klägers, sondern würden dessen Vortrag als wahr unterstellen. Es handele sich danach um eine Scheindiagnose.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2022 informatorisch angehört. Auf den Inhalt des Protokolls wird Bezug genommen. In diesem Termin hat das Gericht beschlossen, die Sache zu vertagen. Im Anschluss daran haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Gericht konnte, nachdem es die mündliche Verhandlung in der Sitzung vom 27. April 2022 eröffnet und die Sache vertragt hat, ohne eine weitere mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, nämlich in Bezug auf das Begehren, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist die zulässige Klage unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ihm steht weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zu. Auch ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AsylG besteht für den Kläger nicht, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90 –, juris, Rn. 2 und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Grundsätzen kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger sein Heimatland aufgrund politischer Verfolgung verlassen hat oder dass ihm bei Rückkehr dorthin eine solche droht. Zur Begründung wird zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG vollinhaltlich auf die entsprechenden Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 7. September 2020 verwiesen. Zu Recht ist das Bundesamt davon ausgegangen, dass sich auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers eine begründete Verfolgungsfurcht im Verständnis von § 3 Abs. 1 AsylG nicht feststellen lässt. Der Kläger war zu keinem Zeitpunkt Verfolgungshandlungen im Sinne des AsylG ausgesetzt gewesen. Die vom Kläger vorgetragenen „Verfolgungshandlungen“ (Autos mit dunklen Scheiben hätten ihn verfolgt; unbekannte Personen hätten ihn mehrmals angerempelt, um ihn zu provozieren; Abhören seines Telefons etc.) spielen sich ausnahmslos in dessen Kopf ab (nach seinem Vortrag „fühlte“ er sich beobachtet; er hatte das „Gefühl“, dass sein Telefon abgehört wird).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Auch das vom Kläger vorgelegte Urteil des „Appellationsgerichts C1. “ vom 6. Februar 2019 vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Zwar wird durch die Ausführungen des Gerichts die vom Kläger vorgetragene „Vorgeschichte“ bestätigt. Der Vortrag des Klägers stellt sich insoweit als glaubhaft dar, als er tatsächlich nach dem Tod seines Vaters die „offizielle“ Todesursache angezweifelt und insbesondere seinen Großvater für den Tod verantwortlich gemacht hat. Auch hat sich der Kläger seinerzeit an die Strafermittlungsbehörden gewandt, um diese zu entsprechenden Ermittlungen zu bewegen. Dieses Strafverfahren ist dann mangels Anfangsverdachts durch Beschluss der Staatsanwaltschaft vom 20. Juni 2013 eingestellt worden. Der weitere Vortrag des Klägers, wonach die Ermittlungsbehörde korrupt und sein Großvater ihm mit extralegalen Repressionsmaßnahmen gedroht haben soll, wird durch das vorgelegte Urteil indes nicht bestätigt. Im Gegenteil zeigt das Urteil vielmehr, dass der Großvater des Klägers sich des – legalen – Zivilrechtswegs bedient hatte, um gegen die gegen ihn gerichteten Vorwürfe vorzugehen. Ein Beleg für die dem Großvater vom Kläger zugeschriebenen Möglichkeiten, dem Kläger mit extralegalen Mitteln zu schaden, stellt das Urteil nicht dar.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der hier erkennende Einzelrichter ist auch nicht davon überzeugt, dass der Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem Heimatland körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen war. Noch im Schriftsatz vom 12. Oktober 2020 hat der Kläger durch seinen damaligen Prozessbevollmächtigten vortragen lassen, dass er „bisher keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt“ gewesen sei. Erstmals im Attest vom 22. Juni 2021 war dann von „Verfolgung und erlebter körperlicher und psychischer Gewalt, Missbrauch und Misshandlung im Herkunftsland“ die Rede. Auf diesen Widerspruch angesprochen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 27. April 2022 erklärt, dass er von „den Angriffen“ auf ihn beim Bundesamt nicht berichtet habe, weil er Angst davor gehabt habe, dass der aserbaidschanische Übersetzer möglicherweise dem aserbaidschanischen Geheimdienst berichten und er durch seine Aussage daher seine in Aserbaidschan lebende Familie gefährden könnte. Dieser Erklärungsversuch ist unglaubhaft und erweist sich als bloße Schutzbehauptung. Es ist bereits widersprüchlich, einerseits durch die Stellung eines Asylantrags Schutz durch die staatlichen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland zu begehren, andererseits die Integrität dieser staatlichen Einrichtungen, zu denen auch die vom Bundesamt herangezogenen staatlich bestellten und vereidigten Dolmetscher:innen gehören, anzuzweifeln. Für die Vermutung des Klägers, dass vom Bundesamt eingesetzte staatlich bestellte und vereidigte aserbaidschanische Dolmetscher:innen an den aserbaidschanischen Geheimdienst berichten könnten, gibt es keinerlei Anhaltspunkte; solche hat auch der Kläger nicht vorgetragen. Im Übrigen wäre zu erwarten gewesen, dass der Kläger einen derartigen, für die Darstellung seines Verfolgungsschicksals zentralen Vortrag, spätestens im Klageverfahren vorbringt. Stattdessen hat der Kläger auch im Klageverfahren zunächst weiter vortragen lassen, dass er bislang keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Schließlich stellt der – insoweit insgesamt detailarme – Vortrag des Klägers, „eines Abends Ende Mai oder Anfang Juni 2019“ von drei oder vier sehr kräftigen und sportlichen Männern angegriffen worden zu sein, eine erhebliche Steigerung im Vergleich zum bisherigen Vortrag dar. Auch lässt sich seine Einlassung im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht mit seinen dem Ambulanzarzt A. gegenüber gemachten Aussagen in Übereinstimmung bringen. Denn im Attest vom 23. August 2021 heißt es u.a.: <em>„[...] Es wurde gegen ihn <span style="text-decoration:underline">mehrmals</span> ein Mordversuch verübt. Psychologische und körperliche Misshandlungen. <span style="text-decoration:underline">Mehrere Suizidversuche durch Strangulation</span>.“</em> (Hervorhebungen nicht im Original). Dies alles lässt den Vortrag des Klägers als asyltaktisch motiviert und im Ergebnis als unglaubhaft erscheinen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch mit ihrem ersten Hilfsantrag unbegründet. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Sachverhalts, der die Notwendigkeit eines internationalen subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG für den Kläger begründen würde, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch ist nichts für das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG dargetan; insoweit nimmt das Gericht zur weiteren Begründung gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf die zutreffenden Gründe des Bescheides des Bundesamtes.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist schließlich auch mit ihrem zweiten Hilfsantrag unbegründet. Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes vom 7. September 2020 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Feststellung zu, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, um die es hier ausschließlich geht, liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Es ist dabei nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist. Erforderlich aber auch ausreichend ist es danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 – 1 C 18/05 – juris, Rn. 15 ff. m. w. N.;VG Düsseldorf, Urteil vom 13. Mai 2020 – 20 K 6446/18.A – juris, Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran besteht für den Kläger im Falle einer Abschiebung nach Aserbaidschan unter zusammenfassender Betrachtung aller relevanten zielstaatsbezogenen Umstände kein Abschiebungsverbot. Ein solches ergibt sich insbesondere nicht aus der vom Kläger (allein) geltend gemachten psychischen Erkrankung. Denn der Kläger hat nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) des hier erkennenden Einzelrichters auch unter Berücksichtigung aller vorgelegten ärztlichen Atteste eine solche Erkrankung nicht glaubhaft gemacht. Nachgeordnete Fragen – wie etwa die Frage, ob psychische Erkrankungen in Aserbaidschan überhaupt behandelbar sind oder ob eine solche Behandlung konkret für den Kläger überhaupt erreichbar wäre – sind daher vorliegend nicht entscheidungserheblich.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Berichte sind zur Glaubhaftmachung der behaupteten psychischen Erkrankung des Klägers ungeeignet. Dies gilt insbesondere für die Berichte des B. /K1. Krankenhaus vom 27. Mai 2021 und vom 23. August 2021. Diese Berichte sind allesamt ausgestellt vom Ambulanzarzt B. C. . Der Einzelrichter der 26. Kammer des erkennenden Gerichts hat in dem Urteil vom 6. April 2022 (26 K 859/19.A) in Bezug auf ein von demselben Arzt erstellten Bericht festgestellt, dass es sich dabei um ein Gefälligkeitsgutachten handelt. Dies hat er aus einem Vergleich mit einem im Verfahren 22 K 6136/19.A vorgelegten Bericht desselben Arztes geschlossen. Denn bei einem Vergleich sei festzustellen, dass die wesentlichen Ausführungen wortgleich seien, und zwar einschließlich grammatikalischer und orthografischer Fehler. Bei einem weiteren Vergleich mit den im vorliegenden Verfahren sowie in einem weiteren – mittlerweile rechtskräftig abgeschlossenen – Verfahren (22 K 3609/21.A) eingereichten Berichten des Ambulanzarztes B. C. wird die Einschätzung der 26. Kammer bestätigt. Aufgrund dessen ist auch der hier erkennende Einzelrichter davon überzeugt, dass es sich bei den vom Ambulanzarzt B. C. erstellten Berichten um Gefälligkeitsgutachten handelt, denen im gerichtlichen Verfahren kein Beweiswert zukommt. Auch bei den hier vorgelegten Berichten werden dieselben, auf die Eigenschaft eines Gefälligkeitsattests hindeutenden Textbausteine und Floskeln verwendet (z.B. <em>„Die o.a. Störungen sind zweifeslohne auf Grund der Verfolgung und erlebten körperlichen und psychischen Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen im Herkunftsland entstanden.“</em>).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Nicht zu beanstanden ist die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung, da die Voraussetzungen der § 34 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 bis 3 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot findet seine Rechtsgrundlage in den §§ 11 Abs. 1 und 2, 75 Nr. 12 AufenthG. Ermessensfehler hinsichtlich der Bemessung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung sind nicht zu erkennen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Klagerücknahme auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">45</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,623 | lg-koln-2022-08-22-14-o-32721 | {
"id": 812,
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} | 14 O 327/21 | 2022-08-22T00:00:00 | 2022-09-20T10:01:51 | 2022-10-17T11:10:19 | Urteil | ECLI:DE:LGK:2022:0822.14O327.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Die Beklagte wird verurteilt, es für jeden Fall der Zuwiderhandlung bei Meidung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu unterlassen,</p>
<p>ohne Einwilligung der Klägerin nachfolgende Fotografien:</p>
<p><strong>Bilddatei entfernt</strong></p>
<p>welche Gegenstand des Bild- und Katalogwerkes „L“ sind, ohne Einwilligung der Klägerin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen,</p>
<p>wenn dies geschieht wie in dem Angebot der Beklagten in ihrem gewerblichen Onlineshop auf B mit dem Namen „N“ bei dem Produkt „L“, illustriert in der Anlage K 2.</p>
<p>2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.054,10 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.08.2021 zu zahlen.</p>
<p>3. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit insoweit teilweise erledigt ist, soweit die Klägerin beantragt hat, die Beklagte zu verurteilen, Auskunft darüber zu erteilen, ob sie das streitgegenständliche Foto, näher konkretisiert im Klageantrag zu 1., noch auf anderen Portalen verwendet hat sowie mitzuteilen, wie lange das konkrete Foto auf dem Onlinemarktportal B sowie ggf. auf anderen Internetportalen durch sie verwendet wurde.</p>
<p>4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerin hinsichtlich der im Antrag zu 1. gerügten urheberrechtlichen Verletzungshandlung zum Schadensersatz verpflichtet ist.</p>
<p>5. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.</p>
<p>6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar und zwar hinsichtlich der Unterlassung in Tenorziffer 1.) gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000,00 € und im Übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist eine Designerin sowie Herausgeberin im Bereich der Kunst. Daneben ist sie als Fotografin tätig und hat zusammen mit ihrem Lebenspartner, dem Künstler Herrn X S, unter anderem das Bilderwerk „L“ herausgegeben.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist eine Online-Händlerin mit An- und Verkaufsservice im Bereich gebrauchter Medien, insbesondere Bücher. Sie nutzt hierfür ihre eigene Webseite N.de und das Verkaufsportal Amazon unter dem Account „N“. Die Beklagte vertreibt über ihren Onlineshop N auf dem Portal B.de etwa 7,6 Millionen Artikel jährlich. Pro Tag verkauft die Beklagte daher in der Regel um die 20.000-22.000 Artikel. Dabei hält sie etwa 4,65 Millionen (+/-100.000) verschiedene Artikel als ständiges Angebot bei B bereit. Üblicherweise verkauft die Beklagte nur Einzelstücke, d.h. gebrauchte Artikel, die nur einmal im Lagerbestand vorhanden sind.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Werk „L“ als Buch wurde bei B angeboten, wobei die beiden im Klageantrag eingeblendeten Lichtbilder zur Bewerbung als Produktbild verwendet werden. Die B Produktseite besteht heute noch unverändert fort, jedoch ist aktuell kein Kauf möglich mangels verfügbarer Artikel.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte „hängte sich“ an ein bereits vorhandenes Angebot bei B für das o.g. Buch an und verkaufte über B ein Exemplar des vorgenannten Buchs am 30.06.2021. Das Werkstück kaufte die Beklagte zuvor am 04.06.2021 an und hielt es bis zum Verkauf auf Lager und bot es wie oben beschrieben über B sowie auf der eigenen Webseite und auf F an. Auf der eigenen Webseite und auf F wurde dabei nur das Coverbild des Buchs als Produktbild verwendet.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte führt ausführlich zur Funktionsweise des B Marktplatzes (siehe S. 2 ff. Klageerwiderung, Bl. 50 ff. GA). Die Beklagte hat keine Möglichkeit selbst Änderungen an der unter einer bestimmten ASIN hinterlegten Produktseite vorzunehmen, dies kann grds. nur B als Plattformbetreiber oder derjenige, der eine ASIN erstmals angelegt hat. Ein Wiederverkäufer hat nur die Möglichkeit, sich an den Seller Support von B zu wenden, und dort auf eine Änderung der Produktseite hinzuwirken.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Auch Rechteinhaber können eine entsprechende Meldung an B senden und damit auf eine Löschung von Bildern etc. hinwirken.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ließ die Beklagte am 02.07.2021 abmahnen. Die Beklagte wies Ansprüche der Klägerin vorgerichtlich zurück.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin behauptet, was die Beklagte mit Nichtwissen bestreitet, sie sei Urheberin der und Inhaberin ausschließlicher Nutzungsrechte an den streitgegenständlichen Lichtbildern. Sie legt hochauflösende Dateien der Lichtbilder mit der Replik vor (Bl. 266 ff. GA).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Beklagte als Täterin der rechtswidrigen öffentlichen Zugänglichmachung der streitgegenständlichen Lichtbilder auf B hafte. Ihr Nachtatverhalten bezüglich behaupteter Meldung an B ändere an ihrer Haftung nichts.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat zunächst die Klageanträge wie folgt angekündigt:</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">1. Die Beklagte wird es für jeden Fall der Zuwiderhandlung bei Meidung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">untersagt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">ohne Einwilligung der Klägerin nachfolgende Fotografien:</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>Bilddatei entfernt</strong></p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">welche Gegenstand des Bild -/ und Katalogwerkes „L“ sind, ohne Einwilligung der Klägerin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn dies geschieht wie in dem Angebot der Beklagten in ihrem gewerblichen Onlineshop auf B mit dem Namen „N“ bei dem Produkt „L“, illustriert in der Anlage K. 2.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.054,10 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.08.2021 zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">3. Die Beklagte wird verurteilt, Auskunft darüber zu erteilen, ob sie das streitgegenständliche Foto, näher konkretisiert im diesseitigem Antrag zu 1., noch auf anderen Portalen verwendet hat sowie mitzuteilen, wie lange das konkrete Foto auf dem Onlinemarktportal B sowie ggf. auf anderen Internetportalen durch sie verwendet wurde.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerin hinsichtlich der im Antrag zu 1. gerügten urheberrechtlichen Verletzungshandlung zum Schadensersatz verpflichtet ist.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin den Klageantrag zu 3.) für erledigt erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Sie stellt die Klageanträge zu 1.), 2.) und 4.) in der oben ersichtlichen Fassung.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat der Teilerledigungserklärung der Klägerin nicht zugestimmt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"> Klageabweisung.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte behauptet, was die Klägerin mit Nichtwissen bestreitet, dass sie den B Marketplace im Rahmen vollautomatisierter Massenauflistung über das sog. Marketing Web Services Tool erstellt. Das vorliegende Angebot sei nicht von der Beklagten erstmals angelegt worden. Sie habe die streitgegenständlichen Lichtbilder nicht bei B hochgeladen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Sie behauptet ferner, ebenfalls durch die Klägerin mit Nichtwissen bestritten, dass mit E-Mail vom 19.07.2021 (Anlage B3) die Justiziarin der Beklagten, Frau B C, nachdem sie Mitteilung von dem hiesigen Vorgang erhalten hatte, einen Mitarbeiter der Beklagten, Herrn S X, aufgefordert habe, den Verkäufersupport von B zu kontaktieren, um auf die etwaige Rechtsverletzung aufmerksam zu machen und diese abzustellen. Herr X sei in der Position des „Product Owners Books & Media” tätig und führe u.a. die Kommunikation mit dem Verkäufersupport von V. Herr X habe am selben Tage Amazon informiert und einen sog. Case unter der Referenznummer 00000 geöffnet (Anlage B4). Noch am selben Tage habe die Beklagte die Rückmeldung des B Verkäufersupports erhalten, dass eine Änderung der Produktinformation nicht vorgenommen werden könne, da die Beklagte das Produkt nicht aktiv verkaufe (Anlage B5).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin sei mangels hinreichenden Nachweises ihrer Rechtsinhaberschaft nicht aktivlegitimiert. Die Beklagte sei auch weder Täterin noch Störerin einer Urheberechtsverletzung. Sie habe sich die Inhalte auch nicht zu eigen gemacht. Es sei ihr vor allem nicht zumutbar, die Geschäftstätigkeit auf dem Marktplatz B aufgrund der mit der ASIN-Nutzung einhergehenden Risiken einzustellen. Eine allgemeine Kontrollpflicht sei unangemessen, zumal die Beklagte keine Möglichkeit zur Einstellung der Rechtsverletzung auf B.de habe. Die Beklagte könne sich auf die gleichen Haftungsprivilegierungen wie Suchmaschinen und Host-Provider berufen. Sie könne sich außerdem auf die Privilegierung von § 10 TMG berufen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte meint hilfsweise, ein Anspruch der Klägerin sei wegen Rechtsmissbrauchs ausgeschlossen, weil die Klägerin bei B leicht die Löschung ihrer streitgegenständlichen Lichtbilder herbeiführen könne.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der Auskunftsantrag sei durch die Angaben in der Klageerwiderung erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist zulässig. Das Landgericht Köln ist angesichts der Abrufbarkeit der streitgegenständlichen Lichtbilder über das Verkaufsportal B auch im hiesigen Gerichtsbezirk nach § 32 ZPO örtlich zuständig. Im Übrigen bestehen keine Zulässigkeitsbedenken, insbesondere ist der Unterlassungsantrag hinreichend bestimmt gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Das für die Schadensersatzfeststellung im Klageantrag zu 4.) nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse folgt aus der Notwendigkeit der Auskunft für die konkrete Berechnung des gem. § 97 Abs. 2 UrhG in dreifacher Hinsicht berechenbaren Schadensersatzes.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">II. Die Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">1. Unterlassung, Antrag zu 1.)</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Unterlassung der öffentlichen Zugänglichmachung der streitgegenständlichen Lichtbilder aus §§ 97 Abs. 1, 19a, 72 UrhG.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">a) Die Klägerin ist aktivlegitimiert. Davon ist die Kammer nach § 286 ZPO nach Vorlage der hochauflösenden Dateien und der RAW-Dateien der im Klageantrag eingeblendeten Lichtbilder im Wege des Indizienbeweises überzeugt. Eine Beweisaufnahme zu diesem Punkt bedarf es nicht. Die streitgegenständlichen Lichtbilder sind zudem jedenfalls nach § 72 UrhG geschützt.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung der Kammer stellt die Vorlage von hochauflösenden und unbearbeiteten RAW-Dateien von Fotografien ein starkes Indiz dafür dar, dass die entsprechenden Aufnahmen von der sich im Besitz dieser Dateien befindenden Partei aufgenommen worden ist (vgl. etwa Urteil der Kammer vom 24.08.2017 - 14 O 111/16, BeckRS 2017, 128738 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 18.09.2014 – I ZR 76/13 – GRUR 2015, 258 – CT –Paradies). Denn nach der Lebenserfahrung ist nur der Fotograf selbst im Besitz der RAW-Dateien. So liegt der Fall hier.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat die aktenkundigen RAW-Dateien in Augenschein genommen und die Übereinstimmung mit den im Klageantrag eingeblendeten Lichtbilder feststellen können. Stichhaltige Anhaltspunkte dafür, dass diese Dateien im vorliegenden Fall entgegen der oben geschilderten Lebenserfahrung nicht der Klägerin wegen deren Fotoerstellung zur Verfügung stehen, werden von der Beklagten nicht aufgezeigt und sind auch sonst nicht ersichtlich. Die Beklagte trägt auch nichts dazu vor, dass eine andere Person als Ersteller/in der Lichtbilder in Betracht kommt.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">b) Die Lichtbilder wurden über B.de öffentlich zugänglich gemacht gem. § 19a UrhG, dies war auch jedenfalls zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung immer noch der Fall. Die beiden streitgegenständlichen Lichtbilder sind als Produktbilder auf der B Produktseite abrufbar.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">c) Die Beklagte haftet für diese öffentliche Zugänglichmachung auch als Täterin. Nach der Rechtsprechung der Kammer in den Fällen des sog. „Anhängens an B Angebote“ ist grundsätzlich unter Rückgriff auf des Rechtsprechung des BGH in den verwandten Rechtsgebieten des UWG und des Markenrechts (siehe BGH, GRUR 2016, 961 – Herstellerpreisempfehlung; BGH, GRUR 2016, 936 – Angebotsmanipulation bei B) von einer Täterschaft der „sich anhängenden“ Verkäufer auszugehen. Die Passivlegitimation als Täterin folgt daraus, dass die Beklagte auf einer Internethandelsplattform in ihrem Namen ein bebildertes Verkaufsangebot veröffentlichen lässt, obwohl sie dessen inhaltliche Gestaltung nicht vollständig beherrscht, weil dem Plattformbetreiber die Auswahl und Änderung der Bilder vorbehalten ist. Die Kammer hält die Erwägungen des BGH in den verwandten Rechtsgebieten für auf die urheberrechtliche Situation übertragbar; im Rahmen der hier maßgeblichen Grundsätze der deliktsrechtlichen Haftung ist von einem Gleichlauf auch im Urheberrecht auszugehen. Insbesondere die Gefahr, dass der Plattformbetreiber bei einem Angebot unter dessen alleiniger Entscheidungshoheit Lichtbilder ohne ausreichende Berechtigung verwendet, ist für die Beklagte als sich an das durch den Plattformbetreiber gestaltete Angebot „anhängender“ Händler nicht allgemein unvorhersehbar. Der Beklagten als Händlerin ist diese Gefahr demnach zuzurechnen, sie ist adäquat kausale Folge der Angebotserstellung unter den Bedingungen des B Markplatzes.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass die Kammer in vergleichbaren Fallkonstellationen auch bereits vor der oben zitierten Rechtsprechung des BGH von einer Täterschaft der „sich anhängenden“ Verkäufer ausgegangen ist (vgl. Urteil der Kammer vom 16.06.2016, Az. 14 O 355/14, BeckRS 2016, 20192). Für eine Abkehr von dieser Rechtsprechung besteht nach der diese Linie bestätigenden Rechtsprechung des BGH in den verwandten Rechtsgebieten kein Anlass. Demnach gilt weiterhin, dass ein Anbieter, welcher seine Produkte auf der Verkaufsplattform B eingepflegt hat, sich die dortigen Angaben für das von ihm als Verkäufer angebotene und beworbene Produkt zu eigen macht. Dies gilt auch dann, wenn die Beklagte selbst nicht die streitgegenständlichen Lichtbilder in ihre Angebote eingeblendet hat, sondern die Zuordnung der Lichtbilder zu dem Angebot von Seiten des Unternehmens B erfolgt und die Beklagte auf die Auswahl der Lichtbilder keinen Einfluss hat.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Täterschaft der Beklagten ist auch deshalb anzunehmen, weil sie die Herrschaft über die eigene Urheberrechtsverletzung hat. Der Tatbeitrag der Beklagten zu der streitgegenständlichen Rechtsverletzung der öffentlichen Zugänglichmachung der Lichtbilder der Klägerin, liegt in der Einstellung des Verkaufsangebotes unter der bereits vorhandenen „ASIN“ und der dazugehörigen Artikelseite bei B. Die Beklagte war damit nicht nur unselbstständige Hilfsperson, da sie eigene Entscheidungsbefugnis und Herrschaft über die Rechtsverletzung hatte (vgl. zur Abgrenzung zwischen Täter und unselbständigen Hilfspersonen: BGH Urteil vom 05.11.2015, I ZR 88/13 - Al di Meola, juris Rn. 20). Sie hat es jederzeit in der Hand eine eigene Urheberrechtsverletzung zu beenden bzw. gar nicht erst zu beginnen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat das Produkt, für welche die streitgegenständlichen Lichtbilder geworben haben, auch im eigenen Namen und auf eigene Rechnung den Nutzern der Internetplattform zum Verkauf angeboten und nach eigener Auskunft einmal verkauft. Damit hat die Beklagte zugleich den Eindruck vermittelt, sie übernehme die Verantwortung für das konkrete Angebot. Dies gilt auch für die Lichtbilder, mit welchen das Angebot versehen ist, da der Nutzer davon ausgeht, dass diese den Zustand des angebotenen Produktes zutreffend wiedergeben.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Wer aber eigene Angebote abgibt, ist für diese auch dann verantwortlich, wenn er sie von Dritten herstellen lässt und ihren Inhalt nicht zur Kenntnis nimmt und keiner Kontrolle unterzieht (vgl. BGH, Urteil v. 05.11.2015 - I ZR 88/13 - Al di Meola, GRUR 2016, 493 - 495, Rn. 20 f.). Aus diesem Grunde sind auch die Einwendungen der Beklagten zu ihrem vollautomatisierten Geschäftsmodell, bei dem keine Prüfung der einzelnen Angebote bei B stattfinde, unerheblich. Das Risiko von Urheberrechtsverletzungen haftet einem solchen Geschäftsmodell der Beklagten an, zumal die Problematik von Urheberrechtsverletzungen auf Verkaufsplattformen einem Händler mit den Umsätzen der Beklagten generell bekannt sein muss und sie trotzdem ihr Geschäftsmodell ohne hinreichende Prüfung beibehält. Es kann insoweit auch wertungsmäßig nicht zulasten der Rechtsinhaber von Lichtbildern gehen, wenn ein „sich anhängender“ Verkäufer mit Verweis auf eine Automatisierung seiner Prozesse die Kontrolle seiner Verkaufsangebote unterlässt. Es besteht auf der Ebene der Passivlegitimation dann schlicht kein Unterschied zu einem Händler, der händisch Angebote erstellt und dabei eine Prüfung unterlässt. Soweit die Beklagte hier vorträgt, eine ihr aufzubürdende allgemeine Kontrollpflicht von B Angeboten sei unangemessen, zumal die Beklagte keine Möglichkeit zur Einstellung der Rechtsverletzung auf B.de habe, überzeugt dies nicht. Die Beklagte treffen dieselben Kontrollpflichten wie jeden anderen Marktteilnehmer, der sich bei B bestehenden Angeboten „anhängt“. Die Beklagte macht nur deutlich, dass sie diese Kontrollpflichten schlicht ignoriert.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte kann sich auch nicht auf Haftungsprivilegien berufen wie sie in der Vergangenheit etwa Betreibern von Suchmaschinen und Host-Providern von der Rechtsprechung eingeräumt worden sind. Denn die Beklagte ist weder das eine noch das andere. Sie ist eine Händlerin, die auf eigene Rechnung Waren verkauft, und erbringt damit keine vergleichbar schützenswerte Leistung für die Funktionsfähigkeit des Internets. Auch auf § 10 TMG kann sich die Beklagte nicht berufen, weil keine fremden Informationen für einen Nutzer gespeichert werden. Vielmehr speichert die Beklagte hier nur eigene Informationen gem. § 7 TMG, nämlich ihren Warenbestand, auf B (vgl. auch insoweit BGH Urteil vom 05.11.2014, I ZR 88/13 - Al di Meola, juris Rn. 22).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beklagte meint, es sei ihr nicht zumutbar, die Geschäftstätigkeit auf dem Marktplatz B aufgrund der mit der ASIN-Nutzung einhergehenden Risiken einzustellen, ist die Relevanz für das vorliegende Verfahren nicht ersichtlich. Die Klägerin fordert keine Einstellung der gesamten Geschäftstätigkeit, sondern die Unterlassung der öffentlichen Zugänglichmachung ihrer Lichtbilder durch die Beklagte. Dies vermag die Beklagte durch eigene Maßnahmen zu verhindern, sei es nur durch Sperrung der entsprechenden ASIN des mit den streitgegenständlichen Lichtbildern beworbenen Produkts in ihrem vollautomatischen Systems.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Einer Haftung der Beklagten steht auch nicht der von ihr vorgetragene Versuch entgegen, bei B eine Löschung der zwei streitgegenständlichen Lichtbilder zu erreichen. Dabei kann die Kammer diesen durch aktenkundige E-Mail Korrespondenz vorgetragenen Versuch, der von Klägerseite unqualifiziert bestritten worden ist, unterstellen. Die Kammer kann auch offenlassen, ob die Beklagte B hinreichend auf die Problematik hingewiesen hat und ob B zu Unrecht eine Löschung der Lichtbilder abgelehnt hat. Denn die Beklagte hat unstreitig bereits vor Kontaktaufnahme zu B das konkret angegriffene Angebot bei B eingestellt und einen Verkauf getätigt, sodass hier bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Anknüpfungspunkte der Haftung erfüllt waren. Das von der Beklagten vorgetragene und von der Klägerin zutreffend als „Nachtatverhalten“ bezeichnete Vorgehen kann damit die bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht beseitigen oder neutralisieren. Dieses Verhalten kann allenfalls in einer im Rahmen einer Zwangsvollstreckung durchzuführenden Prüfung, ob dem Unterlassungsgebot nachgekommen worden ist, maßgeblich werden (vgl. etwa BGH, GRUR 2018, 1183 – Wirbel um Bauschutt, u.a. zur Einwirkung auf Google wegen Löschung aus dem Cache nach erfolgter Rechtsverletzung).</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Beklagte auf das Urteil des OLG München (Urt. v. 10.3.2016 – 29 U 4077/15, GRUR-RR 2016, 316) stützt, so ist die Kammer der Ansicht, dass diese Rechtsprechung im Widerspruch zu den oben genannten Fundstellen des BGH steht. Die Kammer schließt sich den Ausführungen des OLG München nicht an, insbesondere nicht soweit dort ein vom Wettbewerbsrecht abweichendes Modell der Bewertung der Täterhaftung angenommen wird.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">d) Die Beklagte handelte auch rechtswidrig, da sie sich weder auf eine Zustimmung der Klägerin, noch auf Schranken des Urheberrechts berufen kann.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">e) Die Wiederholungsgefahr ist durch die oben beschriebene Rechtsverletzung indiziert und sie wurde nach Abmahnung nicht durch Abgabe einer hinreichend strafbewehrten Unterlassungserklärung ausgeräumt. Weitere Verletzungen drohen auch ganz konkret aus der Beschreibung des automatisierten und ungeprüften Geschäftsmodells der Beklagten, da beim automatisierten Ankauf des hier mit den Lichtbildern beworbene Buches automatisch wieder ein „Anhängen“ an das bestehende B Angebot erfolgen wird.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">f) Die Klägerin handelt im vorliegenden Rechtsstreit auch nicht rechtsmissbräuchlich.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Zum Rechtsmissbrauch im Urheberrecht gilt nach der Rechtsprechung des BGH was folgt: Im Wettbewerbsrecht ist die Geltendmachung von Ansprüchen auf Beseitigung und Unterlassung nach § 8 Abs. 4 S. 1 UWG aF bzw. § 8c UWG nF unzulässig, wenn sie unter Berücksichtigung der gesamten Umstände missbräuchlich ist, insbesondere, wenn sie vorwiegend dazu dient, gegen den Zuwiderhandelnden einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen oder Kosten der Rechtsverfolgung entstehen zu lassen. Eine missbräuchliche Abmahnung wegen einer Urheberrechtsverletzung führt hingegen grundsätzlich (anders als im Wettbewerbsrecht) nicht zum Erlöschen des Unterlassungsanspruchs und zur Unzulässigkeit einer nachfolgenden Klage (BGH, Urteil vom 31. Mai 2012 - I ZR 106/10, GRUR 2013, 176 Rn. 14 f. = WRP 2013, 336 – Ferienluxuswohnung). Eine dem § 8 Abs. 4 S. 1 UWG aF bzw. § 8c UWG nF entsprechende Norm kennt das Urheberrechtsgesetz nicht. Eine analoge Anwendung von § 8 Abs. 4 S. 1 UWG aF bzw. § 8c UWG nF im Urheberrecht kommt nicht in Betracht, weil keine planwidrige Regelungslücke besteht. Allerdings gilt auch für urheberrechtliche Ansprüche das allgemeine Verbot unzulässiger Rechtsausübung nach § 242 BGB. Die im Wettbewerbsrecht zur missbräuchlichen Geltendmachung von Ansprüchen entwickelten Rechtsgrundsätze beruhen gleichfalls auf dem Gedanken der unzulässigen Rechtsausübung. Sie können daher unter Berücksichtigung der zwischen den beiden Rechtsgebieten bestehenden Unterschiede grundsätzlich auch für das Urheberrecht fruchtbar gemacht werden. Von einem Missbrauch iSv § 8 Abs. 4 S. 1 UWG ist auszugehen, wenn das beherrschende Motiv des Gläubigers bei der Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs sachfremde, für sich genommen nicht schutzwürdige Interessen und Ziele sind. Diese müssen allerdings nicht das alleinige Motiv des Gläubigers sein; vielmehr reicht es aus, dass die sachfremden Ziele überwiegen. Die Annahme eines derartigen Missbrauchs erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der maßgeblichen Einzelumstände. Ein Anhaltspunkt für eine missbräuchliche Rechtsverfolgung kann sich daraus ergeben, dass die Abmahntätigkeit in keinem vernünftigen wirtschaftlichen Verhältnis zur gewerblichen Tätigkeit des Abmahnenden steht, der Anspruchsberechtigte die Belastung des Gegners mit möglichst hohen Prozesskosten bezweckt oder der Abmahnende systematisch überhöhte Abmahngebühren oder Vertragsstrafen verlangt. Ebenso stellt es ein Indiz für ein missbräuchliches Vorgehen dar, wenn der Abmahnende an der Verfolgung des beanstandeten Wettbewerbsverstoßes kein nennenswertes wirtschaftliches Interesse haben kann, sondern seine Rechtsverfolgung aus der Sicht eines wirtschaftlich denkenden Gewerbetreibenden allein dem sachfremden Interesse dient, die Mitbewerber mit möglichst hohen Kosten zu belasten (BGH Vers.-Urt. v. 28.5.2020 – I ZR 129/19, GRUR 2020, 1087 – Al di Meola II m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Diese (strengen) Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Es ist nicht erkennbar, dass das beherrschende Motiv der Klägerin bei der Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs sachfremde, für sich genommen nicht schutzwürdige Interessen und Ziele sind. Vielmehr setzt die Klägerin ihre berechtigten Ansprüche im Zusammenhang mit den eigenen Schutzrechten durch. Dabei hat die Kammer zur Kenntnis genommen, dass das zum Gegenstand der konkreten Verletzungsform gemachte B Angebot auch zum Tage der mündlichen Verhandlung und damit fast ein Jahr nach Einreichung der Klage noch mit den streitgegenständlichen Lichtbildern der Klägerin bebildert war, obwohl – unstreitig – Rechtsinhaber wie die Klägerin sich an B wenden können, um Rechtsverletzungen zu melden und damit auf eine Beseitigung hinzuwirken.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall ist das Vorgehen der Klägerin gegen die Beklagte jedoch angesichts der oben beschriebenen Rechtsverletzung der Beklagten vor der Abmahnung und vor den Versuchen der Beklagten, auf B einzuwirken, nicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Die Kammer hält dies vielmehr für eine berechtigte Durchsetzung der eigenen Schutzrechte. Dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Rechtsverletzung dazu beigetragen haben könnte, das B Angebot, an das sich die Beklagte angehängt hat, missbräuchlich zu nutzen, ist weder von der insoweit darlegungsbelasteten Beklagten vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Der bloße Hinweis der Beklagten auf die Existenz eines Kontaktformulars für Rechtsinhaber bei B genügt hierfür nicht. Ein Missbrauch im konkreten Fall liegt auch deshalb fern, weil ausweislich des B Angebots das angebotene Buch erst im Jahr 2021 erschienen ist und auch das Angebot sowie der Verkauf der Beklagten im Jahr 2021 erfolgt sind.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">2. Ersatz von Rechtsverfolgungskosten, Antrag zu 2.)</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten aus § 97a Abs. 3 UrhG in Höhe von 1.054,10 €. Die Abmahnung ist ausweislich der obigen Ausführungen berechtigt und zudem wirksam gem. § 97a Abs. 2 UrhG. Der angesetzte Gegenstandswert von 13.000,- € ist nicht zu beanstanden. Der Anspruch ist der Höhe nach korrekt berechnet und besteht aus der 1,3 Geschäftsgebühr nach Ziffer 2300 VV RVG zu 865,80 €, der Auslagenpauschale nach Ziffer 7001 VV RVG zu 20,00 € und der Umsatzsteuer (Ziffer 7008 VV RVG) zu 168,30 €.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB und ist jedenfalls mit Ablauf der im Anwaltsschreiben der Klägerin vom 24.08.2021 gesetzten Frist bis zum 30.08.2021 begründet.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">3. Auskunft, Antrag zu 3.)</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Durch die einseitig gebliebene Teilunterlassungserklärung mit Blick auf den Klageantrag zu 3.) hat sich das klägerische Begehren in ein Feststellungsbegehren hinsichtlich der Erledigung gewandelt. Das hierfür notwendige Feststellungsinteresse nach § 256 ZPO liegt in der Abwendung der Kostenlast.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Der Rechtsstreit hat sich hinsichtlich des mit dem Klageantrag zu 3.) geltend gemachten Auskunftsanspruchs durch Erfüllung nach Rechtshängigkeit erledigt. Der Klageantrag zu 3.) war zunächst zulässig und begründet und ist nach Rechtshängigkeit durch Erfüllung unbegründet geworden. Dieser Auskunftsanspruch ist gewohnheitsrechtlich als akzessorischer Auskunftsanspruch bei einer urheberrechtlichen Rechtsverletzung anerkannt. Die Rechtsverletzung ist wie oben ausführlich dargestellt gegeben. Auch ist das für den vorzubereitenden Schadensersatzanspruch nach § 97 Abs. 2 UrhG notwendige Verschulden gegeben. Insoweit sind im Urheberrecht strenge Sorgfaltsanforderungen zu stellen. Hier hat die Beklagte mindestens fahrlässig gehandelt, indem sie sich unstreitig ohne jegliche Kontrolle des B Angebots „angehängt“ hat. Ein solches Verhalten lässt die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, die es gebietet, im Zweifel die Rechtekette vom Urheber bis zum Nutzer nachzuvollziehen und im Zweifel eine Nutzung fremder Schutzgegenstände zu unterlassen, außer Acht.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die mitgeteilten Informationen in der Klageerwiderung hinreichend für die Erfüllung des Auskunftsanspruchs gem. § 362 Abs. 1 BGB sein dürften. An dieser Auffassung hält die Kammer weiterhin fest. Die Beklagte hat mit Erfüllungswillen alle im Antrag begehrten Informationen erteilt. Hinweise auf eine unvollständige oder nicht ernsthafte Auskunft bestehen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">4. Schadensersatzfeststellung, Antrag zu 4.)</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat im Einklang mit den obigen Ausführungen auch einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte aus §§ 97 Abs. 2, 19a, 72 UrhG. Das notwendige Verschulden liegt wie oben zu Ziffer 3.) bereits ausgeführt vor.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">III. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1 S. 1, 709 S. 1 und 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">IV. Der Streitwert wird auf 15.600,00 EUR festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Antrag 1.) = 12.000,- EUR</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Antrag 2.) ohne Ansatz nach § 4 ZPO</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Antrag 3.) = 600,- EUR</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Antrag 4.) = 3000,- EUR</p>
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<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="h2 absatzLinks">T a t b e s t a n d</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten darüber, ob der Bescheid über den Verspätungszuschlag zur Körperschaftsteuer 2019 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (VdN) ergangen und der VdN aufzuheben ist.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Körperschaftsteuerbescheid vom 02.12.2021 setzte der Beklagte gegenüber der Klägerin die Körperschaftsteuer 2019 in Höhe von … €. Dabei schätzte er wegen Nichtabgabe der Körperschaftsteuererklärung die Besteuerungsgrundlagen und ging von einem steuerlichen Jahresüberschuss in Höhe von … € aus. Zudem setzte der Beklagte einen Verspätungszuschlag in Höhe von 300 € fest (12*Mindestbetrag von 25 €). Der Bescheid erging nach § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gegen den Bescheid über den Verspätungszuschlag zur Körperschaftsteuer 2019 legte die Klägerin am 05.01.2022 Einspruch ein. Dabei wies die Klägerin darauf hin, dass sich der Einspruch auch gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags richte. Zur Begründung trug die Klägerin vor, dass sie im Jahr 2019 keine Umsätze und Erträge erzielt habe. Die Steuererklärung werde kurzfristig nachgereicht.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Einspruchsentscheidung vom 09.03.2022 wies der Beklagte die Einsprüche der Klägerin wegen Gewerbesteuermessbetrag 2019, gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2019, Körperschaftsteuer 2019, Verspätungszuschlag zur Körperschaftsteuer 2019, gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 27 und 28 KStG zum 31.12.2019 und gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer zum 31.12.2019 als unbegründet zurück. Zugleich führte die Einspruchsentscheidung aus:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks"><em>„Die Bescheide ergehen weiterhin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abgabenordnung.</em></p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks"><em>Der Körperschaftsteuerbescheid 2019 ergeht weiterhin vorläufig gem. § 165 der Abgabenordnung hinsichtlich der im angefochtenen Bescheid aufgeführten Punkte.“</em></p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Der Bescheid über den Verspätungszuschlag dürfe nicht unter dem VdN ergehen. Die selbständige Anfechtung der Nebenbestimmung sei daher zulässig. Die Einspruchsentscheidung unterscheide nicht im Hinblick auf die dort zusammengefassten Bescheide, sondern tenoriere, dass diese unter dem VdN stünden. Dies lasse zumindest den Schluss zu, dass im Rahmen der Einspruchsentscheidung auch der Verspätungszuschlag unter VdN gesetzt werden sollte. Der Beklagte habe die Folgen des „Tenorierungsproblems“ zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">den Bescheid über den Verspätungszuschlag zur Körperschaftsteuer 2019 vom 06.01.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.03.2022 dahingehend zu ändern, dass der VdN aufgehoben wird;</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Besteuerungsgrundlagen seien wegen Nichtabgabe der Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuererklärungen geschätzt worden. Die Schätzung sei (wie üblich) unter dem VdN erfolgt. Im Rahmen dieser Steuerbescheide sei der Verspätungszuschlag zur Körperschaftsteuer zu Recht in Höhe von 300 € festgesetzt worden. Dieser Verbund sei üblich und entspreche § 152 Abs. 11 AO. Mit diesem Verbund sei aber die Festsetzung des Verspätungszuschlags nicht unter VdN gestellt worden. Auch durch die Formulierung „die Bescheide ergehen weiterhin unter dem VdN“ in der Einspruchsentscheidung sei kein Vorbehalt der Nachprüfung für den Verspätungszuschlag aufgenommen worden. Dies sei gem. § 164 Abs. 1 AO auch nicht möglich. Mit der Bezeichnung werde vielmehr deutlich, dass bisherige VdN bestehen blieben. Sollte irrtümlich von einem Vorbehalt der Nachprüfung für die Festsetzung des Verspätungszuschlags ausgegangen werden, so fehle es nach § 350 AO an der erforderlichen Beschwer. Ein irrtümlich angenommener VdN sei als unselbständige Nebenbestimmung nicht separat angreifbar. Gründe für eine Änderung des Verspätungszuschlags seien weder vorgetragen worden noch erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 25.05.2022 hat der Senat den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">In der Sache hat am 22.08.2022 eine mündliche Verhandlung vor dem Einzelrichter stattgefunden, auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="h2 absatzLinks">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">1. Es fehlt bereits an der für ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin erforderlichen Beschwer.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Einzelrichter ist der Auffassung, dass der Bescheid über den Verspätungszuschlag zur Körperschaftsteuer 2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung schon nicht unter dem VdN ergangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen zum VdN gem. § 164 Abs. 1, 2 AO gelten nur für Steuern (§ 3 Abs. 1 AO), nicht aber für steuerliche Nebenleistungen i.S.v. § 3 Abs.4 AO, zu denen auch der Verspätungszuschlag gehört (§ 3 Abs. 4 Nr. 2 AO).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Bei der Verbindung der Festsetzung eines Verspätungszuschlags mit einer Steuerfestsetzung unter VdN erstreckt sich der Vorbehalt nicht auf die Festsetzung des Verspätungszuschlags (BFH, Urt. vom 14.06.2000 - X R 56/98, BStBl II 2001, 60, siehe hier insbesondere die Rdn. 25 der Urteilsgründe; Schober, in: Gosch, AO, § 152 Rdn. 133).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">2. Selbst wenn man - entgegen der unter Ziff. 1 dargelegten Ansicht des Einzelrichters - davon ausginge, dass sich der VdN auch auf den Verspätungszuschlag erstreckte, wäre die Klage unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Zwar ist ein Vorbehaltsbescheid auch dann anfechtbar, wenn sich der Steuerpflichtige nur durch den Vorbehalt beschwert fühlt (BFH-Urteil vom 11.04.2018 – X R 39/16, BFH/NV 2018, 1075, Rdn. 21). Eine auf die isolierte Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung gerichtete Anfechtungsklage ist jedoch unzulässig, weil der Vorbehalt der Nachprüfung eine unselbständige Nebenbestimmung darstellt, die nur zusammen mit der Steuerfestsetzung angegriffen werden kann (BFH-Urteil vom 30.10.1980 – IV R 168-170/79, BStBl. II 1981, 150; BFH-Urteil vom 11.04.2018 – X R 39/16, BFH/NV 2018, 1075, Rdn. 21; Oellerich, in: Gosch, AO, § 152 Rdn. 143). Bei einer unselbständigen Nebenbestimmung kann mit der Anfechtungsklage nur die Aufhebung des Verwaltungsaktes samt Nebenbestimmung, nicht aber der Fortbestand ohne Nebenbestimmung erreicht werden (Klein/Rüsken, AO, § 164 Rdn. 55 m.w.N.). Will der Steuerpflichtige die gerichtliche Aufhebung des VdN erreichen, müsste er daher auf Aufhebung der Steuerfestsetzung insgesamt und auf Verpflichtung der Behörde zum Erlass eines im Betrag identischen, aber vorbehaltlosen Bescheides klagen (Klein/Rüsken, AO, § 164 Rdn. 55).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Im Streitfall hat die Klägerin eine unzulässige Anfechtungsklage gegen den VdN als unselbständige Nebenbestimmung erhoben. Sie hat ausdrücklich dargelegt, dass sie den VdN als Nebenbestimmung anfechten will.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">3. Der Einzelrichter weist ergänzend darauf hin, dass es nach seiner Auffassung auch an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Klage fehlt und die Klage auch aus diesem Grunde unzulässig ist. Ein anderes Interesse als die Erstattung der Kosten für die Rechtsverfolgung ist – insbesondere vor dem Hintergrund der Geltung des § 152 Abs. 12 AO – nicht erkennbar (vgl. auch FG Münster, Beschluss vom 30.05.2021 – 15 V 408/22, EFG 2022, 1211 mit Anm. Kessens).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">III. Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor. Die Entscheidung folgt den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung und beruht im Übrigen auf den Umständen und Feststellungen des Einzelfalles.</p>
|
346,550 | ag-dusseldorf-2022-08-22-665-m-86722 | {
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} | 665 M 867/22 | 2022-08-22T00:00:00 | 2022-09-14T10:01:31 | 2022-10-17T11:10:07 | Beschluss | ECLI:DE:AGD:2022:0822.665M867.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>In der Zwangsvollstreckungssache</p>
<p>der Stadt I, Stadtkasse,</p>
<p>Gläubigerin,</p>
<p>gegen</p>
<p>Herrn Q,</p>
<p>Schuldner,</p>
<p>wird der Haftbefehlsantrag der Gläubigerin vom 26.04.2022 auf ihre Kosten zurückgewiesen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Gläubigerin beantragt mit dem Vollstreckungsauftrag vom 26.04.2022 die Abnahme der Vermögensauskunft durch den Gerichtsvollzieher und, nachdem der Schuldner zum anberaumten Termin unentschuldigt nicht erschienen war, den Erlass eines Haftbefehls gem. §§ 5a Abs. 4 VwVG NRW i.V.m. §§ 802a Abs. 2, Nr. 2, 802c, 802g ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Auftrag wurde auf einem sicheren Übermittlungsweg (sÜw), dem besonderen Behördenpostfach (beBPo) übermittelt und ist weder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) der verantwortenden Person versehen, noch einem (seinerseits mit qeS versehenen) Beglaubigungsvermerk.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Haftbefehl kann nicht ergehen, weil kein formell ordnungsgemäßer Haftantrag als Titelersatz vorliegt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Denn er trägt entgegen § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW weder eine Unterschrift noch ist er mit einem Beglaubigungsvermerk versehen, welche beide jeweils aufgrund der gem. § 130d ZPO vorgeschriebenen elektronischen Übermittlung nur noch mittels eine qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) der verantwortlichen (bzw. beglaubigenden) Person erfolgen können.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Vollstreckungsauftrag (jedenfalls dann, wenn er mit einem Haftantrag verbunden ist) stellt nur dann einen wirksamen Titel dar, wenn er unterschrieben oder mit einem Beglaubigungsvermerk versehen ist.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Es gilt für die hier gewählte ZPO-Vollstreckung nach dem VwVG-NRW § 5a Abs. 4 VwVG-NRW (Hervorhebung auch in nachfolgenden Zitaten durch das Gericht):</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">(4) Beauftragt die Vollstreckungsbehörde den Vollstreckungsbeamten der Justizverwaltung mit der Vollstreckung, tritt die <span style="text-decoration:underline">schriftliche Erklärung der Vollstreckungsbehörde über die Vollstreckbarkeit, die Höhe und den Grund der Forderung gegenüber dem Vollstreckungsbeamten der Justizverwaltung an die Stelle der Übergabe der vollstreckbaren Ausfertigung gemäß § 802a Absatz 2 der Zivilprozessordnung</span>. <span style="text-decoration:underline">Wird der Vollstreckungsauftrag mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellt, ist der Auftrag mit einem Dienstsiegel und dem Namen des für die Beauftragung zuständigen Bediensteten zu versehen. Einer Unterschrift bedarf es nicht</span>. Dem Vollstreckungsauftrag kann eine Anlage beigefügt werden, aus der sich die einzelnen Forderungen zur Gesamtforderung des Vollstreckungsauftrages dem Grund und der Höhe nach sowie die jeweiligen Fälligkeiten ergeben. Die Bescheinigung der Vollstreckbarkeit erfolgt auf dem Vollstreckungsauftrag selbst. <span style="text-decoration:underline">Wird der Vollstreckungsauftrag mit einem Antrag auf Erzwingungshaft verbunden, ist er zu unterschreiben oder mit einem Beglaubigungsvermerk zu versehen.</span></p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">(§ 5a VwVG NRW in der Fassung vom 08.07.2016)</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Wählt die Behörde die Vollstreckung nach § 5a Abs. 4 VwVG-NRW, so stellt mithin der Vollstreckungsauftrag gem. S. 2 nach Maßgabe der Sätze 3 und 6 den Titelersatz dar, also den Ersatz für die sonst im Rahmen der Zwangsvollstreckung nach der ZPO stets (von Ausnahmen gem. §§ 754a, 829a ZPÜO außerhalb des Haftbefehlsverfahrens abgesehen) erforderliche, vollstreckbare Ausfertigung.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dabei lassen S. 3 und 4 bei Erstellung mit Hilfe automatischer Einrichtungen (teilweise maschinelle Bearbeitung kann dabei genügen, BGH B. v. 21.07.2021 – VII ZB 34/20 Rn 19 m.N.) ein Unterschriftserfordernis entfallen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Anders verhält es sich mit dem Haftantrag. Dieser ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW „zu unterschreiben oder mit einem Beglaubigungsvermerk zu versehen“, soll er seine in S. 2 begründete Funktion als Titelersatz erfüllen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die aktuelle, differenzierte Regelung des § 5a Abs. 4 S. 2-6 VwVG wurde erst mit G. v. 08.07.2016 (GV.NRW 2016 Nr. 22 S. 539 ff.) eingeführt.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Diese Neuerungen wurden wie folgt begründet (LT-NRW Drs. 16/11845 S. 32 = <span style="text-decoration:underline">https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-11845.pdf;jsessionid=77CB48129305B2A34B3F01E06B3AABFA</span> )</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">„…Zum anderen wird in den Absatz 4 wegen eines bestehenden praktischen Bedürfnisses eine Regelung zur Erteilung von Vollstreckungsaufträgen im Massendruck mit Hilfe automatischer Einrichtungen ohne Unterschriftserfordernis aufgenommen. …. Auch bei einem mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellten Vollstreckungsauftrag ist ein Dienstsiegel (im Gegensatz zur Unterschrift) künftig weiterhin erforderlich. Die Regelung eröffnet hierbei im Hinblick auf die Weiterentwicklung und den Ausbau der elektronischen Verwaltung auch die Möglichkeit der Verwendung eines elektronischen Dienstsiegels. Bereits § 6 Absatz 3 Satz 3 der Justizbeitreibungsordnung sieht vor, dass ein Vollstreckungsauftrag an den Vollziehungsbeamten im Massenverfahren erstellt werden kann und ohne Unterschrift gültig ist. Allerdings ist hierbei auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu berücksichtigen. <span style="text-decoration:underline">Der BGH hat in seinem Beschluss vom 18. Dezember 2014 (I ZB 27/14) entschieden, dass bei der Vollstreckung von Gerichtskosten nach der Justizbeitreibungsordnung der Vollstreckungsauftrag an den Gerichtsvollzieher, sofern der Auftrag mit einem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls … kombiniert wird, im Original unterschrieben sein muss.</span> Alternativ genügt die Wiedergabe des Namens des Verfassers in Maschinenschrift, wenn er mit einem Beglaubigungsvermerk versehen ist. Zur Begründung stellt der BGH darauf ab, dass die Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls unter dem richterlichen Vorbehalt steht. Der Richter muss die Möglichkeit haben, die entscheidungsrelevanten Tatbestände zu prüfen. Wird der Haftbefehl mit einem sog. Kombiauftrag beantragt, kann der Richter nicht sicher sein, ob die Voraussetzungen für den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls im Einzelfall von der Vollstreckungsbehörde geprüft wurden. Schließlich legt die Vollstreckungsbehörde mit ihrem Vollstreckungsauftrag keinen der Vollstreckung zugrunde liegenden Titel vor. Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung sieht die neue Regelung in § 5a Absatz 4 VwVG NRW vor, dass die Behörden das maschinelle Massendruckverfahren ohne Unterschrift nur dann nutzen können, wenn es sich um die gesetzlichen Befugnisse des Vollstreckungsbeamten der Justizverwaltung im Rahmen der Abnahme der Vermögensauskunft handelt. <span style="text-decoration:underline">Die Beantragung des Haftbefehls bedarf dagegen einer Originalunterschrift oder – wie im Beschluss des BGH alternativ dargestellt – eines Beglaubigungsvermerkes neben der Namenswiedergabe</span>.“</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Auch die Gesetzesbegründung geht mithin davon aus, dass die Originalunterschrift ein materielles Wirksamkeitserfordernis darstellt, um dem „<em>im Original unterschriebenen</em>“ Antrag auch Titelqualität im Haftbefehlsverfahren zu verleihen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Gesetzesänderung diente der Umsetzung der zitierten BGH-Rechtsprechung, welche wiederum betont hat, dass sich das besondere Schriftformerfordernis aus der titelersetzenden Funktion des Vollstreckungsauftrages ergibt (BGH B. v. 18.12.2014 – I ZB 27/14 Rn 16):</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><em>„Der Vollstreckungsauftrag zur Beitreibung von Gerichtskosten <span style="text-decoration:underline">muss schriftlich gestellt werden, weil er den schriftlichen Schuldtitel ersetzt</span>. Da dieser Antrag die alleinige Voraussetzung für die Anordnung von staatlichem Zwang bis hin zu einer Freiheitsentziehung und damit die einzige Urkunde ist, die der Gerichtsvollzieher und das Vollstreckungsgericht von der Gerichtskasse erhalten, dürfen keine Zweifel an seiner Echtheit bestehen.“</em></p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Aus diesen Erwägungen folgt auch der dortige amtliche Leitsatz:</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">„2. Vollstreckungsaufträge der Gerichtskasse <span style="text-decoration:underline">müssen schriftlich erteilt werden und eine Unterschrift sowie das Dienstsiegel tragen</span>. Dabei genügt die Wiedergabe des Namens des Verfassers in Maschinenschrift, wenn er mit dem Beglaubigungsvermerk versehen ist.“</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die zum 01.01.2022 in Kraft getretenen Regelungen der §§ 130a, 130d ZPO beruhen auf dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs v. 10.10.2013 (BGBl. I S. 3786) und waren bereits zum Zeitpunkt der zitierten BGH-Entscheidung bekannt, aber auch und erst Recht bei der Einführung von §5a Abs. 4 S. 2-6 VwVG-NRW. Schließlich hat der Landesgesetzgeber die Vorschrift seitdem auch mit der jüngsten Änderung gem. G. v. 23.06.2021 unverändert gelassen, woraus zu schließen ist, dass keine weitere Vereinfachung mehr gewünscht war, wie sie möglicherweise die Einführung des besonderen Behördenpostfachs nach § 6 ff. ERVV ermöglichen könnte.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Zu diesem Zeitpunkt war § 130a ZPO bereits in Kraft und die Verpflichtung nach § 130d ZPO stand unmittelbar bevor. Wäre der Gesetzgeber der Auffassung gewesen, die Form des § 130a Abs. 3 S. 1 2. Alt. ZPO wäre auch als Titelersatz ausreichend, hätte nichts näher gelegen, als die entsprechende Regelung abzuschaffen, weil sie mit der Pflicht zur elektronischen Übermittlung und den hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln (qeS oder eben auch nur sÜw) überflüssig geworden wäre.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Mit der hier gewählten Übermittlung des Vollstreckungsauftrages über ein besonderes Behördenpostfach (beBPo) als sicheren Übermittlungsweg i.S.d. § 130a Abs. 3, 4 ZPO (sÜw), jedoch ohne qeS ist die Gläubigerin nur den prozessualen Anforderungen an eine formell ordnungsgemäße Übermittlung eines Antrages nach §§ 130d, 130a ZPO gerecht geworden.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Sie genügte damit jedoch nicht den erweiterten, materiellen Anforderungen des § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG an einen titelersetzenden Auftrag.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dabei gilt es zunächst, zwischen den prozessualen und etwa weitergehenden Anforderungen des materiellen Rechts zu differenzieren:</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Es ist anerkannt, dass die Mindesterfordernisse des § 130a ZPO nicht verschärfte Schriftformerfordernisse aus dem materiellen Recht ersetzen (Zöller/Greger ZPO 34. Aufl. § 130a Rn 2; Streyl in Schmidt-Futterer MietR, 15. Aufl. § 568 Rn 29; ArbG Stuttgart B. v. 25.02.22 – 4 Ca 688/22; Kießling in Saenger ZPO 9. Aufl. § 130a Rn 13; Fritsche in MüKo ZPO 6. Aufl. § 130a Rn 3; D. Müller in Ory/Weth jurisPK ERV § 129 ZPO Rn 14 und nicht zuletzt BT-Drs. 17/12634, 25: <em>„Materiell-rechtliche, weitergehende Formerfordernisse bleiben jedoch unberührt.“</em>).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dies bedeutet umgekehrt, dass eine nach Maßgabe der §§ 130d, 130a ZPO übermittelte Erklärung zwar in prozessualer Hinsicht formell ordnungsgemäß ist und die prozessualen Wirkungen herbeiführen kann. Sollen mit ihr aber auch materielle Wirkungen außerhalb des Prozessrechts entfaltet werden, so müssen auch etwaige Schriftformerfordernisse außerhalb des Prozessrechts beachtet werden und ist die Erklärung in materieller Hinsicht unwirksam, wenn sie nicht die für sie geltenden materiellen Formerfordernisse erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Wird außerhalb der ZPO Schriftform verlangt, gelten grundsätzlich die Regelungen des BGB entsprechend, sodass grundsätzlich nach § 126 Abs. 1 BGB eigenhändig vom Aussteller mit Namensunterschrift zu unterzeichnen ist. Ersatzweise genügt gem. § 126a BGB die elektronische Form, bei der <em>„der Aussteller der Erklärung dieser seinen Namen hinzufügen und das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen</em>“ muss. Ersatzweise kann auch eine Beglaubigung genügen, bei der in Papierform der Beglaubigungsvermerk handschriftlich unterzeichnet (vgl. z.B. Dörndorfer in BeckOK ZPO § 169 Rn 3) und gesiegelt werden muss. Alternativ ermöglicht § 169 ZPO in Abs. 4 die elektronische Form bei der die „<em>Beglaubigung […] mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle</em>“ erfolgen muss.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die außerhalb des Prozessrechts verlangte Schriftform kann bei elektronischer Übermittlung mithin nur mittels qualifizierter Signatur (qeS) der für den Antrag (oder dessen Beglaubigung) verantwortlichen Person gewahrt werden.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Allerdings ist anerkannt, dass § 126 BGB im Bereich des öffentlichen Rechts grundsätzlich keine Anwendung findet. Vielmehr richten sich die Formerfordernisse nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen (öffentlich-rechtlichen) Vorschrift (vgl. MüKo/Einsele BGB 9. Aufl. § 126 Rn 6; BGH Beschl. v. 12.11.2019 – EnVR 108/18, BeckRS 2019, 32896, beck-online Rn 19.).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Sinn und Zweck der hier einschlägigen Vorschrift des § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW erschließt sich aus ihrem Wortlaut nebst Gesetzesbegründung und der BGH-Rechtsprechung, mit der die Vorschrift nach der Gesetzesbegründung den Anforderungen des BGH an titelersetzende Zwangsvollstreckungsaufträge, die einen Haftbefehlsantrag enthalten, gerecht werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Demnach sind Vollstreckungsaufträge nicht nur „einfach-schriftlich“ zu stellen, sondern sie müssen mit den Worten des BGH a.a.O. „schriftlich erteilt werden <strong><span style="text-decoration:underline">und</span></strong> eine Unterschrift <span style="text-decoration:underline">sowie</span> das Dienstsiegel tragen“. Die Schriftform wird hier also konkretisiert durch das zusätzliche Erfordernis einer Unterschrift und des Dienstsiegels. Da sich die Entscheidung des BGH mit dem Justizverwaltungsrecht befasst, sind seine Überlegungen ohne weiteres auf das hier in Rede stehende, allgemeine Verwaltungsvollstreckungsrecht zu übertragen (wie es ja auch ausweislich der Gesetzesbegründung geschehen ist).</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Gesetzesbegründung formuliert dementsprechend a.a.O. wie folgt: „Die Beantragung des Haftbefehls bedarf dagegen einer <strong><span style="text-decoration:underline">Original</span></strong><span style="text-decoration:underline">unterschrift“</span> (das Siegel ist ohnehin schon nach S. 2 erforderlich).</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Diese formstrenge Sichtweise fügt sich nahtlos in die Regelungen der §§ 704, 794 ZPO ff. ein. Die dort genannten Titel bedürfen (ggf. über § 795 ZPO), von expliziten Ausnahmen abgesehen (z.B. § 796 ZPO), einer Vollstreckungsklausel, §§ 724 ff., 750 ZPO. Diese ist gem. § 725 ZPO „zu unterschreiben“. Der Vollstreckungsklausel entspricht der Sache nach die Vollstreckbarerklärung i.S.d. § 5a Abs. 4 S. 1 VwVG NRW. Auch diese systematische Betrachtung und der Vergleich mit den sonstigen nach der ZPO zulässigen Vollstreckungstiteln zeigen, dass bei der hier gewählten ZPO-Vollstreckung der titelersetzende Vollstreckungsauftrag vergleichbar strenge Formanforderungen erfüllen soll. Hier ist ergänzend noch auf die Sonderregelungen der §§ 754a, 829a ZPO zu verweisen, die nur außerhalb des Haftbefehlsverfahrens und auch dort nur auf Vollstreckungsbescheide bis zu einer Forderung von 5.000,00 € beschränkt, eine Einreichung als elektronisches Dokument und eben nicht in Ausfertigung gestatten.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die der somit zu fordernden „Originalunterschrift“ (bzw. dem „im Original unterschrieben[en]“ Dokument) gleichwertige elektronische Form kann nach Auffassung des Gerichts nur durch qeS gewahrt werden.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich aufgrund des oben dargestellten, strengen Schriftformerfordernisses aus der entsprechend anwendbaren Regelung des § 126a BGB.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Hierfür spricht ebenfalls der Rechtsgedanke der § 3a Abs. 2 S. 1, 2 VwVfG und § 37 Abs. 2 S. 2 VwVfG (bzw. jeweils LVwVfG NRW). Soweit dort alternative, sichere Verfahren angeboten werden, ist festzustellen, dass § 37 Abs. 2 S. 3 VwVfG nur das De-Mail-Verfahren zulässt und soweit ersichtlich keine Verordnung nach § 3a Abs. 2 S. 4 Nr. 4 VwVfG erlassen wurde. Die ERVV beruht auf den dort im einzelnen aufgeführten Ermächtigungsgrundlagen der Prozessordnungen, des FamFG, der GBO und SchRegO, nicht aber auf dem VwVfG; sie betrifft auch nur die Übermittlung elektronischer Dokumente an Gerichte und regelt mithin nicht die materiell-rechtliche Form.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die qeS als Äquivalent ergibt sich ferner auch aus der Grundregelung des Art. 25 eIDASVO.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Sie folgt schließlich auch aus einem Umkehrschluss zu §§ 371a Abs. 3 S. 2, 371b S. 2, 437 ZPO. Diese sind gemeinsam mit § 130a ZPO eingeführt bzw. angepasst worden. Dort ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen die Echtheitsvermutung für behördliche elektronische Dokumente gilt. Da der BGH in der schon zitierten Entscheidung vom 18.12.2014 unter Rn 16 verlangt, das „keine Zweifel“ an der Echtheit des Titelersatzes bestehen dürfen, stellt die Echtheitsvermutung des § 437 ZPO das korrespondierende Instrument zur zweifelsfreien Feststellung dar. Soll die Echtheitsvermutung gelten, verlangen §§ 371a Abs. 3 S. 2, 371b S. 2 ZPO jeweils eine qeS, selbst bei Nutzung einer absenderbestätigten De-Mail. Diese ist außerdem der in diesen Regelungen einzig zugelassene sÜw. Eine Öffnungsklausel für im Verordnungswege einzuführende, vergleichbare Übermittlungswege, enthalten diese Vorschriften, anders als der mit gleichem Gesetz eingeführte § 130a Abs. 4 Nr. 3 ZPO, nicht. Die für die Übermittlung prozessualer Erklärungen eingeführte „Technikoffenheit“ hat der Gesetzgeber für das Beweisrecht nicht übernommen. Da es sich um Sonderregelungen handelt, ist eine analoge Anwendung ausgeschlossen. Die Regelungen sind im Übrigen auch anders als § 130a ZPO und trotz Einführung der ERRV unverändert geblieben, sodass namentlich eine Anpassung an andere sichere Übermittlungsarten i.S.d. § 130a Abs. 4 ZPO offenbar nicht gewollt war.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen geht das Gericht davon aus, dass eine Übermittlung auf einem sÜw mit nur einfacher Signatur der verantwortlichen Person zwar den Anforderungen des § 8 ERRV genügen mag, weil nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG (vgl. nur B. v. 12.10.2021 – 8 C 4/21 m.N.; so auch OVG Münster B. v. 27.04.22 – 19 B 2003/21) eine Identität von übermittelnder und verantwortlicher Person nicht erforderlich ist. Den besonderen Ansprüchen an die Ernstlichkeit und Authentitizität der titelersetzenden Erklärung im Sinne der BGH-Rechtsprechung wird es aber nach Auffassung des Gerichts nicht gerecht, wenn eine Erklärung mit einfacher Signatur von einer nicht identifizierbaren und damit womöglich nicht mit der verantwortlichen Person identischen, weiteren Person übermittelt wird. Mit der Unterschrift unter einen Vollstreckungsauftrag gibt die verantwortliche Person zu erkennen, dass sie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Vollstreckbarkeit der Forderung geprüft hat, sich entschlossen hat, die Zwangsvollstreckung zu beauftragen und damit die Verantwortung für die Schaffung des Titels und die Beauftragung übernimmt. Diesen Prozess, also die Legitimation der Vollstreckungsgrundlage, kann das Vollstreckungsgericht bei einem unterschriebenen bzw. mit qeS versehenen Auftrag unmittelbar und eindeutig auf die verantwortliche Person zurückführen, weil ihm in Papierform oder elektronisch das Dokument „im Original unterschrieben“ vorliegt. Dies ist bei einer Übermittlung auf einem sÜw nicht der Fall, weil die einfache Signatur eben nicht eindeutig und ausschließlich der genannten Person mit dem nötigen Erklärungswert zugeordnet werden kann und die Übermittlung als solche in dem Sinne anonym bleibt, als eine für die Übermittlung als zweiten Teilakt der „Schriftformersetzung“ (i.S.d. § 130a ZPO) verantwortliche Person nicht zu erkennen ist. Dürfen die verantwortliche Person und die übermittelnde Person auseinanderfallen, so genügt es sogar, wenn nur die übermittelnde Person Zugangsberechtigte i.S.d. § 8 ERVV ist. Die aus der einfachen Signatur hervorgehende Person hingegen muss nicht zu diesem Personenkreis gehören.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Für das Gericht als Empfänger kann anhand der über das beBPo übermittelten Dokumente nur geschlossen werden, dass eine unbekannte Person wohl zum Kreis der Zugangsberechtigten gehört und ein Dokument mit einer einfachen Signatur übermittelt hat, ohne das ersichtlich und nachprüfbar ist, dass dieses Dokument Resultat eine Prüfung und Entschließung durch den zuständigen Vollstreckungsbeamten ist, ihm Titelqualität zu geben.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Im Ergebnis hat dieser Vorgang keine nennenswert höhere Qualität in Bezug auf die Authentizität des Titels, als die von § 5a Abs. 4 S. 3 VwVG-NRW vorgesehene Erstellung „mit Hilfe automatischer Einrichtungen“ bei der Dienstsiegel und Name ausreichen, welche aber gerade nicht für den Haftantrag ausreichend ist. Beide Vorgänge haben eine vergleichbare „Anonymität“ gemeinsam.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Selbst gegenüber der nach der o.g. Rechtsprechung des BGH ebenfalls zulässigen beglaubigten Abschrift bleibt die Übermittlung auf dem sÜw zurück, weil keine Person erkennbar ist, die die Gewähr für die Übereinstimmung mit dem Original übernimmt. Die nach § 8 ERRV befugte Person muss kein zur Beglaubigung befugter Urkundsbeamter sein.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auch insoweit ist eine erneute Betrachtung der Gesetzesbegründung zu § 130a ZPO angezeigt. Dort (BtDrs. 17/12634 S. 25) heißt es nämlich im Grundsatz:</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">„…Zudem ist <span style="text-decoration:underline">eine Signatur erforderlich, um zu dokumentieren, dass die vom sicheren Übermittlungsweg als Absender ausgewiesene Person mit der das elektronische Dokument verantwortenden Person identisch ist</span>. Ist diese Identität nicht feststellbar, ist das elektronische Dokument nicht wirksam eingereicht.“</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">In der weiteren Gesetzesbegründung (S. 26) wird indes klargestellt, dass diese Identität bei juristischen Personen (und damit auch bei Behörden) unter bestimmten Bedingungen (N.B. in Abgrenzung zu § 371a ZPO) nicht erforderlich ist, wenn sichergestellt wird, dass „<em>die Möglichkeit einer sicheren Anmeldung nur für befugte Personen besteht</em>.“ Sodann aber heißt es: „<em>Sie [die juristische Person] kann sich nicht nachträglich darauf berufen, die für sie sicher angemeldete Person sei nicht handlungsbefugt und muss sich die Erklärungen dieser Person grundsätzlich zurechnen lassen.</em>“. Hieraus wird deutlich, dass es für die Frage der bloßen prozessualen Übermittlung einer Erklärung reichen soll, dass das Vertrauen des Rechtsverkehrs auf die Zurechnung der Erklärung geschützt ist, sich die Behörde also an Erklärungen unzuständiger Personen festhalten lassen muss. Dies ist aber nicht Sinn und Zweck des Unterschriftserfordernisses im Falle titelersetzender Erklärungen. Es reicht nicht, dass der Haftantrag im Zweifel der Behörde zuzurechnen ist. Er muss auch zweifelsfrei echt sein in dem Sinne, dass er nach außen erkennbar auf einer Prüfung und Entschließung durch die verantwortliche, natürliche Person beruht.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Damit genügt der Form des § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW nur ein Antrag mit qeS.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">d)</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Diese Anforderungen sind hier nicht erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der Vollstreckungsauftrag ist hier lediglich über den sÜw, hier das beBPo der Gläubigerin, übermittelt worden. Der (gem. § 130d ZPO zwingend) elektronisch übermittelte Antrag ist aber nicht mit einer qeS versehen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Der vorliegende Vollstreckungsauftrag genügt damit zwar den prozessualen Anforderung des § 130a ZPO (vgl. BVerwG B. v. 12.10.2021 – 8 C 4/21 m.N.; so auch OVG Münster B. v. 27.04.22 – 19 B 2003/21 zum vergleichbaren § 55a VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Er dürfte, soweit er an den Gerichtsvollzieher auf Abnahme der Vermögensauskunft gerichtet ist, bei hier unterstellter, (evtl. auch nur teilweiser, s.o.) automatisierter Erstellung mit einfacher Signatur und Siegel über das beBPo als sicheren Übermittlungsweg i.S.d. § 130a Abs. 3, 4 ZPO zugleich auch den materiellen Anforderungen an einen Titelersatz gerecht werden, wie sie sich aus § 5a Abs. 4 S. 2, 3 VwVG-NRW ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Er wird aber nicht den weitergehenden Anforderungen des materiellen Rechts in § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW für Haftanträge gerecht.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Eine bloß eingescannte Unterschrift im elektronischen Dokument genügt nicht, schon gar nicht die bloße Namenswiedergabe, selbst wenn sie von einem Siegel (als eingebettete Bilddatei) begleitet wird (arg. e. § 126a BGB, § 169 Abs. 4 ZPO und § 371b ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Der hier gewählte sÜw ist auch nicht etwa deshalb ausreichend, weil nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG (vgl. nur B. v. 12.10.2021 – 8 C 4/21 m.N.; so auch OVG Münster B. v. 27.04.22 – 19 B 2003/21) bei Übermittlung auf einem sÜW, hier in Form des besonderen Behördenpostfachs (beBPo) i.S.d. §§ 6 ff. ERVV, nur eine einfache Signatur der verantwortlichen Person und wohl keine Identität zwischen übermittelnder und absendender Person erforderlich ist. Denn diese Rechtsprechung befasst sich nur mit § 55a VwGO (der inhaltlich mit § 130d ZPO übereinstimmt), verhält sich aber nicht zu erweiterten Schriftlichkeitserfordernissen außerhalb des Prozessrechts.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Damit fehlt es an einem formell ordnungsgemäßen Titel (bzw. titelersetzenden Vollstreckungsauftrag), sodass Haftbefehl nicht ergehen kann.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls unzulässig wäre die vielfach noch geübte, parallele Einreichung eines konventionellen Antrags in Papierform. Während es bei gesonderten Titelurkunden (z.B. Vollstreckungsbescheide, Urteilsausfertigungen, Leistungsbescheiden i.S.d. § 66 Abs. 4 SGB X) nach geltendem Recht (jedenfalls für den Haftantrag, vgl. insoweit auch die Sonderregelungen der §§ 754a, 829a ZPO) eine unvermeidbare Notwendigkeit ist, diese als Papierausfertigung einzureichen, verhält sich dies im Falle des § 5a Abs. 4 VwVG anders. Denn der Vollstreckungsauftrag mit den dort geregelten Formerfordernissen ist zugleich die prozessuale Erklärung bzw. der prozessuale Antrag.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Verlangt nunmehr § 130d ZPO die elektronische Übermittlung des Antrages, kann der Haftantrag nur noch elektronisch übermittelt werden und muss das Unterschriftserfordernis (oder die Beglaubigung) mit elektronischen Mitteln erfüllt werden. Hierzu steht aus den genannten Gründen nur die qeS zur Verfügung, nicht der süW.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Unzureichend ist daher auch die Kombination aus zwei unzulässigen Anträgen. Die unzureichende elektronische Übermittlung ohne qeS (entgegen § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW) zusammen mit der ebenfalls unzureichenden Übermittlung des Originals in Papierform (entgegen § 130d ZPO) ergeben nicht etwa in der Summe einen zulässigen Antrag.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">4.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Das – was letztlich offenbleiben kann, aber häufig angeführt wird – die verantwortlichen Mitarbeiter nicht mit den erforderlichen technischen Mitteln für eine qeS ausgestattet sind, oder das beBPo software-seitig nicht mit einer Signatursoftware verknüpft ist, befreit die Behörden nicht vom Zwang zur qeS.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Denn es handelt sich insoweit um rein organisatorische Defizite bei der Umsetzung der digitalen Verwaltung im Rahmen der derzeitigen Gesetze.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Mit der hier vertretenen Auffassung wird den Behörden auch nicht etwa die Vollstreckung unmöglich gemacht. Es bleibt weiterhin der Weg der Verwaltungsvollstreckung offen. Auch könnten die Vollstreckungsaufträge konventionell erstellt, unterschrieben und dann als elektronisch (mit qeS) beglaubigte Abschriften (ggf. wie jetzt schon häufig genutzt als Scans) übermittelt werden.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Nach allem liegt kein formgerechter, titelersetzender Haftantrag vor, so dass dieser mit der Kostenfolge des § 91 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen war.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die hier streitgegenständliche Frage, ob mit der Erfüllung der Anforderungen des § 130a ZPO zugleich auch diejenigen des § 5a Abs. 4 S. 6 VwVG-NRW erfüllt sind, entspricht im Kern der Frage, ob Vollstreckungsaufträge nach § 7 JBeitrG, welche ohne qeS nur auf einem sÜw eingereicht wurden, im Lichte der Rechtsprechung des BGH (B. v. 18.12.2014 – I ZB 27/14) eine ausreichende Vollstreckungsgrundlage bilden. Insoweit folgt jedenfalls seit etwa April die Justizverwaltung in Form der Zentrale Zahlstelle Justiz (ZZJ) NRW ebenso wie das Bundesamt für Justiz und sowie zahlreiche Gerichte, soweit sie nach den JBeitrG vollstrecken, der hier für richtig gehaltenen Auffassung und reicht ihre Vollstreckungsaufträge mit qeS des Sachbearbeiters elektronisch ein.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Nach allem liegt kein formgerechter, titelersetzender Haftantrag vor, so dass dieser mit der Kostenfolge des § 91 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen war.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss ist die sofortige Beschwerde statthaft. Die sofortige Beschwerde ist bei dem Amtsgericht Düsseldorf, Werdener Straße 1, 40227 Düsseldorf, oder dem Landgericht Düsseldorf, Werdener Straße 1, 40227 Düsseldorf, schriftlich in deutscher Sprache oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichts einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die sofortige Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist zu unterzeichnen und soll begründet werden.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die sofortige Beschwerde muss spätestens <strong>innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen</strong> bei dem Amtsgericht Düsseldorf oder dem Landgericht Düsseldorf eingegangen sein. Dies gilt auch dann, wenn die sofortige Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines anderen Amtsgerichts abgegeben wurde. Die Frist beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach Erlass des Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Düsseldorf, 22.08.2022</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Amtsgericht</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">M</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Richter am Amtsgericht</p>
|
346,510 | vghbw-2022-08-22-1-s-126421 | {
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<p/><p>Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 18. Februar 2021 - 9 K 5003/19 - wird zurückgewiesen.</p><p>Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, die Wahl zum Gemeinderat der Beigeladenen im Mai 2019 für ungültig zu erklären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Gemeinderat der Beigeladenen hat achtzehn Sitze. Bei der Gemeinderatswahl am 26.05.2019 standen fünf Wahlvorschläge („Listen“) zur Wahl. Auf den Listen der CDU, der SPD und der Alternativen Liste ... (Listen Nr. 1 bis 3) waren jeweils achtzehn Kandidaten nominiert. Auf der Liste der Parteilosen Wählervereinigung (Liste Nr. 4) befanden sich drei Kandidaten. Auf der Liste Nr. 5 „...-Aktiv“ befand sich nur der Kläger. Der Gemeindewahlausschuss stellte fest, dass auf den Wahlvorschlag Nr. 1 sieben Sitze (23.835 Stimmen), Nr. 2 fünf Sitze (16.256 Stimmen), Nr. 3 fünf Sitze (16.549 Stimmen), Nr. 4 ein Sitz (1.735 Stimmen) und Nr. 5 kein Sitz (1.381 Stimmen) entfielen. Der Kläger zog daher nicht in den Gemeinderat ein. Das Wahlergebnis wurde am 07.06.2019 öffentlich bekannt gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Ebenfalls am 07.06.2019 erhob der Kläger gegen die Gemeinderatswahl der Beigeladenen Einspruch beim Landratsamt Enzkreis. Er machte geltend, er sei mit einer eigenen Liste angetreten, weil er auf keine andere Liste aufgenommen worden sei. Mit den auf seine Liste entfallenen 1.381 Stimmen wäre er mit jeder anderen Liste in den Gemeinderat eingezogen. Durch das Taktieren der Anderen würden er und alle, die ihn gewählt hätten, diskriminiert. Das Wahlrecht über die Listen und die Begrenzung der Stimmenzahl auf drei Stimmen für Kandidaten, die allein auf der Liste stünden, seien nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Denn seine Wähler müssten ihre restlichen Stimmen verfallen lassen oder gegen seine Liste stimmen. Wenn Chancengleichheit herrschen solle, was das Grundgesetz ausdrücklich fordere, müsse es so sein, dass jeder Wähler erstens so viele Stimmen für die Liste habe, wie es Listen gebe, und zweitens seine personenbezogenen Stimmen habe, die er frei vergeben könne. Diese Ungleichbehandlung durch das Wahlrecht verfälsche das Ergebnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 28.06.2019, dem Kläger zugestellt am 06.07.2019, wies das Landratsamt Enzkreis den Einspruch zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der zulässige Einspruch sei nicht begründet, weil die Gemeinderatswahl der Beigeladenen vom 26.05.2019 den Kläger nicht in seinen Rechten verletze. Bei der Wahl des Gemeinderats der Beigeladenen handle es sich um eine Verhältniswahl, weil mehr als ein Wahlvorschlag abgegeben worden sei. Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge bei einer Verhältniswahl finde zuerst eine Oberverteilung und anschließend eine Unterverteilung statt. Bei der sogenannten Oberverteilung würden die Sitze an die Wahlvorschläge nach dem Verhältnis der von diesen erreichten Gesamtstimmenzahlen verteilt. Erst danach würden im Rahmen der sogenannten Unterverteilung die auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenden Sitze den in den Wahlvorschlägen aufgeführten Bewerbern in der Reihenfolge der von diesen erreichten Stimmenzahlen zugeteilt. Hierdurch könne es passieren, dass die nach der Oberverteilung auf einen Wahlvorschlag entfallenen Stimmen bei der Unterverteilung auf einen Bewerber dieser Liste entfielen, der weniger Einzelstimmen habe, als ein Bewerber eines anderen Wahlvorschlags. Daher könne ein Bewerber einer bestimmten Liste einen Sitz erhalten, obwohl er weniger Einzelstimmen habe als ein Bewerber einer anderen Liste. Verstöße gegen die einschlägigen Wahlvorschriften seien nicht festgestellt worden. Die Wahl sei somit gültig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Hiergegen hat der Kläger am 29.07.2019 Klage beim Verwaltungsgericht Karlsruhe erhoben, mit der er begehrt hat, den Einspruchsbescheid des Landratsamts Enzkreis vom 28.06.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Gemeinderatswahl der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, er wäre bei der Gemeinderatswahl als vierzehnter von achtzehn Bewerbern in den Gemeinderat eingezogen, wenn die Wahl als Mehrheitswahl nach § 27 KomWG durchgeführt worden wäre. Er wäre ebenfalls in den Gemeinderat eingezogen, wenn er auf einer der anderen Listen aufgestellt worden wäre. Denn der (stimmenmäßig) letzte Bewerber, der in den Gemeinderat eingezogen sei, habe nur 613 Stimmen und damit weniger als die Hälfte seiner Stimmen erzielt. Dieser letzte Bewerber der Parteilosen Wählervereinigung (Liste Nr. 4) sei nur deswegen in den Gemeinderat eingezogen, weil zu den von ihm selbst erzielten Einzelstimmen noch die Stimmen der beiden weiteren Kandidaten auf der Liste Nr. 4 (591 beziehungsweise 531 Stimmen) hinzugerechnet worden seien. Dass er nicht in den Gemeinderat eingezogen sei, beruhe darauf, dass nach § 25 KomWG die Verteilung der Sitze zunächst nach der Gesamtstimmenzahl der jeweiligen Bewerber einer Liste auf die Listen verteilt werde. Hätten ihn nur zwei weitere Bewerber mit geringem Stimmenanteil auf seiner Liste unterstützt, wäre er in den Gemeinderat eingezogen, selbst wenn diese beiden weiteren Kandidaten keine Chance auf den Einzug in den Gemeinderat gehabt hätten. Es stelle sich die Frage, ob dieses Ergebnis, das auf der Anwendung des baden-württembergischen Kommunalwahlgesetzes und der Gemeindeordnung beruhe, mit der Verfassung in Einklang stehe. Der Grundsatz der gleichen Wahl, der für die Gemeinden durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet sei, verlange, dass gleichermaßen für das aktive und das passive Wahlrecht jedermann sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben könne. Differenzierungen dürften sich angesichts der Bedeutung des gleichen Wahlrechts für die freiheitliche demokratische Grundordnung nur in einem eng bemessenen Spielraum halten und erforderten stets einen zwingenden Grund. Für das Kommunalwahlrecht werde kein bestimmtes Wahlsystem vorgeschrieben. Der Gesetzgeber sei aber verpflichtet, das ausgewählte Wahlsystem ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten, er dürfe keine strukturwidrigen Elemente einführen. Aus dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl folge, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben müsse. Beim Verhältniswahlrecht müsse außerdem jede Wählerstimme mit ihrem Stimmgewicht den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Vertretung haben. Insoweit müssten jede Partei, jede Wählergruppe und auch ihre Wahlbewerber gemäß Art. 21 Abs. 1 GG grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze haben. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt sei, sei ein strenger Maßstab anzulegen. Differenzierungen im Wahlrecht müssten durch Gründe gerechtfertigt sein, die durch die Verfassung legitimiert seien und ein Gewicht hätten, das der Wahlgleichheit die Waage halten könne.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>An diesen Grundsätzen gemessen könne das baden-württembergische Kommunalwahlrecht einer Überprüfung auf seine Verfassungsmäßigkeit nicht standhalten, weil es die Wahlmöglichkeit von Einzelkandidaten ohne rechtfertigenden Grund unterschiedlich gewichte und damit Einzelpersönlichkeiten unangemessen benachteilige. Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg enthalte eine in sich unstimmige Mischung von Verhältniswahl und Persönlichkeitswahl, die zudem bei unterschiedlichen Gemeindegrößen zu unterschiedlichen Wahlchancen führe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Soweit das Wahlsystem dazu führe, dass ein Kandidat, der (chancenlose) weitere Bewerber dazu bewegen könne, ihn durch eine Kandidatur auf der Liste zu unterstützen, entscheidend bessere Wahlchancen bekomme als ein Einzelkandidat, sei dies mit dem Grundsatz der Chancengleichheit der Wahl nicht zu vereinbaren. Insoweit seien zwar kleinere Unstimmigkeiten und Wertungswidersprüche bei einem Wahlsystem, das auch eine Sitzverteilung berücksichtigen müsse, unvermeidlich. Gerade die vorliegende Wahl zeige aber hier erhebliche Wertungswidersprüche, insbesondere im Vergleich zu der Liste der Parteilosen Wählervereinigung (Nr. 4). Denn diese Liste sei mit drei Kandidaten angetreten, die jeweils nur geringe Stimmenanteile erzielt hätten (der gewählte Bewerber nur 613 Stimmen), die aber durch eine Mehrzahl von Kandidaten ihre Chancen so verbessert hätten, dass er als Einzelkandidat trotz doppelter Stimmenzahl nicht in den Gemeinderat habe einziehen können. Hier zeige sich, dass das Wahlsystem in Baden-Württemberg zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung von Listen führe, bei denen viele oder gar alle Plätze besetzt werden könnten. In Verbindung mit dem Höchstzahlverfahren führe die Verbindung von Verhältniswahl und Persönlichkeitswahl dazu, dass nicht nur die Bedeutung der Einzelpersönlichkeiten für die Zusammensetzung des Gemeinderates lediglich geringe Bedeutung habe, sondern auch die Stimmenanzahl der einzelnen Kandidaten. Dieselben Stimmen führten bei einer größeren Partei mit mehreren Kandidaten und einer vollständigen Liste dazu, dass der Eintritt in den Gemeinderat erleichtert werde und die Stimmen dabei - unabhängig vom Willen des Wählers - nicht nur Auswirkungen auf den konkreten Kandidaten, sondern auch auf die Anzahl der Sitze der Liste habe, in der dieser Kandidat geführt sei. Gebe es in der Gemeinde nur eine Liste, gelte vielmehr das Mehrheitswahlrecht, das hier seinen Einzug in den Gemeinderat herbeigeführt hätte. Insoweit verfehle das Wahlsystem einen Ausgleich zwischen Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl bei Wählervereinigungen und Parteien, weil der Vollständigkeit der Listen ausschlaggebende Bedeutung für die Wahlerfolge zukomme.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Aufgrund des komplizierten Wahlsystems würden die Wähler zudem häufig unveränderte Listen abgeben. Dies führe dazu, dass für alle Kandidaten auf der Liste Stimmen abgegeben würden und diese dann anderen Kandidaten (den Spitzenkandidaten) zum Einzug in die Gemeinderäte verhelfen würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Begrenzung der für einen Kandidaten abzugebenden Stimmen auf drei führe dazu, dass ein Wähler, der einen Einzelkandidaten wie ihn mit seinen Stimmen unterstützen wolle, von seinem Wahlrecht in unerwünscht zweckwidriger Weise Gebrauch machen müsse, wenn er die Unterstützung für ihn als Einzelbewerber nicht durch seine eigene Stimmabgabe untergraben wolle. Es verletze den Grundsatz der Stimmengleichheit, wenn ein (Einzel-)Bewerber nicht nur um Stimmen für sich werben müsse, sondern gleichzeitig die Wähler ihre Stimme für andere möglicherweise gute Kandidaten nicht abgeben dürften, um ihre Stimmen für den (Einzel-)Bewerber nicht zu entwerten. Es sei daher mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit nicht vereinbar, dass bei der Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht die Kumulation von Stimmen zugelassen werde, aber die Zahl der kumulierbaren Stimmen unabhängig von der Größe der Gemeinde und der Gesamtzahl der abzugebenden Stimmen auf drei Stimmen begrenzt sei. Rechtfertigende Gründe dafür seien nicht erkennbar. Bei unveränderten Stimmzetteln würde er nur eine Stimme und nicht drei kumulierte Stimmen erhalten. Damit würden siebzehn Stimmen verfallen. Die Möglichkeit der Kumulation von lediglich drei Stimmen pro Kandidat führe weiter dazu, dass die Stimmengewichte je nach Gemeindegröße unterschiedlich seien. Es sei für einen Einzelkandidaten in einer kleinen Gemeinde möglich, durch kumulierte Stimmen in den Gemeinderat einzuziehen. In einer größeren Gemeinde, deren Gemeinderat - wie hier - aus achtzehn Gemeinderäten bestehe, sei es für einen Einzelkandidaten, der ohne weitere Bewerber auf seiner Liste antrete, praktisch nicht möglich, in den Gemeinderat einzuziehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Hinzu komme, dass nach dem bisherigen Recht der (alte) Gemeinderat durch die Gestaltung der Hauptsatzung darauf Einfluss nehmen könne, welche Chancen Einzelkandidaten bei der nächsten Wahl hätten. Der Gemeinderat der Beigeladenen hätte in der Hauptsatzung gemäß § 25 Abs. 2 GemO festlegen können, dass statt achtzehn nur vierzehn Sitze im Gemeinderat zur Verfügung gestanden hätten. Eine solche Entscheidung hätte seine Chancen als Einzelkandidat erheblich verbessert. Bei einer Stimmendifferenz zum (stimmenmäßig) letzten Kandidaten von lediglich 350 Stimmen könne insoweit nicht ausgeschlossen werden, dass die Größe des Gemeinderates zu einer möglicherweise beabsichtigten Benachteiligung für ihn als Einzelbewerber geführt habe. Da es im Vorfeld der Kommunalwahl auch verschiedene gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Bürgermeister der Beigeladenen gegeben habe, erscheine es nicht als ausgeschlossen, dass insoweit über die Größe des Gemeinderates auch Einfluss auf seine Wahlchancen genommen worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>§ 26 Abs. 2 und § 25 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 GemO seien daher mit Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 72 Abs. 1 LV nicht vereinbar. Er rege eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht an, welche vor Einführung der Normenkontrolle in Art. 68 Abs. 1 Satz 3 LV ohne weiteres möglich gewesen sei. Die Landesverfassung bleibe möglicherweise hinter dem Grundgesetz zurück, da Art. 72 LV die Grundsätze aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zwar übernehme, in Abs. 2 aber hinsichtlich des Wahlverfahrens die Festlegung auf die Verhältniswahl enthalte, die unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat im Wesentlichen vorgetragen, im Rahmen der Wahlprüfung seien keine wesentlichen Verstöße gegen Wahlvorschriften festgestellt worden, sodass die Wahl mit Bescheid vom 01.07.2019 für gültig erklärt worden sei. Der Einspruch des Klägers gegen die Wahl sei mit Bescheid vom 28.06.2019 zurückgewiesen worden. Gründe für eine Ungültigkeitserklärung der Wahl lägen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie hat jedoch im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger ziehe für seine Argumentation das Mehrheitswahlrechtssystem heran, verkenne aber, dass er sich in einem (personalisierten) Verhältniswahlsystem zur Wahl gestellt habe. Das Grundgesetz lasse den Gesetzgebern mit Blick auf das Wahlsystem einen weiten Spielraum. Art. 72 Abs. 1 LV konkretisiere die Vorgaben des Grundgesetzes und lege in Art. 72 Abs. 2 LV insbesondere fest, dass die Wahl unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl erfolgen müsse, wenn in einer Gemeinde mehr als eine gültige Wahlvorschlagsliste eingereicht worden sei. Auch durch Art. 72 Abs. 3 LV werde dem Landesgesetzgeber bei der weiteren rechtlichen Ausgestaltung ein Spielraum eingeräumt. § 26 GemO setze diese Vorgaben um. Der in allen Regelungen geforderte Grundsatz der Gleichheit der Wahl verlange, dass die Stimme jedes Wählers den gleichen Zählwert habe. Beim Verhältniswahlrecht führe die Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus dazu, dass nicht nur der gleiche Zählwert, sondern grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert gewährleistet sein müsse, also jeder Wahlberechtigte mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben solle. Differenzierungen bedürften besonderer Rechtfertigung im Sinne eines „zwingenden“ oder „wichtigen“ Grundes.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die in § 26 Abs. 2 Satz 4 GemO vorgesehene Begrenzung der Anhäufung der von jedem Wähler pro Wahlkandidat abgebbaren Stimmen auf drei stelle keinen Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl dar. Denn sie sei jedenfalls eine zwangsläufige und gerechtfertigte Folge des gewählten Wahlsystems.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Bei der in Baden-Württemberg vorgesehenen (personalisierten) Verhältniswahl würden Listen von Bewerbern benötigt, die von Wählervereinigungen (u. a. politischen Parteien) aufgestellt würden. Der Wähler stimme auch formal vom Stimmzettel aus betrachtet für eine politische Richtung. Das Ziel der Verhältniswahl in radikaler Ausprägung sei, dass der Gemeinderat ein getreues Spiegelbild der politischen Gruppierung der Wählerschaft sein solle, dass also jede politische Richtung in der Stärke im Gemeinderat vertreten sein solle, die dem Gesamtanteil der für sie in der Gemeinde abgegebenen Stimmen entspreche. Diesem System entsprechend sei der Kläger nicht gewählt worden, weil seine kommunalpolitische Haltung nur der einer zu geringen Anzahl an Wählern beziehungsweise Stimmen entspreche. Der Erfolgswert der Stimmen sei gleich, die Liste des Klägers sei deutlich weniger mehrheitsfähig gewesen als die anderen Wahlvorschläge. Dies verdeutliche auch der klägerische Vortrag, er habe keine Mitstreiter für seinen Wahlvorschlag gefunden und sei auch nicht auf andere Listen aufgenommen worden. Dass derjenige Wahlkandidat, der weitere Bewerber dazu bewegen könne, auf seiner Wahlvorschlagsliste zu stehen, entscheidend bessere Wahlchancen erhalte als ein Einzelkandidat, sei eine systemimmanente Folge des grundgesetzkonformen Verhältniswahlsystems.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Da das Verhältniswahlsystem in seiner Reinfassung ein Kumulieren und Panaschieren nicht vorsehe, wäre es nicht verfassungswidrig und würde insbesondere keinen Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl begründen, wenn überhaupt kein Kumulieren vorgesehen wäre. Der Landesgesetzgeber habe sich jedoch für ein personalisiertes Verhältniswahlsystem entschieden, um dem Wunsch der Wählerschaft, sich für Persönlichkeiten und nicht nur für Listen entscheiden zu können, so weit wie möglich zu entsprechen. Die klägerische Argumentation, dass wegen der Beschränkung der auf einen Wahlkandidaten anhäufbaren Stimmen die Stimmen keinen identischen Erfolgswert mehr hätten, sei unzutreffend, weil die abgegebenen Stimmen grundsätzlich weiterhin den identischen Erfolgswert hätten. Die Wähler könnten bloß nicht unbegrenzt kumulieren. Sie könnten aber weiterhin nur drei Stimmen - und diese nur auf einen Wahlkandidaten zusammen - abgeben und den Rest der Stimmen verfallen lassen (oder weiter verteilen) oder (mit ähnlichen Wirkungen) überhaupt nicht zur Wahl gehen. Die Gleichheit der Wahl werde davon nicht betroffen, da bei drei (auf einen Wahlkandidaten aufgehäuften Stimmen) von drei abgegebenen Stimmen der Erfolgswert identisch sei mit dem Erfolgswert von beispielsweise achtzehn (auf verschiedene Wahlkandidaten aufgeteilten Stimmen) von achtzehn abgegebenen Stimmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Das klägerische Ansinnen ziele vielmehr in die Richtung, noch umfassender kumulieren zu können. Die Begrenzung der Höchstzahl der auf einen Wahlkandidaten kumulierbaren Stimmen entspreche jedoch der Verfassungstradition. Schon die Gemeindeordnung für Baden-Württemberg vom 25.07.1955 habe diese Beschränkung der Kumulation auf drei Stimmen vorgesehen. Andere Bundesländer hätten ebenfalls solche Regelungen. Diese Begrenzung der Kumulation diene der Vermeidung der Verfälschung des Wählerwillens im gesamten Gemeindegebiet und der Sicherstellung der Abbildung eines zutreffenden Spiegelbildes der politischen Gruppierung der Wählerschaft im Gemeinderat und sei damit ausgerichtet an diesem Sinn und Zweck des Verhältniswahlsystems system- und folgerichtig. Die Verbindung von Verhältnis- und Personenwahl sei grundsätzlich grundgesetzkonform, auch soweit die Verhältniswahl nach „starren“ Listen erfolge.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Soweit der Kläger beanstande, dass der Gemeinderat hätte festlegen können, dass statt achtzehn nur vierzehn Gemeinderäte in den Gemeinderat einziehen, führe dieser Ansatz nicht zu einem (erheblichen) Mangel des Wahlverfahrens. Denn die Anzahl der Mitglieder des Gemeinderats der Beklagten sei bereits am 22.07.2008 ungeachtet der Person des der Beigeladenen damals unbekannten Klägers und ungeachtet der letztlich vom Kläger in der gegenständlichen Kommunalwahl erlangten Stimmen vom Gemeinderat (und nicht vom Bürgermeister) festgelegt worden. Im Übrigen hätte der Kläger selbst bei einer Erhöhung oder Reduzierung der Anzahl der Mitglieder des Gemeinderats keinen Sitz erlangt. Letztlich habe der Kläger diesen Einspruchsgrund nicht fristgerecht geltend gemacht und sei damit gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 KomWG ausgeschlossen. Weitere Einspruchsgründe habe der Kläger nicht fristgerecht geltend gemacht und seien insoweit ebenfalls nach § 31 Abs. 1 Satz 2 KomWG präkludiert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat mit Urteil vom 18.02.2021 die Klage abgewiesen. Die Klage sei als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig. Sie sei jedoch nicht begründet. Dabei könne eine Wahl zwar mit der Begründung angefochten werden, dass wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren verfassungswidrig seien. Allerdings liege der geltend gemachte Verfassungsverstoß nicht vor. Die einschlägigen Vorschriften der Gemeindeordnung und des Kommunalwahlgesetzes, die für die Kommunalwahl in Baden-Württemberg das System der personalisierten Verhältniswahl vorschrieben, seien mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben sowohl des Grundgesetzes als auch der Landesverfassung vereinbar. Zwar komme es bei der in Baden-Württemberg vorgesehenen Ausgestaltung des Kommunalwahlrechts als personalisierte Verhältniswahl auf der Ebene der Stimmabgabe zu einer Differenzierung zwischen vollständigen Wahlvorschlägen und Einzelbewerberlisten beziehungsweise zu einer Differenzierung zwischen vollständigen und unvollständigen Wahlvorschlägen. Ebenso könne in diesem Wahlsystem strukturbedingt der Fall eintreten, dass ein Listenkandidat, der auf sich persönlich eine geringere Zahl an Stimmen vereinigt als ein Einzelbewerber, aufgrund der auf den Wahlvorschlag des Listenkandidaten insgesamt entfallenden Stimmen einen Gemeinderatssitz erlange, während der Einzelbewerber, dessen Wahlvorschlag eine geringere Stimmzahl errungen habe als der Wahlvorschlag des Listenkandidaten, an der sogenannten „faktischen“ Sperrwirkung scheitere und nicht in den Gemeinderat einziehe. Sowohl die Differenzierung zwischen vollständigen und unvollständigen Wahlvorschlägen als auch der Umstand, dass ein Listenkandidat mit einer geringeren Anzahl auf ihn persönlich entfallender Stimmen als ein Einzelbewerber in den Gemeinderat einziehen könne, sei im baden-württembergischen Kommunalwahlsystem jedoch strukturell angelegt und vor dem maßgeblichen verfassungsrechtlichen Hintergrund der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien und sonstigen Wahlbewerber jedenfalls gerechtfertigt. Mit seinem weiteren Vorbringen, der Gemeinderat der Beigeladenen habe dadurch gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben verstoßen, dass er von der ihm nach § 25 Abs. 2 GemO eingeräumten Möglichkeit, die Zahl der Gemeinderatssitze von achtzehn auf vierzehn zu reduzieren, keinen Gebrauch gemacht habe, sei der Kläger nach § 31 Abs. 1 Satz 2 KomWG präkludiert. Im Übrigen dringe er mit diesem Vorbringen aber auch in der Sache nicht durch, weil im schlichten Unterlassen, von der Regelung des § 25 Abs. 2 GemO Gebrauch zu machen, kein Verstoß gegen das Gebot der Chancengleichheit liege.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren aus der ersten Instanz weiter. Er macht im Wesentlichen geltend, dass bei einem reinen Verhältniswahlsystem das Ergebnis der Wahl 6:6:5:1:0 lauten würde. Dieses Ergebnis sei bezogen auf die kleinen Parteien unabhängig von der Größe des Gremiums. Bezogen auf unverändert abgegebene Listen hinge die Sitzverteilung im Gemeinderat wesentlich stärker von der Anzahl der Vorschläge auf der Liste als vom Wahlverhalten der Wähler ab. Wenn sich der Kläger mit den Bewerbern der Parteilosen Wählervereinigung zusammengeschlossen hätte, hätte sich am Wahlergebnis an sich nichts geändert. Jedoch wäre der Kläger in den Gemeinderat eingezogen. Gemeinsame Listen unterschiedlicher Gruppierungen ohne gemeinsame Ziele seien daher problematisch. Wenn Wähler von unvollständigen Listen einen Teil ihrer Stimmen verfallen ließen oder anderen Parteien geben würden, wirke sich dies bei kleinen Wählerzahlen und geringen Stimmanteilen der großen Parteien regelmäßig nicht aus. Wenn die Wähler jedoch die kleineren Parteien mit unvollständigen Listen wechselseitig wählen und die Stimmen kumulieren würden, würde sich eine Sitzverteilung von 5:5:5:2:1 ergeben. Bei 14 Mitgliedern des Gemeinderats würde sich der Vorteil vollständiger Listen gegenüber unvollständiger Listen voraussichtlich etwas abschleifen. Die Sitzanteile der größeren Parteien würden sich verringern, während die kleinen Parteien eher einen Sitz erhielten. Die größeren Parteien dürften daher kein Interesse daran haben, den Gemeinderat zu verkleinern. Die in Baden-Württemberg geregelte Verbindung zwischen Verhältnis- und Personenwahl führe dazu, dass die Gleichheit der Stimmgewichte nicht gegeben sei und sich die Entscheidung des Wählers nicht nachvollziehbar im Wahlergebnis widerspiegle. Das derzeitige Wahlsystem erzwinge bei Einzelkandidaten, dass die Wähler einen erheblichen Teil ihrer Stimmen entweder gar nicht abgeben könnten oder die Stimmen taktisch so einsetzen müssten, dass sie die Wahl des von ihnen gewünschten Einzelkandidaten nicht unterlaufen würden. Dies sei mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unvereinbar, weil Stimmen nicht dieselbe Chance hätten. Durch dieses System werde weder die größtmögliche Freiheit bei der Wahl einzelner Persönlichkeiten noch die Verhältniswahl umgesetzt. Das System widerspreche beiden Grundsätzen. Die historischen Ausführungen des Verwaltungsgerichts würden auch für die Schwäche des geltenden Wahlsystems sprechen. Denn wenn der historische Gesetzgeber die Möglichkeit habe eröffnen wollen, Bewerber zu wählen, die nicht auf Vorschlagslisten stünden, so könne er die Wahl eines Einzelbewerbers nicht zugleich nahezu unmöglich machen. Das Mehrheitswahlsystem sei dem Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg auch nicht fremd. Die nachträglich erfolgte Anpassung an das Verhältniswahlrecht für vollständige Bewerberlisten stelle einen Systembruch dar. Auch das Argument, der Kläger habe sich um weitere Bewerber für seine Liste bemühen oder einer anderen Liste beitreten können, überzeuge nicht, weil hierdurch Einfluss auf die inhaltliche Zusammensetzung der Listen und damit auf deren politische Inhalte genommen werden würde. Dies würde zudem eine Umgehung der Kumulierungsregelung bedeuten. Es könne im Übrigen auch bei vollständigen Listen geschehen, dass eine Liste mit sehr wenigen Stimmen ein Mandat erhalte und der einziehende Gemeinderat weniger Stimmen habe, als der Bewerber einer anderen Liste, auf den die wenigsten Stimmen entfallen seien. Das personale Element sei in größeren Parteien stärker als in kleinen. Kleine Parteien mit vollständiger Liste seien damit im Vorteil. Hier habe der Zufall mehr Einfluss auf die Zusammensetzung eines Gemeinderats als konkrete Persönlichkeiten oder die Listenzugehörigkeiten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 18.02.2021 - 9 K 5003/19 - zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Einspruchsbescheids des Landratsamts Enzkreis vom 28.06.2019 zu verpflichten, die Gemeinderatswahl der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Zur Begründung trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, dass der Landesgesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung des Wahlsystems habe, den er nicht überschritten habe. Das Verwaltungsgericht habe nicht ausgeführt, dass das System der personalisierten Verhältniswahl dazu führe, dass die Wahlchancen von Einzelbewerbern geringer seien. Das Gericht habe nur die Auffassung des Klägers wiedergegeben. Die Gedankenspiele und Rechenmodelle des Klägers gingen im Wesentlichen an der Sache vorbei. Die Ausführungen des Klägers seien spekulativ. Es sei zudem falsch, dass die Wahlentscheidungen der Bürger in Bezug auf bestimmte Personen, die auf den Wahllisten stünden, von vornherein keine Auswirkungen hätten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Beigeladene stellt keinen Antrag und verweist auf ihren erstinstanzlichen Vortrag.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Dem Senat liegen die Akten des Verwaltungsgerichts, des Beklagten und der Beigeladenen vor.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>I. Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch sonst zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim Verwaltungsgericht eingelegt (vgl. § 124 a Abs. 2 VwGO). Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 3 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 3 Satz 4 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Verpflichtungsklage zulässig, jedoch unbegründet ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>1. Die Klage ist zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Als Bewerber kann der Kläger die Gültigkeit der Gemeinderatswahl der Beigeladenen im Wege der Wahlanfechtung (§ 31 KomWG) zur Prüfung stellen. Die Wahlanfechtung lässt sich nur auf solche Gründe stützen, die in der abschließenden Regelung des § 32 Abs. 1 KomWG aufgeführt sind (vgl. Senat, Urt. v. 27.02.1996 - 1 S 2570/95 -, juris Rn. 24). Der Kläger beruft sich auf den gesetzlichen Wahlanfechtungsgrund, dass wesentliche Vorschriften über die Wahlhandlung sowie die Ermittlung des Wahlergebnisses unbeachtet geblieben sind (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG), weil nach seinem Vorbringen die Vorschriften über die Stimmabgabe bei der Verhältniswahl nach § 26 Abs. 2 Satz 3 und 4 GemO, § 19 Abs. 2 KomWG sowie die Bestimmungen über die sich an die Stimmabgabe anschließende Verteilung der Sitze zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhältnis der ihnen zufallenden Gesamtstimmenzahl gemäß § 25 Abs. 1 KomWG (Oberverteilung) und erst dann auf die in den Wahlvorschlägen aufgeführten einzelnen Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG (Unterverteilung) verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>2. Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Einspruchsbescheid des Landratsamts Enzkreis vom 28.06.2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, die Gemeinderatswahl der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Weder die Vorschriften über die Stimmabgabe bei der Verhältniswahl nach § 26 Abs. 2 Satz 3 und 4 GemO, § 19 Abs. 2 KomWG noch die Bestimmungen über die sich an die Stimmabgabe anschließende Verteilung der Sitze zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhältnis der ihnen zufallenden Gesamtstimmenzahl gemäß § 25 Abs. 1 KomWG (Oberverteilung) und erst dann auf die in den Wahlvorschlägen aufgeführten einzelnen Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG (Unterverteilung) verstoßen gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl oder den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, Wählervereinigungen und sonstigen Kandidaten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>a) Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, nach dem das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben muss, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist, können die Länder bei der Ausgestaltung des Kommunalwahlrechts sowohl ein reines Mehrheitswahlrecht, ein reines Verhältniswahlrecht oder eine Kombination beider Systeme einführen (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.01.1957 - 2 BvF 3/56 -, juris Rn. 30). Der Landesgesetzgeber ist durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG insbesondere nicht gehalten, das Verhältniswahlrecht rein oder nur in abgewandelter Form einzuführen (vgl. StGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 -, ESVGH 29, 160, 163).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Nach Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV ist landesverfassungsrechtlich vorgeschrieben, dass die Wahl in der Gemeinde bei Einreichung von mehr als einer gültigen Wahlvorschlagsliste unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl zu erfolgen hat. Mit der aktuellen Fassung ist die für die Gemeinderatswahlen einschlägige verfassungsrechtliche Vorgabe im Vergleich zu einer früheren Entwurfsfassung, die „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ lautete, und im Vergleich zu Art. 28 Abs. 1 LV, der für die Landtagswahlen ein Verfahren vorschreibt, das „die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet“, schon ihrem Wortlaut nach die schwächere. Mit der Vorgabe des Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV, dass die Wahl unter Berücksichtigung der Grund- sätze der Verhältniswahl zu erfolgen hat, sind die landesverfassungsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Ausgestaltung der Gemeinderatswahlen als Verhältniswahl damit zurückgenommen und zugunsten anderer Wahlziele offener (vgl. StGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 -, ESVGH 29, 160, 162; Senat, Urt. v. 27.02.1996 - 1 S 2570/95 -, juris Rn. 27).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Bei jeder Gestaltung des Wahlrechts ist der Gesetzgeber an den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit sowie die weiteren Wahlrechtsgrundsätze gebunden (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.01.1957 - 2 BvF 3/56 -, juris Rn. 30). Der Gesetzgeber ist vor dem Hintergrund der Wahlrechtsgleichheit verpflichtet, das ausgewählte Wahlsystem ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten und keine strukturwidrigen Elemente einzuführen. Er ist bei der Gestaltung des Wahlrechts gehalten, die Gleichheit der Wahl innerhalb des jeweiligen Wahlsystems zu wahren. Er muss, wenn er sich für ein Wahlsystem entschieden hat, die im Rahmen des jeweiligen Systems geltenden Maßstäbe der Wahlgleichheit beachten (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 -, juris Rn. 100 bis 101).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl hat unter dem Grundgesetz und unter der Landesverfassung die gleiche Bedeutung und den gleichen Inhalt (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 -, juris Rn. 95). Er sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss. Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwert- und Erfolgschancengleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.09.2017 - 2 BvC 46/14 -, juris Rn. 59 m. w. N.). Die Verhältniswahl in strikter Ausprägung macht das gewählte Vertretungsorgan zum getreuen Spiegelbild der parteipolitischen - beziehungsweise auf kommunaler Ebene auch der sonstigen - Gruppierung der Wählerschaft, in dem jede politische Richtung in der Stärke vertreten ist, die dem Gesamtanteil der für sie abgegebenen Stimmen entspricht (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 - 2 BvF 1/95 -, juris Rn. 63 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Der auf Landesebene aus Art. 26 Abs. 4, Art. 27 Abs. 3 LV i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (vgl. VerfGH Bad.-Württ-, Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 46 m. w. N).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Der Grundsatz der Chancengleichheit findet auch für andere Gruppen oder Kandidierende, die mit den politischen Parteien in den Wettbewerb um Wählerstimmen treten, gleichermaßen Anwendung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.04.2008 - 2 BvL 4/05 -, juris Rn. 49). Er gilt im gesamten Wahlverfahren, also nicht nur für den Wahlvorgang selbst, sondern auch für die Wahlvorbereitung und die Wahlwerbung (vgl. VerfGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 47 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Weder der Grundsatz der Wahlgleichheit noch der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und sonstigen Wahlbewerber unterliegt jedoch einem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter des Grundsatzes der Wahlgleichheit, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, zwingenden Grundes. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen muss, wie dies etwa in Fällen der Kollision des Grundsatzes der Wahlgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder den Grundrechten der Fall sein kann. Differenzierungen im Wahlrecht können auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann. Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehören die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung und konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems den verschiedenen auf die Ziele der Wahl bezogenen verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen und die gegebenenfalls kollidierenden Ziele in Ausgleich zu bringen (vgl. VerfGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 49 und 50).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Differenzierende Regelungen müssen danach zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis Beachtung finden. Der Gesetzgeber muss sich bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit orientieren. Gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 -, juris Rn. 110).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>b) Vor dem Hintergrund dieser Maßgaben ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass weder die Vorschriften über die Stimmabgabe bei der Verhältniswahl nach § 26 Abs. 2 Satz 3 und 4 GemO, § 19 Abs. 2 KomWG noch die Bestimmungen über die sich an die Stimmabgabe anschließende Verteilung der Sitze zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhält-nis der ihnen zufallenden Gesamtstimmenzahl gemäß § 25 Abs. 1 KomWG (Oberverteilung) und erst dann auf die in den Wahlvorschlägen aufgeführten einzelnen Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG (Unterverteilung) gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, Wählervereinigungen und sonstigen Kandidaten verstoßen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Vielmehr ist die vom Kläger gerügte Differenzierung zwischen vollständigen und unvollständigen Wahlvorschlägen und die daraus für Einzelbewerber und unvollständige Wahlvorschläge folgende geringere Chance, einen Sitz im Gemeinderat zu erringen, in der Kombination der Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl im baden-württembergischen Wahlsystem angelegt und verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn Art. 72 Abs. 2 LV legt in den Grenzen des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG - wie schon zuvor ausgeführt - nicht ein strenges Verhältniswahlsystem in der Gestalt gebundener Wahlvorschläge fest, sondern bringt durch die Formulierung „unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl“ zum Ausdruck, dass das System der sogenannten freien Liste mit der Möglichkeit der beschränkten Stimmenhäufung und der Übernahme von Bewerbern anderer Wahlvorschläge (Kumulieren und Panaschieren) für die Gemeinderatswahlen Anwendung finden kann (vgl. Kunze/Bronner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 4). Dem entsprechen auch die historischen Ausführungen des Verwaltungsgerichts, nach denen die landesverfassungsrechtlichen Vorgaben an die Ausgestaltung der Wahl als Verhältniswahl abgeschwächt wurden, um das vormals schon vorhandene Personenwahlelement in das Verhältniswahlrecht integrieren zu können (vgl. VG Karlsruhe Urt. v. 18.02.2021 - 9 K 5003/19 -, juris Rn. 57).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>c) Demgemäß gehen § 26 Abs. 2 GemO, § 19 Abs. 2, § 25 Abs. 1 und § 26 Abs. 1 KomWG in Übereinstimmung mit Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV erst einmal von einer Verhältniswahl aus. Danach werden die im Gemeinderat zu besetzenden Sitze gemäß § 25 Abs. 1 KomWG zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge verteilt. Dies geschieht in der Weise, dass die gleiche Anzahl von Stimmen, die einer Wählervereinigung zu einem Sitz verhilft, auch bei allen anderen Wählervereinigungen zu einem solchen Sitz ausreicht. Die Bewerber des gleichen Wahlvorschlags bilden also einen Stimmübertragungsverband. Es werden zunächst nicht die Stimmzahlen der einzelnen Bewerber betrachtet, sondern die Gesamtstimmzahlen der Wahlvorschläge verglichen. Hierbei werden auch die Stimmen, die durch Kumulation von bis zu drei Stimmen auf einen Bewerber sowie durch Übernahme von Bewerbern aus anderen Wahlvorschlägen gemäß § 26 Abs. 2 Satz 4 GemO gewonnen werden, dem jeweiligen Wahlvorschlag des jeweiligen Bewerbers zugerechnet. Denn die Verteilung der Sitze im Gemeinderat soll möglichst genau dem Verhältnis der auf die Wahlvorschläge entfallenden Stimmen und damit dem Stärkeverhältnis der an der Wahl beteiligten Wählervereinigungen entsprechen. Erst bei der anschließenden Verteilung der auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenen Sitze auf die Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG entscheidet die Stimmenanzahl der einzelnen Bewerber (vgl. Kunze/Bronner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 2). Damit der Wahlberechtigte auf dieser zweiten Stufe der Wahl seine personellen Präferenzen für den Gemeinderat „sitzgenau“ in den Wahlprozess einbringen kann, ist es erforderlich, dass jeder Wahlberechtigte gemäß § 26 Abs. 2 Satz 4 GemO kumulieren und panaschieren kann sowie gemäß § 26 Abs. 2 Satz 3 GemO so viele Stimmen hat, wie Gemeinderäte zu wählen sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Hieran zeigt sich, dass die Wahl im ersten Schritt der Oberverteilung gemäß § 25 Abs. 1 KomWG eine Verhältniswahl ist und erst im Rahmen der Unterverteilung nach § 26 Abs. 1 KomWG das Personenwahlelement zum Tragen kommt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>d) Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass es sich in diesem System auch auswirkt, ob die Wählervereinigung einen vollständigen oder nur einen unvollständigen Wahlvorschlag eingereicht hat. Denn eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Wahlvorschlägen anhand ihrer Besetzung trägt - wie es das Verwaltungsgericht schon ausgeführt hat - dem Umstand Rechnung, dass eine Partei oder Wählervereinigung, für deren Wahlvorschlag sich eine größere Anzahl Bewerber hat aufstellen lassen, eine höhere Aggregation des Wählerwillens in der Gemeinde in sich trägt und damit die Integrationsfunktion des Wahlprozesses bereits zu einem gewissen Teil vor dem eigentlichen Wahlvorgang geleistet hat (vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.1977 - 2 BvE 1/76 -, juris Rn. 59; VerfG Brandenburg, Urt. v. 23.10.2020 - 9/19 -, juris Rn. 140). Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und sonstiger Wahlbewerber steht dem nicht entgegen. Denn er verlangt nicht, dass der Gesetzgeber vorhandene Unterschiede zwischen diesen beseitigt, sondern ihnen lediglich die gleichen Möglichkeiten im Wahlprozess einräumt (vgl. VerfGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 47 m. w. N.). Daher kann der Kläger - wie es das Verwaltungsgericht schon zu Recht festgehalten hat - nicht verlangen, dass mehr als drei Stimmen oder sogar alle zu vergebenden Stimmen einem Bewerber gegeben werden können. Denn der Gesetzgeber hat sich zulässigerweise dafür entschieden, die Oberverteilung der Sitze nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vorzunehmen. Der Gesetzgeber war dabei auch nicht gehalten, die sich aus der unterschiedlichen Zahl von Bewerbern auf den einzelnen Wahllisten ergebende Unterschiede zu nivellieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>e) Unabhängig hiervon würde eine weitergehende Kumulierungsmöglichkeit das personale Element innerhalb des Kommunalwahlrechts weiter verstärken, obwohl es schon jetzt als sehr weitgehend angesehen wird und die Gefahr in sich trägt, dass Wahlvorschläge in ihrer Gesamtheit viele Stimmen und Mandate aufgrund einzelner beliebter Persönlichkeiten erhalten, und die so errungenen Mandate bei unvollständigen Wahlvorschlägen unter Umständen nicht besetzt werden könnten (vgl. Kunze/Bronner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 4). Der Erfolg eines Wahlvorschlags muss im System der Verhältniswahl, von dem auch das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg mit Blick auf Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV ausgeht, somit nicht von einzelnen Persönlichkeiten, sondern dem Stärkeverhältnis der an der Wahl beteiligten Wählervereinigungen abhängen. Denn nur dann kann der Gemeinderat die parteipolitischen - beziehungsweise auf kommunaler Ebene auch der sonstigen - Gruppierungen der Wählerschaft abbilden. Dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass auf einen Wahlvorschlag mit mehreren Bewerbern auch mehr Stimmen entfallen können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>f) Mit der Möglichkeit, weitere Bewerber für den eigenen Wahlvorschlag zu gewinnen oder einem anderen Wahlvorschlag als Bewerber beizutreten, besteht - anders als der Kläger annimmt - auch nicht die Gefahr, dass Personen mit entgegengesetzten politischen Anschauungen nur deswegen einen gemeinsamen Wahlvorschlag einreichen, um möglichst viele Mandate zu erringen. Denn die Wahlbewerber könnten es dann, gerade aufgrund der Möglichkeiten für den Wähler zu kumulieren und zu panaschieren, nicht verhindern, dass der politische Gegner mit Unterstützung der eigenen Stimmen in den Gemeinderat einzöge. Daher kann davon ausgegangen werden, dass Personen nur dann einen gemeinsamen Wahlvorschlag einreichen, wenn sie auch politisch gleichgerichtete Interessen vertreten. In diesem Fall läge auch keine Umgehung der Kumulierungsregelung vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>g) Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht im Hinblick auf den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zu Recht ausgeführt, dass die Erfolgswertgleichheit der Stimmen auch im bestehenden System gewahrt ist, weil sich die abgegebenen Stimmen eines Wahlberechtigten in gleicher Weise wie die Stimmen aller anderen Wahlberechtigten auf die Zusammensetzung des Gemeinderats auswirken. Der Wähler ist in diesem System der personalisierten Verhältniswahl lediglich daran gehindert, die Gesamtzahl der ihm zustehenden Stimmen an einen Wahlvorschlag zu vergeben, der nicht über die notwendige Anzahl an Bewerbern verfügt, die zur Besetzung wenigstens eines Drittels des Gemeinderats erforderlich sind. Dies ist jedoch zum einen keine Frage der Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen und zum anderen - wie schon zuvor ausgeführt - dadurch systemimmanent gerechtfertigt, dass die Anzahl der Bewerber auf einem Wahlvorschlag auch dessen Stärke mitbestimmt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>h) Soweit der Kläger vorträgt, dass es auch bei vollständigen Wahlvorschlägen geschehen könne, dass ein Wahlvorschlag ein Mandat erhalte und der in den Gemeinderat einziehende Bewerber dieses Wahlvorschlags weniger Stimmen bekommen habe, als ein Bewerber eines anderen Wahlvorschlags, auf den kein Mandat entfallen sei, führt dies nicht weiter. Der Kläger verkennt, dass es sich auf der ersten Stufe der Wahl - wie zuvor ausgeführt - um eine Verhältniswahl handelt. Es kommt somit auf dieser Stufe nicht darauf an, wie viele Stimmen den einzelnen Wahlbewerbern zukommen, sondern darauf, wie viele Stimmen auf den jeweiligen Wahlvorschlag entfallen. Erst bei der anschließenden Verteilung der auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenen Sitze auf die Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG entscheidet die Stimmenanzahl der einzelnen Bewerber. Dies ist auch sachgerecht, weil das Kommunalwahlrecht Baden-Württembergs mit Blick auf Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV von einem Verhältniswahlsystem ausgeht. Der Erfolg eines Wahlvorschlags muss in einem System, das von der Verhältniswahl ausgeht, nicht von einzelnen Persönlichkeiten, sondern dem Stärkeverhältnis der an der Wahl beteiligten Wählervereinigungen und deren Wahlvorschlägen abhängen. Denn nur dann kann der Gemeinderat die parteipolitischen - beziehungsweise auf kommunaler Ebene auch der sonstigen - Gruppierungen der Wählerschaft abbilden. Dabei ist es - wie ebenfalls zuvor ausgeführt - verfassungsrechtlich unbedenklich, dass auf einen Wahlvorschlag mit mehreren Bewerbern auch mehr Stimmen entfallen können als auf einen Wahlvorschlag mit weniger Bewerbern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>i) Ob der Kläger bei einer Mehrheitswahl gemäß § 26 Abs. 3 GemO und § 27 KomWG in den Gemeinderat eingezogen wäre, kann dahinstehen, weil bei der Einreichung mehrerer gültiger Wahlvorschläge keine Mehrheitswahl durchgeführt wird, und das Wahlverhalten der Wähler bei einer Mehrheitswahl nicht einfach aus dem Wahlverhalten bei einer Wahl nach § 26 Abs. 2 GemO abgeleitet werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>j) Mit dem Vortrag, dass das gegebene Wahlsystem kleinere Wählervereinigungen gegenüber größeren Wählervereinigungen begünstigen würde, kann der Kläger ebenfalls nicht durchdringen. Denn da der Gesetzgeber bei verschiedenen in Betracht kommenden Verteilungssystemen eine Wahl zwischen diesen hat, sind die mit dem gewählten Verteilungssystem nach Sainte-Laguë/Schepers verbundenen systembedingten Differenzierungen im Erfolgswert grundsätzlich hinzunehmen. Solche systembedingten Differenzierungen entstehen nicht nur für die Listen, deren errungene Stimmen für die Berücksichtigung bei der Sitzverteilung nicht ausreichen, sondern führen auch zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der für größere Parteien oder Wählervereinigungen abgegebenen Stimmen und damit zu einer - ebenfalls systemimmanenten - Benachteiligung größerer Parteien oder Wählervereinigungen, die für die Erlangung eines Sitzes nach dem Höchstzählverfahren gemäß § 25 Abs. 1 KomWG mehr Stimmen erzielen müssen als eine kleinere Wählervereinigung (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 26.09.2016 - 15 A 2466/15 -, juris Rn. 28 zum insoweit vergleichbaren Landesrecht). Die faktische Sperrwirkung, die - wie hier - zum Ausschluss ganzer Wahlvorschläge führen kann und damit im Ergebnis den Erfolgswert der für diese Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen beeinträchtigt, ist damit zu rechtfertigen, die Zahl der Gemeinderatsmitglieder gerade kleinerer Gemeinden im Vergleich zu größeren Gemeinden zu beschränken (vgl. Quecke/Gackenholz/Bock, Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2014, § 25 Rn. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>k) Mit seinem weiteren Vorbringen, der Gemeinderat der Beigeladenen habe in verfassungswidriger Weise auf seine Erfolgsaussichten bei der Gemeinderatswahl Einfluss genommen, indem er es unterlassen habe, die Zahl der Gemeinderatssitze gemäß § 25 Abs. 2 GemO von achtzehn auf vierzehn Sitze zu reduzieren, ist der Kläger - wie es das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat - bereits nach § 31 Abs. 1 Satz 2 KomWG präkludiert (vgl. Senat, Urt. v. 27.02.1996 - 1 S 2570/95 -, juris Rn. 46). Zudem ist es auch für den Senat nicht zu erkennen, dass das Unterlassen der Beigeladenen, von der in § 25 Abs. 2 2. HS GemO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, im Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Kommunalwahlrecht und dabei insbesondere der Chancengleichheit der Wahlbewerber stünde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>IV. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss vom 22. August 2022</span></strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 2 GKG für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,-- Euro festgesetzt (vgl. Senat, Beschl. v. 02.05.2019 - 1 S 581/22 -, VBlBW 2020, 40).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>I. Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch sonst zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim Verwaltungsgericht eingelegt (vgl. § 124 a Abs. 2 VwGO). Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124 a Abs. 3 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124 a Abs. 3 Satz 4 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Verpflichtungsklage zulässig, jedoch unbegründet ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>1. Die Klage ist zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Als Bewerber kann der Kläger die Gültigkeit der Gemeinderatswahl der Beigeladenen im Wege der Wahlanfechtung (§ 31 KomWG) zur Prüfung stellen. Die Wahlanfechtung lässt sich nur auf solche Gründe stützen, die in der abschließenden Regelung des § 32 Abs. 1 KomWG aufgeführt sind (vgl. Senat, Urt. v. 27.02.1996 - 1 S 2570/95 -, juris Rn. 24). Der Kläger beruft sich auf den gesetzlichen Wahlanfechtungsgrund, dass wesentliche Vorschriften über die Wahlhandlung sowie die Ermittlung des Wahlergebnisses unbeachtet geblieben sind (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG), weil nach seinem Vorbringen die Vorschriften über die Stimmabgabe bei der Verhältniswahl nach § 26 Abs. 2 Satz 3 und 4 GemO, § 19 Abs. 2 KomWG sowie die Bestimmungen über die sich an die Stimmabgabe anschließende Verteilung der Sitze zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhältnis der ihnen zufallenden Gesamtstimmenzahl gemäß § 25 Abs. 1 KomWG (Oberverteilung) und erst dann auf die in den Wahlvorschlägen aufgeführten einzelnen Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG (Unterverteilung) verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>2. Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Einspruchsbescheid des Landratsamts Enzkreis vom 28.06.2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, die Gemeinderatswahl der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Weder die Vorschriften über die Stimmabgabe bei der Verhältniswahl nach § 26 Abs. 2 Satz 3 und 4 GemO, § 19 Abs. 2 KomWG noch die Bestimmungen über die sich an die Stimmabgabe anschließende Verteilung der Sitze zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhältnis der ihnen zufallenden Gesamtstimmenzahl gemäß § 25 Abs. 1 KomWG (Oberverteilung) und erst dann auf die in den Wahlvorschlägen aufgeführten einzelnen Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG (Unterverteilung) verstoßen gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl oder den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, Wählervereinigungen und sonstigen Kandidaten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>a) Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, nach dem das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben muss, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist, können die Länder bei der Ausgestaltung des Kommunalwahlrechts sowohl ein reines Mehrheitswahlrecht, ein reines Verhältniswahlrecht oder eine Kombination beider Systeme einführen (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.01.1957 - 2 BvF 3/56 -, juris Rn. 30). Der Landesgesetzgeber ist durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG insbesondere nicht gehalten, das Verhältniswahlrecht rein oder nur in abgewandelter Form einzuführen (vgl. StGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 -, ESVGH 29, 160, 163).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Nach Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV ist landesverfassungsrechtlich vorgeschrieben, dass die Wahl in der Gemeinde bei Einreichung von mehr als einer gültigen Wahlvorschlagsliste unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl zu erfolgen hat. Mit der aktuellen Fassung ist die für die Gemeinderatswahlen einschlägige verfassungsrechtliche Vorgabe im Vergleich zu einer früheren Entwurfsfassung, die „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ lautete, und im Vergleich zu Art. 28 Abs. 1 LV, der für die Landtagswahlen ein Verfahren vorschreibt, das „die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet“, schon ihrem Wortlaut nach die schwächere. Mit der Vorgabe des Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV, dass die Wahl unter Berücksichtigung der Grund- sätze der Verhältniswahl zu erfolgen hat, sind die landesverfassungsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Ausgestaltung der Gemeinderatswahlen als Verhältniswahl damit zurückgenommen und zugunsten anderer Wahlziele offener (vgl. StGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 -, ESVGH 29, 160, 162; Senat, Urt. v. 27.02.1996 - 1 S 2570/95 -, juris Rn. 27).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Bei jeder Gestaltung des Wahlrechts ist der Gesetzgeber an den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit sowie die weiteren Wahlrechtsgrundsätze gebunden (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.01.1957 - 2 BvF 3/56 -, juris Rn. 30). Der Gesetzgeber ist vor dem Hintergrund der Wahlrechtsgleichheit verpflichtet, das ausgewählte Wahlsystem ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten und keine strukturwidrigen Elemente einzuführen. Er ist bei der Gestaltung des Wahlrechts gehalten, die Gleichheit der Wahl innerhalb des jeweiligen Wahlsystems zu wahren. Er muss, wenn er sich für ein Wahlsystem entschieden hat, die im Rahmen des jeweiligen Systems geltenden Maßstäbe der Wahlgleichheit beachten (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 -, juris Rn. 100 bis 101).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl hat unter dem Grundgesetz und unter der Landesverfassung die gleiche Bedeutung und den gleichen Inhalt (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 -, juris Rn. 95). Er sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss. Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwert- und Erfolgschancengleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.09.2017 - 2 BvC 46/14 -, juris Rn. 59 m. w. N.). Die Verhältniswahl in strikter Ausprägung macht das gewählte Vertretungsorgan zum getreuen Spiegelbild der parteipolitischen - beziehungsweise auf kommunaler Ebene auch der sonstigen - Gruppierung der Wählerschaft, in dem jede politische Richtung in der Stärke vertreten ist, die dem Gesamtanteil der für sie abgegebenen Stimmen entspricht (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 - 2 BvF 1/95 -, juris Rn. 63 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Der auf Landesebene aus Art. 26 Abs. 4, Art. 27 Abs. 3 LV i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (vgl. VerfGH Bad.-Württ-, Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 46 m. w. N).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Der Grundsatz der Chancengleichheit findet auch für andere Gruppen oder Kandidierende, die mit den politischen Parteien in den Wettbewerb um Wählerstimmen treten, gleichermaßen Anwendung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.04.2008 - 2 BvL 4/05 -, juris Rn. 49). Er gilt im gesamten Wahlverfahren, also nicht nur für den Wahlvorgang selbst, sondern auch für die Wahlvorbereitung und die Wahlwerbung (vgl. VerfGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 47 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Weder der Grundsatz der Wahlgleichheit noch der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und sonstigen Wahlbewerber unterliegt jedoch einem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter des Grundsatzes der Wahlgleichheit, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, zwingenden Grundes. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen muss, wie dies etwa in Fällen der Kollision des Grundsatzes der Wahlgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder den Grundrechten der Fall sein kann. Differenzierungen im Wahlrecht können auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann. Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehören die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung und konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems den verschiedenen auf die Ziele der Wahl bezogenen verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen und die gegebenenfalls kollidierenden Ziele in Ausgleich zu bringen (vgl. VerfGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 49 und 50).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Differenzierende Regelungen müssen danach zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis Beachtung finden. Der Gesetzgeber muss sich bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit orientieren. Gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 -, juris Rn. 110).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>b) Vor dem Hintergrund dieser Maßgaben ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass weder die Vorschriften über die Stimmabgabe bei der Verhältniswahl nach § 26 Abs. 2 Satz 3 und 4 GemO, § 19 Abs. 2 KomWG noch die Bestimmungen über die sich an die Stimmabgabe anschließende Verteilung der Sitze zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge nach dem Verhält-nis der ihnen zufallenden Gesamtstimmenzahl gemäß § 25 Abs. 1 KomWG (Oberverteilung) und erst dann auf die in den Wahlvorschlägen aufgeführten einzelnen Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG (Unterverteilung) gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, Wählervereinigungen und sonstigen Kandidaten verstoßen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Vielmehr ist die vom Kläger gerügte Differenzierung zwischen vollständigen und unvollständigen Wahlvorschlägen und die daraus für Einzelbewerber und unvollständige Wahlvorschläge folgende geringere Chance, einen Sitz im Gemeinderat zu erringen, in der Kombination der Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl im baden-württembergischen Wahlsystem angelegt und verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn Art. 72 Abs. 2 LV legt in den Grenzen des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG - wie schon zuvor ausgeführt - nicht ein strenges Verhältniswahlsystem in der Gestalt gebundener Wahlvorschläge fest, sondern bringt durch die Formulierung „unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl“ zum Ausdruck, dass das System der sogenannten freien Liste mit der Möglichkeit der beschränkten Stimmenhäufung und der Übernahme von Bewerbern anderer Wahlvorschläge (Kumulieren und Panaschieren) für die Gemeinderatswahlen Anwendung finden kann (vgl. Kunze/Bronner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 4). Dem entsprechen auch die historischen Ausführungen des Verwaltungsgerichts, nach denen die landesverfassungsrechtlichen Vorgaben an die Ausgestaltung der Wahl als Verhältniswahl abgeschwächt wurden, um das vormals schon vorhandene Personenwahlelement in das Verhältniswahlrecht integrieren zu können (vgl. VG Karlsruhe Urt. v. 18.02.2021 - 9 K 5003/19 -, juris Rn. 57).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>c) Demgemäß gehen § 26 Abs. 2 GemO, § 19 Abs. 2, § 25 Abs. 1 und § 26 Abs. 1 KomWG in Übereinstimmung mit Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV erst einmal von einer Verhältniswahl aus. Danach werden die im Gemeinderat zu besetzenden Sitze gemäß § 25 Abs. 1 KomWG zunächst auf die einzelnen Wahlvorschläge verteilt. Dies geschieht in der Weise, dass die gleiche Anzahl von Stimmen, die einer Wählervereinigung zu einem Sitz verhilft, auch bei allen anderen Wählervereinigungen zu einem solchen Sitz ausreicht. Die Bewerber des gleichen Wahlvorschlags bilden also einen Stimmübertragungsverband. Es werden zunächst nicht die Stimmzahlen der einzelnen Bewerber betrachtet, sondern die Gesamtstimmzahlen der Wahlvorschläge verglichen. Hierbei werden auch die Stimmen, die durch Kumulation von bis zu drei Stimmen auf einen Bewerber sowie durch Übernahme von Bewerbern aus anderen Wahlvorschlägen gemäß § 26 Abs. 2 Satz 4 GemO gewonnen werden, dem jeweiligen Wahlvorschlag des jeweiligen Bewerbers zugerechnet. Denn die Verteilung der Sitze im Gemeinderat soll möglichst genau dem Verhältnis der auf die Wahlvorschläge entfallenden Stimmen und damit dem Stärkeverhältnis der an der Wahl beteiligten Wählervereinigungen entsprechen. Erst bei der anschließenden Verteilung der auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenen Sitze auf die Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG entscheidet die Stimmenanzahl der einzelnen Bewerber (vgl. Kunze/Bronner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 2). Damit der Wahlberechtigte auf dieser zweiten Stufe der Wahl seine personellen Präferenzen für den Gemeinderat „sitzgenau“ in den Wahlprozess einbringen kann, ist es erforderlich, dass jeder Wahlberechtigte gemäß § 26 Abs. 2 Satz 4 GemO kumulieren und panaschieren kann sowie gemäß § 26 Abs. 2 Satz 3 GemO so viele Stimmen hat, wie Gemeinderäte zu wählen sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Hieran zeigt sich, dass die Wahl im ersten Schritt der Oberverteilung gemäß § 25 Abs. 1 KomWG eine Verhältniswahl ist und erst im Rahmen der Unterverteilung nach § 26 Abs. 1 KomWG das Personenwahlelement zum Tragen kommt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>d) Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass es sich in diesem System auch auswirkt, ob die Wählervereinigung einen vollständigen oder nur einen unvollständigen Wahlvorschlag eingereicht hat. Denn eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Wahlvorschlägen anhand ihrer Besetzung trägt - wie es das Verwaltungsgericht schon ausgeführt hat - dem Umstand Rechnung, dass eine Partei oder Wählervereinigung, für deren Wahlvorschlag sich eine größere Anzahl Bewerber hat aufstellen lassen, eine höhere Aggregation des Wählerwillens in der Gemeinde in sich trägt und damit die Integrationsfunktion des Wahlprozesses bereits zu einem gewissen Teil vor dem eigentlichen Wahlvorgang geleistet hat (vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.1977 - 2 BvE 1/76 -, juris Rn. 59; VerfG Brandenburg, Urt. v. 23.10.2020 - 9/19 -, juris Rn. 140). Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und sonstiger Wahlbewerber steht dem nicht entgegen. Denn er verlangt nicht, dass der Gesetzgeber vorhandene Unterschiede zwischen diesen beseitigt, sondern ihnen lediglich die gleichen Möglichkeiten im Wahlprozess einräumt (vgl. VerfGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.11.2020 - 1 GR 101/20 -, juris Rn. 47 m. w. N.). Daher kann der Kläger - wie es das Verwaltungsgericht schon zu Recht festgehalten hat - nicht verlangen, dass mehr als drei Stimmen oder sogar alle zu vergebenden Stimmen einem Bewerber gegeben werden können. Denn der Gesetzgeber hat sich zulässigerweise dafür entschieden, die Oberverteilung der Sitze nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vorzunehmen. Der Gesetzgeber war dabei auch nicht gehalten, die sich aus der unterschiedlichen Zahl von Bewerbern auf den einzelnen Wahllisten ergebende Unterschiede zu nivellieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>e) Unabhängig hiervon würde eine weitergehende Kumulierungsmöglichkeit das personale Element innerhalb des Kommunalwahlrechts weiter verstärken, obwohl es schon jetzt als sehr weitgehend angesehen wird und die Gefahr in sich trägt, dass Wahlvorschläge in ihrer Gesamtheit viele Stimmen und Mandate aufgrund einzelner beliebter Persönlichkeiten erhalten, und die so errungenen Mandate bei unvollständigen Wahlvorschlägen unter Umständen nicht besetzt werden könnten (vgl. Kunze/Bronner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 4). Der Erfolg eines Wahlvorschlags muss im System der Verhältniswahl, von dem auch das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg mit Blick auf Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV ausgeht, somit nicht von einzelnen Persönlichkeiten, sondern dem Stärkeverhältnis der an der Wahl beteiligten Wählervereinigungen abhängen. Denn nur dann kann der Gemeinderat die parteipolitischen - beziehungsweise auf kommunaler Ebene auch der sonstigen - Gruppierungen der Wählerschaft abbilden. Dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass auf einen Wahlvorschlag mit mehreren Bewerbern auch mehr Stimmen entfallen können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>f) Mit der Möglichkeit, weitere Bewerber für den eigenen Wahlvorschlag zu gewinnen oder einem anderen Wahlvorschlag als Bewerber beizutreten, besteht - anders als der Kläger annimmt - auch nicht die Gefahr, dass Personen mit entgegengesetzten politischen Anschauungen nur deswegen einen gemeinsamen Wahlvorschlag einreichen, um möglichst viele Mandate zu erringen. Denn die Wahlbewerber könnten es dann, gerade aufgrund der Möglichkeiten für den Wähler zu kumulieren und zu panaschieren, nicht verhindern, dass der politische Gegner mit Unterstützung der eigenen Stimmen in den Gemeinderat einzöge. Daher kann davon ausgegangen werden, dass Personen nur dann einen gemeinsamen Wahlvorschlag einreichen, wenn sie auch politisch gleichgerichtete Interessen vertreten. In diesem Fall läge auch keine Umgehung der Kumulierungsregelung vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>g) Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht im Hinblick auf den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zu Recht ausgeführt, dass die Erfolgswertgleichheit der Stimmen auch im bestehenden System gewahrt ist, weil sich die abgegebenen Stimmen eines Wahlberechtigten in gleicher Weise wie die Stimmen aller anderen Wahlberechtigten auf die Zusammensetzung des Gemeinderats auswirken. Der Wähler ist in diesem System der personalisierten Verhältniswahl lediglich daran gehindert, die Gesamtzahl der ihm zustehenden Stimmen an einen Wahlvorschlag zu vergeben, der nicht über die notwendige Anzahl an Bewerbern verfügt, die zur Besetzung wenigstens eines Drittels des Gemeinderats erforderlich sind. Dies ist jedoch zum einen keine Frage der Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen und zum anderen - wie schon zuvor ausgeführt - dadurch systemimmanent gerechtfertigt, dass die Anzahl der Bewerber auf einem Wahlvorschlag auch dessen Stärke mitbestimmt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>h) Soweit der Kläger vorträgt, dass es auch bei vollständigen Wahlvorschlägen geschehen könne, dass ein Wahlvorschlag ein Mandat erhalte und der in den Gemeinderat einziehende Bewerber dieses Wahlvorschlags weniger Stimmen bekommen habe, als ein Bewerber eines anderen Wahlvorschlags, auf den kein Mandat entfallen sei, führt dies nicht weiter. Der Kläger verkennt, dass es sich auf der ersten Stufe der Wahl - wie zuvor ausgeführt - um eine Verhältniswahl handelt. Es kommt somit auf dieser Stufe nicht darauf an, wie viele Stimmen den einzelnen Wahlbewerbern zukommen, sondern darauf, wie viele Stimmen auf den jeweiligen Wahlvorschlag entfallen. Erst bei der anschließenden Verteilung der auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenen Sitze auf die Bewerber gemäß § 26 Abs. 1 KomWG entscheidet die Stimmenanzahl der einzelnen Bewerber. Dies ist auch sachgerecht, weil das Kommunalwahlrecht Baden-Württembergs mit Blick auf Art. 72 Abs. 2 Satz 1 LV von einem Verhältniswahlsystem ausgeht. Der Erfolg eines Wahlvorschlags muss in einem System, das von der Verhältniswahl ausgeht, nicht von einzelnen Persönlichkeiten, sondern dem Stärkeverhältnis der an der Wahl beteiligten Wählervereinigungen und deren Wahlvorschlägen abhängen. Denn nur dann kann der Gemeinderat die parteipolitischen - beziehungsweise auf kommunaler Ebene auch der sonstigen - Gruppierungen der Wählerschaft abbilden. Dabei ist es - wie ebenfalls zuvor ausgeführt - verfassungsrechtlich unbedenklich, dass auf einen Wahlvorschlag mit mehreren Bewerbern auch mehr Stimmen entfallen können als auf einen Wahlvorschlag mit weniger Bewerbern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>i) Ob der Kläger bei einer Mehrheitswahl gemäß § 26 Abs. 3 GemO und § 27 KomWG in den Gemeinderat eingezogen wäre, kann dahinstehen, weil bei der Einreichung mehrerer gültiger Wahlvorschläge keine Mehrheitswahl durchgeführt wird, und das Wahlverhalten der Wähler bei einer Mehrheitswahl nicht einfach aus dem Wahlverhalten bei einer Wahl nach § 26 Abs. 2 GemO abgeleitet werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>j) Mit dem Vortrag, dass das gegebene Wahlsystem kleinere Wählervereinigungen gegenüber größeren Wählervereinigungen begünstigen würde, kann der Kläger ebenfalls nicht durchdringen. Denn da der Gesetzgeber bei verschiedenen in Betracht kommenden Verteilungssystemen eine Wahl zwischen diesen hat, sind die mit dem gewählten Verteilungssystem nach Sainte-Laguë/Schepers verbundenen systembedingten Differenzierungen im Erfolgswert grundsätzlich hinzunehmen. Solche systembedingten Differenzierungen entstehen nicht nur für die Listen, deren errungene Stimmen für die Berücksichtigung bei der Sitzverteilung nicht ausreichen, sondern führen auch zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der für größere Parteien oder Wählervereinigungen abgegebenen Stimmen und damit zu einer - ebenfalls systemimmanenten - Benachteiligung größerer Parteien oder Wählervereinigungen, die für die Erlangung eines Sitzes nach dem Höchstzählverfahren gemäß § 25 Abs. 1 KomWG mehr Stimmen erzielen müssen als eine kleinere Wählervereinigung (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 26.09.2016 - 15 A 2466/15 -, juris Rn. 28 zum insoweit vergleichbaren Landesrecht). Die faktische Sperrwirkung, die - wie hier - zum Ausschluss ganzer Wahlvorschläge führen kann und damit im Ergebnis den Erfolgswert der für diese Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen beeinträchtigt, ist damit zu rechtfertigen, die Zahl der Gemeinderatsmitglieder gerade kleinerer Gemeinden im Vergleich zu größeren Gemeinden zu beschränken (vgl. Quecke/Gackenholz/Bock, Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2014, § 25 Rn. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>k) Mit seinem weiteren Vorbringen, der Gemeinderat der Beigeladenen habe in verfassungswidriger Weise auf seine Erfolgsaussichten bei der Gemeinderatswahl Einfluss genommen, indem er es unterlassen habe, die Zahl der Gemeinderatssitze gemäß § 25 Abs. 2 GemO von achtzehn auf vierzehn Sitze zu reduzieren, ist der Kläger - wie es das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat - bereits nach § 31 Abs. 1 Satz 2 KomWG präkludiert (vgl. Senat, Urt. v. 27.02.1996 - 1 S 2570/95 -, juris Rn. 46). Zudem ist es auch für den Senat nicht zu erkennen, dass das Unterlassen der Beigeladenen, von der in § 25 Abs. 2 2. HS GemO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, im Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Kommunalwahlrecht und dabei insbesondere der Chancengleichheit der Wahlbewerber stünde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>IV. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss vom 22. August 2022</span></strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 2 GKG für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,-- Euro festgesetzt (vgl. Senat, Beschl. v. 02.05.2019 - 1 S 581/22 -, VBlBW 2020, 40).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,476 | vg-hannover-2022-08-22-4-b-264822 | {
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} | 4 B 2648/22 | 2022-08-22T00:00:00 | 2022-09-08T10:01:09 | 2022-10-17T11:09:54 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 50.000,00 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller wenden sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Nutzungsänderung und den Anbau eines Wohnhauses zu Fremdenzimmern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Das Vorhabengrundstück mit der postalischen Anschrift S. 9 in T. (Flurstück U., Flur V., Gemarkung W.) liegt an der Straße S. (Landesstraße X.), die in ostwestlicher Richtung verläuft und ist straßenseitig mit einem Wohnhaus bebaut, in dem derzeit die Nutzung von 6 Fremdenzimmern genehmigt ist. Die Antragsteller zu 4.) und zu 5.) sind Eigentümer des unmittelbar östlich angrenzenden Grundstücks Y., die Antragsteller zu 6.) und zu 7.) des nordwestlich an das Vorhabengrundstück angrenzenden Grundstücks Z., die Antragstellerin zu 3.) Eigentümerin des nördlich angrenzenden Grundstücks AA. und die Antragsteller zu 1.) und zu 2.) Eigentümer des östlich davon liegenden Grundstücks AB., das nicht unmittelbar an das Vorhabengrundstück angrenzt. Die Grundstücke der Antragsteller sind jeweils mit Wohnhäusern bebaut. Auf den Grundstücken Y. und AC. sind jeweils Garagen nordwestlich der straßenseitigen Wohnbebauung und auf den Grundstücken Z. und AD. jeweils straßenseitige Garagen genehmigt. Auf dem Grundstück AE., das an der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Straße AF. liegt, ist die Garage an der südwestlichen Grundstücksgrenze errichtet. Darüber hinaus befinden nördlich und südlich dieses Grundstücks jeweils straßenseitige Carportanlagen. Westlich des Vorhabengrundstücks befindet sich ein weiteres Grundstück mit Wohnbebauung und wiederum westlich angrenzend das Grundstück AG., das einem landwirtschaftlichen Betrieb dient und etwa ein Drittel der gesamten Fläche des Straßengevierts – bestehend aus den Straßen S. (im Süden), AH. (im Westen und Nordwesten) und AF. (im Nordosten und Osten) – umfasst. Östlich der Straße AF. befindet sich auf dem Eckgrundstück AI. ein großflächiger REWE Einkaufsmarkt. Gegenüber dem Vorhabengrundstück, südlich der Straße S., liegt ein Gartencenter. Ein Bebauungsplan für das Vorhabengrundstück und die umliegenden Grundstücke des Straßengevierts existiert nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Bild 1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Unter dem 15.06.2017 stellte die Beigeladene einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung für Sonderbauten (Nutzungsänderung und Anbau eines Wohnhauses zu Fremdenzimmern mit insgesamt 28 Betten). Ausweislich der Betriebsbeschreibung soll das Gebäude Monteuren aus dem In- oder Ausland eine Unterkunft bieten, wobei größtenteils Monteure aus dem Ausland erwartet werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Nach den ursprünglichen Bauunterlagen sollte an das vorhandene straßenseitige Gebäude in nördlicher Richtung ein 14,6 m langer und 9,52 m breiter zweigeschossiger Anbau erstellt und nördlich daran angrenzend 8 Stellplätze errichtet werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Ausweislich eines Aktenvermerks vom 14.07.2017 der Antragsgegnerin beschwerten sich die Antragsteller zu 1.) und 2.) am 07.07.2017 über Lärm durch die häufige Nutzung des hinteren Gartenbereichs auf dem Vorhabengrundstück, insbesondere laute Musik und Fußballspielen. Zuvor hatten sich bereits die Antragsteller zu 4.) und 5.) über eine Lärmbelästigung durch intensive Gartennutzung auf dem Vorhabengrundstück beschwert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 18.07.2017 erteilte die Niedersächsische Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr ihr Benehmen mit dem Vorhaben der Beigeladenen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Mit weiterem Schreiben vom 30.07.2017 teilten die Antragsteller mit, dass es auf dem Vorhabengrundstück sehr laut sei, seitdem die Vermieterin dort nicht mehr wohne. Es seien zahlreiche überdachte Möglichkeiten zum Aufenthalt aufgebaut und eine Tischtennisplatte aufgestellt worden. Nach Feierabend hielten sich wochentags von 18 bis 23 Uhr, vereinzelt auch länger, mehr als zehn erwachsene männliche Personen im Garten auf, am Wochenende sogar ab 12 Uhr bis nach Mitternacht. Durch laute Unterhaltungen, Fußball- und Tischtennisspielen und teilweise lautes Radiohören sei der Aufenthalt auf ihren eigenen Terrassen unerträglich geworden. Es werde in die Hecken und Büsche der Nachbarn uriniert, was nicht tolerabel sei. Die beantragte Nutzungsänderung werde die Lautstärke noch weiter steigen lassen. Eine gewerbliche Nutzung im Wohngebiet werde abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 16.11.2017 regte die Antragsgegnerin gegenüber der Beigeladenen an, in Hinblick auf die Nachbarbeschwerden die Bauunterlagen zu überarbeiten und u.a. von einer Nutzung des Außenbereichs grundsätzlich abzusehen und sicherzustellen, dass die Hausordnung eingehalten werde. Zudem sei für die Abweichung von brandschutzrechtlichen Vorschriften noch ein Abweichensantrag zu stellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Nachdem die Beigeladene die angeforderten Unterlagen zunächst nicht vorlegte, kündigte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 21.12.2018 an, den Antrag als nicht prüffähig abzulehnen, wenn die Unterlagen nicht bis zum 15.02.2019 vorlägen und – in Hinblick auf die illegale Nutzung – eine Nutzungsuntersagung in Betracht zu ziehen, da 23 Personen in ihrem Haus gemeldet seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene übermittelte daraufhin eine erweiterte Betriebsbeschreibung und geänderte Bauunterlagen, denen zufolge im rückwärtigen Bereich nur noch fünf Stellplätze entstehen, die über eine Zufahrt entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze zum östlichen Grundstücksnachbarn (Antragsteller zu 4.) und 5.)) erschlossen werden. Weiter soll die Stellplatzfläche mit Hecken zur hinteren Grundstücksfläche abgegrenzt und der rückwärtige Gartenbereich von Nutzungen freigehalten werden. Auf der Länge der Zufahrt soll zum östlichen angrenzenden Grundstück ein 1,80 m hoher Sichtschutzzaun errichtet werden. Südlich des Bestandsgebäudes sind straßenseitig drei weitere Stellplätze geplant. Ausweislich der erweiterten Betriebsbeschreibung sollen sich die Monteure in der Regel von montags bis samstags in der Zeit von 18 Uhr bis 6.30 Uhr in der Unterkunft aufhalten können, vereinzelt auch an den Wochenenden. Die Benutzung des Außen-/Gartenbereichs wird untersagt und mit einem Zaun/einer Hecke abgegrenzt. Ein Raucherbereich wird vor dem Haus zur Straße eingerichtet und ein Hausmeister eingestellt, um den Hausfrieden zu wahren. Auch eine Hausordnung wurde als Bestandteil der Betriebsbeschreibung eingereicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 11.06.2020 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung und zum Anbau eines Wohnhauses zu Fremdenzimmern mit insgesamt 28 Betten mit einem ergänzenden Lageplan zur Anordnung der Stellplätze sowie einer Betriebsbeschreibung, einer erweiterten Betriebsbeschreibung und einer Hausordnung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Bild 2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Hiergegen haben die Antragsteller am 08.07.2020 Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Nachdem die Antragsteller am 11.05.2022 bei der Antragsgegnerin vergeblich Aussetzung der Vollziehung beantragt hatten, haben sie am 28.06.2022 beim Verwaltungsgericht Hannover einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Es sei nicht zu beanstanden, dass sie nunmehr einen Eilantrag bei Gericht gestellt hätten, nachdem über die vor zwei Jahren eingelegten Widersprüche noch nicht entschieden worden sei und Bauarbeiten aufgenommen worden seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die Umgebung des Vorhabengrundstücks entspreche einem Allgemeinen Wohngebiet, in dem ein Wohnheim für wechselnde Monteure unzulässig sei. Planungsrechtlich trenne die Straße S. das Gebiet nach Süden ab. Trennende Wirkung habe zudem die Straße AF. in Richtung Osten. Das Gebiet zwischen der Straße AF. im Osten und der Straße AH. im Westen bestehe – mit Ausnahme des auf dem Eckgrundstück befindlichen landwirtschaftlichen Betriebs – ausschließlich aus Wohnbebauung. Der landwirtschaftliche Betrieb sei dort einzigartig und deshalb nicht zu berücksichtigen. Das Monteurwohnheim stelle keinen zulässigen Beherbergungsbetrieb, sondern eine die Umgebung störende Nutzung dar. Montagearbeiter, die vorübergehend in einem Wohnheim untergebracht seien, verhielten sich an ihren freien Tagen deutlich lauter und störender als die Bewohner eines Wohngebiets. Insbesondere sei mit einem gewissen Alkoholkonsum und einem damit verbundenen Geräuschpegel zu rechnen. Dies belege auch die Praxis, da die Beigeladene die Nutzung für diese Zwecke (im geringeren Umfang) bereits vor fünf Jahren aufgenommen habe und die Arbeiter die Freiflächen bei gutem Wetter ständig nutzten. Entgegen der Darstellung der Beigeladenen sei davon auszugehen, dass die Monteure an den Wochenenden nicht nach Hause fahren, sondern ihre Freizeit auf dem Grundstück verbringen und es dadurch zu deutlich höheren Störungen für die Nachbarschaft komme.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Der massive zweigeschossige Anbau stelle darüber hinaus einen Fremdkörper dar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Zudem würden erstmals Einstellplätze in der Grundstückstiefe vorgesehen, die Verkehrslärm in die Grundstücke hineintrügen. Bislang habe es in der Tiefe der Grundstücke nur Gartennutzungen gegeben. Die Geräuschbelästigungen durch An- und Abfahrverkehr seien unzumutbar, da Monteure jedenfalls zum Teil im Schichtdienst tätig seien und daher auch mit Verkehrslärm nachts zu rechnen sei. Zudem sei die Stellplatzanlage mit Blick auf die Anzahl der Stellplätze für 28 (oder gar 68) Monteure unzureichend und es sei damit zu rechnen, dass im hinteren Bereich mehr als fünf Fahrzeuge abgestellt werden. Die Beigeladene werbe damit, dass ein kleiner, ein großer und sogar ein LKW-Stellplatz vorhanden seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Es sei davon auszugehen, dass die Beigeladene im Bestandsbau 40 Personen und im Anbau 28 Personen unterbringen könne, so dass insgesamt 68 Monteure das Wohnheim nutzen könnten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Das Benutzungsverbot des Gartens und die Bezugnahme auf die Hausordnung seien nicht ausreichend, um den entstehenden Nutzungskonflikt zu lösen, da diese Regelungen weder umgesetzt noch überwacht werden (könnten).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller beantragen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 11.06.2020 betreffend das Baugrundstück S. 9 in AJ. anzuordnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Die Genehmigung der Nutzungsänderung eines Wohnhauses in Fremdenzimmer mit insgesamt 28 Betten bedeute, dass sich dort maximal 28 Personen aufhalten dürften. Im Alt- und Anbau seien insgesamt 15 Gästezimmer geplant nebst Gemeinschaftsbädern und einer Gemeinschaftsküche. Da die Umgebung des Vorhabengrundstücks keinem der Baugebiete der §§ 3 ff. BauNVO entspreche, sei nicht § 34 Abs. 2, sondern § 34 Abs. 1 BauGB für die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens maßgeblich. Das Vorhaben füge sich wegen der Mischung der verschiedenen Nutzungsarten (Einkaufsmarkt, landwirtschaftlicher Betrieb, Gaststätte und Wohnen) ebenfalls ein. Der Flächennutzungsplan sehe für diesen Bereich eine Bebauung als Mischgebiet vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Das Rücksichtnahmegebot werde nicht verletzt, da die Baugenehmigung ausreichend Schutzmaßnahmen für die nördlich angrenzenden Grundstücke vorsehe. Der rückwärtige Grundstücksbereich sei als Ruhezone geplant, mit Sichtschutzbepflanzung, gärtnerischem Anlegen einer Ruhezone und dem Aufstellen eines Sichtschutzzauns. Auch die Hausordnung und die Betriebsbeschreibung sowie die erweiterte Betriebsbeschreibung stellten klar, dass die Benutzung des Außenbereichs des Grundstücks untersagt werde, um eine Lärmbelästigung der Nachbarn zu vermeiden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene beantragt ebenfalls,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Die Bebauung entspreche keinem der Baugebiete im Sinne der §§ 3 ff. BauNVO, allenfalls einem Dorf- oder Mischgebiet. Abzustellen sei auf den Bereich zwischen dem Grundstück AK. im Osten, das mit einem großflächigen REWE-Markt bebaut sei und dem Grundstück AL. im Westen, das einem landwirtschaftlichen Betrieb diene. Auf dem Grundstück AG. befinde sich ebenfalls ein landwirtschaftlicher Betrieb, auf dem westlich davon liegenden Grundstück AM. befinde sich ein Restaurant mit Tanzsaal, das von der Tanzsparte des AN. mit Trainingszeiten an mehreren Tagen in der Woche z.T. bis 22 Uhr oder 22.15 Uhr genutzt werde. Auch auf dem Grundstück Y. habe es über einen langen Zeitraum neben der Wohnnutzung noch Nichtwohnnutzung (Stall, dann Lagerplatz für Kleinhandel mit Getränken und verpackten Lebensmitteln) gegeben. Die Prägung der Umgebung durch diese Nutzungen widerspreche der Einordnung als Allgemeines Wohngebiet. Zudem komme der Straße S. auch keine trennende Wirkung bei, so dass auch der dem Vorhabengrundstück gegenüberliegende Betrieb AO. zu berücksichtigen sei. Es sei daher von einer Gemengelage auszugehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Selbst wenn man von einem Allgemeinen Wohngebiet ausgehe, liege bei einer Monteurunterkunft mit Einzelzimmern Wohnen im Sinne von § 4 BauNVO vor. Ggfs. handele es sich um ein nichtstörendes Gewerbe, das jedenfalls ausnahmsweise zulässig sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragsteller Störungen durch übermäßigen Alkoholkonsum, Grillen oder Notdurftverrichtung behaupteten, handele es sich um Fehlverhalten ohne planungsrechtliche Relevanz, das zudem durch die Hausordnung als Baugenehmigungsbestandteil für die Zukunft reglementiert sei. Zudem drohten entsprechende Wohngeräusche im Sinne einer Nutzung der Außenflächen grundsätzlich durch jeden Grundstücksnachbarn.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Fragen betreffend die überbaubaren Flächen seien nicht nachbarschützend.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Die Anzahl der Stellplätze sei zutreffend nach den Richtzahlen für den Einstellplatzbedarf mit einem Platz je 4 Betten ermittelt worden. Bei Montagekolonnen sei aus betriebswirtschaftlichen Gründen mit einer Anreise von mehreren Personen im Kleinbus auszugehen. Zudem befinde sich in der Nähe der Bahnhof und es gebe im öffentlichen Straßenraum ausreichend Stellplätze. Abzustellen sei nicht auf die bisherige Nutzung, sondern den mit der angefochtenen Baugenehmigung zulässigen Nutzungsumfang.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Die Anordnung der Stellplätze sei in diesem Einzelfall auch nicht rücksichtslos. Die Grundstücke AP. bis AQ. verfügten bereits über lange, in die Tiefe der Grundstücke reichende Zufahrten zur Erschließung rückwärtiger Garagen oder Stellplätze, so dass die rückwärtigen Grundstücksbereiche durch Stellplatznutzungen vorgeprägt seien. Auch auf dem Grundstück AE. sei eine rückwärtige Garage an der Südwestgrenze des Grundstücks genehmigt worden. Östlich der nunmehr geplanten Stellplätze auf dem Vorhabengrundstück befinde sich auf dem Grundstück Y. ein großer Teich und erst nördlich davon offenbar dem Freizeitwohnen dienende bauliche Bereiche. Von einer Beeinträchtigung der Wohnnutzung auf dem Grundstück Y. durch die Zufahrt sei ebenfalls nicht auszugehen, da die bestehenden Baugenehmigungen für die baulichen Anlagen auf diesem Grundstück in diesem Bereich keine fenstermäßig nach Westen ausgerichteten schutzbedürftigen Aufenthaltsräume vorsehen würden. Die Grundstücke AF. grenzten ausnahmslos an das nördliche Drittel des Grundstücks der Beigeladenen an und damit an Gartenflächen, die aufgrund der Nebenbestimmungen (Grüneintragungen) nicht zur Nutzung freigegeben seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Problematisch sei zudem, dass die Antragsteller bis zum Beginn der Errichtung des Neubaus (Bodenplatte) gewartet hätten, um den Aussetzungsantrag zu stellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Der Antrag hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung ist nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft, da der Widerspruch nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5, Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung entfaltet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Zwar ist aus den vorgelegten Akten nicht ersichtlich, ob über den Aussetzungsantrag der Antragsteller vom 11.05.2022 zwischenzeitlich entschieden worden ist. Grundsätzlich ist nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 6 VwGO vor Stellung des Eilantrags bei Gericht die Entscheidung der Antragsgegnerin über den Aussetzungsantrag abzuwarten. Abweichend von diesem Grundsatz ist ein Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auch vor der Entscheidung der Behörde über den Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO zulässig, wenn die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat (Nr. 1) oder wenn eine Vollstreckung droht (Nr. 2). Letzteres dürfte vorliegend anzunehmen sein, weil die Bauarbeiten auf dem Vorhabengrundstück – nach den vorgelegten Lichtbildern – zwischenzeitlich begonnen haben. Dass die Antragsteller ihren Eilantrag erst zwei Jahre nach Einlegung des Widerspruchs gestellt haben, ist rechtlich irrelevant und lässt den Eilantrag insbesondere nicht treuwidrig erscheinen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise anordnen, wenn das Interesse des Nachbarn, von der Vollziehung der angegriffenen Baugenehmigung verschont zu bleiben, das Interesse des Bauherrn an ihrer Ausnutzung überwiegt. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung ist das Risiko des Nachbarn, die Folgen der Verwirklichung der angegriffenen Maßnahme trotz möglichen späteren Erfolges in der Hauptsache dulden zu müssen, mit dem Risiko des Bauherrn abzuwägen, die Verwirklichung des Vorhabens trotz möglicher späterer Klageabweisung aufschieben zu müssen. Bei der zwischen beiden Folgeabschätzungen vorzunehmenden Abwägung spielt die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs in der Regel eine entscheidende Rolle. Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung lässt sich hier absehen, dass der von den Antragstellern eingelegte Rechtsbehelf keinen Erfolg haben wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Die Anfechtung einer Baugenehmigung durch einen Nachbarn kann nur dann zum Erfolg führen, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und der Nachbar dadurch in seinen Rechten verletzt wird. Die Zulassung des Bauvorhabens durch die Bauaufsicht verletzt einen Nachbarn dann in seinen Rechten, wenn sie mit Vorschriften nicht vereinbar ist, die – zumindest auch – die Funktion haben, nachbarliche Rechte zu schützen. Dies ist hier voraussichtlich nicht der Fall. Nach summarischer Prüfung hat der Widerspruch der Antragsteller gegen die Baugenehmigung mit dem Argument, dass sich das Vorhaben nicht in den Gebietscharakter (eines Allgemeinen Wohngebiets) einfüge (1.) und die Nutzung im Übrigen rücksichtslos sei, weil sowohl von den Monteuren, die sich im Wohnheim aufhielten als auch vom (im Übrigen unzureichend ermittelten) Stellplatzverkehr im hinteren Grundstücksbereich unzumutbare Lärmbelästigungen ausgingen (2.) und der zweigeschossige Anbau einen Fremdkörper in der Umgebung darstelle (3.), voraussichtlich keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>1. Der sog. Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen. Der Anspruch ist eine Folge davon, dass Baugebietsfestsetzungen kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. Die weitreichende nachbarschützende Wirkung beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Hinblick auf diese wechselseitig wirkende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Grundeigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) hat jeder Eigentümer – unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung – das Recht, sich gegen eine schleichende Umwandlung des Gebiets durch Zulassung einer gebietsfremden Nutzung zur Wehr zu setzen. Aus der Gleichstellung geplanter und faktischer Baugebiete im Sinne der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung durch § 34 Abs. 2 BauGB ergibt sich, dass in diesem Umfang auch ein identischer Nachbarschutz schon vom Bundesgesetzgeber festgelegt worden ist (grundlegend BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151 ff.; vgl. auch VGH München, Beschl. v. 23.01.2018 - 15 CS 17.2575 -, Rn. 18, juris). Insofern wird die zulässige Art der baulichen Nutzung nicht nur im Gebiet eines Bebauungsplans, sondern auch im faktischen Baugebiet unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung vom Gebietserhaltungsanspruch erfasst (Nds. OVG, Beschl. v. 20.09.2017 - 1 ME 111/17 -, Rn. 12, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der BauNVO entspricht, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre. Als maßgebliche nähere Umgebung ist die Umgebung anzusehen, insoweit sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst.Für die Beurteilung der Eigenart der näheren Umgebung ist alles an Bebauung in den Blick zu nehmen, was tatsächlich vorhanden ist und nach außen wahrnehmbar in Erscheinung tritt. Für die Beurteilung der Eigenart der näheren Umgebung außer Acht gelassen werden darf lediglich, was die Bebauung nicht prägt, weil es nicht die Kraft hat, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, oder in ihr gar als Fremdkörper erscheint. Ob eine vorhandene, nicht genehmigte Bebauung bei der Bestimmung der näheren Umgebung zu berücksichtigen ist, hängt davon ab, ob diese in einer Weise geduldet wird, die keinen Zweifel daran lässt, dass die zuständigen Behörden sich mit ihrem Vorhandensein abgefunden haben (OVG Lüneburg, Urt. v. 09.10.2019 - 1 LB 147/17 -, Rn. 24, juris; BVerwG, Urt. v. 06.06.2019 - 4 C 10/18 -, Rn. 11 ff., juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Anders als die Antragsteller meinen, liegen ihre jeweils mit Wohnhäusern bebauten Grundstücke und das Vorhabengrundstück nicht gemeinsam in einem faktischen Allgemeinen Wohngebiet, so dass die Geltendmachung eines Gebietserhaltungsanspruchs hier ausscheidet. Nach Auswertung des vorhandenen Kartenmaterials aus dem Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin sowie des verfügbaren Kartenmaterials unter Google Maps kann offenbleiben, ob eine Gemengelage vorliegt oder ein Misch- oder Dörfliches Wohngebiet, da angesichts der vorhandenen Nutzungen die Eigenart der näheren Umgebung jedenfalls keinem Allgemeinen Wohngebiet entspricht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Zwar dient – wie von den Antragstellern vorgetragen – die Bebauung westlich und südlich der nach Westen abknickenden Straße AF., nördlich der Straße S. im Bereich der Häuser Nummer 3 bis 11 und südlich der Straße AH. im Wesentlichen dem allgemeinen Wohnen und entspricht damit (in diesem Teilbereich) einem Allgemeinen Wohngebiet. Allerdings lässt diese beschränkte Betrachtungsweise außer Acht, dass sich im östlichen Teil des Straßengevierts S., AH. und AF. noch das landwirtschaftlich genutzte Grundstück AG. befindet, das von der Grundfläche her mindestens ein Drittel des Straßengevierts ausmacht und damit die Umgebung ganz wesentlich prägt. Gerade die Größe der Hofstelle mit ihrem prägenden Charakter schließt es aus, den landwirtschaftlichen Betrieb als einen Fremdkörper zu betrachten und daher unberücksichtigt zu lassen (so im Ergebnis auch OVG Koblenz, Urt. v. 20.11.2018 - 1 A 11633/17 -, Rn. 34, BeckRS 2018, 53597). Gleichzeitig steht das Vorhandensein eines landwirtschaftlichen Betriebs bereits für sich genommen der Annahme eines Allgemeinen Wohngebiets im Sinne von § 4 BauNVO entgegen, da landwirtschaftliche Betriebe im Allgemeinen Wohngebiet nicht zulässig sind. Zudem dürften auch die Nutzungen westlich der Straße AH. und östlich der Straße AF. mit zu berücksichtigen sein. Beide Straßen sind schmal und haben keine trennende Wirkung, so dass auch die Nutzungsarten jenseits dieser Straßen in den Blick zu nehmen sind. Auf dem Grundstück östlich der Straße AR. mit der postalischen Anschrift S. 1 befindet sich ein großflächiger Lebensmittelmarkt, der kaum mehr nur der Versorgung des Gebiets im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO dienen dürfte und damit ebenfalls gegen die Prägung als Allgemeines Wohngebiet spricht. Darüber hinaus dürfte aus Sicht der Kammer nicht nur die westliche, östliche und nördliche Bebauung, sondern auch die Bebauung südlich des Vorhabengrundstücks und der Straße S. bei der Frage der Gebietsprägung mit einzubeziehen sein. Auch wenn es sich bei der Straße S. um eine Landesstraße handelt, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Straße aufgrund des Verkehrsaufkommens und ihrer Breite oder sonstigen Gestaltung (jeweils einspurige Verkehrsführung in beide Richtungen) eine trennende Wirkung haben könnte. Damit stellt auch die südlich des Vorhabengrundstücks gelegene Gärtnerei eine Nutzung dar, die im Allgemeinen Wohngebiet nach § 4 Abs. 3 BauNVO nur ausnahmsweise zulässig wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Wegen der Dominanz des landwirtschaftlichen Betriebs und des großflächigen Einzelhandels einerseits und dem vorhandenen Bestand der dazwischen gelegenen Wohnbebauung andererseits, die zusammen betrachtet keinem Allgemeinem Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO entsprechen, ist damit – unabhängig von der Zulässigkeit der westlich der Straße AH. gelegene Gastwirtschaft oder der südlich des Vorhabengrundstücks gelegenen Gärtnerei in einem Allgemeinen Wohngebiet – entweder von einer Gemengelage auszugehen, da ein Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungen (Wohnen und Gewerbe) vorliegt, oder von einem Dörflichen Wohngebiet oder Mischgebiet, in dem ein Wohnheim für Monteure als Betrieb des Beherbergungsgewerbes zulässig ist. Auf die Frage, ob es sich insoweit um eine im Allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässige Nutzung handelt, kommt es damit nicht mehr an.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>2. Das Vorhaben der Beigeladenen verstößt auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Für Vorhaben in einer Gemengelage leitet sich das Gebot der Rücksichtnahme aus dem Begriff des „Sich-Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB ab. Danach ist eine bauliche Anlage im Einzelfall unzulässig, wenn von ihr Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die für den Nachbarn unter Berücksichtigung des Charakters der näheren Umgebung die Grenze der Zumutbarkeit überschreiten, oder wenn das Vorhaben selbst solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Zu den Anforderungen an das Gebot der Rücksichtnahme hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 29.08.2013 (1 LA 219/11) Folgendes ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">„Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dabei muss allerdings demjenigen, der sein eigenes Grundstück in einer sonst zulässigen Weise baulich nutzen will, insofern ein Vorrang zugestanden werden, als er berechtigte Interessen nicht deshalb zurückzustellen braucht, um gleichwertige fremde Interessen zu schonen (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 25.2.1977 - BVerwG IV C 22.75 -, juris Rn. 22; Urt. v. 18.11.2004 - BVerwG 4 C 1.04 -, juris Rn. 22).“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Gemessen daran ist nicht ersichtlich, dass das Vorhaben der Beigeladenen schutzwürdige Belange der Antragsteller beeinträchtigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller befürchten durch das Vorhaben vermehrt Lärmbelästigungen infolge der Nutzung der Freiflächen im Garten und verweisen darauf, dass bereits die bislang genehmigte Nutzung einer geringeren Anzahl von Fremdenzimmern zu Beeinträchtigungen infolge von (übermäßigen) Alkoholkonsums, lauten Unterhaltungen und Ballspielen im Garten abends und an den Wochenenden geführt habe. Allerdings erlaubt die angefochtene Baugenehmigung ausweislich der erweiterten Betriebsbeschreibung keine Nutzung des Frei-/Gartenbereichs, enthält gestalterische Vorgaben, um eine entsprechende Nutzung zu verhindern und die Vorgabe der Einstellung eines Hausmeisters, um die Umsetzung der Hausordnung durchzusetzen. Die Vorgaben der Hausordnung und die gestalterischen Regelungen zur Vermeidung von Gartennutzungen erscheinen auch nicht von vornherein ungeeignet, entsprechende Störungen zu verhindern, auch wenn es naturgemäß nicht gänzlich ausgeschlossen ist, dass die Vorgaben der Hausordnung auch umgangen werden könnten. Zwar ist eine sog. „maßgeschneiderte“ Baugenehmigung, die durch Nebenbestimmungen in Hinblick auf den Störgrad des Bauvorhabens nur formal passend gemacht worden ist, regelmäßig nachbarrechtsrelevant rechtswidrig, wenn sie nicht auf eine effektive Um- und Durchsetzung angelegt ist und so realistisch nicht genutzt werden kann (OVG Münster, Beschl. v. 07.01.2022 – 2 A 1229/21 -, Rn. 9 ff., juris). Dies wäre dann der Fall, wenn die maßgeschneiderte Baugenehmigung dazu dient, ein Vorhaben an eine ungeeignete Umgebung anzupassen und die dafür festgesetzten Auflagen völlig betriebsfremd und derartig betriebseinschränkend gefasst sind, dass ihre Einhaltung vor vornherein ausgeschlossen wäre und ihre Durchsetzung nicht zuverlässig überwacht werden könnte (VGH München, Urt. v. 14.08.2008 - 14 B 06.1181 -, Rn. 35, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>Entsprechendes lässt sich für die streitgegenständliche Baugenehmigung und ihre Nebenbestimmungen jedoch nicht annehmen. Zum einen lässt das Fehlen eines nutzbaren Außenbereichs das Vorhaben nicht ungeeignet für die Nutzung als Wohnheim oder Monteurunterkunft erscheinen. Vielmehr ist es gerade im verdichteten innerörtlichen Raum üblich, dass Betriebe des Beherbergungsgewerbes keine gartenähnlichen Außenbereiche vorweisen, sondern die in dieser Unterkunft untergebrachten Personen in ihrer Freizeit darauf angewiesen sind, ihre arbeitsfreie Zeit außerhalb (des Grundstücks) der Unterkunft zu gestalten. Insofern erscheint auch die gestalterische Abgrenzung von Stellflächen und (nicht nutzbarem) Ruhebereich geeignet, eine Nutzung des nördlichen Grundstücksbereichs durch die Bewohner zu verhindern. Zum anderen ist es nicht unrealistisch anzunehmen, dass die Vorgaben der Hausordnung durchgesetzt werden, da für den Fall der Nichteinhaltung der Hausordnung ein Kündigungsrecht besteht und davon auszugehen ist, dass etwaige Verstöße gegen das Verbot der Nutzung des Außenbereichs von den Nachbarn dokumentiert und mitgeteilt werden. Da bereits der Aufenthalt im Garten verboten ist, unabhängig vom damit verbundenen Lärmpegel, ist die Dokumentation von Verstößen gegen diese Verbote darüber hinaus wenig aufwändig und Sanktionen sind damit einfach durchzusetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>Schließlich ist die Anlage von Stellplätzen auch im hinteren Teil des Grundstücks nicht rücksichtslos. Nach § 12 Abs. 1 BauNVO sind Stellplätze und Garagen grundsätzlich in allen Baugebieten zulässig und können nach § 12 Abs. 2 BauNVO auch den Anwohnern im Reinen und Allgemeinen Wohngebiet zugemutet werden, sofern (nur) der durch die zugelassene Nutzung verursachte Bedarf abgedeckt wird. § 12 Abs. 2 BauNVO beinhaltet insoweit eine normative Duldungspflicht, derzufolge der Nachbar die sich aus der Nutzung von Stellplätzen und Garagen ergebenden üblichen Störungen bei Tag und Nacht hinnehmen muss, wenn die Garagenanlage das Bedürfnis nicht überschreitet, dass sich aus dem auf dem Grundstück verwirklichten Vorhaben ergibt (OVG Schleswig, Beschl. v. 31.03.2020 - 1 MR 2/20 -, Rn. 20, juris). Betrachtet man die konkrete Lage der Stellplätze, wird nach der Rechtsprechung des OVG Lüneburg in den Fällen, in denen rückwärtige Grundstücksbereiche in der Umgebung bereits Einstellplätze aufweisen, die Grenze des Zumutbaren nur überschritten, wenn die vom Vorhaben ausgelösten Belästigungen gegenüber dem Vorhandenen eine neue Größenordnung erreichen. Dies ergibt sich nicht zwangsläufig allein aus einer höheren Anzahl von Stellplätzen, sondern insbesondere, wenn die Enge der Zufahrt komplizierten Rangierverkehr zur Folge habe und dieser nicht hinreichend vom Nachbargrundstück abgeschirmt werde (OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.11.2021 - 1 ME 76/20 -, Rn. 18 ff., juris). Gleichzeitig ist in den Blick zu nehmen, ob und ggfs. wie die Zufahrt zu den Stellplätzen abgeschirmt wird und wie das Schutzbedürfnis mit Blick auf die Nutzungen in den Gebäuden ist (OVG Lüneburg, Beschl. v. 09.03.2020 - 1 ME 154/19 -, Rn. 9, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Legt man diese Maßstäbe zugrunde, vermag die Kammer bei summarischer Prüfung (noch) nicht zu erkennen, dass die Anzahl und Anordnung der Stellplätze bereits die Grenze der Zumutbarkeit überschreitet. In der Umgebung des Vorhabengrundstücks gibt es auf den östlich gelegenen Grundstücken Y. und AC. bereits Einstellplätze in den hinteren Grundstücksbereichen, wenngleich nicht in genau derselben Tiefe. Dabei handelt es sich jeweils um Garagen, die nicht straßenseitig, sondern nördlich der Wohnbebauung errichtet worden sind und damit bereits Verkehrslärm in die straßenabgewandten Gartenbereiche bringen. Ein bislang gänzlich ungestörter Ruhebereich liegt damit nicht vor. Zudem ist der Charakter der näheren Umgebung zu berücksichtigen. Wie bereits oben unter 1. dargelegt, liegt kein Allgemeines Wohngebiet vor, sondern eine Gemengelage, in der bereits störenden Nutzungen wie ein landwirtschaftlicher Betrieb, eine Gärtnerei und ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb vorhanden sind. Der Grad der gebotenen Rücksichtnahme ist in einer solchen Gemengelage geringer als in einem faktischen Allgemeinen Wohngebiet. Dass die Stellplätze von Lkws genutzt werden könnten, ist angesichts der geringe Breite der Zufahrt nicht zu erwarten, so dass von einer Nutzung nur durch herkömmliche Pkw zu rechnen ist. Gleichzeitig ist die Parkplatzfläche nicht so eng zugeschnitten, dass mit übermäßig viel Rangierverkehr zu rechnen sein wird. Die Zufahrt zu den Stellplätzen führt – soweit erkennbar – auch nicht entlang besonders geschützter Aufenthaltsbereiche auf dem Grundstück der Antragsteller zu 4.) und 5.). Vielmehr haben diese durch die Errichtung der Garage an ihrer westlichen Grundstücksgrenze etwa in Höhe des Endes der Zufahrt auf dem Vorhabengrundstück dort selbst ihren Stellplatzbedarf gedeckt. Zudem sind nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Beigeladenen keine Aufenthaltsräume an der Grenze zum Vorhabengrundstück genehmigt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Errichtung des Sichtschutzzauns zum Grundstück Y. und die Gestaltung des Abschlusses der Stellplatzfläche mit Hecken jedenfalls im gewissen Umfang zu einer Verringerung der Verkehrsgeräusche auf den Grundstücken der Antragsteller führen wird. Sollte es sich nach Aufnahme der Nutzung herausstellen, dass auf der Stellplatzfläche unerwartet viel Verkehrsbewegungen und Verkehrslärm zur nächtlichen Stunde entstehen, könnte diesem Umstand auch durch nachträgliche Nutzungsbeschränkungen Rechnung getragen werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>Auch das weitere Argument der Antragsteller, dass die Anzahl der Stellplätze unzureichend bemessen sei, vermag dem Eilantrag nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die Stellplatzberechnung orientiert sich an den Richtzahlen für den Einstellplatzbedarf, der nach Nr. 6.3 für sonstige Beherbergungsbetriebe einen Einstellplatz pro 2-6 Betten vorsieht. Dass die Antragsgegnerin auf dieser Grundlage für die geplanten 28 Betten die Anzahl von 8 notwendigen Stellplätzen und damit einen Stellplatz mehr als rechnerisch erforderlich festgesetzt hat, wenn man vom Mittelwert 4 Betten pro Stellplatz ausgeht, ist nicht zu beanstanden. Es ist für das Gericht auch nicht erkennbar, dass für das geplante Monteurwohnheim ausnahmsweise eine deutlich höhere Anzahl an Stellplätzen erforderlich wäre und deshalb mit erhöhtem Stellplatzsuchverkehr und damit mehr Verkehrslärm für die Antragsteller zu rechnen ist. Ausgangspunkt der Berechnungen ist die genehmigte Anzahl an Betten und für diese Bettenanzahl erscheinen 8 Stellplätze angemessen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>3. Darüber hinaus entfaltet die wahrnehmbare Baumasse des Vorhabens auch keine erdrückende Wirkung in Hinblick auf die Grundstücke der Antragsteller. Eine solche nimmt der Senat des OVG Lüneburg in ständiger Rechtsprechung erst dann an, wenn die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, das heißt dort ein Gefühl des Eingemauertseins oder eine Gefängnishofsituation hervorruft. Dem Grundstück muss gleichsam die Luft zum Atmen genommen werden. Dass das Vorhaben die bislang vorhandene Situation lediglich verändert, reicht nicht aus. Die in diesen Ausdrücken liegende „Dramatik“ ist ernst zu nehmen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 24.02.2022 - 1 ME 186/21 -, Rn. 9, juris mit Hinweis auf Senatsbeschl. v. 15.01.2007 - 1 ME 80/07 -, ZfBR 2007, 284 = Rn. 23, juris; v. 13.01.2010 - 1 ME 237/09 -, RdL 2010, 98 = Rn. 14, juris). In Hinblick auf die nördlich des Vorhabengrundstücks liegenden Grundstücke der Antragsteller zu 1.) bis 3.) und 6.) und 7.), die im Wesentlichen nur die Giebelseite des Vorhabens wahrnehmen, liegt es auf der Hand, dass ein rund 10 Meter breiter Anbau ihre Grundstücke nicht quasi erdrückt. Nichts Anderes gilt für die Antragsteller zu 4.) und 5.), deren Grundstück zwar unmittelbar an das Vorhabengrundstück angrenzt und die damit theoretisch den direkten Blick auf den insgesamt knapp 25 Meter langen Baukörper aus Altbau und Anbau haben. Allerdings ist die Gebäudeflucht auf dem Grundstück Y. in der Summe von Haupt- und Nebengebäuden einschließlich Garagen vergleichbar lang wie die Bebauung auf dem Vorhabengrundstück. Da beide Gebäudekomplexe (abgesehen von der Grenzgarage auf dem Grundstück Y.) die vorgeschriebenen Grenzabstände einhalten und für die Antragsteller zu 4.) und 5.) auf ihrem Grundstück noch ausreichend Ausweichmöglichkeiten für eine „optische Erholung“ vom westlich gelegenen Bauvorhaben bleiben, kann eine erdrückende Wirkung nicht ernsthaft angenommen werden. Weitergehende Abwehransprüche können die Antragsteller aus der Masse und Kubatur des streitgegenständlichen Vorhabens nicht herleiten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kosten der Beigeladenen sind nach § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, da sie sich mit ihrem Antrag einem Prozessrisiko ausgesetzt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an dem in Nr. 7a) der Streitwertannahmen der mit Bau- und Immissionsschutzsachen befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für ab dem 01.06.2021 eingegangene Verfahren bezifferten Rahmen, so dass für jedes der insgesamt vier beteiligten Nachbargrundstücke jeweils ein Streitwert von 25.000 Euro anzusetzen ist, der nach Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11) für das Eilverfahren halbiert wird. In Hinblick auf die Antragsteller zu 1.) und 2.), zu 4.) und 5.) und zu 6.) und 7.) geht die Kammer davon aus, dass sie die streitgegenständliche Baugenehmigung jeweils als Rechtsgemeinschaft im Sinne von Nr. 1.1.3 anfechten, so dass sich der Streitwert nicht weiter erhöht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE220032453&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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|
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346,459 | vghbw-2022-08-22-5-s-237221 | {
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<p>Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers - 5 S 2371/21 - gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 20. Mai 2021 für den Neubau der B10 Ortsumfahrung Enzweihingen wird angeordnet.</p><p>Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.</p><p>Der Streitwert wird auf 15.000 Euro festgesetzt.</p><p/>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Der Antragsteller, eine vom Bund (Umweltbundesamt) anerkannte Umweltvereinigung, wendet sich gegen den Sofortvollzug des Planfeststellungsbeschlusses des Regierungspräsidiums Stuttgart für den Neubau der B10 Ortsumfahrung Enzweihingen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Gegenstand des Vorhabens ist der Neubau einer 2,6 km langen Ortsumgehung des Teilorts Enzweihingen der Großen Kreisstadt Vaihingen an der Enz als Ausbau der Bundesstraße 10. Die Strecke wird nach Maßgabe der festgestellten Pläne einbahnig mit zwei Fahrstreifen kreuzungsfrei geführt. Der Abschnitt der Bundesstraße führt von der K 1648 zur K 1685 mit Brückenbauwerken über die Enz und den Strudelbach nördlich um Enzweihingen. Die derzeitigen Anschlüsse B 10/K 1648 und B 10/K 1685 werden umgebaut. Die Neubaustrecke der B 10 beginnt nordwestlich des Stadtteils Enzweihingen auf der bestehenden B 10 vor der heutigen Einmündung der K 1648. Der Anschluss an die K 1648 erfolgt kreuzungsfrei über Ein- und Ausfädelungsstreifen und Rampen von und zur neuen B 10 mit jeweils lichtsignalgeregelten Knotenpunkten. Die Verbindung der K 1648 von Vaihingen nach Enzweihingen wird mit einem Brückenbauwerk über die neue B 10 direkt neben der Bahntrasse sichergestellt. Im weiteren Verlauf verlässt die Trasse die bestehende B 10, quert die Enz mit einer 170 m langen Brücke und führt dann entlang der nördlichen Bebauung von Enzweihingen weiter über das Gelände der ehemaligen Firma Kienle & Spieß bis zum Strudelbach. Dieser wird mit einer rund 180 m langen Brücke überquert. Auf Höhe der heutigen Einmündung der K 1685 erfolgt die ebenfalls kreuzungsfreie Anbindung der neuen B 10 an die K 1685 Richtung Enzweihingen und Oberriexingen über Ein- und Ausfädelungsstreifen, Verbindungsrampen und unsignalisierte Einmündungen. In dem Zuge überquert die neue B 10 die K 1685 mit einem Brückenbauwerk und mündet anschließend wieder in die bestehende B 10 im Bereich der „Enzweihinger Steige“ ein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Dem Planfeststellungsbeschluss liegt folgendes Verfahren zugrunde:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Die Bundesstraßenbauverwaltung, vertreten durch die Abteilung 4 des Regierungspräsidiums Stuttgart, beantragte mit Schreiben vom 3. Mai 2017 die Durchführung des Planfeststellungsverfahrens. Die Unterlagen zur durchgeführten Umweltverträglichkeitsprüfung wurden am 16. Mai 2017 vorgelegt. Das Regierungspräsidium Stuttgart, vertreten durch Referat 24 der Abteilung 2, leitete daraufhin mit Verfügung vom 19. Mai 2017 das Planfeststellungsverfahren ein. Zeit und Ort der Planauslage wurden am 1. Juni 2017 (Stadt Vaihingen an der Enz) und 2. Juni 2017 (Markgröningen) ortsüblich bekannt gemacht. In der Bekanntmachung wurde auch auf das Ende der Einwendungsfrist gemäß § 73 Abs. 4 LVwVfG hingewiesen. Die Planunterlagen lagen gemäß § 73 Abs. 3 LVwVfG in der Zeit vom 19. Juni 2017 bis 18. Juli 2017 zur Einsicht aus. Die betroffenen Kommunen, die anerkannten Naturschutzverbände sowie die weiteren Träger öffentlicher Belange wurden mit Schreiben vom 12. Juni 2017 um Stellungnahme gebeten. Im Zuge des Anhörungsverfahrens wurden Planänderungen und Planergänzungen in Bezug auf die technische Straßenplanung und landschaftsplanerische Aspekte vorgenommen. Zu den Umplanungen erfolgten auf Grundlage von § 73 Abs. 8 Satz 1 LVwVfG Einzelanhörungen. Der Erörterungstermin, der am 28. Juli 2020 im Ortsteil Kleinglattbach stattfand, wurde zuvor gemäß § 73 Abs. 6 LVwVfG am 25. Juni 2020 und 26. Juni 2020 ortsüblich in den amtlichen Bekanntmachungsorganen der Stadt Vaihingen an der Enz und Markgröningen und öffentlich am 26. Juni 2020 im Staatsanzeiger Baden-Württemberg sowie den örtlich verbreiteten Tageszeitungen bekannt gemacht. Die Kommunen, die Träger öffentlicher Belange sowie die anerkannten Umwelt- und Naturschutzvereinigungen unter Einschluss des Antragstellers wurden mit Schreiben vom 25. Juni 2020 vom Erörterungstermin benachrichtigt. Aufgrund der im Anhörungsverfahren eingegangenen Stellungnahmen und Einwendungen nahm der Antragsgegner nach dem Erörterungstermin eine weitere Planänderung vor. Gegenstand dieser dritten Planänderung war der Verzicht auf die zusätzliche Rampenzufahrt von der K 1648 (aus der Fahrtrichtung Enzweihingen) zum Tankstellengelände und eine entsprechende Anpassung der Planung. Die nach § 73 Abs. 8 S. 1 LVwVfG erforderlichen Einzelanhörungen erfolgten ab dem 24. August 2020. Der im weiteren Verlauf erstellte ergänzende Fachbeitrag Wasserrahmenrichtlinie wurde nach vorheriger Ankündigung vom 28. August 2020 im Zeitraum vom 30. August 2020 bis 30. September 2020 ausgelegt und zudem auf der Internetseite des Regierungspräsidiums Stuttgart veröffentlicht. Die betroffenen Kommunen, die anerkannten Naturschutzverbände sowie die weiteren Träger öffentlicher Belange wurden mit Schreiben vom 24. August 2020 um Stellungnahme gebeten. Auf die Durchführung eines weiteren Erörterungstermins nach der dritten Planänderung und der Auslegung des Fachbeitrags Wasserrahmenrichtlinie wurde verzichtet. Im Jahr 2020 wurden die Ergebnisse der im Jahr 2017 vorgelegten Antragsunterlagen im Hinblick auf aktuelle Sachdaten und aktuelle Bewertungsmaßstäbe plausibilisiert. Da nach Auffassung der Planfeststellungsbehörde keine zusätzlichen oder anderweitigen erheblichen Umweltauswirkungen zu erwarten waren, wurden die Unterlagen nicht erneut ausgelegt. Den betroffenen Trägern öffentlicher Belange und den Naturschutzvereinigungen wurde mit Schreiben vom 30. November 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Schließlich wurde im Rahmen einer 4. Planänderung in Bezug auf die Erweiterung einer Ausgleichsfläche der betroffene Grundeigentümer am 19. März 2021 angehört. Auf einen weiteren Erörterungstermin wurde verzichtet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. Mai 2021 stellte das Regierungspräsidium Stuttgart den Plan mit den in den Beschluss aufgenommenen Nebenbestimmungen und Zusagen unter Zurückweisung der nicht erledigten Einwendungen fest. Der Planfeststellungsbeschluss und die Pläne wurden im Zeitraum vom 28. Juni 2021 bis 12. Juli 2021 im Internet veröffentlicht sowie im gleichem Zeitraum zur allgemeinen Einsicht in den betroffenen Gemeinden ausgelegt. Eine gesonderte Zustellung an den Antragsteller oder deren Bevollmächtigten erfolgte nicht. Auf entsprechende Bitte des Vorsitzenden des Antragstellers wurden diesem mit Schreiben vom 29. Juni 2021 drei Exemplare zugesandt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Der Antragsteller hat am 23. Juli 2021 Klage erhoben (Aktenzeichen 5 S 2371/21) und mit am gleichen Tag eingegangenem Schriftsatz beantragt, im Wege des Eilrechtsschutzes die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="7"/>Er ist der Ansicht, der Planfeststellungsbeschluss verstoße insbesondere gegen § 34 Abs. 2 BNatSchG. Entgegen der Annahme des Antragsgegners führe der Neubau der B 10 zu einer erheblichen Beeinträchtigung von Teilflächen des Natura 2000-Gebiets „Strohgäu und unteres Enztal“. Die Studie zur Natura-2000-Verträglichkeit (FFH-Verträglichkeitsprüfung) komme fehlerhaft zum Ergebnis, dass der angenommene Flächenverlust von 462 m² unterhalb der Bagatellschwelle der entsprechenden Fachkonvention (Fachinformationen und Fachkonventionen zur Bestimmung der Erheblichkeit im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung, Endbericht zum Teil Fachkonventionen, Lambrecht et al., Schlussstand Juni 2007; im Folgenden Fachkonvention) liege. Zum einen sei der Flächenverlust fehlerhaft berechnet, denn die von der Brücke überspannte Gewässerbreite beschränke sich nicht auf 32 m, da die Fläche des geschützten Lebensraumtyps 3260 („Flüsse der planaren bis montanen Stufe“) auch den angrenzenden Uferbereich erfasse. So mache die Überspannung des Uferbereichs die naturnahe Gewässerentwicklung partiell unmöglich. Unabhängig hiervon sei die Bewertung des Flächenverlustes fehlerhaft. Die entsprechende Fachkonvention definiere Bagatellschwellen, die sich aus einem relativen und einem absoluten Kriterium zusammensetzten. Für den vorliegend betroffenen Lebensraumtyp gehe die FFH-Verträglichkeitsprüfung von einer Unterschreitung der Bagatellschwelle aus, wähle jedoch einen falschen Bezugsmaßstab. Denn es sei eine Unterscheidung verschiedener Gewässerabschnitte geboten. Der betroffene Lebensraumtyp erstrecke sich neben der Enz auf drei weitere Fließgewässer, die unterschiedliche Landschaften durchflössen, denen jeweils eigenständige Erhaltungszustände zugeordnet worden seien. Es wäre daher fachlich geboten gewesen, den quantitativ-relativen Flächenverlust in Bezug auf den betroffenen Teilabschnitt zu ermitteln. Bezogen auf diesen Teilabschnitt sei von einer Erheblichkeit des Flächenverlusts auszugehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>Vorhabenbedingt komme es auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Natura 2000-Gebiets infolge eines Verlustes des Habitats der geschützten Art Grüne Flussjungfer. Unterhalb der Brücke werde es auch ausweislich der FFH-Verträglichkeitsprüfung wegen fehlender Versorgung mit Licht und Wasser zu einem Flächenverlust des Landhabitats von etwa 42 m² kommen und der Orientierungswert für die Unerheblichkeit von 40 m² damit überschritten. Falsch sei die Annahme, es handele sich bei den verlorenen Flächen um durch das angrenzende Gewerbegebiet vorbelastete Flächen mit untergeordneter Bedeutung. Das Vorkommen der Grünen Flussjungfer sei vorrangig nördlich der Enz zu verorten, wo eine Vorbelastung nicht vorliege. Auch enthalte der Managementplan die Empfehlung, die Lebensstätten der Art im durchschnittlichen Zustand zu erhalten. Dem stehe entgegen, dass das Habitat durch Verschattung und Überdeckung für die Nutzungsansprüche nicht mehr geeignet sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>Zudem berge die Brücke erhebliche Kollisionsrisiken für die Grüne Flussjunger und weitere signifikante Arten verschiedener Lebensraumtypen und erhöhe damit signifikant das Risiko kollisionsbedingter Tötungen von charakteristischen bzw. geschützten Tierarten des Natura 2000-Gebiets. Zwar seien entsprechend den in der FFH-Verträglichkeitsprüfung dargestellten Risiken Kollisionsschutzwände vorgesehen, die im nördlichen Bereich eine Höhe von 4 m und im südlichen Bereich eine Höhe von 2 m haben sollen. Für die Art Grüne Flussjungfer sei jedoch noch nicht einmal der Versuch unternommen worden, die sichere Wirksamkeit dieser Wände zu belegen. Erst recht gelte dies hinsichtlich verschiedener Fledermausarten. Die Fachpublikation, aus der die FFH-Verträglichkeitsprüfung die notwendige Höhe der Kollisionsschutzwand ableite, formuliere selbst Zweifel an deren Wirksamkeit. Für eng strukturgebundene Arten sei zu erwarten, dass viele ihre Flughöhe zwischen den Wänden, wenn diese - wie vorliegend angesichts der Straßenbreite von 12,40 m weit auseinanderstünden, wieder absenkten. Dies gelte insbesondere auch für den Bereich, zwischen den Baukilometern 1 + 015 und 1 + 065. Die Annahme, dort könne die Höhe der Kollisionsschutzwand auf 2 m reduziert werden, sei nicht fachlich hergeleitet. Zudem fehle es im Planfeststellungsbeschluss insgesamt an einem umfassenden Maßnahmenkonzept, das den offenkundigen Wirksamkeitszweifeln hinsichtlich der Kollisionsschutzwände gerecht würde. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, dass die Fledermäuse auf die Kollisionsschutzwand möglicherweise nicht mit einem Überfliegen, sondern mit einem Umfliegen reagierten und so möglicherweise die Straße gerade dort queren, wo die Wände nur 2 m hoch seien. Dieser Mangel sei auch nicht behebbar, ohne die (Varianten-)Abwägung, im Rahmen derer auch die von der Höhe der Kollisionsschutzwände in Teilen abhängige Trennwirkung des Brückenbauwerks zulasten des Landschaftsbildes zu berücksichtigen sei, insgesamt infrage zu stellen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>Das Vorhaben führe auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Lebensraumtyps 3150 im Bereich des Naturdenkmals „Bruckenwasen“, das direkt westlich der bestehenden Enzquerung liege. So habe auch die Untere Naturschutzbehörde darauf hingewiesen, dass es die Einschätzung in der FFH-Verträglichkeitsprüfung nicht teile. Im Planfeststellungsbeschluss fehle es an jeglicher Aussage dazu, wie eine erhebliche Beeinträchtigung des Lebensraumtyps ausgeschlossen werden solle, wenn an der durch eine Auflage festgelegten Messstelle ein absinkender Grundwasserpegel oder eine Verschlechterung der Wasserzufuhr festgestellt werde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>Das Vorhaben verstoße auch gegen artenschutzrechtliche Verbotstatbestände. Der Antragsgegner habe nicht gesehen, dass diverse Fledermausarten wegen der Kollisionsgefahren und des unzureichenden diesbezüglichen Schutzes und auch die geschützte Art „Großer Feuerfalter“ betroffen seien. Die auch insoweit notwendigen Ausnahmegenehmigungen habe er nicht erteilt. Das diesbezüglich im Planfeststellungsbeschluss von allen Naturschutzvereinigungen vorgelegte Gutachten, das eine Beeinträchtigung sowohl in Bezug auf die Nachweispunkte als auch in Bezug auf die Zerschneidungswirkung belege, sei nicht berücksichtigt worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>Der Planfeststellungsbeschluss leide insgesamt an einer fehlerhaften Alternativenprüfung. Dies gelte sowohl hinsichtlich der allgemeinen fachplanungsrechtlichen Alternativenprüfung als auch hinsichtlich der artenschutzrechtlichen Alternativenprüfung nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG und der habitatschutzrechtlichen Alternativenprüfung nach § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG. Fehlerhaft sei bereits der vom Antragsgegner zugrundegelegte Prüfungsmaßstab, da dieser den lediglich für die gerichtliche Kontrolle entwickelten Prüfungsmaßstab des sich „als vorzugswürdig Aufdrängens“ verwendet habe, ohne die gebotene eigenständige Auswahlentscheidung zu treffen. Insoweit liege bereits ein Abwägungsausfall vor. Falsch sei auch die Annahme, die in Betracht kommenden Tunnelvarianten wahrten die Identität des Vorhabens nicht, sondern liefen auf die Verwirklichung eines neuen Projekts hinaus. Vielmehr würden die mit dem Projekt verfolgten Ziele der Entlastung der bestehenden Ortsdurchfahrt und der Erhöhung der Verkehrssicherheit auch mit den Tunnelvarianten erreicht. Die Tunnelvarianten seien zudem vorzugswürdig, da sie - unstreitig - erhebliche Vorteile im Hinblick auf die naturschutzfachlichen Auswirkungen hätten, was sich auch aus dem landschaftspflegerischen Begleitplan ergebe. Auch seien für die Tunnelvarianten keine artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigungen erforderlich. Die vermeintlich entscheidungstragenden Nachteile der Tunnelvarianten (Lärmschutz, Zerschneidungswirkung, Eingriffe in Grundwasser und Kosten) seien nicht dazu geeignet, die gravierenden umweltfachlichen Nachteile auszugleichen. Der für die Tunnelvarianten zu erwartenden Trennwirkung im besiedelten Bereich stehe für die Antragsvariante die Trennwirkung im Bereich der landschaftsschutzrechtlich und regionalplanerisch geschützten Enzaue gegenüber. Zudem sei in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass nicht jede Verbesserung der Immissionsverhältnisse es rechtfertige, habitatschutzrechtliche Bedenken beiseite zu schieben. Da auch bei den Kurztunnelvarianten die Grenzwerte der 16. BImSchV im Bereich der neu zu errichtenden Fahrbahnen eingehalten würden und die auf der Alttrasse verbleibenden Belastungen mit der Antragsplanung vergleichbar wären, könnten die Immissionen nicht als unverhältnismäßig hoher Preis für die Erhaltung schützenswerter Lebensraumtypen qualifiziert werden. Gleiches gelte für die Eingriffe ins Grundwasser und den damit verbundenen Kosten. Insoweit gebe es keine normative Gewichtungsvorgabe, die mit den strengen arten- und habitatschutzrechtlichen Vorgaben vergleichbar wäre. Zwar könnten nach der Rechtsprechung Mehrkosten einer Alternative zu deren Unzumutbarkeit führen, diese Prüfung erfordere aber eine sorgfältige Kostenermittlung und eine Abwägung gerade mit den naturschutzfachlichen Vorteilen der Alternative. Vorliegend mangele es bereits an einer ordnungsgemäßen Kostenschätzung. Hinsichtlich der Gesamtkosten der Antragsplanung stelle die Planfeststellung ausweislich des Erläuterungsberichts auf den Stand 14.12.2009 ab, zugrunde liege zudem ein früherer Planungsstand mit einem günstigeren Knotenpunkt B10/K1648. Damit seien die angesetzten Kosten der Antragsplanung gravierend unterschätzt worden, zumal völlig unklar sei, ob der erhebliche Aufwand für die Ausgleichsmaßnahmen sowie die Kosten für die Verlegung der Straßenmeisterei eingerechnet worden seien. Auch für die Kosten der Tunnelvarianten fehle eine dokumentierte und überprüfbare Kostenermittlung, eine belastbare Abwägung scheide damit aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>Der Antragsteller beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="14"/>die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 20. Mai 2021 für das Vorhaben Neubau der B 10 Ortsumfahrung Enzweihingen anzuordnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>Der Antragsgegner beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="16"/>den Antrag abzulehnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Er ist der Ansicht, die FFH-Verträglichkeitsprüfung gehe zutreffend von einer nur unerheblichen Beeinträchtigung des Natura 2000-Gebiets in Bezug auf den Gebietsverlust des Lebensraumtyps 3260 aus. Der Flächenverlust von 462 m² (Überspannung von 32 m Länge mit einer Breite von 14 m) ergebe sich nur bei einer sehr konservativen Berechnung und entspreche zutreffend einem Verlust von 0,08 % der Gesamtfläche des betroffenen Lebensraumtyps im Natura 2000-Gebiet. Tatsächlich sei angesichts der lichten Höhe der Brücke von 6,5 m mit einer vegetationsbehindernden Verschattung nur auf einer Breite von etwa 8 m zu rechnen. Dem Gutachten zur FFH-Verträglichkeitsprüfung sei der Managementplan des Natura 2000-Gebiets mit den darin ausgewiesenen Flächen zugrundegelegt worden. Der Managementplan weise keine passenderen definierten Teilflächen aus. Ohnehin sei die Verlustfläche weder ins Verhältnis zur Fläche des gesamten Natura 2000-Gebiets noch ins Verhältnis zur Fläche des gesamten Teilgebietes, sondern lediglich ins Verhältnis zur Fläche des betroffenen Lebensraumtyps gesetzt worden. Die Fachkonvention rege nur dann eine Differenzierung von Teilgebieten an, wenn - anders als vorliegend - kein räumlicher oder funktioneller Zusammenhang erkennbar sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>Auch eine Beeinträchtigung der geschützten Art Grüne Flussjungfer sei nicht zu befürchten. Die FFH-Verträglichkeitsprüfung habe ergeben, dass es zwar zu einer kleinflächigen Überbauung bzw. Verschattung der Landhabitatflächen dieser Art in einem Umfang von 42 m² kommen und damit der Orientierungswert der Fachkonvention überschritten werde, dass aber der betroffene Bereich bereits bisher wegen des angrenzenden Gewerbegebiets nur in geringem Maß besonnt werde. Zudem beziehe sich der Orientierungswert auf direkte Flächenverluste, während die Flächen vorliegend grundsätzlich weiter zur Verfügung stünden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>Da die Art Grüne Flussjungfer über eine eng ans Gewässer und den vorhandenen Auwaldbestand gebundene Lebensweise verfüge, sei ein Flug im freien Luftraum des Gewässers unwahrscheinlich und eine Beeinträchtigung des Flugs mit der Folge von Kollisionsrisiken durch das die Enz in einer Höhe von 3,50 m bis 4,50 m überspannende Brückenbauwerk nicht zu erwarten. Zudem sei in der speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung eine lediglich mäßige Empfindlichkeit der Grünen Flussjungfer hinsichtlich etwaiger Fahrzeugkollisionen festgestellt worden. Außerdem seien im Planfeststellungsbeschluss Nebenbestimmungen zur Erfüllung der Ausnahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 7 BNatSchG festgesetzt worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Auch hinsichtlich der weiteren Arten werde kein signifikantes Tötungsrisiko ausgelöst; jedenfalls würden ausreichende Schadensbegrenzungsmaßnahmen im Planfeststellungsbeschluss getroffen. Es sei zwar zutreffend, dass Kollisionen insbesondere der im Bereich der Enzbrücke festgestellten neun Fledermausarten mit Fahrzeugen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnten. Jedoch seien die nachgewiesenen Fledermausarten nicht gleichermaßen betroffen, sondern es müsse differenziert werden. Für fünf der nachgewiesenen Fledermausarten (Breitflügelfledermaus, Großer Abendsegler, Kleiner Abendsegler, Rauhautfledermaus, Zwergfledermaus) seien aufgrund deren Verhaltens und deren Vorkommen kaum kollisionsbedingte Beeinträchtigungen zu erwarten. Die verbleibenden vier Arten (Großes Mausohr, Kleine Bartfledermaus, Mückenfledermaus, Wasserfledermaus) seien hingegen einer erhöhten Betroffenheit ausgesetzt. Diese werde jedoch durch Vermeidungsmaßnahmen wie die vorgesehene lichte Höhe der Brücke minimiert. Zum Schutz höher fliegender Tiere sei die Installation von Kollisionsschutzwänden vorgesehen. Deren Höhe entsprechende den Empfehlungen der aktuellen Fachliteratur. Soweit der Antragsteller auf eine fehlende Eignung in Bezug auf die Kleine Hufeisennase verweise, sei dies hier unbeachtlich, da diese Art nicht nachgewiesen worden sei. Im Übrigen ergebe sich die Wirksamkeit der Querungshilfen auch aus der besonderen Geländesituation. Das südliche Ufer der Enz werde mit nur geringer Aktivität und vergleichsweise tief beflogen. Größere Gehölze, die die Tiere zu einer Jagd in größerer Höhe animieren könnten, seien nicht vorhanden. Insoweit sei auch die Reduzierung der Höhe der Schutzwand auf 2 m im südlichen Bereich sachgerecht. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Enz von einem hohen Auwaldbestand gesäumt werde, welcher die Höhe der die Brücken passierenden Fahrzeuge um ein Vielfaches übersteige. Es sei davon auszugehen, dass die Tiere die ihnen als Leitlinie dienenden Baumkronen nicht verlassen werden. Ein Grund für ein Verlassen der sicheren Höhe und Absinken über der nur wenige Meter breiten Fahrbahn sei nicht erkennbar. Die vom Antragsteller geäußerten generellen Zweifel an der Wirksamkeit der Kollisionsschutzwände seien nicht berechtigt, die vorgetragenen Bedenken bezögen sich maßgeblich auf die hier nicht nachgewiesene Art Kleine Hufeisennase. Für die hier betroffenen Arten bildeten die Kollisionsschutzwände einen Bestandteil eines umfangreichen Maßnahmenkonzepts, das unter anderem die Dimensionierung des Brückenbauwerks, den Erhalt der Galeriegehölze und Habitatbäume, die Anlage von Lichtschutzpflanzungen und Bauzeitenbeschränkungen umfasse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>Auch eine erhebliche Beeinträchtigung des Lebensraumtyps 3150 sei nicht zu erwarten. Aus dem geotechnischen Gutachten ergebe sich eindeutig, dass sich Eingriffe ins Grundwasser auf die Gründungspfähle für die Enzbrücke beschränkten. Eine negative Veränderung der Wasserzufuhr im Bereich des Naturdenkmals Bruckenwasen sei daher nicht zu erwarten. Mit Blick auf die vom Landratsamt Ludwigsburg empfohlenen Untersuchungen etwaiger Beeinflussungen des Naturdenkmals durch Baumaßnahmen beim Knoten West sei im Planfeststellungsbeschluss festgelegt worden, dass vor Baubeginn Baugrund- und Grundwasseruntersuchungen durchzuführen sind und dass dort eine ergänzende Grundwassermessstelle zu installieren ist. Wasserrechtliche Anordnungen blieben insoweit vorbehalten, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung des Lebensraumtyps drohen sollte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>Artenschutzrechtliche Verbotstatbestände seien ebenfalls nicht verletzt. Die erteilten Ausnahmen seien wegen der vorliegenden zwingenden Gründe des öffentlichen Interesses rechtmäßig. Weiterer Ausnahmegenehmigungen habe es nicht bedurft. Dem Kollisionsrisiko für Fledermäuse sei hinreichend begegnet worden und damit bereits keine Erteilung einer artenschutzrechtlichen Ausnahme erforderlich. Gleiches gelte für die Art Großer Feuerfalter. Ausweislich der im Planfeststellungsverfahren durchgeführten Untersuchungen würden die ermittelten Lebensstätten nicht tangiert. Anderes ergebe sich auch nicht auf Grundlage des von den Naturschutzverbänden vorgelegten Gutachtens. Wegen der lichten Höhe des Brückenbauwerks blieben die Austauschbeziehungen im Enztal für diese Art in ihrer Funktion erhalten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>Die Alternativenprüfung sei nicht fehlerhaft erfolgt. Der behauptete Abwägungsausfall liege nicht vor, denn er, der Antragsgegner, habe sich umfassend abwägend mit der Alternativenprüfung unter Berücksichtigung etwaiger Beeinträchtigungen privater und öffentlicher Interessen beschäftigt und nicht lediglich geprüft, ob sich eine der Alternativen als eindeutig vorzugswürdig aufdränge. Er habe nachvollziehbar dargelegt, weshalb die Tunnelvarianten auf die Verwirklichung eines anderen Projekts hinausliefen, denn der Schutz der Anwohner auch vor Lärm und Abgasen werde mit den Tunnelvarianten nicht ebenso gut verwirklicht. Zutreffend sei, dass sowohl für die Antragsvariante als auch für die Tunnelvarianten eine gute verkehrliche Wirksamkeit festgestellt worden sei und dass die Antragsvariante aus umweltfachlicher Sicht einige Nachteile aufweise. Im Ergebnis komme es jedoch auf die Abwägung aller entscheidungserheblichen Belange an. Die Antragsvariante erweise sich in Bezug auf Lärmschutz, Luftschadstoffbelastung, Eingriff in das Grundwasser, Schwierigkeiten beim Bauablauf und hinsichtlich der Kosten als vorteilhaft. Während bei der Antragsvariante nur 21 Gebäude einen Anspruch auf Lärmschutz hätten, seien dies bei den Tunnelvarianten 60 bzw. 68 Gebäude. Die Tunnelvariante erfordere zudem im Bereich der Enzbrücke sowie innerorts die Errichtung umfangreicher und teilweise sehr hoher Lärmschutzwände mit einer Höhe von 8,50 Metern, was verbunden mit breiten Straßenkörpern und hohen Stützwänden zu einer verstärkten städtebaulichen Trennwirkung und damit einer Zerschneidung innerhalb der Ortsdurchfahrt führen würde. Bei den Tunnelvarianten wäre mit deutlich höheren Luftschadstoffbelastungen von 27 Mikrogramm im Vergleich zu 33 und 37 Mikrogramm bei den Tunnelvarianten zu rechnen. Der mit den Tunnelvarianten verbundene Eingriff in grundwasserführende Schichten auf einer Länge von mehreren hundert Metern berge erhebliche Gefahrenpotentiale auch im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der getrennten Grundwasserstockwerke und auch die Gefahr von Gebäudesetzungen. Schließlich sei die Antragsvariante mit im September 2008 geschätzten Kosten in Höhe von 32,3 Millionen Euro (im November 2012 seien Kosten von 32,1 Millionen Euro für eine Variante mit einem plangleichen Knotenpunkt West geschätzt worden) deutlich günstiger als die beiden Kurztunnelvarianten, für die im April 2013 Gesamtkosten in Höhe von 74,1 bzw. 77,1 Millionen Euro berechnet worden seien. Unter Berücksichtigung der Baupreissteigerungen hätte sich für die Antragsvariante im April 2013 eine Kostenberechnung von 35,3 Millionen Euro ergeben. Für die Umfahrungsvariante seien keine großen Kostenunterschiede in Bezug auf die Alternativen eines planfreien oder plangleichen Knotenpunkts West festzustellen. Hinzu komme, dass die Unterhaltungskosten für Streckabschnitte im Tunnel 13- bis 17-fach über denen für Streckenabschnitte ohne Tunnel lägen. Die Kosten für die Verlegung des ohnehin erneuerungsbedürftigen Gebäudes der Straßenmeisterei seien hingegen zutreffend unberücksichtigt geblieben. Die Kosten des Grunderwerbs für einen Ersatzstandort würden weniger als 8 % der Gesamtkosten der Antragsvariante umfassen und damit nicht wesentlich ins Gewicht fallen. Es sei insgesamt rechtsfehlerfrei gewesen, die Umfahrung unter anderem aus Kostengesichtspunkten als beste Lösung zu bewerten und ihr den Vorzug zu geben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>Auch bei offenen Erfolgsaussichten sei angesichts der gesetzgeberischen Wertung des grundsätzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 17e Abs. 2 FStrG) der Antrag abzulehnen. Ohnehin sei wegen vorab durchzuführender Reptilienschutzmaßnahmen nicht vor Ablauf von mindestens zwei Jahren mit einem Baubeginn zu rechnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="25"/>Dem Senat liegen die Verwaltungsakten der Beklagten (10 Ablageboxen) nebst planfestgestellten Unterlagen (5 Ordner) vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen</td></tr></table>
<table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zulässig und begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="27"/>1. Der Antrag ist zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="28"/>a) Der beschließende Gerichtshof ist für die Entscheidung über den Eilantrag als Gericht der Hauptsache nach 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 VwGO zuständig, da das planfestgestellte Vorhaben die B 10 und damit eine Bundesfernstraße (§ 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 FStrG) betrifft.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>b) Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft, da die vom Antragsteller am 23. Juli 2021 erhobene Anfechtungsklage gemäß § 17e Abs. 2 FStrG keine aufschiebende Wirkung hat. Nach dieser Vorschrift hat die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung für den Bau oder die Änderung von Bundesfernstraßen, für die nach dem Fernstraßenausbaugesetz vordringlicher Bedarf festgestellt ist, keine aufschiebende Wirkung. So liegt der Fall hier, denn die Verlegung der B10 in Enzweihingen ist in der Anlage zu § 1 Abs. 2 Satz 1 FStrAbG mit der laufenden Nummer 37 als vordringlicher Bedarf ausgewiesen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>c) Der Antragsteller ist als gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 UmwRG anerkannte Vereinigung nach Maßgabe von § 2 Abs. 1 UmwRG antragsbefugt analog § 42 Abs. 2 VwGO. Anzuwenden ist das Umweltrechtsbehelfsgesetz in der Fassung der Neubekanntmachung vom 23. August 2017 (BGBl I S. 3290). Die dem Antragsteller auf Grundlage von § 3 UmwRG in der Fassung vom 28. Februar 2010 erteilte Anerkennung gilt gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 1 UmwRG fort.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="31"/>Der Antragsteller macht auch im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG geltend, dass der Planfeststellungsbeschluss als Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG Rechtsvorschriften widerspricht, die für die Entscheidung von Bedeutung sein können. Es ist ferner nicht ausgeschlossen, dass der angegriffene Planfeststellungsbeschluss im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UmwRG den satzungsmäßigen Aufgabenbereich des Antragstellers berührt. Auch war der Antragsteller im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a UmwRG auf Grundlage von § 2 Abs. 9 Halbsatz 2, § 18 Abs. 1 UVPG zur Beteiligung berechtigt. Auf § 64 BNatSchG kann der Antrag hingegen nicht gestützt werden. Gemäß § 1 Abs. 3 UmwRG wird § 64 Abs. 1 BNatSchG nicht angewendet, soweit in Planfeststellungsverfahren, die § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 5 UmwRG unterfallen, Rechtsbehelfe nach dem UmwRG eröffnet sind (vgl. hierzu Senatsurteil vom 20.11.2018 - 5 S 2138/16 - juris Rn. 74).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="32"/>Schließlich ist der Antrag vom Antragsteller innerhalb der Frist des § 17e Abs. 2 Satz 2 FStrG gestellt und begründet worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="33"/>2. Der Antrag ist auch begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="34"/>Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragsgegners aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="35"/>Der Senat nimmt im Rahmen des der behördlichen Vollziehungsanordnung nachfolgenden gerichtlichen Aussetzungsverfahrens eine eigenständige Interessenabwägung vor, die sich vorrangig an den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache - hier der gegen den Planfeststellungsbeschluss am 23. Juli 2021 (5 S 2371/21) erhobenen Klage - zu orientieren hat. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei die letzte Behördenentscheidung, soweit nicht spätere Rechtsänderungen einen vormaligen Rechtsverstoß entfallen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.7.1978 - IV C 79.76 - BVerwGE 56, 110, juris Rn. 57; Urteil vom 26.6.1992 - 4 B 1-11.92 unter anderem - NVwZ 1993, 572, juris Rn. 70; Urteil vom 17.12.2013 - 4 A 1.13 - NVwZ 2014, 255, juris Rn. 25 m. w. N.), mithin der Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses am 20. Mai 2021.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="36"/>Hier bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses, denn dieser verstößt bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage gegen Rechtsvorschriften, deren Verletzung der Antragsteller als anerkannte Vereinigung im Sinne des § 3 UmwRG nach Maßgabe der den Umfang seines Klagerechts beschränkenden Vorschriften des § 2 UmwRG mit der Folge jedenfalls der Notwendigkeit eines ergänzenden Verfahrens gemäß § 17 Abs. 1 Satz 5 FStrG in Verbindung mit § 75 Abs. 1a Satz 2 VwVfG geltend machen kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="37"/>a) Der Planfeststellungsbeschluss verstößt voraussichtlich gegen das artenschutzrechtliche Zugriffsverbot im Sinne von § 44 Abs. 1 BNatSchG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="38"/>aa) § 44 Abs. 1 BNatSchG verbietet, wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören (Nummer 1), wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören, wobei eine erhebliche Störung vorliegt, wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert (Nummer 2), oder Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören (Nummer 3). § 44 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BNatSchG normiert Legalausnahmen von den Zugriffsverboten. Gemäß § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG können von den Verboten des § 44 BNatSchG im Einzelfall weitere Ausnahmen zugelassen werden aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich sozialer oder wirtschaftlicher Art. Eine Ausnahme darf nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG nur zugelassen werden, wenn zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand der Populationen einer Art nicht verschlechtert, soweit nicht Art. 16 Abs. 1 der FFH-Richtlinie weitergehende Anforderungen enthält.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="39"/>Nach § 7 Abs. 2 Nr. 13 BNatSchG sind besonders geschützte Arten a) Tier- und Pflanzenarten, die in Anhang A oder Anhang B der Verordnung (EG) Nr. 338/97 des Rates vom 9. Dezember 1996 über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten durch Überwachung des Handels (ABl. L 61 vom 3.3.1997, S. 1, L 100 vom 17.4.1997, S. 72, L 298 vom 1.11.1997, S. 70, L 113 vom 27.4.2006, S. 26), die zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 709/2010 (ABl. L 212 vom 12.8.2010, S. 1) geändert worden ist, aufgeführt sind, b) nicht unter Buchstabe a fallende aa) Tier- und Pflanzenarten, die in Anhang IV der Richtlinie 92/43/EWG (FFH Richtlinie) aufgeführt sind, bb) europäische Vogelarten, c) Tier- und Pflanzenarten, die in einer Rechtsverordnung nach § 54 Absatz 1 BNatSchG aufgeführt sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="40"/>Für die Erfassung und Bewertung vorhabenbedingter artenschutzrechtlicher Einwirkungen mangelt es bisher an weiterführenden gesetzlichen Vorgaben<br/>oder einer untergesetzlichen Maßstabsbildung durch verbindliche Festlegungen etwa mittels Durchführungsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften. Die Planfeststellungsbehörde muss daher auf außerrechtliche Maßgaben zurückgreifen. Fehlt es in den einschlägigen Fachkreisen und der einschlägigen Wissenschaft an allgemein anerkannten Maßstäben und Methoden für die fachliche Beurteilung, kann die gerichtliche Kontrolle des behördlichen Entscheidungsergebnisses mangels besserer Erkenntnis der Gerichte an objektive Grenzen stoßen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.10.2018 - 1 BvR 2523/13 u.a. - BVerfGE 149, 407, juris Rn. 20). Dabei ist die gerichtliche Kontrolldichte - anders als vom Bundesverwaltungsgericht und vom Senat früher angenommen (vgl. zuletzt noch BVerwG, Beschluss vom 20.3.2018 - 9 B 43.16 - DVBl. 2018, 1361, juris Rn. 47; Urteil vom 28.4.2016 - 9 A 9.15 - BVerwGE 155, 91, juris Rn. 128; Senatsurteil vom 18.4.2018 - 5 S 2105/15 - ESVGH 68, 252, juris Rn. 141) - nicht aufgrund einer der Behörde eingeräumten Einschätzungsprärogative begrenzt. Der eingeschränkte gerichtliche Kontrollmaßstab folgt vielmehr schlicht aus dem Umstand, dass es insoweit am Maßstab zur sicheren Unterscheidung von richtig und falsch fehlt. Es handelt sich damit nicht um eine gewillkürte Verschiebung der Entscheidungszuständigkeit vom Gericht auf die Behörde, sondern um eine nach Dauer und Umfang vom jeweiligen ökologischen Erkenntnisstand abhängige faktische Grenze verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 1 BvR 2523/13 – BVerfGE 149, 407, juris Rn. 23). Diese Einordnung führt jedoch im Ergebnis nicht zu einem anderen Umfang der gerichtlichen Kontrolle, denn auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind die Verwaltungsgerichte auf eine Vertretbarkeits- bzw. Plausibilitätskontrolle der behördlichen Einschätzung beschränkt (OVG M-V, Urteil vom 24.8.2021 - 1 LB 21/16 - juris Rn. 64). Ist die naturschutzrechtliche Prüfung damit auf außerrechtliche, insbesondere ökologische Bewertungen einschließlich technischer und naturwissenschaftlicher Prognosen angewiesen, für die weder normkonkretisierende Maßstäbe noch in den einschlägigen Fachkreisen und der einschlägigen Wissenschaft allgemein anerkannte Maßstäbe und Methoden bestehen, so unterliegen diese keiner Richtigkeitsgewähr, sondern ist die gerichtliche Kontrolle darauf beschränkt, ob die Einschätzungen der Planfeststellungsbehörde im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sind, sie insbesondere nicht auf einem unzulänglichen oder gar ungeeigneten Bewertungsverfahren beruhen, und ob die Behörde zu einer plausiblen Einschätzung gelangt ist. Der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle obliegt darüber hinaus die Prüfung, ob der Behörde bei der Ermittlung und Anwendung der von ihr gewählten - vertretbaren - Methode Verfahrensfehler unterlaufen, sie von einem unrichtigen oder nicht hinreichend tiefgehend aufgeklärten Sachverhalt ausgeht, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt oder sich von sachfremden Erwägungen leiten lässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3.11.2020 - 9 A 9.19 - BVerwGE 170, 210, juris Rn. 113 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="41"/>bb) Auf dieser Grundlage dürften durch das Vorhaben verschiedene artenschutzrechtliche Verbotstatbestände im Sinne von § 44 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BNatSchG verwirklicht werden und Legalausnahmen im Sinne von § 44 Abs. 4 und 5 BNatSchG nicht einschlägig sein (dazu (1)) sowie die Voraussetzungen für die Zulassung einer Ausnahme (§ 45 Abs. 7 BNatSchG) nicht vorliegen (dazu (2)).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="42"/>(1) Das Vorhaben führt zur Verwirklichung mehrerer Verbotstatbestände.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="43"/>(a) So hat bereits der Antragsgegner im Planfeststellungsbeschluss auf Grundlage der im Verfahren durchgeführten speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung (Unterlage 12.9) festgehalten, dass hinsichtlich der besonders und streng geschützten Arten Zaun- und Mauereidechse sowie der Schlingnatter wegen des trotz der Umsiedlung verbleibenden Risikos einer Tötung im Baufeld verbleibender Tiere der Verbotstatbestand von § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG erfüllt werde. Zudem werde, da keine Ersatzhabitate im räumlichen Zusammenhang mit den betroffenen Lebensräumen zur Verfügung stünden, auch der Verbotstatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG erfüllt, denn Fortpflanzungs- oder Ruhestätten würden durch das Vorhaben aus der Natur entnommen, beschädigt oder zerstört (S. 184 f. des Planfeststellungsbeschlusses; Unterlage 12.9, S. 240 ff., 247 ff.; Unterlage 12.9.1, S. 7 f.). Das Vorliegen von Legalsausnahmen im Sinne von § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BNatschG wird jeweils verneint, weil die ökologische Funktion der von dem Eingriff betroffenen Fortpflanzungs- und Ruhestätten im räumlichen Zusammenhang nicht weiterhin erfüllt werde. Auch hinsichtlich der Käferart Eremit (Juchtenkäfer) - einer prioritären Art - wird festgestellt, dass wegen der direkten Betroffenheit eines Eremiten-Habitatbaums eine Verschlechterung des Erhaltungszustands der lokalen Population im Sinne von § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG und eine Tötung von Individuen nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG nicht ausgeschlossen werden könne (S. 185 f. des Planfeststellungsbeschlusses; Unterlage 12.9, S. 254). Dass der betroffene Brutbaum zwischenzeitlich, wie der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 9. September 2021 mitgeteilt, „von allein umgefallen“ ist, hat mit Blick auf den entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage und wohl auch mit Blick darauf, dass es sich bei der Art Eremit um einen Totholzkäfer handelt, keine Auswirkungen. Auch hinsichtlich der Art Eremit verneint die spezielle artenschutzrechtliche Untersuchung das Vorliegen der Voraussetzungen des § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BNatschG (Unterlage 12.9, S. 259). Bezogen auf die Libellenart Grüne Flussjungfer seien Tötungen und Verletzungen im Sinne von § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG im Zuge der Realisierung der gewässerökologischen Ausgleichsmaßnahmen - anders als Kollisionsrisiken - nicht vollständig auszuschließen (S. 183 f. des Planfeststellungsbeschlusses, Unterlage 12.9, S. 262 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="44"/>(b) Darüber hinaus dürfte entgegen den Feststellungen des Planfeststellungsbeschlusses auch durch die signifikante Erhöhung des Tötungsrisikos von besonders geschützten Fledermausarten durch Kollisionsrisiken mit dem Straßenverkehr auf dem neuen Brückenbauwerk der artenschutzrechtliche Verbotstatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG verwirklicht werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="45"/>(aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Tatbestand des Tötungsverbots mit Blick auf die bei einem Bauvorhaben nie völlig auszuschließende Gefahr von Kollisionen geschützter Tiere mit Kraftfahrzeugen erst dann erfüllt, wenn das Vorhaben dieses Risiko in einer für die betroffene Tierart signifikanten Weise erhöht. Das anhand einer wertenden Betrachtung auszufüllende Kriterium der Signifikanz trägt dem Umstand Rechnung, dass für Tiere bereits vorhabenunabhängig ein allgemeines Tötungsrisiko besteht, welches sich nicht nur aus dem allgemeinen Naturgeschehen ergibt, sondern auch dann sozialadäquat sein kann und deshalb hinzunehmen ist, wenn es zwar vom Menschen verursacht ist, aber nur einzelne Individuen betrifft. Dies folgt aus der Überlegung, dass es sich bei den Lebensräumen der gefährdeten Tierarten nicht um unberührte Natur handelt, sondern um von Menschenhand gestaltete Naturräume, die aufgrund ihrer Nutzung durch den Menschen ein spezifisches Grundrisiko bergen, das nicht nur mit dem Bau neuer Verkehrswege, sondern zum Beispiel auch mit dem Bau von Windkraftanlagen oder Hochspannungsleitungen verbunden ist. Daher kann nicht außer Acht gelassen werden, dass Verkehrswege zur Ausstattung des natürlichen Lebensraums der Tiere gehören und deshalb besondere Umstände hinzutreten müssen, damit von einer signifikanten Gefährdung durch einen neu hinzukommenden Verkehrsweg gesprochen werden. Umstände, die für die Beurteilung der Signifikanz eine Rolle spielen, sind insbesondere artspezifische Verhaltensweisen, häufige Frequentierung des durchschnittenen Raums und die Wirksamkeit vorgesehener Schutzmaßnahmen, darüber hinaus gegebenenfalls auch weitere Kriterien im Zusammenhang mit der Biologie der Art (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.11.2018 - 9 A 8.17 - BVerwGE 163, 380, juris Rn. 98 m. w. N.). Der Gesetzgeber hat den Signifikanzansatz in § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG aufgenommen. Danach liegt ein Verstoß gegen das Tötungs- und Verletzungsverbot nicht vor, wenn die Beeinträchtigung durch den Eingriff oder das Vorhaben auch unter Berücksichtigung von Vermeidungsmaßnahmen das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare der betroffenen Arten nicht signifikant erhöht und diese Beeinträchtigung unvermeidbar ist, wobei diese Formulierung dahingehend zu verstehen ist, dass einem bestehenden signifikanten Tötungs- und Verletzungsrisiko nur mit fachwissenschaftlich anerkannten Vermeidungsmaßnahmen begegnet werden kann. Schutzmaßnahmen, die der fachwissenschaftlichen Anerkennung entbehren oder die in der Art ihrer Ausführung nicht den aus fachwissenschaftlicher Sicht daran zu stellenden Anforderungen genügen, schließen den Eintritt der Verbotsfolge nicht aus (vgl. Gellermann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand 96 EL September 2021, § 44 Rn. 52 mit Hinweis auf BT-Drs. 18/12845, S. 24).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="46"/>(bb) Nach dieser Maßgabe dürfte hier eine nicht hinreichend vermiedene signifikante Erhöhung des Tötungsrisikos von besonders geschützten Fledermausarten (vgl. zum Schutzstatus Anhang IV zur Richtlinie 92/43/EWG [FFH-Richtlinie]; geschützt sind dabei alle Arten von Fledermäusen [Microchiroptera]), anzunehmen sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="47"/>(α) Mit dem Antragsgegner ist davon auszugehen, dass hinsichtlich verschiedener Fledermausarten betriebsbedingte Kollisionsrisiken entstehen, die über das allgemeine Verletzungs- und Tötungsrisiko im Sinne einer signifikanten Erhöhung hinausgehen und denen mit einer Vermeidungsmaßnahme begegnet werden muss. So stellt die spezielle artenschutzrechtliche Prüfung auf Grundlage verschiedener Erfassungstermine (Unterlage 12.9, S. 108) das Vorliegen solcher besonderen Risiken fest für die Breitflügelfledermaus (Unterlage 12.9, S. 197), für den Großen Abendsegler (Unterlage 12.9, S. 202), für das Große Mausohr (Unterlage 12.9, S. 207), die Kleine Bartfledermaus (Unterlage 12.9, S. 217), die Mückenfledermaus (Unterlage 12.9, S. 222), die Rauhautfledermaus (Unterlage 12.9, S. 227), die Wasserfledermaus (Unterlage 12.9, S. 232) und schließlich die Zwergfledermaus (Unterlage 12.9, S. 237). Verneint wurden betriebsbedingte Risiken lediglich für die Art Kleiner Abendsegler (Unterlage 12.9, S. 212). Risiken bestünden für die Bartfledermaus selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass diese regelmäßig im freien Luftraum anzutreffen sei und sich an Gehölzen orientiere (Unterlage 12.9, S. 197). Für den Großen Abendsegler sei wegen der Zerschneidung von intensiv zur Jagd genutzten Lebensräumen und der sich in räumlicher Nähe befindlichen Quartiernachweise ein Kollisionsrisiko anzunehmen (Unterlage 12.9, S. 202). Das Kollisionsrisiko hinsichtlich des Großen Mausohres folge aus dem Umstand, dass die geplante Zerschneidung der Leitstruktur der gewässerbegleitenden Gehölze entlang der Enz für die strukturgebunden fliegende Art ein erhöhtes Kollisionsrisiko berge, da diese Art zumeist in geringer Höhe Hindernisse quere (Unterlage 12.9, S. 207). Hinsichtlich der Kleinen Bartfledermaus, die über Gewässern in einer Höhe von 1 bis 3 Metern jage, bestehe eine besondere Gefährdung. Zwar sei für tieffliegende Fledermäuse ein Unterfliegen von Bauwerken in jedem Fall bei einer lichten Höhe von mehr als 4,5 Metern möglich. Die geplante Enzbrücke weise im Bereich des südlichen Ufers jedoch nur eine lichte Höhe von 3,5 Metern auf. In der Folge müsse damit gerechnet, dass ein Teil der Tiere durch die niedrige Höhe des Durchlasses von der Flugbahn abweicht und die Brücke überfliegt (Unterlage 12.9, S. 217). Gleiches gelte für die Wasserfledermaus (Unterlage 12.9, S. 232). Die Flughöhe der bedingt strukturgebundenen Mückenfledermaus variiere zwischen 1 und 15 Metern und liege meist im mittleren Bereich mit der Folge einer Gefährdung in Höhe der Fahrbahn (Unterlage 12.9, S. 222). Hinsichtlich der Rauhautfledermaus sei festzustellen, dass die gewässerbegleitenden Gehölze entlang der Enz durch die Art intensiv bejaht würden und wegen deren Zerschneidung durch die Enzbrücke ein Kollisionsrisiko bestehe (Unterlage 12.9, S. 228). Hinsichtlich der Zwergfledermaus folge das Kollisionsrisiko daraus, dass deren Flugverhalten ausgerichtet sei an der Leitstruktur der enzbegleitenden Gehölze und der diesbezüglichen Zerschneidungswirkung der neuen Brücke (Unterlage 12.9, S. 237). Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Einschätzungen zu zweifeln.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="48"/>(β) Dem hieraus folgenden signifikant erhöhten Tötungsrisiko begegnet der angegriffene Planfeststellungsbeschluss voraussichtlich nicht mit fachwissenschaftlich anerkannten Vermeidungsmaßnahmen, die den Eintritt der Verbotsfolge ausschließen könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="49"/>Zwar hält der Antragsgegner im Planfeststellungsbeschluss fest, dass durch die Installation von Kollisionsschutzwänden an der geplanten Enzbrücke (Maßnahme V3, Unterlage 12.9, S. 39 f.) und der Festsetzung der lichten Höhe der Brücke (Maßnahme V2, Unterlage 12.9, S. 38 f.) eine Erhöhung des Kollisionsrisikos für verschiedene Fledermausarten vermieden werden könne (S. 180 f. des Planfeststellungsbeschlusses). Die Höhe der Kollisionsschutzwände leite sich nach Maßgabe der Speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung aus den Vorgaben der aktuellen Fachliteratur ab und betrage demnach 4 Meter, um auch Tötungen durch größere Fahrzeuge zu vermeiden. Im Falle geringerer Flugaktivität könne diese auf 2 Meter reduziert werden. Dies gelte für das südliche Ufer der Enz, das mit nur geringer Aktivität und vergleichsweise tief beflogen werde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="50"/>Eine tragfähige fachliche Grundlage für die Einschätzung der Möglichkeit jedenfalls einer Reduzierung der Höhe Lärmschutzwände, ist indes nicht erkennbar. Insoweit kann dahinstehen, ob die Annahme einer grundsätzlichen Eignung von Kollisionsschutzwänden naturschutzfachlich vertretbar ist (vgl. zur Wirksamkeit im Allgemeinen BVerwG, Urteil vom 28.4.2016 - 9 A 9.15 - BVerwGE 155, 91, juris Rn. 144). Sämtliche sowohl vom Antragsteller als auch vom Antragsgegner in Bezug genommenen Fachpublikationen gehen entgegen der Ansicht des Antragsgegners vielmehr davon aus, dass eine Wirksamkeit von Kollisionsschutzwänden in Bezug auf Fledermäuse allenfalls bei einer Mindesthöhe von 4 Metern erreicht werden kann. So kommt die „Arbeitshilfe Planung und Gestaltung von Querungshilfen für Fledermäuse“ (Brinkmann et al., 2012, S. 63 f., 78) zur Einschätzung, dass sich die Empfehlung durchgesetzt habe, dass - auch wenn systematische Untersuchungen zur Effizienz und zu Mindesthöhen von Schutzwänden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Arbeitshilfe nicht vorgelegen hätten - eine Mindesthöhe der Wände von 4 Metern nicht unterschritten werden soll. Nur auf diese Weise könnten die Fledermäuse so in ihrem Verhalten beeinflusst werden, dass sie in ausreichender Höhe blieben. Wandhöhen von nur 2 Metern werden hier nur für ausreichend erachtet, wenn Fledermäuse mittels einer flugbahnparallelen Leitstruktur über eine Querungshilfe geführt werden sollen, was im vorliegenden Fall nicht geplant ist. Gleiches ergibt sich aus dem „Merkblatt zur Anlage von Querungshilfen für Tiere und zur Vernetzung von Lebensräumen an Straßen“ (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, 2008, S. 16, 28 und 36), nach der straßenparallele Leitstrukturen - ggf. auch in Form lückenfreier Bepflanzungen - als Überflughilfen für querende Fledermäuse mindestens 4 Meter hoch sein müssen. Schließlich schließt sich auch der „Bericht über die Machbarkeitsstudie für Wiedervernetzungsmaßnahmen in den Verbundkorridoren südlich von Karlsruhe und Rastatt“ (Steck et al., 2019, S. 56), der Einschätzung an, dass ein Überfliegen für strukturgebunden fliegende Fledermäuse durch beidseitig der Straße angebrachte, 4 Meter hohe Kollisionsschutzwände unterstützt werden kann. Nichts Gegenteiliges folgt entgegen der Einlassung des Antragsgegners aus der Publikation „Beeinflussen Querungshilfen und Schutzzäune das Querungsverhalten von Fledermäusen“ (FÖA Landschaftsplanung GmbH 2013), der sich für die Möglichkeit einer Unterschreitung bei geringer Flugaktivität keine Erkenntnisse entnehmen lassen. Soweit der Antragsgegner hiergegen einwendet, die Kollisionsschutzwände stellten lediglich eine zusätzliche Absicherung dar, derer es wegen der ohnehin nur geringen Kollisionsgefahr kaum bedürfte und die in der Folge auch eine geringere Höhe aufweisen dürften, setzt er sich in Widerspruch zu den dargestellten Feststellungen in der artenschutzrechtlichen Prüfung zur signifikanten Erhöhung des Tötungs- und Verletzungsrisikos, der sich eine derartige Relativierung der Gefahrenlage nicht entnehmen lässt. Auch der Hinweis darauf, dass nicht alle Arten strukturgebunden flögen, ändert nichts an der jedenfalls bestehenden Gefährdung der strukturgebunden fliegenden und im Vorhabenbereich auch nach Maßgabe der speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung nachgewiesenen Arten. Der Begründungsansatz, im südlichen Bereich der Brücke reiche die 2 Meter hohe Kollisionsschutzwand aus, um ein Überfliegen der Straße zu vermeiden und die betroffenen Fledermäuse zu einem Unterfliegen der Strukturen zu bewegen, überzeugt ebenfalls nicht. Vielmehr geht auch die spezielle artenschutzrechtliche Prüfung davon aus, dass gerade im Bereich des südlichen Enzufers wegen der dortigen lichten Höhe von nur 3,50 Metern eher mit einem Überfliegen der Trasse zu rechnen ist. Wie eine zwei Meter hohe Kollisionsschutzwand vor einer Kollision mit Lastkraftwagen, die eine Höhe von bis zu 4 Metern haben dürfen (vgl. § 32 Abs. 2 StVZO), schützen soll, kann der Antragsgegner nicht erklären. Ohne Belang dürfte angesichts des individuenbezogen Schutzansatzes des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG damit auch sein, dass im südlichen Uferbereich wegen des dortigen Gewerbegebiets möglicherweise weniger Flugaktivität zu verzeichnen ist; denn jedenfalls quert die festgestellte Flugbahn der Fledermäuse den Bereich, in dem lediglich die 2 Meter hohe Schutzwand geplant ist. Schließlich ist auch das Argument des Antragstellers, die Fledermäuse würden den Bereich der lediglich 77 Meter langen und 4 Meter hohen Kollisionsschutzwand im nördlichen Teil der Brücke an Stelle eines Überflugs in südlicher Richtung umfliegen und sodann im Bereich der lediglich 2 Meter hohen Kollisionsschutzwand die Straße queren mit dem Risiko einer Kollision, mit Blick auf die einschlägige Fachliteratur nicht von der Hand zu weisen (vgl. „Arbeitshilfe Planung und Gestaltung von Querungshilfen für Fledermäuse“ [Brinkmann et al., 2012, S. 78, 80]) für die hier freilich nicht nachgewiesene Kleine Hufeisennase und in Bezug auf Leiteinrichtungen im Allgemeinen).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="51"/>(c) Hinsichtlich der Art Grüne Flussjungfer, einer streng geschützten Art nach Anhang II und Anhang IV FFH-Richtlinie, dürfte demgegenüber keine signifikante Erhöhung des Tötungs- und Verletzungsrisikos im Zusammenhang mit betriebsbedingten Kollisionen bestehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="52"/>Die Annahme des Antragsgegners, diesem Risiko könne insbesondere durch die Festsetzung der lichten Höhe der neuen Brücke über Enz begegnet werden (S. 83 des Planfeststellungsbeschlusses), wird durch das Ergebnis der speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung (Unterlage 12.9, S. 264 f.) gestützt. Die dortige Annahme, die Art erweise sich gegenüber Fahrzeugkollisionen nur als mäßig empfindlich und bewege sich in der Regel in der Nähe der Wasseroberfläche bzw. krautigen Ufervegetation, weshalb ein Hineingeraten in den Kollisionsgefahrenbereich eher unwahrscheinlich sei, wird vom Antragsteller nicht substantiiert in Frage gestellt. Auch sonst ist nichts für naturschutzfachliche Mängel ersichtlich. Insoweit dürfte, selbst wenn sich die Kollisionsschutzmauer als nicht hinreichend hoch erweist, nicht mit einer signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos zu rechnen sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="53"/>(d) Hinsichtlich der Art Großer Feuerfalter, ebenfalls einer streng geschützten Art nach Anhang II und Anhang IV FFH-Richtlinie, lässt sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hingegen nicht abschließend klären, ob ein Verbotstatbestand des § 44 Abs. 1 BNatSchG einschlägig ist. Diese Frage kann jedoch mit Blick auf die weiteren artenschutzrechtlichen Betroffenheiten ungeklärt bleiben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="54"/>Der Planfeststellungsbeschluss, der sich maßgeblich auf eine Nachuntersuchung aus dem Jahr 2020 (Gruppe für ökologische Gutachten GmbH, Stellungnahme: B10 OD Enzweihingen - Nachuntersuchung Großer Feuerfalter, 11.9.2020) bezieht, hält insoweit fest, dass erst im Rahmen einer Nachuntersuchung im Jahr 2020 in zwei potentiellen Habitaten im Gewann „Langer Aispach“, das durch die Ortsumfahrung nicht tangiert werde, Eier festgestellt worden seien. Einzelne Nachweise außerhalb der eigentlichen Larvalhabitate entsprächen der unsteten Lebensweise der Art. Auch im Hinblick auf mögliche Zerschneidungswirkungen der geplanten Umgehungsstraße seien keine Verwirklichungen von Verbotstatbeständen zu erwarten. Auch nach der Realisierung der Ortsumfahrung blieben die Austauschbeziehungen im Enztal erhalten (S. 182 des Planfeststellungsbeschlusses).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="55"/>Der Antragsteller wendet hiergegen ein, dass sich auf Grundlage einer im Namen aller Naturschutzvereinigungen erstellten floristisch-faunistischen Untersuchung aus dem Jahr 2020 (Dr. Caspari, Floristisch-faunistische Untersuchungen in der Enzaue bei Vaihingen-Enzweihingen im Bereich der geplanten Ortsumgehung durch die Bundesstraße B10, 30.11.2020) anderes ergebe. Ein Vorkommen des Großen Feuerfalters sei demnach vor allem südlich der Enz, ein anderes Vorkommen aber auch nördlich der Enz festgestellt worden. Letzteres liege nahezu exakt auf der Trasse des Vorhabens. Auch südlich der Enz werde ein Nachweispunkt zerstört. Hinzu komme die Zerschneidungswirkung für das bedeutende Vorkommen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="56"/>Der insoweit bestehende Widerspruch der faunistischen Untersuchungen lässt sich ohne weitere Ermittlungen nicht ohne Weiteres aufklären. Insbesondere bleibt unklar, warum die für den Antragsgegner erstellte Nachuntersuchung auf Bereiche nördlich der Enz und westlich der bestehenden Enzbrücke beschränkt wurde, während der Gutachter der Umweltverbände davon abweichend von einer guten Habitateignung des Auengrünlands beiderseits der Enz ausgeht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="57"/>(2) Die wegen der Verwirklichung der Zugriffsverbote des § 44 Abs. 1 BNatSchG erforderlichen einzelfallbezogenen Ausnahmen dürften, soweit sie - wie für die Fledermausarten - nicht bereits fehlen, rechtswidrig sein. Denn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme nach § 45 Abs. 7 BNatschG sind voraussichtlich für keine der von den artenschutzrechtlichen Zugriffsverboten betroffenen Arten erfüllt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="58"/>(a) Nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG können die nach Landesrecht für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörden - wegen der Konzentrationswirkung des Planfeststellungsbeschlusses also auch die Planfeststellungsbehörden - im Einzelfall Ausnahmen von den Verboten des § 44 BNatSchG aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art zulassen. Darüber hinaus erfordert eine Ausnahme nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG, dass zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand der Populationen einer Art nicht verschlechtert.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="59"/>Die Unzulässigkeit der Erteilung einer Ausnahme bei Verfügbarkeit zumutbarer Alternativen trägt unter anderem den Regelungsvorgaben des Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie Rechnung, die zum Ausdruck bringt, dass eine Verbotsausnahme nur in Frage kommt, wenn es keine „anderweitige zufriedenstellende Lösung“ gibt. Insoweit etabliert § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG ein strikt beachtliches Vermeidungsgebot; ein (planerisches) Ermessen ist der Planfeststellungsbehörde nicht eingeräumt (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie BVerwG. Urteil vom 6.11.2013 - 9 A 14.12 - BVerwGE 148, 373, juris Rn. 74). Hinsichtlich der Zumutbarkeit von Alternativen, für deren Prüfung im Ansatz nichts anderes gilt als bei der gebietsschutzrechtlichen Alternativenprüfung nach der Regelung des § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG, die der Umsetzung von Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie dient (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.4.2014 - 9 A 25.12 - BVerwGE 149, 289, juris Rn. 120; Urteil vom 12.3.2008 - 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299, juris Rn. 240; Gellermann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 97. EL Dezember 2021, § 34 Rn. 29 m. w. N.; Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Auflage 2021, § 45 Rn. 30), sind Ausgangspunkt die mit dem Vorhaben verfolgten Ziele. Als Alternative kommen folglich nur solche Vorhabenvarianten in Betracht, mit denen sich die konkreten Ziele noch - wenn auch unter gewissen Abstrichen am Zielerfüllungsgrad - verwirklichen lassen (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie BVerwG, Beschluss vom 14.4.2014 - 4 B 77.09 - juris Rn. 71; für Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie offenlassend BVerwG, Urteil vom 4 B 62.08 - NuR 2009, 414, juris Rn. 45 m. w. N.). Anlass, diese für den Habitatschutz entwickelte Leitlinie nicht auf den Artenschutz zu übertragen, gibt es nicht (vgl. Schütte/Gerbig in Schlacke, GK-BNatschG, 2. Auflage 2017, § 45 Rn. 41 f.). Die Null-Variante scheidet damit als Alternative aus. Gleiches gilt für System- oder Konzeptalternativen, die auf ein anderes Vorhaben hinauslaufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.1.2007 - 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1 juris Rn. 142). Alternativen im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG können hingegen alternative Trassen sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.11.2013 - 9 A 14.12 - BVerwGE 148, 373 juris Rn. 131). Als vorzugswürdig können sich des Weiteren nur solche Alternativen erweisen, die zumutbar sind. Zumutbar sind nur diejenigen Alternativen, deren Verwirklichungsaufwand - auch unter Berücksichtigung naturschutzexterner Gründe - nicht außer Verhältnis zu dem mit ihnen erreichbaren Gewinn für den Naturschutz steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.5.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 253 juris Rn. 37; Urteil vom 27.1.2000 - 4 C 2.99 - BVerwGE 110, 302, juris Rn. 30 f.). Der Vorhabenträger kann daher unter anderem nicht auf eine Alternative verwiesen werden, wenn diese ihm unverhältnismäßige Opfer abverlangt oder andere Gemeinwohlbelange erheblich beeinträchtigen; hierzu zählen auch Kostengründe (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie BVerwG, Urteil vom 6.11.2013 - 9 A 14.12 - BVerwGE 148, 373, juris Rn. 74). Ob Kosten außer Verhältnis zu dem naturfachlichen Gewinn stehen, ist am Gewicht der beeinträchtigten gemeinschaftlichen Schutzgüter zu messen. Richtschnur hierfür sind die Schwere der Beeinträchtigung und die Anzahl und Bedeutung der gemeinschaftsrechtlich geschützten Rechtsgüter (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2000 - 4 C 2.99 - BVerwGE 110, 302, juris Rn. 30 f.). Bezogen auf den Gebietsschutz hat dies zur Folge, dass je größeren Gewinn eine Alternativlösung für die Wahrung der Erhaltungsziele verspricht, desto umfassendere Vermeidungsanstrengungen auch unter Einschluss finanzieller Mittel hat der Vorhabenträger zu unternehmen (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254, juris Rn. 41). Dies kann entsprechend auf den Artenschutz übertragen werden. Die Frage, ab wann Mehrkosten relativ oder absolut unverhältnismäßig sind, ist von der Rechtsprechung nicht geklärt (vgl. beispielhaft BVerwG, Urteil vom 17.1.2007 - 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1, juris Rn. 142) Eine Kosten-Nutzen-Analyse ist insofern ohnehin nur schwerlich durchzuführen, da finanzielle Kosten mit nicht monetären Werten verglichen werden. Denn geschützte Arten haben ebenso wie Natura 2000-Gebiete und ihre Schutzgüter nur bedingt einen monetären Marktwert, wobei sich dieser Geldwert allenfalls annäherungsweise bestimmen lässt. Aufgrund dieser Schwierigkeiten dürfte eine Alternative nur in seltenen Fällen allein aufgrund unverhältnismäßiger Kosten auszuschließen sein (vgl. zu § 34 Abs. 3 BNatSchG Möckel in Schlacke, GK-BNatschG, 2. Auflage 2017, § 34 Rn. 35 f.). Auch vor dem Hintergrund der gebotenen engen Auslegung der in der FFH-Richtlinie normierten Ausnahmen ist jedenfalls zweifelhaft, dass bei der Wahl von Alternativlösungen allein auf die wirtschaftlichen Kosten solcher Maßnahmen abgestellt werden darf (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie EuGH, Urteil vom 14.1.2016 - C-399/14 - juris Rn. 77). Insoweit dürfte es auch nicht sachgerecht sein, auf die Mehrkostenobergrenze bei der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Bezug zu nehmen, wo die Zumutbarkeitsgrenze teilweise bei 10 % der Gesamtinvestitionskosten gesehen wird (a. A. Lau in Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Auflage 2021, § 45 Rn. 31 m. w. N.). Neben den monetären Gründen für eine mögliche Unzumutbarkeit ist insbesondere an verkehrliche, städtebauliche, wasser-, land- und sonstige wirtschaftliche Belange, Belange des Denkmalschutzes sowie den Umstand, dass im Rahmen der Alternative in größerem Umfang zwangsweise auf Flächen Dritter zugegriffen werden muss, zu denken. Ebenfalls unzumutbar sind all solche Alternativen, deren technische Realisierbarkeit unsicher ist; eine Verpflichtung zum Experiment gibt es also nicht (vgl. Lau in Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Auflage 2021, § 45 Rn. 31). Unerheblich sind hingegen der Aufwand und die Zeitdauer, die ein neues Genehmigungs- oder Planfeststellungsverfahren am Alternativstandort erfordern würde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3.6.2010 - 4 B 54.09 - NVwZ 2010, 1289, juris Rn. 7).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="60"/>(b) Gemessen hieran muss sich die durch das Regierungspräsidium vertretene Vorhabenträgerin voraussichtlich auf ihr zumutbare Alternativen verweisen lassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="61"/>Kleinräumige, artenschutzrechtlich weniger bedenkliche Trassenverläufe dürften, nachdem sich die Antragsvariante dadurch auszeichnet, dass die Trasse mit nur zwei Fahrstreifen in der Enzaue sowie mit recht großem Abstand zur Enz geführt und die Enz möglichst senkrecht gequert wird (vgl. Unterlage 1b, S. 30), zwar nicht zur Verfügung gestanden haben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="62"/>Zum einen bestünde jedoch die Möglichkeit, die Kollisionsschutzwand auch in den Bereichen, für die bisher eine Höhe von 2 Metern vorgesehen ist, einheitlich auf 4 Meter zu erhöhen. Zwar wäre hiermit eine höhere Trennwirkung im Hinblick auf die Enzaue verbunden. Dafür, dass dieser Nachteil angesichts der erzielbaren Vorteile für den Artenschutz unzumutbar sein könnte, liegen indes keine Anhaltspunkte für.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="63"/>Entscheidender aber ist mit Blick auf das Gesamtvorhaben zum anderen, dass sich der Antragsteller voraussichtlich auf die Kurztunnelvarianten - einer Entscheidung zwischen beiden hinsichtlich ihrer Auswirkungen und Kosten im Grundsatz vergleichbaren Varianten bedarf es im vorliegenden Verfahren nicht - verweisen lassen muss und die artenschutzrechtliche Ausnahmen damit nicht erteilt werden dürfen. Der Vorhabenträgerin dürfte mit den Kurztunnelvarianten eine zumutbare Alternative zur Verfügung stehen, die mit jedenfalls erheblich weniger intensiven artenschutzrechtlich nachteiligen Wirkungen verbunden ist und weitere naturschutzfachliche Vorteile aufweist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="64"/>(aa) Bei den Kurztunnelvarianten handelt es sich nicht um ein anderes Projekt, das von vornherein keine zumutbare Alternative darstellen würde. Denn die ausweislich des Erläuterungsberichts und des Planfeststellungsbeschlusses mit dem Vorhaben maßgeblich verfolgten Ziele können auch mit den Kurztunnelvarianten erreicht werden. Ziel ist demnach im Kern die Entlastung des Ortskerns von Enzweihingen. Anhand dieses Ziels erfolgte die umfangreiche Variantenuntersuchung (S. 76 des Planfeststellungsbeschlusses). Den mit der hohen Verkehrsbelastung einhergehenden Einschränkungen der Lebensqualität durch die hohen Lärm- und Schadstoffimmissionen, durch die städtebauliche Trennungswirkung, die schlechte Überbaubarkeit der Straße sowie die schlechten Bedingungen für andere Verkehrsteilnehmer sei angesichts prognostizierter Verkehrsmengensteigerungen zu begegnen. Zudem müsse die Verkehrssicherheit verbessert werden (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 11 ff.; S. 67 ff. des Planfeststellungsbeschlusses). Diese Ziel kann, wie auch der Antragsgegner im Planfeststellungsbeschluss im Zusammenhang mit der allgemeinen Variantenabwägung festhält, jedenfalls vergleichbar mit den Kurztunnelvarianten erreicht werden. Mit Blick auf die verkehrliche Wirksamkeit seien auch die Kurztunnelvarianten als sehr gut zu beurteilen (S. 84 des Planfeststellungsbeschlusses). Demnach könne mit den Tunnelvarianten eine sehr gute Entlastungswirkung - wenn auch die planfestgestellte Ortsumfahrung eine bessere verkehrliche Entlastung bewirke - erzielt werden; es sei jedoch wegen notwendiger Rampen, der Verbreiterung der Verkehrsschneise und der hohen Lärmschutzwände an den Portalbereichen eine schlechtere städtebauliche Entwicklung zu erwarten (S. 87 des Planfeststellungsbeschlusses). Insoweit handelt es sich bei den Nachteilen der Kurztunnelvarianten aber lediglich um Abstriche vom Zielerfüllungsgrad der Verbesserung der innerörtlichen Verkehrssituation in Enzweihingen, zumal die Trennwirkung nicht den inneren Ortskern, sondern primär den Bereich der Tunnelportale beträfe. Folgerichtig geht auch der Antragsgegner im Planfeststellungsbeschluss davon aus, dass sich die Kurztunnelvarianten mit guten Gründen als vorzugswürdige Alternative vertreten ließen (S. 87 des Planfeststellungsbeschlusses). Lediglich der Nullvariante mit Verkehrsbeschränkung bescheinigt der Antragsgegner im Planfeststellungsbeschluss, dass diese wesentliche Planungsziele verfehle (S. 85 des Planfeststellungsbeschlusses). Soweit im Rahmen der artenschutzrechtlichen Alternativenprüfung vom Antragsgegner im Rahmen des Planfeststellungsbeschlusses angemerkt wird, bei einem anderen Projekt und fehlender Identität liege keine zumutbare Alternative vor, beschränkt sich der Antragsgegner auf die Nennung des Maßstabs, ohne jedoch unter diesen abschließend zu subsumieren (S. 188 f. des Planfeststellungsbeschlusses). Die Hinweise darauf, der Bau der Tunnel sei mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, die Entlastungswirkung sei geringer, die Trennwirkung der B 10 werde nicht in gleichem Maß aufgehoben und die Investitions- und Unterhaltungskosten seien höher, stellen lediglich die Zumutbarkeit der Verweisung auf die Alternativlösung in Frage. Auch im vom Regierungspräsidium als Vertreterin der Vorhabenträgerin eingereichten Erläuterungsbericht wird den Kurztunnelvarianten eine mit den Wirkungen der Umfahrungsvariante vergleichbare Entlastung der Ortsdurchfahrt um etwa 75 % für den Gesamtverkehr und etwa 92 % bis 94 % für den Schwerlastverkehr und damit eine insgesamt sehr gute Entlastungswirkung bescheinigt (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 35). Insoweit dürften auch gute Wirkungen für die Verbesserung der Verkehrssicherheit zu erzielen sein. Soweit der Antragsgegner auch im Erläuterungsbericht darauf hinweist, es stehe bei den Tunnelvarianten lediglich ein kleinerer Bereich zur städtebaulichen Entwicklung zur Verfügung, weil die Trasse innerhalb der Ortslage durch die Elemente Tunnelportale, Rampen und Lärmschutzwände bestimmt werde (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 33), betrifft auch dies nur Abstriche am Erfüllungsgrad des verfolgten Ziels. Auch hier geht der Antragsgegner selbst davon aus, dass sich bei den durchgeführten Fachuntersuchungen auch für die Kurztunnelvarianten kein Ausschlusskriterium ergeben hat (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 45). Schließlich setzt sich das Regierungspräsidium mit dem Hinweis darauf, die Kurztunnelvarianten beträfen ein anderes Vorhaben, in deutlichen Widerspruch zu den umfangreichen Variantenuntersuchungen und deren Ergebnissen, derer es nicht bedurft hätte, wenn lediglich mit der planfestgestellten Umfahrungsvariante die Planungsziele erreicht werden könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="65"/>Der Annahme des Bestehens der Vorhabenidenität steht auch nicht entgegen, dass nur die Umfahrungsvariante im Fernstraßenausbaubedarfsplan (Anlage zu § 1 Abs. 1 Satz 2 FStrAbG, Nr. 37) als vorrangiger Bedarf ausgewiesen ist, mithin die Tunnelvarianten jedenfalls vom Gesetzgeber nicht als (in gleichem Maß) vorrangig angesehen wurden. Denn in der maßgeblichen Bedarfsbeschreibung der durch das Regierungspräsidium vertretenen Vorhabenträgerin kommt - wie gezeigt - nicht zum Ausdruck, dass mit der Umfahrungsvariante etwa noch weitere Vorhabenziele verfolgt werden. Die Bindungswirkung der gesetzlichen Bedarfsfeststellung reicht ohnehin generell für sich genommen nicht aus, um einem planfestgestellten Vorhaben den Vorrang gegenüber dem Habitatschutz zu sichern (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie bereits BVerwG, Urteil vom 17.1.2007 - 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1, juris Rn. 131). Insoweit kann der bundesgesetzliche Bedarfsplan auch nicht in artenschutzrechtlich verbindlicher Hinsicht berücksichtigungsfähige zumutbare Alternativen ausschließen, wenn es sich - wie das Regierungspräsidium selbst unter Konkretisierung seiner Planungsziele zum Ausdruck bringt - nicht um ein anderes Verkehrsprojekt handelt. Eine andere Betrachtungsweise im Sinne eines anderen Projekts wäre nur dann gerechtfertigt, wenn das Regierungspräsidium die Vorhabenziele eindeutig den Vorgaben des Bedarfsplans folgend konkretisiert hätte (vgl. zu dieser Konstellation Senatsurteil vom 17.7.2007 - 5 S 130/06 - ESVGH 58, 61, juris Rn. 38 f.), was vorliegend jedoch nicht der Fall ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="66"/>(bb) Die Kurztunnelvarianten erweisen sich in artenschutzrechtlicher und auch in sonstiger umweltfachlicher Hinsicht aller Voraussicht nach als eindeutig vorteilhaft.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="67"/>Denn bei ihnen dürften, anders als bei der planfestgestellten Variante, jedenfalls keine artenschutzrechtlichen Ausnahmen erforderlich sein. Diesbezügliche Anhaltspunkte liegen mit Blick auf die Trassenführung weitgehend durch Enzweihingen - teilweise in Tunnellage - und die Führung der neuen zweiten Enzbrücke unmittelbar westlich der bestehenden Brücke nicht vor. Auch den im Zusammenhang mit der Erstellung des landschaftspflegerischen Begleitplans erstellten Bestands- und Konfliktkarten (Unterlage 12.2, Blatt 1b) lassen sich für den problematischen Bereich westlich der Bestandsbrücke über die Enz - und damit in einem vorbelasteten Bereich - keine Anhaltspunkte für besondere artenschutzrechtliche Konflikte entnehmen. Soweit bei der längeren Kurztunnelvariante zwischen der Ortsmitte und dem östlich gelegenen Strudelbach beim kürzeren Tunnel höhere Verluste an möglicherweise besiedelten Strukturen zu erwarten sein könnten, dürfte es sich um durch die Nähe zur bestehenden B 10 stark belastete und allenfalls suboptimale Lebensräume handeln (vgl. Unterlage 12.11.2, S. 53). Auch der Antragsgegner geht im Planfeststellungsbeschluss und im Erläuterungsbericht davon aus, dass die Kurztunnelvarianten naturschutzfachlich eindeutig vorzugswürdig sind (S. 86 des Planfeststellungsbeschlusses; Unterlage 1b, S. 39).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="68"/>Die mit der planfestgestellten Umfahrungsvariante verbundenen Zugriffe sind demgegenüber sowohl bezogen auf die Anzahl der betroffenen Arten als auch bezogen auf deren Schutzstatus und die konkreten Betroffenheiten wegen der Führung durch die Enzaue deutlich umfangreicher (vgl. auch Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 39) und als erheblich zu bewerten. Einige der von den Zugriffen betroffenen Arten sind nach Maßgabe der Roten Liste Deutschland stark gefährdet und es handelt sich um prioritäre Arten (Eremit; vgl. zur besonderen Bedeutung prioritärer Arten § 34 Abs. 4 BNatSchG), sind gefährdet (Breitflügelfledermaus; Schlingnatter) oder befinden sich jedenfalls auf der Vorwarnliste (Großer Abendsegler, Großes Mausohr, Kleine Bartfledermaus, Zauneidechse, Mauereidechse; vgl. zum Ganzen die Formblätter Artenschutz, Unterlage 10.9, S. 192 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="69"/>Hinsichtlich der geschützten Fledermausart Großes Mausohr kommt hinzu, dass diese Art von den gebietsbezogenen Erhaltungszielen des gequerten Natura 2000-Gebiets umfasst ist (FFH-Verordnung, S. 260; Managementplan S. 93 ff.; Unterlage 12.7, S. 20); erhalten werden soll demnach insbesondere auch der räumliche Verbund von Jagdhabitaten ohne Gefahrenquellen. Ein Jagdhabitat dieser Art wurde im Bereich der neuen Enzbrücke als Teil der Antragsplanung festgestellt (vgl. auch Unterlage 12.2, Bl. 2a), das Vorkommen wurde im Untersuchungsraum nachgewiesen (Unterlage 12.9, S. 206). Wie bereits dargestellt, kann dem Tötungsrisiko entgegen der Einschätzung im Planfeststellungsbeschluss und den Ergebnissen der speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung nicht mit der in Teilen wegen zu geringer Höhe ungeeigneten Kollisionsschutzwand begegnet werden. Gerade bei der Art Großes Mausohr besteht wegen dessen strukturgebundener Flugweise ein erhöhtes Kollisionsrisiko (Unterlage 12.9, S. 205; S. 196 f. des Planfeststellungsbeschlusses).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="70"/>Auch eine erhebliche Beeinträchtigung der geschützten Art Grüne Flussjungfer, die ebenfalls von den gebietsbezogenen Erhaltungszielen des gequerten Natura 2000-Gebiets umfasst ist (FFH-Verordnung, S. 260; Managementplan S. 67 ff.; Unterlage 12.7, S. 18, 87 ff.) kann entgegen den Annahmen im Planfeststellungsbeschluss (S. 51 des Planfeststellungsbeschlusses; vgl. auch S. 194 f. des Planfeststellungsbeschlusses) voraussichtlich nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden. Ausweislich der FFH-Verträglichkeitsprüfung kommt es für diese Art im Bereich des neuen Brückenbauwerks über die Enz zu einem kleinflächigen Habitatverlust mit einer Fläche von 42 m² (Unterlage 12.7, S. 89). Der Orientierungswert der Fachkonvention von 40 m² (Fachkonvention, S. 52) wird damit trotz der Kleinflächigkeit überschritten. Die Einschätzung des Antragsgegners, mit Blick darauf, dass es sich um einen Orientierungswert handele, dass ausweislich der Feststellungen in der FFH-Verträglichkeitsprüfung jedenfalls ein Teil des Habitats südlich der Enz liege und dass die dortigen Flächen bereits durch das vorhandene Gebiet vorbelastet und damit von untergeordneter Bedeutung für die Grüne Flussjungfer seien, seien die Beeinträchtigungen nach Auffassung der FFH-Verträglichkeitsprüfung noch tolerierbar und damit nicht erheblich im Sinne des § 34 Abs. 2 BNatSchG, dürfte fachlich nicht vertretbar sein. Gegen die Vertretbarkeit spricht, dass nach der zugrundegelegten Fachkonvention eine Beeinträchtigung nur dann als nicht erheblich eingestuft werden kann, wenn die in Anspruch genommene Fläche kein für die Art essentieller bzw. obligater Bestandteil des Habitats ist, der Umfang der direkten Flächeninanspruchnahme den Orientierungswert nicht überschreitet, der Umfang der direkten Flächeninanspruchnahme nicht größer als 1 % ist, die Orientierungswerte auch durch kumulativ zu berücksichtigende Projekte nicht überschritten werden und nicht durch andere Wirkfaktoren des Projekts erhebliche Beeinträchtigungen verursacht werden (Fachkonvention, S. 43). Mit der Überschreitung des Orientierungswerts und dem jedenfalls auch nach Maßgabe der speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung eintretenden baubedingten artenschutzrechtlichen Zugriff im Sinne des § 44 Abs. 1 BNatSchG (Unterlage 12.9, S. 264) liegen diese kumulativ erforderlichen Voraussetzungen jedoch nicht vor. Zudem spricht gegen die Annahme einer Unerheblichkeit wegen der Vorbelastung der Flächen auch, dass nach Maßgabe des Managementplans Exemplare der „Grünen Flussjungfer“ vorrangig nördlich der Enz und damit im nicht vorbelasteten Bereich nachgewiesen wurden (Managementplan, Bestands- und Zielkarte Arten, Teilkarte 7).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="71"/>Auch diese Aspekte sind bei der artenschutzbezogenen Prüfung der Zumutbarkeit der Alternativen im Sinne von § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG zu berücksichtigen, da die artenschutzrechtlichen Vorteile nicht isoliert von den gebietsschutzrechtlichen Vorteilen beurteilt werden können, zumal der Gebietsschutz hier explizit auch den Schutz der artenschutzrechtlich betroffenen Arten Grüne Flussjungfer und des Großes Mausohres umfasst. Eine zumutbare Alternative im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass habitat- und artenschutzrechtliche Schutzvorschriften sich ihr gegenüber nicht als ebenso wirksame Zulassungssperre erweisen wie gegenüber der planfestgestellten Trasse (Urteile vom 14.7.2011 - 9 A 12.10 - BVerwGE 140, 149, juris Rn. 137 und vom 9. Juli 2008 - BVerwG 9 A 14.07 - BVerwGE 131, 274 juris Rn. 119). Insoweit muss jedenfalls der artenbezogene Habitatschutz, soweit er den ubiquitären Artenschutz aufwertet, auch bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Alternativen zum Nachteil der Antragsvariante berücksichtigt werden, wenn diese - wie hier - stärker als Alternativplanungen mit Nachteilen für den Habitatschutz verbunden ist. Denn anderenfalls wäre ein Vergleich nicht möglich. Dem steht nicht entgegen, dass bei der Prüfung zumutbarer Alternativen im Sinne des § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG artenschutzrechtliche Probleme außerhalb des Habitats außer Betracht bleiben müssen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.11.2012 - 9 A 17/11 - BVerwGE 145, 40, juris Rn. 80). Denn nur insoweit gilt der Vorrang des Gebietsschutzes vor dem Artenschutz, einen umgekehrten Vorrang des ohnehin ubiquitären Artenschutzes vor dem Gebietsschutz gibt es demgegenüber nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="72"/>(cc) Angesichts der dargelegten eindeutigen Vorzugswürdigkeit dürften der durch das Regierungspräsidium vertretenen Vorhabenträgerin die mit den Kurztunnelvarianten verbundenen Nachteile unter Einbeziehung der Mehrkosten auch unter Berücksichtigung der Beeinträchtigung anderer Gemeinwohlbelange nicht unzumutbar sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="73"/>(α) Keinen durchgreifenden Bedenken dürfte indes die Schätzung der Mehrkosten durch den Antragsgegner begegnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="74"/>Die der Variantenprüfung zugrundeliegende Kostenschätzung kann mit Blick darauf, dass der Behörde Prognosespielräume zustehen und die Kosten abschließend erst bei Vorliegen einer kompletten Ausbauplanung exakt berechnet werden können, grundsätzlich nur dann gerichtlich beanstandet werden, wenn keine geeigneten Erkenntnismittel herangezogen wurden oder die gezogenen Schlüsse nicht nachvollziehbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 3.3.2011 - 9 A 8.10 - BVerwGE 139, 150, juris Rn. 90 m. w. N.). Dies ist hier nicht der Fall.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="75"/>Im Planfeststellungsbeschluss hält der Antragsgegner auf Grundlage der Angaben im Erläuterungsbericht insoweit fest, dass die Kostenschätzung der Umfahrungsvariante bei 32,1 Millionen Euro liege, während für die Tunnelvarianten 74,1 Millionen bzw. 77,1 Millionen Euro zu veranschlagen wären (S. 85, 87, 90 des Planfeststellungsbeschlusses; Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 44). Die größten Kostenanteile entfielen dabei auf die aufwendige Herstellung der Tunnelbauwerke einschließlich deren Ausstattung und Rampen im Grundwasser. Hinzu kämen deutlich höhere jährliche Unterhaltungskosten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="76"/>Dafür, dass diese Berechnungen fehlerhaft sein könnten, ist nichts ersichtlich. Zwar waren die Kostenschätzungen zum Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses am 20. Mai 2021 nicht mehr aktuell, sondern in Teilen bereits mehr als ein Jahrzehnt alt. Selbst bei realistisch zu prognostizierenden und nach Maßgabe der Baupreisindizes zu berechnenden Kostensteigerungen ist jedoch nicht zu erwarten, dass sich das für die Variantenabwägung maßgebliche Verhältnis der Kosten der Varianten zueinander in entscheidender Weise verändert hätte. Lediglich in Bezug auf die absolute Höhe der Differenz wären Auswirkungen zu erwarten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="77"/>Soweit der Antragsteller diesbezüglich geltend macht, dass die Kosten für die Antragsvariante gravierend unterschätzt worden seien, weil ein überholter Kostenstand vom 14. Dezember 2019 zugrundegelegt worden und zudem die letztlich nicht planfestgestellte Variante mit einem plangleichen und damit kostengünstigeren Knotenpunkt B10/K1648 zugrundegelegt worden sei, werden diese Bedenken durch den Antragsgegner ausgeräumt. Er erklärt (S. 469 f. der Gerichtsakten), dass bereits am 26. September 2008 (Zusammenfassung S. 687 der Gerichtsakten) für einen planfreien Knoten West voraussichtliche Kosten in Höhe von knapp 32,3 Millionen Euro ermittelt worden seien, während sich auf Grundlage einer Kostenberechnung vom 12. November 2021 (Zusammenfassung S. 686 der Gerichtsakten) für einen plangleichen Knoten Mehrkosten in Höhe von 32,1 Millionen Euro ergeben hätten. Für die beiden Kurztunnelvarianten hätte eine Kostenberechnung vom 22. April 2013 Kosten in Höhe von 74,1 bzw. 77,1 Millionen Euro (Zusammenfassung S. 476 f. der Gerichtsakten) ergeben. Wenn man zur besseren Vergleichbarkeit für die Antragsvarianten die Baupreisindizes des statistischen Bundesamts (S. 474f. der Gerichtsakten) und damit die Baupreisteigerungen von 9,2 % zwischen 2008 und 2013 bzw. 1,2 % zwischen 2012 und 2013 berücksichtige, führe dies für die plangestellte Variante mit planfreiem Knotenpunkt West zu Kosten in Höhe von 35,3 Millionen Euro und für die Alternative mit plangleichem Knotenpunkt zu Kosten in Höhe von 32,5 Millionen Euro. Auf Grundlage der vom Landratsamt Ludwigsburg für das Jahr 2012 erhobenen Straßenunterhaltungskosten für vergleichbare einspurige Bundesstraßen könne überschlägig davon ausgegangen werden, dass die Unterhaltungskosten für einen Streckenabschnitt mit Tunnel etwa 13- bis 17fach höher seien als für einen Streckenabschnitt ohne Tunnel. Hiergegen ist nichts zu erinnern. Gegenteiliges trägt auch der Antragsteller nicht substantiiert vor. Ausgeschlossen ist auch mit Blick auf realistisch zu prognostizierende Kostensteigerungen, dass sich das relative Verhältnis der Kosten der Antragsvariante und der Kurztunnelvarianten erheblich verändert. Unerheblich dürfte schließlich auch sein, dass der Antragsgegner bei der Kostenberechnung die Verlegung der Straßenmeisterei im Bereich des Knotens West unberücksichtigt gelassen hat. Die Erklärung, das entsprechende Gebäude sei mehr als 60 Jahre alt und ohnehin ersetzungsbedürftig und die Kosten für den Ersatzbau nebst Standort fielen nicht erheblich ins Gewicht, ist plausibel.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="78"/>(β) Diese Mehrkosten allein rechtfertigen bei der gebotenen engen Auslegung der Ausnahmevorschriften nicht die Verwerfung der Kurztunnelvarianten als dem Antragsgegner unzumutbar. Der Senat verkennt dabei nicht, dass für die Verwirklichung der Kurztunnelvarianten jeweils ein mittlerer zweistelliger und damit bedeutsamer Millionenbetrag zusätzlich aufgewendet werden müsste und die geschätzten Kosten sich relativ betrachtet als mehr als doppelt so hoch erwiesen. Auch mit Blick auf die bei den Kurztunnelvarianten kurzen Tunnellängen (545 Meter bzw. 395 Meter) erscheinen Aufwendungen von mehr als 70 Millionen Euro als sehr hoch, insbesondere im Vergleich zu den geschätzten gut 30 Millionen Euro für die 2,6 Kilometer lange Umfangstrasse bei der planfestgestellten Antragsvariante. Bedenken mit Blick auf das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 LHO) sind insoweit nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Zumindest keine Rolle spielt, dass die Vorhabenträgerin grundsätzlich auch hinsichtlich der Alternativvarianten als hinreichend finanziell leistungsfähig anzusehen ist (vgl. Möckel in Schlacke, GK-BNatSchG, 2. Auflage 2017, § 34 Rn. 174).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="79"/>Die zu erwartenden Mehraufwendungen stehen jedoch angesichts der naturschutzfachlichen Auswirkungen nicht außer Verhältnis zu dem erreichbaren Gewinn für den Artenschutz. Mit Blick darauf, dass den Kosten nicht die gleiche Bedeutung zukommt wie den mit der FFH-Richtlinie verfolgten Zielen der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (vgl. EuGH, Urteil vom 14.1.2016 - C-399/14 - juris Rn. 77), wird der Artenschutz bei den Tunnelvarianten nicht zu teuer erkauft. Denn die planfestgestellte Variante ist - wie gezeigt - mit erheblichen artenschutzrechtlichen Zugriffen auch auf eine prioritäre Art sowie verschiedene andere geschützte Arten mit einer teilweise nicht unerheblichen Anzahl von potentiell betroffenen Individuen verbunden. Hinzu kommt, dass mit dem Großen Mausohr und der Grünen Flussjungfer geschützte Arten betroffen sind, für die über den ubiquitären Artenschutz hinaus ein Schutzhabitat in Form des Natura 2000-Gebietes geschaffen wurde, in das mit der neuen Brücke über Enz unmittelbar eingegriffen wird. Demgegenüber erweisen sich die Kurztunnelvarianten aller Voraussicht nach als im Wesentlichen artenschutzrechtlich unbedenklich. Die artenschutzrechtlichen Vorteile der Alternative liegen damit unmittelbar auf der Hand, ohne dass - wie in anderen Fallgestaltungen - eine Abwägung der Gewichtigkeit der Folgen unterschiedlicher Alternativen berücksichtigt werden muss.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="80"/>Der Senat übersieht dabei nicht, dass nicht hinsichtlich aller betroffenen Arten gleichermaßen viele Individuen betroffen sind und dass mehrere Vermeidungsmaßnahmen und Sicherungsmaßnahmen vorgesehen sind, um Zugriffen oder jedenfalls Verschlechterungen des Erhaltungszustands zu begegnen. So konnten verschiedene Fledermausarten (Breitflügelfledermaus, Großes Mausohr, Kleiner Abendsegler, Kleine Bartfledermaus) nur vereinzelt nachgewiesen werden. Auch soll den Betroffenheiten der Fledermäuse mit verschiedenen Vermeidungsmaßnahmen, deren Eignung - anders als bei den Kollisionsschutzwänden - nicht fraglich ist (Bauzeitenbeschränkungen für die Baufeldbereinigung, Installation von Bauzäunen, Umweltbaubegleitungen) begegnet werden. Hinsichtlich der Art Zauneidechse, die mit relativ wenigen Individuen nachgewiesen wurde, sind als Vermeidungsmaßnahmen Bau- und Reptilienzäune, eine Umweltbaubegleitung und insbesondere auch eine Umsiedlung vorgesehen. Gleiches gilt für die Art Mauereidechse. Hinzu kommen hinsichtlich der Eidechsenarten die geplanten Maßnahmen zur Sicherung bzw. Verbesserung des Erhaltungszustands in Form der Schaffung eines Ersatzhabitats innerhalb eines ehemaligen Steinbruchs. Auch hinsichtlich der Art Eremit ist lediglich ein Brutbaum unmittelbar betroffen. Mit der Installation von Bauzäunen, einer Umweltbaubegleitung, Lichtschutzpflanzungen und der Umsiedlung der Eremitenvorkommen in geeignete, aufzuwertende Flächen soll hier dem Umfang der Beeinträchtigung entgegengewirkt werden. Die Art Grüne Flussjungfer konnte nur insoweit nachgewiesen werden, als geeignete Habitate gefunden wurden. Hinsichtlich der Art Schlingnatter ist die Installation eines Reptilienschutzzauns und eine Umsiedlung geplant (vgl. zum Ganzen Unterlage 12.9 und Unterlage 12.9.1). Dennoch verbleibt in der Gesamtschau eine gewichtige Anzahl bei Verwirklichung der Antragsvariante nicht zu vermeidender oder auszugleichender artenschutzrechtlicher Konflikte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="81"/>(γ) Die Kurztunnelvarianten sind dem Antragsgegner auch nicht unter Einbeziehung der Auswirkungen auf weitere Belange der Allgemeinheit unzumutbar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="82"/>Zwar dürften die Tunnelvarianten über die Kosten hinaus mit Nachteilen für andere Belange des Allgemeinwohls verbunden sein. So hält der Antragsgegner im Planfeststellungsbeschluss fest, dass die Tunnelvarianten mit erheblichen Eingriffen in das Grundwasser einhergingen, da es zu einem Eingriff in zwei Grundwasserstockwerke komme, deren Trennung grundsätzlich aufrechterhalten werden müsse. Auch hätten die Tunnelvarianten wegen der an die Tunnelbauwerke anschließenden Rampen und der damit verbundenen Verbreiterung der Verkehrsschneise innerhalb der Ortslage eine erhebliche visuelle Zerschneidung zur Folge. Schließlich seien die Tunnelanlagen unter dem Gesichtspunkt des Lärmschutzes erheblich schlechter zu beurteilen. Zum einen gäbe es dreimal so hohe Betroffenheiten und auch die bis zu 8,50 Meter hohen Lärmschutzwände an den Portalbereichen bewirkten eine erhebliche Trennwirkung und Zerschneidung innerhalb der Ortslage. Negativ wirkten sich Tunnel schließlich auf die Verkehrssicherheit und auf die Stickstoffbelastungen aus, auch wenn bei allen Varianten die Grenzwerte eingehalten werden könnten (Planfeststellungsbeschluss, S. 87, 89; Unterlage 1b, S. 45 f.). Das Bestehen dieser Nachteile wird vom Antragsteller nicht substantiiert bestritten; auch sonst ist nicht ersichtlich, dass hier eine fehlerhafte Ermittlung oder Bewertung vorliegen könnte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="83"/>Diese mit den Kurztunnelvarianten verbundenen Nachteile fallen jedoch im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbilanzierung (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.5.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254, juris Rn. 40) voraussichtlich nicht hinreichend schwer ins Gewicht und führen auch im Zusammenspiel mit den Mehrkosten nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung der Vorhabenträgerin im Falle der Verweisung auf die Tunnelvarianten, insbesondere, wenn sie in Relation zu vergleichbaren Nachteilen der planfestgestellten Umfahrungsvariante gesetzt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="84"/>So weist der Antragsteller zutreffend darauf hin, dass der höheren Trennwirkung der Tunnelvarianten im Ortsbereich die höhere Trennwirkung der Umfahrungsvariante im Bereich der Enzaue gegenübersteht, die in erheblichem Maße insbesondere normativen Vorgaben der Landschaftsschutzgebietsverordnung „Enztal zwischen Vaihingen-Roßwag und dem Leinfelder Hof“ widerspricht (vgl. auch Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 40). Normative Vorgaben für die Zulässigkeit einer Trennwirkung innerhalb der Ortslage fehlen hingegen, zumal die Tunnelvarianten letztlich, wenn auch in geringerem Umfang, die bisher bestehende trennende Wirkung der Trasse der B 10 im Ortskernbereich von Enzweihingen reduzieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="85"/>Hinsichtlich des Lärms ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass bei den Tunnelvarianten die innerörtliche Lärmbelastung in Enzweihingen erheblich höher ist, was auch durch die deutlich höhere Anzahl von Gebäuden deutlich wird, deren Eigentümer einen Anspruch auf Lärmvorsorge haben. Da bei den Tunnelvarianten bei 13 bzw. 14 Gebäuden die aktiven Lärmschutzmaßnahmen eine Einhaltung der Richtwerte nicht ermöglichen, bedarf es hier passiver Lärmschutzmaßnahmen, während bei der planfestgestellten Umfahrungsvariante nur ein Gebäude derart betroffen ist (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 41 f.). Allerdings ist nichts dafür ersichtlich, dass bei den Tunnelvarianten die Immissionsrichtwerte nicht mit den dargestellten Maßnahmen eingehalten werden können oder gar eine Gesundheitsgefährdung zu befürchten wäre. Zudem befindet sich voraussichtlich ein überwiegender Anteil der von den Immissionen belasteten Gebäuden in einem bereits erheblich vorbelasteten Bereich - ohne mit Blick auf die Bestandstrasse einen Anspruch auf Lärmsanierung zu haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.5.2002 - 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254, juris Rn. 39 m. w. N.) - und würde damit auch bei Verwirklichung einer der Tunnelvarianten von dem Vorhaben profitieren, wenn auch in einem geringeren Maß als bei der planfestgestellten Variante.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="86"/>Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, dass bei den Alternativlösungen ein Bauen im Grundwasser notwendig wird, was auch zu den bereits dargestellten erheblichen Mehrkosten beiträgt und mit Risiken sowohl für das Grundwasser wegen der möglicherweise gefährdeten Trennung von zwei Grundwasserstockwerken als auch für anliegende Gebäude wegen möglicher Gebäudesetzungen verbunden ist (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht, S. 44). Insoweit bestehen auch normative Vorgaben zum Grundwasserschutz (u.a. § 49 WHG), die jedoch grundsätzlich ein Bauen im Grundwasser nicht verbieten, sondern lediglich die Anordnung besonderer Maßnahmen ermöglichen. Anhaltspunkte dafür, dass auf dieser Grundlage den bestehenden Gefahren im Sinne einer faktisch fehlenden Umsetzbarkeit nicht wirksam durch technische Vorkehrungen begegnet werden könnte (vgl. zu einer derartigen Konstellation BVerwG, Urteil vom 6.11.2012 - 9 A 17.11 - BVerwGE 145, 60, juris Rn. 72 m. w. N.), bestehen nicht. So verweist der Antragsteller selbst darauf, dass als Bauverfahren (nur) eine abschnittsweise Herstellung in Längen von etwa 80 bis 100 Meter möglich sei (Unterlage 1b, Erläuterungsbericht S. 44).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="87"/>Hinsichtlich der Luftschadstoffe, insbesondere der Stickstoffdioxide, ist schließlich festzuhalten, dass die erwartete Luftschadstoffbelastung bei den Tunnelvarianten zwar höher ist. Insbesondere wäre bei 27 bzw. 21 Wohngebäuden im Vergleich zur Betroffenheit von nur einem Wohngebäude bei der Umfahrungsvariante davon auszugehen, dass eine NO<sub>2</sub>-Belastung von 25 µg/m³ überschritten wird. Bei beiden Kurztunnelvarianten würde aber der Grenzwert (40 µg/m³) deutlich unterschritten und voraussichtlich ohnehin eine Verbesserung im Vergleich zur Bestandslage erzielt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="88"/>Die Bedeutung der insoweit nur mit begrenzter Gewichtung anzuerkennenden Vorteile der Antragsvariante wird darüber hinaus auch dadurch relativiert, dass sie mit weiteren allgemeinen umweltfachlichen Nachteilen, die bereits im landschaftspflegerischen Begleitplan dargestellt und vom Antragsgegner eingeräumt werden (Unterlage 12.0b, S. 72 ff.), verbunden sind. Danach ist die Beanspruchung von für Tiere und Pflanzen wertvollen Flächen mehr als zweieinhalbmal so groß, es werden wesentlich größere Flächen bisher gering belasteter Böden neu belastet, die Verluste an landschaftsprägenden und -gliedernden Strukturen sind wegen der Querung des Enztals abseits bestehender Straßen wesentlich größer als bei den Tunnelvarianten, für die Enzaue werden neue Zerschneidungen und visuell trennende Strukturen bewirkt und die Antragsvariante beansprucht bei den flächenhaften Naturdenkmalen und hinsichtlich des Landschaftsschutzgebiets größere und empfindlichere Flächen. Zudem entstehen deutlich größere Umfänge an Kompensationsmaßnahmen (vgl. dazu auch Unterlage 12.0, S. 58 ff. und Unterlagen 12.1 sowie 12.2, Blätter 1b, 2a und 3a).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="89"/>Diese - im Wesentlichen ebenfalls umweltfachlichen - Nachteile der Antragsvariante müssen im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung zugunsten der artenschutzrechtlich vorzugswürdigen Alternative berücksichtigt werden. Zwar ist die im Rahmen des § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG durchzuführende Interessenabwägung eine bipolare Abwägung, bei der die für das Vorhaben streitenden öffentlichen Interessen den entgegenstehenden naturschutzfachlichen Belangen gegenübergestellt und nur diese beiden Abwägungsgegenstände bewertet und gewichtet werden. Eine Saldierung aller für und gegen das Vorhaben sprechenden öffentlichen Interessen findet in diesem Zusammenhang nicht statt (vgl. zu § 34 Abs. 3 Nr. 1 BNatSchG BVerwG, Urteil vom 12.6.2019 - 9 A 2.18 - BVerwGE 166, 1, juris Rn. 127). Jedenfalls im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG relativiert sich aber das Gewicht der vom Regierungspräsidium geltend gemachten nicht artenschutzspezifischen Nachteile etwaiger Alternativen, wenn auch die Antragsvariante vergleichbare oder andere Nachteile aufweist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="90"/>(c) Mangelt es damit am Fehlen einer zumutbaren Alternative im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG, kann letztlich dahinstehen, ob überhaupt der - maßgeblich in Betracht kommende - Ausnahmegrund zwingender Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art vorliegt. Nach derzeitigem Erkenntnisstand dürfte dies wohl der Fall sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="91"/>Öffentliche Interessen, mithin nicht lediglich rein private Belange, sind zwingend, wenn sie einem durch Vernunft- und Verantwortungsbewusstsein geleiteten staatlichen Handeln entsprechen. Zwingend bedeutet nicht, dass Sachzwänge vorliegen müssen, denen niemand ausweichen kann, sondern sicherzustellen ist, dass das betreffende Vorhaben gerade die Verwirklichung des jeweils verfolgten öffentlichen Interesses zum Zweck hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.1.2000 - 4 C 2.99 - BVerwGE 110, 302, juris Rn. 39). Überwiegend sind diejenigen öffentlichen Interessen, die in bipolarer Abwägung den mit dem besonderen Artenschutzrecht verfolgten Belangen des Naturschutzes vorgehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.7.2009 - 4 C 12.08 - BVerwGE 134, 166, juris Rn. 15). Regelmäßig stellen solche Gemeinwohlbelange zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses dar, die eine Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG rechtfertigen würden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.3.2006 - 4 A 1073.04 - juris Rn. 573). Der diesbezüglichen Begründung des Antragsgegners, die den verkehrlichen Interessen der Allgemeinheit ein höheres Gewicht einräumt als dem Artenschutz (S. 187 f. des Planfeststellungsbeschlusses), tritt der Antragsteller - die Frage des Vorliegens zumutbarer Alternativen ausblendend - nicht entgegen. Der entsprechende Verkehrsbedarf wird unter anderem auch dadurch unterstrichen, dass die Verlegung der B10 in Enzweihingen im Bedarfsplan für Bundesfernstraßen gerade in der Umfahrungsvariante als vordringlicher Bedarf ausgewiesen ist (Anlage zu § 1 Abs. 1 Satz 2 FStrAbG, Nr. 37).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="92"/>(d) Auch kann dahinstehen, ob sich der Erhaltungszustand der Populationen einer Art verschlechtern würde. Auch insoweit tritt der Antragsteller den Ausführungen im Planfeststellungsbeschluss (S. 190 ff. des Planfeststellungsbeschlusses) nicht entgegen. Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass die diesbezüglichen, auf der Speziellen artenschutzrechtlichen Prüfung beruhenden Feststellungen (Unterlage 12.9, S. 56 ff.) fehlerhaft sein könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="93"/>(e) Schließlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsgegner das ihm zustehende Ermessen bei der Erteilung der Ausnahme (sog. intendiertes Ermessen, vgl. Schütte/Gerbig in Schlacke, GK-BNatSchG, 2. Auflage 2017, § 45 Rn. 22) fehlerhaft ausgeübt hätte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="94"/>b) Auch den besonderen Anforderungen an den Schutz von Natura 2000-Gebieten trägt der Planfeststellungsbeschluss voraussichtlich nicht hinreichend Rechnung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="95"/>aa) Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG, mit dem Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL umgesetzt worden ist, sind Projekte vor ihrer Zulassung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Natura 2000-Gebiets zu überprüfen. Sie dürfen nach § 34 Abs. 2 BNatSchG nur zugelassen werden, wenn die Verträglichkeitsprüfung ergibt, dass das Projekt nicht zu erheblichen Beeinträchtigungen eines solchen Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen kann. Abweichend von § 34 Abs. 2 BNatSchG darf ein Projekt nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 34 Abs. 3 BNatSchG zugelassen werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="96"/>(1) Ob ein - hier unzweifelhaft gegebenes - Projekt im Sinne des § 34 Abs. 1 BNatSchG ein Natura 2000-Gebiet in seinen für die Erhaltungsziele maßgeblichen Bestandteilen erheblich beeinträchtigen kann, ist anhand seiner Auswirkungen auf den Erhaltungszustand der Gebietsbestandteile zu beurteilen. Maßgebliches Beurteilungskriterium ist der günstige Erhaltungszustand der geschützten Lebensräume und Arten im Sinne der Legaldefinitionen des Art. 1 Buchst. e) und i) FFH-RL; ein günstiger Erhaltungszustand muss trotz Durchführung des Vorhabens stabil bleiben, ein bestehender schlechter Erhaltungszustand darf jedenfalls nicht weiter verschlechtert werden. Die Erhaltungsziele ergeben sich gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG im Falle einer - wie hier - vorliegenden Unterschutzstellung aus der Schutzgebietserklärung, gegebenenfalls konkretisiert durch Bewirtschaftungspläne nach § 32 Abs. 5 BNatSchG. Lebensraumtypen und Arten, die nicht in der Schutzerklärung genannt sind, sind nicht Gegenstand der Erhaltungsziele und der Verträglichkeitsprüfung, selbst wenn es sich um prioritäre Arten handelt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.4.2011 - 4 B 77.09 - juris Rn. 36). Das gemeinschaftsrechtliche Vorsorgeprinzip, das in Art. 6 Abs. 3 FFH-RL seinen Niederschlag gefunden hat, verlangt allerdings nicht, die Verträglichkeitsprüfung auf ein Nullrisiko auszurichten, weil hierfür ein wissenschaftlicher Nachweis nie geführt werden könnte. Ein Projekt ist vielmehr dann zulässig, wenn nach Abschluss der Verträglichkeitsprüfung aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel verbleibt, dass erhebliche Beeinträchtigungen vermieden werden. Wenn bei einem Vorhaben ernsthaft die Besorgnis nachteiliger Auswirkungen entstanden ist, kann dieser Verdacht nur durch eine schlüssige naturschutzfachliche Argumentation ausgeräumt werden, mit der ein Gegenbeweis geführt wird; anderenfalls machen verbleibende vernünftige Zweifel eine Abweichungsprüfung im Sinne des § 34 Abs. 3 BNatSchG erforderlich. Aufgrund der erforderlichen Gewissheit haben die Behörden bei der Feststellung der Erheblichkeit keinen Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum (vgl. Möckel in Schlacke, GK-BNatschG, 2. Auflage 2017, § 34 Rn. 89). Um zu einer verlässlichen Beurteilung zu gelangen, muss die Verträglichkeitsprüfung die besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen und setzt somit die Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen voraus. Unsicherheiten über Wirkungszusammenhänge, die sich auch bei Ausschöpfung der einschlägigen Erkenntnismittel derzeit nicht ausräumen lassen, müssen freilich kein unüberwindbares Zulassungshindernis darstellen. Insoweit ist es zulässig, mit Prognosewahrscheinlichkeiten und Schätzungen zu arbeiten, die kenntlich gemacht und begründet werden müssen. Zugunsten des Projekts dürfen bei der Verträglichkeitsprüfung die vom Vorhabenträger geplanten oder im Rahmen der Planfeststellung behördlich angeordneten Schutz- und Kompensationsmaßnahmen berücksichtigt werden, sofern sie sicherstellen, dass erhebliche Beeinträchtigungen verhindert werden (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 28.3.2013 - 9 A 22.11 - BVerwGE 146, 145, juris Rn. 41 m. w. N.). Mit Blick auf den wissenschaftlichen Erkenntnisstand sind auch Bagatellschwellen im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung anzuerkennen, unterhalb derer die Auswirkungen eines Vorhabens irrelevant sind. Diese sind Ausdruck des auch unionsrechtlich anerkannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.1.2007 - 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1, juris Rn. 49 f., 62; Beschluss vom 5.9.2012 - 7 B 24.12 - NVwZ-RR 2012, 922, juris Rn. 7).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="97"/><br/>(2) Nach dieser Maßgabe hält die Einschätzung des Antragsgegners im Planfeststellungsbeschluss (S. 166 ff. des Planfeststellungsbeschlusses) auf Grundlage der FFH-Verträglichkeitsprüfung (Unterlage 12.7), dass es zu keiner erheblichen Beeinträchtigung komme, weil die Beeinträchtigungen durch umfangreiche Schadensbegrenzungsmaßnahmen auf ein unerhebliches Maß reduziert werden könnten, einer Überprüfung voraussichtlich nicht stand.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>98 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="98"/>(a) Eine anlagenbedingte Beeinträchtigung des Natürlichen Lebensraumtyps (LRT) 3260 dürfte indes nicht vorliegen. Zwar ist mit dem Planfeststellungsbeschluss und dem Antragsteller davon auszugehen, dass es durch die geplante Enzbrücke zu einer Überspannung von Flächen des LRT 3260 und in der Folge zu Überschattungen mit Auswirkungen auf die flutende Wasservegetation kommen wird. Die Annahme eines hierdurch bewirkten Flächenverlusts von lediglich 462 m² auf Grundlage der überspannten Gewässerbreite von etwa 32 m und einer Brückenbreite von 14 m (vgl. Unterlage 12.7, S. 64) dürfte jedoch bezogen auf die Beurteilung des Umfangs der Beeinträchtigung des LRT im Sinne einer worst-case-Betrachtung auf der sicheren Seite liegen. Eine abweichende Sichtweise ließe außer Betracht, dass angesichts der lichten Höhe der Brücke abhängig vom Sonnenstand auch in Teilbereichen unter der Brücke ein ausreichender Lichteinfall zu erwarten und eine Vegetationsentwicklung damit nicht unmöglich wird, mithin voraussichtlich lediglich auf einer Fläche von 256 m² eine Vegetation unmöglich werden wird (vgl. Unterlage 12.7, S. 64). Auf die Frage, ob über die überspannte Gewässerbreite hinaus auch der Uferbereich in die Berechnung hätte einbezogen werden müssen, dürfte es damit nicht ankommen. Dagegen dürfte sprechen, dass der hier allein maßgebliche geschützte Lebensraumtyp 3260 auch nach seinen gebietsbezogenen Erhaltungszielen im Wesentlichen allein das Fließgewässer selbst betrifft (vgl. FFH-Verordnung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 30.10.2018, S. 255 f.). Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass auch im Bereich der planfestgestellten Brücke die Wasser-Land-Verzahnung zur Sicherstellung der Erhaltungsziele die Einbeziehung des Uferstreifens erfordert (S. 156 des Managementplans), liegen nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>99 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="99"/>(b) Zutreffend ist voraussichtlich auch die Annahme des Antragsgegners, bei der entfallenden Fläche von 462 m² handele es sich lediglich um einen relativen Flächenverlust von 0,08 % und damit um einen unerheblichen Flächenverlust. Nach Maßgabe des auch von den Beteiligten unstreitig als für die Beurteilung der Erheblichkeit als geeignet anzusehenden Endberichts der Fachkonvention, liegt beim LRT 3260 kein erheblicher Flächenverlust vor, wenn bei einem relativen Verlust von ≤ 0,1 % der Gesamtfläche der absolute Flächenverlust bei weniger als 1000 m² liegt (S. 35 der Fachkonvention). So liegt die Sache hier, denn die Gesamtfläche des LRT 3260 im Natura 2000-Gebiet beträgt 57,4 ha. Anlass, das Natura 2000-Gebiet insoweit in Bezug auf den LRT 3260 in Teilgebiete aufzuteilen, gibt es entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht. Ein Teilgebiet kann zwar nach der Fachkonvention als Bezugsmaßstab heranzuziehen sein, wenn dies fachlich geboten ist. Dies kann dann erforderlich sein, wenn sich das gemeldete Gebiet aus mehreren räumlich und funktional zusammenhängenden Teilgebieten zusammensetzt. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Antragsgegner verweist insoweit zutreffend darauf, dass der Managementplan in Bezug auf den Lebensraumtyp keine passend definierte Teilfläche ausweist und dass allein die Unterbrechung eines Lebensraumtyp-Vorkommens innerhalb eines Flusslaufes nicht zu einer räumlich-funktionalen Trennung führt. Zwar entsprechen ausweislich des Managementplans vier Fließgewässer (Enz, Glems, Metter und Leudelsbach) den Anforderungen des LRT 3260. Auch umfasst der Managementplan 12 Erfassungseinheiten. Hieraus lässt sich jedoch nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass in fachlicher Hinsicht eine separate Betrachtung vorzunehmen wäre. Vielmehr hängen die betroffenen Fließgewässer mit der Enz räumlich zusammen und sind insoweit eng verzahnt. Folgerichtig beschreibt auch der Managementplan einheitlich die Verbreitung des Lebensraums im gesamten Natura 2000-Gebiet und insbesondere auch die kennzeichnenden Pflanzenarten (Managementplan, S. 40). Die vorgenommene Bildung von Erfassungseinheiten lässt dabei nicht auf einen fehlenden räumlich-funktionalen Zusammenhang schließen, denn sie dient voraussichtlich lediglich der Schaffung von sinnvollen Betrachtungsflächen für eine naturschutzfachliche Bewertung (vgl. Handbuch zur Erstellung von Management-Plänen für die Natura 2000-Gebiete in Baden-Württemberg, Version 1.3, S. 441).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>100 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="100"/>(c) Jedoch kann, wie gezeigt, eine Beeinträchtigung der auch habitatrechtlich geschützten Arten Großes Mausohr und Grüne Flussjungfer nicht sicher ausgeschlossen werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>101 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="101"/>(d) Schließlich ist auch eine Beeinträchtigung des LRT 3150 („natürliche nährstoffreiche Seen“) nicht sicher auszuschließen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>102 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="102"/>Der Planfeststellungsbeschluss sieht in Auflage Nr. 31 vor, dass eine ergänzende Grundwassermessstelle südlich der Rampe Ost am Knoten West zu installieren ist (Auflage Nr. 31, S. 13 des Planfeststellungsbeschlusses). Damit könne die vom Landratsamt Ludwigsburg befürchtete (Schreiben vom 18.12.2020, Bl. 859 d. Verfahrensakte) negative Beeinträchtigung aufgrund einer veränderten Wasserzufuhr und könnten damit Auswirkungen auf den von den Schutzzielen umfassten Lebensraumtyp 3150 im Bereich des Naturdenkmals Enzaltwasser „Bruckenwasen“ (Schutzgebietsnummer 81180730048) ausgeschlossen werden. Der Planfeststellungsbeschluss führt insoweit aus, auch aus einem Gutachten des Ingenieurbüros vom 10. Dezember 2008 ergebe sich, dass sich Eingriffe in das Grundwasser auf die Gründungspfähle für die Brücke beschränkten. Das Grundwasserangebot ändere sich nicht, was auch in den Planungsunterlagen zum Ausdruck komme, aus denen sich ergebe, dass lediglich im Bereich der Gründungen der Brückenpfeiler der Enzbrücke das Grundwasser lokal sehr begrenzt betroffen sei, wodurch der Grundwasserstrom jedoch nicht in relevanter Weise unterbunden oder umgelenkt werde (S. 175 des Planfeststellungsbeschlusses).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>103 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="103"/>Mit seinen hiergegen gerichteten Einwendungen dürfte der Antragsteller durchdringen. Er macht geltend, dass die Auflage unzureichend sei, um eine Beeinträchtigung auszuschließen, denn es fehle im Planfeststellungsbeschluss an jeglicher Aussage dazu, welche Maßnahmen getroffen werden sollen, wenn die vorgesehene ergänzende Grundwassermessstelle eine Verschlechterung der Wasserzufuhr erkennen ließe. Dies trifft voraussichtlich zu.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>104 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="104"/>Zur Verhinderung einer erheblichen Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebietes müssen Schadensvermeidungs- oder -minderungsmaßnahmen solche nachweislich wirksam verhindern oder reduzieren. Der Nachweis obliegt der Behörde; sämtliche Risiken, die aus Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Maßnahmen oder der Beurteilung ihrer langfristigen Wirksamkeit resultieren, gehen zu Lasten des Vorhabens. Notwendiger Bestandteil des Schutzkonzepts kann auch die Anordnung eines Monitorings sein. Ein Monitoring allein reicht aber nicht aus, sondern muss Teil eines Risikomanagements sein, das die fortdauernde ökologische Funktion der Schutzmaßnahmen gewährleistet. Begleitend zum Monitoring müssen Korrektur- und Vorsorgemaßnahmen für den Fall angeordnet werden, dass die Beobachtung nachträglich einen Fehlschlag der positiven Prognose anzeigt. Die Korrektur- und Vorsorgemaßnahmen müssen geeignet sein, Risiken für die Erhaltungsziele wirksam auszuräumen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 9.2.2017 - 7 A 2.15 - BVerwGE 158, 1, juris Rn. 226 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>105 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="105"/>Hieran mangelt es vorliegend, denn es ist bereits nicht erkennbar, ob für den Fall einer negativen Veränderung geeignete und verhältnismäßige wasserrechtliche Anordnungen zur Verfügung stünden, um eine erhebliche Beeinträchtigung des LRT 3150 auszuschließen. Jedenfalls sind solche im Planfeststellungsbeschluss nicht angeordnet. Auch die Nebenbestimmungen Nr. 55 und 56 beziehen sich lediglich auf ergänzende Baugrund- und Grundwasseruntersuchungen und ein Grundwassermonitoring.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>106 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="106"/>Die Anordnung von Korrektur- und Vorsorgemaßnahmen dürfte auch nicht entbehrlich sein. Einen Nachweis für die fehlende Beeinflussung der Wasserzufuhr im Sinne eines Ausschlusses vernünftiger Zweifel enthält weder das Gutachten aus dem Jahr 2008 noch ergibt sich ein solcher aus anderen im Planfeststellungsverfahren durchgeführten Untersuchungen. Insbesondere werden die nachvollziehbaren Befürchtungen des Landratsamts Ludwigsburg, das gestützt auf das Gutachten aus dem Jahr 2008 (... GmbH, Geotechnisches Gutachten zum Ausbau der B 10 - Ortsumfahrung Enzweihingen, 10. Dezember 2008, S. 18 ff.) wegen der hohen Grundwasserströme und der hydraulischen Druckunterschiede weitere Untersuchungen und Bewertungen anregt (Schreiben vom 18.12.2020, S. 859 der Verfahrensakte), nicht mit der hinreichenden Sicherheit widerlegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>107 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="107"/>c) Die vorgenannten Mängel der Verträglichkeitsuntersuchung und der artenschutzrechtlichen Prüfung infizieren schließlich auch die fachplanerische Abwägung einschließlich der Variantenabwägung (§ 17 S. 4 FStrG). Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass die Planfeststellungsbehörde auf Grund der Ergebnisse einer ordnungsgemäßen artenschutzrechtlichen und habitatbezogenen Verträglichkeitsprüfung zu einem anderen Abwägungsergebnis gekommen wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.11.2013 - 9 A 14.12 - BVerwGE 148, 373, juris Rn. 150 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>108 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="108"/>d) Ist der Planfeststellungsbeschluss damit aller Voraussicht nach wegen Verstoßes gegen artenschutzrechtliche Zugriffsverbote, wegen fehlender Habitatverträglichkeit und wegen einer fehlerhaften Abwägungsentscheidung jedenfalls für rechtswidrig und nicht vollziehbar zu erklären, besteht auch kein überwiegendes besonderes öffentliches Interesse an der gesetzlich vorgesehen sofortigen Vollziehung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>109 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="109"/>3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1, § 39 Abs. 1 GKG in Verbindung mit den Empfehlungen in Nr. 1.5 und 34.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2014.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>110 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="110"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
<table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,349 | olgsh-2022-08-22-16-u-11421 | {
"id": 1070,
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<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><strong>Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil der 15. Zivilkammer - Kammer für Handelssachen II - des Landgerichts Kiel vom 4. Juni 2021 unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><strong>Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1. 36.843,96 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 2. 22.562,64 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 3. 14.737,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 4. 12.281,32 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 5. 12.281,32 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 6. 6.140,66 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 7. 6.140,66 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014, an die Klägerin zu 8. 6.140,66 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014 und an die Klägerin zu 9. 3.684,39 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. September 2014 zu zahlen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><strong>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><strong>Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><strong>Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.</strong></p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Klägerinnen machen gegen die Beklagte Regressansprüche geltend, nachdem eine bei ihnen kaskoversicherte Yacht auf dem Gelände der Beklagten von deren Lagerbock gekippt und erheblich beschädigt worden war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerinnen sind bzw. waren jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitraum vom 1. Mai 2013 bis 1. Mai 2014 in verschiedenem Umfang Yacht-Kasko-Versicherer der Segelyacht des Typs Oceanis 43 (Name „X“) des Eigners D1, wie sich aus dem Nachtrag zur Yacht-Kaskoversicherung zur Policen-Nr. … der in Vollmacht der Versicherer tätigen P1 GmbH (Anlage K1, Bd. I Bl. 12 GA) ergibt. Die Beklagte betreibt in W. unter anderem Wasser- und Trockenliegeplätze - Halle und Freilager - für Schiffe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Am 31. Juli 2013 trafen der Eigner und die Beklagte eine Vereinbarung über eine Kran-Gestellung sowie einen „<em>Stellplatz Freigelände mit stehendem Mast gem. anh. Angebot</em>“ für den Winter 2013/2014 für das Schiff, dessen Daten der Eigner mit 13 m Länge, 4,20 m Breite und 10 t Gewicht angab (Anlage K2, Bl. 15, 16 GA). Mit der Auftragsbestätigung/Krangestellung vom 25. Oktober 2013 bestätigte der Eigner D1 die bereits vereinbarte Krangestellung (Anlage B3, Bd. I Bl. 48 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Am selben Tag wurde die Segelyacht „X“ von einem Mitarbeiter der Beklagten mithilfe eines Krans aus dem Wasser gehoben und mit stehendem Mast auf eine dem Eigner von der Beklagten zur Verfügung gestellte Yachtpalette – Lagerbock – gesetzt, die auf der Freifläche der Beklagten auf einer nicht vollständig planen Erd- bzw. Schotterfläche abgestellt war, sodass der Bock mit Holzklötzen gestützt wurde. Mitarbeiter der Beklagten brachten zwischen den Ablageflächen („Pratzen“) und dem Schiffsrumpf mit Teppichresten abgedeckte Holzkeile an, die Materialien stellte die Beklagte. Der Kiel der Yacht lagerte auf einer in Längsrichtung des Schiffes lose auf dem Lagerbock aufliegenden Stahlschwelle (Kielpallung), wobei der verbleibende Zwischenraum zwischen Kiel und Stahlschwelle von einem Mitarbeiter der Beklagten mit verschiedenen Holzbrettern gefüllt wurde (Lichtbilder Bd. II Bl. 274-286 GA). Der Eigner deckte die Yacht mit einer Plane ab. Am 25. Oktober 2013 stellte die Beklagte dem Kläger insgesamt 1.705,52 € für die bereits im Angebot genannten Positionen - zuzüglich Wertmarken für die Reinigung des Unterwasserschiffes - in Rechnung (Anlage K3, Bd. I Bl. 18 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Am 28. Oktober 2013 fiel die Segelyacht „X“ während des Sturms „Christian“ seitlich von der - stehen gebliebenen - Yachtpalette, wobei sich eine Stütze des Lagerbocks in den Schiffsrumpf bohrte und wodurch am Schiff ein erheblicher Schaden entstand (Lichtbilder Anlage K 14, Bd. II Bl. 182ff. GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Yacht wurde am 31. Oktober 2013 geborgen und in die Schiffswerft L. verbracht (Anlage K5*, Bl. 25; im Folgenden mit einem „*“ gekennzeichnete Anlagen und Blattzahlen sind solche aus der Beiakte, Landgericht Kiel - 13 O 11/15). Mit anwaltlichem Schreiben vom 11. November 2013 wies der Eigner die Beklagte darauf hin, dass der Schaden gegebenenfalls durch seinen Kaskoversicherer gegenüber deren Haftpflichtversicherer geltend gemacht werde (Anlage K5* Bl. 25). Der Haftpflichtversicherer der Beklagten äußerte sich dazu abschließend erst am 26. Januar 2016. Nachdem die P1 GmbH & Co. KG den Schaden in Höhe von 123.313,20 € am 11. Juli 2014 mit dem Eigner unter Berücksichtigung einer Selbstbeteiligung von 500,- € abgerechnet hatte (Anlage K5, Bd. I Bl. 20 GA), erklärte dieser am selben Tag, wegen des Schadenereignisses durch Zahlung von insgesamt 122.813,20 € - davon 5.514,89 € noch zu zahlen - entschädigt zu sein (Anlage K6, Bd. I Bl. 21 GA). Mit Schreiben vom 20. August 2014 (Anlage K7, Bd. I Bl. 22 GA) forderte die P1 GmbH & Co. KG den Haftpflichtversicherer der Beklagten zur Zahlung des Entschädigungsbetrages in Höhe von 122.813,20 € bis zum 5. September 2014 auf.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die Klägerinnen haben behauptet, sie hätten den streitgegenständlichen Schaden ihres Versicherungsnehmers in Höhe von 122.813,20 € reguliert. Die Mitarbeiter der Beklagten hätten die Yacht eigenverantwortlich, ohne Weisungen des Zeugen D1, auf den Lagerbock verbracht. Des Eigners nach Durchführung der Lagerung vorgebrachte Bedenken seien brüsk zurückgewiesen worden. Aufgrund des - unstreitig - unebenen Untergrundes, des für dieses Schiff unterdimensionierten Lagerbocks, der zu engen vorderen Pratzen, welche dem Schiffsrumpf in der Horizontalen keinen Halt gegeben hätten, und der Lagerung des Kiels auf einer - unstreitig - lose aufliegenden Stahlschwelle sei das Schiff - als solches unstreitig - seitlich vom Bock gerutscht. Die Klägerinnen haben gemeint, die Beklagte sei nach der als Lagervertrag einzustufenden Vereinbarung verpflichtet gewesen, die Yacht so auf dem Lagerbock zu sichern („ab-/aufzupallen“), dass sie - auch bei Orkan - nicht von diesem gerutscht wäre. Das Verhalten der Mitarbeiter der Beklagten sei grob fahrlässig gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat behauptet, ihr Mitarbeiter, der Zeuge H1, habe das Boot auf Weisung des Eigners auf dem Bock abgesetzt und diesen anschließend ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er das Schiff seitlich aufpallen müsse sowie ihn davor gewarnt, eine Plane auf dem Oberdeck zu montieren. Ursache für das Herabfallen der Yacht vom Bock sei ausschließlich die die Windangriffsfläche - als solches unstreitig - vergrößernde Plane gewesen. Sie hat gemeint, es liege ein Mietvertrag vor (Bd. I Bl. 44 GA), der sie nicht zur Sicherung des Schiffs auf dem Lagerbock verpflichtet habe, dies sei Aufgabe des Eigners gewesen. Es liege durch den Orkan „Christian“ höhere Gewalt vor. Wegen etwaiger Ansprüche aus Lagervertrag erhebt sie die Einrede der Verjährung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Das Landgericht hat nach Beweiserhebung - Gutachten des Bootsbaumeisters L1 und des Statikers R1 - die Klage abgewiesen. Die Klägerinnen seien aufgrund der Abtretungen aktiv legitimiert; der Vertrag sei als Mietvertrag einzustufen. Ein anfänglicher Mangel des Lagerbocks gemäß § 536a Abs. 1 BGB stehe jedoch nicht fest. Nach den Gutachten sei die flache Rumpfform der „X“ mitursächlich dafür gewesen, dass der Lagerbock die Yacht nicht habe halten können, diese sei allerdings nicht Gegenstand der Vereinbarung gewesen. Jedenfalls sei die Haftung der Beklagten, da diese bei Überlassung eines etwa mangelhaften Lagerbocks nur einfach fahrlässig gehandelt habe, gemäß § 3 Ziff. 1. der AGB wirksam ausgeschlossen. Ein werkvertraglicher Anspruch ergebe sich mangels entsprechender Vereinbarung nicht aus mangelhaftem Abpallen der Yacht durch die Beklagte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Ergänzend wird wegen der tatsächlichen Feststellungen und der erstinstanzlichen Anträge auf das angefochtene Urteil Bezug genommen; § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Dagegen wenden sich die Klägerinnen mit der Berufung. Der restliche Schadenbetrag von 5.514,89 € sei am 22. Juli 2014 an den Zeugen D1 gezahlt worden (Anlage BK3, Bd. IV Bl. 670R. GA). Der Vertrag zwischen Eigner und Beklagter stelle einen Lagervertrag dar, so dass § 475 HGB gelte. Der Sachverständige L1 habe bestätigt, dass insbesondere der zu enge Abstand der vorderen Pratzen und die Lagerung des Kiels auf der lose aufliegenden Stahlschwelle zum Verdrehen und Herunterfallen der Yacht vom Bock geführt hätten. Die Beklagte habe grob fahrlässig gehandelt. Sie wiederholen ihre Behauptungen zu den vom Eigner mitgeteilten und seitens der Mitarbeiter der Beklagten in den Wind geschlagenen Bedenken gegen die Art der Lagerung. Die Beklagte habe eigenverantwortlich, nicht auf Weisung des Eigners gehandelt, und habe das Abpallen auch abgerechnet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die Klägerinnen beantragen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Kiel vom 4. Juni 2021 die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 1. EUR 36.843,96 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 2. EUR 22.562,64 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 3. EUR 14.737,58 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 4. EUR 12.281,32 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 5. EUR 12.281,32 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 6. EUR 6.140,66 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 7. EUR 6.140,66 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014, an die Klägerin zu 8. EUR 6.140,66 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014 und an die Klägerin zu 9. EUR 3.684,39 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. September 2014 zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">die Berufung zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte verteidigt das landgerichtliche Urteil. Es liege ein Mietvertrag vor, kein Werk- und kein Lagervertrag - wobei letzterenfalls Ansprüche ohnehin verjährt wären. Die Qualität des Stellplatzes sei - bei unstreitig stehen gebliebenem Lagerbock - unerheblich. Die Behauptung der Klägerin, sie habe ausreichenden Versicherungsschutz, sei falsch. Eine mangelnde Eignung des Lagerbocks für die Yacht „X“ habe nicht jedem Vermieter von Lagerböcken einleuchten und sie habe dessen Eignung auch nicht prüfen müssen. Selbst der Sachverständige L1 habe einen Statiker benötigt. Zu einem Abpallen der Yacht sei sie gerade nicht verpflichtet gewesen. Der Eigner sei weisungsbefugt gewesen. Schließlich liege höhere Gewalt vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen D1 und H1. Auf den Berichterstattervermerk zum Termin vom 18. Juli 2022 (Bd. IV Bl. 687ff. GA) wird Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Klage ist auch in Anbetracht dessen zulässig, dass es sich angesichts des von den Klägerinnen nach ihrem Behaupten auf den Schaden der Yacht gezahlten Betrages von 122.813,20 € und des mit der Klage lediglich geltend gemachten Betrages von 120.813,19 € um eine (verdeckte) Teilklage handelt. Denn bei den Positionen, aus denen sich der Schadenbetrag zusammensetzt (Anlage K5 Bl. 20 GA), handelt es sich um unselbstständige Rechnungsposten innerhalb des einheitlichen Ersatzanspruchs für das Schadensereignis vom 28. Oktober 2013 (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 253 ZPO Rn. 15 m.w.N.). Überdies ist der Anspruch auf Erstattung des nicht geltend gemachten Betrages von 2.000,01 € inzwischen - offensichtlich - verjährt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Berufung ist - bis auf einen Teil der als Nebenforderung geltend gemachten Zinsen - begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Klägerinnen als Kaskoversicherer haben gegen die Beklagte, nachdem ein Entschädigungsbetrag in Höhe von 122.813,20 € an den Eigner (bzw. für diesen an die die Reparatur der Yacht durchführende Schiffswerft Dick) geleistet wurde (Anlage K6, Bd. I Bl. 21; Anlage BK3, Bd. IV Bl. 671R. GA), einen Anspruch auf Erstattung eines Anteils des verlangten Gesamtbetrages von 120.813,19 € in der jeweils geltend gemachten Höhe aus übergegangenem Recht gemäß § 475 S. 1 HGB, § 86 Abs. 1 S. 1 VVG. Auf die Vereinbarung des Zeugen D1 und der Beklagten vom 31. Juli 2013 über die Lagerung der Yacht „X“ im Winter 2013/2014 auf dem Freigelände der Beklagten ist nicht Miet-, sondern Lagervertragsrecht anzuwenden, §§ 467ff., 475 HGB.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Beim Lagervertrag schuldet der Lagerhalter, anders als der Vermieter beim Mietvertrag, über die bloße Gebrauchsüberlassung der Lagerräumlichkeit hinaus die ordnungsgemäße Aufbewahrung, er übernimmt also Obhutspflichten hinsichtlich des eingelagerten Gutes (EBJS/Heublein, 4. Aufl. 2020, HGB § 467 Rn. 9 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>aa) (1)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Nach diesen Maßstäben findet auf die Vereinbarung der Lagerung des Schiffes im Winterlager der Beklagten Lagervertragsrecht Anwendung. Dies folgt aus den vertraglichen Vereinbarungen, namentlich den Regelungen in § 7 Ziff. 2. und § 9 Ziff. 2, 4 der AGB der Beklagten, vor allem jedoch aus der tatsächlichen Handhabung des Vertragsverhältnisses durch die Beklagte und den Eigner D1, nämlich dem eigenverantwortlichen Lagern der Yacht auf dem Lagerbock ausschließlich durch Mitarbeiter der Beklagten und dem Fehlen von Hinweisen an den Eigner hinsichtlich einer von diesem vorzunehmenden zusätzlichen Sicherung der Yacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Dem steht zunächst nicht entgegen, dass der Vertrag vom 31. Juli 2013 (Anlage K2 Bd. I Bl. 15 GA) mit „Miet-Vereinbarung“ überschrieben ist. Denn ob die Parteien die Bezeichnung Lagervertrag oder Mietvertrag gebrauchen, ist nicht entscheidend für den rechtlichen Inhalt des geschlossenen Vertrags (BGH, Urteil vom 5. Oktober 2951 - I ZR 92/50, NJW 1951, 957; MüKoHGB/Hesse, 4. Aufl. 2020, HGB § 467 Rn. 31). Zudem ist im Vertrag vom 31. Juli 2013, der darin in Bezug genommenen Preisliste Nr. 055.278 vom 3. Juli 2013 (Anlage K2 Bd. I Bl. 16 GA) wie den AGB der Beklagten (Anlage B4 Bd. I Bl. 49 GA) neben dem allerdings ebenfalls häufig verwendeten Begriff „Miete“ ähnlich häufig von „Lager“, „Einlagerung“, „Lagerplatz“ pp. die Rede. So ist der Vertrag vom 31. Juli 2017 mit „Bootslager“ überschrieben, er sieht in Verbindung mit der in Bezug genommenen „Preisinformation“ unter 1. die Bezahlung eines Stellplatzes auf dem Freigelände „zum Zweck der Lagerung meiner Yacht“, einer Yachtpalette der Beklagten - mithin eines Lagerbocks (Bd. I Bl. 103-104 GA) – sowie einer Windtraverse und Slipkosten mit einem Zuschlag für den stehenden Mast vor. Ziffer 1. des mit „Auf- und Abslippen, Einlagerung“ überschriebenen § 9 im mit „Lagerung“ überschriebenen Abschnitt der AGB spricht von der „Einlagerung der Boote für das Winterlager“. Der tatsächliche Ablauf hat sich unstreitig so gestaltet, dass die Yacht am Steg der Beklagten von deren Mitarbeiter mit deren Kran aus dem Wasser gehoben, durch den Mitarbeiter der Beklagten zum Stellplatz auf dem Freigelände der Beklagten gebracht und dort von diesem auf den Lagerbock gestellt wurde. Ein Mitarbeiter der Beklagten platzierte dabei die von der Beklagten zur Verfügung gestellten Holzkeile und Teppichreste zwischen Pratzen und Schiffsrumpf und die Holzbretter zwischen der lose aufliegenden Stahlschwelle und dem Kiel.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Die Entscheidungen über die Positionierung des Schiffes auf dem Lagerbock, die genaue Platzierung der Holzkeile auf dessen Pratzen und diejenige über die genaue Lagerung des Kiels durch mehrere Holzbretter zwischen diesem und der lose aufliegenden Stahlschwelle sind sämtlich durch Mitarbeiter der Beklagten, nicht auf Anweisung des Zeugen D1, getroffen worden. Der Zeuge D1 wurde auch nicht darauf hingewiesen, dass eine weitere Sicherung des Schiffes durch ihn erforderlich sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Dies hat die Beweiserhebung zur Überzeugung des Senats ergeben. Der Zeuge D1 hat auf Frage, ob der Kranführer nicht auf sein, des Zeugen, Geheiß tätig gewesen sei, spontan angegeben, das sei nicht ansatzweise der Fall gewesen (Berichterstattervermerk Seite 1, Bd. IV Bl. 688 GA), wie er überhaupt einen Hinweis, dass die Sicherung seines Schiffes seine Aufgabe sei, nicht erhalten habe (Bd. IV Bl. 687 GA). Die Frage, ob ihm der Hinweis erteilt worden sei, dass weitere Stützen zur Sicherung des Schiffs anzubringen seien, hat der Zeuge - erkennbar amüsiert ob dieser Vorstellung - verneint und dazu erklärt, er habe dafür auch kein Material, das mache alles die Werft (Bd. IV Bl. 689 GA). Nach der Lagerung des Schiffes habe er dem Zeugen H1 seine Zweifel hinsichtlich einer ordnungsgemäßen Sicherung mitgeteilt, woraufhin dieser gesagt habe, er stelle seit Jahrzehnten Schiffe auf und wisse, was er mache (Bd. IV Bl. 687 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Die Angaben des Zeugen sind glaubhaft. Sie werden teilweise durch die Angaben des Zeugen H1 bestätigt und fügen sich auch im Übrigen stimmig in den weiteren Geschehensablauf ein. So hat der Zeuge H1, insoweit übereinstimmend mit den Angaben des Zeugen D1, bekundet, normalerweise übernehme der Eigner das Absetzen des Schiffes auf dem Lagerbock in Zusammenarbeit mit dem Kranführer, in diesem Fall sei er, der Zeuge H1, jedoch dabei gewesen, um den Kranführer einzuweisen (Bd. IV Bl. 692 GA). Weiter hat der Zeuge H1, nachdem er zunächst erklärt hatte, der Eigner entscheide, wie das Holz unter den Kiel komme, sich auf Vorhalt der Lichtbilder insoweit korrigiert, als er das in diesem Fall mit dem Eigner, dem Zeugen D1, zusammen gemacht habe (Bd. IV Bl. 693 GA), um schließlich zu erklären, er gehe davon aus, er selbst habe die Hölzer unter den Kiel getan (Bd. IV Bl. 694 GA). Schließlich hat er auf Frage übereinstimmend mit der Schilderung des Zeugen D1 eingeräumt, dieser habe Sorgen wegen der Lagerung angemerkt (Bd. IV Bl. 694 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Als originelles Detail hat der Zeuge D1 die Aussage des Zeugen H1 gegenüber dem weiteren Mitarbeiter der Beklagten vor dem Lagern des Schiffes auf dem Lagerbock mitgeteilt, sie müssten nun mit dem „Klötzchenspiel“ beginnen (Bd. IV Bl. 687 GA). Schließlich lässt es sich plausibel nur mit seinen vom Zeugen D1 bekundeten Zweifeln hinsichtlich der von der Beklagten eigenverantwortlich durchgeführten Lagerung der Yacht auf dem Lagerbock in Einklang bringen, dass er die Lagerung detailliert fotografisch dokumentiert hat (Bd. II Bl. 274-286 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Demgegenüber ist die Angabe des Zeugen H1, er habe den Zeugen D1 darauf hingewiesen, dass dieser das Schiff (weiter) sichern müsse, nicht glaubhaft. Hinsichtlich des behaupteten Hinweises auf die Notwendigkeit einer seitlichen Abstützung ergibt sich dies schon daraus, dass der Zeuge selbst insoweit widersprüchliche Angaben gemacht hat. Nachdem er zunächst bekundet hat, er habe den Zeugen D1 darauf hingewiesen (Bd. II Bl. 694 GA), hat er später auf Nachfrage, ob er dem Zeugen D1 gesagt habe, er solle das Schiff seitlich sichern, angegeben, das wisse er nicht mehr (Bd. II Bl. 695 GA). Die Angabe des Zeugen H1, er habe den Zeugen D1 auf die Notwendigkeit einer weiteren Sicherung des Kiels des Schiffes hingewiesen (Bd. II Bl. 693 GA), ist ebenso wenig glaubhaft. Zunächst ist schon nicht erkennbar, wie der Zeuge D1 mit den vorhandenen 10-er Kanthölzern und - aufgrund § 4 Ziff. 2 der AGB - ohne die Befugnis, Fachleute von außerhalb der Werft hinzuzuziehen, eine sinnvolle zusätzliche Sicherung überhaupt praktisch hätte durchführen können. Überdies liegt es fern, dass, hätte es den behaupteten Hinweis auf die Notwendigkeit einer von ihm durchzuführenden zusätzlichen Sicherung tatsächlich gegeben, der Zeuge D1 die Lagerung des Schiffes ohne solche Sicherung - wie jedoch geschehen - detailliert fotografiert, damit sein eigenes Fehlverhalten festgehalten hätte und sodann den Lagerort verlässt, um an seinen einige hundert Kilometer entfernten Wohnort zu fahren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Damit ist eine Lagerung und Aufbewahrung vereinbart, wie sie § 467 Abs. 1 HGB als Pflichten des - hier gewerblichen, § 467 Abs. 3 S. 1 HGB - Lagerhalters vorsieht. Dem entspricht, dass dem Eigner nach dem Inhalt des Vertrages vom 31. Juli 2013 kein bestimmter, etwa mit einer Nummer versehener oder sonst örtlich genau bezeichneter, Stellplatz auf dem Freigelände zugewiesen wurde, dessen Auswahl und gegebenenfalls spätere Änderung vielmehr der Beklagten überlassen war. Eben dies entspricht dem Wesen des Lagervertrags, wonach der Lagerhalter mangels besonderer Vereinbarungen grundsätzlich den Ort der Lagerung frei wählen darf (Koller, Transportrecht, 10. Aufl. 2020, HGB § 467 Rn. 11). Dies kommt in § 7 Ziff. 2. und § 9 Ziff. 2, 4 der AGB der Beklagten, welche die Beklagte bei Bedarf berechtigten, den einmal von ihr gewählten Stellplatz des Bootes zu ändern, hinreichend zum Ausdruck:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt"><strong>§ 7 Vertragsumfang</strong><br>2. Die Werft ist während der Abwesenheit der Yacht des Kunden berechtigt, den Lager- oder Liegeplatz anderweitig zu vergeben. Ansprüche des Kunden gegen die Werft entstehen hieraus nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt"><strong>§ 9 Auf- und Abslippen, Einlagerung</strong><br>2. Auf- und Abslippen erfolgt in einer von der Werft nach freiem Ermessen festzulegenden Slipfolge, aus der sich der Auf- bzw. Absliptermin ergibt und durch den sich der Lagerplatz ändern kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">4. Die Werft ist ermächtigt, dass Boot des Kunden kostenpflichtig auf einen anderen Land-/Wasserplatz umzusetzen, wenn dies zur Durchführung der Slipfolge oder sonst erforderlich werden sollte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>An diesem Ergebnis vermag die Regelung in § 7 Ziff. 1. der AGB nichts zu ändern. Diese lautet:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt"><strong>§ 7 Vertragsumfang</strong><br>1. Wird ein Vertrag über einen Land- und/ oder Wasserliegeplatz abgeschlossen, so beinhaltet er lediglich die Vermietung des Lager- bzw. Liegeplatzes wie das Auf- und Abslippen des Bootes und seinen innerbetrieblichen Transport ohne irgendeine Betreuung durch die Werft, über die eine gesonderte Vereinbarung zu treffen wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Der vorstehend dargelegte tatsächliche Ablauf wie die dargelegte Befugnis der Beklagten, den Lagerplatz im Freigelände frei zu wählen und (weitgehend) frei zu ändern, mithin das Boot des Klägers selbstständig auf einen anderen Lagerplatz zu versetzen, lassen die Klausel § 7 Ziff. 1 der AGB als unwirksam im Sinne von § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB, jedenfalls als überraschend im Sinne von § 305c Abs. 1 BGB erscheinen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(2)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Daneben sieht der Vertrag mit der Leistung „Paletten-Slippen für Yachten bis 11,5 t: Kran- +Wagen-Gestellg zum Aus-dem-Wasser-Nehmen und in-das-Wasser-Setzen, Transport von + zum Stellplatz“ (Anlage K2, Seite 2, Bd. I Bl. 16 GA), die, wie dargelegt, von einem Mitarbeiter der Beklagten durchgeführt wurde, Frachtleistungen im Sinne von § 407 Abs. 1 HGB vor. Er beinhaltet insoweit die Verpflichtung der Beklagten, die Yacht aus dem Wasser zum Bestimmungsort, dem Lagerbock auf dem Lagerplatz im Freigelände, zu befördern und dort an den Empfänger, hier ebenfalls die Beklagte als Lagerhalter, abzuliefern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Dieser Umstand führt nicht dazu, dass kein Lagervertragsrecht auf die Rechtsbeziehung des Zeugen D1 und der Beklagten anzuwenden wäre. Es handelt sich um einen Typenkombinationsvertrag, also einen Vertrag, bei dem eine Partei - die Beklagte - mehrere verschiedenen Vertragstypen entsprechende Hauptleistungen schuldet. Dies ergibt sich daraus, dass die verschiedenen Leistungen bereits im Vertrag vom 31. Juli 2013 mit der dort in Bezug genommenen „Preisinformation“ vom 3. Juli 2013 (Anlage K2, Bd. I Bl. 15-16 GA) vereinbart wurden, die „Auftragsbestätigung/Krangestellung“ vom 25. Oktober 2013 (Anlage B3, Bd. I Bl. 48 GA) somit lediglich eine Bestätigung der bereits mit Vertrag vom 31. Juli 2013 vereinbarten Krangestellung darstellt. Überdies handelt es sich bei den vereinbarten Leistungen der Beklagten um ein sachlich und zeitlich zusammenhängendes „Paket“ der Winterlagerung, die gegen Entgelt für den Bootseigner das Problem löst, wo er im Winter sein Boot „lässt“ (vgl. Senat, Beschluss vom 14. November 2016 - 16 U 59/16 - Seite 7, Bd. IV Bl. 606 GA); dementsprechend wurden die Leistungen einheitlich abgerechnet (Anlage K3, Bd. I Bl. 18 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Bei einem solchen Vertrag kommt es für die Beurteilung der Frage, welche Rechtsvorschriften welchen Vertragstyps anzuwenden sind, wenn die Parteien dazu wie hier keine ausdrückliche Vereinbarung getroffen haben, auf die besonderen Umstände des Einzelfalls, die Interessenlage der Vertragsparteien sowie auf den Sinn und Zweck der vertraglichen Vereinbarungen an (BGH, Urteil vom 13. September 2007 - I ZR 207/04 - juris, Rn. 19 m.w.N.). Danach ist hier Lagervertragsrecht anzuwenden. Die Lagerung seiner Yacht in der Wintersaison stellt, für die Beklagte erkennbar, das wesentliche Interesse des Eigners dar, während der Transport der Yacht aus dem Wasser zum Lagerbock auf dem im Freigelände befindlichen Stellplatz lediglich ein notwendiger, auch zeitlich kaum ins Gewicht fallender, Zwischenschritt dorthin ist. Obgleich der Eigner die erheblich kostengünstigere Variante eines Stellplatzes im Freigelände gewählt hat, machen allein die Kosten des Stellplatzes von 455,00 € und des Lagerbocks von 425,01 € zusammen etwas mehr als die Hälfte der Gesamtkosten von 1.705,52 € aus. Selbst bei Annahme von Gleichwertigkeit der Leistungen wäre Lagervertragsrecht auf das Schadensereignis vom 28. Oktober 2013 anzuwenden. Denn bei Verbindung mehrerer gleichwertiger Leistungen geht der mutmaßliche Wille der Vertragsparteien in der Regel dahin, auf die jeweilige Leistungspflicht diejenigen Rechtsvorschriften anzuwenden, die für diese zur Geltung kämen, wenn sie in einem gesonderten Vertrag begründet worden wäre (BGH, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.). Wäre die Einlagerung der Yacht, während der - und nicht während des Transports aus dem Wasser zum Lagerplatz oder während des Aufsetzens auf den Lagerbock - der Schadenfall drei Tage nach Abschluss des Transports eintrat, gesondert vereinbart worden, wäre auf diese, wie unter aa) (1) dargelegt, Lagervertragsrecht anzuwenden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>bb)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Ist danach auf das Schadenereignis vom 28. Oktober 2013 Lagervertragsrecht anzuwenden, richtet sich die Haftung der Beklagten nach § 475 Satz 1 HGB. Danach haftet der Lagerhalter für den Schaden, der durch Beschädigung des Gutes in der Zeit von der Übernahme zur Lagerung bis zur Auslieferung entsteht, es sei denn, dass der Schaden durch die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht abgewendet werden konnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Unter diesen Voraussetzungen besteht eine Einstandspflicht der Beklagten für den Schaden vom 28. Oktober 2013.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(1)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Die Yacht „X“ ist - unstreitig - durch das Herabfallen vom Lagerbock auf dem Freigelände der Beklagten erheblich beschädigt worden, dieses am 28. Oktober 2013, mithin nach Übernahme zur Lagerung am 25. Oktober 2013.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(2)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte als Lagerhalter haftet für diese Beschädigung. Der Lagerhalter hat für die Beschädigung einzutreten, wenn er das Gut unter Verletzung seiner Pflichten als Lagerhalter verwahrt hat (dazu (a)), der Schaden infolge des Pflichtenverstoßes entstanden ist (dazu (b)), und er seine Pflichten (jedenfalls) fahrlässig verletzt hat, wobei er für Erfüllungsgehilfen gemäß § 278 BGB haftet (dazu (c)) (Koller, a.a.O., § 475 Rn. 3a).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird vermutet, wie sich aus der Formulierung des § 475 Satz 1 HGB ergibt, (Koller, a.a.O., § 475 8.; vgl. BGH, Urteil vom 19. März 2014 - I ZR 209/12 - juris, Rn. 15 m.w.N.). Die Beklagte als Lagerhalter hat daher in vollem Umfang nachzuweisen, dass die Beschädigung der Yacht, die sie übernommen hat, nicht von ihr zu verantworten ist. Dazu müsste sie konkret aufklären, wie der Schaden entstanden ist, sowie beweisen, dass die Lagerräume pp. so beschaffen waren, dass Schäden angemessen vermieden werden und sie und ihre Erfüllungsgehilfen auch sonst kein Schuldvorwurf trifft. Hierbei kann sich der Lagerhalter nicht einfach darauf berufen, dass der Schaden durch von außen kommende Umstände verursacht worden ist; denn der Lagerhalter hat auch solche Gefahren im Rahmen des Zumutbaren abzuwehren (Koller, a.a.O., § 475 8.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Dies hat die Beklagte weder dargelegt noch bewiesen. Vielmehr ergibt sich aus der Beweisaufnahme eine Pflichtverletzung der Beklagten bzw. ihrer Erfüllungsgehilfen, deren Ursächlichkeit für den Schadenseintritt und das Verschulden der Beklagten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat dadurch eine sich aus dem Vertrag ergebende Pflicht verletzt, dass sie die Yacht „X“ auf einem für diese nicht geeigneten Lagerbock gelagert und auf diesem nicht zusätzlich gesichert hat. Der Sachverständige L1 ist, basierend auf den Feststellungen des Statikers R1, zu dem Ergebnis gekommen, dass der Lagerbock aufgrund der flachen Rumpfform der Yacht in Kombination mit dem geringen Abstand der vorderen Lagerbockstützen nicht imstande war, ein Verdrehen der Yacht bei starken insbesondere seitlichen Winden zu verhindern. Zudem war die lose auf dem Lagerbock aufliegende Stahlschwelle (Kielpallung) bei dem durch das Gewicht der Yacht zu erwartenden Reibungswiderstand nicht in der Lage, ein Verdrehen des Kiels zu verhindern (Gutachten L1, Seite 4). Die für eine sichere Lagerung erforderlichen Reibungswiderstände an den Stützen bzw. dem Kielpall konnten bei dem Gewicht der Yacht nicht erreicht werden. Der Lagerbock war somit ohne zusätzliche Abpallung nicht für eine Lagerung der Yacht im Freilager geeignet (Gutachten L1, Bl. 407ff., Seite 4). Der Statiker R1 hat ermittelt, dass zum Erreichen der erforderlichen Reibungswiderstände bei der hier in Rede stehenden Lagerung bei neun Windstärken (und seitlichem Wind) ein Gewicht der Yacht von mindestens 38,6 t erforderlich gewesen wäre - bei einem tatsächlichen Eigengewicht der Yacht von 8,875 t (Gutachten R1, Seite 5a, 14).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Auf die etwaige Ungeeignetheit des unebenen Untergrundes - Schotterboden - und das gegebenenfalls nicht fachmännische Unterfüttern des Lagerbocks auf diesem mit Holzblöcken/-brettern kommt es entgegen der Auffassung der Klägerinnen angesichts dessen, dass der Lagerbock unstreitig (nicht angegriffener Tatbestand des landgerichtlichen Urteils, dort Seite 8, 1. Absatz) stehen geblieben ist und nichts dazu vorgetragen ist oder sonst dafür spricht, dass er in Schieflage geraten wäre, nicht an, wenngleich diese Umstände sich stimmig in das Gesamtbild der ganz erheblich unsorgfältigen Lagerung der Yacht einfügen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Die Pflichtverletzung der Beklagten ist - ohnehin vermutet - ursächlich für den Schadenseintritt geworden. Unstreitig ist die Yacht während des Sturms „Christian“ - hoch wahrscheinlich durch eine seitliche Windböe - seitlich vom stehen gebliebenen Lagerbock gerutscht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(c)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Das - ebenfalls ohnehin vermutete - Verschulden liegt in Gestalt von grober Fahrlässigkeit vor. Grobe Fahrlässigkeit erfordert einen in objektiver Hinsicht schweren und in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Es muss eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegen, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (BGH, st. Rspr., etwa Urteil vom 3. November 2016 - III ZR 286/15 - juris, Rn. 17 m.w.N.). Nach diesem Maßstab war das Verhalten der Mitarbeiter der Beklagten beim Lagern der Yacht des Zeugen D1 grob fahrlässig. Dem Zeugen H1 und dem weiteren Mitarbeiter der Beklagten, für deren Verschulden die Beklagte gemäß § 278 BGB einzustehen hat, musste sich, wie die Lichtbilder (Bd. II Bl. 274ff. GA) eindrucksvoll zeigen, geradezu aufdrängen, dass insbesondere die vorderen Pratzen das Schiff praktisch ausschließlich in der Vertikalen stützten, dem Schiffsrumpf, der eben nicht zwischen ihnen eingeklemmt war, jedoch keinen bis kaum seitlichen Halt gegen auch an der Ostseeküste stets möglichen starken Seitenwind gaben. Ebenso evident war die Lagerung des Kiels auf einer losen Stahlschwelle, dazwischen verschiedene Holzbretter zur Füllung des verbliebenen Zwischenraums, vollkommen ungeeignet, zumal über den Kiel nahezu das gesamte Gewicht des Schiffes auf den Bock abgeleitet wurde (Gutachten R1, Seite 4). Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass ein Gutachten einschließlich der Hinzuziehung eines Statikers erforderlich war, um die Ungeeignetheit des Lagerbocks für diese Yacht festzustellen. Denn, wie dargelegt, ist insbesondere die mangelnde seitliche Abstützung des Bootes augenfällig und wirkt die Abstützung des Gewichts des Schiffes von knapp 9 t auf einer losen Stahlschiene mit diversen Hölzern dazwischen von vornherein - und ohne komplizierte Berechnungen – im höchsten Maße unfachmännisch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>cc)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Der Schaden an der Yacht „X“ ist sowohl dem Grunde als auch der sich aus Anlage K5 (Bd. I Bl. 20 GA) ergebenden Höhe nach unstreitig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>dd) (1)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Das Abdecken der Yacht mit einer Plane durch den Zeugen D1 begründet kein Mitverschulden. Zwar ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen L1, dass durch das Abdecken der Yacht mittels einer Plane aufgrund der damit einhergehenden, erhöhten Windlast früher ein Verdrehen der Yacht einsetzt. Bei seitlichen Winden werde ein Verdrehen der Yacht auf dem Lagerbock somit - wenngleich die Yacht nicht ausschließlich aufgrund der über sie gespannten Abdeckplane aus dem Lagerbock gefallen sei - begünstigt (Gutachten, Seite 5).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Jedoch hat der Lagerhalter den Einlagerer auf der Grundlage seines Informationsvorsprungs über die zweckmäßige Verpackung zu informieren (Koller, a.a.O., § 467 Rn. 8). Die Beklagte hat dies nicht getan und den Zeugen D1 nicht auf die mit dem Aufbringen einer Plane verbundenen Risiken hingewiesen. Dies hat die Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats ergeben. Der Zeuge D1 hat, auch insoweit glaubhaft, bekundet, er sei nicht auf die mit dem Abplanen (und der Lagerung des Schiffes mit stehendem Mast) verbundenen Risiken hingewiesen worden. Vielmehr sei die Möglichkeit, das Schiff - wie zuvor in L. - dort mit stehendem Mast und abgeplant lagern zu können, gerade der Grund für die Lagerung bei der Beklagten gewesen (Bd. IV Bl. 688 GA), weshalb er gegenüber dem Zeugen H1 die Art der Lagerung im Detail und dabei auch die Plane angesprochen habe (Bd. IV Bl. 690 GA). Der Zeuge H1 hat insoweit übereinstimmend angegeben, den Zeugen D1 nicht auf die Risiken einer Plane hingewiesen zu haben, da dieser schon „weg“ gewesen sei (Bd. IV Bl. 694 GA).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(2)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>Ein Mitverschulden des Zeugen D1 ergibt sich auch nicht daraus, dass er nach von ihm gehegten Zweifeln an der ordnungsgemäßen Einlagerung seiner Yacht auf dem Lagerbock nicht versucht hat, daran etwas zu ändern, bzw. diese letztlich dort belassen hat. Denn der Zeuge D1 hatte, wie ebenfalls unter aa) (1) ausgeführt, nach insoweit übereinstimmendem Bekunden beider Zeugen am 25. Oktober 2013 ausdrücklich Bedenken hinsichtlich der Art der Lagerung der Yacht auf dem Lagerbock deutlich gemacht, die nach der mit seinen Angaben als Partei in dem Verfahren 13 O 11/15 vor dem Landgericht Kiel (Protokoll vom 11. Juni 2015, Bl. 78*) im Kern übereinstimmenden, glaubhaften Angabe durch den Zeugen H1 sinngemäß mit der Bemerkung, er stelle seit Jahrzehnten Schiffe auf und wisse, was er mache, in den Wind geschlagen wurden (Bd. IV Bl. 687 GA). Auf diese Angabe des Zeugen H1 als Mitarbeiters der Beklagten, die nach dessen Angaben jährlich jedenfalls 500 - 600 Schiffe auf diese Weise ins Winterlager verbringt und damit gegenüber dem Zeugen D1 über weit überlegenes Wissen verfügte, durfte sich dieser verlassen. Eine etwa verbliebene, durch die Anfertigung der Lichtbilder der Lagerung dokumentierte, Restunsicherheit des Zeugen D1 genügt nicht, um ein messbares Mitverschulden zu begründen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>ee)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>Nach alldem hat der ohnehin nicht näher ausgeführte Einwand der Beklagten, der Schaden sei durch höhere Gewalt herbeigeführt worden, keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>ff)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Die Ansprüche der Klägerinnen gegen die Beklagte sind nicht verjährt. Die einjährige Verjährungsfrist gemäß §§ 475a Satz 1, 439 Abs. 1 Satz 1 HGB ist noch nicht abgelaufen. Die Verjährung beginnt beim Lagervertrag mit der Auslieferung bzw. Rückgabe des Gutes (Koller, a.a.O., § 475 a Rn. 3). Danach begann die Verjährung frühestens mit der Bergung der Yacht und deren Verbringung in die Schiffswerft L. am 31. Oktober 2013. Allerdings ist der Lauf der Verjährungsfrist durch das Schreiben vom 11. November 2013 (Anlage K5 Bl. 25*) gemäß §§ 475a, 439 Abs. 3 Satz 1, 2 HGB gehemmt worden. Danach wird die Verjährung eines Anspruchs gegen den Lagerhalter auch durch eine Erklärung des Einlagerers, mit der dieser Ersatzansprüche erhebt, bis zu dem Zeitpunkt gehemmt, in dem der Lagerhalter die Erfüllung des Anspruchs ablehnt, wobei die Erhebung der Ansprüche sowie die Ablehnung der Textform bedürfen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>In der Erklärung müssen Ersatzansprüche erhoben werden, aus ihr muss sich hinreichend deutlich ergeben, dass im Hinblick auf ein bestimmtes und für den Empfänger erkennbar gemachtes Ereignis Ersatz gefordert wird. Angesichts des Zwecks der Regelung des § 439 Abs. 3, den Parteien einen Anreiz zur Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel einer gütlichen Einigung zu bieten, reicht etwa schon die Übersendung einer Schadensrechnung, die Bezugnahme auf Ersatzansprüche eines Dritten sowie auch die Aufforderung aus, den Haftpflichtversicherer einzuschalten; dagegen braucht der Anspruch nicht auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage gestützt und insbesondere dann nicht exakt beziffert zu sein, wenn seine Größenordnung für den Empfänger in etwa erkennbar ist, weil dieser unabhängig davon gegebenenfalls eine gütliche Einigung zu erreichen versuchen wird. Da eine großzügige Beurteilung geboten ist, sind im Zweifel alle aus dem genannten Ereignis entspringenden Ansprüche gemeint (EBJS/Schaffert, 4. Aufl. 2020, HGB § 439 Rn. 22; Koller, a. a. O., § 439 Rn. 33).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>Diesen Anforderungen genügt das Schreiben vom 11. November 2013. In ihm wird der Beklagten deutlich gemacht, dass der Eigner wegen des Herabfallens der Yacht vom Lagerbock am 28. Oktober 2013 Ansprüche erhebt, wobei er ausdrücklich darauf hinweist, dass der Schaden als solcher durch den Kaskoversicherer behandelt wird, der sich gegebenenfalls mit dem Betriebshaftpflichtversicherer der Beklagten in Verbindung setzen wird, wobei der Eigner sich lediglich im Falle nicht vollständiger Schadensübernahme durch den Kaskoversicherer weitergehende Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte vorbehält.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>Damit war ab diesem Zeitpunkt der Lauf der Verjährung gehemmt und endete diese Hemmung erst mit abschließender Erklärung der Beklagten bzw. deren Haftpflichtversicherers am 26. Januar 2016.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Dann waren jedoch vom Zeitpunkt der Rückgabe der Yacht am 31. Oktober 2013 bis zum Zugang des Schreibens vom 11. November 2013 lediglich 13 Tage, vom Zeitpunkt der abschließenden Erklärung der Beklagten am 26. Januar 2016 bis zur Erhebung der Klage im hiesigen Verfahren am 22. Dezember 2016 (Bd. I Bl. 30 GA) knapp 11 Monate, mithin insgesamt weniger ein Jahr vergangen, bevor der Lauf der Verjährungsfrist durch Zustellung der Klageschrift gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB erneut gehemmt wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>gg)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>Zinsen aus Verzug auf die geltend gemachten Forderungen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz können die Klägerinnen allerdings erst ab dem 22. September 2014 verlangen, §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 3 Satz 1, 288 Abs. 1 BGB, nicht bereits mit Ablauf der mit Schreiben vom 20. August 2014 (Anlage K7, Bd. I Bl. 22 GA) gesetzten Frist. Bei diesem Schreiben handelte es sich - soweit vorgetragen und sonst ersichtlich - um die erstmalige Zahlungsaufforderung, die hier, wie in aller Regel, keine Mahnung darstellte (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2007 - III ZR 91/07 - juris, Rn. 11 m.w.N.). Verzug ist daher gemäß § 286 Abs. 3 Satz 1, 1. Halbsatz BGB erst mit Ablauf von 30 Tagen nach Zugang des Schreibens vom 20. August 2014, mithin, ausgehend von einer üblichen Postlaufzeit von zwei Tagen und also einem Zugang am 22. August 2014, am 23. September 2014 eingetreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>An diesem Ergebnis änderte sich nichts, wenn man - entgegen der Auffassung des Senats - davon ausginge, dass sich der Vertrag der Beklagten mit dem Eigner vom 31. Juli 2013, soweit es um den vereinbarten Lagerplatz für das Schiff für die Wintersaison und einen dafür zur Verfügung gestellten Lagerbock geht, nach Mietrecht richtete. Denn in diesem Fall stünde den Klägerinnen aus übergegangenem Recht ein Schadensersatzanspruch in Höhe des jeweils geltend gemachten Betrages wegen Nebenpflichtverletzung der Beklagten zu, § 280 Abs. 1 BGB, § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>aa)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte als Vermieterin des Stellplatzes und des Lagerbocks hätte in diesem Fall die sie treffende vertragliche Nebenpflicht verletzt, den Eigner über die Risiken der Lagerung des Schiffs auf diesem Lagerbock auf ihrem Freigelände aufzuklären und eine zusätzlich erforderliche Abstützung des Schiffs hinzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>Im Einzelfall kann den Vermieter die vertragliche Nebenpflicht treffen, den Mieter vor Gefahren zu warnen bzw. ihn über Risiken aufzuklären (Grüneberg/Weidenkaff, BGB, 81. Aufl. 2022, § 535 Rn. 59 m.w.N.). So liegt der Fall hier. Die Beklagte, die aufgrund ihrer immensen Erfahrungen mit der Lagerung von Yachten über weit überlegenes Wissen verfügte (dazu a) dd) (2)), und deren Mitarbeitern sich die Unzulänglichkeit der noch dazu von ihnen selbst eigenverantwortlich durchgeführten Lagerung der Yacht des Zeugen D1 deswegen geradezu aufdrängte (dazu a) bb) (2) (c)), wäre aufgrund dieser Umstände verpflichtet gewesen, den erkennbar nicht über solche Erfahrung verfügenden Zeugen D1 auf das mit dieser evident unzulänglichen Lagerung verbundene, insbesondere bei starkem Seitenwind bestehende Risiko des Herabfallens der Yacht vom Lagerbock hinzuweisen. Ein solcher Hinweis ist jedoch, wie unter a) aa) (1) ausgeführt, nicht erfolgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>bb)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>Dem Eigner wäre durch diese Nebenpflichtverletzung ein adäquat-kausaler Schaden entstanden, § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB. Denn es ist davon auszugehen, dass er sich entsprechend einem solchen Hinweis verhalten und damit die Yacht nicht auf dem Lagerbock belassen bzw. eine zureichende Abstützung der Yacht vorgenommen hätte. Damit ist das Unterlassen des Hinweises quasi-kausal dafür geworden, dass die Yacht am 28. Oktober 2013 während des Sturms „Christian“ vom Lagerbock gefallen ist und erheblich beschädigt wurde. Der Schaden ist dem Grunde und der Höhe nach unstreitig (a) cc)).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>cc)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hätte die Pflichtverletzung auch zu vertreten, § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB. Das Unterlassen des sich, wie unter aa) ausgeführt, geradezu aufdrängenden Hinweises durch die Mitarbeiter der Beklagten wäre grob fahrlässig gewesen (vgl. a) bb) (2) (c)). Den Eigner hätte kein Mitverschulden getroffen (a) dd)) und der Einwand höherer Gewalt wäre unbehelflich (a) ee)).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>dd)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>Schließlich wäre der Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB, für den die allgemeine Verjährungsfrist gemäß §§ 195, 199 Abs. 1 BGB gilt (vgl. Weidenkaff, a.a.O., § 535 Rn. 62), auch nicht verjährt, ungeachtet der Frage, ob die Einrede der Verjährung insoweit überhaupt nicht erhoben worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,301 | vg-koln-2022-08-22-6-l-97822 | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
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} | 6 L 978/22 | 2022-08-22T00:00:00 | 2022-08-25T10:01:13 | 2022-10-17T11:09:27 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0822.6L978.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<ul class="ol"><li><p>1. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.</p>
</li>
</ul>
<p>Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Auskunft darüber zu erteilen,</p>
<p>- welche Kenntnisse das Ministerium, namentlich Bundesministerin Lambrecht, über die Entstehung eines Fotos im Hubschrauber der Flugbereitschaft vom 13.04.2022 hat, das den Sohn von Bundesministerin Lambrecht zeigt,</p>
<p>- ob Bundesministerin Lambrecht das Foto am 13.04.2022 selbst angefertigt hat,</p>
<p>- ob der Ministerin oder ggf. weiteren Beteiligten aus dem Ministerium bekannt war, dass ein am 13.04.2022 aufgenommenes Foto aus dem Helikopter in einem sozialen Netzwerk veröffentlicht würde/es beabsichtigt war, ein solches Foto zu veröffentlichen,</p>
<p>- und falls dies nicht bekannt war, wann (Datum) dies dem Ministerium, namentlich Bundesministerin Lambrecht, auf welche Weise bekannt geworden ist.</p>
<p>Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.</p>
<p> Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.</p>
<ul class="ol"><li><p>2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p>
</li>
</ul><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Die Beteiligten haben den Rechtsstreit, in dem der Antragsteller beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihm Auskunft darüber zu erteilen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. wann (Datum) der Besuch des Bataillons Elektronische Kampfführung 911 (EloKaBtl 911) in Stadum durch Frau Bundesministerin Christine Lambrecht im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) festgelegt wurde und wann (Datum) der Besuch dem EloKaBtl 911 bekannt gemacht wurde,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">6</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">2. ob es zutrifft, dass Bundesministerin Lambrecht vorgeschlagen und/oder darauf hingewirkt hat, das EloKaBtl 911 zu besuchen,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">8</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">3. falls nein, wer/welche Stelle sonst die Initiative für den Besuch ergriffen hat,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">10</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">4. welcher zeitliche Abstand zwischen Buchung des Hotels auf Sylt und Festlegung/Verabredung/Terminierung des Besuchs beim EloKaBtl 911 lag (jeweils Datum)</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">12</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">5. in welchen Reisemitteln die Weiterfahrt von Bundesministerin Lambrecht nach dem Besuch des EloKaBtl 911 Richtung Sylt erfolgte,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">14</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">6. wie die Kosten für die Weiterfahrt von Bundesministerin Lambrecht nach dem Besuch des EloKaBtl 911 Richtung Sylt abgerechnet wurden,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">16</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">7. wie ggf. die Begleitung durch den Sohn bei der Weiterfahrt Richtung Sylt abgerechnet wurde,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">18</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">8. wann (Datum) die Begleitung der Anreise durch zum EloKaBtl 911 durch den Sohn von Frau Bundesministerin Lambrecht feststand/dem Ministerium erstmals angekündigt wurde,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">20</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">9. wann (Datum) für die Begleitung der Reise durch den Sohn von Bundesministerin Lambrecht ein Platz durch die Flugbereitschaft für den Begleitungsflug angefordert/festgelegt wurde,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">22</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">10. ob die Anforderung zugleich mit der Anforderung der Flugbereitschaft für Frau Bundesministerin Lambrecht erfolgt ist,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">24</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">11. auf welche konkreten Rechtsvorschriften sich Frau Bundesministerin Lambrecht in ihren öffentlichen Angaben bezieht, die Mitnahme des Sohnes sei rechtmäßig erfolgt,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">26</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">12. welche konkreten Rechtsgrundlagen und Vorschriften bei der Mitnahme des Sohns von Frau Bundesministerin Lambrecht zur Anwendnung kamen und für die Abrechnung der dadurch fälligen Kosten maßgeblich waren,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">28</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">13. welche Kenntnisse das Ministerium, namentlich Bundesministerin Lambrecht, über die Entstehung eines Fotos im Hubschrauber der Flugbereitschaft vom 13.04.202 hat, das den Sohn von Bundesministerin Lambrecht zeigt,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">30</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">14. ob Bundesministerin Lambrecht das Foto am 13.04.2022 selbst angefertigt hat,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">32</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">15. ob der Ministerin oder ggf. weiteren Beteiligten aus dem Ministerium bekannt war, dass ein am 13.04.2022 aufgenommenes Foto aus dem Helikopter in einem sozialen Netzwerk veröffentlicht würde/es beabsichtigt war, ein solches Foto zu veröffentlichen,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">34</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">16. falls dies nicht bekannt war, wann (Datum) dies dem Ministerium auf welche Weise bekannt geworden ist,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">hinsichtlich der Fragen zu 1. bis 3. sowie von 5. bis 12. mit Schriftsätzen vom 12.07.2022 und 01.08.2022 übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt. Insoweit war das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Der hinsichtlich der übrigen Fragen aufrecht erhaltene Antrag hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder wenn diese Regelung aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 ZPO). Ist der Antrag – wie vorliegend – auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet, so sind an die Glaubhaftmachung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch erhöhte Anforderungen zu stellen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache bei summarischer Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Antragsteller ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile entstünden, die auch bei einem späteren Erfolg in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschlüsse vom 25.04.2018 – 6 L 4777/17 –, juris, Rn. 12 m. w. N.; vom 09.02.2017 – 6 L 2426/16 –, juris, Rn. 5 m. w. N.; vom 28.08.2009 – 6 L 918/09 –, juris, Rn. 9; VG Berlin, Beschluss vom 23.10.2019 – 27 L 98.19 –, juris, Rn. 69.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat jedenfalls in Bezug auf die Fragen zu 13. bis 16. einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Mangels einer einfachgesetzlichen Regelung des Bundesgesetzgebers verleiht das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) Presseangehörigen, zu denen der Antragsteller als rechtspolitischer Korrespondent einer überregionalen Tageszeitung gehört, einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Auskunft gegenüber Bundesbehörden, soweit die Landespressegesetze wegen einer entgegenstehenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf sie nicht anwendbar sind. Diese Voraussetzungen treffen auf die gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemachten Auskunftsansprüche zu, da die Anspruchsgrundlage des § 4 Abs. 1 LPresseG NRW gegenüber dem Bundesministerium der Verteidigung nicht zur Anwendung gelangt; der Behördenbegriff des § 4 Abs. 1 LPresseG NRW erfasst nur Behörden im Sinne des Landesrechts. Der Inhalt des presserechtlichen Auskunftsanspruchs wird maßgeblich durch die Funktionen bestimmt, die die Presse in der freiheitlichen Demokratie erfüllt. Ihr kommt neben einer Informations- insbesondere eine Kontrollfunktion zu. Eine effektive, funktionsgemäße Pressetätigkeit setzt voraus, dass Journalisten in hinreichendem Maß von staatlichen Stellen Auskunft über Angelegenheiten erhalten, die nach ihrem Dafürhalten von öffentlichem Interesse sind. Aufgrund des in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Auskunftsanspruchs können Pressevertreter behördliche Auskünfte verlangen, soweit berechtigte schutzwürdige Interessen Privater oder öffentlicher Stellen an der Vertraulichkeit nicht entgegenstehen. Der verfassungsunmittelbare Auskunftsanspruch fordert eine einzelfallbezogene Abwägung des Informationsinteresses der Presse mit gegenläufigen schutzwürdigen Interessen, wobei allerdings eine Bewertung und Gewichtung des Informationsinteresses der Presse grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Entscheidend ist vielmehr, ob dem Informationsinteresse der Presse schutzwürdige Interessen von solchem Gewicht entgegenstehen, die den presserechtlichen Auskunftsanspruch ausschließen; aus Art. 10 EMRK ergibt sich insoweit nichts anderes.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 16.03.2016 – 6 C 65.14 –, juris, Rn. 17 ff., und vom 30.01.2020 – 10 C 18.19 –, juris, Rn. 27 ff., sowie Beschlüsse vom 23.03.2021 – 6 VR 1.21 –, juris, Rn. 17, und vom 20.03.2018 – 6 VR 3.17 –, juris, Rn. 15 f. jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Den im hiesigen Fall allein in Streit stehenden privaten Interessen – sicherheitsrechtliche Bedenken macht die Antragsgegnerin von vornherein nicht geltend –, können bei der im Rahmen des verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruchs der Presse gegenüber Bundesbehörden durchzuführenden Abwägung Vorrang vor dem in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Informationsinteresse der Presse zuzubilligen sein. Private Interessen können sich insbesondere aus den Grundrechten Dritter ergeben. Dies entspricht der zu den Auskunftsansprüchen nach den Landespressegesetzen geübten Rechtspraxis. Die praktische Konkordanz zwischen den konfligierenden Grundrechtspositionen der Presse und der privaten Dritten, die im Anwendungsbereich der Landespressegesetze auf einfachgesetzlicher Grundlage hergestellt werden kann, muss bei Auskunftsbegehren der Presse gegenüber Bundesbehörden mangels einer Regelung des einfachen Bundesgesetzgebers im Rahmen der Auslegung und Anwendung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG hergestellt werden. Setzt sich der verfassungsunmittelbare Auskunftsanspruch im Rahmen der durchzuführenden Abwägung durch, ist verfassungsrechtlich determiniert, dass die Belange der Presse überwiegen. In Gestalt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG selbst besteht dann eine hinreichende Ermächtigung für die mit der Auskunftserteilung verbundenen Eingriffe in die Grundrechte Dritter.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.09.2019 – 6 A 7.18 –, juris, Rn. 21f.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der im vorstehend beschriebenen Umfang durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete Informationszugang beschränkt sich allerdings auf die bei der informationspflichtigen Stelle, hier dem Ministerium, tatsächlich vorhandenen Informationen. Das sind diejenigen Informationen, die zum Zeitpunkt des begehrten Informationszugangs tatsächlich vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 6 A 2.12 – , juris, Rn. 30.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Unter die vorhandenen Informationen fallen solche, die elektronisch gespeichert oder verschriftlicht in Akten oder Vorgängen vorhanden sind. Zu den bei der Behörde vorhandenen Informationen gehören aber auch auf dienstliche Vorgänge und Wahrnehmungen bezogene Informationen, die zwar nicht verschriftlicht bzw. nicht aktenkundig gemacht wurden, aber in Form präsenten dienstlichen Wissens der Beschäftigten der auskunftspflichtigen Stelle bei dieser Stelle vorliegen und ggf. abzufragen sind.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08.06.2022 – 6 B 1/21 –, juris, Rn. 47. Ferner OVG Bremen, Urteil vom 30.10.2019 – 1 LB 118/19 –, juris, Rn. 90, nachfolgend BVerwG, Urteil vom 26.04.2021 – 10 C 1.20 –, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Auskunftsanspruch erfasst dabei nur das in der auskunftspflichtigen Behörde zuständigkeitshalber erlangte Wissen, nicht aber persönliche Kenntnisse von Behördenmitgliedern, die außerhalb der dienstlichen Tätigkeit erworben wurden. Der Auskunftsanspruch begründet demnach kein allgemeines Fragerecht gegenüber Behördenleitern. Denn insoweit handelt es sich nicht um Wissen, das im Rahmen einer Tätigkeit für die auskunftspflichtige Stelle dienstlich erlangt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.07.2022 – 6 S 36/22 –, juris, Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Frage zu 4., mit der Auskunft über den zeitlichen Buchungsabstand der Buchung des Hotels auf Sylt und der Festlegung/Terminierung des Truppenbesuchs begehrt wird, fehlt der Antragsgegnerin insoweit die Passivlegitimation. Denn die Hotelbuchung als solche ist ein Vorgang, der einzig in den Wirkungskreis der Ministerin als Privatperson fällt. Es ist nicht ersichtlich, dass es bezogen auf den Hotelbuchungsvorgangs aktenkundige Informationen gibt, die dem Bundesministerium der Verteidigung als Behörde zuzuordnen wären. Es handelt sich bei der Hotelbuchung vielmehr um einen Vorgang aus dem rein privaten Umfeld der Ministerin. Entsprechend stellt das die Hotelbuchung betreffende Wissen kein dienstliches Wissen dar, über das die Antragsgegnerin Auskunft erteilen könnte. Mithin fällt auch die Beantwortung der Frage, welcher zeitliche Abstand zwischen der Hotelbuchung und dem (dienstlichen) Besuch beim EloKaBtl liegt, in die Privatsphäre der Ministerin, weil die entsprechende Auskunft nur erteilt werden kann, wenn auf das rein private Wissen der Ministerin über den Zeitpunkt der Hotelbuchung abgestellt würde. Dem privaten Charakter der Hotelbuchung steht hier auch nicht entgegen, dass ggf. der persönliche Referent der Bundesverteidigungsministerin in die Buchungsvorgänge eingebunden war. Denn sofern es sich um die unverzichtbare Einschaltung dienstlicher Stellen zu dem Zwecke der Gewährleistung der persönlichen Sicherheit der Ministerin handelt, derer es auch während eines privaten Urlaubsaufenthalts bedarf, steht dies dem rein privaten Charakter der Unternehmung nicht entgegen. Für die Annahme des Antragstellers, dass der Hotelbuchungsvorgang als solcher unter Zuhilfenahme ministerieller Ressourcen erfolgt ist, die grundsätzlich verzichtbar gewesen wären, bestehen nach der Aktenlage keine Anhaltspunkte.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Anders verhält es sich bei den Fragen zu 13. bis 16. Denn die für deren Beantwortung erforderlichen Informationen hat die Ministerin jedenfalls auch dienstlich erlangt. Es handelt sich nicht um rein privates Wissen. Zwar vertritt die Antragsgegnerin die Ansicht, diese Fragen beträfen keine Vorgänge dienstlicher Natur, sondern seien in der Privatsphäre der handelnden Personen zu verorten, weil es gerade nicht Teil der Aufgabenwahrnehmung als Ministerin sei, welche Inhalte und Fotos ihr Sohn auf seinem privaten Instagram-Account poste. Dem kann aus Sicht der beschließenden Kammer jedoch nicht gefolgt werden. Denn aus der Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls ergibt sich ein hinreichender Bezug zum Amt als Bundesverteidigungsministerin.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Fragen zu 13. und 14. geht es um etwaige Kenntnisse des Ministeriums bzw. der Ministerin zur Entstehung des Fotos des Sohnes der Ministerin im Hubschrauber der Flugbereitschaft vom 13.04.2022. Bei dem streitgegenständlichen, im Internet frei zugänglichen Bild,</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">abrufbar etwa unter https://www1.wdr.de/lambrecht-sohn-flug-100.html (zuletzt abgerufen am 22.08.2022),</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">handelt es sich um eine Ablichtung, die im Innenraum des Fluggeräts angefertigt wurde. Das Beförderungsmittel ist augenscheinlich der Hubschrauber, der für die dienstliche Beförderung zum EloKaBtl 911 genutzt wurde. Auf dem Foto ist der Innenbereich des Hubschraubers, insbesondere das Cockpit, deutlich erkennbar. Aus dem Gesamtkontext der Ablichtung ergibt sich ein unmittelbarer Bezug zur Bundeswehr. Weiterhin besteht ein zeitlicher Zusammenhang zur Wahrnehmung der Amtsaufgaben als Bundesministerin. Nach dem Vortrag der Antragsgegnerin hat die Ministerin den Hubschrauber gerade nicht für den Weiterflug nach Sylt in Anspruch genommen. Daher kann die Ablichtung nicht während des privaten Urlaubsaufenthalts gefertigt worden, sondern muss zwangsläufig im Vorhinein entstanden sein; in diesem Zeitraum fand jedoch der dienstliche Besuch des EloKatBtl statt. Es handelt sich bei den begehrten Informationen insoweit jedenfalls nicht um rein privates Wissen, weil nicht erkennbar ist, dass das Bild in einem Rahmen angefertigt wurde, der vollständig außerhalb der dienstlichen Aufgabenwahrnehmung der Ministerin lag. Dies ergibt sich bereits aus der oben beschriebenen Situation, die die Aufnahme zeigt. Die Anreise der Ministerin zu einem Truppenbesuch unter Inanspruchnahme eines Bundeswehrhubschraubers bildet den – ohne Zweifel – dienstlichen Rahmen, innerhalb dessen das Bild entstanden sein dürfte, wobei es für die Beantwortbarkeit der Fragen zu 13. und 14. nicht darauf ankommt, ob die Ministerin zum Zeitpunkt der Entstehung des Fotos überhaupt schon an Bord des Hubschraubers war oder die Anfertigung der Aufnahme wahrgenommen hat. Ein Bezug zur Antragsgegnerin besteht zudem vor dem Hintergrund, dass ausweislich der Erläuterungen der Antragsgegnerin bei der Regierungspressekonferenz vom 11.05.2022 der Dienststellenleiter oder der Kommandant des Militärgeräts aus Sicherheitsgründen festlegt, wie es sich vor Ort mit der Erlaubnis zum Fotografieren verhält. Eine der Antragsgegnerin angehörige Stelle muss festlegen, ob es überhaupt zu entsprechenden Ablichtungen kommen darf. Die Antragsgegnerin ist damit automatisch in das „Ob“ der Entstehung eines Fotos eingebunden. Sich daraus ableitende weitere Fragestellungen zum „Wie“ der Entstehung haben damit ebenfalls einen dienstlichen Bezug. Diese Situation ist gerade nicht mit einem rein privaten „Schnappschuss“ zu vergleichen. Weiterhin ist die Entstehung des Fotos erst durch die Inanspruchnahme von Ressourcen der Antragsgegnerin ermöglicht worden: Nach der Presseauskunft vom 11.05.2022 kann ein Anforderungsberechtigter bestimmen, welchen Personen ein Mitflug gestattet ist. Diese Anforderungsberechtigung kommt der Ministerin hier nicht als Privatperson zu, sondern als Behördenleiterin. Auch die Abrechnung der Mitnahme des Sohnes erfolgte entsprechend der (dienstlichen) Vorgaben der Richtlinien für die Nutzung von Dienstfahrzeugen in der Bundesverwaltung. Konnte mithin die auf dem Foto abgebildete Situation nur durch das der Ministerin übertragene Amt und der damit eingeräumten Befugnisse zustande kommen, kann von einem rein privaten Vorgang, über den schon keine dienstlich erlangten Kenntnisse bei der Antragsgegnerin vorhanden sein können, keine Rede sein.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Frage zu 15. ist ein Auskunftsanspruch ebenfalls nicht per se mangels Passivlegitimation ausgeschlossen. Denn die Frage, ob der Ministerin oder weiteren Beteiligten aus dem Ministerium bekannt war, dass ein am 13.04.2022 aufgenommenes Foto aus dem Helikopter auf den sozialen Medien veröffentlicht werden sollte, ist eine Information, die gleichermaßen jedenfalls nicht rein privater Natur ist. Da die Erlaubnis zur Anfertigung von Bildern durch dienstliche Stellen erteilt wird, ist nicht denkbar, dass dies nicht erst recht auch für die Verbreitung von Bildern in der Öffentlichkeit gilt. Da auf dem Foto ein Bezug zur Bundeswehr offenbar wird, besteht aus Sicht der beschließenden Kammer ein hinreichender Bezug zur Aufgabenwahrnehmung der Antragsgegnerin. Dies betrifft auch die Modalitäten einer (beabsichtigten) Veröffentlichung. Denn der Bezug zur Bundeswehr entfaltet durch die Veröffentlichung Außenwirkung und kann entsprechend nicht ausschließlich der privaten Lebensführung der handelnden Personen zugeordnet werden. Bei der begehrten Information (Ja/Nein) handelt es sich auch um eine auf dienstliche Vorgänge und Wahrnehmungen bezogene Information, über die die Antragsgegnerin ggf. nach Abfrage des präsenten dienstlichen Wissens der Ministerin oder anderer zuständiger Mitarbeiter Auskunft erteilen kann.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die sodann hinsichtlich der Fragen zu 13. bis 16. vorzunehmende Abwägung der konfligierenden Rechte unter Berücksichtigung aller nach Aktenlage ersichtlichen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass hier das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Ministerin hinter dem presserechtlichen Auskunftsanspruch zurücktreten muss. Der Beantwortung der Fragen zu 13. bis 16. stehen keine schutzwürdigen privaten Vertraulichkeitsinteressen der Bundesministerin entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Durch die Beantwortung der Fragen wird seitens des Antragstellers zwar in das Grundrecht der betroffenen Ministerin auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG eingegriffen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Bundesministerin kann sich als Privatperson auf die Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG berufen: Zwar bekleidet sie das Amt der Bundesverteidigungsministerin, gleichzeitig ist sie jedoch auch Privatperson, sodass für sie jedenfalls als Letztere der persönliche Anwendungsbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eröffnet ist.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27.09.2018 – 7 C 5.17 –, juris, Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. –, juris, Rn. 146, 149.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Bei der Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist zudem danach zu unterscheiden, ob der Eingriff der Intim-, der Privat- oder der Sozialsphäre des Grundrechtsträgers zuzuordnen ist. In Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dient diese Unterscheidung als Orientierungspunkt für die Beurteilung der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung und für die Gewichtung der diese Beeinträchtigung rechtfertigenden Gründe. Eingriffe in die Sozialsphäre sind unter erleichterten Voraussetzungen zulässig, sodass der Persönlichkeitsschutz weniger weit reicht als in den Fällen der Betroffenheit der Intim- und Privatsphäre. Die Sozialsphäre umfasst die gesamte Teilnahme am öffentlichen Leben, also die Gegebenheiten, in denen der Einzelne in Kontakt mit anderen tritt.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27.09.2018 – 7 C 5.17 –, juris, Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Die Privatsphäre erfasst dagegen den engeren persönlichen Lebensbereich, insbesondere innerhalb der Familie. Die Persönlichkeitssphäre schützt im Sinne einer Rückzugsmöglichkeit für das Individuum einen Raum, in dem der Einzelne unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen verkehren kann.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. Lang, in: BeckOK Grundgesetz, 51. Edition, Stand 15.05.2022, Art. 2 GG Rn. 41 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus ist bei der Würdigung der Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen insbesondere die Art der in Rede stehenden personenbezogenen Angaben zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin Brandenburg, Urteil vom 20.03.2012 – OVG 12 B 27.11 –, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Dem sind jedoch die Interessen des Antragsstellers gegenüberzustellen. Dieser nimmt durch seine Recherchen in Ausübung der Informations- und Kontrollfunktion der Presse das durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 geschützte Informationsinteresse wahr, welches sich auf die Ablichtung des Sohnes der Bundesverteidigungsministerin Lambrecht in einem Helikopter der Bundeswehr bezieht. Der Antragsteller hat unter Bezugnahme auf seine journalistische Tätigkeit und die bereits erfolgte Berichterstattung, die er hinsichtlich der Umstände der Entstehung des Fotos auszuweiten beabsichtigt, ein berechtigtes Interesse an der Informationsübermittlung dargelegt, dessen Bewertung sich angesichts der Eigenständigkeit der Presse und des Verbots einer Relevanzprüfung verbietet. Namentlich ist es der journalistischen Aufbereitung nach der hier begehrten Auskunftserteilung vorbehalten, inwieweit und ggf. welche Rückschlüsse sich auf die Einstellung der Ministerin im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Privilegien ziehen lassen, die mit der Wahrnehmung der ihr übertragenen Dienstgeschäfte verbunden sind.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist bei den Fragen zu 13. und 14., die auf die Kenntnisse hinsichtlich der bzw. Involvierung in die Entstehung des Bildes des Sohnes abzielen, zwar die Privatsphäre der Ministerin betroffen, die entscheiden darf, welche Handlungen sie vornimmt und ob sowie in welchem Maße diese in die Öffentlichkeit gelangen. Allerdings ist hierbei abermals beachtlich, dass das Foto in der dienstlichen Sphäre der Ministerin aufgenommen wurde, sodass die Entstehung der Fotos ihres Sohnes einen engen Bezug zu ihrer Tätigkeit als Behördenleiterin des Bundesverteidigungsministeriums hat. Die erbetenen Informationen sind dabei nicht dem Kernbereich der Privatsphäre zuzuordnen, sondern liegen nach der Gesamtschau aller Umstände im Grenzbereich zwischen Privat- und Sozialsphäre. Nach dem oben Gesagten konnte das Foto erst durch die Inanspruchnahme ministerieller Ressourcen und auf Grundlage besonderer behördlicher Anforderungsrechte entstehen. Da das Bild nicht in einem besonders geschützten privaten Rahmen entstanden ist, ist insoweit der Anspruch auf Privatsphäre hinsichtlich der Preisgabe von Informationen zur Entstehung und zur späteren Veröffentlichung des Bildes eingeschränkt. Es kann ferner dahinstehen, ob es der Ministerin zurechenbar ist, dass ihr Sohn das Bild selbst auf seinem damals öffentlich zugänglichen Instagram-Profil veröffentlicht hat, und er sich in Bezug auf seine Person des besonderen Schutzes seiner Privatsphäre begeben hat (sog. Selbstöffnung). Zwar wendet die Antragsgegnerin ein, es sei allein die Privatsphäre der Ministerin betroffen und ihr könne nicht zugerechnet werden, wenn sich ihr Sohn seiner Privatsphäre begeben habe. Allerdings gilt insoweit zu berücksichtigen, dass die Fragen nach der Kenntnis über die Entstehung des Bildes (Fragen zu 13. und 14.) sowie über die Kenntnisse über die entsprechende Veröffentlichung (Fragen 15. bis 16.) bei objektiver Betrachtung keine erheblichen und in besonderem Maße schutzwürdigen Belange der Ministerin darstellen. Wegen des offenkundigen Dienstbezugs handelt es sich nicht um besonders schutzwürdige private Belange. Die Fragen zielen bei objektiver Betrachtung nicht auf eine Informationsgewinnung zu besonders kritischen Bereiche der Privatsphäre. Selbst wenn der Sohn der Ministerin die entsprechenden Daten nicht in die Öffentlichkeit getragen hätte, sind mit der Preisgabe der erbetenen Informationen über die Entstehung und Veröffentlichung des Bildes keine derart schutzwürdigen privaten Belange betroffen, die den grundgesetzlich verbürgten presserechtlichen Auskunftsanspruch des Antragstellers ausschlössen. Der Offenbarung der personenbezogenen Daten der Ministerin kommt im hiesigen Einzelfall kein besonderes Gewicht zu. Denn inwieweit die private Lebensgestaltung der Ministerin durch die Preisgabe der begehrten Informationen in erheblichem Maße beeinträchtigt würde, ist weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Zudem muss sich die Ministerin entgegenhalten lassen, dass sie selbst durch die Mitnahme ihres Sohnes in einem Hubschrauber der Antragsgegnerin aus freien Stücken ihre privaten Belange mit der Wahrnehmung ihrer Amtsgeschäfte verwoben hat.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands entspricht es hier billigem Ermessen, insoweit die Kosten der Antragsgegnerin aufzuerlegen. Denn die Antragsgegnerin hat diese begehrten Auskünfte erst im gerichtlichen Verfahren erteilt, obwohl sie mit Blick auf den Zeitraum zwischen den erstmaligen Anfragen (12.05.2022, 13.05.2022, 16.05.2022, 18.05.2022) und Nachsuchen um gerichtlichen Eilrechtsschutz (23.05.2022, zunächst beim örtlich unzuständigen Verwaltungsgericht Berlin) hinreichend Zeit hatte, dem Auskunftsersuchen zu entsprechen. Insoweit hat sie Veranlassung zur Beschreitung des Rechtswegs gegeben. Hinsichtlich des streitigen Teils unterliegt der Antragsteller zwar teilweise. Allerdings hält es die Kammer im Rahmen der zu treffenden einheitlichen Kostenentscheidung für gerechtfertigt, der Antragsgegnerin entsprechend dem Rechtsgedanken des § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO die Kosten des Verfahrens ganz aufzuerlegen, nachdem von den 16 der Antragsgegnerin unterbreiteten Fragen des Antragstellers nur eine Frage unbeantwortet geblieben ist bzw. bleibt.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Wegen der Vorwegnahme der Hauptsache hat das Gericht davon abgesehen, den Streitwert zu reduzieren.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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346,792 | vg-koln-2022-08-21-22-k-203321 | {
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<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.</p>
<p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger stellte mit E-Mail vom 25. März 2020 beim Hauptzollamt C. einen auf das IFG gestützten Antrag auf Informationszugang. Wörtlich stellte er folgende Fragen:</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">„Seit wann führen Sie als HZA die mündlichen Auswahlverfahren im Hause selbst durch? Bitte teilen Sie mir mit, wie viele Bewerber in den letzten Jahren – seit Beginn der eigenverantwortlichen mündlichen Auswahlgespräche – an den mündlichen Auswahlgesprächen teilgenommen haben (gestaffelt nach den einzelnen Jahren; getrennt nach Einstellungsverfahren mittlerer/geh. Dienst). Bitte teilen Sie mir ferner mit, wie viele von den Bewerbern, die an den mündlichen Auswahlverfahren jeweils teilnahmen, durch sog. ‚Ausschlussgründe‘, welche im jeweiligen laufbahnspezifischen ‚Manual‘ für das mündliche Auswahlverfahren spezifiziert sind (z.B. Widersprüche zwischen Bewerbungsunterlagen und dem Interview oder große Verstöße gegen die Grundregeln der Höflichkeit) ‚ausgeschlossen’ wurden. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie im Jahre 2018 auch im Rahmen der sog. ‚Externen Personalbeschaffung‘ Auswahlverfahren durchgeführt haben. Falls ja, teilen Sie mir bitte mit, wie viele Bewerber am mündlichen Auswahlverfahren teilgenommen haben (wenn möglich getrennt nach Ebene mittlerer/geh. Dienst, falls sich dies ohne Weiteres aus Ihren Akten ergibt). Falls ja, teilen Sie mir bitte mit, wie viele von den Bewerbern im mündlichen Teil des Auswahlverfahrens durch ‚sonstige Ausschlussgründe‘, spezifiziert im entsprechenden ‚Manual‘, ‚ausgeschlossen‘ wurden.“</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus führte der Kläger in seiner E-Mail aus:</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">„Soweit es meinen Kenntnisstand entspricht wird für jeden Bewerber ein ‚Gutachten‘ gefertigt in dem ein Tabellenfeld angekreuzt wird, wenn ‚sonstige Ausschlussgründe‘ vorliegen, insofern dürfte sich der Aufwand bei Ihnen bzgl. meiner Anfrage in Grenzen halten.“</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom gleichen Tag bestätigte der „Arbeitsbereichsleiter Personalangelegenheiten“ des Hauptzollamts C. den Eingang des Antrags und wies darauf hin, dass es für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sei, die für die Einstellungen und für externe Personalgewinnung zuständigen Arbeitsbereiche einzubeziehen und entsprechende Unterlagen herauszusuchen. Insbesondere im Bereich der externen Personalgewinnung werde der Aufwand nicht unerheblich sein, da der jeweilige spezifische Ausschlussgrund im Rahmen der mündlichen Auswahlverfahren allein im jeweiligen Gutachten vermerkt worden sei. Diese seien daher vollumfänglich zu sichten. Auf der Grundlage der IFGGebV würden daher Gebühren unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufwands zu berechnen sein.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Noch am gleichen Tag antwortete der Kläger per E-Mail und bat darum, die Anfrage „so unkompliziert wie möglich“ zu behandeln. Ferner schlug der Kläger einen Mustertext für die Beantwortung seiner Anfrage vor.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 26. März 2020 teilte die Ausbildungsleiterin des Hauptzollamts C. die relevanten Zahlen für die Jahre 2019 und 2020 mit und gab an, dass der Zeitaufwand für die Ermittlung der Angaben 1,5 Stunden betragen habe.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 30. März 2020 erteilte das Hauptzollamt C. dem Kläger die begehrten Auskünfte. Der E-Mail war ein Gebührenbescheid in pdf-Form angehängt. In diesem Gebührenbescheid setzte das Hauptzollamt C. Gebühren für die Gewährung des beantragten Informationszugangs in Höhe von 67,50 Euro fest. Zur Begründung führte es aus, dass für die Bearbeitung entsprechende Unterlagen herauszusuchen sowie Dateien zu sichten gewesen seien. Dies habe insgesamt 90 Minuten in Anspruch genommen. Für die Berechnung der Gebühr sei ein pauschalierter Stundensatz von 45,- Euro für den gehobenen Dienst angesetzt worden.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 1. April 2020 bat der Kläger um Überprüfung der Gebührenfestsetzung. Das Hauptzollamt C. sei das erste gewesen, das auf diese Anfragen eine Gebühr erhoben habe. Die Anfrage sei „einfach“ und daher kostenfrei gewesen. Das Hauptzollamt C. antwortete mit E-Mail vom 3. April 2020 und teilte dem Kläger mit, dass die festgesetzte Gebühr nicht zu beanstanden sei.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Am 30. April 2020 erhob der Kläger gegen den Gebührenbescheid vom 30. März 2020 Widerspruch, den er mit Schreiben vom 25. Juni 2020 näher begründete. Die festgesetzte Gebühr wirke prohibitiv. Dies sei durch die Rechtsprechung stets missbilligt worden. Nachdem das Hauptzollamt C. dem Widerspruch nicht abgeholfen hatte, leitete es diesen der Generalzolldirektion weiter. Diese teilte dem Kläger mit Schreiben vom 17. August 2020 mit, dass der angefochtene Gebührenbescheid voraussichtlich teilweise rechtswidrig und auf 30,- Euro zu reduzieren sei, und gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 28. Oktober 2020 teilte die Generalzolldirektion dem Kläger mit, dass das Widerspruchsverfahren bis zum Vorliegen der schriftlichen Entscheidungsgründe zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Oktober 2020 im Verfahren 10 C 23.19 ausgesetzt werde. Mit weiterem Schreiben vom 28. Januar 2021 teilte die Generalzolldirektion dem Kläger mit, dass das Bundesverwaltungsgericht die bisherige Verwaltungspraxis bestätigt habe und der angefochtene Gebührenbescheid daher vollumfänglich aufrechterhalten werde. Es gab dem Kläger Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Diese Möglichkeit nahm der Kläger in der Folge auch wahr.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 9. März 2021, dem Kläger am 13. März 2021 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt, wies die Generalzolldirektion den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Die dem Kläger erteilte Auskunft sei grundsätzlich kostenpflichtig gewesen, weil es sich nicht um eine einfache Auskunft im Sinne von § 10 Abs. 1 Satz 2 IFG gehandelt habe. Als „einfache Auskünfte“ seien lediglich mündliche oder schriftliche Auskünfte ohne Rechercheaufwand anzusehen. Dies sei hier nicht der Fall gewesen, weil beim Hauptzollamt C. umfangreiche Unterlagen hätten gesichtet werden müssen. Konkret hätten insbesondere durch die Personalstelle, hier den Arbeitsbereich Einstellung und den Arbeitsbereich externe Personalgewinnung, mehrere umfangreiche excel-Tabellen gesichtet werden müssen. Im Bereich Einstellung habe es sich dabei um sechs Listen (drei je Einstellungsjahr) gehandelt, die zu sichten und entsprechend zu filtern gewesen seien. Diese Listen hätten insgesamt 1.350 Bewerberinnen und Bewerber im Jahr 2019 und 1.599 Bewerberinnen und Bewerber im Jahr 2020 betroffen. Zusätzlich habe in Einzelfällen zusätzlich in die Protokolle zu den mündlichen Einstellungstests Einsicht genommen werden müssen, um ermitteln zu können, ob ein „sonstiger Ausschlussgrund“ im Sinne der IFG-Anfrage des Klägers vorgelegen habe. Im Bereich externe Personalgewinnung habe es sich ebenfalls um mehrere Listen gehandelt, getrennt nach Laufbahn und Bewerberkreis. Allein für die Ermittlung der Daten für die Einstellung in den Vorbereitungsdienst der Zollverwaltung sei ein Aufwand von 1,5 Stunden eines Beschäftigten des gehobenen Dienstes erforderlich gewesen. Der Einwand des Klägers, dass dies auch durch einen Beschäftigten des mittleren Dienstes habe geleistet werden können, greife nicht durch. Es sei Bestandteil der Organisationshoheit der jeweiligen Behörde festzulegen, mit welchen Aufgaben einzelne Beschäftigte betraut würden. Im Übrigen sei es sachgerecht gewesen, die Ermittlung der erforderlichen Informationen durch die mit der Personalgewinnung befassten Beschäftigten vornehmen zu lassen. Auch der Umstand, dass andere Zollbehörden bei vergleichbaren Anfragen von einer Gebührenerhebung abgesehen hätten, stehe der Gebührenerhebung nicht entgegen. Auch die Höhe der festgesetzten Gebühr sei nicht zu beanstanden. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seinem Urteil vom 13. Oktober 2020 (10 C 23.19) die entsprechende Verwaltungspraxis zur konkreten Gebührenbemessung bestätigt. Insbesondere werde durch die gewählte Vorgehensweise das Verbot der prohibitiven Gebührenfestsetzung wirksam umgesetzt. Gründe für eine Gebührenermäßigung bzw. -befreiung seien weder vorgetragen noch ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 13. April 2021 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt sinngemäß,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">den Gebührenbescheid des Hauptzollamtes C. vom 30. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchbescheids der Generalzolldirektion vom 9. März 2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Gebührenbescheid des Hauptzollamts C. vom 30. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Generalzolldirektion vom 9. März 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Er findet seine Rechtsgrundlage in § 10 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722), zuletzt geändert durch Art. 44 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) i. V. m. § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Gebühren und Auslagen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (Informationsgebührenverordnung – IFGGebV) vom 2. Januar 2006 (BGBl. I S. 6), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 7 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154) i. V. m. Teil A Nr. 1.2 des Gebühren- und Auslagenverzeichnisses (Anlage zu § 1 Abs. 1 IFGGebV).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die auf dieser Rechtsgrundlage festgesetzte Gebühr in Höhe von 67,50 Euro ist dem Grunde (dazu 1.) und der Höhe (dazu 2.) nach rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">1. Die Voraussetzungen des Gebührentatbestandes sind erfüllt. Teil A Nr. 1.2 des Gebühren- und Auslagenverzeichnisses zur IFGGebV setzt die Erteilung einer schriftlichen Auskunft auch bei Herausgabe von Abschriften voraus. Vorliegend hat das Hauptzollamt C. dem IFG-Antrag des Klägers unstreitig vollumfänglich stattgegeben. Entgegen der Ansicht des Klägers handelt es sich dabei nicht um eine „einfache“ Auskunft nach § 10 Abs. 1 Satz 2 IFG, für die keine Gebühren erhoben werden. Maßstab für die Frage, ob es sich um eine einfache Auskunft handelt, ist der für die Bearbeitung des Zugangsbegehrens erforderliche Verwaltungsaufwand. Eine „einfache Auskunft“ liegt grundsätzlich nur dann vor, wenn die Vorbereitung der Zugangsentscheidung gar keinen oder zumindest nur einen sehr geringen Verwaltungsaufwand verursacht hat.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sicko, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, 29. Edition (Stand: 01.05.2022), IFG § 10, Rn. 18 ff. m. w. N.; vgl. ferner Jastrow/Schlatmann, Informationsfreiheitsgesetz IFG, Kommentar, § 10 Rn. 17, wonach eine Bearbeitungszeit von einer halben Stunde auf eine einfache Auskunft hinweist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Dies war hier nicht der Fall. Die Recherche anhand der vom Kläger genannten Kriterien in verschiedenen excel-Listen sowie die Sichtung, Selektion und Zusammenstellung der gewünschten Auskünfte haben hier einen Zeitaufwand von insgesamt mindestens 90 Minuten verursacht. Den Umfang der Recherche und die dabei durchzuführenden Schritte hat die Beklagte ausführlich und nachvollziehbar geschildert. Auf diese Ausführungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Dafür, dass der tatsächlich angefallene Rechercheaufwand nicht erforderlich gewesen wäre, ist nichts ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. Der angefochtene Gebührenbescheid ist auch der Höhe nach rechtmäßig. Die Festsetzung der Gebühr auf 67,50 Euro ist insbesondere nicht ermessensfehlerhaft erfolgt. Das Hauptzollamt C. hat weder die Grenzen des ihr durch den einschlägigen Gebührentatbestand eingeräumten Rahmenermessens (30 bis 250 Euro) überschritten, noch hat sie von dem Rahmenermessen in einer dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht, § 114 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Behörde steht bei der Festsetzung der aus dem Gebührenrahmen zu ermittelnden Gebühr ein Ermessen zu, das gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die gerichtliche Überprüfung erstreckt sich gemäß § 114 Satz 1 VwGO darauf, ob die Behörde bei der Gebührenfestsetzung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Ein Verwaltungsakt ist insbesondere dann ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde bei ihrer Entscheidung von unzutreffenden, in Wahrheit nicht gegebenen oder unvollständigen tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ausgeht oder wesentliche Gesichtspunkte außer Acht lässt, die zu berücksichtigen gewesen wären. Ausgangspunkt für die Überprüfung der Ermessenserwägungen sind die Maßstäbe für die Gebührenbemessung im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Nach der zu § 10 Abs. 2 IFG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Urteil vom 13. Oktober 2020 – 10 C 23/19 –, juris, Rn. 15 f.; Urteil vom 20. Oktober 2016 – 7 C 6.15 –, juris, Rn. 18,</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">ist diese Norm Ausdruck des gesetzgeberischen Ziels, dass jeder gegenüber den Behörden und Einrichtungen des Bundes einen Anspruch auf Informationszugang haben soll, ohne hiervon durch erhebliche finanzielle Hürden abgeschreckt zu werden. Gebühren und Auslagen sollen deswegen orientiert am Verwaltungsaufwand, jedoch nicht notwendig kostendeckend bemessen werden. Die Bemessung der Gebühren nach § 10 Abs. 2 IFG hat den Verwaltungsaufwand – nur – zu berücksichtigen, die wirksame Inanspruchnahme des Informationszugangs aber in vollem Umfang zu gewährleisten. Die Gebühren dürfen also nicht abschreckend wirken (vgl. BT-Drs. 15/4493 S. 6 und 16). Für die Frage einer nach objektiven Maßstäben zu bestimmenden abschreckenden Wirkung der Gebührenbemessung ist entscheidend, ob die Gebühr ihrer Höhe nach objektiv geeignet ist, potentielle Antragsteller von der Geltendmachung eines Anspruchs auf Informationszugang abzuhalten.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schoch, IFG, 2. Aufl., § 10 Rn. 73 bis 78.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dabei weist das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass § 10 Abs. 2 IFG keine strikte Bindung an den Kostendeckungsgrundsatz gebiete. § 10 Abs. 2 IFG derogiere mit der Anordnung der Berücksichtigung des Verwaltungsaufwands den Kostendeckungsgrundsatz nicht; er modifiziere ihn nur. Für die Abweichung von der allgemeinen haushaltsrechtlichen Pflicht zur strikten Anwendung des Kostendeckungsgrundsatzes bestehe mit dem Transparenzziel des IFG ein hinreichender sachlicher Grund.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 10 C 23/19 –, juris, Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Zudem habe der Gesetzgeber die objektiv zu bestimmende Obergrenze für die Gebührenhöhe zwar nicht selbst festgelegt, es lasse sich der Begründung des Gesetzentwurfs zum Informationsfreiheitsgesetz gleichwohl entnehmen, dass eine Obergrenze von 500,- Euro für angemessen gehalten wurde.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 10 C 23/19 –, juris, Rn. 21 unter Verweis auf BT-Drs. 15/4493 S. 16.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Gebühren bis zur genannten Obergrenze des Gebührenrahmens begegneten im Hinblick auf das Abschreckungsverbot keinen grundsätzlichen Bedenken. Soweit sich die Behörde an die Vorgaben der Informationsgebührenverordnung halte, liege im Hinblick auf das Abschreckungsverbot auch kein Ermessensfehler vor. Die Informationsgebührenverordnung setze das Abschreckungsverbot des § 10 Abs. 2 IFG mit ihren differenzierten Tatbeständen und unterschiedlich hohen Maximalgebühren wirksam um.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 10 C 23/19 –, juris, Rn. 22 f. zu der Höchstgebühr von 500,- Euro.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat diesen Maßgaben bei der Bemessung der streitgegenständlichen Gebühr hinreichend Rechnung getragen. Insbesondere wird die Gebührenpraxis der Beklagten dem modifizierten Kostendeckungsgrundsatz gerecht. Der entstehende Verwaltungsaufwand wird nur zu einem Teil in Ansatz gebracht. Die einstündige Dienstleistung eines Beamten im gehobenen Dienst wird nur mit 45 Euro berechnet, obwohl nach den Berechnungen des Bundesministeriums der Finanzen insoweit tatsächliche Kosten in Höhe von 65,86 Euro anfallen. Sachkosten und sonstige kalkulatorische Kosten werden zudem überhaupt nicht berechnet. Durch den Ansatz des Zeitaufwands wird die durch das Gesetz vorgesehene Orientierung am Verwaltungsaufwand gewährleistet. Eine konkrete abschreckende Wirkung ist vorliegend schon aufgrund der Gebührenhöhe von 67,50 Euro aber auch sonst nicht zu erkennen. Gegen den Einwand des Klägers, dass der hier erforderliche Rechercheaufwand auch von einem Beschäftigten des mittleren Dienstes hätte geleistet werden können, hat die Beklagte zu Recht eingewandt, dass es grundsätzlich ihrer Organisationshoheit obliegt, welchen Beschäftigten sie mit welchen Aufgaben betraut. Davon abgesehen war es hier offensichtlich sachgerecht, die für die Personalgewinnung zuständigen Beschäftigten mit der entsprechenden Recherche zu betrauen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Gebührenfestsetzung ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte dem Kläger eine Gebührenbefreiung oder -ermäßigung nach § 2 IFGGebV versagt hat. Danach kann aus Gründen der Billigkeit oder des öffentlichen Interesses die Gebühr um bis zu 50 % ermäßigt oder in besonderen Fällen von der Erhebung der Gebühr abgesehen werden. Diese Voraussetzungen liegen hier ersichtlich nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich die Zulassung der Berufung beantragen. Über die Zulassung entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">48</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Gerichtsbescheids bestehen,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">4. der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senate der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Gerichtsbescheides darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht beantragen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Ferner ergeht der</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">67,50 Euro</span></p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
|
346,773 | lg-munster-2022-08-19-108-o-1622 | {
"id": 815,
"name": "Landgericht Münster",
"slug": "lg-munster",
"city": 471,
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} | 108 O 16/22 | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-09-30T10:01:55 | 2022-10-17T11:10:42 | Urteil | ECLI:DE:LGMS:2022:0819.108O16.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.</p>
<p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin begehrt nach einem Pferdekauf vom Tierarzt Einsicht in die Behandlungsunterlagen und Röntgenaufnahmen aus der Zeit vor dem Erwerb des Tieres.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist Eigentümerin des Pferdes G (Lebensnummer DE 000 000 000 000, braun, Westfalen). Es handelt sich um ein wertvolles Dressur Pferd der Rasse westfälisches Reitpferd. Die Klägerin erwarb das Pferd zu einem Kaufpreis i.H.v. 500.000 EUR vom Verkäufer M mit Kaufvertrag am 00.01.2021.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Im Zeitraum von Oktober 2019 bis November 2020 befand sich das Pferd in tiermedizinischer Behandlung bei der Beklagten. Auftraggeber war der vormalige Eigentümer Herr M.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin und der vormalige Eigentümer M haben in § 2 des Kaufvertrages zu den tierärztlichen Behandlungen durch die Beklagte folgendes geregelt:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks"><em>„Die während der Besitzzeit des Verkäufers für die veterinärmedizinische und chiropraktische Untersuchung und Behandlung des Pferdes in Anspruch genommenen Tierärzte H und P sind vor Vertragsunterzeichnung durch den Verkäufer gegenüber der Käuferin von der tierärztlichen Schweigepflicht entbunden. Der Verkäufer hat veranlasst, dass dem Käufer zu Händen des ihn vertretenden Rechtsanwaltes Q die Dokumentation der genannten Personen vor Vertragsunterzeichnung zur Verfügung gestellt werden.“</em></p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Tatsächlich ist der Klägerin nur eine Behandlungsübersicht zur Verfügung gestellt worden. Hierin sind die Daten der Behandlung und schlagwortartig das Behandlungsgeschehen zusammengefasst. Einzelheiten zur konkreten Behandlung sind jedoch nicht ausgeführt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anl. K6 Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Bevor die Behandlungsunterlagen von der Beklagten an die Klägerin herausgegeben wurden, widerrief Herr M (Verkäufer des Pferdes und Auftraggeber der tierärztlichen Behandlung durch die Beklagte) die Einwilligung in die Weitergabe der Informationen und Behandlungsunterlagen aus der tiermedizinischen Behandlung durch die Beklagte.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stehe gegen die Beklagte ein Anspruch auf Einsichtnahme in die gefertigten Röntgenaufnahmen des Tieres aus § 809 BGB sowie auf Einsichtnahme in die tierärztlichen Behandlungsunterlagen nach § 810 BGB zu. Zugleich sei die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Ablichtungen der Krankenunterlagen herauszugeben. Es bestehe ein berechtigtes Interesse für die Einsichtnahme, da das Pferd dringend tierärztlicher Behandlung bedürfe und abgeklärt werden müsse, welche Behandlungen zuvor durchgeführt worden sein. Beim Reiten zeige das Pferd massive Widersetzlichkeiten, sodass an eine geordnete Arbeit mit dem Pferd nicht zu denken sei. Das Pferd sei ohne fortdauernde medikamentöse Behandlung nicht reitbar, schon gar nicht sportlich einsetzbar. Die Klägerin sei darauf angewiesen, dass sie nicht nur stichpunktartig über die Behandlung informiert werde, sondern die zukünftige Behandlung und Therapie unter Berücksichtigung der vormaligen Erkrankungen und Behandlungen zum Tierwohl abstimme.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist weiter der Auffassung, dass die von der Beklagten eingewandte ärztliche Schweigepflicht dem Einsichtsbegehren nicht entgegenstehe. Die tierärztliche Schweigepflicht der Beklagten beruhe auf § 5 der Berufsordnung der Tierärztekammer Westfalen-Lippe. Diese sehe vor, dass der Tierarzt über alle Tatsachen Schweigen zu bewahren habe, die ihm bei der Ausübung seines Berufes bekannt werden, soweit berechtigte Belange dies erfordern. Die Schweigepflicht beziehe sich nur auf solche Tatsachen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der tierärztlichen Tätigkeit stünden. Es handele sich um ein Schweigegebot, welches berechtigte Belange schütze. Welche berechtigten Belange geschützt würden, sei nicht definiert. Die Bewertung habe anhand der Regelung des § 203 StGB zu erfolgen. Diese Regelung schütze nur die unbefugte Offenbarung von fremden Geheimnissen, die insbesondere zum persönlichen Lebensbereich des Menschen geraten. Die Informationen über die Erkrankung und Behandlung des Tieres selbst stellten aber kein geschütztes Geheimnis dar.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verurteilen, ihr die bei der Beklagten geführten tierärztlichen Behandlungsunterlagen und Röntgenaufnahmen betreffend das Pferd G mit der Lebens Nummer: DE 000 000 000 000, braun, Westfalen gegen Erstattung der Entwicklung-und Fotokopiekosten in Kopie zur Verfügung zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist der Ansicht, der Klägerin stünde der geltend gemachte Anspruch auf Einsicht in die bei ihr geführten tierärztlichen Behandlungsunterlagen und Röntgenaufnahmen betreffend das Pferd nicht zu, weil die Klägerin nicht Auftraggeberin der betreffenden tierärztlichen Behandlung gewesen sei. Aufgrund der tierärztlichen Schweigepflicht sei sie verpflichtet, vor Herausgabe der Unterlagen bei dem Auftraggeber der tierärztlichen Behandlung – Herrn M – nach dessen Zustimmung zur Herausgabe der Unterlagen zu fragen, was dieser jedoch abgelehnt habe. Da die erforderliche Zustimmung des Auftraggebers für die ärztliche Behandlung nicht vorlägen, würden sich die bei der Beklagten tätigen Tierärzte gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar machen, wenn sie unbefugt ein ihnen anvertrautes oder sonst im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit bekannt gewordenes fremdes Geheimnis offenbaren. Ferner sei ein berechtigtes Interesse für die Einsichtnahme nicht ersichtlich, da die Einsichtnahme in die Unterlagen aus Tierschutzgründen nicht erforderlich sei, um die zukünftige Behandlung hierauf aufzubauen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen (§ 313 Abs. 2 S. 2 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der geltend gemachte Anspruch auf Einsichtnahme in die tierärztlichen Behandlungsunterlagen und Röntgenaufnahmen steht der Klägerin nicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch nach § 809 BGB besteht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Voraussetzung dieses Besichtigungsanspruches ist, dass der Klägerin gegen den Besitzer ein Anspruch in Ansehung der Sache zusteht oder sie sich Gewissheit verschaffen möchte, ob ihr gegen den Besitzer ein Anspruch in Ansehung der Sache zusteht. Ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass ein gewisser Grad an Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Anspruchs besteht; andererseits genügt die nur entfernte Möglichkeit einer Rechtsverletzung nicht (BGH, Urteil vom 02.05.2002 – I ZR 45/01).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Unter Anwendung dieser Grundsätze besteht ein gewisser Grad an Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Klägerin gegen die Beklagte ein Anspruch hinsichtlich des Pferdes zusteht, nicht. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin einen Fehler bei der tierärztlichen Behandlung des Pferdes durch die Beklagte unterstellt, würden etwaige Ansprüche in Ansehung dieser Fehlbehandlung nicht der Klägerin, sondern Herrn M zustehen. Denn dieser war als Auftraggeber der tierärztlichen Behandlung Vertragspartner der Beklagten, sodass er Gläubiger vertraglicher Ansprüche wäre, sowie Eigentümer des Pferdes zum Zeitpunkt der Behandlung, sodass ihm etwaige deliktische Schadensersatzansprüche zustehen würden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass der Klägerin möglicherweise kaufrechtliche Gewährleistungsansprüche gegen Herrn M zustehen, genügt für einen Anspruch aus § 809 BGB gegen die Beklagte nicht, da sich der Anspruch gegen den Besitzer der Sache – Besitzer der Röntgenunterlagen ist hier die Beklagte und nicht Herr M– richten muss (Sprau, in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 809 BGB, Rn 4).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Auch der weiter von der Klägerin geltend gemachte Anspruch gemäß § 810 BGB besteht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Einsichtnahme nach § 810 BGB kommt zunächst in Betracht, wenn die Urkunde im Interesse der Klägerin errichtet worden ist (Alt. 1). Dies ist der Fall, wenn sie zumindest auch dazu bestimmt ist, dem Anspruchsteller als Beweismittel zu dienen oder wenigstens seine rechtlichen Beziehungen zu fördern (BGH, Urteil vom 31.03.1971 – VIII ZR 198/69). Dies beurteilt sich ausschließlich nach dem Zweck der Urkunde im Zeitpunkt ihrer Errichtung, nicht nach ihrem Inhalt (Sprau in: Grüneberg, BGB, 81 Aufl. 2022, § 810 BGB, Rn. 3; Martinek/Heine in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 810 BGB, Rn. 12); Marburger, in: Staudinger, BGB, 2015, § 810 BGB, Rn. 13).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da zum Zeitpunkt der Anfertigung der Behandlungsunterlagen, die Interessen der Klägerin nicht berührt waren. Ein berechtigtes Interesse der Klägerin an den Behandlungsunterlagen bestand erst zum Zeitpunkt des Erwerbs des Pferdes im Januar 2021. Zu diesem Zeitpunkt war die tierärztliche Behandlung, die sich von Oktober 2019 bis November 2020 erstreckte, aber bereits abgeschlossen. Anhaltspunkte dafür, dass die tierärztlichen Behandlungen zur Vorbereitung des Verkaufs des Pferdes an die Klägerin erfolgten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Auch ein Einsichtsrechts nach der 2. oder 3. Alt. des § 810 BGB ist nicht gegeben, da in den tierärztlichen Behandlungsunterlagen weder ein zwischen der Klägerin und einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet ist, noch sich aus den Behandlungsunterlagen Angaben über Verhandlungen über ein Rechtsgeschäft ergeben, die zwischen der Klägerin und einem anderen oder einem von beiden und einem gemeinschaftlichen Vermittler geführt worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes folgt auch nicht aus der von der Klägerin angeführten Entscheidung des OLG Köln vom 11.11.2009 (Az. 5 U 77/09). Zwar hat das OLG Köln in dieser Entscheidung ein Einsichtsrecht in veterinärmedizinische Unterlagen aus §§ 809, 810 BGB angenommen. Der Entscheidung lag jedoch eine mit dem vorliegenden Streitfall nicht zu vergleichende Sachverhaltskonstellation zugrunde. Denn in der Entscheidung des OLG Köln wurde das Einsichtsrecht vom Auftraggeber der tierärztlichen Untersuchung geltend gemacht. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Denn Auftraggeber der tierärztlichen Behandlung durch die Beklagte war Herr M und nicht die Klägerin.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">4.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Einsichtnahmeansprüche des Herrn M sind auch nicht im Rahmen des Erwerbs des Pferdes auf die Klägerin übergegangen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Zum einen kann die kaufvertragliche Regelung zwischen der Klägerin und Herrn M in § 2 des Kaufvertrages hinsichtlich der tierärztlichen Dokumentation nicht als Abtretungsvereinbarung ausgelegt werden. Die Formulierung „der Verkäufer hat veranlasst, dass dem Käufer (…) die Dokumentation der genannten Personen vor Vertragsunterzeichnung zur Verfügung gestellt werden“, spricht eindeutig dafür, dass die Einsichtnahmeansprüche des Verkäufers nicht auf die Käuferin übergehen sollten, sondern der Verkäufer seine Einsichtnahmeansprüche gegen die Tierärzte geltend gemacht hat, um eine Herausgabe nicht an sich, sondern zu Händen der Klägerin zu erwirken.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Zum anderen ist ein gesetzlicher Forderungsübergang für Auskunftsansprüche infolge des Erwerbs des Pferdes nicht vorgesehen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">5.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Schließlich steht der Klägerin auch ein Auskunftsanspruch nach § 242 BGB nicht zu. Hierfür fehlt es an einem schutzwürdigen Interesse der Klägerin. Denn die Klägerin kann aus dem Kaufvertrag über das Pferd einen Auskunftsanspruch gegen ihren Vertragspartner, den Verkäufer M, herleiten und Herausgabe der beim Verkäufer vorhandenen Unterlagen sowie entsprechend § 2 des Kaufvertrages Veranlassung der Zurverfügungstellung der tierärztlichen Unterlagen zu Händen der Klägerin verlangen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 91 Abs. 1 S. 1, § 709 S. 1, S. 2 ZPO.</p>
|
346,698 | arbg-monchengladbach-2022-08-19-5-bv-2022 | {
"id": 774,
"name": "Arbeitsgericht Mönchengladbach",
"slug": "arbg-monchengladbach",
"city": 467,
"state": 12,
"jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 5 BV 20/22 | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-09-24T10:01:52 | 2022-10-17T11:10:32 | Beschluss | ECLI:DE:ARBGMG:2022:0819.5BV20.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Es wird ein aus drei Personen bestehender Wahlvorstand zur Durchführung der Betriebsratswahl im Betrieb der Arbeitgeberin Verkauf, bestehend aus allen Verkaufsfilialen der Region A. bestellt.</p>
<p>Der Wahlvorstand setzt sich zusammen aus</p>
<ul class="ol"><li> 1. <p>Herrn X. J., als Vorsitzender</p>
</li>
<li> 2. <p>Herrn K. D., als weiteres Mitglied</p>
</li>
<li> 3. <p>Herrn H. D., als weiteres Mitglied</p>
</li>
<li> 4. <p>Herrn T. H., als Ersatzmitglied</p>
</li>
<li> 5. <p>Herrn D. D. Q., als Ersatzmitglied.</p>
</li>
</ul><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten über die Einsetzung eines Wahlvorstandes zur Durchführung einer Betriebsratswahl gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller sind jeweils Arbeitnehmer der Beteiligten zu 5, bei der es sich um eine rechtliche eigenständige Regionalgesellschaft innerhalb der Unternehmensgruppe M. D.handelt. Die Beteiligte zu 5 ist für die Region A. zuständig ist. Sie unterhält in ihrem Geschäftsgebiet ca. 82 Verkaufsfilialen mit ca. 1.800 Beschäftigte. Neben den Verkaufsstellen unterhält die Beteiligte zu 5. an ihrem Sitz in A. ein Logistikzentrum, einen Fuhrpark sowie die Verwaltung.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Betrieb der Beteiligten zu 5. besteht bislang kein Betriebsrat.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 06.04.2022 luden insgesamt 5 wahlberechtigte Arbeitnehmer zu einer Betriebsversammlung zwecks Bildung eines Wahlvorstandes gemäß § 17 Abs. 3 BetrVG ein.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Betriebsversammlung fand am 14.04.2022 ab 8:00 Uhr in einem angemieteten Saal in B. statt. An der Betriebsversammlung nahmen ca. 500 Personen teil. Es wurde auf dieser Betriebsversammlung, die um 11:40 Uhr abgebrochen werden musste, kein Wahlvorstand gewählt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 14.04.2022 haben die Beteiligten zu 1 bis 4 das Beschlussverfahren eingeleitet.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Am 16.08.2022 fand inzwischen eine weitere Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes statt, an der insgesamt 335 Beschäftigte der Beteiligten zu 5 teilnahmen. Es sollte ein dreiköpfiger Wahlvorstand nebst drei weiteren Ersatzmitgliedern gewählt werden. Es wurde lediglich ein Wahlgang durchgeführt. Stichwahlen wurden nicht durchgeführt. Nur Herr N. H. erhielt mit 208 Stimmen die notwendige absolute Mehrheit der Stimmen der anwesenden Beschäftigten. Herr M. D. erhielt lediglich 166 Stimmen, Herr J. O. 159 Stimmen, Herr M. E. 133 Stimmen, Frau B. U. 129 Stimmen und der Beteiligte zu 1 lediglich 116 Stimmen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten zu 1 bis 4 meinen, dass ein Wahlvorstand durch das Arbeitsgericht gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG zu bestellen sei. Auf der Betriebsversammlung am 16.08.2022 sei kein Wahlvorstand gewählt worden, so dass der Antrag weiterhin zulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Sie beantragen zuletzt, wie folgt zu erkennen:</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Es wird ein aus drei Personen bestehender Wahlvorstand zu Durchführung der Betriebsratswahl im Betrieb Verkauf (bestehend aus den allen Verkaufsfilialen) bestellt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Wahlvorstand setzt sich zusammen aus</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">1. Herrn X. J., als Vorsitzender</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2. Herrn K. D., als weiteres Mitglied</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">3. Herrn H. D., als weiteres Mitglied</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">sowie</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">4. Herrn T. H., als Ersatzmitglied</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">5. Herrn D. D. Q., als Ersatzmitglied.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligte zu 5 stellt keinen Antrag.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Sie meint, dass die Beteiligten zu 1 bis 4 nicht zum Wahlvorstand bestellt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig (1) und begründet (2).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">1.)</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">a.)</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist hinreichend bestimmt. Dem Antrag fehlt auch nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Durch die Anrufung des Arbeitsgerichts auf Bestellung eines Wahlvorstands wird die Zuständigkeit der Betriebsversammlung zu seiner Bestellung noch nicht beseitigt. Sie kann so lange einen Wahlvorstand wählen, bis die arbeitsgerichtliche Entscheidung über die Ersatzbestellung rechtskräftig geworden ist (vgl. (Richardi BetrVG/Thüsing, 17. Aufl. 2022, BetrVG § 17 Rn. 34, 35). Der Antrag wäre dann, wenn auf der Betriebsversammlung am 16.08.2022 ein Wahlvorstand gewählt worden wäre, unzulässig, weil das Rechtsschutzbedürfnis für den vorliegenden Antrag fehlen würde. Das Verfahren müsste dann eingestellt werden. Auf der Betriebsversammlung am 16.08.2022 wurde aber kein Wahlvorstand gewählt. Die Wahl eines Wahlvorstands auf der Betriebsversammlung erfordert, wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 17 Abs. 2 Satz 1 BetrVG ergibt, dass jedes Wahlvorstandsmitglied mit der Mehrheit der Stimmen der bei der Betriebsversammlung anwesenden Arbeitnehmer gewählt wird. Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügt nicht, um in den Wahlvorstand gewählt zu werden. Es müssen dann Stichwahlen durchgeführt werden (vgl. BAG, Beschluss vom 20.02.2019 – 7 ABR 40/17 – juris).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">An der Betriebsversammlung am 16.08.2022 nahmen insgesamt 335 Beschäftigte der Beteiligten zu 5 teil. Es sollte ein dreiköpfiger Wahlvorstand nebst drei weiteren Ersatzmitgliedern gewählt werden. Es wurde aber nur ein Wahlgang durchgeführt, bei dem lediglich Herr N. H. mit 208 Stimmen die notwendige absolute Mehrheit erhielt. Herr M. D. erhielt lediglich 166 Stimmen, Herr J. O. 159 Stimmen, Herr M. E. 133 Stimmen, Frau B. U. 129 Stimmen und der Beteiligte zu 1 lediglich 116 Stimmen. Es hätten nunmehr Stichwahlen durchführen müssen um zu bestimmen, welche der weiteren Wahlbewerber in den Wahlvorstand einrückt, und welche als Ersatzmitglieder heranzuziehen sind. Aus welchen Gründen keine Stichwahlen durchgeführt worden sind, ist unerheblich. In der Betriebsversammlung am 16.08.2022 wurde die Wahl eines Wahlvorstandes deshalb nicht abgeschlossen. Die nicht abgeschlossene Wahl eines Wahlvorstandes steht einer unterlassenen Bestellung des Wahlvorstandes gleich (vgl. ArbG Hamburg, Beschluss vom 07.01.2015 – 27 BVGa 5/14 –, juris). Da auf der Betriebsversammlung am 16.08.2022 kein Wahlvorstand gewählt wurde, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG nicht.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">b.)</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen unstreitig vor. Die Arbeitgeberin ist zu beteiligen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">2.)</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist begründet. Das Arbeitsgericht hatte nach § 17 Abs. 4 BetrVG einen Wahlvorstand zur Wahl eines Betriebsrats im Betrieb „Verkaufsfilialen Region A.“ der Beteiligten zu 5 zu bestellen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">a.)</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Nach § 17 Abs. 4 BetrVG bestellt das Arbeitsgericht in einem betriebsratslosen Betrieb auf Antrag von mindestens drei wahlberechtigten Arbeitnehmer oder einer im Betrieb vertretenden Gewerkschaft einen Wahlvorstand, wenn trotz Einladung keine Betriebsversammlung stattfindet oder wenn es den Arbeitnehmern des Betriebs nicht gelungen ist, auf einer Wahlversammlung, zu der ordnungsgemäß eingeladen wurde, einen Wahlvorstand zu wählen. Dadurch wird der Vorrang der Belegschaft des Betriebs gesichert, selbst einen Wahlvorstand nach ihren Vorstellungen einzusetzen. Nach § 17 Abs. 3 BetrVG soll allen betroffenen Arbeitnehmern die Möglichkeit eröffnet werden, ihre eigenen kollektiven Interessen durch eine Beteiligung an der Initiative zur Bildung eines Betriebsrats selbst wahrzunehmen, bevor es zur gerichtlichen Bestellung eines Wahlvorstands kommt (vgl. BAG, Beschluss vom 20.02.2019 – 7 ABR 40/17 – juris).</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für die Bestellung des Wahlvorstandes durch das Arbeitsgericht gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG liegen vor.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">aa.)</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Es ist unstreitig, dass die Verkaufsfilialen der Region A. insgesamt einen betriebsratsfähigen Betrieb i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG darstellen. In diesem Betrieb sind ersichtlich mehr als mehr als fünf ständige wahlberechtigte Arbeitnehmer tätig, von denen drei wählbar sind.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">bb.)</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten zu 1. – 4 sind wahlberechtigt und damit berechtigt, die Bestellung eines Wahlvorstandes gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG zu beantragen. Sie konnte auch zur Betriebsversammlung am 14.04.2022 einladen. Ein Betriebsrat existiert in dem Betrieb nicht. Es existiert auch kein Gesamtbetriebsrat oder ein Konzernbetriebsrat der einen Wahlvorstand bestellen könnte.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">cc.)</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Auf der Betriebsversammlung, die am 14.04.2022 stattfand, und zu der unstreitig ordnungsgemäß eingeladen worden ist, wurde kein Wahlvorstand gewählt. Die Betriebsversammlung musste abgebrochen werden. Eine Wahl des Wahlvorstandes wurde nicht durchgeführt. Aus welchen Gründen auf der Betriebsversammlung am 14.04.2022 kein Wahlvorstand gewählt worden ist, ist unerheblich (vgl. BAG, Beschluss vom 20.02.2019 – 7 ABR 40/17 – juris). Auch die Gründe für den Abbruch der Betriebsversammlung am 14.04.2022 sind im Rahmen des Bestellungsverfahrens gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG nicht relevant. Ein Wahlvorstand wurde auch auf der Betriebsversammlung am 16.08.2022, wie ausgeführt, nicht gewählt. Es gibt derzeit keinen gewählten Wahlvorstand, so dass dieser durch das Arbeitsgericht gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG zu bestellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">dd.)</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Mitarbeiter X. J., K. D., und Herrn H. D., welche alle bei der Beteiligten zu 5.) beschäftigt sind, haben sie bereit erklärt, das Amt eines Wahlvorstandes zu übernehmen. Die bei der Beteiligten zu 5.) beschäftigen Herren T. H. und D. D. Q. stehen als Ersatzmitglieder zu Verfügung. Die Arbeitsverhältnisse dieser Mitarbeiter wurden nicht beendet.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">b.)</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Einwände der Beteiligten zu 5, welche sie im Schriftsatz vom 14.07.2022 vorgebracht hat, sind unerheblich. Im Rahmen des Verfahrens gemäß § 17 Abs. 4 BetrVG ist die persönliche Integrität der Antragssteller und (Ersatz-)Mitglieder des Wahlvorstandes durch das Arbeitsgericht nicht zu überprüfen.</p>
<h1><strong><span style="text-decoration:underline">RECHTSMITTELBELEHRUNG</span></strong></h1>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann von den Beteiligten zu 5 Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Für die Beteiligten zu 1 bis 4 ist gegen diesen Beschluss kein Rechtsmittel gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Landesarbeitsgericht Düsseldorf</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ludwig-Erhard-Allee 21</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">40227 Düsseldorf</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Fax: 0211 7770-2199</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">eingegangen sein.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse besteht ab dem 01.01.2022 gem. §§ 46g Satz 1, 80 Abs. 2 ArbGG grundsätzlich die Pflicht, die Beschwerde ausschließlich als elektronisches Dokument einzureichen. Gleiches gilt für vertretungsberechtigte Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 46c Abs. 4 Nr. 2 ArbGG zur Verfügung steht.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden Sie auf der Internetseite www.justiz.de.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Beschlusses, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:</p>
<span class="absatzRechts">59</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">1. Rechtsanwälte,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">2. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">3. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nr. 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Eine Partei, die als Bevollmächtigte zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"> Dr. V.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Verkündet am 19.08.2022</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">W.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Regierungsbeschäftigte</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle</p>
|
346,682 | ovgnrw-2022-08-19-10-a-124220 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 10 A 1242/20 | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:16 | 2022-10-17T11:10:29 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0819.10A1242.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das angefochtene Urteil wird geändert.</p>
<p>Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den von ihr unter dem 26. August 2014 beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für die Erweiterung des Lebensmitteldiscountmarktes auf dem Grundstück D. Straße 136 in S. (Gemarkung S1., Flur 441, Flurstück 1348) zu erteilen.</p>
<p>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 von Hundert des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 von Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin begehrt die Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids für die Erweiterung eines Lebensmitteldiscountmarktes auf dem Grundstück D. Straße 136 (Gemarkung S1., Flur 441, Flurstück 1348). (im Folgenden: Vorhaben beziehungsweise Vorhabengrundstück).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">In der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks befinden sich neben mehreren Wohngebäuden und Gewerbebetrieben unter anderem ein Lebensmittelmarkt mit Vollsortiment (N.), ein weiterer Lebensmitteldiscountmarkt (O.) sowie ein Getränkemarkt. Diese Märkte und der Markt auf dem Vorhabengrundstück werden im Folgenden als Standort D. Straße bezeichnet.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 18. September 2007 erteilte die Beklagte der Klägerin die Baugenehmigung zur Errichtung eines Lebensmitteldiscountmarktes auf dem Vorhabengrundstück, welche sie in der Folgezeit umsetzte. Nach der Baugenehmigung vom 18. September 2007 beträgt die Verkaufsfläche 822 qm.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin stellte am 26. August 2014 den Antrag auf Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids zur beabsichtigten Erweiterung des bestehenden Marktes. Die genaue Fragestellung zum Vorbescheid lautete: „Ist eine Vergrößerung der Verkaufsfläche durch Erweiterungen des Markts auf beiden Giebelseiten planungsrechtlich zulässig?“. Nach den Antragsunterlagen soll die Verkaufsfläche von 837,97 qm auf 1.271,07 qm und damit um 433,10 qm vergrößert werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 22. Dezember 2014, zugestellt am 24. Dezember 2014, stellte die Beklagte die Bauvoranfrage der Klägerin gemäß § 15 Abs. 1 BauGB bis zum 23. Dezember 2015 zurück.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 30. Dezember 2014 Klage erhoben. Sie habe einen Anspruch auf Erteilung des beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheids. Der Anwendung des § 34 Abs. 3 BauGB stehe bereits entgegen, dass es sich bei dem Standort D. Straße selbst um einen zentralen Versorgungsbereich handele.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Bei dem in dem Einzelhandelskonzept so bezeichneten Nahversorgungszentrum B.-straße (im Folgenden: Standort B.-straße) handele es sich in Wahrheit nicht um einen zentralen Versorgungsbereich in Form eines Nahversorgungszentrums. Es sei auszuschließen, dass sich das Vorhaben im Falle seiner Verwirklichung negativ auf die dort ansässigen Einzelhandelsbetriebe auswirken werde. Am Standort D. Straße gebe es bereits mehrere Einzelhandelsbetriebe mit einer Verkaufsfläche von insgesamt rund 6.095 qm, wovon mindestens 5.000 qm auf den Lebensmitteleinzelhandel entfielen. Das Vorhaben habe hieran im Falle seiner Verwirklichung einen Anteil von maximal 9 %. Bei einem derart geringfügigen Anwachsen der vorhandenen Verkaufsfläche seien städtebaulich erhebliche negative Auswirkungen auf die Einzelhandelsbetriebe am Standort B.‑straße auszuschließen. Dies gelte umso mehr deshalb, weil die vorgesehene Erweiterung der Verkaufsfläche des Marktes auf dem Vorhabengrundstück in erster Linie dessen kundenfreundlicher Gestaltung durch eine Verbreiterung der Gänge zwischen den Regalen, durch eine Umgestaltung der Regale und durch ähnliche Maßnahmen diene und nicht etwa einer Erweiterung des dort bisher angebotenen Warensortiments.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Aus der von ihr vorgelegten Verträglichkeitsanalyse des Büros T. + I. vom 7. Februar 2020 (im Folgenden: Verträglichkeitsanalyse) ergebe sich, dass durch eine Verwirklichung des Vorhabens keine absehbaren schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche im Sinne von § 34 Abs. 3 BGB zu befürchten seien. Nach der Verträglichkeitsanalyse sei mit einer Umsatzumverteilung zu Lasten des Lebensmitteldiscountmarktes am Standort B.-straße im Sortimentsbereich Nahrungs- und Genussmittel in Höhe von 200.000 Euro beziehungsweise 7 % zu rechnen. Dies führe nicht dazu, dass der Markt geschlossen werde und könne daher den vermeintlichen zentralen Versorgungsbereich B.-straße nicht schädigen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verpflichten, ihr den mit Formularantrag vom 26. August 2014 beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für die Erweiterung des M-Markts D. Straße 136 in S1. (Gemarkung S1., Flur 441, Flurstück 1348) zu erteilen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat sie vorgetragen: Die Klägerin plane die Erweiterung eines bereits großflächigen Einzelhandelsbetriebs, der gemäß § 11 Abs. 3 BauNVO lediglich in Kern- oder Sondergebieten zulässig sei. Das Vorhaben widerspreche insgesamt den Zielen des Einzelhandelskonzepts und insbesondere dem Anliegen, den darin festgelegten zentralen Versorgungsbereich B.-straße zu schützen. Es gehe bei dem Vorhaben auch nicht nur um eine marginale Erweiterung der Verkaufsfläche des vorhandenen Marktes, sondern um eine Erweiterung um 50 %. Dass diese Erweiterung lediglich einer Verbreiterung der Gänge und einer Umgestaltungen der Regale dienen solle, sei schwer nachzuvollziehen. Die geplante Erweiterung der Verkaufsfläche würde weiter Kaufkraft zu Lasten der im zentralen Versorgungsbereich B.-straße verbliebenen Einzelhandelsbetriebe abziehen, der durch die Schließung des dort früher betriebenen Lebensmittelmarktes mit Vollsortiment (F.) bereits an Attraktivität eingebüßt habe.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Weder könnte die Attraktivität des zentralen Versorgungsbereichs B.-straße erhalten werden noch sei dort mit der Ansiedlung neuer Betriebe zu rechnen, wenn das Vorhaben realisiert würde. Die Behauptung der Klägerin, der zentrale Versorgungsbereich B.-straße sei im Hinblick auf die Verkaufsfläche von „lediglich“ 1.040 qm nicht als ein solcher zu qualifizieren, sei falsch. Ein zentraler Versorgungsbereich zeichne sich nicht zuletzt durch die Vielfalt des Warenangebots aus. Wie sich aus dem Einzelhandelskonzept ergebe, würden in dem zentralen Versorgungsbereich B.-straße als Hauptwarengruppen neben Nahrungs- und Genussmitteln auch Drogerie- und Parfümartikel, Kosmetika, pharmazeutische Artikel, Zeitungen und Zeitschriften sowie Artikel aus dem Bereich Papier, Bürobedarf und Schreibwaren angeboten. Hinzu kämen Angebote wie etwa medizinische Versorgung, Gastronomie und einzelhandelsnahe Dienstleistungen, die kennzeichnend seien für einen zentralen Versorgungsbereich.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 11. Februar 2020 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Erteilung des begehrten Vorbescheids. Von dem Vorhaben gingen im Falle seiner Verwirklichung schädliche Auswirkungen im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB auf das Nahversorgungszentrum B.-straße aus, das drohe durch das Vorhaben weiter geschädigt zu werden. Werde das Vorhaben verwirklicht, sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu erwarten, dass die Funktionsfähigkeit des Nahversorgungszentrums B.-straße nachhaltig und in beachtlichem Ausmaß beeinträchtigt und gestört werde. Die Klägerin wolle die Verkaufsfläche ihres Lebensmitteldiscountmarktes um circa 50 % vergrößern, was dessen Attraktivität steigern und durch die dadurch bewirkte Umorientierung der Kunden den zentralen Versorgungsbereich B.-straße zusätzlich nachhaltig schwächen dürfte.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Den bei Verwirklichung des Vorhabens eintretenden Kaufkraftschwund könne der Markt im Nahversorgungszentrum nicht kompensieren. Insoweit wiege es besonders schwer, dass die Märkte am Standort D. Straße alle weniger als 700 m von dem Nahversorgungszentrum entfernt lägen und damit ihre aus der näheren Umgebung stammende Kundschaft im Wesentlichen aus dem unmittelbaren Einzugsbereich des dortigen Marktes generierten. Dies habe bereits in der Vergangenheit zu erheblichen nachteiligen Veränderungen in dem Nahversorgungszentrum geführt, das als vorgeschädigt zu qualifizieren sei. Dass es dort derzeit keinen Leerstand gebe, spreche ebenso wenig gegen die Gefahr einer weiteren Schwächung des zentralen Versorgungsbereichs wie die Verträglichkeitsanalyse, wonach sich der dortige Markt auf den Wettbewerb mit den Märkten am Standort D. Straße eingestellt habe und die geplante Verkaufsflächenerweiterung absehbar keine nachhaltige Störung der Funktionsfähigkeit des Versorgungsauftrags insgesamt oder hinsichtlich einzelner Branchen induziere.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Bei dem Markt im Nahversorgungszentrum B.-straße handele es sich zudem wegen seiner das Zentrum dominierenden Größe um einen Magnetbetrieb. Er habe maßgebliche Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des zentralen Versorgungsbereichs, da er dort der einzige Magnetbetrieb sei und die anderen Einzelhandelsgeschäfte ihre kleinteiligen Sortimente auf nur kleinen Verkaufsflächen anböten. Bei einer Aufgabe des Magnetbetriebs wäre auch deren Fortbestand erheblich gefährdet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der von dem Senat zugelassenen Berufung trägt die Klägerin ergänzend vor:</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Kritik der Beklagten, die Verträglichkeitsanalyse habe das Einzelhandelskonzept 2019 nicht berücksichtigt, gehe ins Leere, weil Einzelhandelskonzepte im Rahmen einer Beurteilung nach § 34 Abs. 3 BauGB weder verbindlich noch aussagekräftig seien. Die Verträglichkeitsanalyse habe die tatsächlichen Zusammenhänge hinsichtlich des Einzelhandels im Untersuchungsraum korrekt erfasst und zur Grundlage der Prognose gemacht. Der von der Beklagten hervorgehobene Vergleich der Verkaufsfläche des Vorhabens mit den Verkaufsflächen der Einzelhandelsbetriebe im so genannten Nahversorgungszentrum B.-straße sei für die Prognose nicht allein maßgeblich. Zudem sei bei der Erweiterung der Verkaufsfläche eines bestehenden Einzelhandelsbetriebs zu berücksichtigen, dass sich etwaige konkurrierende Betriebe auf die bisherige Situation eingestellt haben könnten, sodass sich eine geringfügige Erweiterung der Verkaufsfläche nicht auf die Umsatzverteilung auswirke. Eine nähere Begründung, aus welchem Grund hier abweichend von der Verträglichkeitsanalyse durch das Vorhaben schädliche Auswirkungen auf einen zentralen Versorgungsbereich zu erwarten sein könnten, bleibe die Beklagte schuldig. Ihre Kritik an der Berechnung der Umsatzumverteilungsquote überzeuge nicht. Die von ihr angesprochenen Rundungsdifferenzen könnten nicht zu der von ihr genannten Umverteilungsquote von 10,42 % führen. Für mögliche städtebauliche Auswirkungen sei hier der Umsatz, der mit Nahrungs- und Genussmitteln im angeblichen zentralen Versorgungsbereich erwirtschaftet werde, die maßgebliche Bezugsgröße. Dieser sei für den Standort B.-straße mit 3,5 Mio Euro anzusetzen. Setze man diesen Betrag ins Verhältnis zu der von der Beklagten für möglich gehalten Umverteilung von circa 250.000 Euro, ergebe sich lediglich eine Umsatzumverteilungsquote von 7,1 %. Die Überschneidung der Einzugsbereiche des Marktes am Standort B.‑straße und ihres eigenen Marktes spreche nicht maßgeblich dafür, dass mit der Verwirklichung des Vorhabens schädliche Auswirkungen auf den vermeintlichen zentralen Versorgungsbereich B.-straße verbunden seien. Ihr eigener Markt habe ein gegenüber dem Markt am Standort B.-straße erweitertes Einzugsgebiet und profitiere wegen der Strahlkraft des Standortes D. Straße wesentlich von Umsätzen aus dem gesamten Stadtgebiet. Das angebliche Nahversorgungszentrum B.-straße sei auch nicht als vorgeschädigt zu qualifizieren. Es gebe dort weiterhin einen großflächigen Einzelhandelsbetrieb als Magnetbetrieb. Dass sich dieser Magnetbetrieb wegen der bestehenden Wettbewerbssituation in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinde und vorgeschädigt sei, sei nicht zu erkennen. Er habe sich vielmehr nach der Aufgabe des dortigen Lebensmittelmarktes mit Vollsortiment durch einen Umzug in dessen Betriebsräume neu aufgestellt, habe seine Verkaufsfläche vergrößert und einen marktgängigen Auftritt. Der Vorwurf der Beklagten, die Verträglichkeitsanalyse stelle die mit den übrigen Märkten am Standort D. Straße verbundenen Synergieeffekte nicht in die Bewertung ein, sei nicht nachvollziehbar.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr den von ihr unter dem 26. August 2014 beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für die Erweiterung des Lebensmitteldiscountmarktes auf dem Grundstück D. Straße 136 in S1. (Gemarkung S1., Flur 441, Flurstück 1348) zu erteilen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">hilfsweise durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis darüber zu erheben, dass</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">- die in der Verträglichkeitsanalyse des Gutachterbüros T.+I. vom 7. Februar 2020 dargelegten absatzwirtschaftlichen Auswirkungen – insbesondere die prognostizierten „Umsatzumverteilungen Nahrungs- und Genussmittel“ – unzutreffend und/oder methodisch falsch ermittelt worden sind,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">- bei Realisierung des Vorhabens bei methodisch korrekter Ermittlung der Umsatzumverteilung und Unterlassen etwaiger Rundungen der ermittelten Werte zu Lasten des zentralen Versorgungsbereichs B.-straße eine über 200.000 Euro beziehungsweise über 7 % hinausgehende Umsatzumverteilung zu erwarten ist,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">- eine Vorschädigung des zentralen Versorgungsbereichs B.-straße insbesondere durch die Aufgabe des vormalig dort ansässigen F.-Aktiv-Marktes anzunehmen ist,</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">- der O-Markt als „Magnetbetrieb“ des zentralen Versorgungsbereichs B.-straße durch das Vorhaben der Klägerin in seinem Fortbestand gefährdet ist.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Sie hält das Vorhaben für bauplanungsrechtlich unzulässig. Die Verträglichkeitsanalyse berücksichtige nicht in dem gebotenen Maße die konkreten Umstände des Einzelfalls. Hierzu zählten unter anderem deutlich unterschiedliche Verkaufsflächen, die geringe Entfernung zwischen dem Vorhabengrundstück und dem Nahversorgungszentrum B.-straße sowie dessen Vorschädigung nach Aufgabe eines dort früher betriebenen Lebensmittelmarktes mit Vollsortiment.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">In dem aktuellen Einzelhandelskonzept 2019, dass die Verträglichkeitsanalyse scheinbar unberücksichtigt gelassen habe, werde deutlich darauf hingewiesen, dass die Einzelhandelsbetriebe am Standort D. Straße bereits jetzt einen starken Wettbewerbsdruck auf das Nahversorgungszentrum B.-straße ausübten. Dessen Funktionsfähigkeit dürfe nicht weiter beeinträchtigt werden. Der Standort D. Straße sei vor diesem Hintergrund nicht weiterzuentwickeln. Er habe Einfluss auf die Einzelhandelsstruktur im Nahversorgungszentrum genommen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die in der Verträglichkeitsanalyse prognostizierte Umsatzumverteilung in Höhe von 7 % zu Lasten des Nahversorgungszentrums könne unter den hier gegebenen Umständen zu schädlichen Auswirkungen auf dieses Zentrum führen. Nach der Verträglichkeitsanalyse bleibe unklar, welche handelsspezifische Fachliteratur bei ihrer Erstellung ausgewertet worden sei. Insbesondere könnten schon die Rundungen, die bei den im Rahmen der Verträglichkeitsanalyse angestellten Berechnungen vorgenommen worden seien, das Ergebnis maßgeblich verfälschen, sodass auch eine Umsatzumverteilung von 10,42 % möglich sei. Die deutliche Überschneidung der Einzugsgebiete des Marktes im Nahversorgungszentrum und des Marktes der Klägerin stehe zudem in deutlichem Widerspruch zu der insoweit unschlüssigen Prognose, es sei nur ein Kaufkraftabfluss von 7 % zu erwarten.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Insbesondere der als Magnetbetrieb fungierende Lebensmitteldiscountmarkt im Nahversorgungszentrum sei erheblich in seiner Existenz gefährdet. Das Einzelhandelskonzept 2019 habe die Sicherung und Stärkung dieses Marktes als wesentlichen Frequenzbringer für das Nahversorgungszentrum empfohlen. Er habe als einziger Betrieb, der die Nahversorgung mit Lebensmitteln sicherstelle, für die Bewohner des Baugebiets R. eine wesentliche Versorgungsfunktion. Hinzu komme, dass bei dem verhältnismäßig kleinen und schon jetzt nicht sehr stark frequentierten Nahversorgungszentrum B.-straße dem Magnetbetrieb eine im Verhältnis zu Magnetbetrieben in größeren Versorgungsbereichen wesentlich bedeutendere Rolle zukomme.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Das Gutachterbüro T.+I. habe noch in den Jahren 2011 und 2012 das Einzelhandelskonzept erstellt und darin empfohlen, den Standort D. Straße nicht weiterzuentwickeln. Die nunmehr davon abweichende Verträglichkeitsanalyse widerspreche diesen Empfehlungen, zumal es 2011 noch einen Lebensmittelmarkt mit Vollsortiment in dem Nahversorgungszentrum B.-straße gegeben habe.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakten Heft 1 bis 9) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung des begehrten bauplanungsrechtlichen Vorbescheids. Dem Vorhaben stehen öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegen (§§ 77 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4, 74 Abs. 1 BauO NRW).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit ist nach § 34 BauGB zu beurteilen. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Bauvorhaben nach der Art der baulichen Nutzung zulässig, wenn es sich insoweit in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Das Vorhaben erfüllt diese Voraussetzungen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die nähere Umgebung ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB genannten Merkmale gesondert zu ermitteln, weil diese jeweils eine Prägung mit ganz unterschiedlicher Reichweite und Gewichtung entfalten können. Für das hier in Rede stehende Merkmal der Art der baulichen Nutzung ist die nähere Umgebung im Regelfall weiter zu bemessen als beispielsweise hinsichtlich des Merkmals der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und der Bauweise. Sie erstreckt sich so weit, wie sie den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst und sich die Ausführung des Bauvorhabens auf sie auswirken kann.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 – 4 C 9.77 –, BRS 33 Nr. 36; OVG NRW, Urteil vom 25. Februar 2000 – 10 A 5152/97 –.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Nach den vorgelegten Verwaltungsvorgängen, dem Kartenmaterial und den verfügbaren Luftbildern gehört zur näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks jedenfalls die Bebauung des Nachbargrundstücks mit einem großflächigen Lebensmittelmarkt. Die im weiteren Umfeld vorhandene Bebauung lässt sich nach der Art der baulichen Nutzung keinem faktischen Baugebiet im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit den §§ 2 bis 9 BauNVO zuordnen, sodass die nähere Umgebung des Vorhabengrundstücks als eine sogenannte Gemengelage zu betrachten ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung hier also keinem der in der Baunutzungsverordnung bezeichneten Baugebiete und ist die Zulässigkeit der Errichtung oder Änderung eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs deshalb nach § 34 Abs. 1 und 3 BauGB zu beurteilen, gilt die Vermutungsregel des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO weder unmittelbar noch kraft gesetzlicher Verweisung.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Februar 2009 – 4 B 3.09 –, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Vorhaben fügt sich als großflächiger Einzelhandelsbetrieb nach der Art seiner Nutzung in die als Gemengelage zu qualifizierende nähere Umgebung ein. Er liegt innerhalb des durch die vorhandene Bebauung und Nutzung vorgegebenen Rahmens. Sowohl der vorhandene Lebensmitteldiscountmarkt der Klägerin als auch der auf dem Nachbargrundstück betriebene Lebensmittelmarkt sind großflächige Einzelhandelsbetriebe.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dem Vorhaben steht auch nicht § 34 Abs. 3 BauGB entgegen, weil nicht davon auszugehen ist, dass von dem Vorhaben schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu erwarten sind.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Ziel des § 34 Abs. 3 BauGB ist die Vermeidung städtebaulich nachteiliger Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche. Solche Auswirkungen sind anzunehmen, wenn sie dazu führen, dass zentrale Versorgungsbereiche ihren Versorgungsauftrag generell oder hinsichtlich einzelner Branchen nicht mehr in substantieller Weise wahrnehmen können, weil sie etwa bereits geschädigt sind und durch die Zulassung weiterer, bei isolierter Betrachtung jeweils unbedenklicher Vorhaben einen vollständigen Funktionsverlust erleiden können. Aber auch dann, wenn kein vollständiger Funktionsverlust des jeweils zu betrachtenden Versorgungsbereichs droht, wird er, wenn er bereits geschädigt ist, von § 34 Abs. 3 BauGB insoweit geschützt, als ihm eine Erholung nicht durch die Zulassung von Vorhaben an anderer Stelle, die seine bereits eingetretene Schädigung verstärken würden, erschwert oder unmöglich gemacht werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 2017 – 4 B 43.16 –, juris, Rn. 1, m.w.N.; OVG NRW, Urteil vom 29. Oktober 2018 – 10 A 1403/16 –, juris, Rn. 126 ff.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat zur möglichen Feststellung schädlicher Auswirkungen eines Vorhabens auf zentrale Versorgungsbereiche eine Prognoseentscheidung zu treffen und dabei alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls in den Blick zu nehmen. Dazu zählen insbesondere der voraussichtliche vorhabenbedingte Kaufkraftabfluss, den der zentrale Versorgungsbereich verkraften muss, ein Vergleich der Verkaufsfläche des Vorhabens mit den einschlägigen Verkaufsflächen im zentralen Versorgungsbereich, die Entfernung zwischen dem Vorhabengrundstück und den mit dem Vorhaben konkurrierenden Einzelhandelsbetrieben im zentralen Versorgungsbereich sowie die Bedeutung dort gegebenenfalls vorhandener „Magnetbetriebe“ und deren mögliche Schwächung durch das Vorhaben. Die Bejahung schädlicher Auswirkungen auf einen zentralen Versorgungsbereich setzt aber zumindest voraus, dass die Betriebsaufgabe eines dortigen „Magnetbetriebs“ hinreichend wahrscheinlich ist. Ist nach gutachterlichen Feststellungen die Gefährdung des Bestandes eines in dem maßgeblichen zentralen Versorgungsbereich vorhandenen „Magnetbetriebs“ nur eine entfernt liegende Möglichkeit, sind keine Tatsachen dargelegt, die den Prognoseschluss rechtfertigen könnten, dass von einem Vorhaben im Falle seiner Verwirklichung schädliche Auswirkungen für den zentralen Versorgungsbereich zu erwarten sind.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 4 C 2.08 –, BRS 74 Nr. 97, Beschluss vom 12. Februar 2009 – 4 B 3.09 –, juris, Rn. 9; OVG NRW, Urteile vom 29. November 2016 – 10 A 55/15 –, juris, Rn. 56 ff., vom 1. Juli 2009 – 10 A 2350/07 –, juris, Rn. 84, vom 1. Februar 2010 – 7 A 1635/07 –, juris, Rn. 97, und vom 15. Februar 2012 – 10 A 1770/09 –, juris, Rn. 68 ff.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen sind hier bei der gebotenen umfassenden Bewertung der städtebaulich relevanten Umstände durch die Verwirklichung des Vorhabens keine beachtlichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit des Nahversorgungszentrums B.-straße zu erwarten.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Danach wäre hier nur dann mit derartigen Beeinträchtigungen zu rechnen, wenn die Verwirklichung des Vorhabens den Betrieb des Lebensmitteldiscountmarktes im Nahversorgungszentrum hinreichend wahrscheinlich gefährden würde. Einer im Verwaltungsverfahren geäußerten entsprechenden Befürchtung der Beklagten, die sie im Wesentlichen auf einen Vergleich der Verkaufsfläche dieses Marktes mit den Verkaufsflächen der Lebensmittelmärkte am Standort D. Straße, auf die geringe Entfernung dieser Märkte von dem Nahversorgungszentrum und auf die Überschneidung der jeweiligen Einzugsbereiche im Hinblick auf die sogenannte Mantelbevölkerung gestützt hat, ist die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren mit einer ausführlichen gutachterlichen Verträglichkeitsanalyse entgegengetreten.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Verträglichkeitsanalyse würde die Verwirklichung des Vorhabens nur zu Umsatzumverteilungen im Sortimentsbereich Nahrungs- und Genussmittel in Höhe von maximal rund 200.000 Euro beziehungsweise rund 7 % zu Lasten der einschlägigen Einzelhandelsbetriebe in dem Nahversorgungszentrum B.-straße führen, die den dortigen systemgleichen Lebensmitteldiscountmarkt zwar nachteilig tangieren, aber nicht in seinem Bestand gefährden würde.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Diese Annahme der Gutachter ist für den Senat plausibel. Sie haben in ihre Prognose eingestellt, dass der Markt im Nahversorgungszentrum B.-straße einer der zu den Märkten am Standort D. Straße nächstgelegenen Lebensmitteldiscountmärkte sei und sich sein Einzugsgebiet angesichts dieser Nähe deutlich mit dem des Vorhabens überschneide. Andererseits heben sie nachvollziehbar hervor, dass der Markt im Nahversorgungszentrum wegen seiner Lage inmitten des Wohngebiets am R. von einer nennenswerten Mantelbevölkerung profitiere, deren Nahversorgung er diene. Er sei für O.-Märkte überdurchschnittlich mit Verkaufsflächen ausgestattet und auch sonst marktgängig aufgestellt. Eine vorhabenbedingte Schließung des Marktes oder seine Umstrukturierung seien insbesondere angesichts der im weiteren Umfeld bereits gegebenen Wettbewerbssituation nicht zu erwarten. Er konkurriere nur in geringerem Maße mit den Märkten am Standort D. Straße und sei auf die unmittelbare Nahversorgung ausgerichtet. Diese Einschätzung erscheint angesichts der bereits von dem Verwaltungsgericht aufgezeigten erheblich unterschiedlichen Verkaufsflächenausstattungen und der auf der Hand liegenden Attraktivität des Standortes D. Straße, der durch seine verkehrsgünstige Lage und die Agglomeration verschiedener Anbieter insbesondere Kunden anzieht, die mit dem Auto zum Einkaufen fahren, ohne weiteres nachvollziehbar.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die im Berufungsverfahren ergänzten Einwände der Beklagten gegen die Verträglichkeitsanalyse führen zu keiner anderen Bewertung. Ihre Kritik, diese berücksichtige nicht in dem gebotenen Maße die konkreten Umstände des Einzelfalls, überzeugt nicht. Unabhängig davon, dass die Beklagte selbst das Vorliegen schädlicher Auswirkungen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen hat,</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteile vom 29. Oktober 2018 – 10 A 1403/16 –, juris, Rn. 128, und vom 13. Juni 2007 – 10 A 2439/06 –, juris, Rn. 69,</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">und es dafür nicht genügt, eine gutachterlicher Stellungnahme wie die Verträglichkeitsanalyse, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt, in Frage zu stellen, bieten ihre diesbezüglichen Beanstandungen keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass eine vorhabenbedingte Betriebsaufgabe des Lebensmitteldiscountmarktes im Nahversorgungszentrum B.-straße ernsthaft zu erwarten sein könnte. Die mehrfach hervorgehobenen Unterschiede hinsichtlich der Größe der Verkaufsflächen im Nahversorgungszentrum und am Standort D. Straße, die geringe Entfernung des Vorhabengrundstücks von dem Nahversorgungszentrum sowie die Aufgabe des dort früher ansässigen Lebensmittelmarktes mit Vollsortiment haben die Gutachter der Verträglichkeitsanalyse bereits in ihre Bewertung einfließen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Dass – wie die Beklagte unter Hinweis auf die Fortschreibung des Einzelhandelskonzept aus dem Jahre 2019 – geltend macht, die Märkte am Standort D. Straße bereits jetzt einen starken Wettbewerbsdruck auf das Nahversorgungszentrum B.-straße, das nach der Aufgabe des früher dort vorhandenen Lebensmittelmarktes an Attraktivität verloren hat, ausüben, steht außer Frage. Auch die Gutachter sehen, dass dem Lebensmitteldiscountmarkt in dem Nahversorgungszentrum als einzigem fußläufig erreichbaren Nahversorger inmitten des Baugebiets am R. eine wesentliche Versorgungsfunktion für dessen Bewohner zukommt, schließen jedoch daraus, dass sich an seiner Ausrichtung eben auf diese unmittelbare Nahversorgung und an seiner Wettbewerbsfähigkeit durch eine Verwirklichung des Vorhabens Wesentliches ändern würde. Soweit das Einzelhandelskonzept 2019 die Sicherung und Stärkung dieses Lebensmitteldiscountmarktes als wesentlichen „Magnetbetrieb“ für das Zentrum empfiehlt, hätte dies der Beklagten Anlass bieten können, planerische Maßnahme zur Sicherung und Stärkung des Nahversorgungszentrums B.-straße auf den Weg zu bringen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Die Auffassung der Beklagten, die von ihr zitierte Passage des Einzelhandelskonzepts könne die Annahme rechtfertigen, dass von einer Erweiterung eines Einzelhandelsbetriebs am Standort D. Straße in jedem Fall schädliche Auswirkungen im Sinne § 34 Abs. 3 BauGB auf das Nahversorgungszentrum zu erwarten seien, geht jedenfalls fehl. Entsprechendes gilt auch, soweit die Beklagte dem Gutachterbüro T.+I. vorhält, es habe noch in den Jahren 2011 und 2012 in dem von ihm erstellten Einzelhandelskonzept empfohlen, den Standort D. Straße nicht weiterzuentwickeln beziehungsweise eine Weiterentwicklung restriktiv zu behandeln. Diese Aussage verhält sich ebenfalls nicht zu den Voraussetzungen, die konkret vorliegen müssten, um schädliche Auswirkungen auf das Nahversorgungszentrum B.-straße für den Fall der Verwirklichung des Vorhabens vorhersagen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Nach alledem bleibt der Vortrag der Beklagten, die in der Verträglichkeitsanalyse prognostizierte Umsatzumverteilung in Höhe von 7 % zu Lasten des Nahversorgungszentrums B.-straße könne unter den hier gegebenen Umständen zu schädlichen Auswirkungen auf diesen zentralen Versorgungsbereich führen, eine bloße spekulative Behauptung. Ihrer Kritik, die bei den Berechnungen in der Auswirkungsanalyse vorgenommenen Rundungen könnten das Ergebnis der Analyse maßgeblich verfälscht haben, sodass auch eine Umsatzumverteilung von 10,42 % denkbar sei, liegt eine eigene fehlerhafte Berechnung zugrunde, wie die Klägerin im Einzelnen ausgeführt hat.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der Senat hatte schließlich auch keine Veranlassung, den hilfsweise gestellten Beweisanträgen nachzugehen. Es bedarf insoweit keiner abschließenden Entscheidung, ob sie auf eine unzulässige Ausforschung gerichtet sind, weil die Einwände der Beklagten gegen die Verträglichkeitsanalyse, wie oben ausgeführt, keine Anhaltspunkte dafür bieten, die gutachterlichen Feststellungen in dieser Verträglichkeitsanalyse in Frage zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls sieht der Senat in Ausübung seines Ermessens gemäß § 98 VwGO in Verbindung mit § 412 ZPO von der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ab.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Zusammenhang etwa BVerwG, Beschlüsse vom 26. Juni 2020 – 7 BN 3.19 –, juris, Rn. 6, vom 5. März 2019 – 4 BN 18.18 –, juris, Rn. 16, vom 17. Februar 2015 – 4 B 53.14 –, juris, Rn. 19, vom 26. Februar 2008 – 2 B 122.07 –, juris, Rn. 29 f., vom 4. Januar 2007 – 10 B 20.06 –, juris, Rn. 12, vom 13. März 1992 – 4 B 39.92 –, juris Rn. 5, und vom 18. Januar 1989 – 2 B 177.88 –, juris, Rn. 3, jeweils mit weiteren Nachweisen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Die vorliegende Verträglichkeitsanalyse erscheint objektiv geeignet, dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Die Beklagte hat nicht aufgezeigt, dass sie erkennbare Mängel enthält, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder unlösbare Widersprüche aufweist. Eine Verpflichtung des Gerichts, zusätzlich zu einem vorliegenden Gutachten oder einer sonstigen gutachterlichen Stellungnahme weitere Gutachten einzuholen oder sonst zu ermitteln, besteht nicht allein deshalb, weil ein Beteiligter die bisher vorliegenden Erkenntnisquellen im Ergebnis für unzutreffend hält. Auch die allgemeinen Ausführungen der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung zu einer höheren Flächenproduktivität des Vorhabens als sie in der Verträglichkeitsanalyse zugrunde gelegt worden sei oder zur demographischen Entwicklung der Bevölkerung des Baugebiets R. geben hierfür keinen konkreten Anlass.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 ff. ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
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346,681 | ovgnrw-2022-08-19-10-d-920ne | {
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} | 10 D 9/20.NE | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:16 | 2022-10-17T11:10:29 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0819.10D9.20NE.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Bebauungsplan Nr. – Nördlich H.‑straße – der Stadt E. ist unwirksam.</p>
<p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Antragsgegnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 von Hundert des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Antragsteller vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 von Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller wendet sich gegen den Bebauungsplan Nr. – Nördlich H.‑straße – der Antragsgegnerin (im Folgenden: Bebauungsplan). Er ist Eigentümer der im südöstlichen Bereich des Plangebiets gelegenen Grundstücke H.‑straße 67 und 69, die unter anderem für eine Tankstelle mit 24-Stunden-Betrieb, einen Lackier- und Karosseriebetrieb, eine Textilreinigung und Büros genutzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das circa 10,4 ha große Plangebiet liegt im Südosten des Stadtgebiets an der Grenze zu F. Der Geltungsbereich des Bebauungsplans wird im Norden durch den Weg I. begrenzt, an den sich landwirtschaftlich genutzte Flächen anschließen. Nordwestlich des Plangebiets liegt eine Schule und weiter westlich eine Kleingartenanlage. Im Süden stößt das Plangebiet an die H.‑straße und im Osten an die F1. Straße. Östlich der F1. Straße steht, den Grundstücken des Antragstellers quasi gegenüber, die Wasserburg „Haus V.“.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Plangebiet wurde zuletzt im Wesentlichen als Zentrallager und Logistikstandort mit großflächigen Lagerhallen, Verkehrsflächen und einem siebengeschossigen Büro- und Verwaltungsgebäude genutzt. 2010 wurden diese Nutzungen aufgegeben und die Gebäude wurden 2017 abgerissen. Ebenfalls abgerissen wurde ein dreigeschossiges Büro- und Geschäftshaus mit einem eingeschossigen Lager- und Werkstattgebäude, das auf dem Grundstück H.‑straße 71 gestanden hatte.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit dem Bebauungsplan soll nach dem Ergebnis eines städtebaulichen Wettbewerbs mit Öffentlichkeitsbeteiligung der Stadtteil V. insbesondere als Wohnstandort gestärkt und der Siedlungsbestand sinnvoll ergänzt werden, indem die Errichtung von Wohngebäuden mit insgesamt maximal 375 Wohneinheiten ermöglicht wird.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die städtebauliche Grundstruktur basiert entsprechend dem Ergebnis des städtebaulichen Wettbewerbs auf vier von Süden nach Norden streifenartig angeordneten Baufeldern. In diesen Baufeldern sind entlang der inneren Erschließungsstraßen Gebäudezeilen mit nach Süden orientierten Fassaden vorgesehen, während an den westlichen und östlichen Rändern Gebäuderiegel die Baufelder begrenzen. Geplant sind drei durch mehrstöckige Wohnhäuser und durch eine kompakte Bebauung mit Einfamilienhäusern geprägte blockartige Baukomplexe, die als WA 1, WA 2, WA 3 sowie MI bezeichnet sind. Die Wohngebiete WA 1-3 sollen im jeweiligen Blockinnenbereich großzügige Garten- und Wohnhöfe erhalten, die durch ein Wegesystem verbunden werden. Nach Norden hin soll die blockartige Struktur durch ein Baufeld mit Einzel- und Doppelhäusern aufgelockert werden. Durch das für das Grundstück H.‑straße 71 festgesetzte Mischgebiet soll ein städtebaulich verträglicher Übergang zwischen dem westlich davon geplanten Wohngebiet und den Gewerbebetrieben auf den Grundstücken des Antragstellers erreicht werden.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Rat beschloss in seiner Sitzung am 28. November 2019 den Bebauungsplan als Satzung. Der Satzungsbeschluss wurde am 29. Dezember 2019 öffentlich bekannt gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 3. Februar 2020 hat der Antragsteller den Normenkontrollantrag gestellt und am 21. April 2020 um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Den Eilantrag hat der Senat mit Beschluss vom 25. Juni 2020 – 10 B 519/20.NE – abgelehnt.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seines Normenkontrollantrags trägt der Antragsteller vor: Für Nr. 2.1 Abs. 1 der textlichen Festsetzungen fehle eine Ermächtigungsgrundlage. Nach der Festsetzung seien im WA 1, WA 2 und WA 3 sowie im Mischgebiet bei der Berechnung der Geschossflächenzahl (GFZ) sämtliche Flächen aller oberirdischen Geschosse anzurechnen. Dies stehe im Widerspruch zu § 20 Abs. 3 Satz 1 BauNVO. Satz 2 dieser Bestimmung erlaube zwar weitergehende Festsetzungen zur Anrechnung von Flächen auf die GFZ, die nicht in Vollgeschossen lägen, erlaube insoweit aber nur die Anrechnung von Flächen von Aufenthaltsräumen einschließlich der zu ihnen gehörenden Umfassungswände. Nach der Planbegründung habe der Rat mit der Festsetzung Nr. 2.1 Abs. 1 der geänderten Definition des Begriffs „Vollgeschoss“ in der nordrhein-westfälischen Bauordnung Rechnung tragen wollen, um die Umsetzung des Wettbewerbsergebnisses, das Grundlage des Bebauungsplans sei, zu sichern. Der Vortrag der Antragsgegnerin, mit der Festsetzung sei selbstverständlich nur dasjenige gewollt, was die Ermächtigungsgrundlage erlaube, sei fernliegend, denn eine Festsetzung eines Bebauungsplans, für die es keine Ermächtigungsgrundlage gebe, dürfe nicht in Form einer geltungserhaltenden Reduktion so ausgelegt werden, dass sie entgegen ihrem Wortlaut den Vorgaben einer einschlägigen Ermächtigungsgrundlage entspreche. Die besagte Festsetzung gehöre zu den Grundzügen der Planung, sodass davon auszugehen sei, dass der Rat den Bebauungsplan ohne sie nicht beschlossen hätte.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Auch für weitere textliche Festsetzungen unter Nr. 2.2 zur maximal zulässigen Zahl von Geschossen, die keine Vollgeschosse seien, und zur Begrenzung der Grundfläche der jeweils obersten Geschosse sowie zur Lage ihrer Außenwände fehle eine Ermächtigungsgrundlage. Es handele sich dabei nicht etwa, wie die Antragsgegnerin vortrage, um gestalterische Festsetzungen. Gegen ein solches Verständnis spreche schon, dass unter Nr. 2 der textlichen Festsetzungen das Maß der baulichen Nutzung geregelt sei. Als Ermächtigungsgrundlage sei auf der Planurkunde zwar auch § 89 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW ergänzend erwähnt, doch gestatte diese Vorschrift nur die Festlegung besonderer Anforderungen an die äußere Gestaltung baulicher Anlagen zur Erhaltung und Gestaltung von Ortsbildern. Die fraglichen Festsetzungen regelten indessen nicht die äußere Gestalt des jeweils obersten Geschosses oder gar des gesamten Gebäudes, sondern vorrangig das maximal zulässige Flächenmaß eines Geschosses im Verhältnis zu dem Flächenmaß des darunterliegenden Geschosses. Eine bestimmte äußere Gestaltung sei damit nicht vorgegeben, da es dem Bauherrn letztlich freigestellt sei, wie er dieses maximale Flächenmaß einhalte. Für die Unzulässigkeit der Festsetzungen als Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung spreche schließlich auch ihr von der Antragsgegnerin selbst erläuterter Hintergrund.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung der Lärmschutzwand zum Schutz der Wohnnutzung im südlichen Baufenster des WA 5 sei unbestimmt, soweit diese in ihrem Abschnitt C-D auf die geplante Geländehöhe abfallen solle, denn es sei unklar, was damit genau gemeint sei. Mit diesem Bestimmtheitsmangel sei zugleich auch ein Abwägungsfehler verbunden, denn der Rat sei zu Unrecht davon ausgegangen, mit der unbestimmten Festsetzung einen ausreichenden Beitrag zur Konfliktbewältigung geleistet zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die textliche Festsetzung Nr. 9.3.2 zur vorgegebenen Reihenfolge der Bebauung sei ebenfalls unbestimmt. Es sei unklar, welches das in der Festsetzung genannte „östliche Gebäude“ und die „nach Osten ausgerichteten Fenster“ im WA 1.2 sein sollten.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auch die textliche Festsetzung Nr. 9.5 zu möglichen Abweichungen von dem Lärmschutzkonzept sei widersprüchlich und unbestimmt. Ein Sachverständiger für den Schallschutz habe nicht zu beurteilen, ob ein bestimmter geografischer Punkt im Zusammenhang mit einer bestimmten Emissionsquelle ein Immissionsort sei. Die Festlegung der maßgeblichen Immissionsorte erfordere vielmehr eine juristische Bewertung. Der Rat hätte die denkbaren Maßnahmen, die verhindern würden, dass eine Fassade trotz der darin eingebauten Fenster, die sich öffnen ließen, nicht als Immissionsort zu betrachten sei, konkret benennen und begutachten müssen. Da er dies nicht getan habe, sei völlig offen, mit welchen Maßnahmen der Konflikt zwischen der lärmverursachenden Nutzung im Gewerbegebiet und der insoweit schutzbedürftigen zugelassenen Wohnbebauung auf der Baugenehmigungsebene bewältigt werden solle. Welche Konfliktlösungen auf der Grundlage der TA-Lärm überhaupt denkbar seien, erläutere die Planbegründung nicht. Eine Verlagerung der Konfliktbewältigung auf nachfolgende Baugenehmigungsverfahren sei mithin nicht zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auch soweit die textliche Festsetzung Nr. 9.5 die Möglichkeit einräume, im Mischgebiet auf den Ausschluss von Fenstern, die sich öffnen ließen, zu verzichten, wenn sie Aufenthaltsräume belichteten, die zu einer gewerblichen Nutzung gehörten, sei sie fehlerhaft.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Ermittlung des auf die Wohnbebauung einwirkenden Gewerbelärms liege ein Abwägungsfehler vor, da der von den künftigen gewerblichen Nutzungen im Mischgebiet verursachte Lärm mit dem Argument, diese Nutzungen seien als wohnverträglich einzustufen, gar nicht berücksichtigt worden sei. Diese Argumentation greife zu kurz.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Seine, des Antragstellers, Belange und die Belange der auf seinen Grundstücken ansässigen Gewerbetriebe seien hinsichtlich des Fortbestandes der bisherigen Nutzungsmöglichkeiten nicht zutreffend erfasst und gewürdigt worden. Die Annahme, dass die besagten Gewerbebetriebe wegen der in ihrer Umgebung bereits vorhandenen Wohnbebauung ohnehin keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr gehabt hätten, sei falsch. Die mit dem Bebauungsplan zugelassene Wohnbebauung rücke von Norden und Westen an die Gewerbegrundstücke heran, während die Wohnbebauung an der H.‑straße sich südlich davon befinde. Der neuen Wohnbebauung habe der Rat zudem das Schutzniveau eines Allgemeinen Wohngebiets verliehen, während sich die bisherige Wohnbebauung lediglich auf das Schutzniveau eines Mischgebiets berufen könne.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">den Bebauungsplan Nr. – Nördlich H.‑straße der Antragsgegnerin für unwirksam zu erklären.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">den Antrag abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt sie vor:</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Nr. 2.1. der textlichen Festsetzungen sei wirksam. Dem Wortlaut der Festsetzung lasse sich entnehmen, dass (auch) die Geschossfläche der jeweils obersten Geschosse bei der Berechnung der GFZ zu berücksichtigen sei. Die Festsetzung treffe keine explizite Aussage dazu, auf welche Weise diese Berücksichtigung erfolgen solle. Dies ergebe aber ihre Auslegung anhand der Aufstellungsvorgänge und der sonstigen das Planverfahren betreffenden Dokumente. Für die Art und Weise der Berechnung gebe es eindeutige Vorgaben. Für die jeweils obersten Geschosse, die keine Vollgeschosse seien, finde § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO Anwendung. Dem Plangeber sei ein Gestaltungsspielraum eingeräumt, der hier zur Umsetzung der aus gestalterischen Gründen angestrebten Begrenzung des Bauvolumens genutzt worden sei. Somit bleibe lediglich zu prüfen, ob durch Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln eindeutig bestimmt werden könne, in welchem nach § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO möglichen Umfang die Fläche von Geschossen, die keine Vollgeschosse seien – hier: die Flächen der jeweils obersten Geschosse – bei der Berechnung der GFZ zu berücksichtigen sei. Die Auslegung führe zu dem eindeutigen Ergebnis, dass eine Berücksichtigung der Fläche von Geschossen, die nicht Vollgeschosse seien, in dem nach § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO größtmöglichen Maß erfolgen solle, um den in der Planbegründung ausgeführten Zielen zu entsprechen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die von dem Antragsteller für richtig gehaltene Auslegung einer über die Vorgaben des § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO hinausgehenden Berücksichtigung der jeweils obersten Geschosse bei der Berechnung der GFZ folge weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik der besagten Festsetzung und – wegen der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz – auch nicht aus ihrer Zielsetzung. Durch die Bezugnahme auf § 20 BauNVO, das heiße auch auf Abs. 3 der Vorschrift, sei klargestellt, auf welche Weise die jeweils obersten Geschosse, soweit es sich dabei nicht um Vollgeschosse handele, bei der Berechnung der GFZ zu berücksichtigen seien.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Sie, die Antragsgegnerin, habe bereits – rein vorsorglich – rechnerisch ermitteln lassen, dass die vom Rat angestrebte Sicherung der gewollten städtebaulichen Struktur auch im Hinblick auf die Gestaltung der Gebäude wegen des engen Rahmens, der sich aus dem Zusammenspiel der GRZ, der Zahl der zulässigen Vollgeschosse und der maximalen Gebäudehöhe ergebe, auch ohne die textliche Festsetzung Nr. 2.1. Abs. 1 gegeben sei, sodass eine Unwirksamkeit dieser Festsetzung nicht die Unwirksamkeit des Bebauungsplans insgesamt zur Folge hätte.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nr. 2.2 der textlichen Festsetzungen sei keine Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung. Sie finde ihre Ermächtigungsgrundlage vielmehr in § 9 Abs. 4 BauGB in Verbindung mit § 89 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 BauO NRW als örtliche Bauvorschrift zur Regelung des äußeren Erscheinungsbildes. Die Festsetzung verfolge einzig und allein das Ziel, die Realisierung des städtebaulichen Wettbewerbsergebnisses zu gewährleisten. Dass gestalterische, auf örtlichen Baubestimmungen beruhende Festsetzungen Überschneidungen mit bauplanungsrechtlichen Festsetzungsmöglichkeiten aufwiesen, sei nicht ausgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Unter anderem habe das Bundesverwaltungsgericht in einem Beschluss vom 29. August 2017 – 4 B 30.17 – klargestellt, dass der Festsetzungskatalog des § 9 Abs. 1 BauGB mit Blick auf einen Sachverhalt, der mit den Instrumenten des Bauplanungsrechts geregelt werden könne, keine Sperrwirkung hinsichtlich einer bauordnungsrechtlichen Regelung entfalte, die sich im Ergebnis wie eine bauplanungsrechtliche Festsetzung auswirke. Für die Abgrenzung zwischen bauplanungsrechtlichen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und Gestaltungsvorschriften, die auf örtlichen Bauvorschriften beruhten, komme es auf Sinn und Zweck beziehungsweise auf den Schwerpunkt des planerischen Willens an. Danach bestehe kein Zweifel, dass die Festsetzung zur Begrenzung der Zahl der Geschosse, die keine Vollgeschosse seien, gestalterischer Art sei.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die gestalterische textliche Festsetzung der Nr. 2.2.1 stehe auch nicht im Widerspruch zu den soeben genannten anderen Festsetzungen des Bebauungsplans. Insbesondere decke sie sich mit den Maßfestsetzungen im Sinne von § 16 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO zur jeweils zulässigen Höhe der Gebäude. Auch insoweit könne eine Unwirksamkeit der Festsetzung nicht zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans insgesamt führen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Nrn. 2.2.2 bis 2.2.8 der textlichen Festsetzungen enthielten Regelungen zur Ausgestaltung des jeweils obersten Geschosses, soweit es kein Vollgeschoss sei. Durch die Festsetzung der maximal zulässigen Grundfläche im Verhältnis zu der Grundfläche des darunterliegenden Geschosses habe der Rat lediglich ausgeschlossen, dass das jeweils oberste Geschoss als Vollgeschoss im Sinne von § 2 Abs. 6 BauO NRW gebaut werde. Es handele sich weder um eine Regelung zu den Vollgeschossen noch um eine eigenständige Definition des Vollgeschosses. Die Festsetzungen seien ebenfalls örtliche Bauvorschriften zur Gestaltung baulicher Anlagen im Sinne von § 9 Abs. 4 BauGB in Verbindung mit § 89 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 BauO NRW. Die Festsetzungen zu der zulässigen Grundfläche des jeweils obersten Geschosses und dessen Abstand von der darunter liegenden Gebäudekante beträfen das äußere Erscheinungsbild des jeweiligen Gebäudes. Die Vorgaben hätten ihren unmittelbaren Grund in dem im Wettbewerb prämierten städtebaulichen Konzept. Dieses in einem Rahmenplan fortgeführte Konzept liege dem Bebauungsplan zugrunde. Sinn und Zweck sämtlicher Festsetzungen zu den jeweils obersten Geschossen sei die Beibehaltung dieses städtebaulichen Konzepts und damit eine gestalterische Absicht.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Ausnahmeregelung in Nr. 9.5 Abs. 2 der textlichen Festsetzungen genüge den Bestimmtheitsanforderungen. Die Festsetzung erlaube eine Ausnahme im Sinne von § 31 Abs. 1 BauGB von den Vorgaben der unter Nr. 9.4 getroffenen Festsetzung. Die Festsetzungen seien nicht in sich widersprüchlich. Die von dem Antragsteller in diesem Zusammenhang zitierte Rechtsprechung betreffe einen anderen Sachverhalt. Hier sei eindeutig ein Regel-/Ausnahmeverhältnis festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Auch der Einwand des Antragstellers, dass unklar bleibe, unter welchen Voraussetzungen Fenster, die geöffnet werden könnten, in Fassaden zulässig seien, verkenne den Regelungsgehalt der Nr. 9.5 Abs. 2 der textlichen Festsetzungen. Die Regelung ermögliche nicht die ausnahmsweise Zulassung solcher Fenster, wenn bestimmte Lärmpegel eingehalten würden. Voraussetzung für die ausnahmsweise Zulassung solcher Fenster sei vielmehr, dass der zu betrachtende Lärm nicht auf die fragliche Fassade einwirke. Auch bei Erteilung einer entsprechenden Ausnahme sei ausgeschlossen, dass die fragliche Fassade bei einer schalltechnischen Untersuchung als Immissionsort in Betracht komme.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller verkenne auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme nach Nr. 9.5 Abs. 2 der textlichen Festsetzungen. Danach könne nur dann von den Lärmschutzfestsetzungen abgewichen werden, wenn sichergestellt sei und durch einen Sachverständigen für den Schallschutz nachgewiesen werde, dass durch die Abweichung keine zusätzlichen Immissionsorte im Sinne der TA Lärm zu betrachten seien.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Grundlage für die Bewertung sei die TA Lärm. Hierbei handele es sich um eine rechtliche, eindeutige und objektive Grundlage. Ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme vorlägen, prüfe die Baugenehmigungsbehörde. Das zusätzliche Erfordernis eines Sachverständigengutachtens solle das fachliche Fundament der Ausnahmeentscheidung stützen. Die Regelung stelle darüber hinaus keine unzulässige Konfliktverlagerung dar, sondern sei Ausdruck des Grundsatzes der planerischen Zurückhaltung. Die sich bei der Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme stellenden Fragen könnten adäquat auf der Ebene des jeweiligen Baugenehmigungsverfahrens beantwortet werden. Darüber hinaus handele es sich nicht um eine Konfliktverlagerung, sondern um eine alternative Konfliktlösung, die unter bestimmten Voraussetzungen an die Stelle der Konfliktlösung in Nr. 9.4 der textlichen Festsetzungen gesetzt werden könne.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Auch die Ausnahmeregelung in Nr. 9.5 Abs. 3 der textlichen Festsetzungen sei nicht offensichtlich fehlerhaft. In Räumen für Büronutzungen oder für sonstige gewerbliche Nutzungen, deren Anspruch auf Schutz vor Lärm in der Nacht nicht höher sei als am Tag, seien Fenster, die geöffnet werden könnten, zulässig, sofern hierzu in der jeweiligen Baugenehmigung eine verbindliche Regelung als Nebenbestimmung getroffen werde, um gesunde Arbeitsverhältnisse sicherzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Wenn im nachgelagerten Baugenehmigungsverfahren jeweils sichergestellt werde, dass in den fraglichen Räumen zur Nachtzeit keine schutzwürdige Nutzung stattfinde und tagsüber die Immissionsrichtwerte der TA Lärm eingehalten würden, bestehe kein Grund, dem jeweiligen Bauherrn den Einbau von Fenstern, die geöffnet werden könnten, oder die Errichtung sonstiger Anlagen, die als Immissionsorte nach der TA Lärm in Betracht kämen, zu verweigern. Die Schutzziele der TA Lärm würden in einem solchen System erfüllt, ohne dass es – wie der Antragsteller vortrage – zu einer Relativierung des Schutzniveaus der TA Lärm komme. Die Untersagung der Nutzung des Gebäudes zur Nachtzeit durch eine entsprechende Auflage in der Baugenehmigung wirke faktisch dahingehend, dass seine Fassaden in der Nachtzeit – mangels irgendeiner schutzwürdigen Nutzung – nicht als maßgebliche Immissionsorte nach der TA Lärm zu betrachten seien.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Unwirksamkeit der Ausnahmeregelungen hätte jedenfalls keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans insgesamt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan beruhe auch nicht auf einer fehlerhaften Abwägung. Insbesondere seien die Lärmschutzbelange der Planbetroffenen nicht fehlerhaft ermittelt und abgewogen worden.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 10 D 9/20.NE und 10 B 519/20.NE sowie der beigezogenen Aufstellungsvorgänge (Beiakten Hefte 1 bis 7) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Antrag hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Er ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller ist als Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks nach § 47 Abs. 2 VwGO antragsbefugt.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist auch begründet.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Einzelne Festsetzungen des Bebauungsplans beruhen auf Rechtsfehlern, die zu seiner Unwirksamkeit insgesamt führen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Nr. 2.1 Abs. 1 der textlichen Festsetzung ist mangels Ermächtigungsgrundlage unwirksam. Sie beruht nicht auf § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO, wonach im Bebauungsplan festgesetzt werden kann, dass die Flächen von Aufenthaltsräumen in anderen Geschossen einschließlich der zu ihnen gehörenden Umfassungswände ganz oder teilweise mitzurechnen oder ausnahmsweise nicht mitzurechnen sind. Die Festsetzung geht über diese Ermächtigung hinaus, weil sie pauschal und ohne Einschränkungen sämtliche Geschossflächen aller oberirdischen Geschosse einbezieht, also auch die nicht für Aufenthaltsräume und ihre Umfassungswände bestimmten Flächen von Geschossen, die nicht Vollgeschosse sind.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Auffassung der Antragsgegnerin, eine Auslegung dieser Festsetzung führe zu dem eindeutigen Ergebnis, dass eine Berücksichtigung der Fläche von Geschossen, die nicht Vollgeschosse seien, nur in dem nach § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO größtmöglichen Maß erfolgen solle, um den in der Planbegründung ausgeführten Zielen zu entsprechen, findet weder im Wortlaut der Festsetzung noch in der Planbegründung einen Anhalt.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Auch die textlichen Festsetzungen unter Nr. 2.2 zur maximal zulässigen Zahl von Geschossen, die nicht Vollgeschosse sind, und zur Ausgestaltung des jeweils obersten Geschosses sind mangels Ermächtigungsgrundlage unwirksam.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Sie lassen sich nicht auf § 16 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO stützen, wovon offenbar auch die Antragsgegnerin ausgeht. Die Vorschrift ermöglicht lediglich eine Festsetzung zur Zahl der Vollgeschosse. Weitere planerische Festsetzungen sind in diesem Zusammenhang weder vorgesehen noch angesichts des abschließenden Charakters der Regelung möglich. Vielmehr ist der Begriff des Vollgeschosses ausdrücklich der Definition durch landesrechtliche Vorschriften überlassen (§ 20 Abs. 1 BauNVO). Durch diese Verweisung auf das Landesrecht hat der Verordnungsgeber den Gemeinden, soweit das Bundesrecht reicht, jede abändernde bauplanerische Festsetzung versagt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 1991 – 4 NB 22.91 –, juris, Rn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 29. März 2006 – 10 B 1908/05.NE –, juris, Rn. 11 f.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzungen unter Nr. 2.2 finden ihre Rechtsgrundlage auch nicht in § 89 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 1 BauO NRW.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Das Bauordnungsrecht lässt danach Festsetzungen in Bebauungsplänen nur als besondere Anforderungen an die äußere Gestaltung baulicher Anlagen zur Erhaltung und Gestaltung von Ortsbildern zu. Darum geht es hier nicht.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzungen unter Nr. 2.2 betreffen nicht die äußere Gestalt des jeweils obersten Geschosses oder des gesamten Gebäudes, sondern begrenzen die Zahl der Geschosse, die keine Vollgeschosse sind, und bestimmen insbesondere das Flächenmaß des jeweils obersten Geschosses im Verhältnis zu dem Flächenmaß des darunterliegenden Geschosses.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Dem Landesgesetzgeber ist die Regelung des Bauordnungsrechts vorbehalten. Hierzu zählt nicht bloß die Abwehr von Gefahren, die der Allgemeinheit oder dem Einzelnen von baulichen Anlagen drohen. Das Bauordnungsrecht darf, soweit dies im Rahmen einer Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zulässig ist, auch zur Wahrung ästhetischer Belange nutzbar gemacht werden. Dies schließt neben der Abwehr von Verunstaltungen eine positive Gestaltungspflege ein. Den Gemeinden ist es auf landesrechtlicher Grundlage unbenommen, über die äußere Gestaltung einzelner baulicher Anlagen das örtliche Erscheinungsbild insgesamt zu beeinflussen, etwa durch Vorschriften, die es ermöglichen, ein Orts- oder Straßenbild je nach den gestalterischen Vorstellungen der jeweiligen Gemeinde zu erhalten oder umzugestalten. Regelungen, die der Gesetzgebungskompetenz der Länder entzogen sind, können dagegen nicht Gegenstand örtlicher Bauvorschriften sein. Dies gilt auch im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, soweit der Bundesgesetzgeber von seiner Kompetenz verfassungsgemäßen Gebrauch gemacht hat (Art. 72 GG). Hierzu gehört beispielsweise das Bodenrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG, das der Bundesgesetzgeber insbesondere im Baugesetzbuch kodifiziert hat. Dieses Gesetz regelt die rechtlichen Beziehungen zum Grund und Boden und bestimmt, in welcher Weise der jeweilige Eigentümer sein Grundstück nutzen darf. Nicht zuletzt über die Vorschriften, die die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstücksfläche betreffen, leistet auch das Städtebaurecht als Teil des Bodenrechts einen Beitrag zur Gestaltung des Ortsbildes (§ 1 Abs. 5 Satz 2, § 34 Abs. 1 Satz 2 und § 35 Abs. 3 BauGB). Das städtebauliche Instrumentarium reicht unter diesem Blickwinkel indes nur soweit, wie das Baugesetzbuch entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Zur bodenrechtlichen Gestaltung des Ortsbildes steht der Gemeinde der in § 9 Abs. 1 BauGB abschließend umschriebene Festsetzungskatalog zur Verfügung. Gestaltungsvorschriften, die hierüber hinausgehen, ohne den Grund und Boden unmittelbar zum Gegenstand rechtlicher Ordnung zu haben, stehen dem landesrechtlichen Bauordnungsrecht offen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 1997 – 4 NB 15.97 –, juris, Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Senat keine Zweifel, dass die Regelungen in den textlichen Festsetzungen unter Nr. 2.2 bodenrechtlicher Natur sind und ihrem sachlichen Gehalt nach nicht dem Bauordnungsrecht zugeordnet werden können.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dafür, dass dies auch der Rat so gesehen hat, spricht bereits, dass die Festsetzungen auf der Planurkunde bei den Regelungen zum Maß der baulichen Nutzung stehen. Auch nach der Planbegründung steht außer Frage, dass die besagten Festsetzungen bodenrechtlichen Charakter haben. Auf Seite 104 f. sind sie dort unter 4.7.2 „Geschossflächenzahl (GFZ), oberste Geschosse“ erläutert und danach durch den Wunsch motiviert, das im städtebaulichen Wettbewerb prämierte Konzept, das dem Bebauungsplan zugrunde liegt, umzusetzen. Das Konzept sehe aus „städtebaulichen Gründen“ oberste Geschosse vor, die abhängig von der jeweiligen „städtebaulichen Situation“ von den Außenwänden der darunter liegenden Geschosse ganz oder in Teilen zurücksprängen. Insoweit verfolge der Bebauungsplan das Ziel, nach der Änderung des Begriffs des Vollgeschosses in der Bauordnung Nordrhein-Westfalen, die Art und den Umfang der obersten Geschosse, die keine Vollgeschosse seien, eindeutig zu bestimmen und deren Grundflächen bei der Berechnung der GFZ zu berücksichtigen. So solle die „städtebauliche Struktur“ dem Ergebnis des städtebaulichen Wettbewerbs entsprechend ermöglicht und gestalterisch gesichert sowie die Geschossfläche im Plangebiet gesteuert beziehungsweise begrenzt werden. Dazu heißt es in der Planbegründung unter anderem, dass die festgesetzten Rücksprünge der Außenwände des jeweiligen obersten Geschosses von den Außenwänden des jeweils darunter liegenden Geschosses „auf die städtebauliche Situation“ Bezug nähmen, um die neue Bebauung in den Bestand einzubinden, verträgliche Übergänge zu schaffen und gut nutzbare Terrassen für die Wohnungen in den obersten Geschossen zu ermöglichen. Weiter ist die Rede von der Sicherung der Art der Bebauung und des sich hierdurch ergebenden räumlichen Gefüges in den geplanten Wohnstraßen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auch nach dem Verlauf des Aufstellungsverfahrens und dem Inhalt der Planbegründung ist offenkundig, dass der Rat, nachdem er erkannt hatte, dass weder das Baugesetzbuch noch die Baunutzungsverordnung eine Ermächtigungsgrundlage für die in Rede stehenden Festsetzungen bieten, versucht hat, im Gewande bauordnungsrechtlicher Gestaltungsvorschriften bodenrechtliche Regelungen zu treffen. Dies folgt nicht nur aus der zitierten Planbegründung und daraus, dass er die bauordnungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage nachträglich in den Abschnitt der auf der Planurkunde aufgedruckten textlichen Festsetzungen eingefügt hat, der das Maß der baulichen Nutzung betrifft, sondern auch daraus, dass die eigentlichen gestalterischen Festsetzungen unter anderem zur Dachgestaltung auf der Planurkunde in einem eigenen Abschnitt stehen und in der Planbegründung ausdrücklich als solche auf den Seiten 183 ff. erläutert sind.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg verweist die Antragsgegnerin demgegenüber auf einzelne Formulierungen in der Plangebegründung, in denen von „gestalterisch zu sichern“ oder von „mit den obersten Geschossen beabsichtigten architektonischen Qualitäten“ die Rede ist. Einzelne gestalterische Aspekte, die mit den textlichen Festsetzungen unter Nr. 2.2 im Ergebnis verbunden sein mögen, lassen den wie oben aufgezeigt eigentlichen bodenrechtlichen Bezug dieser Festsetzungen nicht entfallen. Wie bereits das Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Beschluss ausgeführt hat, kann auch das Städtebaurecht einen gewissen Beitrag zur Gestaltung des Ortsbildes leisten.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls die Unwirksamkeit der textlichen Festsetzungen unter Nr. 2.2 führt zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans insgesamt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Unwirksamkeit einzelner Festsetzungen eines Bebauungsplans führt nur dann nicht zu seiner Unwirksamkeit insgesamt, wenn die übrigen Festsetzungen für sich betrachtet noch eine den Anforderungen des § 1 BauGB gerecht werdende sinnvolle städtebauliche Ordnung bewirken können und wenn zusätzlich der Rat nach seinem im Planverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen im Zweifel auch einen Bebauungsplan dieses eingeschränkten Inhalts beschlossen hätte.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. März 1993 – 4 BN 10.91 –, BRS 55 Nr. 30.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Zwar mag der Bebauungsplan auch ohne die Festsetzungen unter Nr. 2.2 noch eine städtebauliche Ordnung bewirken, doch lässt sich nicht feststellen, dass der Rat einen Bebauungsplan auch ohne sie beschlossen hätte. Sie gehören zu den Grundzügen der Planung, was letztlich auch die Ausführungen der Antragsgegnerin im Normenkontrollverfahren zur Umsetzung des Ergebnisses des städtebaulichen Wettbewerbs bestätigen.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen merkt der Senat für ein etwaiges Heilungsverfahren an:</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Zweifelhaft erscheint bereits, ob die Festsetzung Nr. 9.1 wirksam ist, soweit dort allgemein von technischen Vorkehrungen die Rede ist, die entsprechend der jeweils bei Einreichung des Bauantrags als technische Baubestimmung dann gültigen baurechtlich eingeführten Fassung der DIN 4109 vorzusehen sind.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Soweit mit dieser Festsetzungen künftige Fassungen der DIN 4109 zum geltenden Satzungsrecht erhoben werden sollen, bestehen nicht nur unter dem Gesichtspunkt rechtsstaatlicher Publizität von Normen Bedenken. Weder der Rat noch ein Normadressat weiß oder kann erkennen, welche technischen Vorkehrungen künftig einmal von dieser Festsetzung erfasst sein könnten.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung Nr. 9.3.1 zur Höhe der Lärmschutzwand zum Schutz der Wohnnutzung im südlichen Baufenster des WA 5 ist nicht unbestimmt, obwohl der Rat lediglich ihre Mindesthöhe festgesetzt hat. Der Senat hält hierzu an seinen Ausführungen im Beschluss vom 25. Juni 2020 – 10 B 519/20.NE – im Wesentlichen fest. Soweit das Fehlen einer Festsetzung zur maximal zulässigen Höhe theoretisch die Errichtung einer Lärmschutzwand zulässt, deren Höhe die festgesetzte Mindesthöhe von 6,0 m deutlich übersteigt, ist dies bei näherer Betrachtung kein Aspekt der Bestimmtheit, sondern betrifft die Abwägung, weil eine Überschreitung der Mindesthöhe die Nutzung der angrenzenden Grundstücke, etwa durch Schattenwurf, stärker negativ beeinflussen könnte. Allerdings ist mit einer solchen deutlich höheren Lärmschutzwand bei realistischer Betrachtung tatsächlich nicht zu rechnen, denn die Errichtung von Lärmschutzwänden verursacht abhängig von ihrer Höhe und Länge erhebliche Kosten, sodass es ausgeschlossen erscheint, dass hier die künftige Lärmschutzwand die für den Lärmschutz gebotene Mindesthöhe wesentlich überschreiten wird. Auch die Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit des Höhenverlaufs der Lärmschutzwand zwischen den in der Planurkunde dargestellten Punkten C und D teilt der Senat nicht. Anhand der jeweils festgesetzten Mindesthöhen für den Anfangs- und den Endpunkt des fraglichen Wandabschnitts und unter Berücksichtigung der Beschreibung in der textlichen Festsetzung Nr. 9.3.1, wonach der Wandabschnitt von der festgelegten Mindesthöhe auf die geplante Geländehöhe „abfallen“ muss, lässt sich der Höhenverlauf der Lärmschutzwand in diesem Wandabschnitt noch hinreichend klar abschätzen, zumal die Planung und Ausführung der übrigen Bebauung nicht unmittelbar von dem genauen Höhenverlauf abhängig sind. Die Festlegung des konkreten Neigungswinkels oder der konkreten Neigungswinkel der Oberkante des Wandabschnitts bei einer gestuften Gestaltung kann insoweit der Baugenehmigung vorbehalten bleiben, zumal das schalltechnische Gutachten, auf dessen Vorschlag die Festsetzung der Lärmschutzwand zurückzuführen ist, davon ausgeht, dass die Wand in dem fraglichen Bereich linear abfällt. Gleichwohl ist der Antragsgegnerin anzuraten, bei einer eventuellen Heilung der aufgezeigten Fehler des Bebauungsplans auch die Festsetzungen zu der Lärmschutzwand nochmals in den Blick zu nehmen.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die auf § 9 Abs. 2 BauGB gestützte textliche Festsetzung Nr. 9.3.2 dürfte hinreichend bestimmt sein, weil sich deren Inhalt – wie der Senat ebenfalls in dem zitierten Eilbeschluss ausgeführt hat – ohne Weiteres im Wege der Auslegung ermitteln lässt. Soweit in der Festsetzung von dem östlichen Gebäude des WA 1.2 und von den darin nach Osten ausgerichteten Aufenthaltsräumen die Rede ist, kann nach der Lage der festgesetzten Baufenster im WA 1.2 und des angrenzenden Mischgebiets sowie der als Auslegungshilfe heranzuziehenden Begründung des Bebauungsplans und des dort ausdrücklich in Bezug genommenen schalltechnischen Gutachtens nicht zweifelhaft sein, dass insoweit die Bebauung im östlichen Baufenster des WA 1.2 und die Aufenthaltsräume mit Fenstern in der den Lärmquellen auf dem Grundstück des Antragstellers zugewandten östlichen Fassade des geplanten Baukörpers gemeint sind. Entsprechendes gilt für die ebenfalls noch hinreichend klare Formulierung: „Bebauung, entlang der Südost- und Südwestseite der überbaubaren Grundstücksfläche, die parallel zur H.‑straße liegt“. Bei sachbezogener Betrachtung erschließt sich, dass damit – wie die Antragsgegnerin dargelegt hat – der straßenseitige Riegel des L-förmigen Baufeldes im festgesetzten Mischgebiet angesprochen ist.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Auch die Kritik, dass die Festsetzungen unter Nr. 9.5 zu Abweichungen von dem Lärmschutzkonzept widersprüchlich und unbestimmt seien, überzeugt nicht.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller wendet sich gegen die textliche Festsetzung Nr. 9.5 Abs. 2, wonach von den Lärmschutzfestsetzungen in Nr. 9.4 Sätze 1 und 2 abgewichen werden kann, wenn sichergestellt und durch Sachverständige für Schallschutz nachgewiesen wird, dass in den unter Nr. 9.4 definierten Bereichen keine Immissionsorte im Sinne der TA Lärm entstehen. Nach der Planbegründung soll die Regelung die spätere Berücksichtigung etwaiger neuer bautechnischer Entwicklungen ermöglichen. Die Antragsgegnerin versteht die Festsetzung dementsprechend so, dass für bauliche Konstruktionen an einer Fassade, die bei einer Beurteilung nach der TA Lärm nicht die Voraussetzungen für die Annahme eines dort gelegenen Immissionsortes erfüllten, eine Ausnahme in Betracht kommen solle. Deshalb trifft der Einwand, diese Festsetzung sei widersprüchlich, weil sie die nach Nr. 9.4 der textlichen Festsetzungen ausgeschlossenen Fenster, die geöffnet werden könnten, wieder zulasse, so nicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die textliche Festsetzung Nr. 9.5 Abs. 3, wonach von den Lärmschutzfestsetzungen in Nr. 9.4. Abs. 2 insoweit abgewichen werden kann, als ausnahmsweise Fenster, die sich öffnen lassen, und sonstige Öffnungen in Büroräumen und sonstigen schutzbedürftigen Arbeitsräumen zugelassen werden können, wenn in der für das Gebäude erteilten Baugenehmigung verbindliche Nebenbestimmungen einen für gesunde Arbeitsverhältnisse ausreichenden Schallschutz sicherstellen, dürfte wirksam sein.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Die Regelung basiert auf der Annahme, dass dort der maßgebliche Immissionsrichtwert für Mischgebiete nach den gutachterlichen Feststellungen tagsüber eingehalten wird. Vor diesem Hintergrund will der Rat lediglich für Räume, in denen Nutzungen stattfinden sollen, die keinen erhöhten Schutz für die Nachtzeit benötigen, den Einbau von Fenstern, die geöffnet werden können, und von sonstigen Öffnungen als eine Ausnahme etwa als Ergebnis einer Sonderfallprüfung entsprechend Nr. 3.2.2 der TA Lärm ermöglichen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Der Einwand des Antragstellers, die TA Lärm sei als normative Konkretisierung des gesetzlichen Maßstabs für die Schädlichkeit von Geräuschen insoweit abschließend, als sie bestimmten Gebietsarten und Tageszeiten entsprechend der daraus abgeleiteten Schutzbedürftigkeit der in dem jeweiligen Gebiet zulässigen Nutzungen bestimmte Immissionsrichtwerte zuweise und das Verfahren zur Ermittlung und Beurteilung der in dem Gebiet zu erwartenden Geräuschimmissionen vorschreibe, überzeugt nicht. Weist der Bauherr in einem konkreten Genehmigungsverfahren nach, dass der aus der TA Lärm abgeleitete Schutzanspruch der zur Genehmigung gestellten Nutzung gewährleistet ist, weil diese Nutzung zu der allein kritischen Nachtzeit gar nicht stattfindet, ist die Erteilung einer entsprechenden Baugenehmigung auf der Grundlage der Ausnahmeregelung nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Das von dem Antragsteller insoweit zitierte Urteil des OVG NRW vom 30. Januar 2018 – 2 D 102/14.NE –, juris, Rn. 188 ff., betrifft eine andere Fallgestaltung. Im Übrigen heißt es in dem zitierten Urteil unter Rn. 201, dass es eine andere Frage sei, ob insbesondere für Büroräume im Einzelfall eine Sonderfallprüfung nach Nr. 3.2.2 angezeigt sein und dabei festgestellt werden könne, dass sie auch nachts nur den ihnen für die Tagzeit zukommenden Schutzanspruch hätten.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Kuchler, Immissionsschutzrechtlicher Schutzanspruch von Büroräumen zur Nachtzeit, jurisPR-UmwR 5/2019, Anm. 3 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Der Bebauungsplan beruht wohl auch nicht auf beachtlichen Fehlern bei der nach § 1 Abs. 7 BauGB gebotenen Abwägung.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 1 Abs. 7 BauGB sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Das Abwägungsgebot umfasst als Verfahrensnorm das Gebot zur Ermittlung und Bewertung des Abwägungsmaterials (§ 2 Abs. 3 BauGB) und stellt inhaltlich Anforderungen an den Abwägungsvorgang und an das Abwägungsergebnis. Es ist verletzt, wenn eine sachgerechte Abwägung überhaupt nicht stattfindet, wenn in die Abwägung Belange nicht eingestellt werden, die nach Lage der Dinge hätten eingestellt werden müssen, wenn die Bedeutung der betroffenen Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens ist dem Abwägungserfordernis genügt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde im Widerstreit verschiedener Belange für die Bevorzugung des einen und damit notwendigerweise für die Zurückstellung des anderen Belangs entscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. September 2015 – 10 D 82/13.NE –, juris, Rn. 30.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Der von dem Antragsteller geltend gemachte Abwägungsmangel im Hinblick auf eine unzureichende Ermittlung möglicher Gewerbelärmimmissionen im Plangebiet erscheint unter Berücksichtigung der konkreten Umstände der Planung fernliegend. Der Antragsteller macht geltend, der Rat habe nicht berücksichtigt, dass zu den Immissionen aus dem Gewerbegebiet auch solche aus dem Mischgebiet hinzutreten könnten. Der Senat teilt die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass der im festgesetzten Mischgebiet künftig zulässigerweise erzeugte Gewerbelärm eine Erhöhung der Lärmimmissionswerte in den angrenzenden Wohngebieten vermutlich nicht bewirken wird. Im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses hatte der Rat keinerlei konkrete Kenntnisse über künftige gewerbliche Nutzungen im Mischgebiet. Solche künftigen Nutzungen müssen entsprechend der festgesetzten Gebietsart wohnverträglich sein. Sollten bei der geplanten Ansiedlung eines Gewerbebetriebs etwa wegen einer Zusammenrechnung des mit dem Betrieb verbundenen Lärms und des aus dem Gewerbegebiet stammenden Lärms insoweit Zweifel aufkommen, könnte ein etwaig zu erwartender immissionsschutzrechtlicher Konflikt im Baugenehmigungsverfahren gelöst werden. Dass dies nicht möglich sein könnte, vermag der Senat nicht zu erkennen.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen macht der Antragsteller zu Unrecht geltend, der Rat habe nicht berücksichtigt, dass den Gewerbebetrieben auf seinem Grundstück die Möglichkeit genommen werde, lärmtechnische Optimierungen der Betriebsabläufe vorzunehmen, um gegebenenfalls die von dort ausgehende Immissionsbelastung für die Wohnbebauung südlich der H.‑straße zu verringern. Es bestehen nach dem bisherigen Sach- und Streitstand, nachdem der Betrieb offenbar mehrere Jahrzehnte ohne Beanstandungen geblieben ist, schon keine Anhaltspunkte für die geltend gemachte Gefahr betriebseinschränkender Anordnungen wegen der auf den angesprochenen Wohngrundstücken verursachten Immissionen. Im Übrigen hält der Senat die Verlagerung betrieblicher Tätigkeiten auf dem Grundstück des Antragstellers aus den bereits in der Antragserwiderung dargelegten Erwägungen für vage und unrealistisch, sodass sie bei der Abwägungsentscheidung nicht berücksichtigt zu werden brauchten.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
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<p>Der Beklagte wird verpflichtet – unter Aufhebung des Bescheides vom 20.05.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 18.09.2020 – die Erbschaftsteuerfestsetzung nach dem Ehemann der Klägerin dahingehend zu ändern, dass das Grundstück G1 in […] L-Stadt lediglich mit 15 v. H. des festgestellten Werts angesetzt wird.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Tatbestand</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin begehrt die Änderung der Erbschaftsteuerfestsetzung nach ihrem Ehemann dahingehend, dass historischer Grundbesitz in L-Stadt nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) im Umfang von 85 v. H. des Wertes als steuerfrei berücksichtigt wird.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 31.12.2013 verstarb der Ehemann der Klägerin, Herr K. B.. Seine alleinige Erbin, seine Tochter Frau T. B., war nach seinen letztwilligen Verfügungen mit diversen Vermächtnissen und Auflagen zugunsten der Klägerin belastet. Nach dem Tod des Erblassers stritten die Klägerin und die Erbin über den Inhalt der umfangreichen Testamente des Erblassers. Sie schlossen am 12.11.2015 einen notariellen Erbvergleichsvertrag (UR xxx des Notars I. T. in Hannover). Demnach sollte die Klägerin u.a. das Eigentum am streitgegenständlichen Objekt, der Immobilie G1 in […] L-Stadt, erhalten. Die „Übergabe des Immobilieneigentums“ sollte mit dem Tag des Vertragsschlusses erfolgen; die Schlüssel sollten am 30.11.2015 übergeben werden (1. Teil, A., II. des Erbvergleichsvertrags). Die Klägerin und die Erbin erklärten, sie seien sich einig, dass der wirtschaftliche Wert der Regelungen des Erbvergleichs dem wirtschaftlichen Wert der testamentarischen Erblasseranordnungen entspreche (Nr. 6 der Präambel des Erbvergleichsvertrags) und verzichteten auf ihr Anfechtungsrecht hinsichtlich des Vertrages (3. Teil, Nr. 3 des Erbvergleichsvertrags). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Vertragstext Bezug genommen. Die Eigentumsumschreibung von der zunächst als Eigentümerin des Grundstücks eingetragenen Erbin auf die Klägerin erfolgte am 11.01.2016.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das streitgegenständliche Objekt ist ein Grundstück, das mit einem sog. Uthländischen Haus, einem reetgedeckten authentischen Friesenhaus aus dem 17. Jahrhundert, bebaut ist. Es steht […] seit seiner Eintragung in das Denkmalbuch des Bundeslandes A am 00.00.1987 unter Denkmalschutz und ist in die Denkmalliste eingetragen. Das Landesamt für Denkmalpflege Bundesland A klassifiziert es als geschütztes Kulturdenkmal im Sinne des Denkmalschutzgesetzes des Landes; der Schutzumfang erstreckt sich auf das gesamte Gebäude mit Gartengrundstück und Steinwällen (Schreiben des Landesamtes für Denkmalpflege Bundesland A vom 13.12.2019). Seit Januar 2019 finden für die interessierte Öffentlichkeit Führungen durch das Objekt statt, die u.a. über die Internetpräsenz des Tourismus-Service L-Stadt für 10 EUR pro Person gebucht werden können.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Gemeinde die Grundsteuer für die Jahre 2019 und 2020 jeweils nach § 32 Abs. 1 des Grundsteuergesetzes erlassen hatte, ist sie mittlerweile dauerhaft erlassen worden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Bereits in einem früheren Klageverfahren wegen Erbschaftsteuer nach ihrem verstorbenen Ehemann (FG Münster, Az. 3 K 997/17 Erb) hatte die Klägerin die partielle Steuerfreiheit des streitgegenständlichen Objekts begehrt und dargetan, es solle der Volksbildung zugänglich gemacht werden. Hierzu hatte sie im Februar 2017 dem Beklagten Schriftverkehr mit dem Museumsleiter des gemeinnützigen Heimatvereins T ab Oktober 2016 vorgelegt, in dem es u.a. um öffentliche Führungen durch das Haus ging. In einem Telefonat vom 23.01.2017 hätten die Kanzleianwältin und der Museumsleiter nähere Details hinsichtlich Bestuhlung, Wandgestaltung, Grundausstattung für Catering und Info-Flyer erörtert. Im Juni 2017 hatte sie über weiterhin laufende Verhandlungen mit dem Verein berichtet und angekündigt, falls eine Überlassung an diesen nicht zustande kommen sollte, würde sie das Grundstück anderweitig der Volksbildung zur Verfügung stellen, beispielsweise über den Denkmalfonds Bundesland A.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Finanzamt vertrat in der damaligen Klageerwiderung vom 15.08.2017 die Auffassung, die Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG sei nicht zu gewähren, weil das Objekt „zeitnah“ für Zwecke der Forschung und Volksbildung zur Verfügung gestellt werden müsste. Die geforderte Nutzbarmachung sei nicht absehbar. Im damaligen Erörterungstermin vom 23.08.2018 berichtete die Klägerin, die Verhandlungen mit dem Heimatverein und anderen Trägern seien gescheitert. Man habe das vormals stark verwilderte Objekt zum Mai 2018 wieder hergerichtet und begehbar gemacht. Weitere Verhandlungen mit Museumsträgern etc. habe man vor dem Hintergrund der Äußerungen des Finanzamts auf Eis gelegt, weil man im Erörterungstermin erst einmal habe klären wollen, ob entsprechende Maßnahmen überhaupt noch zu der begehrten partiellen Steuerbefreiung führen könnten. Das Klageverfahren 3 K 997/17 Erb endete durch beiderseitige Erledigungserklärungen mit nachfolgender Kostenentscheidung. Die Erbschaftsteuerfestsetzung wurde, wie im Erörterungstermin besprochen, im geänderten Bescheid vom 05.10.2018 wegen der Frage der Steuerermäßigung des streitgegenständlichen Objekts bis zum 31.12.2018 für vorläufig erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 23.08.2018 (Az. 3 K 997/17 Erb) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 19.12.2018 beantragte die Klägerin die Änderung der Erbschaftsteuerfestsetzung dahingehend, dass das streitgegenständliche Objekt gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG als zu 85 v. H. steuerfrei berücksichtigt werden sollte. Es sei zu Zwecken der Forschung oder Volksbildung in Eigenregie nutzbar gemacht worden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 19.12.2018 an den Beklagten Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Am 02.09.2019 änderte der Beklagte die Erbschaftsteuerfestsetzung für die Klägerin gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und setzte das streitgegenständliche Objekt gemäß dem geänderten Feststellungsbescheid des Finanzamts X vom 21.06.2019 mit einem Wert von 2.840.000 EUR an.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte lehnte im Erbschaftsteuerbescheid vom 20.05.2020 die am 19.12.2018 beantragte Änderung der Erbschaftsteuerfestsetzung ab. Wegen der fehlenden Zeitnähe der Nutzung der Immobilie zu Zwecken des Denkmalschutzes zum Erbfall (Besteuerungszeitpunkt 31.12.2013) könne eine Steuerbefreiung nicht gewährt werden. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In der Einspruchsentscheidung vom 18.09.2020 setzte der Beklagte „unter Änderung des Bescheides vom 20.05.2020“ die Erbschaftsteuer auf dieselbe Summe (2.326.237 EUR) wie im angefochtenen Bescheid vom 20.05.2020 fest. Er führte aus, der Bescheid werde hinsichtlich der Ermittlung des steuerpflichtigen Erwerbs geändert, weil der Grundbesitzwert für das Objekt L-Stadt, G1, statt mit 2.840.000 EUR mit 3.201.089 EUR angesetzt worden sei. Eine Änderung der festgesetzten Erbschaftsteuer ergebe sich dadurch jedoch nicht.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die partielle Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG gewährte der Beklagte weiterhin nicht. Er erläuterte hierzu, dass eine zeitnahe Nutzbarmachung des Objektes für die Öffentlichkeit nicht nachgewiesen worden sei. Die Klägerin habe mit dem Vergleichsvertrag vom 12.11.2015 Kenntnis von dem Erhalt des Hauses erlangt und hätte ab diesen Zeitpunkt entsprechende Maßnahmen einleiten müssen. Vor Ablauf der sechsmonatigen Frist habe sie keine konkreten Maßnahmen ergriffen, um das Objekt der Volksbildung zugänglich zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Es reiche nicht aus, dass die steuerliche Beraterin in einem Telefonat mit dem Beklagten am 12.05.2016 erklärt habe, sie habe vom Tourismusbüro L-Stadt erfahren, es werde eine Ortsbesichtigung angeboten, in die das Objekt einbezogen werden könne. Auch der mit Schriftsatz vom 12.05.2016 vorgelegten Internetseite über die von G. F. angebotene Dorfführung sei nicht zu entnehmen, dass das Grundstück während der Tour innen und außen besichtigt werden könnte.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Einleitung der Verhandlungen mit dem Heimatverein wäre auch bei Zustandekommen des Vertrages, dessen für den 27.04.2017 angekündigte Unterzeichnung gescheitert sei, nicht innerhalb der 6 Monate erfolgt und damit verspätet gewesen. Die Nutzbarmachung ab dem 19.12.2018, d.h. 3 Jahre nach Abschluss des Vergleichsvertrags, sei nicht mehr zeitnah. Auch wenn die Absicht früher bestanden habe, hätte sich die Klägerin um einen kurzfristigeren Abschluss der Verhandlungen bemühen müssen. Die von ihr angekündigte Abhandlung über das Armenwesen und Armenhäuser sei nicht erstellt worden.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte legte ferner dar, aus der Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks in den Erbschaftsteuerbescheid nach dem Erörterungstermin am 23.08.2018 (3 K 997/17 Erb) folge nichts anderes. Die dort getroffene Vereinbarung bedeute nicht, dass bei einer Nutzbarmachung des Objekts für Zwecke der Volksbildung bis zum 31.12.2018 automatisch die Steuerbefreiung zu gewähren sei. Die Vorläufigkeit sei aufgenommen worden, um den Sachverhalt und die rechtlichen Auswirkungen in dem streitigen Punkt noch einmal prüfen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mit ihrer am 19.10.2020 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Das streitgegenständliche Objekt sei lediglich mit 15 v. H. des feststellten Grundbesitzwertes als steuerpflichtig anzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Bereits im Zeitpunkt des Erörterungstermins vom 23.08.2018 habe festgestanden, dass das Grundstück den Regelungen des Denkmalschutzes unterlegen habe. Hätte eine Nutzbarmachung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als zeitnah angesehen werden können, wäre die Aufnahme der Regelung zur Vorläufigkeit unsinnig gewesen. Die erzielte Einigung habe sich auf den Sachverhalt „Nutzbarmachung bis zum 31.12.2018“ bezogen, nicht auf eine Rechtsfrage.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das vom Beklagten in Bezug genommene BFH-Urteil vom 12.05.2016 (II R 56/14, BStBl. II 2020, 500) lasse den Rückschluss nicht zu, dass die Nutzbarmachung von Kunstgegenständen nur dann zu einer Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG führe, wenn diese innerhalb eines halben Jahres erfolge. Die Entscheidung des BFH sei zu § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. b Doppelbuchst. aa ErbStG ergangen. Diese Vorschrift stelle im Unterschied zum hier relevanten § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG auf eine Bereitschaft als innere Tatsache ab, die nur durch Indizien zu beweisen sei. Vorliegend komme es indes nur auf die Nutzbarmachung an, welche spätestens im Dezember 2018 erfolgt sei.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die jährlichen Kosten überstiegen in der Regel die Einnahmen. Das Objekt werde nicht vermietet und könne angesichts der erheblichen Anzahl von Besichtigungsterminen auch nicht vermietet werden. Die Einnahmen aus den Führungen würden der Tafel L-Stadt gespendet. Der (theoretische) Jahresmietwert des Objekts betrage bestenfalls 34.761 EUR (171 qm x 16,94 EUR pro qm x 12 Monate). Die Betriebskosten hätten sich im jährlichen Mittel der Jahre 2016 bis 2019 auf rund 22.243 EUR belaufen (2016: rund 16.489 EUR; 2017: rund 20.341 EUR; 2018: rund 18.589 EUR; 2019: rund 33.557 EUR). Zu berücksichtigen sei ferner eine jährliche Abschreibung von 64.350 EUR (2.574.000 EUR x 2,5 v.H.); zuzüglich zu den ursprünglichen anteiligen Anschaffungskosten für das Gebäude von 574.000 EUR seien für die Kernsanierung im Jahr 2004 insgesamt 2.000.000 EUR als nachträgliche Herstellungskosten angefallen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das nach dem Tod des Erblassers leer stehende Objekt sei bis zum Frühjahr 2017 nicht gepflegt gewesen, danach habe man es nach und nach umfassend instand gesetzt. Der Garten sei verwildert gewesen; es habe die Gefahr bestanden, dass weitere Bäume umstürzen könnten. Der Hauseingang und die Zuwegungen seien unpassierbar überwuchert gewesen. Mauerwerk, Dach und Fenster seien durch starken Efeubewuchs beschädigt gewesen. Die Heizungsanlage sei defekt und der Keller durch Schimmel und Feuchtigkeit geschädigt gewesen. Im Wohnbereich seien sich ablösende Wandkacheln, aufgesprengte Holzfußböden und freiliegende Rohre repariert worden, ebenso die Elektrik.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Idee, das Objekt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sei entstanden, als die Klägerin realisiert habe, dass die nach dem Vergleichsvertrag entstandene Erbschaftsteuer – anders als es in den diversen Testamenten ihres Ehemannes vorgesehen gewesen sei – nicht vom Nachlass, sondern von ihr selbst zu tragen sein würde. Ein genaues Datum könne sie hierzu nicht mehr nennen. Sie habe aber den Vergleichsvertrag im Dezember 2016 angefochten, weil sie sich getäuscht gesehen habe über die sich daraus für sie ergebenden erbschaftsteuerlichen Belastungen. Nach vertiefter rechtlicher Prüfung habe sie die Anfechtung indes nicht mehr fortgeführt, weil ein Gerichtsstreit aussichtlos gewesen wäre. Eine Übereinkunft mit dem Heimatverein sei im Frühjahr 2017 gescheitert, weil dieser erhebliche Forderungen zur Eigennutzung gestellt und sich gleichzeitig geweigert habe, ein konkretes Nutzungskonzept zur Vorlage beim Beklagten beizubringen. Eine Aufnahme des Objekts in dessen Führungen habe G. F. abgelehnt. Da das beklagte Finanzamt schon zu einem frühen Zeitpunkt in dem vorherigen Gerichtsverfahren die Auffassung vertreten habe, eine etwaige Nutzbarmachung für die Öffentlichkeit könne wegen Zeitablaufs nicht mehr zu einer partiellen Steuerbefreiung des Objekts führen, habe man, nachdem im Erörterungstermin klar geworden sei, dass eine Zugänglichmachung auch in Eigenregie erfolgen könne, diesen zum Anlass genommen, sich verstärkt und letztlich erfolgreich um die Nutzbarmachung in dieser Form bemüht.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Das Objekt sei bis Dezember 2018 in Eigenregie mit Hilfe der Ressourcen des Tourismus-Service L-Stadt für die Öffentlichkeit nutzbar gemacht worden. An der Eingangspforte sei ein Schild angebracht worden, das die Zeiten öffentlicher Führungen, deren Buchungsmöglichkeiten und die Möglichkeiten individueller Führungen erkennen lasse. Im Jahr 2019 hätten in mehr als 40 Kalenderwochen Führungen stattgefunden. Auf der offiziellen Homepage der Stadt L-Stadt ([…]) und auf der Homepage für das Objekt ([…]) würden diese Führungen beworben, ebenso durch Plakate und Flyer in den Vorverkaufsstellen und Touristen-Informationen des Tourismus-Service auf ganz L-Stadt. Sämtliche Führungen an den festen Terminen würden über den offiziellen Tourismus-Service der Insel abgewickelt. Im Jahr 2020 hätten jedenfalls bis Februar 2020 nachweislich Führungen stattgefunden; nach dem Lockdown im März 2020 hätten sie den Coronabeschränkungen unterlegen. Im Jahr 2021 seien coronabedingt gelegentlich Einzelführungen durchführt worden, seit Februar 2022 hätten wieder vermehrt Führungen stattgefunden. Die Klägerin hat hierzu im Juli 2022 Kopien aus Gästebüchern vorgelegt, die Eintragungen zu (Einzel-)Führungen aus den Jahren 2019 (zahlreiche Eintragungen über das ganze Jahr verteilt), 2020 (6 Eintragungen mit 3 Datumsangaben im Januar und Februar 2020), 2021 (4 Eintragungen mit 4 Datumsangaben im August, September, Oktober und Dezember 2021) und 2022 (9 Eintragungen mit 9 Datumsangaben zwischen Februar und Juni 2022) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">den Bescheid vom 20.05.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 18.09.2020 dahingehend zu ändern, dass das Grundstück G1 in […] L-Stadt gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 2a ErbStG lediglich mit 15 v.H. angesetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte nimmt zur Begründung Bezug auf die Einspruchsentscheidung und führt ergänzend aus, die Ausführungen im BFH-Urteil vom 12.05.2016 (II R 56/14, BStBl. II 2020, 500) seien auf § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG übertragbar, der diverse mit § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. b ErbStG identische Tatbestandsmerkmale aufweise. Auch die Fachliteratur zu § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG setze die zeitnahe Umsetzung (innerhalb von 6 Monaten) als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraus (Kapp/Ebeling, ErbStG, § 13 Rz. 22.3; Mönch/Weinmann, ErbStG, § 13 Rz. 18; Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG, § 13 Rz. 24).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Entscheidungsgründe</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">1. Zu Unrecht hat der Beklagte mit Bescheid vom 20.05.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 18.09.2020 die begehrte Änderung der Erbschaftsteuerfestsetzung nach dem Ehemann der Klägerin abgelehnt. Der Beklagte ist zur Bescheidänderung verpflichtet, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung, weil das streitgegenständliche Objekt die Voraussetzungen für die partielle Steuerbefreiung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">a. Dass das Grundstück G1 in [...] L-Stadt gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG zum Erwerb der Klägerin von Todes wegen nach ihrem verstorbenen Ehemann gehört, ergibt sich daraus, dass der Vergleichsvertrag vom 12.11.2015, durch den das Objekt der Klägerin zugeordnet wurde, als sog. Erbvergleich zwischen am Nachlass beteiligten Personen, der seinen letzten Rechtsgrund noch im Erbrecht findet, der Erbschaftsteuer zugrunde zu legen ist (vgl. BFH-Urteil vom 26.02.2008 II R 82/05, BStBl. II 2008, 629 m.w.N.). Er wirkt auf den Todestag des Erblassers – hier den 31.12.2013 – als Besteuerungsstichtag zurück. Nachdem die Klägerin im Vertragstext selbst (3. Teil, Nr. 3 des Erbvergleichsvertrags) auf ihr Anfechtungsrecht verzichtet hat und weder Gründe substantiiert vorgetragen wurden noch sonst ersichtlich sind, aus denen diese Klausel unwirksam sein könnte, geht der Senat – wie die Beteiligten – davon aus, dass der Vergleichsvertrag vom 12.11.2015 nicht durch die von der Klägerin erklärte Anfechtung unwirksam geworden ist, sondern wirksam ist.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">b. Nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG bleibt Grundbesitz mit 85 v. H. des Wertes steuerfrei, wenn dessen Erhaltung wegen seiner Bedeutung für Kunst, Geschichte oder Wissenschaft im öffentlichen Interesse liegt, die jährlichen Kosten in der Regel die erzielten Einnahmen übersteigen und er in einem den Verhältnissen entsprechenden Umfang den Zwecken der Forschung oder der Volksbildung nutzbar gemacht ist oder wird. Das ist im Streitfall gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der streitgegenständliche Grundbesitz ist wegen seiner Bedeutung für Kunst, Geschichte oder Wissenschaft im öffentlichen Interesse erhaltenswert. Der Nachweis, dass die Erhaltung im öffentlichen Interesse liegt, gilt bei Denkmälern als erbracht, wenn diese in die Denkmalliste oder ein entsprechendes Verzeichnis eingetragen sind (ebenso Schienke-Ohletz in von Oertzen/Loose, ErbStG, § 13 Rz. 18). Im vorliegenden Fall stand das Objekt seit dem Jahr 1987 nach den landesrechtlichen Vorschriften unter Denkmalschutz und war in die Denkmalliste eingetragen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Auch das Merkmal der Unrentabilität ist erfüllt. Die Klägerin hat substantiiert dargelegt, dass die jährlichen hohen Kosten in der Regel die erzielten Einnahmen übersteigen. Die jährlichen Abschreibungen, die als Kosten zu berücksichtigen sind (vgl. Curdt in Kapp/Ebeling, ErbStG, § 13 Rz. 22.2), belaufen sich bereits auf 64.350 EUR. Nicht einmal dieser Betrag (ohne Berücksichtigung der weiteren von der Klägerin vorgetragenen Kosten) kann durch die vereinnahmten Eintrittsgelder von 10 EUR pro Person, auch nicht unter Addition eines etwaigen jährlichen Mietwertes, den die Klägerin nachvollziehbar anhand von Vergleichsmieten mit 16,94 EUR pro qm, insgesamt 34.761 EUR, berechnet hat, erreicht werden. Dabei kann dahinstehen, ob der Mietwert überhaupt als Einnahmeposition zu erfassen ist (ablehnend Curdt in Kapp/Ebeling, ErbStG, § 13 Rz. 22.2; befürwortend R E 13.2 Abs. 5 Satz 2 ErbStR 2019; Kien-Hümbert in Moench/Weinmann, ErbStG, § 13 Rz. 17).</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt als Indiz für das Vorliegen der Unrentierlichkeit, dass seit dem Jahr 2019 alljährlich die Grundsteuer auf der Grundlage von § 32 Abs. 1 des Grundsteuergesetzes erlassen worden ist. (vgl. zum Nachweis durch den Bescheid über einen Grundsteuererlass Kobor in Fischer/Pahlke/Wachter, ErbStG, 6. Aufl. 2017, § 13 Rz. 13; Meincke/Hannes/Holtz, ErbStG, 18. Aufl. 2021, § 13 Rz. 13).</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Objekt ist durch die Öffnung für die Öffentlichkeit ab Dezember 2018 auch in einem den Verhältnissen entsprechenden Umfang dem Zweck der Volksbildung nutzbar gemacht worden. Ausreichend ist in diesem Zusammenhang, dass es zumindest zeitweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, indem zumindest zeitweise der Zugang zu privaten Räumen einer interessierten Öffentlichkeit ermöglicht wird (vgl. Kien-Hümbert in Moench/Weinmann, ErbStG, § 13 Rz. 18). Das ist im Streitfall geschehen. Die Zugänglichkeit des in Privatbesitz befindlichen Objekts ist seit Dezember 2018 durch das am Grundstück aufgestellte Schild und durch die Homepageeintragungen allgemein erkennbar. In dem Objekt finden seit Januar 2019 bis heute Führungen von Gruppen bzw. Einzelpersonen statt. Die deutlich reduzierte Anzahl der Gästebucheinträge im Jahr 2020 spricht nicht dagegen. Abgesehen davon, dass sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht jeder Teilnehmer einer Führung auch tatsächlich im Gästebuch einträgt, also die Anzahl der durchgeführten Führungen durchaus höher sein könnte, als aus den Gästebüchern ersichtlich, ist eine ständige Zurverfügungstellung der Immobilie für die Öffentlichkeit generell nicht erforderlich. Umstände, die auf höhere Gewalt wie die Pandemie im Jahr 2020 und die damit einhergehenden Zugangsbeschränkungen zurückzuführen sind, dürfen überdies nicht befreiungsschädlich sein, weil der Erwerber darauf keinen Einfluss hat. Im Streitfall stand die grundsätzliche Öffnung der Immobilie für die Öffentlichkeit auch in Zeiten des Lockdowns und der Zugangsbeschränkungen nicht in Frage; die Führungen wurden in jedem Jahr durchgeführt und finden zwischenzeitlich wieder in größerer Anzahl statt.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die partielle Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG scheitert im Streitfall auch nicht an der grundsätzlich erforderlichen zeitlichen Nähe zwischen dem Zeitpunkt des Erwerbs und demjenigen der Nutzbarmachung zu Zwecken der Volksbildung.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zwar sieht der Wortlaut der Norm nicht ausdrücklich eine zeitliche Grenze vor, innerhalb derer die Nutzbarmachung erfolgt sein müsste. Wie sich aus der Formulierung in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG „nutzbar gemacht sind oder werden“ ersehen lässt, steht es dem Erwerber frei, erst in seiner Person, also nach dem Besteuerungsstichtag, über eine solche Nutzbarmachung zu entscheiden und diesen Entschluss umzusetzen. Allerdings zieht nicht jede zukünftige Nutzbarmachung die partielle Steuerbefreiung nach sich. Das ergibt sich bereits im Umkehrschluss aus dem Nachversteuerungstatbestand des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG. Danach entfällt die Steuerbefreiung rückwirkend, wenn der Grundbesitz innerhalb einer Frist von zehn Jahren nach dem Erwerb veräußert wird oder die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung innerhalb dieses Zeitraums entfallen. Schon nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG reicht demnach eine Nutzbarmachung erst nach 10 Jahren nicht aus.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Um eine nicht gebotene weitreichende Aufweichung des erbschaftsteuerlichen Stichtagsprinzips zu vermeiden sowie um die vom Gesetzgeber bezweckte Förderung der Forschung bzw. Volksbildung in einem substantiellen Umfang zu erreichen und einer entgegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes gleichheitswidrigen, übermäßigen Privilegierung von Grundbesitz entgegen zu wirken, der nicht in ausreichend langem Maße für diese Zwecke der Öffentlichkeit nutzbar gemacht wird, ist die sehr hohe Steuerbefreiung von 85 v. H. des Wertes aus teleologischen Gründen nur dann zu gewähren, wenn eine gewisse Zeitnähe zwischen dem Erwerbszeitpunkt – in der Regel dem Besteuerungsstichtag – und dem Zeitpunkt der Nutzbarmachung besteht.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Das Merkmal einer gewissen Zeitnähe kann nicht anhand einer festen Monats- oder Jahreszahl pauschal festgelegt werden, sondern ist abhängig von den Umständen des Einzelfalles zu konkretisieren. Insbesondere – und anders als nach den zu § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. b Doppelbuchst. aa ErbStG in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen – muss die Nutzbarmachung des Objekts i.S. des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG nicht bereits innerhalb eines Zeitraums von bis zu 6 Monaten ab Kenntnis des Erwerbs durch den Erwerber erfolgt bzw. zumindest eingeleitet sein (Abgrenzung zum BFH-Urteil vom 12.05.2016 II R 56/14, BFHE 254, 48; BStBl. II 2020, 500; a.A. Curdt in Kapp/Ebeling, § 13 ErbStG Rz. 22.3 unter Bezugnahme auf § 13a Abs. 6 Satz 4 – Reinvestitionsfrist –). Denn es geht für Zwecke des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG nicht darum, eine zum maßgeblichen Stichtag beim Erwerber bereits vorhandene subjektive Bereitschaft objektiv nachzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben gilt für den Streitfall Folgendes:</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Zeitlicher Ausgangspunkt der Betrachtung ist im Streitfall der 12.11.2015, d.h. das Datum des Erbvergleichs, und nicht der 31.12.2013, d.h. der Todestag des Erblassers. Insofern liegt eine Abweichung von dem Grundsatz vor, dass der Besteuerungsstichtag den Erwerbszeitpunkt markiert. Zwar wirkt der Erbvergleich, wenn es um die Frage geht, was von Todes wegen erworben wurde, wie dargestellt auf den Todestag als Erwerbsstichtag zurück. Die dieser Rückwirkung zugrunde liegende Vorstellung, dass der Erbvergleich letztlich der Regelung dessen dient, was die bereits vom Erblasser bedachte Person tatsächlich von Todes wegen erwirbt, greift für Zwecke der Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG jedoch nicht. Bei einem Erbvergleich liegt ein Sonderfall vor, in dem über den Erwerb von Todes wegen gestritten wird. Erst ab dem Zeitpunkt des Vergleichsschlusses kann von dem Erwerber erwartet werden, dass er die Entscheidung trifft, ob er den Gegenstand zu den in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG genannten Zwecken für die Öffentlichkeit nutzbar machen möchte. Da die Übergabe sowie die Eigentumsumschreibung im Grundbuch in einem relativ kurzen zeitlichen Abstand zum Vergleichsvertrag, nämlich bis zum 11.01.2016, abgeschlossen waren, kommt eine weitere Verlagerung des Ausgangszeitpunktes vom Erwerbsstichtag in die Zukunft auch unter den besonderen Umständen des Einzelfalles nicht in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Ausgehend vom 12.11.2015 hat die Klägerin den Grundbesitz mit ausreichender zeitlicher Nähe nach dem Erbvergleich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu berücksichtigen ist, dass es sich um einen sehr komplexen Erbfall handelt und dass der Erbvergleich sehr detaillierte Einzelregelungen trifft. Dabei stand das streitgegenständliche Objekt, das der Klägerin nach den Testamenten noch nicht zugedacht war, nicht im zentralen Fokus, sondern war als wirtschaftlicher Ausgleichsposten gedacht. Die Klägerin hatte zunächst auch subjektiv kein Anlass, sich mit den Voraussetzungen der partiellen Steuerbefreiung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG konkret zu beschäftigen, weil sie den Erbvergleich in dem Bewusstsein abgeschlossen hatte, dass die erbschaftsteuerlichen Folgen des Erwerbs nicht von ihr zu tragen sein würden. Nachdem der Irrtum bemerkt wurde, nahmen ihre Berater spätestens im Mai 2016 Kontakt mit dem Tourismusbüro L-Stadt auf bzw. suchten nach Möglichkeiten, um das Objekt in vorhandene Führungen einzubinden, insbesondere bei G. F.. Jedenfalls ab Oktober 2016 stand man in Kontakt mit dem Heimatverein und verfolgte die Idee einer Nutzbarmachung für die Öffentlichkeit über ihn parallel zu der bereits im Dezember 2016 erklärten Anfechtung des Erbvergleichs weiter, obwohl eine wirksame Anfechtung voraussichtlich die Rückgabe des Objekts nach sich gezogen hätte. Nachdem der Beklagte bereits in dem damaligen Klageverfahren 3 K 997/17 Erb einen sehr strengen zeitlichen Maßstab für die Gewährung der partiellen Steuerbefreiung angelegt hatte, erscheint es zumindest nachvollziehbar, dass nach den Ende April 2017 gescheiterten Verhandlungen mit dem Heimatverein nicht direkt wieder eine außenstehende Person oder Vereinigung kontaktiert wurde, sondern sich die Klägerin auf die für eine Zurverfügungstellung für die Öffentlichkeit ebenfalls erforderliche Instandsetzung des erheblich verwilderten Grundstücks sowie die Beseitigung von Schäden am Haus konzentrierte und eine rechtliche Einschätzung des Gerichts abwartete. Nach dem Erörterungstermin im August 2018 ist die Klägerin dann, wie mit der damaligen Berichterstatterin besprochen, eigeninitiativ tätig geworden und hat bis Dezember 2018 die notwendigen organisatorischen und werbenden Maßnahmen umgesetzt, um ab Januar 2019 mit regelmäßigen Führungen starten zu können. Bei dieser Sachlage hat die mit dem Gesetz bezwecke Förderung der Forschung bzw. Volksbildung zu einem Zeitpunkt begonnen, in dem bis zum Ende des zehnjährigen Nachversteuerungszeitraums jedenfalls noch ein substantiell langer Zeitraum verblieb, innerhalb dessen die Öffentlichkeit von der Zurverfügungstellung des Grundbesitzes profitieren konnte und kann. Selbst wenn man im Streitfall den Beginn des Zehnjahreszeitraums i. S. des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG mit dem Besteuerungsstichtag, d. h. dem 31.12.2013, als frühestem möglichen Zeitpunkt gleichsetzen würde, wäre die Zurverfügungstellung im Dezember 2018 noch fünf Jahre vor dessen Ende erfolgt. Legte man für den Beginn des Zehnjahreszeitraums das spätere Datum des Erbvergleichs, d. h. den 12.11.2015, zugrunde, wäre die verbleibendende Zeitspanne bis zum Ablauf des Zehnjahreszeitraums noch deutlich länger.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">c. Die Steuerbefreiung ist auch nicht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG mit Wirkung für die Vergangenheit weggefallen. Das Objekt ist bis zum Tag der mündlichen Verhandlung weder veräußert worden noch sind die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung entfallen. Es kann offen bleiben, ob der in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG vorgesehene Zehnjahreszeitraum mit dem Besteuerungsstichtag (31.12.2013) oder mit dem Erbvergleich (12.11.2015) beginnt. Jedenfalls war dieser Zeitraum am 19.08.2022 noch nicht beendet.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">3. Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Rechtsfortbildung im Hinblick auf die Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.</p>
|
346,401 | vg-aachen-2022-08-19-9-l-52222 | {
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<p>1. Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p> Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p>
<p>2. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Antragstellers,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihn vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zum Aktenzeichen 9 K 1269/22 im Schuljahr 2022/2023 in die 5. Jahrgangsstufe der B. -M. -Gesamtschule H. aufzunehmen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Anordnungsgrund sowie Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat bereits keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihm kommt nach Maßgabe einer im einstweiligen Rechtsschutz allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung kein Anspruch auf Aufnahme in die 5. Jahrgangsstufe der B. -M. -Gesamtschule H. zu.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das Gericht lässt dahinstehen, ob der Antrag nicht bereits deshalb keinen Erfolg haben kann, weil dem Antragsteller von vornherein allenfalls ein Anspruch auf Neubescheidung zustehen kann. Die Schulaufnahme steht nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 2005 (GV. NRW. S. 102), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Februar 2022 (GV.NRW. S. 250), (im Folgenden: SchulG NRW) und den Bestimmungen der Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I in der Fassung vom 1. Mai 2021 (SGV. NRW. 223; im Folgenden: APO-S I), außerhalb der zwingenden rechtlichen Vorgaben, im pflichtgemäßen Ermessen des Schulleiters. Für Schüler, die die Aufnahme begehren, bedeutet dies, dass sie grundsätzlich nur einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über ihren Aufnahmeantrag haben. Wird dieser wegen eines Ermessensfehlers im Aufnahmeverfahren nicht erfüllt, hat dies im Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache - einem Widerspruchs- oder Klageverfahren - grundsätzlich zur Folge, dass die Antragsteller lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung ihres Antrags auf Aufnahme haben (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschluss vom 31. Mai 2022 - 10 L 754/22 -, juris, Rn. 8 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. August 2021 ‑ 18 L 1384/21 -, juris, Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Einer abschließenden Entscheidung bedarf es nicht, denn der Schulleiter der B. -M. -Gesamtschule H. hat den Antrag des Antragstellers auf Aufnahme in die Jahrgangsstufe 5 dieser Schule für das Schuljahr 2022/2023 zu Recht abgelehnt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW entscheidet die Schulleiterin oder der Schulleiter (im Folgenden: Schulleiter) innerhalb des vom Schulträger festgelegten Rahmens, insbesondere der Zahl der Parallelklassen pro Jahrgang, über die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers (im Folgenden: Schüler) in die Schule. Nach § 46 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW kann die Aufnahme unter anderem dann abgelehnt werden, wenn die Aufnahmekapazität der Schule erschöpft ist.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das ist hier der Fall. Die Aufnahmekapazität der B. -M. -Gesamtschule H. für das Schuljahr 2022/2023 in der Jahrgangsstufe 5 ist mit der Aufnahme von 108 Schülerinnen und Schülern erschöpft.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach Maßgabe des vom Schulträger festgesetzten Rahmens wurden in diesem Schuljahr in der Jahrgangsstufe 5 der B. -M. -Gesamtschule H. vier Eingangsklassen gebildet. Die Gesamtaufnahmekapazität in diesen vier Eingangsklassen ergibt sich rechnerisch aus deren Größe, welche gemäß § 93 Abs. 2 Nr. 3 SchulG NRW durch die Verordnung zur Ausführung des § 93 Abs. 2 SchulG NRW bestimmt wird. Für das Aufnahmeverfahren zum Schuljahr 2022/2023 ist diese Verordnung in der Fassung der Änderungsverordnung vom 5. Mai 2021 anzuwenden (VO 2021 zu § 93 Abs. 2 SchulG NRW).</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Schulleiter der B. -M. -Gesamtschule H. hat die Aufnahmekapazität unter Berücksichtigung deren Eigenschaft als Schule des Gemeinsamen Lernens und der vom Schulträger festgelegten Zügigkeit rechtsfehlerfrei zugrunde gelegt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nach § 6 Abs. 5 Sätze 1 und 2 der VO 2021 zu § 93 Abs. 2 SchulG NRW beträgt der Klassenfrequenzrichtwert in der Sekundarstufe I u.a. der Gesamtschule 27 und es gilt die Bandbreite 25 bis 29. Grundsätzlich muss diese Bandbreite bei entsprechenden Anmeldeüberhängen zwar ausgeschöpft werden. Denn der verfassungsrechtliche Anspruch auf Zugang zum öffentlichen Bildungswesen unter zumutbaren Bedingungen begründet für den die Aufnahme begehrenden Schüler und seine Eltern einen Rechtsanspruch auf Ausschöpfung der verordnungsrechtlich bestimmten Aufnahmekapazität.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2018 - 19 B 1153/18 -, juris, Rn. 13 f., m.w.N.; VG Aachen, Urteil vom 18. Januar 2019 ‑ 9 K 2380/18 -, juris, Rn. 19; VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. August 2021 - 18 L 1384/21 -, juris, Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW kann der Schulleiter im Einvernehmen mit dem Schulträger die Zahl der in die Klasse 5 aufzunehmenden Schülerinnen und Schüler jedoch begrenzen, wenn ein Angebot für Gemeinsames Lernen eingerichtet wird, rechnerisch pro Parallelklasse mindestens zwei Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf aufgenommen werden und im Durchschnitt aller Parallelklassen der jeweilige Klassenfrequenzrichtwert nach der Verordnung zur Ausführung des § 93 Abs. 2 SchulG NRW nicht unterschritten wird. Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 3 der VO 2021 zu § 93 Abs. 2 SchulG NRW kann in Klassen des Gemeinsamen Lernens die Bandbreite unterschritten werden, wenn rechnerisch pro Parallelklasse mindestens zwei Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf aufgenommen werden und im Durchschnitt aller Parallelklassen die Bandbreite eingehalten wird.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. An der B. -M. -Gesamtschule H. wurden zum Schuljahr 2022/2023 neun Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in die Klasse 5 aufgenommen. Verteilt auf die vier Eingangsklassen ergibt sich hieraus rechnerisch eine Aufnahme von 2,25 Schülerinnen und Schülern pro Klasse. Der Klassenfrequenzrichtwert von 27 wird bei einer Aufnahme von insgesamt zunächst 108 (4 x 27) Schülerinnen und Schülern in vier Parallelklassen im Durchschnitt ebenfalls nicht unterschritten. Der Schulleiter konnte von der ihm in § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW in Verbindung mit § 6 Abs. 5 Satz 3 der VO 2021 zu § 93 Abs. 2 SchulG NRW eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen und den Bandbreitenhöchstwert von 29 im Einvernehmen mit dem Schulträger um den Wert 2 unterschreiten, so dass insgesamt nur 108 Schülerinnen und Schüler aufgenommen wurden.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">vgl. zu vergleichbaren Fallgestaltungen: OVG NRW, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 19 B 998/20 -, Rn. 3 f.; Urteil vom 23. Januar 2019 ‑ 19 A 2303/17 -, Rn. 90; Beschlüsse vom 19. Oktober 2018 ‑ 19 B 1353/18 -, Rn. 9, und vom 30. November 2016 ‑ 19 B 1142/16 -, Rn. 9; VG Aachen, Urteil vom 18. Januar 2019 ‑ 9 K 2380/18 -, Rn. 22; VG Köln, Beschlüsse vom 1. Juli 2021 ‑ 10 L 1088/21 -, Rn. 19 f., und vom 4. Juni 2020 - 10 L 757/20 -, Rn. 8 ff., alle juris.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung, die Bandbreite nicht auszuschöpfen, ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Insbesondere erweist sich die zugrundeliegende Ermessensausübung im Ergebnis als rechtsfehlerfrei, vgl. § 114 VwGO. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Reduzierung des Bandbreitenhöchstwerts auf den Klassenfrequenzrichtwert nicht im Sinne einer gesetzlichen Regelvorgabe intendiert und bedarf daher grundsätzlich einer gesonderten Begründung.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16. August 2021 - 19 B 1343/21 -, juris, Rn. 5, und vom 30. Juli 2020 - 19 B 998/20 -, a.a.O., Rn. 4 ff.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zwar lässt der Ablehnungsbescheid vom 15. März 2022 eine Ermessenausübung dahingehend nicht erkennen, sondern erwähnt lediglich die Ausschöpfung der "Klassenfrequenzhöchstwerte". Die für die Begrenzung maßgeblichen Ermessenerwägungen sind jedoch keine zwingenden Begründungselemente jedes die Aufnahme eines Schülers ablehnenden Bescheides.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2020 - 19 B 998/20 -, a.a.O., Rn. 6, und vom 19. Oktober 2018 - 19 B 1353/18 -, a.a.O., Rn. 14 f., m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Im Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2022 ist ausgeführt, dass "damit [war] der Frequenzhöchstwert für die Klassenbildung unter Berücksichtigung der Inklusion ausgeschöpft" war. Daraus folgt, wenn auch stark vereinfachend, mit noch hinreichender Klarheit, dass die Begrenzung der Zahl der Schülerinnen und Schüler auf 27 je Klasse auf die Berücksichtigung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zurückzuführen ist. Die Ausübung des durch § 46 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW eingeräumten Ermessens ist damit begründet und noch ausreichend dokumentiert.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 19 B 998/20 -, a.a.O., Rn. 4 ff.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Das nach § 46 Abs. 4 SchulG NRW erforderliche Einvernehmen des beigeladenen Schulträgers liegt vor. Dies ergibt sich jedenfalls aus dem Schreiben der Beigeladenen vom 4. August 2022.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Aufnahmekapazität der B. -M. -Gesamtschule H. ist darüber hinaus auch rechtlich erschöpft, da das Aufnahmeverfahren innerhalb des vom Schulträger festgesetzten Rahmens ordnungsgemäß durchgeführt und hierbei keine Plätze an Schülerinnen und Schüler vergeben wurden, die bei der Verteilung nicht hätten berücksichtigt werden dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte dafür, dass der beigeladene Schulträger bei der Rahmenfestlegung im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW auf vier Eingangsklassen von ihrem hinsichtlich des "Wie" dieser Organisationsentscheidung bestehenden,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. November 2016 - 19 B 1066/16 -, juris, Rn. 24 f.; VG Köln, Beschluss vom 23. Juni 2021 ‑ 10 L 829/21 -, juris, Rn. 16 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">weiten Ermessensspielraum fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der danach bestehenden Aufnahmekapazität von 108 (4 x 27) Plätzen standen 147 Anmeldungen gegenüber. Davon standen neun in einem gesonderten Verfahren (vgl. § 1 Abs. 4 APO-S I) zu vergebende Plätze nur für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zur Verfügung. Im Hinblick auf den Anmeldeüberhang für die übrigen 99 Plätze hatte der Schulleiter der B. -M. -Gesamtschule H. gemäß § 46 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW in Verbindung mit § 1 Abs. 2 APO-S I ein Auswahlverfahren durchzuführen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller geht mit seiner Annahme fehl, der Schulträger habe einen Schuleinzugsbereich nach § 84 Abs. 1 SchulG gebildet, mit der Folge dass nach § 1 Abs. 3 Satz 1 APO-S I zunächst Kinder berücksichtigt würden, die im Schuleinzugsbereich wohnen oder bei denen ein wichtiger Grund nach § 84 Abs. 1 SchulG NRW besteht.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Nach § 84 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW kann der Schulträger für jede öffentliche Schule ein räumlich abgegrenztes Gebiet als Schuleinzugsbereich bilden.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Zwar hat der beigeladene Schulträger am 4. Juli 2012 zunächst eine entsprechende Rechtsverordnung erlassen. Allerdings hat er diese nach der Einführung des damaligen § 46 Abs. 6 SchulG NRW durch das 10. Schulrechtsänderungsgesetz vom 10. April 2014, wonach der Schulträger festlegen kann, dass Schülerinnen und Schülern, die in ihrer Gemeinde eine Schule der gewählten Schulform im Sinne des § 10 SchulG NRW besuchen können, die Aufnahme verweigert wird, wenn die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität der Schule übersteigt, nach einem Hinweis der Bezirksregierung Köln vom 20. Januar 2015 aufgrund seiner Rechtswidrigkeit nicht mehr angewandt. Vielmehr wurde zunächst am 29. Januar 2015 ein Beschluss nach § 46 Abs. 6 SchulG a.F. getroffen, der mit Beschluss vom 19. November 2015 jedoch wieder aufgehoben wurde.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Dagegen ist nichts zu erinnern. Eine Satzung bzw. Rechtsverordnung nach § 84 Abs. 1 SchulG NRW kann vom Schulträger nur erlassen werden, wenn er mehrere Schulen einer Schulform unterhält.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch Nordrhein-Westfalen, Stand: Juli 2022, § 84, Rn. 5</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Wenn auch der Wortlaut der Norm ("jede öffentliche Schule") vermeintlich eine andere Auslegung nahe legt, ergibt sich jedoch sowohl aus der Genese als auch aus der Zusammenschau mit § 46 Abs. 5 und 6 SchulG NRW a.F., dass die Bildung von Schuleinzugsgebieten voraussetzt, dass es im Gebiet des Schulträgers mehrere Schulen einer Schulform gibt.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">§ 84 Abs. 1 SchulG NRW ersetzt ausweislich der Begründung des Schulgesetzes den § 9 Abs. 1 Schulverwaltungsgesetz und "folgt dem geltenden Recht".</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. LtDrs. 13/5394, S. 113.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die genannte Norm besagte ausweislich ihres Satzes 2, dass für weiterführende öffentliche Schulen nach Schulform, Schulart und Schultyp im Gebiet des Schulträgers durch Rechtsverordnung ein räumlich abgegrenztes Gebiet als Schuleinzugsbereich gebildet werden konnte. Dies setzte denknotwendig voraus, dass es im Gebiet des Schulträgers mehrere Schulen einer Schulform gab.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Auch aus der Einführung des § 46 Abs. 6 SchulG NRW a.F. ergibt sich, dass eine vorrangige Aufnahme gemeindeeigener Kinder durch einen entsprechenden Beschluss zu erfolgen hat, nicht jedoch durch die Bildung von Schuleinzugsbereichen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Übersteigt die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität der Schule, hat der Schulleiter ein Auswahlverfahren durchzuführen, bei dem er Härtefälle zu berücksichtigen und im Übrigen für die Aufnahmeentscheidung eines oder mehrere der in § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 6 APO-S I niedergelegten Kriterien heranzuziehen hat. Dabei steht dem Schulleiter hinsichtlich der Auswahl, welche Kriterien heranzuziehen sind, Ermessen zu.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16. August 2018 - 19 E 688/18 -, juris, Rn. 4 ff., vom 17. August 2016 - 19 B 826/16 -, juris, Rn. 5 ff., und vom 13. Dezember 2013 - 19 E 1086/13 -, juris, Rn. 14 f.; VG Aachen, Urteil vom 18. Januar 2019 - 9 K 2380/18 -, a.a.O., Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Ermessensausübung des Schulleiters hat sich insofern im Sinne einer groben Zielvorgabe daran auszurichten, ob eine außergewöhnliche Sondersituation eines einzelnen angemeldeten Kindes vorliegt, in der es gewichtige, in dessen Person oder in seiner familiären Situation liegende individuelle Gründe unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten rechtfertigen, es auch unter Inkaufnahme einer Reduzierung der Aufnahmechance konkurrierender Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern bevorzugt aufzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. November 2016 - 19 B 1142/16 -, a.a.O., Rn. 10, und vom 13. Dezember 2013 - 19 E 1086/13 -, a.a.O., Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen dieser allgemeinen Umschreibung verbleibt dem Schulleiter ein erheblicher Ermessensspielraum, insbesondere hinsichtlich der Schwelle des Härtefalls im Einzelfall. Die gerichtliche Überprüfung ist auf die in § 114 Satz 1 VwGO genannten Ermessensfehler beschränkt.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Dezember 2013 - 19 E 1086/13 - , a.a.O., Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran ist die Ermessensentscheidung des Schulleiters der B. -M. -Gesamtschule nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte dafür, dass der Schulleiter einen in der Person des Antragstellers liegenden Härtefall ermessensfehlerhaft nicht berücksichtigt hat, sind nicht ersichtlich. Eine derartige Berücksichtigung kommt grundsätzlich nur ausnahmsweise und nur unter Anlegung strenger Maßstäbe in Betracht, wenn wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls die Zuweisung zu einer anderen als der gewünschten Schule zu unzumutbaren Konsequenzen für die Betroffenen führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dass dies beim Antragsteller der Fall sein soll, ist nicht erkennbar. Insbesondere begründen sowohl ADS als auch Schulweglänge keine besonderen Umstände, aufgrund derer die Zuweisung zu einer anderen Schule zu unzumutbaren Konsequenzen für den Antragsteller führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zunächst für den im Widerspruchsverfahren geltend gemachten Verdacht auf das Vorliegen von ADS und die nunmehr im gerichtlichen Verfahren durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des SPZ T. vom 29. Juli 2022 bestätigten Diagnose ADS, die es aus Sicht des Antragstellers "wünschenswert" mache, dass er die B. -M. -Gesamtschule H. besucht.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu einem ähnlichen Fall (ADHS): OVG NRW, Beschluss vom 13. Dezember 2013 - 19 A 2054/13 -, juris, Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller eine etwaige Förderung - sofern diese in einem gesonderten Verfahren nach der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (AOSF) als notwendig erachtet würde - nur an dieser Schule erhalten könnte. Auch legt der Antragsteller nicht substantiiert dar, dass der Besuch einer wohnortnahen Schule nicht nur - wie für viele andere Schüler - wünschenswert, sondern wegen seiner Beeinträchtigungen von besonderem Gewicht ist.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Auch die vom Antragsteller behauptete, auf "Kenntnissen" der Cousine seines Vaters beruhende Fahrzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einer Stunde stellt keinen besonderen Härtefall dar. Zunächst ist - wie auch § 13 Abs. 3 der Verordnung zur Ausführung des § 97 Abs. 4 Schulgesetz (Schülerfahrkostenverordnung) zum Ausdruck bringt - erst ein regelmäßiger Schulweg, der auch bei Ausnutzung der günstigsten Verkehrsverbindungen für die Hin- und Rückfahrt zusammengerechnet mehr als drei Stunden in Anspruch nimmt, nicht mehr zumutbar. Zudem beträgt der Schulweg etwa zur X. -C. -Gesamtschule in V. -Q. ausweislich der gängigen Datenbanken im Internet - beispielsweise mit der Linie 491 einschließlich des Fußweges - deutlich unter einer Stunde.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auch gegen die Auswahl der im Rahmen der Aufnahmeentscheidung herangezogenen Kriterien bestehen keine rechtlichen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Hier hat der Schulleiter das gesetzlich vorgegebene Kriterium der Leistungsheterogenität sowie von den möglichen weiteren Auswahlkriterien nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 6 APO-S I im Rahmen seines Auswahlermessens die Kriterien "ausgewogenes Verhältnis von Mädchen und Jungen" (Nr. 2) und "Losverfahren" (Nr. 6) herangezogen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Fehler bei der Auswahl und Anwendung der Aufnahmekriterien, die zu Ungunsten des Antragstellers durchgreifen, sind nicht feststellbar.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der für Gesamtschulen in § 1 Abs. 2 Satz 3 APO-S I zwingend vorgeschriebene Grundsatz der Leistungsheterogenität verlangt, dass die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule in ihrer Leistungsfähigkeit die gesamte Leistungsbreite in einem ausgewogenen Verhältnis vertreten. Wie dieses ausgewogene Verhältnis hinsichtlich der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu bilden ist, ist weder gesetzlich noch sonst rechtsverbindlich geregelt und obliegt daher dem Auswahlermessen des Schulleiters. Er kann der geforderten Leistungsheterogenität dadurch Rechnung tragen, dass er die angemeldeten Schülerinnen und Schüler in zwei oder drei Leistungsgruppen aufteilt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der neu gebildete Jahrgang das Leistungsprofil des gesamten Bewerberkreises proportional abbildet; sachgerecht ist vielmehr, wenn als Referenzrahmen der „gesamten Leistungsbreite“ das Leistungsbild aller Grundschulabgängerinnen und -abgänger am jeweiligen Standort der Gesamtschule zugrunde gelegt wird. Der Schulleiter hat im Rahmen des ihm zustehenden Auswahlermessens in sachgerechter Weise die Zahl der zu bildenden Leistungsgruppen und die Abgrenzungskriterien für die Gruppenbildung festzulegen. Sind dann anhand eines sachgerecht und zweckmäßig festgelegten Schwellenwerts (Notendurchschnitts) mehrere Leistungsgruppen gebildet worden, müssen aus jeder Gruppe möglichst gleich viele Schülerinnen und Schüler ausgewählt werden, wenn nicht ausnahmsweise besondere Gründe für ein abweichendes Vorgehen vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. Januar 2019 - 19 A 2303/17 -, a.a.O., Rn. 49 ff., m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Insoweit wird die Aufnahme gleich vieler Kinder aus den jeweils gebildeten Leistungsgruppen verlangt, und zwar einschließlich der Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. Januar 2019 - 19 A 2303/17 -, a.a.O., Rn. 66 und 104; VG Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2021 ‑ 18 L 1576/21 -, juris., Rn. 34.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die hier vorgenommene Einteilung in drei Leistungsgruppen ist nicht zu beanstanden. Die Einteilung der Leistungsgruppen erfolgte dergestalt, dass jedes Leistungsniveau gleichermaßen vertreten sein sollte. Die dieser Einteilung zugrunde liegenden Erwägungen des Schulleiters sind sowohl sachgerecht als auch zweckmäßig. Auch die Bildung von drei Leistungsgruppen anhand eines Notendurchschnitts in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht von 1,5 und 3,0 als jeweiligem Grenzwert ist nicht zu beanstanden. Sie lässt unter Berücksichtigung von Prognoseunsicherheiten zum einen in etwa erwarten, dass eine im Allgemeinen für die Führung der gymnasialen Oberstufe ausreichende Zahl von leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern aufgenommen wird, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie die höheren Abschlüsse der Sekundarstufe I erreichen werden; sie ermöglicht zum anderen, dass bei der Aufnahme in grundsätzlich angemessener Zahl leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden, für die die sonstigen Abschlüsse der Gesamtschule erreichbar sind, wenn sie sich nicht doch gemäß ihrer durch ihre Fähigkeiten und Neigungen und die darauf abgestellte schulspezifische Förderung bestimmten schulischen Entwicklung für die höheren Abschlüsse qualifizieren.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. aus der Rechtsprechung etwa: OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2020 - 19 B 938/20 -, Rn. 12 ff. (zwei Leistungsgruppen mit einem Grenzwert von 2,5); Urteil vom 23. Januar 2019 - 19 A 2303/17 -, Rn. 51 und 61 (zwei Leistungsgruppen mit einem Grenzwert von 2,5 im Durchschnitt aller Noten außer dem Fach Religion und zweifacher Wertung der Fächer Sprache, Sachkunde und Mathematik), und Beschluss vom 4. Oktober 2002 - 19 B 1829/02 -, Rn. 10 f. (drei Leistungsgruppen mit Grenzwerten von 2,3 und 2,8 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachkunde); VG Aachen, Urteil vom 18. Januar 2019 - 9 K 2380/18 -, Rn. 38 (zwei Leistungsgruppen mit einem Grenzwert von 2,5 in den Fächern Deutsch und Mathematik), und Beschluss vom 3. September 2010 - 9 L 310/10 -, Rn. 16 (zwei Leistungsgruppen mit dem Grenzwert von 2,8 im Gesamtdurchschnitt); alle juris.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Dass es bei der konkreten Einteilung der Schülerinnen und Schüler in die Leistungsgruppen zu Fehlern gekommen ist, ist nicht geltend gemacht und auch nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Heranziehung der Kriterien des ausgewogenen Geschlechterverhältnisses (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 APO-S I) und des Losverfahrens (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 6 APO-S I) neben dem Kriterium der Leistungsheterogenität ist nicht zu beanstanden. Sie entspricht der bei Gesamtschulen verbreiteter Ermessenspraxis, mit der das Ziel verfolgt wird, den Aufnahmebewerberinnen und ‑bewerbern möglichst gleiche Aufnahmechancen zu geben und das Aufnahmeverfahren übersichtlich und effizient zu gestalten. Nach dem Maßstab des § 114 VwGO ist diese verbreitete Ermessenspraxis nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Dezember 2013 - 19 E 1086/13 -, a.a.O., Rn. 16; VG Aachen, Urteil vom 18. Januar 2019 - 9 K 2380/18 -, a.a.O., Rn. 32; VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 6. August 2021 - 18 L 1576/21 -, juris, Rn. 24, und vom 25. Juni 2014 - 18 L 1210/14 -, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Dies gilt auch hier. Dagegen, dass der Schulleiter im Rahmen seines Auswahlermessens das Kriterium der Schulwege (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 APO-S I) nicht herangezogen hat, ist nichts zu erinnern. Ein Anspruch auf eine Heranziehung eines bestimmten Auswahlkriteriums wie der Berücksichtigung der Schulwege – und damit des Wohnorts – besteht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Anwendung der Auswahlkriterien indes gleichwohl teilweise als fehlerhaft erweist, folgt hieraus kein Anspruch des Antragstellers auf Aufnahme oder auf Neubescheidung. Denn es ist nicht ersichtlich, dass sich der Fehler im Verfahren für den Antragsteller nachhaltig ausgewirkt hat.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Der Schulleiter hat ausweislich des Protokolls der Auswahlsitzung am 25. April 2022 und der Stellungnahme des Antragsgegners vom 18. August 2022 bei der Einteilung der Schülerinnen und Schüler in die drei Leistungsgruppen und dem durchgeführten Losverfahren die fünf zieldifferent beschulten Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf nicht berücksichtigt. Dies ist fehlerhaft, da das Kriterium der Leistungsheterogenität – ungeachtet der Eigenständigkeit des Aufnahmeverfahrens der Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung nach § 1 Abs. 4 APO-S I – diese Schülerinnen und Schüler mit umfasst.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. Januar 2019 - 19 A 2303/17 -, a.a.O., Rn. 66 und 104; VG Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2021 - 18 L 1576/21 -, a.a.O., Rn. 34.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Dieser Fehler hat sich bei der Ablehnung der Aufnahme des Antragstellers aber nicht ergebnisrelevant ausgewirkt, da eine Mitberücksichtigung der fünf Schülerinnen und Schüler die Chancen seiner Aufnahme im Losverfahren nicht verändert hätte. Es liegt gleichsam auf der Hand, dass die betroffenen Schülerinnen und Schüler der Leistungsgruppe III zuzuordnen gewesen wären. Der Antragsteller ist jedoch in Leitungsgruppe II eingeordnet. In einem solchen Fall, in dem sich ein Fehler im Aufnahmeverfahren nicht auf einen Antragsteller auswirkt, folgt daraus kein Anspruch auf Aufnahme in die Schule.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2020 - 19 B 938/20 -, a.a.O., Rn. 17, und Urteil vom 23. Januar 2019 - 19 A 2303/17 -, a.a.O., Rn. 83.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kammer hat die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aus Billigkeit für nicht erstattungsfähig erklärt. Sie hat sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt, weil sie keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).</p>
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346,353 | vg-hannover-2022-08-19-4-a-511521 | {
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} | 4 A 5115/21 | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:11 | 2022-10-17T11:09:34 | Urteil | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Klägerin trägt 7/8 der Kosten des Verfahrens, die Beklagte trägt 1/8 der Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Straßenausbaubeiträgen für den Ausbau der Anlage G.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin ist Eigentümerin dreier Miteigentumsanteile an dem Grundstück mit der H. Das Grundstück mit einer Größe von 912 m² liegt im unbeplanten Innenbereich und ist mit einem vierstöckigen Mehrfamilienhaus bewohnt, das zu Wohnzwecken genutzt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die D. besteht aus einer nördlichen und einer südlichen Fahrspur mit jeweils Nebeneinrichtungen. Dazwischen befindet sich eine knapp 14 m breite Grünfläche, die durch einen Gehweg eingefasst wird, den die Beklagte als Teil der Grünfläche ansieht (und der nicht ausgebaut wurde).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte baute die Anlage in den Jahren 2001, 2015, 2016 und 2017 aus. Aufwendungen entstanden im Wesentlichen durch die Befestigung von Fahrbahn und Parkflächen sowie die Erneuerung der Gossen. Gehwege und Randsteine wurden im Jahr 2015 erneuert. Aufwendungen entstanden für die Gehwege nicht, weil die Kosten aufgrund eines Zusammenhangs mit dem Leitungsausbau von der e AG erstattet wurden. Die Beleuchtungseinrichtung wurde ebenfalls erneuert. Kosten dafür wurden nicht angesetzt, da die Stadtwerke A-Stadt AG die Rechnungen vorzeitig vernichtet habe. Die Beitragspflicht sei mit Eingang der letzten Unternehmerrechnung am 17.10.2017 entstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte baute auch den südlichen Teil der D. aus, dort aber nicht die Parkflächen. Eine Abrechnung dieses Bereiches kommt nach Auffassung der Beklagten nach Aufhebung der ABS nicht mehr in Betracht, weil ein Kostenspaltungsbeschluss bis zum Stichtag nicht getroffen wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Mit drei Bescheiden vom 03.08.2021 zog die Beklagte die Klägerin zu Straßenausbaubeiträgen in Höhe von 1.040,12 €, in Höhe von 614,62 € und in Höhe von 614,96 € heran. Dabei stufte sie die Straße als Durchgangsstraße gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 ihrer Straßenausbaubeitragssatzung (ABS) ein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Am 30.08.2021 hat die Klägerin Klage erhoben. Mit Bescheiden vom 21.07.2022 hat die Beklagte die streitbefangenen Bescheide um jeweils 12,43% auf 910,84 €, 538,23 € und 538,52 € ermäßigt, weil sie in einer Neuberechnung eine fiktive Beteiligung von e an den Kosten eines Leitungsgrabens für Fernwärme berücksichtigt hat. Insofern haben die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin macht geltend, der Bescheid sei rechtswidrig, weil nicht alle zur Einrichtung gehörenden Teileinrichtungen ausgebaut worden seien und die Beklagte einen Aufwandsspaltungsbeschluss nicht gefasst habe (und nach Aufhebung der Straßenausbaubeitragssatzung auch nachträglich nicht mehr treffen könne). Bei dem Grünstreifen handele es sich um eine selbständige Teileinrichtung der Anlage. Eine öffentliche Grünanlage sei nach der Rechtsprechung des OVG Lüneburg dann eine eigene Teileinrichtung, wenn sie vom äußeren Erscheinungsbild her abgrenzbar sei und als eigener Teil eine bestimmte Funktion innerhalb der Anlage erfülle, zum Beispiel eine bepflanzte Grünfläche. Die Beklagte habe daher die Anlage falsch bestimmt. Bei der D. handele es sich um eine einheitliche Anlage, bestehend aus einer nördlichen und einer südlichen Fahrspur, die in der Mitte durch eine breite, unselbständige Grünfläche getrennt werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">die streitbefangenen Bescheide aufzuheben, soweit der Rechtsstreit nicht in der Hauptsache für erledigt erklärt wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">die Klage abzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht in der Hauptsache erledigt erklärt wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Bescheide seien rechtmäßig. Die Beklagte habe die Anlage richtig bestimmt. Es handele sich bei der Brahmsstraße nicht um eine aus zwei Fahrspuren bestehende Anlage, sondern um zwei öffentliche Einrichtungen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Bei der Grünfläche handele es sich nicht um eine Teileinrichtung der Anlage, die die Funktion habe, zwei Fahrspuren voneinander abzugrenzen, sondern um eine selbständige Anlage. Die Grünanlage sei 14 m breit und damit eine selbständige Erschließungsanlage gemäß § 127 Abs. 2 Nr. 4 BauGB. Abzustellen sei auf die Verhältnisse bei natürlicher Betrachtungsweise. Die Fläche sei kein Seiten- oder Randstreifen und auch kein Sicherheitsstreifen. Schon ihre Ausgestaltung vermittele der Grünfläche eher den Charakter eines kleinen Parks mit Aufenthaltscharakter. Jedenfalls handele es sich nicht um einen Straßenbestandteil im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 NStrG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Das Gericht hat das Grundstück und die streitbefangene Anlage in Augenschein genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Das Verfahren ist einzustellen, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die angefochtenen Bescheide in der Form der Änderungsbescheide vom 21.07.2022 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 6 Abs. 1 NKAG können die Gemeinden zur Deckung ihres Aufwandes für die Herstellung, Anschaffung, Erweiterung, Verbesserung und Erneuerung ihrer öffentlichen Einrichtungen Beiträge von den Grundstückseigentümern erheben, denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser öffentlichen Einrichtungen besondere wirtschaftliche Vorteile bietet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Danach durfte die Beklagte von der Klägerin für den Ausbau der Anlage I. Straßenausbaubeiträge in der geltend gemachten Höhe für die Miteigentumsanteile der Klägerin an dem streitbefangenen Grundstück verlangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Der Heranziehung steht nicht entgegen, dass die Beklagte die Grünfläche zwischen der nördlichen Fahrspur und der südlichen Fahrspur nicht ausgebaut hat. Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich bei dieser Grünfläche nebst umlaufendem Gehweg nicht um eine selbständige Teileinrichtung der abgerechneten Anlage. Die Beitragspflicht ist somit entstanden, ohne dass die Beklagte diese Grünfläche ausbauen oder einen Kostenspaltungsbeschluss hätte treffen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Was Anlage im Sinne des Straßenausbaubeitragsrechts ist und wie weit die Fläche einer Straße reicht, bestimmt sich nach allgemeiner Auffassung (wie im Erschließungsbeitragsrecht) nach einer natürlichen Betrachtungsweise, bei der auf das durch die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht geprägte Erscheinungsbild abzustellen ist (vgl. Driehaus/Raden, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 10. Aufl., § 12 Rn. 13, m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Die Kammer teilt nach dem Ergebnis der Inaugenscheinnahme die Einschätzung der Beklagten, dass es sich um zwei selbständige Anlagen handelt, nämlich die „D. Nord“ und die „D. Süd“. Dazwischen liegt die von einem Gehweg umfasste Grünfläche, die keiner dieser beiden Anlagen zuzurechnen ist, wobei offenbleiben kann, ob es sich bei dieser Grünfläche um eine selbständige Erschließungsanlage gemäß § 127 Abs. 2 Nr. 4 BauGB handelt oder nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin vertritt hingegen die Auffassung, Fahrspuren nebst Nebenanlagen bilden zusammen mit der Grünfläche eine einzige Anlage, wobei es sich bei der Grünfläche (mit oder ohne umlaufenden Gehweg) um eine Teileinrichtung dieser Anlage handelt, nämlich um einen Trennstreifen (im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 NStrG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Die Kammer teilt den rechtlichen Ansatz der Beklagten, dass zu einer öffentlichen Einrichtung das gehört, was tatsächlich durch den Ausbau unmittelbar für Straßenzwecke benutzt worden ist (vgl. auch Driehaus/Raden, a.a.O., Rn. 15). Maßgeblich ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (zum Erschließungsbeitragsrecht, die insofern auf das Straßenausbaubeitragsrecht übertragbar ist) die Frage der Erforderlichkeit (BVerwG, Urt. v. 29.10.1993 - 8 C 53/91 -, Rn. 12, juris). Die streitbefangene Grünfläche wird aber nicht für Straßenzwecke benötigt und benutzt und ist daher keine Teileinrichtung der Straße. Abgesehen von ihrer räumlichen Nähe zu zwei Fahrspuren kommt der Grünfläche keine Funktion in Bezug auf eine Straße zu. Die Klägerin sieht diesen Bezug darin, dass es sich um einen Trennstreifen handelt, der die beiden Richtungen einer Fahrbahn trennt. Trennstreifen aber dienen der Freihaltung eines zur Sicherheit des Verkehrs oder zur Straßengestaltung erforderlichen Zwischenraums zwischen mehreren Fahrbahnen, zwischen Fahrbahnen und Seitenwegen, manchmal auch der Aufnahme einer aus gestalterischen Gründen gewünschten oder zur Sicherheit des Verkehrs erforderlichen Bepflanzung, der Leiteinrichtungen und der Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen. Sie stehen in der Regel dem Gemeingebrauch nicht offen (vgl. Kodal, Handbuch Straßenrecht, 8. Aufl., 6. Kap., Rn. 50). Trennstreifen dienen also der Sicherheit des Verkehrs und stehen daher dem Gemeingebrauch in der Regel nicht offen. Der in Streit stehenden Fläche kommt diese Funktion ersichtlich nicht zu. Die Vorstellung, die Grünfläche sei angelegt worden, um die Sicherheit der an den Seiten verlaufenden Fahrbahnen zu verbessern, erscheint angesichts des Verhältnisses zwischen der Länge der Fahrspuren und der Breite der Grünfläche sowie der Verkehrsbedeutung der Brahmsstraße abwegig. Der Grünfläche kommt - auch historisch - eine gestalterische und möglicherweise eine Erholungsfunktion als kleine Parkanlage zu. Historisch wies sie - wie ein Fluchtlinienplan aus dem Jahr 1922 zeigt - in der Mitte einen Brunnen auf und lädt - wie auch der umlaufende Gehweg - zum Betreten ein. Nicht zu einer Straße aber gehören Grünflächen, wenn sie selbständige Bedeutung bzw. einen selbständigen Zweck haben, der keinen funktionellen Bezug zur Straße hat (vgl. Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Aufl., Rn. 89). Die Funktion eines Trennstreifens kommt der Grünfläche auch deswegen nicht zu, weil sie nicht zwei Fahrbahnen trennt. Würde es sich bei den Fahrspuren „D. Nord“ und „D. Süd“ um Fahrbahnen einer Straße handeln, bedürfte es nicht der von der Beklagten vorgenommenen Einbahnstraßenregelung. Dieser Regelung ist nach dem Ergebnis der Inaugenscheinnahme nach Auffassung des Gerichts aber nötig, weil sich bei natürlicher Betrachtungsweise einem die J. Straße aus südlicher Richtung befahrenden Verkehrsteilnehmer nicht erschließt, dass er von dort aus nicht in die D. Süd einbiegen darf. Würde es sich um die Fahrbahn einer Straße handeln, wäre dies offensichtlich und bedürfte keiner verkehrsrechtlichen Regelung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu: Auf der Grundlage der klägerischen Betrachtung der Anlage würde die „D.“ über vier Gehwege verfügen. Warum diese erforderlich sein sollten, erschließt sich aus der Perspektive eines Anliegers, der an den Kosten für eine Erneuerung oder Verbesserung herangezogen werden könnte, ebenso wenig wie eine Beteiligung an Kosten für die Grünanlage. Der Umstand, dass die Beklagte ihre Straßenausbaubeitragssatzung mittlerweile aufgehoben hat und Straßenausbaubeiträge nur noch erheben kann für Aufwände, die bis zum Ablauf des 31.12.2018 entstanden sind, gebietet keine andere Betrachtung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des OVG Lüneburg (Urt. v. 19.02.2020 - 9 LB 132/17 -, Rn. 193 - 195, juris), auf die sich die Klägerseite zur Begründung ihrer Auffassung beruft. Danach kann eine Straßenbegleitfläche eine Teileinrichtung sein, wenn es sich bei ihr um einen vom äußeren Erscheinungsbild her abgrenzbaren, eine bestimmte Funktion erfüllenden Teil einer Anlage handelt, der äußerlich und funktionell eine Einheit darstellt (vgl. OVG Lüneburg, a.a.O.). Aus den oben genannten Gründen erfüllt die Grünfläche aber keine Funktion in Bezug auf die Straße.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Weitere Einwände gegen die Beitragserhebung macht die Klägerin nicht geltend; sie sind auch nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Die Quote entspricht dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO. Gründe, die Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006878&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
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346,351 | olgce-2022-08-19-5-w-2522 | {
"id": 603,
"name": "Oberlandesgericht Celle",
"slug": "olgce",
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"level_of_appeal": null
} | 5 W 25/22 | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:09 | 2022-10-17T11:09:34 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die sofortige Beschwerde des Schuldners vom 21. Juni 2022 gegen den Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 13. Juni 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner verbreitete auf der Internetplattform „F.“ öffentlich unter der Überschrift „Jugendhilfestation O.: Ist Frau K. S. eine Kinderrechteschänderin“ einen von ihm selbst verfassten Beitrag. Einen Link auf den Artikel verbreitete der Antragsgegner auch in der F.-Gruppe „O.-O. D. h.“. Wegen des genauen Inhalts des Beitrags und des Links wird auf die Anlagen AS 7 und AS 8 verwiesen. Ebenso verbreitete der Antragsgegner in den F.-Gruppen „G. d. J.“ und „W. i. l. i. C.“ je einen Link auf den Beitrag, in denen die Überschrift des Artikels – „Jugendhilfestation O.: Ist Frau K. S. eine Kinderrechteschänderin“ – erkennbar ist. Wegen des weiteren Inhalts dieser Links wird auf die Anlagen OM 4 und OM 5 (Bl. 20 ff. d.A.) verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Durch Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 24. März 2022 wurde der Antragsgegner unter anderem verpflichtet, es zu unterlassen, über die Antragstellerin identifizierend zu äußern oder zu verbreiten oder verbreiten zu lassen, die Antragstellerin wäre eine Kinderrechteschänderin. Dieser Beschluss wurde dem Antragsgegner am 4. April 2022 zugestellt. Bereits zuvor löschte der Antragsgegner den Beitrag auf der Internetplattform „F.“. Die Links in den F.-Gruppen „G. d. J.“ und „W. i. l. i. C.“ waren am 21. April 2022 noch abrufbar. Auf Antrag der Antragstellerin verhängte die 6. Zivilkammer wegen der Zuwiderhandlung gegen die in der einstweiligen Verfügung vom 24. März 2022 enthaltene Unterlassungsverpflichtung durch die noch am 21. April 2022 abrufbaren Links ein Ordnungsgeld in Höhe von 1.000,00 € ersatzweise Ordnungshaft gegen den Antragsgegner.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Gegen diesen Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit seiner sofortigen Beschwerde. Er behauptet, er habe bereits nach Eingang der Unterlassungsaufforderung vom 2. März 2022 sämtliche ihm bekannte Verlinkungen gelöscht. Da er nicht gewusst habe, in welche Gruppen der Beitrag geteilt worden sei, habe der Antragsgegner über F. nach dem Namen der Antragstellerin unter dem Reiter „Beiträge“ gesucht und sämtliche Beiträge gelöscht, die von ihm gestammt hätten. So könne er auch die Beiträge erkennen, die nicht er, sondern andere geteilt hätten. Er habe sämtliche ihm zugängliche Artikel freiwillig und fristgerecht gelöscht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die zulässige sofortige Beschwerde des Antragsgegners hat in der Sache keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Zutreffend hat das Landgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass der Antragsgegner der durch Beschluss des Landgerichts Stade vom 24. März 2022 auferlegten Verpflichtung schuldhaft zuwider gehandelt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>1. Unstreitig ist es nach Zustellung der einstweiligen Verfügung des Landgerichts vom 24. März 2022 am 04. April 2022 zu zwei objektiven Verstößen gegen das gerichtliche Unterlassungsgebot gekommen. Die Antragstellerin hat unter Vorlage zweier Screenshots (Anlage OM4 und OM5, Bl. 20 ff. d.A.) dargelegt, dass vom Antragsgegner in den F.-Gruppen „G. d. J.“ und „W. i. l. i. C.“ ein Link auf den Beitrag auf der Internetplattform „F.“ gepostet wurde. Jedenfalls am 21. April 2022 waren diese Links noch frei zugänglich. Der Antragsgegner hat dies nicht in Abrede gestellt, sondern in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 10. Mai 2022 eingeräumt, die Verlinkungen in den beiden genannten F.-Gruppen bei der Löschung vergessen zu haben (Bl. 27 d.A.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>2. Für den Verstoß ist unerheblich, dass in diesem Zeitpunkt der Beitrag auf der Plattform „F.“ bereits gelöscht war, da die Links mit dem Wortlaut „Jugendhilfestation O.: Ist Frau K. S. eine Kinderrechteschänderin?“ selbst einen Verstoß gegen das gerichtliche Unterlassungsgebot darstellen. Ein auf die konkrete Verletzungsform beschränktes Unterlassungsgebot greift nicht nur dann, wenn eine Äußerung wortgleich wiederholt wird, sondern auch dann, wenn die darin enthaltenen Mitteilungen sinngemäß ganz oder teilweise Gegenstand einer erneuten Äußerung sind. Insoweit kommt es auf die „Identität des Äußerungskerns“ an (vgl. BGH, Urteil vom 24.07.2018, Az: VI ZR 330/17, Rn. 44, zit. nach juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Insoweit unterscheidet sich die jetzige Zuwiderhandlung von dem tenorierten Verbot zwar zum einen darin, dass die zu unterlassende Äußerung in Frageform dargestellt ist. Allerdings war diese Frageform bereits Gegenstand des Verfahrens über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst und lag dem Beschluss des Landgerichts vom 24. März 2022 zugrunde. Gemessen daran ist die nun erfolgte Äußerung sogar identisch mit der vom Antragsgegner zu unterlassenden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Unerheblich ist auch, dass mit der Versendung des Links auf den (gelöschten) Beitrag nicht mehr der gesamte Inhalt der ursprünglichen Äußerung verbreitet worden ist. Denn dem Link ist gerade die nach dem Tenor der einstweiligen Verfügung zu unterlassende Äußerung (in Frageform, s.o.) – wie im ursprünglichen Beitrag als Überschrift gewählt – zu entnehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>3. Der Einwand des Antragsgegners, die Links seien in den Gruppen chronologisch so weit nach unten angeordnet, dass kein Internetnutzer diesen Artikel gesehen hätte, außer er hätte danach gesucht, verfängt nicht. Das Unterlassungsgebot bezieht sich auf alle zugänglichen Äußerungen des Antragsgegners und erlaubt nicht solche, nach denen gezielt werden muss.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>4. Den Antragsgegner trifft auch das für die Verhängung eines Ordnungsmittels notwendige Verschulden. Die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung und damit auch das wegen des Sanktionscharakters im Rahmen des § 890 ZPO gebotene Verschulden ist grundsätzlich von der Gläubigerseite darzulegen und zu beweisen. Indes gibt es bei der Pflichtverletzung und vor allem auch beim Verschulden anerkanntermaßen aber zumindest gewisse Darlegungs- und Beweiserleichterungen, denn es gelten dieselben Grundsätze wie im Erkenntnisverfahren. Es kann so dem vermeintlichen Täter auferlegt werden, im Wege der sekundären Darlegungslast zur Aufklärung seines Verhaltens beizutragen, indem er die ihn entlastenden Umstände aus seinem dem Gläubiger nicht zugänglichen Lebenskreis dem Gericht mitteilt, und es können für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden, wenn er dieser Aufklärungspflicht nicht nachkommt (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 11. Januar 2017, 15 W 01/18, Rn. 15, zit. nach juris). Diesen Anforderungen hat der Antragsgegner hier nicht Rechnung getragen. Das Vorbringen des Antragsgegners in der Beschwerdebegründung, er habe sämtliche ihm zugängliche Artikel freiwillig gelöscht, ist nicht dahin auszulegen, er habe auch die Links in den beiden F.-Gruppen gelöscht, da dieser Vortrag im Widerspruch zu den Angaben des Antragsgegners in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 10. Mai 2022 steht. Vielmehr hat der Antragsgegner nach seinen eigenen Angaben die Löschung der Verlinkung in den beiden F.-Gruppen zunächst vergessen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Es mag auch zu seinen Gunsten unterstellt werden, dass er bei der Löschung auf F. nach dem Namen „K, S.“ unter dem Reiter „Beiträge“ gesucht hat und sämtliche Beiträge gelöscht hat, die ihm bei dieser Suche angezeigt wurden und die Verlinkungen in den Gruppen „G. d. J.“ und „W. i. l. i. C.“ – aus welchen Gründen auch immer – nicht Teil des Sucherergebnisses waren. Die reine Suche auf F. mit anschließender Löschung der aufgefundenen Ergebnisse genügt aber nicht den an den Schuldner einer Unterlassung zu stellenden Anforderungen. Die Verpflichtung zur Unterlassung einer Handlung, durch die ein fortdauernder Störungszustand geschaffen wurde, ist regelmäßig dahin auszulegen, dass sie nicht nur die Unterlassung derartiger Handlungen, sondern auch die Vornahme möglicher und zumutbarer Handlungen zur Beseitigung des Störungszustandes umfasst. Bezogen auf Verstöße durch Aussagen im Internet bedeutet dies, dass der Schuldner durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen hat, dass die durch die Unterlassungsverpflichtung betroffenen Inhalte nicht mehr im Internet aufgerufen werden können, und zwar weder über die Webseite direkt noch über eine Internetsuchmaschine. Der Schuldner eines Unterlassungsanspruchs ist dazu verpflichtet, durch Einwirkung auf gängige Internetsuchmaschinen, insbesondere Google, sicherzustellen, dass der von ihm gelöschte Beitrag nicht weiter über diese Suchmaschinen infolge einer Speicherung dieses Beitrags in deren Cache erreichbar ist (vgl. insgesamt OLG Celle, Beschluss vom 21. August 2017, Az: 13 W 45/17, Rn. 9f. sowie nachfolgend BGH, Beschluss vom 12.07.2018, Az: I ZB 86/17, Rn. 13, jeweils zit. nach juris). Die Einwirkung auf Suchmaschinen stellt eine im Rahmen des Unterlassungsanspruchs geschuldete Einwirkung auf Dritte dar (BGH, a.a.O., Rn. 14). Ob der Antragsgegner vorliegend Google oder weitere Suchmaschinen auf die Aufrufbarkeit kontrolliert hat, kann dahinstehen, da es sich bei den Verlinkungen in den F.-Gruppen „G. d. J.“ und „W. i. l. i. C.“ nicht um eine Verbreitung der Äußerungen durch Dritte, sondern um Äußerungen durch den Antragsgegner selbst handelt. Als aktiver Nutzer des F.-Dienstes hätte es dem Antragsgegner daher oblegen, in den von ihm frequentierten Gruppen aktiv nach seinen auch längere Zeit zurückliegenden Beiträgen zu forschen und diese löschen. Wenn die Zahl der vom Antragsgegner verfassten Beiträge und Verlinkungen so groß ist, dass er den Überblick verliert, wo er etwas verbreitet hat, muss dies zu seinen Lasten gehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>III.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE267142022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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} | 17 B 605/22 | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-08-24T10:01:01 | 2022-10-17T11:09:23 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0819.17B605.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.250,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss abzuändern oder aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong> Die Beschwerde wendet sich gegen die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 verfügte Abschiebungsandrohung sei rechtmäßig. Dieser Annahme liegt die Erwägung zugrunde, der Antragsteller sei gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Die angeordnete Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 8 K 4282/21 (VG Gelsenkirchen) gegen die Ausweisungsverfügung der Antrags-gegnerin vom 20. Oktober 2021 lasse die Wirksamkeit der Ausweisung des Antragstellers, zu dessen Gunsten auch ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 unterstellt werde, gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührt. Die Ausweisung sei unter Gesamtabwägung der Interessen rechtmäßig erfolgt mit der Folge, dass die in der Vergangenheit erlassene Niederlassungserlaubnis des Antragstellers nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erloschen sei. Im Übrigen erweise sich die verfügte Ausweisung als offensichtlich rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Die Beschwerde wendet ein, die Vorschrift des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG finde wegen der Stillhalteklauseln im Assoziationsrecht EU-Türkei für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige keine Anwendung. Die Bestimmung stelle eine Verschlechterung beim Aufenthaltsrecht dar, die nach Inkrafttreten der europarechtlichen Normen in das deutsche Gesetz aufgenommen worden sei (so auch: VG Darmstadt, Beschluss vom 08. Februar 2010 ‑ 5 L 1833/09.DA ‑). Maßgeblicher Bezugspunkt sei Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80 vom 01. Dezember 1980. Zu diesem Zeitpunkt habe noch das Ausländergesetz vom 28. April 1965 gegolten, das keine mit § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bzw. mit dem wortgleichen Vorgänger § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG vergleichbare Regelung gekannt habe. Daher sei der Aufenthalt des Antragstellers nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage weiterhin rechtmäßig mit der Folge, dass es an einer Ausreisepflicht fehle und eine Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden könne.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Diesem Vorbringen ist nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht zu folgen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, stehen assoziationsrechtliche „Stand-still-Klauseln“ nicht entgegen. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG enthält keine „neuen Beschränkungen“ oder „neuen Hindernisse“. Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und auch der vorausgegangene, durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 09. Juli 1990 eingefügte inhaltsgleiche § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG zeichnen nur einen bereits zuvor bestehenden Rechtszustand nach, und sind nichts anderes als eine gesetzliche Formulierung der damals in der Praxis der Gerichte ohnehin schon herrschenden Vollziehbarkeitstheorie. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt seit den 1950er Jahren im Grundsatz unverändert die Auffassung, dass die aufschiebende Wirkung einer Anfechtung nicht die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts oder das Inkrafttreten der durch ihn getroffenen Regelung beseitigt, vielmehr der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig nur nicht vollzogen werden darf (sog. Vollziehbarkeitstheorie).</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Januar 2021 ‑ 3 ME 355/20 ‑, juris, Rn. 22 ff., m. w. N.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. November 2020 ‑ 11 S 2328/10 , juris, Rn. 15;</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">a. A: VG Darmstadt, Beschluss vom 08. Februar 2010 ‑ 5 L 1833/09.DA ‑, juris, Rn. 9 f.,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde moniert ferner, der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG stehe in den Fällen, in denen wie hier eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringe, der europarechtliche Grundsatz des „effet utile“ entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Auch dieser Einwand greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zwar wird gegen eine Anwendbarkeit des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, im Falle einer Ausweisung aus unionsrechtlicher Sicht eingewandt, dass es sich verbiete, im Zusammenhang mit einer nicht bestandskräftigen Ausweisung einen schematischen und pauschalen, sofort wirksamen Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts anzuerkennen, der keine Rechtfertigung im konkreten Einzelfall habe. Die Mitgliedstaaten seien nicht befugt, das dem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar durch das Unionsrecht verliehene Recht auf Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit und das hiermit korrespondierende Recht, sich zu diesem Zweck im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, in der Weise zu beschränken, dass eine Einzelfallprüfung nicht gewährleistet ist.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. Funke/Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand der Bearbeitung: Juli 2022, § 84, Rn. 89.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Indes ist unabhängig von der Frage, ob die neu gefassten §§ 53 bis 56 AufenthG und die auf dieser Rechtsgrundlage zu treffende Ausweisungsentscheidung nicht bereits eine Einzelfallprüfung gewährleisten, weil sie von einem umfassenden ergebnisoffenen Abwägungsprozess geprägt sind, in dem sämtliche Ausweisungs- und Bleibeinteressen angemessen zu berücksichtigen sind,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Januar 2021 ‑ 3 ME 355/20 ‑, juris, Rn. 18 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die nach der erstgenannten Ansicht für erforderlich gehaltene Einzelfallprüfung jedenfalls im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die zuständige Ausländerbehörde hat es in der Hand, bei Vorliegen der hierfür notwendigen Voraussetzungen die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO aufgrund besonderer öffentlicher Interessen im Einzelfall anzuordnen. Insoweit ist dann auch die Einzelfallprüfung im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährleistet. Denn hierbei kommt es maßgeblich auf die materiell-rechtliche Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ausweisung vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 an.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. Funke/Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand der Bearbeitung: Juli 2022, § 84, Rn. 89; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. November 2020 ‑ 11 S 2328/10 , juris, Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 20. Oktober 2021 die sofortige Vollziehung der verfügten Ausweisung des Antragstellers angeordnet. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 4282/21 (VG Gelsenkirchen) gegen die Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin mit der Begründung wiederhergestellt, die Antragsgegnerin habe die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügenden Weise begründet. Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen im Rahmen einer an den Umständen des Einzelfalls orientierten Prüfung die (offensichtliche) materielle Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vom 20. Oktober 2021 bejaht. Der Beschwerde ist nicht konkret zu entnehmen, dass und warum diese Einzelfallprüfung unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügen sollte.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Namentlich greifen die Einwände der Beschwerde gegen die vom Verwaltungsgericht angenommene (offensichtliche) materielle Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde moniert, es fehle an einer von dem (straffällig gewordenen) Antragsteller ausgehenden Wiederholungsgefahr. Aus den Strafverurteilungen des Antragstellers dürfe nicht vorschnell der Schluss auf eine zukünftige Gefährdung geschlossen werden. Die Ausweisung diene der Vorbeugung künftiger Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, so dass im Rahmen der anzustellenden Gefahrenprognose in der Vergangenheit begangene Straftaten nur einen Teil der Wahrscheinlichkeitsfeststellung darstellten. An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts seien umso geringere Ansprüche zu stellen, je größer und folgenschwerer der mögliche Schaden sei. Eine solche Prognose müsse aber eine Stütze in der Persönlichkeitsstruktur des Ausländers haben. Es sei somit auch die Persönlichkeitsentwicklung nach der Strafhaft zu berücksichtigen. Der Antragsteller habe sich in der JVA in der Absicht in Therapie begeben, an seiner Persönlichkeitsstruktur und an seinem Sozialverhalten im Nachgang der Tat zu arbeiten.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Dieses Monitum verfängt nicht.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht ist unter Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 entscheidungstragend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der §§ 53 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG vorliegen. Es hat angenommen, vor dem Hintergrund dessen, dass der Antragsteller vom Landgericht F. mit rechtskräftigem Urteil vom 07. Februar 2020 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden sei, die er seit dem 22. Februar 2021 verbüße, sei auch unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung bis heute eine neuerliche Delinquenz des Antragstellers nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Von dem Antragsteller drohe insbesondere die konkrete Gefahr, mit der sexuellen Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit Rechtsgüter von hoher Sensibilität und besonderer Tragweite zu verletzen und durch eine tiefgreifende Traumatisierung den weiteren Lebensweg seiner Opfer nachhaltig (negativ) zu prägen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Dieser Annahme tritt die Beschwerde nicht durchgreifend entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Allein der Umstand, dass der Antragsteller nunmehr in seiner Tätigkeit in der Bibliothek in der JVA in eine leitende Funktion berufen worden sein soll und sich in eine Therapie begeben hat, sagt noch nichts über eine nachhaltige Auseinandersetzung des Antragstellers mit der Tat und den Folgen für sein (Vergewaltigungs-) Opfer aus. Entsprechendes lässt sich auch weder dem „Kurzbericht zur Probatorik“ vom 27. Juni 2021 noch dem „Zwischenbericht zur Behandlung“ vom 28. Februar 2022 entnehmen. Im Gegenteil kommen die beiden (knappen) Berichte unter „Störungsbild“ zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller dissoziale Persönlichkeitszüge und eine kognitive Einengung auf die „Frau als Sexualobjekt“ aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde wendet ferner ein, das Verwaltungsgericht habe die gesteigerten Anforderungen an die Ausweisung eines Assoziationsberechtigten verkannt. Insoweit bedürfe es gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG einer schwerwiegenden Gefahr, die eine Ausweisung unerlässlich mache. Dies sei hier indes nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hätte in Betracht ziehen müssen, dass einer Wiederholungsgefahr in der gleichen Weise begegnet werden könne, wie dies bei Straftätern mit deutscher Staatsangehörigkeit nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe der Fall sei.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen, weil das Verwaltungsgericht mit der Bezugnahme auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 (vgl. Seite 12) eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG angenommen hat. Die Beschwerde zeigt nicht konkret auf, dass und warum diese Annahme unzutreffend sein sollte. Das Monitum einer fehlenden Gleichbehandlung des (inhaftierten) Antragstellers mit Straftätern deutscher Staatsangehörigkeit, die ihre Freiheitsstrafe verbüßt hätten, bleibt unverständlich.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde macht ferner geltend, für den Antragsteller bestehe auch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, da er bis zu seiner Inhaftierung mit seiner Mutter in einer familiären Lebensgemeinschaft gelebt und diese gepflegt habe. Die gehbehinderte Mutter sei auf seine Hilfe auch angewiesen, da seine Schwester mit der Pflege überfordert sei.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Auch dieser Einwand verfängt nicht. Er stellt die Rechtmäßigkeit der Interessenabwägung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht durchgreifend in Frage. Unabhängig davon, ob die Antragsgegnerin zu Recht einen Fall des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG verneint hat, woran angesichts des Umstands, dass der Antragsteller bis zu seiner Inhaftierung mit seiner Mutter, einer deutschen Staatsangehörigen, in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hat, Zweifel bestehen könnten, hat die Antragsgegnerin im Ergebnis zutreffend (allein) dem Umstand des Zusammenlebens kein überragendes Gewicht beigemessen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Dem Verhältnis von Eltern zu erwachsenen Kindern darf regelmäßig ein geringeres Gewicht beigemessen werden als dem Verhältnis von Eltern zu minderjährigen Kindern. Bei Volljährigkeit eines Kindes fehlt es, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für eine besondere Beistandsgemeinschaft vorliegen, am Fortbestand einer schützenswerten familiären Lebensgemeinschaft. Die nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft schützt die Familie in erster Linie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Eine Familie als verantwortliche Elternschaft wird von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt. Mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes treten Verantwortlichkeit und Sorgerecht der Eltern zurück. Die Lebensgemeinschaft kann dadurch zur bloßen Haus- bzw. Begegnungsgemeinschaft werden. Maßgebend für</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">die Schutzwürdigkeit des Zusammenlebens von erwachsenen Familienangehörigen in einem Haushalt ist vor allem das Maß des Angewiesenseins auf die Lebenshilfe, die durch die Familie ihrer Funktion gemäß gewährt wird. Bei einer Hausgemeinschaft zwischen erwachsenen Familienangehörigen ergeben sich daher nur dann weitergehende Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG, wenn ein Familienmitglied auf wesentliche Lebenshilfe angewiesen ist und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe im Sinne einer besonderen Beistandsgemeinschaft tatsächlich regelmäßig erbringt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Februar 2022 ‑ 2 O 164/21 ‑, juris, Rn. 38 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen, aufgrund welcher besonderen Umstände der Antragsteller und seine Mutter auf gegenseitigen Beistand angewiesen sein sollten. Die Beschwerde legt nicht ansatzweise substantiiert dar geschweige denn legt belastbare Nachweise dazu vor, welcher konkrete Pflegebedarf bei der Mutter des Antragstellers bestehen soll und mit welchen konkreten Betreuungsleistungen er diesem jedenfalls bis zu seiner Inhaftierung begegnet sein will.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde wendet zudem ein, die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen sei fehlerhaft. Das Verwaltungsgericht nehme zwar eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung an, stelle dieser jedoch entgegen, dass der Antragsteller aufgrund der von ihm begangenen Straftat selbst für die Trennung verantwortlich sei. Indes sei das Umgangsrecht auch ein Recht des Kindes. Durch § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG werde sichergestellt, dass gerade dieses Recht auch im Rahmen einer Ausweisung berücksichtigt werde.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dieses Vorbringen verfängt nicht. Es übergeht, dass die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 20. Oktober 2021 gewürdigt hat, dass der Antragsteller Vater eines minderjährigen deutschen Kindes ist, indes ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG mit der Begründung verneint hat, das Kind J. lebe mit der Mutter in T. und eine Teilung des Sorgerechts sei nicht nachgewiesen. Der Antragsteller übe derzeit ‑ seit seiner Inhaftierung ‑ kein Umgangsrecht mit seinem Sohn aus.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Hiermit setzt sich die Beschwerde nicht substantiiert auseinander, sondern ergeht sich in allgemeinen Ausführungen zum Schutz familiärer Beziehungen bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen. Soweit die Beschwerde unter Berufung auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK allgemein geltend macht, der Sohn des Antragstellers habe als deutscher Staatsangehöriger einen Anspruch darauf, mit seinem Vater im Bundesgebiet eine familiäre Beziehung zu führen und ein regelmäßiger Kontakt sei für die Entwicklung des Kindes erforderlich, übergeht sie, dass die Antragsgegnerin diesen Umstand in ihrem Bescheid vom 20. Oktober 2021 bereits berücksichtigt und mit Blick auf den gelebten Umgang des Antragstellers mit seinem Kind bis zu seiner Inhaftierung ein schwerwiegendes Bleibeinteresse des Antragstellers gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG angenommen hat. Die Antragsgegnerin hat (auch) dieses schwerwiegende Bleibeinteresse im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung gewürdigt. Sie ist indes zu dem Ergebnis gelangt, dass die (schwerwiegenden bzw. besonders schwerwiegenden) Bleibeinteressen des Antragstellers hinter dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse zurücktreten. Die Beschwerde, die insoweit einseitig den Aspekt der Vater-Sohn-Beziehung betont, legt nicht konkret dar, dass und warum sich die Abwägungsentscheidung der Antragsgegnerin insgesamt als fehlerhaft erweisen sollte.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der allgemeine Einwand, das Verwaltungsgericht habe die tiefe Verwurzelung des Antragstellers in der Bundesrepublik und den daraus folgenden Schutz des Art. 8 EMRK nicht ausreichend berücksichtigt, verfängt nicht. Die Antragsgegnerin hat in ihrem Bescheid vom 20. Oktober 2021 bereits berücksichtigt, dass der Antragsteller in der Bundesrepublik verwurzelt sei, ihn diese Verwurzelung indes nicht an der Begehung von Straftaten gehindert habe. Dem weiteren Monitum der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe die wirtschaftliche Integration des Antragstellers unzureichend berücksichtigt, ist ebenfalls nicht zu folgen. Sowohl die Antragsgegnerin als auch das Verwaltungsgericht haben den Umstand der wirtschaftlichen Verankerung des Antragstellers berücksichtigt, indes im Rahmen der Gesamtabwägung der Interessen zurücktreten lassen. Soweit die Beschwerde erneut auf vorgelegte Arbeitsplatzangebote verweist, fehlt schon jede Auseinandersetzung mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, es handele sich insoweit um bloße Absichtsbekundungen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde wendet ferner ein, dem Antragsteller sei eine Reintegration in die Verhältnisse der Türkei nicht zumutbar, da er die türkische Sprache nicht beherrsche und in der Türkei auch über kein soziales Netzwerk verfüge. Dieser Einwand verfängt nicht. Hinsichtlich des behaupteten Fehlens türkischer Sprachkenntnisse fehlt jede Auseinandersetzung mit der Annahme der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe die Möglichkeit, sich bereits vor seiner Ausreise sowie im Rahmen von Sprachkursen in der Türkei grundlegende Sprachkenntnisse anzueignen. Auch übergeht die Beschwerde den Hinweis der Antragsgegnerin, dass in der Türkei (jedenfalls) in den Gebieten mit touristischen Schwerpunkten auch die deutsche Sprache gesprochen werde. Ebenso wenig setzt sich die Beschwerde mit der Annahme des Verwaltungsgerichts auseinander, der Antragsteller sei als volljähriger, alleinstehender Mann ohne gesundheitliche Einschränkungen in der Lage, sich mit seiner abgeschlossenen Ausbildung eine wirtschaftliche Existenz in der Türkei aufzubauen, die er jedenfalls aus Urlaubsaufenthalten kenne. Das Verwaltungsgericht hat vor diesem Hintergrund auch angenommen, dass es nicht entscheidend darauf ankomme, ob der Antragsteller in der Türkei noch über familiäre Bindungen verfüge. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, inwiefern diese Annahme von vornherein unzutreffend sein sollte.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong> Die Beschwerde richtet sich zudem gegen die Länge des verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots von 10 Jahren. Sie macht geltend, es müsse auch das junge Alter des Kindes berücksichtigt werden. Die von der Antragsgegnerin verhängte Sperre betreffe fast die komplette Kindheit und Jugend des Sohns des Antragstellers, was dem Schutz der Vater-Kind-Beziehung entsprechend Art. 6 Abs. 1 GG nicht hinreichend Rechnung trage.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Dieser Einwand greift nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 zutreffend angenommen, dass deren Ermessensentscheidung, die Wirkungen der Ausweisung des Antragstellers gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auf 10 Jahre ab dem Zeitpunkt seiner Ausreise zu befristen, auch unter Berücksichtigung etwaiger aus Art. 6 GG resultierender Belange nicht zu beanstanden sei. Die Antragsgegnerin hat bei der Bestimmung der Frist nicht nur das bisherige strafrechtliche Verhalten des Antragstellers, sondern auch die für ihn sprechenden, aber im Ergebnis zurücktretenden Gesichtspunkte (u.a. familiäre Bindungen und langfristiger Aufenthalt im Bundesgebiet) berücksichtigt. Die Beschwerde zeigt nicht substantiiert auf, inwiefern die Antragsgegnerin bei der Bestimmung dieser Frist die Grenzen ihres Ermessens überschritten haben oder etwa ein Fall des Ermessensfehlgebrauchs vorliegen könnte.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen ist eine vorzeitige oder zwischenzeitlich vorübergehende Rückkehr des Antragstellers in das Bundesgebiet nicht von vornherein ausgeschlossen. Insoweit wird auf die ‑ bei Vorliegen der entsprechenden Tatbestandsvoraussetzungen ‑ grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten einer nachträglichen Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG sowie der Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG, durch die eventuelle vor Ablauf der Frist eintretende Härten abgemildert werden können, verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und berücksichtigt, dass sich die Beschwerde nur noch gegen die Abschiebungsandrohung und die den Streitwert nicht erhöhende Befristung des Einreise - und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG richtet.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.</p>
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} | 22 B 705/22.AK | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-08-24T10:01:01 | 2022-10-17T11:09:23 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0819.22B705.22AK.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 D 122/22.AK gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24. Mai 2022 wird wiederhergestellt.</p>
<p>Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu je ½. Im Übrigen findet ein Kostenausgleich nicht statt.</p>
<p>Der Streitwert wird auf 10.357,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Antragstellerin,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung ihrer Klage 22 D 122/22.AK gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24. Mai 2022 über die Verlängerung der Zurückstellung eines immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsantrags für die Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage wiederherzustellen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Der beschließende Senat ist als „Gericht der Hauptsache“ gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a VwGO für die Entscheidung über den Antrag erstinstanzlich zuständig. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Oberverwaltungsgericht im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die die Errichtung, den Betrieb und die Änderung von Anlagen zur Nutzung von Windenergie an Land mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 m betreffen. In der Rechtsprechung des beschließenden Gerichts ist geklärt, dass hiervon auch Streitigkeiten über eine Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 BauGB erfasst sind.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 20. Juli 2021 ‑ 8 B 1088/21.AK -, BauR 2021, 1945 = juris Rn. 4 ff., und vom 11. Mai 2022 - 7 B 241/22.AK -, BauR 2022, 1168 = juris, sowie Urteil vom 1. Dezember 2021 - 7 D 84/21.AK -, juris Rn. 19 f.; Berstermann, in: BeckOK VwGO, 62. Edition, § 48 Rn. 11a.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">2. Der zulässige Antrag ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">a) Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug des angegriffenen Zurückstellungsbescheides und dem privaten Interesse der Antragstellerin, von der sofortigen Vollziehung vorerst verschont zu bleiben, fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Der angefochtene Bescheid vom 24. Mai 2022, mit dem die Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin vom 12. Mai 2020 auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage unter Verlängerung der mit Bescheid vom 25. Mai 2021 bis zum 31. Mai 2022 ausgesprochenen Zurückstellung weiter bis zum 28. Februar 2023 ausgesetzt worden ist, erweist sich bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung aller Voraussicht nach als rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Anforderungen der hier allein in Betracht kommenden Rechtsgrundlage des § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB sind voraussichtlich nicht erfüllt. Bereits die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm dürften von dem Antragsgegner unzutreffend bejaht worden sein. Selbst wenn dies indes nicht der Fall sein sollte, bestünden jedenfalls offensichtliche, im Hauptsacheverfahren durchgreifende Ermessensfehler.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB hat die Baugenehmigungsbehörde auf Antrag der Gemeinde die Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB für einen Zeitraum bis zu längstens einem Jahr nach Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs auszusetzen, wenn die Gemeinde beschlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, zu ändern oder zu ergänzen, mit dem die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB erreicht werden sollen, und zu befürchten ist, dass die Durchführung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde. Nach § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB kann die Baugenehmigungsbehörde die Entscheidung nach Satz 1 für höchstens ein weiteres Jahr aussetzen, wenn besondere Umstände dies erfordern.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Das Maß der erforderlichen Konkretisierung der zu sichernden Planung ist unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände zu bestimmen. § 15 Abs. 3 BauGB ist ein Sicherungsinstrument für eine im Werden befindliche Konzentrationszonenplanung und soll den Schutz der Planungshoheit der Gemeinde verbessern. Welche Anforderungen an die Konkretisierung der Flächennutzungsplanung zu stellen sind, hängt im Übrigen insbesondere auch vom Planungsstadium ab. Je länger der Aufstellungs- oder Änderungsbeschluss zurückliegt, desto eher muss die Gemeinde ihre Planung anhand der vorliegenden Unterlagen, namentlich der zwischenzeitlich ermittelten Planungsgrundlagen weiter konkretisieren.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zu Einzelheiten vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Dezember 2020 ‑ 8 B 1317/20 -, BauR 2021, 675 = juris, vom 20. Juli 2021 - 8 B 1088/21.AK -, BauR 2021, 1945 = juris, und vom 11. Mai 2022 ‑ 7 B 241/22.AK -, BauR 2022, 1168 = juris.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Da sich Zurückstellungsentscheidungen nach § 15 Abs. 3 BauGB zu Lasten der betroffenen Grundeigentümer auswirken, dürfen sie nur unter bestimmten Voraussetzungen und für bestimmte Zeiträume ausgesprochen werden, um das nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsgrundrecht nicht unverhältnismäßig zu beschränken.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nach dem Wortlaut des Satzes 4 reicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB allein nicht aus, um die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens ein zweites Mal auszusetzen. Der Gesetzgeber ist vielmehr davon ausgegangen, dass eine Gemeinde die Konzentrationszonenplanung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB bei Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB durchaus innerhalb des in § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB für die erste Zurückstellung vorgesehenen Zeitraums von längstens einem Jahr bewältigen kann. Eine Verlängerung nach § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB kommt nur beim Vorliegen „besonderer Umstände“ in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Formulierung „wenn besondere Umstände es erfordern“ ist identisch mit der Formulierung in § 17 Abs. 2 BauGB für die zweite Verlängerungsmöglichkeit bei Veränderungssperren, so dass es naheliegt, die hierzu ergangene Rechtsprechung auf § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB zu übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2014 - 8 B 690/14 -, NVwZ-RR 2015, 323 = juris Rn. 9; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Oktober 2018 ‑ 5 S 1398/18 -, NVwZ-RR 2019, 144 = juris; Saarl. VG, Beschluss vom 15. Mai 2014 - 5 L 572/14 -, juris Rn. 69, und nachfolgend Saarl. OVG, Beschluss vom 25. Juli 2014 - 2 B 288/14 -, ZNER 2014, 596 = juris Rn. 26; Sennekamp, in: Brügelmann, BauGB, Stand Februar 2014, § 15 Rn. 84a und b; Mitschang, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Auflage 2022, § 15 Rn. 16; Rieger, ZfBR 2014, 535, 536; anders Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2019, § 15 Rn. 95 f.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Danach ist ein Planverfahren durch besondere Umstände gekennzeichnet, wenn es sich von dem allgemeinen Rahmen der üblichen städtebaulichen Planungstätigkeit wesentlich abhebt. Das ist der Fall, wenn das Planverfahren Besonderheiten des Umfangs, des Schwierigkeitsgrades oder des Verfahrensablaufs aufweist.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Notwendig ist ferner, dass die Aufstellung des Plans gerade wegen dieser Besonderheiten mehr als die übliche Zeit erfordert. Schließlich darf die Gemeinde die Verzögerung nicht zu vertreten haben. Vertreten muss eine Gemeinde insbesondere jedes ihr vorwerfbare Fehlverhalten, wobei im Allgemeinen davon ausgegangen werden kann, dass Mängel, die in der Sphäre der Gemeinde auftreten, auf deren Fehlverhalten zurückzuführen sind. Der Gemeinde kann jedoch dann nicht der Vorwurf eines Fehlverhaltens gemacht werden, wenn sie darlegen kann, dass sie sich im jeweiligen Zeitpunkt objektiv vernünftig verhalten hat.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. schon BVerwG, Urteil vom 10. September 1976 - IV C 39.74 -, BVerwGE 51, 121 = juris Rn. 42, und Beschluss vom 30. Oktober 1992 - 4 NB 44.92 -, ZfBR 1993, 93 = juris Rn. 13; OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2014 - 8 B 690/14 -, NVwZ-RR 2015, 323 = juris Rn. 14; Nds. OVG, Beschluss vom 10. Januar 2014 - 1 MN 190/13 -, BauR 2014, 814, juris Rn. 16; Sennekamp, in: Brügelmann, BauGB, Stand Mai 2014, § 17 Rn. 52; Mitschang, in: Battis/ Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Auflage 2022, § 17 Rn. 4; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2019, § 15 Rn. 96.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Ein Sonderfall kommt nach gefestigter Rechtsprechung angesichts dessen nur dann in Betracht, wenn die Gemeinde das Bauleitplanverfahren zügig und unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte betrieben hat und betreibt.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. September 1976 ‑ IV C 39.74 -, BVerwGE 51, 121 = juris Rn. 42; BGH, Urteil vom 25. Juni 1959 - III ZR 220/57 -, BGHZ 30, 338 = juris Rn. 39; OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2016 - 2 B 282/16.NE -, juris Rn. 24, 27; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2019, § 15 Rn. 96, § 17 Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB und der getroffenen Ermessensentscheidung der Genehmigungsbehörde ist dabei derjenige des Erlasses des Zurückstellungs- bzw. Verlängerungsbescheides als letzter behördlicher Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Dezember 2020 ‑ 8 B 1317/20 -, BauR 2021, 675 = juris, vom 20. Juli 2021 ‑ 8 B 1088/21.AK -, BauR 2021, 1945 = juris, und vom 11. Mai 2022 ‑ 7 B 241/22.AK -, BauR 2022, 1168 = juris.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran erweist sich der angegriffene Verlängerungsbescheid vom 24. Mai 2022 als voraussichtlich durchgreifend fehlerhaft. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass vorliegend besondere Umstände bestünden, die eine Verlängerung der regelmäßig auf ein Jahr befristeten Zurückstellung im vorliegenden Fall rechtfertigen könnten und auf denen die Überschreitung dieses Zeitraums beruhte (dazu aa). Solche hat der Antragsgegner jedenfalls nicht festgestellt (dazu bb). Ausgehend hiervon erweist sich jedenfalls die getroffene Ermessensentscheidung als offensichtlich fehlerhaft (dazu cc).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">aa) Anhaltspunkte dafür, dass die Flächennutzungsplanung der Beigeladenen durch besondere Umstände gekennzeichnet wäre, werden sich voraussichtlich nicht feststellen lassen. Dabei mag hier dahinstehen, ob § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB hierfür als Vergleichsmaßstab den allgemeinen Rahmen der üblichen städtebaulichen Planungstätigkeit,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">so OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2014 - 8 B 690/14 -, NVwZ-RR 2015, 323 = juris Rn. 11,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">oder lediglich die sonstige Konzentrationsflächenplanung ins Auge fasst.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">So VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Oktober 2018 - 5 S 1398/18 -, NVwZ-RR 2019, 51 = juris Rn. 30; Rieger, ZfBR 2014, 535, 537.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Für letzteres spricht indes mit Gewicht der systematische Zusammenhang der Regelung. § 15 Abs. 3 BauGB stellt eine Sonderregelung für eine Flächennutzungsplanung mit Ausschlusswirkung im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB dar und hat mithin nur diese im Blick. Dies gilt in besonderem Maße für § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB, der in der allgemeinen Regel des § 15 Abs. 1 BauGB gerade keine Entsprechung findet, also für die „übliche städtebauliche Planungstätigkeit“ nicht gilt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man dies indes anders beurteilte, ist anerkannt, dass Konzentrationszonenplanungen nicht schon für sich genommen einen besonderen Umstand im Sinne des § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB begründen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">So ausdrücklich OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2014 - 8 B 690/14 -, NVwZ-RR 2015, 323 = juris Rn. 17; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Oktober 2018 - 5 S 1398/18 -, NVwZ-RR 2019, 51 = juris Rn. 31.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Daraus folgt unmittelbar, dass sich das konkrete Planungsvorhaben (auch) von den üblichen entsprechenden Planungen qualitativ abheben muss. Wäre dies nicht der Fall, stellte nämlich allein die Tatsache, dass es um eine Konzentrationszonenplanung für Windenergieanlagen geht, diese Besonderheit dar. Hieran ändert auch die zutreffende Feststellung nichts, dass der Rahmen von einem Jahr für eine - bei § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB ersichtlich im Zentrum stehende - ordnungsgemäße Konzentrationszonenplanung für die Nutzung der Windenergie tatsächlich mindestens knapp bemessen ist.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Darauf abstellend insbesondere OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2014 - 8 B 690/14 -, NVwZ-RR 2015, 323 = juris Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Gesetzgeber hat diesen Zeitraum gleichwohl für grundsätzlich ausreichend und angemessen gehalten, obwohl ihm die Komplexität des Planungsprozesses bekannt gewesen sein muss. Trotzdem hat er - anders als etwa in § 17 Abs. 1 Satz 3 BauGB für sogar auf zwei Jahre angelegte Veränderungssperren für „normale“ Bebauungsplanverfahren - eine voraussetzungslose Verlängerung gerade nicht vorgesehen und hieran bis heute festgehalten. Entgegen der insbesondere von der Beigeladenen offenbar vertretenen Auffassung erlaubt es § 15 Abs. 3 BauGB mithin nicht, für eine Flächennutzungsplanung, die die Wirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB haben soll, von einer Regelfrist von zwei Jahren für die Zurückstellung auszugehen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Solche damit konkret zu fordernde Besonderheiten - etwa besonders aufwändige Artenschutzprüfungen oder sonstige in den örtlichen Gegebenheiten begründete Besonderheiten - sind aber letztlich schon deshalb nicht zu erkennen, weil die hier in Rede stehende Flächennutzungsplanung sich nicht in einem rechtlichen oder tatsächlichen Neuland bewegt. Vielmehr konnte die Beigeladene auf ihre früheren Planungsergebnisse und deren rechtliche Bewertung durch das beschließende Gericht in seinem Urteil vom 6. März 2018 - 2 D 95/15.NE - zurückgreifen und sich entsprechend im Kern auf eine Fehlerkorrektur beschränken, zumal sie erklärtermaßen an ihren früheren Planungsvorstellungen grundsätzlich festhalten will. Insbesondere sind in den Entscheidungsgründen des Urteils, gegen das die Beigeladene Rechtsmittel nicht eingelegt hat, bereits die Punkte klar aufgezeigt, die die Beigeladene nicht zuletzt mit ihrer Antragserwiderung als erst im Laufe des Planungsprozesses eingetretene bzw. erkennbare Entwicklungen bezeichnet. Dies gilt namentlich für die Einordnung der Waldgebiete und die insoweit ggf. erforderliche differenzierende Betrachtung, die „Unwirksamkeit“ des „Zieles“ 5 des einschlägigen Gebietsentwicklungsplans, Vorsorgeabstände und Schutzgebiete. Demgegenüber war der ebenfalls angeführte Orientierungswert von 10 % für die Frage, ob der Windenergienutzung substanzieller Raum eröffnet wurde und wird, für die Planung der Beigeladenen schon damals nicht entscheidungserheblich.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu schon OVG NRW, Urteil vom 6. März 2018 - 2 D 95/15.NE -, DVBl. 2018, 950 = juris Rn. 18, 62, 72 ff.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dass die Abarbeitung dieser für die hiesige Planung relevanten Aspekte nicht innerhalb eines Jahres möglich gewesen wäre, ist mithin nicht zu erkennen. In diesem Zusammenhang hat die Antragstellerin zudem mit Recht darauf hingewiesen, dass der Beigeladenen tatsächlich bis zu ihrem Verlängerungsantrag ein Zeitraum von mehr als vier Jahren zur Verfügung gestanden hat. Der Einleitungsbeschluss datiert vom 18. März 2018. Auch wenn es - wie die Beigeladene insoweit zutreffend anführt - keine Höchst- oder Regelfrist für Flächennutzungsplanungen gibt und die Zeiten geringerer Planungsaktivitäten vor einer Zurückstellung von geringerem Gewicht als die danach liegenden Zeiträume sind,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 2021 - 8 B 1541/21.AK -, NWVBl. 2022, 207 = juris Rn. 28 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">gehört der Gesamtplanungszeitraum fraglos zu den Aspekten, die für die Frage, ob „besondere“ Umstände eine Verlängerung der Zurückstellung erfordern, zu berücksichtigen sind. So hat schon der Antragsgegner in einer E-Mail vom 18. Juni 2020 zutreffend angemerkt: „Eigentlich müsste der Plan ja kurz vor der Vollendung stehen. Stutzig macht mich, dass ich auch nichts zur frühzeitigen Beteiligung geschweige denn zur Offenlage gefunden habe.“</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Unbeschadet dessen lässt sich auch für den Zeitraum ab der ersten Zurückstellung nicht feststellen, dass die Überschreitung der ersten Zurückstellungsfrist der Beigeladenen nicht zurechenbar sein könnte, es ihr also unter Aufbietung aller Kräfte unter Beachtung des gerade aufgrund des Rückgriffs auf Planungssicherungsinstrumente geltenden Zügigkeitsgebotes nicht möglich war, die Planung rechtzeitig zum Abschluss zu bringen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Hiergegen spricht bereits, dass die Beigeladene sich wiederholt nicht an ihren eigenen, auch und gerade gegenüber dem Antragsgegner kommunizierten Zeitplan gehalten hat, ohne dass sie dies auch nur ansatzweise begründet hätte. So hat sie im Rahmen der ersten Zurückstellung mitgeteilt, die frühzeitige Öffentlichkeits- und Trägerbeteiligung sei „im ersten Halbjahr 2021 geplant.“ Tatsächlich fand diese (erst) zum Ende des 3. Quartals 2021 - nämlich vom 26. August bis 27. September 2021 - statt. Eine Begründung für diese Verzögerung ist den Aufstellungsvorgängen nicht zu entnehmen. Mindestens Gleiches zeichnet sich für die förmliche Offenlage nach §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2 BauGB ab. Hier hatte die Beigeladene mit ihrem Verlängerungsantrag vom 4. Mai 2022 gegenüber dem Antragsgegner noch mitgeteilt, sie beabsichtige, diese „im II. Quartal 2022 […] durchzuführen“. Tatsächlich soll nun, wie sie mit Schriftsatz vom 24. Juni 2022 im Hauptsacheverfahren 22 D 122/22.AK erklärt hat, ein Ratsbeschluss zur Offenlage frühestens in der Ratssitzung am 25. August 2022 gefasst werden, so dass die förmliche Öffentlichkeits- und Trägerbeteiligung absehbar nicht einmal im 3. Quartal 2022 durchgeführt sein, sondern noch in das 4. Quartal 2022 hineinreichen wird. Das lässt es zugleich mindestens unwahrscheinlich erscheinen, dass das Verfahren innerhalb der verlängerten Zurückstellungsfrist bis zum 28. Februar 2023 ordnungsgemäß wird abgeschlossen werden können. Das gilt umso mehr, als selbst dieser Zeitplan ausweislich der Antragserwiderung vom 5. August 2022 offensichtlich nicht mehr gelten soll; die förmliche Offenlage soll nunmehr erst im 4. Quartal stattfinden. Tatsächlich steht ein Offenlagebeschluss nicht auf der im Ratsinformationssystem der Beigeladenen abrufbaren Tagesordnung für die Ratssitzung am 25. August 2022. Zugleich macht die Beigeladene geltend, in der Beteiligung gingen „nicht selten hunderte Stellungnahmen“ ein, die kaum mehr innerhalb der dann noch verfügbaren jedenfalls weniger als vier Monaten ordnungsgemäß abgearbeitet werden könnten. Gründe für dieses bemerkenswerte zweimalige Abrücken von einem jeweils nur etwa sechs Wochen zuvor förmlich avisierten Zeitplan sind im Übrigen weder den Aufstellungsvorgängen noch den im Verfahren abgegebenen Erklärungen zu entnehmen. Dass eine Einzelfallbetrachtung der verbliebenen Potenzialflächen noch aussteht, musste vielmehr am 5. Mai wie am 24. Juni 2022 bekannt sein. Zugleich erschließt sich nicht, warum hierfür nach dem letzten einschlägigen Ratsbeschluss vom 7. April 2022 ein Zeitraum von mehr als vier Monaten erforderlich sein sollte.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für den Umstand, dass der Rat der Beigeladenen seine Entscheidung über ein so wesentliches, gleichzeitig aber von keiner artenschutzrechtlichen Begutachtung abhängiges Kriterium wie den dem Gesamtkonzept zugrunde zu legenden Vorsorgeabstand zur Wohnbebauung im Außenbereich und zu Siedlungsflächen erst am 7. April 2022 getroffen hat. Selbst das von der Beigeladenen wiederholt als objektiv verfahrensverzögernd betonte nordrhein-westfälische Gesetzgebungsverfahren zur 2. Änderung des Ausführungsgesetzes zum Baugesetzbuch, das zur Ausschöpfung der in § 249 Abs. 3 BauGB eröffneten Möglichkeiten geführt hat, war zu diesem Zeitpunkt bereits seit etwa neun Monaten abgeschlossen. Dieser Zeitraum fällt auch vollständig in die bereits laufende (erste) Zurückstellung. Demgegenüber hat die seitens des von der Beigeladenen beauftragten Planungsbüros bereits in der Ratssitzung vom 3. Dezember 2021 als in den nächsten Ratssitzungen notwendig herausgestellte Diskussion - geschweige denn eine Entscheidung - über die Bewertung von Waldflächen jedenfalls ausweislich der Aufstellungsvorgänge bis heute nicht stattgefunden. Auch der dort genannte, „Anfang des Jahres 2022“ zu erarbeitende Zeitplan findet sich in den Aufstellungsvorgängen oder in sonstigen im Verfahren vorgelegten Unterlagen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ferner ist - zumal angesichts der hierfür gegebenen Begründung - nicht nachvollziehbar, warum die für erforderlich gehaltenen ornithologischen Gutachten erst so spät in Auftrag gegeben wurden, dass sie ausweislich der Mitteilung der Verwaltung der Beigeladenen in der Ratssitzung vom 23. Juni 2022 noch nicht vorlagen. Dies wird dadurch bestätigt, dass sie jedenfalls am 24. Juni 2022 noch nicht Bestandteil der Aufstellungsvorgänge geworden waren. Dass die bisherigen Untersuchungen ein gewisses Alter erreicht hatten, war vielmehr seit dem Einleitungsbeschluss offensichtlich, zugleich die Lage der Potenzialflächen jedenfalls im Wesentlichen bekannt. In diesem Zusammenhang ist indes anzumerken, dass die in der Antragserwiderung der Beigeladenen aufgestellte Behauptung, die Gutachten seien „noch im Jahr 2020 beauftragt“ worden, kaum zutreffen dürfte, sondern wahrheitswidrig erfolgt ist. Zwar finden sich die Aufträge selbst in den Aufstellungsvorgängen nicht, dafür aber eine E‑Mail vom 9. Februar 2021 an den Bürgermeister der Beigeladenen, nach der der Gutachter G. , der die Brutvogeluntersuchungen durchgeführt hat, erst im Februar 2021 - „wieder erwarten“ - ausfindig gemacht werden konnte und jedenfalls an diesem Tag noch nicht beauftragt war. Gleiches gilt für den Gutachter T. , von dem der „Fachbeitrag zur Flächennutzungsplanung der Stadt Bad X. – Ergebnisse avifaunistischer Untersuchungen im Jahr 2021 in vier für Windenergie vorgesehenen Gebieten“ stammt. Dieser wurde nach Aktenlage am 10. Februar 2021 nachgemeldet. Jenseits dessen ist nicht nachvollziehbar, warum diese Gutachten, die im Oktober 2021 bzw. März 2022 erstellt worden sein sollen, noch im Juni 2022 nicht dem Rat vorlagen oder zu den Aufstellungsvorgängen gelangt waren.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dass die Beigeladene ihren Angaben gegenüber dem Antragsgegner entsprechend „von den zur Verfügung stehenden Instrumenten zur Beschleunigung des Planungsverfahrens Gebrauch gemacht hat“, ist gleichfalls nicht zu erkennen, zumal es insoweit an jeglicher Konkretisierung fehlt. Welche Instrumente sie damit meinen könnte, hat die Beigeladene ebenso wenig wie nähere Umstände und Effekte ihres Einsatzes erläutert. In ihrer Antragserwiderung vom 5. August 2022 findet sich hierzu kein Wort, obwohl bereits die Antragstellerin in ihrem Schreiben an den Antragsgegner vom 17. Mai 2022 das Fehlen jeglicher Belege für diese Behauptung gerügt hatte. Es dürfte sie mithin tatsächlich nicht geben. Jedenfalls der am 20. August 2020 gefasste Beschluss, nach dem fortan der Rat alle Entscheidungen - einschließlich etwa Verfahrensbeschlüsse - zur 67. Flächennutzungsplanänderung treffen muss, kann kaum als Mittel der Beschleunigung verstanden werden. Ebenso findet sich etwa auch in den vorliegenden Planungs- und Gutachtenaufträgen keine zeitliche Vorgabe. Die „langwidrige“ Vorgehensweise des Planungsbüros haben selbst die Ratsfraktionen der Beigeladenen in der Sitzung vom 23. Juni 2022 kritisiert (vgl. dazu das Dokument unter https://ratsinfoservice.de/ris/badx./itemtracker/details/2727). Dies muss sich die Beigeladene als in ihrem Verantwortungsbereich liegend indes zurechnen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">bb) Selbst wenn aber tatsächlich besondere Umstände im Sinne von § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB vorliegen sollten und die Verzögerung als darauf beruhend zu betrachten wäre, hätte der Antragsgegner einen solchen Sachverhalt seiner Ermessensentscheidung jedenfalls nicht zugrunde gelegt. Es ist nicht ersichtlich, dass er sich mit dem konkreten Planungsverfahren selbst beschäftigt hätte. Vielmehr hat er sich offenkundig unbesehen auf die zumindest in Teilen unzutreffenden oder nicht belastbaren Angaben der Beigeladenen verlassen. Dies mag für eine erste, gebundene Zurückstellung noch im Ansatz tragfähig sein. Demgegenüber verlangt eine ausnahmsweise nach Ermessen zu gewährende Verlängerung - wie jede Ermessensentscheidung - eine eigene, hinreichende Sachverhaltsermittlung durch die Genehmigungsbehörde. Solches lässt sich hier nicht einmal im Ansatz feststellen. Noch mit der Antragserwiderung im hiesigen Verfahren hat der Antragsgegner bestätigt, dass die Aufstellungsvorgänge dort nicht vorlägen. Wie er gleichwohl ein von der Beigeladenen zu vertretendes Fehlverhalten hinsichtlich der zeitlichen Dauer des Planungsverfahrens ausdrücklich als „nicht ersichtlich“ feststellen konnte, verwundert angesichts der fehlenden Beschäftigung mit diesem Verfahren - und der oben aufgeführten Lücken sowie der eigenen Feststellung vom 18. Juni 2020 - allerdings schon. Dies gilt umso mehr, als der Antragsgegner auch und gerade durch die im Anhörungsverfahren abgegebene Stellungnahme der Antragstellerin vom 17. Mai 2022 genügenden Anlass hätte haben müssen, sich näher mit den Angaben der Beigeladenen auseinanderzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">In der Folge hat der Antragsgegner - teilweise unter wörtlicher Wiederholung der Begründungen der ersten Zurückstellung und des Verlängerungsantrags der Beigeladenen - letztlich allein die Planungshintergründe erneut aufgeführt und im Übrigen auf die allgemeine Komplexität von Konzentrationszonenplanungen verwiesen. Welche besonderen Umstände gerade im konkreten Fall aus seiner Sicht die zeitliche Verzögerung verursacht haben, ergibt sich daraus indes nicht. Solches wird im angefochtenen Bescheid auch nicht geprüft, sondern offenbar bei einem vermeintlich fehlenden Fehlverhalten der Beigeladenen als gegeben vorausgesetzt (vgl. Bescheid S. 8).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">cc) Vor diesem Hintergrund erweist sich der angegriffene Bescheid vom 24. Mai 2022 zumindest als ermessensfehlerhaft. Denn der Antragsgegner hat - wie ausgeführt - jedenfalls nicht alle wesentlichen Ermessensgesichtspunkte berücksichtigt und sich zudem einseitig und - soweit ersichtlich - ungeprüft auf Angaben der Beigeladenen gestützt, die in Teilen unzutreffend und/oder schon zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Verlängerungsantrag nicht belastbar waren. Hinzu kommt, dass ausweislich der Bescheidbegründung allein die grundgesetzliche Verankerung der Planungshoheit der Beigeladenen angesprochen wird, die ebenso verfassungsrechtlich fundierten Interessen der Antragstellerin (Art. 12, 14 GG) und der Allgemeinheit (Art. 20a GG) als solche aber keine Erwähnung finden. Hierzu passt, dass die von der Antragstellerin angeführte bevorstehende - und inzwischen in Kraft getretene - Gesetzesänderung mit dem verkürzten Argument, diese gelte noch nicht, beiseitegeschoben wird, ohne die dahinter stehenden, bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung bestehenden Tatsachen und Interessenlagen auch nur erkennbar in Erwägung zu ziehen.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Zusammenhang und unter dem Gesichtspunkt des erforderlichen intertemporären Grundrechtsschutzes bereits BVerfG, Beschluss vom 23. März 2022 - 1 BvR 1187/17 -, juris Leitsatz 3: Der Ausbau erneuerbarer Energien dient dem Klimaschutzziel des Art. 20a GG und dem Schutz von Grundrechten vor den Gefahren des Klimawandels, weil mit dem dadurch CO<sub>2</sub>-emissionsfrei erzeugten Strom der Verbrauch fossiler Energieträger zur Stromgewinnung und in anderen Sektoren wie etwa Verkehr, Industrie und Gebäude verringert werden kann. Der Ausbau erneuerbarer Energien dient zugleich dem Gemeinwohlziel der Sicherung der Stromversorgung, weil er zur Deckung des infolge des Klimaschutzziels entstehenden Bedarfs an emissionsfrei erzeugtem Strom beiträgt und überdies die Abhängigkeit von Energieimporten verringert.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dies wirkt sich umso stärker aus, als bereits unter bisherigen Rahmenbedingungen das erhebliche öffentliche Interesse an der Beschleunigung von Verfahren zur Errichtung und zum Betrieb von Windenergieanlagen im Rahmen der Energiewende als ein maßgeblicher Faktor bei der Beurteilung widerstreitender Interessen anerkannt war.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 12. März 2021</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">- 7 B 8/21 -, BauR 2021, 957 = juris, vom 20. Juli 2021 - 8 B 1088/21.AK -, BauR 2021, 1945 = juris, und vom 5. Mai 2022 - 7 B 1783/21.AK -, BauR 2022, 1166 = juris; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 8. April 2021 - 1 B 10081/21 -, ZNER 2021, 294 = juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21. Januar 2022 - 10 S 1861/21 -, UPR 2022, 193 = juris.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Zugleich hat der Antragsgegner den - grundsätzlich berechtigten - Interessen der Beigeladenen am Schutz ihrer Planungshoheit vorliegend ein Gewicht beigemessen, das ihnen objektiv angesichts des von der Beigeladenen dargelegten Planungsstandes nicht zukommt. Er hat seine Ermessensentscheidung jedenfalls maßgeblich darauf gestützt, eine Genehmigung des Vorhabens der Antragstellerin würde einen erfolgreichen Abschluss der laufenden Flächennutzungsplanung insgesamt unmöglich machen. „Die bisher ausgearbeiteten und weit fortgeschrittenen Planungen wären hinfällig. Zudem sind auch für die Stadt Bad X. wirtschaftliche Interessen von Belang; das Planverfahren zur Ausweisung von Windkonzentrationszonen ist auf Grund seiner Komplexität und seines Umfangs mit hohen Kosten für die Gemeinde verbunden“. Von solchen Folgen einer Genehmigung kann hier indes keine Rede sein, weil der beantragte Standort der Anlage auch nach den Angaben der Beigeladenen innerhalb einer Potenzialfläche liegt, die derzeit ohnehin einer Einzelfallbetrachtung unterzogen wird. Das Grundgerüst der Planung, insbesondere die auf den gesamten Planungsraum anzuwendenden harten und weichen Tabukriterien werden von dem Ergebnis des hiesigen Genehmigungsverfahrens mithin nicht berührt, die Auswirkungen beschränken sich vielmehr allein auf die dritte Stufe der Planung, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zurückstellung gerade erst begonnen hatte und ergebnisoffen nach individuellen Gesichtspunkten abzuarbeiten ist. Vor diesem Hintergrund sind die in der Begründung des Verlängerungsantrags enthaltenen Ausführungen zur einschlägigen Potenzialfläche, die einer Vorfestlegung dahingehend, diese werde im Ergebnis nicht berücksichtigt werden, zumindest nahe kommen, angesichts des offenbar erst erreichten Planungsstandes für sich genommen durchaus problematisch. Dass die bisherigen Planungen „hinfällig“ würden, trifft jedenfalls nicht zu. Zugleich greift angesichts dessen das Kostenargument so nicht, wobei dahinstehen kann, ob dieses im Rahmen der Entscheidung nach § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB überhaupt von eigenständiger Relevanz sein kann.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">b) Selbst wenn indes die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren entgegen der Überzeugung des Senats als offen anzusehen wären, fiele die dann gebotene allgemeine Interessenabwägung im konkreten Fall zugunsten der Antragstellerin aus. Da es - wie ausgeführt - mindestens unwahrscheinlich geworden ist, dass die Beigeladene ihre Flächennutzungsplanung bis zum Ablauf der erneuten Zurückstellung ordnungsgemäß und rechtsgültig wird abschließen können, fehlt es an einem hinreichenden rechtfertigenden Grund, die eigentumsrechtlich verfestigte Anspruchsposition der Antragstellerin auf Bescheidung ihres Genehmigungsantrages noch bis dahin einzuschränken.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der Senat bewertet die Bedeutung des die Zurückstellung des Genehmigungsantrags betreffenden Hauptsacheverfahrens mit 1 % der Investitionssumme, die hier nach den Angaben der Antragstellerin im Genehmigungsantrag 2.071.428,50 Euro netto beträgt. Der sich danach ergebende Betrag ist im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Verfahrens zu halbieren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Mai 2022 ‑ 7 B 241/22 -, juris Rn. 16 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.</p>
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346,277 | ovgnrw-2022-08-19-4-a-343919a | {
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} | 4 A 3439/19.A | 2022-08-19T00:00:00 | 2022-08-24T10:01:01 | 2022-10-17T11:09:23 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0819.4A3439.19A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 8.7.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen wird abgelehnt.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Aus der Antragsbegründung ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt hat (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg wenden die Kläger ein, das Verwaltungsgericht habe sich mit zentralem Vorbringen nicht hinreichend auseinandergesetzt; auch hätten sie nicht damit rechnen können, dass das Verwaltungsgericht den Schutz vor Eingriffen in die Religionsfreiheit auf besonders religiöse Personen beschränke, wie etwa missionarisch tätige Gläubige oder sonst herausragende Personen. Eine derartige Beschränkung des möglichen Personenkreises der Gläubigen sei der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht zu entnehmen. Deshalb hätten die Kläger auch nicht weitere Beweisanträge stellen können.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das in Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verankerte Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das jeweilige Gericht im Rahmen seiner Rechtsprechung diesen Anforderungen genügt. Das Gericht ist allerdings nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu behandeln. Deshalb müssen, soll ein Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs festgestellt werden, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Das Recht auf rechtliches Gehör begründet zudem grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Eine entsprechende gerichtliche Hinweispflicht besteht zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung nur dann, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht mit einer bestimmten Bewertung seines Sachvortrags durch das Verwaltungsgericht zu rechnen braucht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16.10.2020 ‒ 4 A 710/20.A ‒, juris, Rn. 7 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör hier nicht aufgezeigt. Die Antragsschrift legt nicht durchgreifend dar, dass das Verwaltungsgericht zentrales Vorbringen der Kläger entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen hat bzw. seine Entscheidung auf einen bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung nicht mit den Beteiligten erörterten und für sie nicht erkennbaren rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt hat, mit dem sie nicht rechnen mussten.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Aus dem von den Klägern selbst angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich, dass die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten abhängt. Objektive Gesichtspunkte sind danach insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht das Bundesverwaltungsgericht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Nach seinem Verständnis muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 28 ff.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dieser der angegriffenen Entscheidung zu Grunde gelegten Rechtsprechung war die vom Verwaltungsgericht als entscheidungserheblich erachtete Frage, ob eine gefahrträchtige öffentliche Religionsausübung zur religiösen Identität der Kläger gehört, beginnend mit ihrem hierauf gestützten Asylantrag aus dem Erstverfahren, Gegenstand aller ihrer bisherigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Hierzu haben ihre Prozessbevollmächtigten schon im Asylantrag im Oktober 2015 vorgetragen. Nachdem sodann der Ablehnungsbescheid vom 26.10.2016 die angeführte höchstrichterliche Rechtsprechung seiner Prüfung zu Grunde gelegt hatte, war schon das Verwaltungsgericht Trier im ersten Asylverfahren davon ausgegangen, die Klägerin zu 2. sei weder aus religiösen Gründen verfolgt worden noch sei sie eine religiös geprägte Persönlichkeit. Das Folgeverfahren war dann vor allem geführt worden, weil die Klägerin zu 2. nach ihrer zwischenzeitlich erfolgten Exkommunizierung aus der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in diese wieder aufgenommen worden war und auch der Kläger zu 1. nunmehr zu dieser Gemeinde gehöre, obwohl er noch nicht endgültig als zugehörig registriert sei. Im angefochtenen Bescheid des Bundesamts ist der Vortrag der Kläger dahingehend gewertet worden, sie hätten nicht darlegen können, dass sie innerhalb der Ahmadiyya-Gemeinschaft eine derart exponierte Stellung einnähmen, die eine landesweite Verfolgung als hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen könnte. Das Verwaltungsgericht hat sodann das gesamte Vorbringen der Kläger – es hat nicht lediglich auf den persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung abgestellt – nach den höchstrichterlich entwickelten Maßstäben nachvollziehbar und umfassend dahingehend gewürdigt, die Überzeugung der Kläger als religiöser Personen, für welche die öffentliche Glaubensausübung – auch in Pakistan – zur Wahrung ihrer religiösen Identität besonders wichtig und in diesem Sinne unverzichtbar sei, sei dem Gericht nicht vermittelt worden (vgl. Urteilsabdruck, Seite 10, zweiter Absatz, bis Seite 12, zweiter Absatz). Einen allgemeinen Rechtssatz, wonach nur prominente oder missionierende Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft in einer besonderen Position den Schutz vor Eingriffen in die Religionsfreiheit beanspruchen könnten, hat das Verwaltungsgericht entgegen dem Vorbringen der Kläger nicht aufgestellt. Auch lassen diese Ausführungen des Gerichts erkennen, dass der Vorwurf unberechtigt ist, es habe sich mit den vorgetragenen und durch Fotos belegten Aktivitäten der Klägerin zu 2. im Bundesgebiet nicht auseinandergesetzt. Ebenfalls ohne Erfolg rügen die Kläger, das Verwaltungsgericht hätte prüfen müssen, ob der Kläger zu 1. sich „besonders exponieren“ wolle oder ob es ihm zuzumuten sei, die Tatsache seiner Konversion zu verschweigen, um Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen. Indem das Verwaltungsgericht deutlich gemacht hat, es gehe schon nicht davon aus, der Kläger zu 1. sei bereits vollwertiges Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinschaft und seinen Angaben lasse sich eine besondere Bedeutung der religiösen Betätigung des Glaubens nach außen zur Wahrung seiner religiösen Identität erst recht nicht entnehmen (vgl. Urteilsabdruck, Seite 12, zweiter Absatz), hat es zugleich das schon im Tatbestand erwähnte Vorbringen zu seiner Konversion vom sunnitischen Glauben zur ahmadischen Glaubensrichtung zur Kenntnis genommen und auch gemessen an der Auskunftslage nachvollziehbar gewürdigt und dies begründet. Nach dem Prozessverlauf mussten die anwaltlich vertretenen Kläger als gewissenhafte Prozessbeteiligte mit einer von ihren subjektiven Vorstellungen abweichenden Würdigung der ihnen bekannten tatsächlichen aktenkundigen Umstände rechnen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.1.2010 − 5 B 21.09 u. a. −, juris, Rn. 22, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Hat das Verwaltungsgericht mithin ohne Gehörsverstoß nicht die Überzeugung gewonnen, dass die öffentliche Glaubensbetätigung für die Kläger ein zentraler, innerlich verpflichtender und daher unverzichtbarer Bestandteil ihrer religiösen Identität sei, liegt auch in seiner hierauf beruhenden Würdigung, die Kläger könnten bezogen auf ihr Vorbringen, von Verwandten und einem Mullah in Lahore bedroht worden zu sein, auf eine inländische Fluchtalternative in einem anderen Teil Pakistans verwiesen werden (vgl. Urteilsabdruck, Seite 12, letzter Absatz), kein unzulässiges Übergehen entscheidungserheblichen Vortrags oder gar eine fehlende Begründung.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auch die Kritik der Kläger an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts führt nicht auf eine Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO). Sie ist dem sachlichen Recht zuzurechnen und rechtfertigt, sofern sie – wie hier – nicht von Willkür geprägt ist, von vornherein nicht die Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensmangels nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 1.2.2010 – 10 B 21.09 u. a. –, juris, Rn. 13, und vom 2.11.1995 – 9 B 710.94 –, juris, Rn 5.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">2<strong>.</strong> Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) liegt gleichfalls nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">a) Die Kläger rügen unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 –, das Verwaltungsgericht gehe auf die drei Ermittlungsansätze des Bundesverwaltungsgerichts nicht ein. Es meine offenbar, dass die betroffene Person eine besondere Position innehaben müsse, um sich auf eine Verfolgungsgefahr wegen öffentlicher Religionsausübung berufen zu können. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei eine derartige Beschränkung des möglichen Personenkreises der Gläubigen nicht zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Diese Einwände greifen nicht durch bzw. treffen schon nicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Bundesverwaltungsgericht hat in Randnummer 31 des oben genannten Urteils ausgeführt, für die Feststellung, ob und seit wann Ahmadis aus Pakistan der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya angehörten, dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten. Zusätzlich komme die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadiyya-Gemeinde in Betracht. Schließlich erscheine im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen der mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Das Verwaltungsgericht, das seine rechtlichen Maßstäbe ausdrücklich u. a. dieser Entscheidung entnommen hat (vgl. Urteilsabdruck, Seite 10), hat seine Entscheidungsfindung ersichtlich unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht aufgezeigten Ermittlungsansätze getroffen. Es bedurfte keiner weiteren Ausführungen zu den von den Klägern angeführten Ermittlungsansätzen. Das Verwaltungsgericht hat seine Würdigung auf die Angaben der Klägerin zu 2. zur ihrer Glaubenspraxis und des Klägers zu 1. zu seinem noch nicht vollständig abgeschlossenen Übertritt zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya gestützt. Dass das Verwaltungsgericht der Auffassung gewesen wäre, zur Ermittlung des Inhaltes der religiösen Identität von Ahmadis aus Pakistan komme die Befragung eines Vertreters der lokalen Gemeinde, der der Gläubige angehöre, nicht in Betracht, lässt sich der angefochtenen Entscheidung nicht entnehmen. Auch die Kläger benennen nicht – wie erforderlich –,</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8.6.2015 – 4 A 361/15.A –, juris, Rn. 2 f., m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">einen inhaltlich bestimmten, die angegriffene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz, mit dem das Verwaltungsgericht dem Bundesverwaltungsgericht insoweit widersprochen hätte. Dass das Verwaltungsgericht im Einzelfall der Kläger keinen Bedarf für weitere Ermittlungen gesehen hat, genügt hierfür nicht.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">b) Die Kläger begründen ihren Zulassungsantrag weiter damit, in der höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung seien das Werben oder Missionieren für einen Glauben, welche eine Indizwirkung für eine starke religiöse Bindung haben mögen, als Abgrenzungskriterien bislang nicht verwandt worden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Auch damit ist die geltend gemachte Divergenz im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG nicht dargelegt. Es fehlt schon an der Gegenüberstellung der voneinander abweichenden Rechtssätze, die zur ordnungsgemäßen Erhebung der Divergenzrüge unverzichtbar ist. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht seiner Würdigung einzelfallbezogen das Vorbringen der Kläger zu Grunde gelegt. Eine möglicherweise fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall vermag den Zulassungsgrund der Divergenz ohnehin nicht zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.8.2013 – 8 B 36.13 –, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">3. Der Antragsbegründung ist schließlich nicht zu entnehmen, dass der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (grundsätzliche Bedeutung der Sache) vorliegt. Die Kläger zeigen nicht auf, dass die sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">ob es für alle Ahmadis und damit auch für die Kläger möglich und zumutbar wäre im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, sich in der Kleinstadt Rabwah, in anderen Landesteilen oder in pakistanischen Großstädten niederzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">in einem Berufungsverfahren in einer über den Einzelfall hinausgehenden grundsätzlichen Weise entscheidungserheblich zu klären sein müsste.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Einer grundsätzlichen Klärung der aufgeworfenen Frage bedarf es nicht schon deshalb, weil nicht alle Ahmadis in Rabwah ihr Auskommen finden können. Mit dieser Begründung ist ein allgemeiner Klärungsbedarf für ein Berufungsverfahren schon deshalb nicht aufgezeigt, weil im Streitfall auch pakistanische Großstädte als Fluchtalternativen erwogenen worden sind. Abgesehen davon lässt die pauschale Begründung der Kläger ein allgemeines Klärungsbedürfnis und eine Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage gerade in einem Fall nicht erkennen, in dem sowohl das Bundesamt (vgl. Bescheid vom 29.1.2019, Seite 7, letzter Absatz, bis Seite 8, letzter Absatz) als auch das Verwaltungsgericht (vgl. Urteilsabdruck, Seite 12, letzter Absatz, bis Seite 13, vorletzter Absatz) einzelfallbezogen eine inländische Fluchtalternative auch unter Berücksichtigung familiärer Kontakte nach Rabwah und des Bildungsstandes der Kläger angenommen haben. Dies gilt umso mehr, nachdem die Klägerin zu 2. bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt selbst angegeben hat, man könne in Pakistan als Ahmadi ein normales Leben führen, solange man seine Zugehörigkeit zur Gemeinde geheim halte, weshalb sie selbst dort bis zu ihrer Heirat einen guten Job und ein gutes Leben gehabt habe (vgl. Niederschrift über die Anhörung der Klägerin zu 2. vom 21.1.2019, Seite 6, dritter Absatz).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.</p>
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} | 5 Ws 211/22 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-09-27T10:01:38 | 2022-10-17T11:10:34 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0818.5WS211.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten (§ 473 Abs. 1 StPO) als unbegründet verworfen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Verurteilte ist durch die 2. große Strafkammer des Landgerichts Arnsberg am 03.04.2009 wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt worden. Daneben hat die Kammer den Verfall von Wertersatz in das Vermögen des Angeklagten in Höhe von 40.000,00 Euro angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Verurteilte verbüßte bis zum Jahr 2012 Zweidrittel der Haftstrafe. Während dieser Zeit wurde ihm im Hinblick auf die Vollstreckung des Verfalls eine Stundung gewährt. Seit der Haftentlassung wurde ihm eine monatliche Ratenzahlung zugebilligt. Er zahlt seitdem monatlich 50,00 Euro auf die Forderung aus der Verfallsanordnung und daneben weitere 50,00 Euro auf die Verfahrenskosten.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben der Schuldnerberatung vom 26.08.2021 hat der Verurteilte beantragt, die Vollstreckung der Verfallsforderung einzustellen. Die weitere Vollstreckung sei angesichts der finanziellen Verhältnisse der Familie sowie der jahrelangen zuverlässigen Ratenzahlungen nicht mehr verhältnismäßig. Der Verurteilte und seine Familie seien durch die Gesamtsituation belastet. Er befinde sich in psychiatrischer Behandlung. Zur Darlegung seiner finanziellen Verhältnisse hat der Verurteilte Unterlagen eingereicht, aus welchen sich ergibt, dass er über ein monatliches Nettoeinkommen von gut 2.100,00 Euro verfügt. Ferner hat er Unterlagen betreffend die monatlichen Aufwendungen für Miete etc. vorgelegt. Angaben über die Einkommensverhältnisse der Ehefrau des Verurteilten wurden verweigert.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 24.05.2022 hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Arnsberg den Antrag auf Einstellung der Vollstreckung des Verfalls zurückgewiesen. Zur Begründung hat die Kammer insbesondere ausgeführt, gem. Art. 316h S. 2 EGStGB seien die Vorschriften des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.04.2017 vorliegend nicht anzuwenden, mithin auch nicht § 459g Abs. 5 StPO in der neuen Fassung. Letztlich könne dies aber dahinstehen, da sowohl die Überprüfung gemäß „§ 73c Abs. 1 S. 2 StGB a.F.“ als auch diejenige nach § 459g Abs. 5 StPO n.F. die Überprüfung dahingehend erfordere, ob die weitere Vollstreckung unverhältnismäßig ist. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Zwar sei davon auszugehen, dass das Erlangte sich nicht mehr im Vermögen des Verurteilten befinde, der Wegfall der Bereicherung führe jedoch nicht zwingend zum Wegfall der Anordnung, sondern sei nur ein Gesichtspunkt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hier sei zu beachten, dass sich die Verfallsanordnung ausweislich der Urteilsgründe auf Gelder bezogen habe, die bestimmungsgemäß im Vermögen des Verurteilten verbleiben sollten. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die Vollstreckung zwar bereits lange Zeit andauere, dies aber auf die dem Verurteilten zugebilligte Ratenzahlung zurückzuführen sei. Schließlich sei die Höhe der Raten nicht als unbillig anzusehen. Zwar sei das Einkommen des Verurteilten nicht besonders hoch, dies liege jedoch weit über etwaigen Sozialhilfesätzen und auch Leistungsempfängern werde die Zahlung niedriger Raten zugemutet. Zudem könne die finanzielle Gesamtsituation der Familie nicht überprüft werden, da keine Angaben zum Einkommen der Ehefrau des Verurteilten gemacht wurden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen den ihm am 03.06.2022 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte mit Schreiben vom 04.06.2022, eingegangen beim Landgericht am 08.06.2022, sofortige Beschwerde eingelegt. Mit Schreiben der Schuldnerberatung vom 27.06.2022 hat er diese im Wesentlichen damit begründet, die finanzielle Situation der Familie sei nicht hinreichend berücksichtigt worden. Für die beiden Kinder im Alter von 14 und 17 Jahren fielen erhöhte Kosten an. Ausgehend davon, dass der Verurteilte seinen Kindern nach der Düsseldorfer Tabelle einen Unterhalt von jeweils 500,00 Euro zu zahlen haben würde, verblieben keine pfändbaren Beträge. Zudem bestehe angesichts dessen, dass der Verurteilte Zweidrittel der Freiheitsstrafe verbüßt und die sich anschließende Bewährungszeit beanstandungslos durchlaufen habe, keine Veranlassung für eine weitere Bestrafung.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie erkannt. Der Verurteilte bzw. seine Verteidiger hatten Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die sofortige Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 462 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 StPO i.V.m. § 459g StPO statthaft sowie im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben gemäߧ 311 Abs. 2 StPO.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">In der Sache hat die sofortige Beschwerde jedoch keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">a.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Da die Vollstreckung der Freiheitsstrafe erledigt ist, hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Arnsberg als zuständiges Gericht gemäß §§ 459o, 462a Abs. 2 StPO entschieden.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">b.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Nach der Übergangsregelung des Art. 316h S. 2 EGStGB finden auf dieses Verfahren sowohl materiell rechtlich als auch prozessual die bis zum 30.06.2017 geltenden Vorschriften Anwendung.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Art. 316h S. 2 EGStGB bestimmt, dass die Vorschriften des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.04.2017 (BGBl. I S. 872) nicht in Verfahren anzuwenden sind, in denen bis zum 01.07.2017 bereits eine Entscheidung über die Anordnung des Verfalls oder des Verfalls von Wertersatz ergangen ist. Das ist hier mit dem Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 03.04.2009 der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Anwendungsbereich der Übergangsvorschrift erstreckt sich nicht nur auf materielles Recht, sondern auch das Prozessrecht. Soweit demgegenüber teils die Ansicht vertreten wird, der Anwendungsbereich sei auf die materiell rechtlichen Vorschriften beschränkt, vermag der Senat dem nicht zu folgen (ebenso wie hier: OLG Rostock, Beschluss vom 04.12.2017 - 20 Ws 293/17 -, juris; a.A. OLG München, Beschluss vom 03.11.2017 - 3 Ws 861/17 -, beck online; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.05.2022 - 1 Ws 122/22 -, beck online).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Für eine Anwendung auch auf das Prozessrecht spricht zunächst der Wortlaut der Vorschrift. Art. 316h S. 2 EGStGB schränkt dessen Anwendungsbereich nicht ein, sondern bezieht sich umfassend auf „die Vorschriften des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.04.2017“, zu denen auch die prozessualen Neuregelungen zählen. Zwar regelt Art. 316h S. 1 EGStGB lediglich die Anwendung bestimmter materiell rechtlicher Vorschriften. Der Satz 2 der Vorschrift knüpft jedoch sprachlich an die Regelung des Satzes 1 nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des Art. 316h S. 2 EGStGB ergibt sich auch nicht aus der Gesetzessystematik. So lässt der Umstand, dass die Regelung als Satz 2 des Art. 316h EGStGB ausgestaltet wurde, der in seinem Satz 1 ausschließlich materiell rechtliche Bestimmungen betrifft, nicht auf eine Gesetzessystematik dahingehend schließen, dass der Artikel insgesamt die Anwendung materiellen Rechts regeln sollte. Eine solche Auslegung des Art. 316h EGStGB ergibt sich auch nicht daraus, dass eine weitere Übergangsregelung in § 14 EGStPO getroffen worden ist. Denn die Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Vorschriften ist nicht in der Unterscheidung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht zu sehen. Vielmehr besteht die Gesetzessystematik darin, dass Art. 316h EGStGB in beiden Sätzen Regelungen dazu trifft, welche gesetzlichen Bestimmungen auf Altfälle anzuwenden sind, in denen eine Verfallsanordnung getroffen wird. Da mit dem Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung die Prüfung der Verhältnismäßigkeit sowie der Entreicherung, die zuvor im Erkenntnisverfahren stattgefunden hatte, in das Vollstreckungsverfahren verlagert wurde (vgl. hierzu u.a. Coen, in: BeckOK StPO, 44. Edition, Stand: 01.07.2022, § 459g Rn. 20 m.w.N.), besteht insoweit ein enger systematischer Zusammenhang zwischen den materiell rechtlichen und den prozessrechtlichen Regelungen. Denn bei Anwendung des materiellen Rechts der alten Rechtslage in Verbindung mit dem neuen Prozessrecht würde es zu einer doppelten Überprüfung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Entreicherung und damit zu einer Überbegünstigung des Verurteilten kommen. Dieses Zusammenspiel zwischen den Änderungen des materiellen Rechts und des Prozessrechts kann sich jedoch ausschließlich in Fällen auswirken, in welchen es zu eine Verfallsanordnung getroffen wurde. § 14 EGStPO regelt demgegenüber – in Abgrenzung zu Art. 316h EGStGB - Fälle, in welchen aufgrund von Ansprüchen des Verletzten im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 2 StGB a.F. nicht auf Verfall erkannt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Dieser Auslegung steht auch nicht der Umstand entgegen, dass die Regelung in das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Denn dem EGStGB sind auch anderorts Regelungen zur Anwendbarkeit des Prozessrechts nicht fremd, vgl. u.a. Art. 316b Abs. 2 EGStGB.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">c.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Nach § 459g Abs. 2 i.V.m. § 459d Abs. 1 StPO in der vom 01.01.2000 bis zum 30.06.2017 geltenden Fassung, kann das Gericht u.a. dann anordnen, dass die Vollstreckung von Nebenforderungen, die zu einer Geldzahlung verpflichten, unterbleibt, wenn in demselben Verfahren Freiheitsstrafe vollstreckt worden ist und die Vollstreckung der Geldforderung die Wiedereingliederung des Verurteilten erschweren konnte, wobei die in das Ermessen des Gerichts gestellte Unterbleibensanordnung - da sie praktisch einem Straferlass gleichkommt - als Ausnahme zum Gebot der effektiven Strafvollstreckung restriktiv zu handhaben ist (vgl. Coen a.a.O. § 459d Rn. 2) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für eine Unterbleibensanordnung hier nicht vor. Dass die Resozialisierung des Verurteilten durch die - von ihm seit Jahren geleisteten - Zahlungen in Höhe von 50,00 Euro monatlich ernsthaft gefährdet ist, ist weder vorgebracht, noch sonst erkennbar, zumal der Verurteilte, der in geordneten Verhältnissen lebt und einer geregelten Beschäftigung nachgeht.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">d.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ergänzend merkt der Senat an, dass die Zugrundelegung der Ansicht, dass Art. 316h S. 2 EGStGB lediglich die Anwendung materiellen Rechts betreffe, zu keiner anderen Entscheidung führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">In diesem Fall wäre § 459g StPO in der aktuellen Fassung anzuwenden. Eine Anwendung des - ggf. milderen - Zwischenrechts des § 459g StPO in den vom 01.07.2017 bis zum 30.06.2021 gültigen Fassungen kommt nicht in Betracht. Das Meistbegünstigungsprinzip des § 2 StGB bezieht sich ausschließlich auf das materielle Recht. Etwas anderes ergibt sich für die Vorschrift des § 459g StPO nicht daraus, dass diese mit der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Vollstreckungsverfahren eine materiell rechtliche Komponente enthält. Denn materielles Recht und Prozessrecht stehen sich nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis gegenüber, sondern in einem Komplementärverhältnis. Rechtsstaatliche Grundanforderungen - wie die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - müssen zu jeder Zeit und auf jeder Ebene gewahrt werden, gerade auch im Verfahrensrecht. Allein die Wahrnehmung dieser Aufgabe wandelt das Verfahrensrecht nicht in materielles Recht (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 07.07.2022 - 2 Ws 63/22 -, beck online; a.A. OLG Karlsruhe a.a.O.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Nach § 459g Abs. 5 S. 1 StPO n.F. unterbleibt auf Anordnung des Gerichts die Vollstreckung von Nebenfolgen, die zu einer Geldzahlung verpflichten, wenn diese unverhältnismäßig wäre. Die Kammer hat in dem angefochtenen Beschluss jedoch mit insgesamt zutreffender Begründung - auf welche der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt - ausgeführt, warum dies vorliegend nicht der Fall ist.</p>
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<p><strong>Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird auf Kosten der Staatskasse, die auch etwaige im Beschwerdeverfahren entstandene notwendige Auslagen der Angeschuldigten zu tragen hat, zurückgewiesen.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Gegen die Angeschuldigte wird seitens der Staatsanwaltschaft Aachen unter dem Aktenzeichen 1 Js 210/22 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung, begangen am 01.12.2021, geführt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Durch die Meldestelle respect! wurde bekannt, dass die Angeschuldigte am 01.12.2021 ein Bild mit einem sogenannten „Judenstern“ in einer seinerzeit aus 27 Mitgliedern bestehenden Facebook-Gruppe „Impfzwang?? Nein danke!! Wir stehen auf!!“ als Gruppenbild hochgeladen hatte. Dabei handelte es sich um eine abgewandelte Version des „Judensterns“ dahingehend, dass auf dem Stern nicht der Begriff „Jude“, sondern der Begriff „Ungeimpft“ zu sehen war. Über und unter dem Judenstern standen die Worte „Der neue Judenstern“.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Angeschuldigte hat sich im Rahmen ihrer Beschuldigtenvernehmung am 23.03.2022 zum Tatvorwurf wie folgt eingelassen:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Ungeimpften hätten damals nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen; es habe eine Ausgrenzung stattgefunden wie damals bei den Juden. Sie, die Angeschuldigte, habe ihren Sohn nach Oskar Schindler benannt. Auch gegen schlechte Judenwitze gehe sie immer vor. Sie sei nicht gegen Ausländer und auch kein Nazi. Sie sei zum Tatzeitpunkt ungeimpft gewesen und habe gewollt, dass die Ungeimpften mit den Tests die gleichen Rechte haben wie alle anderen auch.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Sie könne die (von ihr moderierte) Facebook-Gruppe nicht mehr löschen, ebenso wie ihr eigenes Profil, obwohl sie Facebook dazu angewiesen habe. Sie habe das Gruppenbild nach drei bis vier Wochen wieder entfernt, direkt nachdem sie darauf hingewiesen worden sei, dass es strafbar sein könne. Ihr sei mitgeteilt worden, dass es ein Vergleich gegenüber sechs Millionen getöteten Juden sei. Schließlich habe sie es gelöscht, weil sie niemanden habe persönlich angreifen wollen. Sie habe darauf hinweisen wollen, dass es eine freie Entscheidung sein sollte, ob man sich impfen lasse oder nicht. Die Facebook-Gruppe habe keine Hetzgruppe darstellen sollen, sondern ein Austausch, wie man zur Impfung stehe. Sie habe niemanden verletzen oder aufstacheln wollen. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass die Abbildung des Sterns eine Straftat sein könnte, da sie diese auf Google gefunden habe. Hinsichtlich der Impfung habe ihr das Wissen gefehlt. Am Anfang habe es geheißen, der Arbeitgeber solle nicht über den Impfstatus Bescheid wissen, aber überall, wo sie sich beworben habe, sei als erstes nach dem Impfstatus gefragt worden. Irgendwann habe sie sich und ihren älteren Sohn impfen lassen, weil sie zurück ins Arbeitsleben gewollt habe und die Impfung dem Schutz älterer Menschen und der Sicherheit der Bevölkerung diene. Die Ausgrenzung Ungeimpfter könne man nicht mit der Judenverfolgung vergleichen, da Ungeimpfte nicht in KZs kämen. Einen solchen Vergleich habe sie nicht ziehen wollen. Das mit dem Stern tue ihr leid. Zu diesem Zeitpunkt habe es viele Gruppen gegeben, die diesen benutzt hätten, rückblickend habe sie sich nichts dabei gedacht. Zu diesem Zeitpunkt sei viel auf sie „eingeprasselt“; sie habe in ihrem Leben viel Gewalt erfahren und habe dem Hass nicht ausgesetzt sein wollen. Sie sei mal mit einem Verschwörungstheoretiker zusammen gewesen, der gesagt habe, dass Hitler der erste gewesen sei, der außerirdischen Kontakt gehabt habe. Der sei verrückt geworden. Mit solchen Leuten wolle sie nichts mehr zu tun haben. Im Jahr 2008 sei sie in Kattowitz bei ihrer Familie zu Besuch gewesen, wobei sie auch Auschwitz besucht habe. Dies sei erschreckend, grausam und sehr bewegend gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Durch Strafbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft Aachen vom 14.04.2022 (Az.: Cs 1 Js 210/22) wird der Angeschuldigten vorgeworfen, am 01.12.2022 in S. eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich verharmlost zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Konkret wird der Angeschuldigten Folgendes zur Last gelegt:</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks"><em>„Am 01.12.2021 stellten Sie gegen 21:35 Uhr in der von Ihnen gegründeten öffentlich einsehbaren Facebook-Gruppe mit dem Titel „Impfzwang?? Nein Danke!! Wir stehen auf!!“ als Gruppenbild ein Foto ein, auf dem mittig ein auf einer Scheibe klebendes Plakat abgebildet ist. Das Plakat zeigt einen gelben Judenstern, der zur Zeit des Nationalsozialismus zur Kennzeichnung von Juden verwendet wurde, mit der Inschrift „Ungeimpft“ und der Über-und Unterschrift „Der neue Judenstern“. Ihnen war bewusst, dass eine Impfung in keinem Zusammenhang zur Judenverfolgung steht. Sie nahmen billigend in Kauf, dass die unter den Nationalsozialisten begangene planmäßige Ermordung von Juden als Vergleich mit den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie wahrgenommen werden würde und dadurch eine Bagatellisierung der Art, des Ausmaßes und der Folgen der Unterdrückung, Gewalt und massenhaften Ermordung der Juden zur Zeit des Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht wird. Ihnen war bewusst, dass dies zu einer Herabsetzung von Hemmschwellen mit unmittelbar rechtsgutgefährdenden Folgen führen kann.“</em></p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit Verfügung vom 14.04.2022 hat die Staatsanwaltschaft Aachen den Entwurf eines Strafbefehls mit dem vorgenannten Inhalt dem Amtsgericht Monschau - Strafrichter - mit dem Antrag übersandt, den Strafbefehl gemäß dem Strafbefehlsentwurf zu erlassen. Zugleich hat sie ausgeführt, das von der Angeschuldigten hochgeladene Bild im Zusammenhang mit der Gruppenbeschreibung vergleiche aus der Warte eines objektiven Betrachters die Corona-Maßnahmen mit den Maßnahmen der Judenverfolgung, insbesondere auch des Holocaust in der NS-Zeit. Dass sich das Bild „nur“ auf die seit dem Jahr 1933 schrittweise stattfindende Ausgrenzung und Diskriminierung von Juden unter Ausklammerung des Holocaust beziehe, sei nach objektiver Auslegung nicht anzunehmen. Bereits seit dem Jahr 1939 hätten diverse menschenvernichtende Aktionen stattgefunden, die sich seit dem Jahr 1941 mit dem Überfall auf die Sowjetunion zum Holocaust gesteigert hätten. Gerade in diese Zeit sei die Einführung des Judensterns gefallen, sodass dieser einen eindeutigen Bezug zum Holocaust habe. Da die Corona-Maßnahmen in keiner Weise mit dem Holocaust auf derselben Stufe stünden, gehe damit zwangsläufig eine Verharmlosung einher. Maßgeblich für die Geeignetheit zur Friedensstörung sei, ob die Tat sowohl nach Art und Inhalt der Äußerung sowie den Umständen ihrer Abgabe als auch nach ihren voraussichtlichen Folgewirkungen und dem Kreis der Erklärungsempfänger zur Störung des öffentlichen Friedens konkret geeignet sei. Im Verlauf der Corona-Pandemie komme es nach wie vor regelmäßig zu verschiedensten Demonstrationen, die sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie richteten. Dabei mischten sich diverse Gruppen der Gesellschaft; neben Personen aus dem bürgerlichen Spektrum nähmen regelmäßig auch staatsfeindliche und rechtsradikale Gruppierungen an den Demonstrationen teil, wobei eine Radikalisierung für möglich gehalten werde. Teilweise sei es zu Gewalttätigkeiten gekommen. Gerade im Zusammenhang mit dem politischen Vorantreiben der allgemeinen Impfpflicht ab Ende 2021 bis zur Ablehnung am 07.04.2022 im Bundestag habe sich diese Stimmung verstärkt. Auch im Internet werde die Kritik an staatlichen Maßnahmen in nicht selten aggressiver und unter Strafvorschriften fallender Form geäußert. In diesem Kontext in öffentlichkeitswirksamer Form geäußerte Verharmlosungen des Holocaust seien daher gerade zum Zeitpunkt der hiesigen Tat geeignet gewesen, entsprechend aufnahmebereite Adressaten zu radikalisieren, Hemmschwellen herabzusetzen und gegen staatliche Maßnahmen mit Gewalt vorzugehen. Gerade ein Vergleich mit der staatlichen systematischen Judenverfolgung, gegen die ohne Zweifel gewaltsamer Widerstand zulässig gewesen sei, suggerierten, dass Gegnern von Corona-Maßnahmen auch heute wieder staatliches Unrecht angetan würde, weshalb diese als Widerstandskämpfer auch heute das Recht hätten, sich gegen den Staat und seine Organe gewaltsam zur Wehr zu setzen. Die wesentlichen Umstände der Tatbestandsmerkmale habe die Angeschuldigte auch subjektiv verwirklicht. Ihr seien die wesentlichen Fakten der Judenausgrenzung und -verfolgung bekannt gewesen. Sie habe zwar glaubhaft angegeben, dass sie einen Vergleich mit dem Holocaust „nicht gewollt habe“. Im Sinne des dolus eventualis sei es jedoch ausreichend, dass die Möglichkeit eines entsprechenden Verständnisses gegeben sei. Ein etwaiger Irrtum sei als Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB zu bewerten. Gerade bei der Verwendung von derart problematischen mit der NS-Zeit in Verbindung zu bringenden Symbolen und Aussagen sei ein sehr hohes Maß an geistiger Anstrengung zu verlangen, das die Angeschuldigte nicht angestellt habe. Der Irrtum sei daher vermeidbar gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Am 29.04.2022 wurde das weitere Vorgehen seitens des Amtsgerichts mit der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf eine etwaige Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO erörtert. Ein solches Vorgehen hielt die Staatsanwaltschaft indes für ausgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 07.05.2022 (Az.: 7 Cs-1 Js 210/22-72/22) hat das Amtsgericht Monschau - Strafrichter - den Antrag auf Erlass des Strafbefehls vom 14.04.2022 aus tatsächlichen Gründen abgelehnt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat es ausgeführt, es erachte die Angeschuldigte eines Vergehens der Volksverhetzung im Sinne des § 130 Abs. 3 StGB für nicht hinreichend verdächtig. Der Tatbestand des § 130 Abs. 3 StGB sei nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht erfüllt. Im Dezember 2021 habe der Deutsche Bundestag angesichts stetig steigender Infektionszahlen unter anderem über eine Impfpflicht für bestimmte Personengruppen gestritten. Die geplante Gesetzesänderung habe von Dezember 2021 bis April 2022 den bereits zuvor schwelenden Konflikt zwischen sogenannten Impfgegnern und Impfbefürwortern verschärft. Die Einführung einer Corona-Impfpflicht sei seit Dezember 2021 zentrales Thema einer gesamtgesellschaftlich geführten Debatte, die sowohl die Berichterstattung in den öffentlichen Medien als auch die Einträge in vielen sozialen Medien beherrscht habe. Von Dezember 2021 bis ins Frühjahr 2022 sei es zu einer Vielzahl von Demonstrationen gegen die staatlich geplanten Corona-Maßnahmen gekommen, die teilweise mit der Begehung von Aggression, Gewalt und Straftaten einhergegangen seien. Anlässlich dieser Anti-Corona-Demonstrationen sei von einigen Teilnehmern der „Judenstern“ mit der Bezeichnung „Ungeimpft“ statt „Jude“ öffentlich auf der Kleidung angebracht getragen worden. Entsprechende Abbildungen hätten sich parallel in den sozialen Medien verbreitet.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Kennzeichnung mit dem „Judenstern“ sei ein vom nationalsozialistischen Regime angeführtes Zwangskennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten, gewesen. Mit dem Kennzeichen hätten sich die Träger leichter für die damals beginnenden planmäßigen Judendeportationen auffinden lassen. Der Holocaust sei der Völkermord an 5,6-6,3 Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs gewesen. Es handle sich bei dem Völkermord in Gestalt des Holocaust um eine Handlung im Sinne des § 6 Abs. 1 Völkerstrafgesetzbuch.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die der Angeschuldigten als Privatperson vorgeworfene, unreflektierte Verwendung des sogenannten „Judensterns“ unter Ersetzung des Wortes „Jude“ durch das Wort „Ungeimpft“ in einer öffentlich zugänglichen Facebook-Gruppe mit dem Titel „Impfzwang?? Nein danke!! Wir stehen auf!!“ erfülle im Licht des Art. 5 Abs. 1 GG im konkreten Einzelfall als Beitrag zur öffentlich geistigen Auseinandersetzung um die gesamtgesellschaftlich umstrittene Einführung einer Impfpflicht in Deutschland ohne das Hinzutreten weiterer Umstände bereits in objektiver Hinsicht nicht den Tatbestand der Volksverhetzung. Die von der Angeschuldigten getätigten Äußerungen seien im konkreten Fall durch Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Es sei bereits fraglich, ob die Angeschuldigte durch ihren öffentlichen Facebook-Eintrag in objektiver Hinsicht den Völkermord an Juden gemäß § 130 Abs. 3 StGB i.V.m. § 6 Abs. 1 VStGB tatsächlich verharmlost habe. Vorliegend könne der „Judenstern“ nicht nur als öffentlich sichtbare Maßnahme zur Durchführung des Holocaust gedeutet werden. Vielmehr komme daneben auch die Deutung als allgemein bekanntes Symbol für eine staatlich durch Gesetze und Verordnungen betriebene Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen in Betracht. Eine solche, vom Tatbestand des Völkermordes abweichende Auslegung lasse sich im konkreten Fall unter Berücksichtigung der zur Tatzeit gesamtgesellschaftlich geführten Auseinandersetzung um eine Corona-Impfpflicht und die durch den Gesetzgeber geplanten Corona-Schutzmaßnahmen gerade auch aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv nicht ausschließen. Das Gericht verkenne dabei nicht, dass der von der Angeschuldigten im öffentlichen Raum platzierte, bewusst provozierende Vergleich von ungeimpften Personen in Deutschland während der aktuellen Corona-Pandemie mit der systematischen Ausgrenzung und Verfolgung von Juden zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in hohem Maße anstößig, respekt-, geschmacklos und moralisch zu missbilligen sei. Der angestellte Vergleich verletze nicht nur das Gedenken an die ca. 6 Millionen Opfer des Holocaust, er sei auch für deren Angehörige unerträglich. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG erlaubten indes keinen staatlichen Zugriff auf eine unmoralische Gesinnung. Die Grenzen der Meinungsfreiheit seien nicht schon dann überschritten, wenn die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Holocaust nicht angemessen gewürdigt würden. Vielmehr seien selbst offensichtlich anstößige, abstoßende und bewusst provozierende Äußerungen gedeckt, die wissenschaftlich haltlos seien und das Wertfundament unserer gesellschaftlichen Ordnung zu diffamieren suchten. Die Meinungsfreiheit finde erst dann ihre Grenzen im Strafrecht, wenn die Äußerungen den Tatbestand des § 130 StGB erfüllten und im Sinne dieser Norm zudem in einen unfriedlichen Charakter umschlügen, was hier zu verneinen sei.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Facebook-Eintrag der Angeschuldigten sei darüber hinaus im konkreten Fall in objektiver Hinsicht nicht geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören. Denn unter Berücksichtigung der Art, des Inhalts, der Form und des Umfeldes der Äußerung sowie der Stimmungslage in der Bevölkerung und der konkreten politischen Situation im Dezember 2021 in Deutschland sei dem Facebook-Eintrag der Angeschuldigten mit dem Appell „Wir stehen auf!!“ bei objektiver Betrachtung kein Aufruf zu einem Rechtsbruch im Sinne des § 130 Abs. 3 StGB immanent. Dem Wortlaut nach sei der öffentliche Facebook-Eintrag der Angeschuldigten zunächst als Aufruf zu verstehen, sich gegen die geplante gesetzliche Einführung einer Impfpflicht für bestimmte Personengruppen öffentlich zu positionieren und für diese Meinung aktiv, d.h. nach außen erkennbar, einzutreten. Gerade wegen der provokativen, abstoßenden und anstößigen Verwendung des Judenstern-Symbols als Mittel der Meinungsäußerung, möge die Angeschuldigte durch ihr Verhalten zu einer Emotionalisierung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses über die Impfpflicht und zu einer Vergiftung des politischen Klimas in Deutschland beigetragen haben. Das Gericht verkenne zudem nicht, dass eine Vielzahl von Kundgebungen sogenannter Corona-oder Impfgegner dazu genutzt würden, Aggressionen, Straftaten und Gewalttätigkeiten zu begehen, die den öffentlichen Frieden empfindlich störten. Dem sei allerdings entgegenzuhalten, dass nicht alle Personen, die sich im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung auf den Demonstrationen oder in öffentlichen oder sozialen Medien als Impfgegner zu erkennen gegeben hätten, diesen radikalisierenden gewaltbereiten Gruppen zuzuordnen seien oder deren Treiben billigten. Dann könne aber auch der Angeschuldigten im Einzelfall ohne weiter hinzutretende Umstände nicht unterstellt werden, dass ihrem Facebook-Eintrag bei objektiver Betrachtung ein Aufruf zur Störung des öffentlichen Friedens innewohne. Nach den bisherigen Ermittlungen handle es sich bei der Angeschuldigten um eine einzelne, vergleichsweise unbekannte Privatperson, die keinem politischen Spektrum zuzuordnen sei und die nicht erkennbar mit Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern oder anderen staatsfeindlichen und gewaltbereiten Gruppierungen sympathisierte. Der Facebook-Gruppe der Angeschuldigten seien nur 16 <em>(<span style="text-decoration:underline">Anmerkung der Kammer:</span> tatsächlich wohl 26)</em> Mitglieder beigetreten. Die tatsächliche Außenwirkung der Meinungsäußerung der Angeschuldigten sei daher sehr gering gewesen. Gerade angesichts der öffentlich und gesamtgesellschaftlich geführten Debatte um die Einführung einer Impfpflicht in Deutschland, komme der grundrechtlich in Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit in einer demokratischen Grundordnung ein hoher Stellenwert zu. Die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit schütze gerade auch während laufender Gesetzgebungsverfahren alle Äußerungen zu gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen. Dabei komme es nicht darauf an, ob diese für moralisch oder unmoralisch, richtig oder falsch, wertvoll oder wertlos gehalten würden. Eine pauschale Kriminalisierung aller Konstellationen, in denen der „Judenstern“ zur Meinungsäußerung und Stimmungsmache verwendet werde, verbiete sich ohne Hinzutreten der in § 130 Abs. 3 StGB beschriebenen Umstände.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Selbst bei abweichender Beurteilung des objektiven Tatbestands des § 130 Abs. 3 StGB sei im konkreten Einzelfall ein subjektiver Tatvorsatz der Angeschuldigten anhand des bisherigen Ermittlungsergebnisses nicht mit der für eine Verurteilung hinreichenden Wahrscheinlichkeit nachzuweisen. Es sei insbesondere nicht sicher festzustellen, dass die offensichtlich unreflektiert handelnde Angeschuldigte den oben genannten Facebook Eintrag wissentlich und willentlich platziert habe, um in einer Weise, die geeignet sei, den öffentlichen Frieden zu stören, eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 VStGB bezeichneten Art zu verharmlosen. Die Angeschuldigte habe anlässlich ihrer polizeilichen Vernehmung auf den Vorwurf der Volksverhetzung mit Entsetzen reagiert und tränenreich versichert, sie habe mit dem Eintrag im Dezember 2021 lediglich ihre Meinung zum Ausdruck bringen wollen, dass die Ungeimpften nicht am gesellschaftlichen Leben hätten teilnehmen dürfen. Es habe aus ihrer Sicht eine Ausgrenzung der Ungeimpften stattgefunden. Sie habe persönlich niemanden angreifen oder aufhetzen wollen. Natürlich könne man die Ausgrenzung der Ungeimpften in Deutschland nicht mit der Judenverfolgung vergleichen. Zum damaligen Zeitpunkt habe es viele Gruppen gegeben, die diesen benutzt hätten. Sie habe sich bei dem Eintrag nichts dabei gedacht. Diese Einlassung sei zur Überzeugung des Gerichts bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände nicht zu widerlegen. Eine in Bezug auf die Tatbestandsmerkmale des § 130 Abs. 3 StGB unreflektierte, gegebenenfalls fahrlässige Verwendung des Judenstern-Symbols sei nicht strafbar.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 18.05.2022, eingegangen am 23.05.2022, hat die Staatsanwaltschaft Aachen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Monschau - Strafrichter - vom 07.05.2022 sofortige Beschwerde eingelegt und die Verfahrensakte dem Landgericht Aachen als Beschwerdegericht vorgelegt. Zur Begründung hat sie zunächst ausgeführt, dass zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Verfügung vom 14.04.2022 verwiesen werde.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Ergänzend hat sie ausgeführt, dass auch unter Beachtung der nach Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Meinungsfreiheit die im Beschluss des Amtsgerichts – Strafrichter - dargelegte alternative Deutung des „Judensterns“ abzulehnen sei. Der „Judenstern“ stehe quasi für den Holocaust. Eine andere Deutung, nämlich als allgemein bekanntes Symbol für eine staatliche durch Gesetze und Verordnungen betriebene Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen, die mit der gesamtgesellschaftlich geführten Auseinandersetzung um eine Corona-Impfpflicht begründet werde, die dadurch entstehe, dass zur Tatzeit eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um die Corona-Impfpflicht geführt worden sei, sei entschieden abzulehnen. Nicht nur, aber gerade auch von Juden werde der „Judenstern“ als DAS Symbol für den Holocaust angesehen. Eine derartige Argumentationsschiene laufe auch dem Gesetzeszweck, der einer Vergiftung des politischen Klimas vorbeugen wolle, zuwider, da das politische Klima gerade durch die vielfache Verwendung des „Judensterns“ vergiftet werde, indem ihm eine andere als die besondere geschichtliche Deutungsmöglichkeit zugeschrieben werde. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass gerade die auch im Beschluss angesprochene mediale Berichterstattung zur Verwendung des „Judensterns“ den Fokus etwaiger Empfänger auf den Vergleich mit der NS-Zeit und den Holocaust lenke, sodass eine derartige mögliche Interpretation durch den Empfänger noch stärker in den Vordergrund trete.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Das Bild sei auf der Plattform Facebook für jedermann öffentlich einsehbar gewesen. Insoweit sei es entgegen der Ausführungen im Beschluss des Amtsgerichts unerheblich, dass die Gruppe nur 16 Personen bestanden habe, entscheidend sei, dass jedenfalls jeder Facebook-Nutzer das Bild habe sehen können. Insoweit sei die mögliche Breitenwirkung mit dem der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25.06.2020 (Az.: 205 StRR 240/20) zugrunde liegenden Fall vergleichbar. Eine öffentlich einsehbare Veröffentlichung auf einer derart reichweitenstarken Plattform wie Facebook habe eine potenziell sehr große Breitenwirkung.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die seitens der Staatsanwaltschaft vertretene Interpretation der Nichtannahmeentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.09.2021 (Az.: BvR 1787/20) - nämlich dass in bestimmten Konstellationen von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22.06.2018 (Az.: 1 BvR 2083/15) abzurücken sei - finde ihre Stütze auch in den Entscheidungen Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25.06.2020 (Az.: 205 StRR 240/20) und des Landgerichts Augsburg, als dass in keiner der Entscheidungen überhaupt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 2083/15 zur eingeschränkten Auslegung von § 130 Abs. 3 StGB eingegangen werde. Dies habe dasselbe Gericht, nämlich das Bundesverfassungsgericht, durch die Nichtannahmeentscheidung gerade nicht gerügt.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Doch selbst wenn die Kriterien der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 2083/15 angewendet würden, lägen die Voraussetzungen der Einschränkung vor. Wie in dem angegriffenen Beschluss angegeben werde, sei eine Vielzahl der Demonstrationen für unter anderem Gewalttätigkeiten benutzt worden. Diese Vorfälle zeigten, dass das hier zur Last gelegte Verhalten bereits zu Rechtsbrüchen erheblicher Art geführt habe. Des Weiteren erhielten durch den Vergleich potentielle Gewalttäter eine Rechtfertigungsmöglichkeit ihres Handelns, da sie sich in ihren Augen „wie Widerstandskämpfer in der NS-Zeit nur gegen staatliches Unrecht wehren“.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Dadurch würden Hemmschwellen herabgesetzt, die rechtsgutsgefährdende Folgen unmittelbar auslösen könnten und bereits ausgelöst hätten. Dabei nehme der angegriffene Beschluss nicht ausreichend in den Blick, dass der Gruppenname durch das „WIR STEHEN AUF“ bereits dazu auffordere, nicht passiv zu bleiben, sondern aktiv Widerstand gegen einen Impfzwang zu leisten, sodass bereits eine gewisse Mobilisierung des Adressaten intendiert sei. Aus dem Vorstehenden werde deutlich, dass der angegriffene Beschluss bei der Subsumtion des Tatbestandsmerkmals der Eignung zur Friedensstörung die Deliktsnatur als abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt nicht ausreichend beachte, indem die Hürden für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals zu hoch angesetzt würden. Das Hervorrufen potentieller Gefahren werde bereits unter Strafe gestellt, wobei das Risiko möglicher Realisierung der Gefahren sozusagen der Hervorrufende zu tragen habe.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des subjektiven Tatbestands sei zu betonen, dass auch vor dem Hintergrund der Einlassung jedenfalls mit dolus eventualis gehandelt worden sei. Die im angegriffenen Beschluss zur Verneinung des Vorsatzes dargelegten Ausführungen beträfen eher die Frage eines Verbotsirrtums gemäß § 17 StGB.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Mit Verfügung vom 23.05.2022 hat das Landgericht Aachen der Angeschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen zur Beschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft Aachen sowie zur Begründung in der Verfügung vom 14.04.2022 eingeräumt. Die Angeschuldigte hat zur Beschwerde der Staatsanwaltschaft keine Stellung genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">1) Die gem. §§ 311, 408 Abs. 2, 210 Abs. 2 StPO gegen den ablehnenden Beschluss statthafte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht (vgl. §§ 306, 311 Abs. 2 StPO) erhoben worden.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">2) Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das Amtsgericht hat den Erlass des Strafbefehls in dem angegriffenen Beschluss zu Recht und mit zutreffender Begründung, der die Kammer vollumfänglich folgt, abgelehnt. Ergänzend ist Folgendes anzuführen:</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">a) Nach § 408 Abs. 2 S. 1 StPO lehnt der Richter den Erlass eines Strafbefehls ab, wenn er den Angeschuldigten nicht für hinreichend verdächtig erachtet. Hinreichender Tatverdacht ist anzunehmen, wenn die nach Maßgabe des Akteninhalts, nicht lediglich aufgrund der Anklageschrift, vorzunehmende vorläufige Tatbewertung ergibt, dass die Verurteilung des Angeschuldigten wahrscheinlich ist. Eine solche Wahrscheinlichkeit besteht, wenn unter erschöpfender Zugrundelegung des Ergebnisses der Ermittlungen und der daran anknüpfenden rechtlichen Erwägungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand bei Einschätzung des mutmaßlichen Ausgangs der Hauptverhandlung mehr für eine Verurteilung als für einen Freispruch spricht. Dabei wird eine an Sicherheit grenzende Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht gefordert. Auch wird nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit verlangt wie beim dringenden Tatverdacht nach § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Angeschuldigten muss aber so groß sein, dass es einer Entscheidung durch das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung bedarf, um festzustellen, ob noch bestehende Zweifel gerechtfertigt sind. Für den strafrechtlichen Entscheidungsgrundsatz „in dubio pro reo“ ist bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts zwar grundsätzlich noch kein Raum, jedoch kann hinreichender Tatverdacht mit der Begründung verneint werden, dass nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich das Gericht nach diesem Grundsatz freisprechen wird (vgl. zum Ganzen KK-StPO/<em>Schneider</em>, 8. Aufl. 2019, § 203 Rn. 3 ff.).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">b) Unter Zugrundelegung dessen ist ein hinreichender Tatverdacht i.S. des § 408 Abs. 2 S. 1 StPO nicht gegeben. Insbesondere ist entgegen der Annahme der Staatsanwaltschaft Aachen in dem Strafbefehlsentwurf vom 14.04.2022 für eine Strafbarkeit der Angeschuldigten wegen Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 3 StGB kein Raum. Nach den zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts ist bereits der objektive Tatbestand der Norm nicht erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">(1) Zum einen liegt bereits kein „Verharmlosen“ im Sinne des § 130 Abs. 3 StGB vor. Verharmlosen ist das Bagatellisieren von tatsächlich begangenen Taten des Völkermordes. Der Umfang solcher Taten oder der Gesamtheit der als NS-Völkermord zu bezeichnenden Taten muss nicht stets bestritten werden; es reichen z.B. auch Behauptungen angeblich guter Gründe, namentlich die Behauptung von „Rechtfertigungsgründen“ oder von rassen- oder gesundheitspolitischen „Notwendigkeiten“ für solche Maßnahmen; ebenso ihre Darstellung als unvermeidliche Kriegshandlungen oder Polizeimaßnahmen. Vorausgesetzt ist ein ausdrückliches quantitatives oder qualitatives Bagatellisieren von Art, Ausmaß, Folgen oder Wertwidrigkeit einzelner oder der Gesamtheit nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen (Fischer, StGB 69. Aufl. 2022, § 130 Rn. 31 m.w.N.). Das Merkmal des Verharmlosens ist erfüllt, wenn der Äußernde solche Maßnahmen herunterspielt, beschönigt oder in ihrem wahren Gewicht verschleiert. Alle denkbaren Facetten agitativer Hetze wie auch verbrämter diskriminierender Missachtung sollen erfasst werden (BGH, Urteil vom 6. April 2000 – 1 StR 502/99 –, BGHSt 46, 36-48).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Für die rechtliche Würdigung des Äußerungsdeliktes kommt es indes mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 GG auf den inhaltlichen Gesamtaussagewert der Äußerung an. Dieser ist aus Sicht eines verständigen Zuhörers durch genaue Textanalyse unter Berücksichtigung der Begleitumstände zu ermitteln. Bei mehrdeutigen Äußerungen darf nicht allein die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde gelegt werden, ohne die anderen möglichen Deutungen mit nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl. BGH, Urteil vom 20.09.2011 – 4 StR 129/11 –, juris; BVerfG, Beschluss vom 25.10.2005 – 1 BvR 1696/98 –, BVerfGE 114, 339-356).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Äußerung der Angeschuldigten erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3 StGB nicht.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist eine Deutung des „Judensterns“ als allgemeines Symbol für eine staatlich veranlasste Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen aus der Sicht eines verständigen Zuhörers nicht ausgeschlossen. Dem Judenstern-Symbol in seiner Funktion als Kennzeichnung wohnt auch die Bedeutung der Stigmatisierung und der Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben, denen die Juden ausgesetzt waren, inne. Zwar führt die Staatsanwaltschaft zutreffend aus, dass die Einführung des „Judensterns“ im Jahr 1941 dazu diente, die Träger leichter für die zu diesem Zeitpunkt beginnenden Judendeportationen in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager auffinden zu können, sodass ein Zusammenhang mit dem Holocaust besteht. Aus geschichts- oder politikwissenschaftlicher Sicht mag der „Judenstern“ tatsächlich als Symbol für den Völkermord an den Juden gedeutet werden. Diese Interpretation ist indes nicht auf die rechtswissenschaftliche Normanalyse übertragbar, da eine „symbolische Ausdehnung“ insoweit eine Überdehnung des Wortlautes des § 130 Abs. 3 StGB darstellt (<em>Hoven/Obert</em>, NStZ 2022, 331). Im konkreten Fall ist daher im Hinblick auf die gesellschaftlich geführte Debatte um eine Corona-Impfpflicht, Schutzmaßnahmen und die Privilegien für geimpfte Personen aus Sicht eines objektiven, verständigen Zuhörers auch eine Deutung denkbar, die lediglich die Nachteile der ungeimpften Bevölkerung durch die eingeschränkte Teilnahme am öffentlichen Leben gegenüber den Geimpften anprangert, ohne sich hierbei konkret auf den Völkermord an den Juden zu beziehen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Hierin liegt der Unterschied zu den von der Staatsanwaltschaft in Bezug genommenen Fällen, in denen ein direkter Bezug zum Holocaust hergestellt wird, indem Bilder im Stil des Eingangstores zum Vernichtungslager Auschwitz mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ (AG Baden-Baden, Strafbefehl vom 29.04.2021 – 17 Cs 550 Js 1126/21 - , unveröffentlicht; AG Freiburg, Strafbefehl vom 26.05.2021 – 15 Cs 510 Js 748/21 - , unveröffentlicht) gezeigt werden. Durch den unmittelbaren Bezug auf das Vernichtungslager Auschwitz liegt eine Bezugnahme auf eine Handlung im Sinne des § 6 VStGB nahe (<em>Hoven/Obert</em>, a.a.O.), was hier indes nicht der Fall ist.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Auch hat die Angeschuldigte im konkreten Fall nicht das den Juden unter der NS-Herrschaft zugefügte Unrecht bagatellisiert, sondern vielmehr ihre eigene Situation als Ungeimpfte in der Corona-Pandemie überdramatisiert.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Heranziehung des Vergleichs der Einschränkungen für Ungeimpfte in der Corona-Pandemie mit der Judenverfolgung zur NS-Zeit bedeutet, dass die Verbrechen gegen die Juden anerkannt werden, da nur, wer davon ausgeht, dass den Juden schwerstes Leid zugefügt wurde, unter Berufung auf ihre Situation die eigene Behandlung als staatliches Unrecht kritisieren kann. Die Grausamkeiten des Nationalsozialismus werden nicht in Abrede gestellt, sondern herangezogen, um das Ausmaß des eigenen „Leids“ zu verdeutlichen (<em>Hoven/Obert</em>, a.a.O.).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall wollte die Angeschuldigte das den Juden unter der NS-Herrschaft zugefügte Unrecht gerade nicht bagatellisieren, sondern das eigene „Leid“ aufwerten. Sie hat in ihrer Vernehmung angegeben, sie sei zum Tatzeitpunkt ungeimpft gewesen und habe gewollt, dass die Ungeimpften mit den Tests die gleichen Rechte haben wie alle anderen auch. Es habe eine Ausgrenzung Ungeimpfter stattgefunden wie damals bei den Juden.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Zwar mag in der Gleichsetzung eines offenkundig geringeren Unrechts mit einem höheren Unrecht stets auch eine Abwertung des letzteren zu sehen sei. Jedoch kommt, wie bereits dargelegt, zum Schutz der Meinungsfreiheit eine strafrechtliche Sanktion nur in Betracht, wenn „die dem Äußernden günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen worden sind“ (BVerfG, Beschluss vom 24.05.Mai 2006 – 1 BvR 49/00 –, BVerfGK 8, 89-107), sodass es für die Bewertung einer Aussage als Verharmlosung entscheidend auf ihren Kontext ankommt, den die Staatsanwaltschaft Aachen im vorliegenden Fall jedenfalls nicht hinreichend beachtet zu haben scheint. Wird ein Vergleich bemüht, um das Unrecht des Völkermordes zu relativieren, so liegt hierin eine Abwertung und Verharmlosung des im Nationalsozialismus begangenen Unrechts. Wird der Vergleich hingegen herangezogen, um eine eigene Unrechtserfahrung anzuprangern, so ist hierin bereits objektiv keine verharmlosende Aussage zu sehen, sondern eine überzogene Dramatisierung (<em>Hoven/Obert</em>, a.a.O.). Gerade im öffentlichen Meinungskampf sind aber überspitzte und polemische Äußerungen von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt (BVerfG, Beschluss vom 26.06.1990 – 1 BvR 1165/89 –, BVerfGE 82, 272-285).</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Ähnlich argumentiert die Rechtsprechung auch in den sogenannten „U-Bahn-Lied“-Fällen (OLG Rostock, Beschluss vom 23.07.2007 – 1 Ss 80/06 I 42/06 -, BeckRS 2008, 8158; OLG Dresden, Urteil vom 31.08.2020 – 1 OLG 24 Ss 71/19 -, BeckRS 2020, 28410), in denen das Tatbestandsmerkmal des Verharmlosens mit der Begründung verneint wurde, die Angeklagten hätten die „besonders grausame und menschenverachtende Vernichtung als solche erkannt und als historische Wahrheit akzeptiert“. Ebenfalls lehnte die Staatsanwaltschaft Mannheim eine Strafverfolgung eines Abtreibungsgegners, der im Rahmen der von ihm geübten Abtreibungskritik Holocaust-Vergleiche angestellt hatte, wegen Volksverhetzung mit der Begründung ab, dieser bezeichne auf seiner Internet-Seite den Holocaust als „Inbegriff des Grauens“ und „grausames Verbrechen“, was keine Verharmlosung des Holocaust, sondern eine maßlose Übertreibung bezüglich der Schwangerschaftsabbrüche darstelle (<em>Rath</em> in: lto v. 15.02.2022).</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Grundsätzen kann die Äußerung der Angeschuldigten auch als Kritik an den gesellschaftlichen Nachteilen der Ungeimpften während der Corona-Pandemie im Vergleich zu der öffentlichen Hetze gegen Juden zur Zeit des Nationalsozialismus gedeutet werden, ohne auf deren systematische Ermordung Bezug zu nehmen. Die Äußerung der Anschuldigten stellt nach alledem eine maßlose Übertreibung der Beeinträchtigung der Ungeimpften dar. Die Kammer schließt sich auch insoweit vollumfänglich der Auffassung des Amtsgerichts an, als dass der Vergleich der Situation ungeimpfter Personen in Deutschland während der Corona-Pandemie mit der systematischen Ausgrenzung und Verfolgung von Juden zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in hohem Maße anstößig, respekt-, geschmacklos und moralisch zu missbilligen ist.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Jedoch erlaubt Art. 5 GG keinen staatlichen Zugriff auf eine unmoralische Gesinnung. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind nicht schon dann überschritten, wenn die anerkannte Geschichtsschreibung oder die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Holocaust nicht angemessen gewürdigt werden. Vielmehr sind selbst offensichtlich anstößige, abstoßende und bewusst provozierende Äußerungen gedeckt, die wissenschaftlich haltlos sind und das Wertfundament unserer gesellschaftlichen Ordnung zu diffamieren suchen. Die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes setzt vielmehr darauf, dass solchen Äußerungen, die für eine demokratische Öffentlichkeit schwer erträglich sein können, grundsätzlich nicht durch Verbote, sondern in der Öffentlichen Auseinandersetzung entgegengetreten wird (BVerfG, Beschluss vom 22.06.2018 – 1 BvR 2083/15 –, juris).</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">(2) Des Weiteren fehlt es an einer Störung des öffentlichen Friedens.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">§ 130 Abs. 3 StGB ist auf die Bewahrung des öffentlichen Friedens gerichtet. Entsprechend verlangt der Tatbestand der Norm schon seinem Wortlaut nach eine Äußerung, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Zwar bedarf das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens in Bezug auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG einer näheren Konkretisierung durch die weiteren Tatbestandsmerkmale; auch kann, wenn diese verwirklicht sind, eine Friedensstörung in der Regel vermutet werden. Dies setzt aber umgekehrt voraus, dass die weiteren Tatbestandsmerkmale ihrerseits im Lichte der Friedensstörung ausgelegt werden. Insoweit kommt eine Verurteilung nach § 130 Abs. 3 StGB in allen Varianten - und damit auch in der Form des Verharmlosens - nur dann in Betracht, wenn hiervon allein solche Äußerungen erfasst werden, die geeignet sind, den öffentlichen Frieden im Sinne der Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 GG zu gefährden. Soweit sich dies aus den übrigen Tatbestandsmerkmalen selbst nicht eindeutig ergibt, ist die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens eigens festzustellen. Anders als in den Fällen der Leugnung und der Billigung, in denen die Störung des öffentlichen Friedens indiziert ist, erscheint dies für den Fall der Verharmlosung geboten. Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 GG dürfen nicht darauf gerichtet sein, Schutzmaßnahmen gegenüber rein geistig bleibenden Wirkungen von bestimmten Meinungsäußerungen zu treffen. Das Anliegen, die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ansichten zu verhindern, ist ebenso wenig ein Grund, Meinungen zu beschränken, wie deren Wertlosigkeit oder auch Gefährlichkeit. Legitim ist es demgegenüber, Rechtsgutverletzungen zu unterbinden. Danach ist dem Begriff des öffentlichen Friedens ein eingegrenztes Verständnis zugrunde zu legen. Nicht tragfähig ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien zielt. Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet sind, gehört zum freiheitlichen Staat. Der Schutz vor einer „Vergiftung des geistigen Klimas" ist ebenso wenig ein Eingriffsgrund wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Eine Verharmlosung des Nationalsozialismus als Ideologie oder eine anstößige Geschichtsinterpretation dieser Zeit allein begründen eine Strafbarkeit nicht. Ein legitimes Schutzgut ist der öffentliche Frieden hingegen in einem Verständnis als Gewährleistung von Friedlichkeit. Ziel ist hier der Schutz vor Äußerungen, die ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutgefährdende Handlungen hin angelegt sind. Die Wahrung des öffentlichen Friedens bezieht sich insoweit auf die Außenwirkungen von Meinungsäußerungen etwa durch Appelle oder Emotionalisierungen, die bei den Angesprochenen Handlungsbereitschaft auslösen oder Hemmschwellen herabsetzen oder Dritte unmittelbar einschüchtern. Eine Verurteilung kann dann an Meinungsäußerungen anknüpfen, wenn sie über die Überzeugungsbildung hinaus mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder durch Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können (BVerfG, Beschluss vom 22.06.2018 – 1 BvR 2083/15 –, juris).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft findet die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den vorliegenden Fall Anwendung. Aus der Nichtannahmeentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.09.2021 (Az.: 1 BvR 1787/20) kann nicht – zumindest nicht eindeutig - gefolgert werden, dass von der oben zitierten Rechtsprechung jedenfalls in bestimmten Konstellationen wieder abgerückt werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluss vom 22.06.2018 (1 BvR 2083/15) bewusst den Tatbestand des Verharmlosens enger gefasst. Dies ist vor allem daran erkennbar, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Nichtannahmebeschluss vom selben Tag zum Aktenzeichen 1 BvR 673/18, der sich auf die Tatbestandsvariante des Leugnens bezieht, von einer Vermutung der Friedensstörung ausgegangen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Unterscheidung daher ganz bewusst getroffen. Vor diesem Hintergrund ist ohne weitere Anhaltspunkte nicht davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsprechungsänderung von einer so erheblichen Tragweite, durch einen nicht begründeten Nichtannahmebeschluss vornehmen würde; vielmehr wäre in diesem Fall – wie bei anderen Fällen, in denen die eigene Rechtsprechung geändert oder eine Abgrenzung vorgenommen wird, üblich – eine ausdrückliche Klarstellung zu erwarten gewesen, was jedoch vorliegend gerade nicht erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Staatsanwaltschaft geht ebenfalls fehl in der Auffassung, auch unter Anwendung der Kriterien der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22.06.2018 (1 BvR 2083/15) lägen die Voraussetzungen der Einschränkung vor.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Beurteilung, ob die Tathandlung konkret geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, setzt eine Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände voraus (<em>Krauß</em> in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2021, § 130 Rn. 77). Dabei sind Art, Inhalt, Form, Umfeld der Äußerung, „Stimmungslage“ der Bevölkerung und die politische Situation zu berücksichtigen (Fischer StGB, 69. Aufl. 2022, §130 Rn. 13a).</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Wie das Amtsgericht zu Recht ausgeführt hat, liegt im vorliegenden Fall gerade keine Eignung zur Friedensstörung vor. Jedenfalls lässt sich dies nicht hinreichend sicher feststellen. Die Verwendung eines „Judensterns“ unter Ersetzung des Wortes „Jude“ durch das Wort „nicht geimpft“ in einem öffentlich zugänglichen Facebook-Profil erfüllt als Beitrag zur öffentlich geistigen Auseinandersetzung ohne das Hinzutreten weiterer Umstände nicht den Tatbestand des Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3 StGB (vgl. Saarländisches OLG Saarbrücken, Urteil vom 08.03.2021 – Ss 72/2020 (2/21) -, juris; Fischer StGB, 69. Aufl. 2022, §130 Rn. 27).</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung von Art, Inhalt, Umfeld und Form der Äußerung sowie der politischen Situation im Dezember 2021, die maßgeblich von der Impfdebatte geprägt war und sich auch auf die Stimmungslage in der Bevölkerung auswirkte, hat das Amtsgericht mit zutreffender Begründung ausgeführt, dass dem Facebook-Eintrag der Angeschuldigten mit dem Appell „WIR STEHEN AUF!!“ bei objektiver Betrachtung kein Aufruf zu einem Rechtsbruch im Sinne des § 130 Abs. 3 StGB immanent ist.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">In den Blick zu nehmen ist zunächst, dass die Fragen einer allgemeinen Impfpflicht und die sonstigen Corona-Maßnahmen über einen längeren Zeitraum in der Gesellschaft öffentlich kontrovers diskutiert wurden und immer noch werden. Im öffentlichen politischen und gesellschaftlichen Diskurs kommt indes der Meinungsfreiheit hohe Bedeutung zu. Die Angeschuldigte hat mit ihrer Äußerung sicherlich zur Vergiftung des geistigen Klimas beigetragen, was, wie bereits dargelegt, keinen Eingriffsgrund bietet. Gerade im Zusammenhang mit politisch und gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen sind auch bewusst provozierende Meinungsäußerungen geschützt.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft intendiert der Appell „WIR STEHEN AUF“ auch keine Mobilisierung der Adressaten in der Hinsicht, dass zu Gewalttätigkeiten und Rechtsbrüchen aufgerufen wird. Dies wäre eine ganz und gar einseitige Deutung des Appells, die jedoch nicht zutreffen muss. Zwar ist es in der Tat auf sogenannten Corona-Demonstrationen des Häufigeren zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Demgegenüber haben an diesen Demonstrationen auch zahlreiche Personen teilgenommen, die friedlich gegen eine geplante Impfpflicht oder sonstige Corona-Maßnahmen demonstriert haben und sich mit den Gewalttaten Einzelner nicht identifiziert oder diese gebilligt haben. Vor diesem Hintergrund kann nicht jeder Aufruf, sich gegen eine Impfpflicht einzusetzen als Appell zum Rechtsbruch oder aggressive Emotionalisierung ausgelegt werden. Der Appell „WIR STEHEN AUF“ dürfte nach Auffassung der Kammer vielmehr allgemein als Aufruf zu verstehen sein, seine Stimme zu erheben und für oder gegen etwas aktiv einzutreten – jedenfalls kann eine derartige Deutung nicht von vornherein auszuschließen sein. Ein Appell zum Rechtsbruch oder die Herabsetzung von Hemmschwellen, durch die rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar ausgelöst werden können, kann dieser Aufforderung nicht entnommen werden. Der Angeschuldigten, die im Übrigen auf Corona-Demonstrationen nicht als Aggressor in Erscheinung getreten ist, kann vor diesem Hintergrund keine Herabsetzung von Hemmschwellen unterstellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Hierin liegt auch der Unterschied zu dem von der Staatsanwaltschaft angeführten Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25.06.2020 (Az.: 205 StRR 240/20). Denn im letzteren Fall wurde das Plakat begleitet von den Worten „Die Schlägertruppen des Establishments haben versagt“ (vgl. AG Augsburg, Urteil vom 23.08.2019 – 06 Cs 101 Js 134200/18). Eine solche Äußerung ist tatsächlich geeignet, ebenjene Schlägertruppen zum Tätigwerden aufzufordern und somit Hemmschwellen zu senken und zu Rechtsbrüchen aufzurufen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Auch sind im konkreten Fall keine sonstigen Umstände ersichtlich, die der Äußerung der Angeschuldigten einen potentiell unfriedlichen Charakter geben. Sie ist eine Privatperson, die bislang nicht als Anhängerin rechtsradikaler oder anderer staatsfeindlicher und gewaltbereiter Gruppierungen in Erscheinung getreten ist. Auch ist ihre tatsächliche Reichweite begrenzt, was daran zu erkennen ist, dass ihre Facebook-Gruppe lediglich 16 bzw. 26 weitere Mitglieder hatte. Zutreffend ist zwar, dass das Bild von jedem Facebook-Nutzer hätte gesehen werden können. Jedoch ist in den Blick zu nehmen, dass die Angeschuldigte als Vorbild oder Sprachrohr der Szene von Querdenkern oder Verschwörungstheoretikern ebenfalls nicht aufgefallen ist und sich daher das Interesse an der von ihr gegründeten Gruppe in Grenzen halten dürfte. Hierin liegt ein weiterer Unterschied zu der von der Staatsanwaltschaft ins Feld geführten Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25.06.2020 (Az.: 205 StRR 240/20). Denn in letzterem Fall handelte es sich um ein Mitglied der AfD, das das entsprechende Plakat auf dem von großem medialen Echo und öffentlichem Interesse begleiteten Bundesparteitag der AfD hochgehalten und auch auf seinem Twitteraccount hochgeladen hat. Im Gegensatz zur hiesigen Angeschuldigten unterhalten zahlreiche Abgeordnete der AfD Kontakte zu rechtsradikalen bis rechtsextremen Gruppierungen; die AfD wird insgesamt vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft (https://de.wikipedia.org/wiki/Alternative_f%C3%BCr_Deutschland). Zahlreiche Vertreter der AfD sorgen regelmäßig mit rassistischen oder antisemitischen Äußerungen für Empörung in der Gesellschaft.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">(3) Da bereits die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen nicht vorliegen, kommt es auf den subjektiven Tatvorsatz der Angeschuldigten nicht an, der ebenfalls im konkreten Einzelfall anhand des bisherigen Ermittlungsergebnisses nicht mit der für eine Verurteilung hinreichenden Wahrscheinlichkeit nachzuweisen sein dürfte.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">3) Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">4) Gegen diesen Beschluss findet eine weitere Beschwerde nicht statt (vgl. § 310 StPO).</p>
<span class="absatzRechts">59</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>x</p>
</td>
<td><p>x</p>
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<td><p>x</p>
</td>
</tr>
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<td></td>
<td></td>
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<p>Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10. November 2021 verkündete Urteil der 28. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 28 O 81/21 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:</p>
<p>Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, in Bezug auf den Kläger über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe zu Kollegen gesagt <em>„Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich“,</em> wenn dies geschieht wie in dem Artikel <em>„Spy-Cams und eine Penistorte“</em>, der gleichlautend und mit gleicher Bebilderung am 6. November 2020 auf der Internetseite der Beklagten (Anlage 1 zur Klageschrift) und in der am 7. November 2020 erschienenen Ausgabe des Nachrichtenmagazins <em>„A“</em> (Anlage 2 zur Klageschrift) veröffentlicht worden ist und folgenden Inhalt hat:</p>
<p><img height="824" width="589" src="15_U_258_21_Urteil_20220818_0.png" alt="H:\Dokumente\Bilder 6. Zivilsenat\15U258-21-1.png" /></p>
<p><img height="801" width="593" src="15_U_258_21_Urteil_20220818_1.png" alt="H:\Dokumente\Bilder 6. Zivilsenat\15U258-21-2.png" /></p>
<p><img height="825" width="594" src="15_U_258_21_Urteil_20220818_2.png" alt="H:\Dokumente\Bilder 6. Zivilsenat\15U258-21-3.png" /></p>
<p>Die Beklagte wird weiter verurteilt, es zu unterlassen, das in den vorbezeichneten Artikel eingefügte Foto des Klägers erneut - wie geschehen - zu veröffentlichen.</p>
<p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Der Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 € und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten oder eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten angedroht.</p>
<p>Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 40 % und die Beklagte zu 60 %.</p>
<p>Dieses Urteil ist in der Hauptsache vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 20.000 €. Wegen der Kosten ist es ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar; die Vollstreckung wegen der Kosten kann der jeweilige Schuldner abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des gegen ihn vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht nach unangefochtener Abweisung zweier Zahlungsanträge im Berufungsverfahren nur noch Unterlassungsansprüche wegen einer Wort- und Bildberichterstattung geltend, in der die Beklagte insbesondere über den Verdacht berichtet, er habe heimlich Mitarbeiterinnen in deren Hotelzimmern gefilmt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist Verlegerin des Nachrichtenmagazins <em>„A“</em>. Der Kläger war Geschäftsführer der B GmbH, einer Enkelgesellschaft des C mit nach der Behauptung des Klägers etwa 250 Mitarbeitern. Er war jedenfalls bis zum Bekanntwerden der fraglichen Vorwürfe einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 9. November 2018 nahmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens und der Kläger auf dessen Einladung an einer auswärtigen Klausurtagung mit anschließender Übernachtung im Tagungshotel teil. Nachdem eine Mitarbeiterin nach einem gemeinsamen Abendessen und einem anschließenden Beisammensein im Partykeller des Hotels nachts auf ihr Zimmer gegangen war, erkannte sie, dass es sich bei einem Gerät, das im Hotelzimmer in einer Steckdose steckte, um eine <em>„Spycam“</em> handelte. Von dieser Kamera war die Mitarbeiterin ungewollt und unbemerkt gefilmt worden. Die Mitarbeiterin informierte den Kläger, den sie in stark alkoholisiertem Zustand auf dem Parkplatz des Hotels beim Entladen seines Fahrzeugs antraf. Der Kläger griff nach der <em>„Spycam“</em>, erklärte, es handele sich um ein normales Ladegerät, und steckte das Gerät in die Tasche seines Jacketts. Einer von der Mitarbeiterin geforderten Herausgabe widersetzte er sich zunächst, bis die Mitarbeiterin dem Kläger das Gerät wieder entreißen konnte. Anschließend berichtete die Mitarbeiterin einer Kollegin von dem Vorfall. Die Kollegin fand daraufhin noch in derselben Nacht in ihrem Zimmer ebenfalls eine <em>„Spycam“</em>. Nachdem eine dritte Mitarbeiterin ebenfalls noch in derselben Nacht über die Vorfälle informiert worden war und angegeben hatte, in der Steckdose ihres Bades befinde sich ein verdächtiger Gegenstand, durchsuchten der Kläger und zwei weitere Mitarbeiterinnen das fragliche Hotelzimmer und das Bad. Sodann erklärten die beiden weiteren Mitarbeiterinnen, sie hätten nichts gefunden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Zuge der anschließenden polizeilichen Ermittlungen wurde festgestellt, dass die im Zimmer der ersten Mitarbeiterin angebrachte <em>„Spycam“</em> auch den Kläger gefilmt hatte, während er sich allein in dem Zimmer aufgehalten hatte. Ferner wurde festgestellt, dass eine der beiden entdeckten Kameras die insoweit betroffene Mitarbeiterin beim Öffnen des Hosenbundes gefilmt hatte. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin am 8. Juni 2020 Anklage gegen den Kläger wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen in zwei Fällen; von der Verfolgung einer Straftat zum Nachteil der dritten Mitarbeiterin sah die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO ab (Anlage B 2 zur Klageerwiderung, Blatt I 139 f. der Akten). Nach Bekanntwerden der Vorwürfe wurde das Anstellungsverhältnis des Klägers beim C am 10. Juli 2020 fristlos gekündigt, worüber mehrere Medien unter namentlicher Nennung des Klägers im Internet ohne Mitteilung des Kündigungsgrundes berichteten.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Im Zwischenverfahren nahm der Kläger mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16. September 2020 Stellung zu den Tatvorwürfen (Anlage B 3 zur Klageerwiderung, Blatt I 141 ff. der Akten). Er ließ sich dahingehend ein, er habe die Tagung am Nachmittag des 9. November 2018 wegen eines anderen Termins für mehrere Stunden verlassen. Nach seiner Rückkehr in das Tagungshotel habe er nach einer längeren Autofahrt die Toilette benutzen müssen. Da er gewusst habe, dass für sein Team die Zimmer mit den Nummern 250 bis 275 vorgesehen waren, ihm eine bestimmte Verteilung dieser Zimmer jedoch nicht bekannt gewesen sei, habe er die Toilette eines dieser Zimmer in direkter Nähe zum Aufzug benutzt. Die Tür des zu dieser Zeit noch nicht bezogenen Zimmers habe, wie es das Konzept des Hotels vorgesehen habe, offen gestanden. Die Staatsanwaltschaft hielt auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens an ihrem Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens fest.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 27. Oktober 2020 führten zwei Redakteure der Beklagten ein Gespräch mit den drei - tatsächlich beziehungsweise vermeintlich - gefilmten Mitarbeiterinnen, die wegen des Vorfalls Klage beim Arbeitsgericht erhoben hatten. Bei dem Gespräch berichtete eine der Mitarbeiterinnen, ein Kollege habe ihr mitgeteilt, der Kläger habe ihm gegenüber geäußert <em>„Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich.“</em> Mit E-Mail vom 3. November 2020 stellte eine Redakteurin der Beklagten dem Kläger verschiedene Fragen in Bezug auf eine mögliche Berichterstattung über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und über die von einer der Mitarbeiterinnen berichtete Äußerung. Der Kläger nahm die Gelegenheit zur Stellungnahme wahr.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">In der am 7. November 2020 erschienenen Ausgabe ihres Nachrichtenmagazins berichtete die Beklagte sodann unter der Überschrift <em>„Spy-Cams und eine Penistorte“</em> unter anderem über die Entlassung des Klägers, über in seinem Arbeitsumfeld kursierende Penisdarstellungen, über den Verdacht, der Kläger habe die fraglichen <em>„Spycams“</em> angebracht und heimlich Mitarbeiterinnen gefilmt, und über die von einer der Mitarbeiterinnen berichtete Äußerung. In dem Beitrag, der am 6. November 2020 inhaltsgleich auch auf der Internetseite der Beklagten veröffentlicht worden war und auf dessen Inhalt Bezug genommen wird (Anlagen K 1 und 2 zur Klageschrift, Blatt I 27 ff. der Akten), wird der Kläger mit vollem Namen genannt und ein Portraitfoto des Klägers gezeigt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 13. November 2020 stellte das zuständige Amtsgericht das gegen den Kläger eingeleitete Strafverfahren gemäß § 153a Abs. 2 StPO endgültig ein, nachdem der Kläger zuvor festgesetzte Auflagen vollständig und rechtzeitig erfüllt hatte (Anlage zur Klageschrift, Blatt I 71 f. der Akten).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit dem angefochtenen Urteil, auf das wegen des erstinstanzlichen Vorbringens und der erstinstanzlichen Anträge Bezug genommen wird, hat das Landgericht die Beklagte unter Abweisung weiterer Klageanträge verurteilt, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe auf der fraglichen Klausurtagung Kameras in Hotelzimmern angebracht und hiermit heimlich Mitarbeiterinnen gefilmt, ferner über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe zu Kollegen gesagt <em>„Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich“,</em> und schließlich über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe im Badezimmer eines Hotelzimmers einer Mitarbeiterin eine Kamera entfernt, wenn dies jeweils geschieht wie in dem angegriffenen Beitrag. Ferner hat das Landgericht die Beklagte verurteilt, es zu unterlassen, das in dem Artikel abgedruckte Foto des Klägers erneut - wie geschehen - zu veröffentlichen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der diese ihren erstinstanzlichen Klageabweisungsantrag weiterverfolgt. Bezüglich des ersten Unterlassungsgebots wendet sie sich gegen die Annahme des Landgerichts, die Interessenabwägung falle zu Gunsten des Klägers aus. Der vom Landgericht mehrfach betonte verhältnismäßig geringe Strafrahmen der vorgeworfenen Tat könne insoweit nicht den Ausschlag geben, da der Schwerpunkt der Berichterstattung vor allem auf dem tatsächlichen Verhalten des Klägers und nicht auf der Frage der strafrechtlichen Einordnung gelegen habe. Das Strafverfahren spiele in dem Bericht nur eine untergeordnete Rolle. Das Gewicht des strafrechtlichen Vorwurfs und die Höhe einer möglichen Strafe würden überhaupt nicht thematisiert. Auch bestehe ein enorm hoher, an den Wahrheitsbeweis nahezu heranreichender Verdachtsgrad. Das Strafverfahren sei allein aus rechtlichen und nicht aus tatsächlichen Gründen eingestellt worden. Ferner seien zu Lasten des Klägers dessen exponierte Stellung, die besonders verwerfliche, perfide, sexistische und hinterhältige Art der mutmaßlichen Tat, die Besonderheiten des Tathergangs sowie die besondere Bedeutung der Tat für die Öffentlichkeit zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Bezüglich des zweiten und dritten Unterlassungsgebots wendet sich die Berufung gegen die Annahme des Landgerichts, die Rechtswidrigkeit dieser Verdachtsäußerungen folge aus dem Abwägungsergebnis bezüglich des ersten Unterlassungsgebots. Diese Argumentation sei nicht haltbar, weil die beiden weiteren Verdachtsäußerungen strafrechtlich gar nicht relevant seien. Schließlich sei auch die Bildberichterstattung zulässig. Eine zulässige identifizierende Wortberichterstattung dürfe grundsätzlich mit einem kontextneutralen Foto bebildert werden.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als die Beklagte zur Unterlassung verurteilt wurde, und die Klage vollständig abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"> die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Er verteidigt das angefochtene Urteil. Die Abwägungsentscheidung des Landgerichts beziehe alle maßgeblichen Kriterien ein und bringe sie im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung zum Ausgleich. Dabei habe das Landgericht sowohl der Person und Stellung des in der Öffentlichkeit nahezu unbekannten Klägers als auch der geringen Schwere der Straftat zu Recht ein besonderes Gewicht beigemessen. Das Kriterium der Schwere der Tat sei entsprechend § 140 Abs. 2 StPO zu verstehen und beurteile sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Moralische oder sittliche Bewertungen einer Tat seien in diese Bewertung nicht für sich genommen noch einmal einzubeziehen. Die Einstellung des Strafverfahrens nach § 153a StPO treffe keine Aussage über eine etwaige Täterschaft; die Unschuldsvermutung bleibe unberührt. Zudem sei entgegen den Ausführungen der Beklagten zu berücksichtigen, dass es um eine Berichterstattung über ein laufendes Ermittlungsverfahren gehe, auf die die Grundsätze der identifizierenden Verdachtsberichterstattung uneingeschränkt Anwendung fänden; das Ermittlungsverfahren stelle den Aufhänger der Berichterstattung dar. Bezüglich der Rechtswidrigkeit der zweiten und der dritten Verdachtsäußerung habe das Landgericht zu Recht auf das vorstehende Abwägungsergebnis verwiesen. Die weiteren Äußerungen seien auch Teil der mit dem Antrag zu 1a angegriffenen Berichterstattung.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus liege, wie erstinstanzlich umfassend dargelegt, ein Mindestbestand an Beweistatsachen nicht vor. Insoweit seien in Anbetracht der schweren und nachhaltigen Ansehensbeeinträchtigung hohe Anforderungen zu stellen. Gemessen daran reiche der allein angeführte Anhaltspunkt, dass der Kläger auf den Kameraaufnahmen zu sehen ist, nicht aus.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Da bereits die identifizierende Wortberichterstattung die Persönlichkeitsrechte des Klägers verletze, gelte dies für die Bildnisveröffentlichung erst recht. Es bestehe die Gefahr, dass der in der Öffentlichkeit zuvor nicht in Erscheinung getretene Kläger nunmehr von Unbekannten auf der Straße erkannt werde. Dies gelte umso mehr, als die vorliegende Berichterstattung auf Grund ihres Inhalts und der Bebilderung mit einer <em>„Penistorte“</em> geeignet sei, dem Leser auch langfristig in Erinnerung zu bleiben.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die rechtswidrige Berichterstattung habe die gesamte Existenz des Klägers zerstört. Er habe schwere nervliche Zusammenbrüche erlitten und zeitweise nicht mehr gewusst, ob und wie er sein Leben weiterführen könne.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist teilweise begründet. Sie wendet sich mit Erfolg gegen die Verurteilung, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe auf der fraglichen Klausurtagung Kameras in Hotelzimmern angebracht und hiermit heimlich Mitarbeiterinnen gefilmt, und über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe im Badezimmer eines Hotelzimmers einer Mitarbeiterin eine Kamera entfernt. Soweit sich die Berufung darüber hinaus gegen die Verurteilung wendet, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe zu Kollegen gesagt <em>„Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich“,</em> und es zu unterlassen, das in dem Artikel abgedruckte Foto des Klägers erneut zu veröffentlichen, hat die Berufung keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Der Kläger hat gegen die Beklagte entgegen der Auffassung des Landgerichts keinen Anspruch darauf, es zu unterlassen, unter namentlicher Nennung des Klägers über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe auf der Klausurtagung Kameras in Hotelzimmern angebracht und hiermit heimlich Mitarbeiterinnen gefilmt (§ 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB). Die entsprechenden Äußerungen der Beklagten, die in dem angegriffenen Beitrag vom 6. beziehungsweise 7. November 2020 unstreitig enthalten sind, verletzen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) des Klägers nach Auffassung des Senats nicht.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> Sie berühren allerdings dessen Schutzbereich.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Denn die Äußerung des Verdachts, der in der breiten Öffentlichkeit bis dahin unbekannte, im Bericht mit vollem Namen genannte Kläger habe Mitarbeiterinnen in deren Hotelzimmern heimlich gefilmt, ist offensichtlich geeignet, sich abträglich auf das Ansehen des Klägers auszuwirken. Es steht ein Übergriff des Klägers in die Privatsphäre ihm beruflich unterstellter Personen und ein offenbar zumindest beabsichtigter Eingriff auch in die Intimsphäre in Rede.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Hinzukommt, dass in dem Beitrag auch über das gegen den Kläger geführte Strafverfahren, insbesondere über die Wohnungsdurchsuchung, die Anklageschrift und die Einlassung des Klägers im Zwischenverfahren berichtet wird. Die den Beschuldigten identifizierende Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren beeinträchtigt zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs, weil sie sein mögliches Fehlverhalten öffentlich bekannt macht und seine Person in den Augen der Adressaten negativ qualifiziert (vgl. BGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1175/20</span>, NJW 2022, 1751 Rn. 21 mwN).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Diese Erwägungen gelten unabhängig davon, ob das dem Kläger vorgeworfene, wegen des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Mitarbeiterinnen unzweifelhaft rechtswidrige Verhalten strafbar war. Dies ist rechtlich zweifelhaft, weil eine Strafbarkeit gemäß § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB voraussetzt, dass die tatsächlich gefertigten Filmaufnahmen den höchstpersönlichen Lebensbereich der gefilmten Mitarbeiterinnen betreffen, wofür das Filmen einer Mitarbeiterin beim Öffnen des Hosenbundes möglicherweise nicht ausreichen könnte (vgl. dazu etwa Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 201a Rn. 3).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Es liegt aber kein rechtswidriger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor. Im Rahmen der gebotenen Abwägung dieses Rechts mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 10 EMRK verankerten Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit überwiegt das Schutzinteresse des Klägers die schutzwürdigen Belange der anderen Seite nicht.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><strong>aa)</strong> Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf die Presse zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Berichterstattung verwiesen werden. Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen, gehört zu den legitimen Aufgaben der Medien (zuletzt BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 19; vom 22. Februar 2022 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1175/20</span>, NJW 2022, 1751 Rn. 25).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft, darf nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, solange nicht untersagt werden, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (<span style="text-decoration:underline">Art. 5 GG</span>, <span style="text-decoration:underline">§ 193 StGB</span>). Eine Berufung hierauf setzt voraus, dass vor Aufstellung oder Verbreitung der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt werden. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten. Sie sind für die Medien grundsätzlich strenger als für Privatleute. An die Wahrheitspflicht dürfen im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen. Andererseits sind die Anforderungen umso höher, je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Allerdings ist auch das Interesse der Öffentlichkeit an derartigen Äußerungen zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 22; vom 22. Februar 2022 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1175/20</span>, NJW 2022, 1751 <span style="text-decoration:underline">Rn. 27</span>; vom 16. November 2021 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1241/20</span>, <span style="text-decoration:underline">NJW 2022, 940 Rn. 18</span>).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Diese Maßstäbe gelten im Grundsatz auch für die Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten (<span style="text-decoration:underline">§ 157 StPO</span>). In diesem Verfahrensstadium ist nicht geklärt, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen. Im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung ist aber die Gefahr in den Blick zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder Durchführung eines Strafverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und deshalb im Fall einer späteren Einstellung des Verfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängenbleibt" (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 23; vom 22. Februar 2022 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1175/20</span>, NJW 2022, 1751 <span style="text-decoration:underline">Rn. 28</span>; vom 16. November 2021 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1241/20</span>, <span style="text-decoration:underline">NJW 2022, 940 Rn. 19</span>).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert" verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 24; vom 22. Februar 2022 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1175/20</span>, NJW 2022, 1751 <span style="text-decoration:underline">Rn. 29</span>; vom 16. November 2021 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1241/20</span>, <span style="text-decoration:underline">NJW 2022, 940 Rn. 20</span>).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong> Ausgehend von diesen Maßstäben erweist sich die angegriffene Verdachtsberichterstattung als rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"><strong>(1)</strong> Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprachen, vorlag.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Das folgt bereits aus der Anklageerhebung, die nach <span style="text-decoration:underline">§ 170</span> Abs. 1 <span style="text-decoration:underline">StPO</span> voraussetzt, dass der Beschuldigte aus Sicht der Staatsanwaltschaft einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint, also eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Verurteilung besteht (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 28; vom 22. Februar 2022 - <span style="text-decoration:underline">VI ZR 1175/20</span>, NJW 2022, 1751 Rn. 34). Nichts anderes folgt aus dem - im Übrigen erst nach Veröffentlichung des angegriffenen Beitrags ergangenen - Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts. Denn auch eine Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO setzt das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts voraus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 1995 - 2 BvR 1732/95, NStZ-RR 1996, 168, 169; BeckOK-StPO/Beukelmann, § 153a Rn. 14 [Stand: 1. Juli 2022]; MüKo-StPO/Peters, § 153a Rn. 8). Einen solchen hat das Amtsgericht in den Gründen des Beschlusses in tatsächlicher Hinsicht auch nicht verneint. Es hat lediglich aus Rechtsgründen Zweifel an der Strafbarkeit des Verhaltens geäußert. Diese Zweifel stehen der Annahme eines Mindestbestandes an Beweistatsachen - also von Anhaltspunkten dafür, dass die als Verdacht geäußerten Tatsachen der Wahrheit entsprechen - nicht entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Unbeschadet dessen lag ein Mindestbestand an Beweistatsachen auch unabhängig von der Anklageerhebung vor. Denn unstreitig war der Kläger von einer der <em>„Spycams“</em> in einem später von einer der betroffenen Mitarbeiterinnen bezogenen Hotelzimmer gefilmt worden, was darauf hindeutete, dass er die Kamera dort installiert hatte. Seine diesbezügliche Einlassung, er habe das Zimmer betreten, um die Toilette zu benutzen, war jedenfalls nicht so plausibel, dass die Einlassung bereits der Annahme eines Mindestbestandes an Beweistatsachen entgegenstand. Da die Einlassung nicht auf nahe liegende Fragen einging (Warum hat der in Eile befindliche Kläger keine für alle Hotelgäste zugängliche Toilette - etwa in der Nähe des Tagungsraums - benutzt? Warum hat er, obwohl er das Zimmer als von ihm bezogen angesehen haben will, beim Verlassen des Zimmers die Tür nicht abgeschlossen? Warum hat er das Zimmer so verlassen, dass die betroffene Mitarbeiterin es als noch nicht bezogen angesehen hat? Warum hat er die bereits im Auto ergriffenen Unterlagen und die Powerbar erst im Zimmer in die mitgeführte Tasche gepackt?), durfte die Beklagte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts davon ausgehen, dass die Richtigkeit der Einlassung widerlegt werden könnte. Dies gilt umso mehr, als der Kläger unmittelbar nach der Entdeckung der ersten <em>„Spycam“</em> das Gerät gegen den Willen der betroffenen Mitarbeiterin an sich genommen, es als normales Ladegerät bezeichnet und sich einer Herausgabe widersetzt hatte.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><strong>(2)</strong> Der angegriffene Bericht ist ausgewogen, enthält keine Vorverurteilung des Klägers und erweckt nicht den Eindruck, er sei bereits überführt. Das macht der Kläger auch nicht geltend.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks"><strong>(3)</strong> Ferner ist unstreitig, dass die Beklagte vor der Veröffentlichung eine Stellungnahme des Klägers eingeholt hat, aus der in dem Beitrag auch mehrfach zitiert wird.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks"><strong>(4)</strong> Schließlich handelte es sich entgegen der Ansicht des Landgerichts um einen Vorgang von solchem Gewicht, dass eine Mitteilung des Sachverhalts unter namentlicher Nennung des Klägers durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt war.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>(a)</strong> Denn zwar schützt die Unschuldsvermutung den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist. Ein identifizierender Bericht über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist deshalb auch daraufhin zu überprüfen, ob er geeignet ist, den Beschuldigten an den Pranger zu stellen, ihn zu stigmatisieren oder ihm in sonstiger Weise Nachteile zuzufügen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen. Oftmals kann im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bis zu einem erstinstanzlichen (nicht notwendig rechtskräftigen) Schuldspruch das Recht des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeit das Interesse an einer identifizierenden Wortberichterstattung überwiegen. Dies ist allerdings nicht der Fall, wenn die besonderen Umstände der dem Beschuldigten vorgeworfenen Straftat oder dessen herausgehobene Stellung ein gewichtiges Informationsinteresse der Öffentlichkeit - auch über die Identität des Beschuldigten - begründen, hinter dem das Interesse des Beschuldigten am Schutz seiner Persönlichkeit zurückzutreten hat (BGH, Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196 Rn. 41 - Staranwalt).</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Im Streitfall ist die Unschuldsvermutung bei der Abwägung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob das dem Kläger vorgeworfene Verhalten tatsächlich als Straftat zu werten ist. Maßgeblich ist nur, dass die Staatsanwaltschaft das Verhalten als strafbar angesehen hat, der Kläger deshalb strafrechtlich verfolgt worden ist und die Beklagte - ohne rechtliche Fragen zu thematisieren - über das Strafverfahren berichtet hat.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks"><strong>(b)</strong> Gemessen an diesen Grundsätzen war eine Mitteilung des Sachverhalts unter namentlicher Nennung des Klägers durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit aber noch gerechtfertigt. Das Informationsinteresse rührt vor allem aus dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität von Führungskräften öffentlicher Unternehmen (vgl. BGH, Urteile vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196 Rn. 43 - Staranwalt; vom 18. November 2014 - VI ZR 76/14, BGHZ 203, 239 Rn. 24 - Chefjustiziar).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Kläger jedenfalls bis zum Erscheinen der angegriffenen Berichte einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt war. Dass in Fachmedien - ohne Mitteilung der Kündigungsgründe - unter Namensnennung über seine Entlassung berichtet worden war, ändert daran nichts. Auch war der zwar nicht in der Überschrift, wohl aber im weiteren Text mit vollem Namen genannte Kläger wegen der Berichterstattung in dem auflagenstarken Nachrichtenmagazin der Beklagten und in ihrem Internetauftritt schon vor einer Verurteilung der Gefahr erheblicher sozialer Missachtung ausgesetzt. Es stand ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre ihm beruflich unterstellter Personen und ein offenbar zumindest beabsichtigter Eingriff auch in die Intimsphäre in Rede. Denn der Kläger soll anlässlich einer dienstlichen Veranstaltung Mitarbeiterinnen des von ihm geführten Unternehmens in deren Hotelzimmern heimlich gefilmt haben.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Kläger eine leitende Stellung beim C hatte, einer großen und beitragsfinanzierten öffentlichen Rundfunkanstalt. Als Geschäftsführer einer Enkelgesellschaft hatte er Personalverantwortung für nach seinem eigenen Vortrag etwa 250 Mitarbeiter. Der gegen den Kläger erhobene, seine Sozialsphäre betreffende Vorwurf, heimlich ihm unterstellte Mitarbeiterinnen in zumindest privaten, wenn nicht intimen Situationen gefilmt zu haben, stand, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, mit dieser herausgehobenen Funktion in einem öffentlichen Unternehmen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Angesichts des dadurch begründeten besonderen Informationsinteresses überwogen die durch die Unschuldsvermutung konkretisierten Interessen des Klägers das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung jedenfalls nach der Anklageerhebung nicht mehr.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Berufung macht zu Recht geltend, dass es für diese Beurteilung entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass das dem Kläger vorgeworfene Verhalten - sollte es überhaupt strafbar sein - nach § 201a Abs. 1 StGB nur mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird. Denn das Informationsinteresse folgt - wie ausgeführt - nicht aus der Schwere einer möglicherweise vorliegenden Straftat, sondern aus der Stellung des Klägers und den Besonderheiten des ihm vorgeworfenen - unzweifelhaft rechtswidrigen - Verhaltens. Strafrechtliche Fragen werden in dem Bericht auch nicht angesprochen. Die von der Berufungserwiderung angeführte Vorschrift des § 140 Abs. 2 StPO ist für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung ohnehin ohne Bedeutung, weil sie eine gänzlich andere Fragestellung regelt.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong> Ferner hat der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch darauf, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe im Badezimmer eines Hotelzimmers einer Mitarbeiterin eine Kamera entfernt. Eine solche Aussage lässt sich dem angegriffenen Bericht schon nicht entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">In dem Bericht werden lediglich Äußerungen einer <em>„dritte[n] betroffene[n] Kollegin“</em> wiedergegeben. Danach hat diese Kollegin, nachdem der Kläger und zwei weitere Mitarbeiterinnen ihr erzählt hatten, es seien kleine schwarze Kameras gefunden worden, gesagt, dass sie im Badezimmer „<em>so etwas“</em> gesehen habe. Der Kläger und eine der weiteren Mitarbeiterinnen seien daraufhin in das Badezimmer „<em>gestürmt“</em>. Als sie herausgekommen seien, habe die Kollegin gemeint, <em>„da sei nichts gewesen.“</em></p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Aus diesen Äußerungen kann ein unbefangener Durchschnittsleser zwar den möglichen Schluss ziehen, der Kläger habe auch im Zimmer der dritten Mitarbeiterin eine Kamera installiert und habe diese, um seine Tat zu verdecken, bei der Durchsuchung des Badezimmers wieder entfernt. Unabweisbar nahe gelegt wird dem Leser eine solche Schlussfolgerung aber nicht. Eine eigene Behauptung der Beklagten mit dem aus dem Klageantrag ersichtlichen Inhalt ist deshalb nicht anzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2005 - VI ZR 204/04, NJW 2006, 601 Rn. 17; Senat, Urteil vom 26. November 2020 - 15 U 39/20, GRUR-RS 2020, 38050 Rn. 20).</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong> Hingegen hat das Landgericht einen Anspruch des Klägers, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe zu Kollegen gesagt <em>„Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich“,</em> im Ergebnis zu Recht bejaht<em>.</em> Es fehlt insoweit jedenfalls an einem Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprachen. Der Kläger hat in seiner von der Beklagten eingeholten Stellungnahme - wie auch im vorliegenden Rechtsstreit - bestritten, sich in der berichteten Weise geäußert zu haben. Angesichts dieser Einlassung durfte die Beklagte sich nicht allein und ausschließlich auf die Angaben einer der von den Filmaufnahmen betroffenen Mitarbeiterinnen verlassen, wonach ein Kollege ihr mitgeteilt habe, der Kläger habe die Äußerung getätigt. Es handelte sich bei dieser Mitarbeiterin lediglich um eine Zeugin vom Hörensagen, die im Übrigen schon wegen des Vorwurfs des heimlichen Filmens dem Kläger gegenüber negativ eingestellt war, deswegen bereits Klage beim Arbeitsgericht erhoben hatte und möglicherweise erhebliche Eigeninteressen verfolgte, was bei der Bewertung der Überzeugungskraft ihrer Bekundungen auch im Rahmen des Mindestbestandes an Beweistatsachen kritisch zu würdigen ist (Senat, Urteil vom 12. November 2020 - 15 U 112/20, BeckRS 2020, 37979 Rn. 39 mwN). Die Beklagte hätte deshalb vor der Verdachtsberichterstattung zumindest den Kollegen, gegenüber dem der Kläger sich geäußert haben soll, selbst befragen müssen. Dass ihr dies nicht möglich oder nicht zumutbar war, ist nicht ersichtlich; auch bei der Erörterung der Frage im Termin wurde dazu nichts geltend gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks"><strong>4.</strong> Schließlich hat der Kläger gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Unterlassung der ihn identifizierenden Bildberichterstattung.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong> Die Zulässigkeit von Bildveröffentlichungen ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach dem abgestuften Schutzkonzept der §§ <span style="text-decoration:underline">22</span>, <span style="text-decoration:underline">23</span> KUG zu beurteilen, das sowohl mit verfassungsrechtlichen Vorgaben als auch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Einklang steht. Danach dürfen Bildnisse einer Person grundsätzlich nur mit deren Einwilligung verbreitet werden (§ <span style="text-decoration:underline">22</span> Satz 1 KUG). Die - wie vorliegend - nicht von der Einwilligung des Abgebildeten gedeckte Verbreitung seines Bildes ist nur zulässig, wenn dieses Bild dem Bereich der Zeitgeschichte oder einem der weiteren Ausnahmetatbestände des § <span style="text-decoration:underline">23 Abs.</span> 1 KUG positiv zuzuordnen ist und berechtigte Interessen des Abgebildeten nicht verletzt werden (§ <span style="text-decoration:underline">23</span> Abs. 2 KUG). Dabei ist schon bei der Beurteilung, ob ein Bild dem Bereich der Zeitgeschichte zuzuordnen ist, eine Abwägung zwischen den Rechten des Abgebildeten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. <span style="text-decoration:underline">1</span> Abs. 1 GG, Art. <span style="text-decoration:underline">8 Abs.</span> 1 EMRK einerseits und den Rechten der Presse aus Art. <span style="text-decoration:underline">5 Abs.</span> 1 GG, Art. <span style="text-decoration:underline">10</span> EMRK andererseits vorzunehmen (zuletzt etwa BGH, Urteile vom 9. April 2019 - VI ZR 533/16, AfP 2019, 333 Rn. 7 und vom 6. Februar 2018 - VI ZR 76/17, NJW 2018, 1820 Rn. 10 mwN).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Bei einer strafverfahrensbegleitenden Bildberichterstattung hat in der Abwägung der widerstreitenden Interessen bereits bei der Prüfung, ob ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte im Sinne des <span style="text-decoration:underline">§ 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG</span> vorliegt die Unschuldsvermutung Berücksichtigung zu finden. Sie gebietet eine entsprechende Zurückhaltung und die Berücksichtigung einer möglichen Prangerwirkung. Danach wird oftmals bis zu einem erstinstanzlichen (nicht notwendig rechtskräftigen) Schuldspruch das Recht des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeit das Interesse an einer identifizierenden Bildberichterstattung überwiegen. Eine individualisierende Bildberichterstattung über den Beschuldigten eines Strafverfahrens scheidet aber nicht in jedem Fall aus. Vielmehr können es die jeweiligen Umstände rechtfertigen, dass sich der Betreffende nicht beziehungsweise nicht mehr mit Gewicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen kann. Dies gilt etwa dann, wenn er kraft seines Amtes oder wegen seiner gesellschaftlich hervorgehobenen Verantwortung beziehungsweise Prominenz in besonderer Weise im Blickfeld der Öffentlichkeit steht und die Medienöffentlichkeit mit Rücksicht hierauf hinzunehmen hat (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196 Rn. 46 mwN).</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong> Gemessen daran handelt es sich bei der im Streitfall zu beurteilenden Abbildung nicht um ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte. Denn nach den Ausführungen unter 1 b bb stand der Kläger gerade nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Zwar überwogen seine durch die Unschuldsvermutung konkretisierten Interessen das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Wortberichterstattung jedenfalls nach der Anklageerhebung nicht mehr. Für die angegriffene Veröffentlichung eines Bildes, deren Zulässigkeit nicht nach denselben Maßstäben wie die Zulässigkeit der Wortberichterstattung zu beurteilen ist (vgl. BGH, Urteil vom 29. Mai 2018 - VI ZR 56/17, NJW-RR 2018, 1063 Rn. 28), fehlt es aber an einer Rechtfertigung.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auch wenn es sich um eine kontextneutrale Aufnahme handelt, die für sich gesehen keinen besonderen Verletzungsgehalt hat, wird die ohnehin bestehende Gefahr erheblicher sozialer Missachtung durch die Bebilderung der Verdachtsberichterstattung mit einem Foto des Klägers noch weiter verstärkt. Während der Leser den Namen des Klägers erst bei einem aufmerksamen Durchlesen des Berichts erfährt, kann er auf das Bild schon bei einem flüchtigen Durchblättern des Magazins aufmerksam werden; entsprechendes gilt für die Internetveröffentlichung. Die Veröffentlichung des Bildes des in der Öffentlichkeit unbekannten Klägers in dem auflagenstarken Nachrichtenmagazin der Beklagten und ihrem Internetauftritt ist deshalb noch deutlich weitgehender als eine reine Namensnennung geeignet, eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner Person zu erregen und damit auch eine gewisse Prangerwirkung zu erzeugen (vgl. Senat, Urteil vom 21. Februar 2019 - 15 U 132/18, juris Rn. 29). Dies ist unter Berücksichtigung der oben (1 b bb) erörterten Abwägungskriterien mit der wegen der Unschuldsvermutung gebotenen Zurückhaltung nicht mehr zu vereinbaren.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong>5.</strong> Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den § 92 Abs. 1 Satz 1, § 708 Nr. 10, § 709, § 711 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Streitwert des Berufungsverfahrens:</span> 40.000 €</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">(vgl. die Streitwertfestsetzung am Ende des angefochtenen Urteils)</p>
|
346,624 | lg-essen-2022-08-18-3-o-6719 | {
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} | 3 O 67/19 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-09-20T10:01:53 | 2022-10-17T11:10:19 | Urteil | ECLI:DE:LGE:2022:0818.3O67.19.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.</p>
<p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 00.00.0000 in H.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Wagen des Klägers – so sein Vortrag, ein B mit dem amtlichen Kennzeichen …, war im Bereich der L-Straße/M-Straße gegen 01:00 Uhr an dem oben genannten Tag auf einem Parkplatz abgestellt. Die Parkbuchten verlaufen rechtwinklig zur Straße. Der Zeuge C befand sich als Fahrer in diesem Wagen. Der Beklagte zu 1) befuhr mit seinem Wagen, einem W mit dem amtlichen Kennzeichen …, der bei der Beklagten zu 2) versichert ist, die M-Straße in südlicher Richtung und bog nach rechts in die L-Straße ein, um dort auf dem Parkplatz zu parken. Sodann geriet er seitlich in die rechte Flanke des klägerischen Fahrzeugs.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Polizei verwarnte den Beklagten zu 1). Dieser räumte vor Ort das Geschehen ein. Gegenüber der Beklagten zu 2) gab er im Rahmen der Schadensanzeige an, dass er die Kontrolle über seinen Wagen verloren habe und deshalb in das andere Auto gefahren sei.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ließ den Schaden an seinem Fahrzeug begutachten. Der Sachverständige ermittelte Nettoreparaturkosten in Höhe von 9.719,31 €, einen Wiederbeschaffungswert in Höhe von 6.800,00 € sowie einen Restwert in Höhe von 1.000,00 € (brutto). Für die Wiederbeschaffungsdauer setzte der Gutachter 12 Kalendertage an bei einem Nutzungsausfall in Höhe von 74,00 €/Tag. Für die Begutachtung stellte er dem Kläger einen Betrag in Höhe von 949,62 € in Rechnung. Den Anspruch auf Erstattung der Sachverständigenkosten trat der Kläger am selben Tag an den Gutachter ab.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger veräußerte das Fahrzeug für 1.200,00 €. Er forderte die Beklagte zu 2) mit Fristsetzung bis zum 31.01.2019 erfolglos zur Regulierung auf.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger behauptet, dass er den Wagen am 15.09.2018 bei dem Zeugen L1 aus M1 zu einem Preis von 3.800 € erworben habe. Er habe sich von seiner Sozialhilfe über einen Zeitraum von zweieinhalb bis drei Jahren einen Betrag in Höhe von 4.500,00 € bis 4.800,00 € zusammengespart und hiervon den Kaufpreis in bar bezahlt. Der Wagen sei ihm an diesem Tag übergeben worden. Seinen alten Wagen habe er wegen des bestehenden Wasserverlusts und des dadurch bedingten Temperaturanstieges verkaufen wollen. Im Rahmen der mündlichen Anhörung vom 25.03.2021 behauptet er zunächst, dass ihm bezüglich des hier in Rede stehenden Wagens der Verkäufer mitgeteilt habe, dass der Wagen mangelbehaftet sei und Wasser verliere verbunden mit einem Temperaturanstieg – er den Wagen aber trotzdem so gekauft habe. In der erneuten mündlichen Anhörung vom 22.06.2021 behauptet er hingegen, dass ihn der Verkäufer zwar über die Reparaturbedürftigkeit des Wagens in formiert habe – nicht hingegen über den Wasserverlust gesprochen habe.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 6.726,00 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 01.02.2019 zu zahlen;</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihn von den Kosten des Gutachtens des B1, I-Straße …, … H1, vom 22.10.2018 über den Betrag von 949,62 €, Gutachten-Nr. … freizustellen</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten von 729,23 € freizustellen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 2) behauptet, der Unfall sei manipuliert. Hierfür spreche, dass die Haftungsfrage vermeintlich klar und eindeutig sei. Auch das sofortige Einräumen des Unfallgeschehens durch den Beklagten zu 1) gegenüber den Polizeibeamten spreche dafür. Überdies soll sich der Unfall zur Nachtzeit ereignet haben, einer Zeit, zu der üblicherweise nicht mit unbeteiligten Zeugen zu rechnen sei. Die Angaben des Beklagte zu 1) gegenüber der Beklagten zu 2), zu diesem Zeitpunkt einen Freund besuchen zu wollen, seien nicht überzeugend. Die Unfallschilderung als solche erfolge nur in groben Zügen, was ebenfalls für eine Manipulation spreche. Für eine Manipulation spreche zudem, dass der Wagen ins Ausland verkauft worden und damit eine Begutachtung unmöglich sei. Auf Seiten des Beklagten zu 1) sei auch ein „typisches“ Fahrzeug zum Einsatz gekommen mit einer Laufleistung von 256.000 km, welches nur 7 Wochen vor dem Unfallereignis bei der Beklagten zu 2) bei einer Selbstbeteiligung in Höhe von 300 € vollkaskoversichert worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat die Parteien persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen L1 und C sowie Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der persönlichen Anhörung, der Beweisaufnahme sowie des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 25.03. und 22.06.2021 sowie auf das Gutachten vom 14.03.2022 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 6.726,00 € gem. §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 115 VVG, § 1 PflVG.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dabei scheitert der Anspruch nicht bereits an der von der Beklagten zu 2) bestrittenen Eigentümerstellung des Klägers bezüglich des geschädigten Pkw. Nach der persönlichen Anhörung des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 25.03.2021 sowie der Vernehmung des Zeugen L1 – ebenfalls am 25.03.2021 – ist das Gericht überzeugt davon, dass der Kläger an diesem Tag Eigentümer des Wagens geworden ist. Sowohl der Kläger als auch der Zeuge L1 haben im Wesentlichen übereinstimmend angegeben, dass der Kläger den Wagen bezahlt und sie zu diesem Zwecke gemeinsam nach H1 mit dem streitgegenständlichen Wagen gefahren sind. Soweit der Sohn des Klägers, der Zeuge C, an den Verhandlungen beteiligt gewesen ist und etwa Unterlagen ausgefüllt hat, hat der Kläger dies plausibel mit seiner fehlenden Kenntnis der deutschen (Schrift-)Sprache erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Hingegen ist das Gericht unter Berücksichtigung der Angaben der Parteien im Rahmen der persönlichen Anhörung sowie der durchgeführten Beweisaufnahme in der Gesamtschau davon überzeugt, dass es sich bei dem in Rede stehenden Unfallereignis um einen „manipulierten Unfall“ handelt und somit keine Ersatzpflicht besteht. Für die Behauptung, dass sich der Unfall wie vorgetragen ereignet hat, trägt der Kläger die Beweislast. Bestehen Zweifel am Ablauf des behaupteten Geschehens, geht dies zu seinen Lasten (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 22.01.2016 – Az. 26 U 164/15 m.w.N.). Diesen Beweis ist dem Kläger nicht erbracht.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Nach ständiger Rechtsprechung kann eine einverständliche Herbeiführung eines Unfalls aufgrund von Indizien festgestellt werden, die im Wege einer Gesamtschau zu überprüfen sind. Dabei geht es nicht um eine mathematisch genaue Sicherheit, es reicht vielmehr aus, wenn die vorliegenden Indizien in ihrer Gesamtschau nach der Lebenserfahrung den Schluss zulassen, dass der Unfall auf einer Verabredung beruht und der Geschädigte mit der Beschädigung seines Fahrzeugs einverstanden war. Dabei genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, d.h. ein für einen vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, dass er Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie mathematisch lückenlos auszuschließen. Demnach ist eine Häufung der für eine Manipulation sprechenden Beweisanzeichen und Indizien geeignet, die Überzeugung des Gerichts zu begründen, ein gestellter Unfall liege vor (vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 2007, 603 m.w.N.; OLG Hamm Urt. v. 22.03.2000 - 13 U 144/99, VersR 2001, 1127).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Indizien, die für ein manipuliertes Unfallereignis sprechen, sind u.a., dass sich der Unfall in einer Verkehrssituation ereignet, bei der im Nachhinein kein Streit über die Haftungsfrage aufkommt – mithin eine klare Haftungslage zu Lasten des Schädigers besteht (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 09.03.2011 – Az. 22 U 10/11). Ebenso kann das sofortige Einräumen des Unfallgeschehens und somit der Schadensverursachung ein Indiz für eine Manipulation darstellen (vgl. OLG Köln in R+S 2010, 192-194). Zudem spricht für ein manipuliertes Unfallereignis, wenn sich der Unfall zu einer Zeit ereignet, in der typischerweise nicht mit unbeteiligten Zeugen zu rechnen bzw. anderweitiger Verkehr zu erwarten ist (OLG Köln Urt. v. 22.06.2017 – Az. 8 U 19/16). Darüber hinaus ist eine grobe Schilderung des Unfalls ein Indiz dafür, dass sich der Unfall nicht in der vorgetragenen Weise abgespielt hat (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 24.06.2016 – Az. 9 U 28/16). Schließlich ist ein gewichtiges Indiz für eine Unfallmanipulation, wenn sich die Schäden am Unfallfahrzeug technisch nicht mit den von den Parteien vorgetragenen verschiedenen Unfallversionen in Einklang bringen lassen (vgl. OLG Hamm aaO.).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers zum Fahrzeugerwerb sowie Schilderung des Beklagten zu 1) hinsichtlich des Unfalls und des Ergebnisses der Begutachtung durch die Sachverständige ist das Gericht von der Manipulation des streitgegenständlichen Unfallereignisses überzeugt.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Das Gericht ist nach der Anhörung des Klägers überzeugt davon, dass dieser den Wagen ausschließlich für den hier in Rede stehenden Unfall erworben hat. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung hat er den konkreten Fahrzeugerwerb nicht plausibel erläutern können. So hat er bei seiner persönlichen Anhörung am 21.03.2021 angegeben, dass er sich einen neuen Wagen habe kaufen wollen, weil sein altes Fahrzeug unter einem Wasserverlust leide, was zu einem Temperaturanstieg führe – mithin schädlich für das Fahrzeug ist. Der Verkäufer, der Zeuge L1, habe ihn während des Verkaufsgesprächs für den hiesigen Wagen darauf hingewiesen, dass dieser dasselbe Problem aufweise – nämlich Wasserverlust und dadurch bedingter Temperaturanstieg. Er – der Kläger – habe das Fahrzeug aber so gekauft. Aus Sicht des Gerichts und nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist es absolut nicht nachvollziehbar, einen neuen Wagen zu erwerben mit demselben Problem wie der alte, wenn man diesen – den alten – doch gerade deshalb verkaufen will – so der Kläger im Rahmen seiner Anhörung.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Bei seiner erneuten Anhörung am 22.06.2021 hat der Kläger hingegen vorgetragen, dass ihn der Zeuge L1 doch nicht über den Wasserverlust aufgeklärt habe – jedoch über die Reparaturbedürftigkeit des Wagens. Auch diese Angaben des Klägers, die in eindeutigem und nicht näher begründetem Widerspruch zu seiner Darstellung bei dem ersten Verhandlungstermin stehen, sind aus Sicht des Gerichts nicht plausibel, um einen anderen Grund des Fahrzeugerwerbs zu erklären als die Verwendung für den hiesigen Unfall. In dem Verhandlungstermin vom 21.03.2021 hat der Kläger dargestellt, dass er sich einen Betrag in Höhe von 4.500,00 – 4.800,00 € über einen Zeitraum von zweieinhalb bis drei Jahren von seiner Sozialhilfe angespart und hiervon den Kaufpreis in Höhe von 3.800,00 € gezahlt haben will. Selbst wenn der Zeuge L1 den Kläger nicht über den Wasserverlust haben sollte, was dieser bei seiner Vernehmung sowohl hinsichtlich dieses Defekts als auch der weiteren Mängel bekundet hat, ist der Erwerb dieses Fahrzeugs unter Berücksichtigung der finanziellen Situation des Klägers nicht nachvollziehbar. Unterstellt, dass der alte Wagen lediglich an Wasserverlust gelitten hat, macht es wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn, einen neuen Wagen mit erheblichen reparaturbedürftigen Mängel zu erwerben, deren Behebung in finanzieller Hinsicht überhaupt nicht realisierbar ist unter Zugrundlegung des Sozialhilfebezugs des Klägers. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass der Zeuge L1 auch ein erhebliches Eigeninteresse daran hat, eine Aufklärung des Klägers über vorliegende Mängel zu bekunden, um einer etwaigen Sachmängelhaftung zu entgehen. Es kann jedoch dahinstehen, ob der Zeuge L1 den Kläger umfassend aufgeklärt hat. Denn jedenfalls nach seinem eigenen Vortrag hat er ihn entweder über den Wasserverlust des Wagens aufgeklärt oder die Reparaturbedürftigkeit des Wagens, was zu keiner als der vom Gericht oben dargestellten Schlussfolgerung als Grund für den Fahrzeug führt.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Weiteres Indiz für eine vorliegende Unfallmanipulation ist, dass sich der Unfall zur Nachtzeit ereignet hat – mithin keine anderen Zeugen vorhanden waren. Zudem ist der Beklagte zu 1) nach dem von dem Kläger vorgetragen Unfallhergang allein für diesen verantwortlich und trägt somit zu 100 % des entstandenen Schaden. Der Beklagte zu 1) hat das Unfallgeschehen vor Ort gegenüber der Polizei auch eingeräumt, was ebenfalls für die Manipulation spricht. Hinzu kommt, dass der Kläger den Wagen erst kurz vor dem Unfall angeschafft und der Beklagte zu 1) seinen Wagen erst kurze Zeit vor dem Unfallereignis bei der Beklagten zu 2) vollkaskoversichert hat.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist das Gericht aufgrund des Gutachtens der Sachverständigen davon überzeugt, dass sich der Unfall nicht in der vorgetragenen Weise abgespielt hat – insbesondere der Beklagte zu 1) unrichtige Angaben zu dem Unfallhergang gemacht hat. Während dieser im Rahmen der Schadensmeldung gegenüber der Beklagten zu 2) angegeben, dass er die Kontrolle über seinen Wagen verloren habe, hat er bei seiner persönlichen Anhörung in der Verhandlung am 22.06.2021 hingegen behauptet, dass er sich mit einem Freund auf diesem Parkplatz verabredet und versucht habe, einzuparken. Das sich bereits auf dem Parkplatz befindlich Fahrzeug habe sich dann bewegt – er noch gebremst. Im weiteren Verlauf der Anhörung hat er angegeben, nicht mehr genau sagen zu können, ob sich der Wagen bewegt hat oder nicht. Abgesehen davon, dass der Beklagte zu 1) mit keinem Wort einen irgendwie gearteten Kontrollverlust über sein Fahrzeug zu diesem Zeitpunkt dargestellt hat, hat die Sachverständige überzeugend und nachvollziehbar in ihrem Gutachten dargelegt, dass die durch das Unfallereignis an dem klägerischen Wagen entstandenen Schäden nicht mit dem von dem Beklagten zu 1) beschriebenen Einparkvorgang in Einklang zu bringen sind. Im Rahmen eines Einparkvorgangs seien – so die Sachverständige überzeugend – Schäden zu beobachten aufgrund eines Anstoß mit einer für das Einparken üblichen Geschwindigkeit von etwa 5 km/h. Die von ihr anhand der einzig zur Verfügung stehenden Fotos festgestellten und in sämtlichen Bereichen kompatiblen Schäden mit dem vorgetragenen Unfallereignis lassen jedoch einen Rückschluss auf eine Kollisionsgeschwindigkeit von etwa 20 km/h schließen, was nicht mit einem Einparkvorgang in Einklang zu bringen sei.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aufgrund der Alternativbetrachtungen der Sachverständigen am Ende des Gutachtens unter Zugrundlegung des ursprünglich von dem Beklagten zu 1) gegenüber der Beklagten zu 2) vorgetragenen Kontrollverlustes. Abgesehen davon, dass der Beklagte zu 1) bereits bei der Schadensmeldung keinerlei konkrete Angaben über die Art des Kontrollverlust gemacht hat, wäre bei einem „bloßen“ Verlust der Kontrolle über das Lenkrad ebenfalls von eine dem Einparken typischen Geschwindigkeit in Höhe von 5 km/h auszugehen, die die Sachverständige hier gerade nicht festgestellt hat. Bezüglich der zweiten von der Sachverständigen angenommenen Variante zur Begründung der hohen Kollisionsgeschwindigkeit – nämlich der Verwechselung von Gas- und Bremspedal – fehlt es zum einen an einem entsprechenden Vortrag des Beklagten zu 1). Zum anderen hat er bei der persönlichen Anhörung ausdrücklich dargestellt, dass er noch „gebremst“ habe und somit gerade keine Verwechselung der beiden Pedale stattgefunden hat. Schließlich hat der Beklagte zu 1) auch nicht plausibel erklären können, aus welchem Grund er auf diesem Parkplatz gewesen ist. Wenngleich er angegeben hat, eine Freund besuchen und sich verabschieden zu wollen, folgt das Gericht diesen Angaben nicht. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung hat er dargestellt, dass er diesen Freund noch aus Kroatien kenne - beide gemeinsam zur Schule gegangen seien, und der Freund mangels Erwerbsaussicht wieder zurück nach Kroatien gehe und sich vorher von ihm verabschieden wolle. Zum einen ist es nicht nachvollziehbar, dass der Beklagte zu 1) abgesehen von dem Namen des nunmehr in Kroatien lebenden Freundes keinerlei Angaben zu dessen Adresse oder dem Standort der Wohnung machen konnte - er wisse es nicht. Wenn aber beide - den Beklagten zu 1) und den Freund - offenbar eine langjährige Freundschaft/ Bekanntschaft verbindet, ist es absolut nicht nachvollziehbar, warum der Beklagte zu 1) keine Kenntnis von der Adresse oder mindestens der Lage der Wohnung hat. Zum anderen hat der Beklagte zu 1) auch die Zeit des Treffens nicht nachvollziehbar darstellen können. Im Rahmen seiner Anhörung hat er angegeben, dass dieser Freund ihn abends gegen 08:00 Uhr angerufen habe und sich von ihm verabschieden wolle. Ein weiteres Mal habe der Freund etwa eine Stunde später angerufen. Er sei dann etwa um 10:30 Uhr (abends) losgefahren und benötige für die Strecke etwa eine halbe Stunde. Einen Grund dafür, warum er bereits um gegen 23:00 Uhr in der Gegend der späteren Unfallstelle gewesen sein muss - seine Angaben unterstellt, sich der Unfall unstreitig jedoch gegen 01:00 Uhr ereignet hat, hat er nicht erklären können und lässt aus Sicht des Gerichts nur den Schluss zu, dass der beklagte zu 1) gerade nicht verabredet gewesen und ausschließlich zur Herbeiführung des Unfalls zu der oben genannten Örtlichkeit gefahren ist.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidungen über die Kosten und die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeben sich aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf bis 8.000,00 € festgesetzt.</p>
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346,580 | ovgsh-2022-08-18-3-lb-522 | {
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 LB 5/22 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-09-16T10:00:37 | 2022-10-17T11:10:12 | Beschluss | ECLI:DE:OVGSH:2022:0818.3LB5.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 15. Kammer, Einzelrichter - vom 23. Januar 2017 wird verworfen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Berufung ist nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 124a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 5, § 125 Abs. 2 VwGO durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht gemäß § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des sie zulassenden Beschlusses begründet worden ist und der Klägerin wegen der Versäumung dieser Frist nicht gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Senat hat die Berufung durch Beschluss vom 20. April 2022 zugelassen. Dieser Beschluss, an dessen Ende auf das Erfordernis der Berufungsbegründung sowie die Frist hingewiesen wird, ist der Klägerin ausweislich des abgegebenen elektronischen Empfangsbekenntnisses am 21. April 2022 zugestellt worden. Eine Berufungsbegründung ist bis zum Ablauf der Monatsfrist nicht eingegangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Auf die mit Schreiben des Berichterstatters vom 27. Mai 2022 erfolgte Anhörung der Beteiligten zur vom Senat beabsichtigten Verwerfung der Berufung hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 15. Juni 2022 zunächst Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das gerichtliche Schreiben mit dem Hinweis auf die Fristversäumnis sei ihrem Prozessbevollmächtigten wegen Urlaubs erst am 10. Juni 2022 zur Kenntnis gelangt. Mit Schriftsatz vom 11. Juli 2022, einem Montag, hat sie die Berufungsbegründung eingereicht und auch zum Wiedereinsetzungsantrag weiter vorgetragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Demnach habe die bei ihrem Prozessbevollmächtigten beschäftigte Rechtsanwaltsfachangestellte L. K., die in der Kanzlei mit dem Eintragen und der Kontrolle von Fristen und Wiedervorlagen betraut sei, die Fristen zweier verschiedener Rechtssachen verwechselt, da sie durch ein dringliches Telefonat abgelenkt gewesen sei, und irrtümlich für das vorliegende Verfahren eine Zweimonatsfrist statt der korrekten einmonatigen Frist eingetragen. Aus diesem Grund sei das Verfahren dem Prozessbevollmächtigten nicht rechtzeitig wieder vorgelegt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Damit hat die Klägerin zwar gemäß § 60 Abs. 2 VwGO innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses bezüglich der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft gemacht und die versäumte Rechtshandlung nachgeholt. Ihr kann jedoch keine Wiedereinsetzung im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO gewährt werden, weil sie nicht ohne Verschulden verhindert war, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Das Versäumnis beruht auf einem vorwerfbaren Verhalten ihres Prozessbevollmächtigten, welches ihr gemäß § 173 Satz 1 VwGO, § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Zwar wird ein Verschulden von Hilfspersonen des Prozessbevollmächtigten, insbesondere Büroangestellten, der Partei nicht gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet. Ein Fehlverhalten solcher unselbstständig handelnden Personen kann sich jedoch dann zum Nachteil für die Partei auswirken, wenn dem Prozessbevollmächtigten insoweit ein Organisationsverschulden zur Last fällt, das sich die vertretene Person wiederum als eigenes Verschulden ihres Bevollmächtigten zurechnen lassen muss (vgl. Beschl. d. Senats v. 21.03.2011 - 3 LB 5/11 -, n. v., BA S. 5; Czybulka/Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 47; Weth, in: Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 85 Rn. 14, jeweils m. w. N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Indem der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seine Büroangestellte aufgrund einer generellen Anweisung mit der selbstständigen Eintragung und Kontrolle (auch) der Berufungsbegründungsfrist betraut hat, liegt ein derartiges Organisationsverschulden vor. Zwar dürfen Rechtsanwälte einfache Arbeiten, die keine besondere intellektuelle Leistung oder juristische Schulung erfordern und routinemäßig erledigt werden können, auf Büropersonal übertragen. Die Bearbeitung prozessualer Fristen darf geschultem und bewährtem Büropersonal überlassen werden, wenn es sich um einfache, in dem Büro geläufige Fristen handelt (vgl. Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 60 VwGO Rn. 42 m. w. N.). Ihre Grenze findet diese Möglichkeit der Delegation aber bei Fristen, deren Berechnung Schwierigkeiten oder Besonderheiten aufweisen. Solche Fristen muss ein Rechtsanwalt selbst berechnen und überwachen (vgl. von Albedyll, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 60 Rn. 14 m. w. N.). Zu den derartigen Fristen zählen etwa die vom Zivilprozess abweichenden und in ihrer Berechnung daher fehleranfälligen Rechtsmittelbegründungsfristen in Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO und § 139 Abs. 3 Satz 1 VwGO, aber auch die Berufungsbegründungsfrist im Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht, deren Berechnung vergleichbare Besonderheiten aufweist (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 02.06.2008 - 2 LB 15/08 -, juris Rn. 8). Letztere Frist ist keine, deren Erfassung und Kontrolle ein Prozessbevollmächtigter seinem Büropersonal überlassen darf (vgl. ausdrücklich für die Berufungsbegründungsfrist nach § 124a Abs. 3 Satz 1 bzw. Abs. 6 Satz 1 VwGO auch: OVG Saarlouis, Beschl. v. 26.04.2004 - 1 R 29/03 -, juris Rn. 23; Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 60 VwGO Rn. 45; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 70).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Nach dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin obliegt seiner Büroangestellten offenbar generell die selbstständige Eintragung und Kontrolle von Fristen in gerichtlichen Verfahren. Dies darf nach den obigen Ausführungen jedoch nur bei Routinefristen der Fall sein, deren Bearbeitung keine tiefergehenden Rechtskenntnisse erfordert. Die Übertragung der selbstständigen Berechnung, Eintragung und Kontrolle sämtlicher Fristen an eine Rechtsanwaltsfachangestellte stellt ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin dar, da dieser seine Büroorganisation in einer Weise zu gestalten hat, nach der Fehler bei der Fristenberechnung, -eintragung und -kontrolle möglichst unterbleiben. Da bereits dies nicht geschehen ist, kommt es auf die Frage, ob die Büroangestellte des Prozessbevollmächtigten sonst immer beanstandungsfrei gearbeitet hat, ebenso wenig an wie auf den Umstand, dass es sich – dem Vorbringen zufolge – nicht um einen Fehler bei der Fristenberechnung, sondern um die Eintragung einer unzutreffenden Frist aufgrund einer Verwechselung zweier Verfahren gehandelt haben soll. Das Organisationsverschulden ihres Prozessbevollmächtigten ist der Klägerin über § 85 Abs. 2 ZPO als eigenes Verschulden zuzurechnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 1. Halbsatz VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,574 | fg-munster-2022-08-18-8-k-318621-e | {
"id": 792,
"name": "Finanzgericht Münster",
"slug": "fg-munster",
"city": 471,
"state": 12,
"jurisdiction": "Finanzgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 8 K 3186/21 E | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-09-15T10:01:21 | 2022-10-17T11:10:11 | Urteil | ECLI:DE:FGMS:2022:0818.8K3186.21E.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Einkommensteuerbescheid 2020 vom 02.09.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.11.2021 wird dahin geändert, dass die Einkommensteuer auf 34.363 EUR festgesetzt wird.</p>
<p>Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<h1>Tatbestand</h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten darüber, ob das häusliche Arbeitszimmer des Klägers den Mittelpunkt seiner gesamten beruflichen Tätigkeit bildet.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger war im Streitjahr ledig und erzielte Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit aus seiner Arbeit als psychologischer Gutachter. Er wurde vor allem in Überprüfungsverfahren der Strafvollstreckungskammern beauftragt, teils auch von Einrichtungen des Maßregelvollzugs. Die Gutachten verfasste er im häuslichen Arbeitszimmer; ein anderer Arbeitsplatz stand ihm dazu nicht zur Verfügung.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Gewinnermittlung für das Streitjahr 2020 erklärte er Betriebsausgaben für ein häusliches Arbeitszimmer in Höhe von 2.384,64 EUR. Der Beklagte erließ am 21.07.2021 einen erklärungsgemäßen Einkommensteuerbescheid 2020, der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand. In den Erläuterungen wurden Informationen und Unterlagen im Zusammenhang mit dem Arbeitszimmer angefordert.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Kläger reichte diese Unterlagen ein und erläuterte seine Tätigkeit. Er gab an, das Ausarbeiten und Schreiben der Gutachten sowie die umfangreiche Aktenauswertung fänden in seinem Arbeitszimmer statt. Diese Tätigkeiten stellten den Mittelpunkt seiner beruflichen Tätigkeit dar. Außerhalb des Arbeitszimmers fänden zwar Explorationen und Untersuchungen sowie Gerichtstermine statt, dies aber zeitlich in einem untergeordneten Rahmen, für Juli 2021 zum Beispiel drei Wochenstunden extern zu 40 Stunden am Schreibtisch. Er schätze, das Verhältnis liege insgesamt zwischen 1 zu 3 und 1 zu 5.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 02.09.2021 änderte der Beklagte den Einkommensteuerbescheid 2020 und setzte die Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer auf 1.250 EUR herab. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufgehoben. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass fraglich sei, ob das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten Tätigkeit als psychologischer Gutachter bilde. Entscheidend sei der qualitative Schwerpunkt der Tätigkeit. Da die Tätigkeit des Klägers ohne die Explorationen, Untersuchungen und Gerichtstermine nicht möglich sei, sei das häusliche Arbeitszimmer nicht der Mittelpunkt der Tätigkeit.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legte dagegen Einspruch ein und führte aus: Neben der deutlich überwiegenden zeitlichen Komponente liege auch der Mittelpunkt der Tätigkeit dort. Die Befunderhebung und die Gespräche mit dem zu beurteilenden Patienten seien zwar Teil der Arbeit. Das geschuldete Arbeitsergebnis sei aber das Gutachten. Der wesentliche Teil der Arbeit sei die Auswertung der vorliegenden Informationen aus früheren Gutachten und Befunderhebungen. Die Exploration solle nur den aktuellen Zustand des Patienten erfassen, der aber in einen zeitlichen Kontext zur bisherigen Entwicklung zu setzen sei. Er sei kein Psychotherapeut. Er arbeite sich erst umfangreich in vorangegangene Gutachten ein, führe dann das Probandengespräch und werte dann alles in Form eines neuen Gutachtens aus. Die Erstellung des Gutachtens sei kein „Herunterschreiben“, sondern die eigentliche Tätigkeit.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Auf die Einspruchsbegründung und den weiteren Schriftverkehr zwischen den Beteiligten wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Einspruchsentscheidung vom 29.11.2021 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Der maßgebliche inhaltliche, qualitative Schwerpunkt der Tätigkeit des Klägers liege (auch) in der Exploration der Probanden. Für die Einschätzung der aktuellen und zukünftigen Situation des Probanden sei diese Tätigkeit unerlässlich. Es handele sich dabei nicht nur um eine vorbereitende Begleittätigkeit, die dazu führen würde, dass der Mittelpunkt der Tätigkeit im Arbeitszimmer läge. Anders als im Sachverhalt, der der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21.02.2003 (VI R 84/02) zugrunde gelegen habe, könne die Exploration nicht anderen Personen übertragen werden. Vielmehr komme der Gesprächsführung eine entscheidende Rolle zu. Die Tätigkeit des Klägers sei mit der Tätigkeit eines medizinischen Gutachters vergleichbar (Verweis auf BFH, Urteil vom 23.01.2003, IV R 71/00).</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter und wiederholt und vertieft seine Ausführungen aus dem Verwaltungsverfahren.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den Einkommensteuerbescheid 2020 vom 02.09.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.11.2021 dahin zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 34.363 EUR festgesetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Er verweist auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Sache ist am 23.06.2022 vor dem Berichterstatter erörtert und am 18.08.2022 vor dem Senat mündlich verhandelt worden. Auf die Sitzungsniederschriften, insbesondere auf die protokollierte Anhörung des Klägers im Erörterungstermin, wird Bezug genommen.</p>
<h1>Entscheidungsgründe</h1>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Aufwendungen des Klägers für sein häusliches Arbeitszimmer sind in der von ihm erklärten Höhe zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 Einkommensteuergesetz dürfen Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie die Kosten der Ausstattung den Gewinn nicht mindern. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt dies nicht, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Nach Satz 3 ist die Höhe der abziehbaren Aufwendungen im Fall des Satz 2 auf 1.250 EUR begrenzt, wenn nicht das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bildet. Im Streitfall verfügt der Kläger – was zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist – über keinen anderen Arbeitsplatz. Die allein streitige Frage, ob das häusliche Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten beruflichen Tätigkeit bildet, ist im Sinne des Klägers zu beantworten.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, ist das häusliche Arbeitszimmer eines Steuerpflichtigen, der lediglich eine einzige berufliche Tätigkeit --teilweise zu Hause und teilweise auswärts -- ausübt, Mittelpunkt seiner gesamten Betätigung, wenn er dort diejenigen Handlungen vornimmt und Leistungen erbringt, die für den konkret ausgeübten Beruf wesentlich und prägend sind. Der Mittelpunkt bestimmt sich also nach dem inhaltlichen (qualitativen) Schwerpunkt der betrieblichen und beruflichen Betätigung eines Steuerpflichtigen. Wo dieser Schwerpunkt liegt, ist im Wege einer Wertung der Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen festzustellen. Im Rahmen dieser Wertung kommt dem zeitlichen (quantitativen) Umfang der Nutzung des häuslichen Arbeitszimmers lediglich eine indizielle Bedeutung zu. Die Entscheidung, ob die in einem Arbeitszimmer verrichteten Tätigkeiten den Beruf insgesamt prägen oder ob ihnen lediglich eine unterstützende Funktion zukommt, beruht allein auf Tatsachenfeststellungen und deren Würdigung, die ausschließlich den Finanzgerichten obliegt (BFH, Urteil vom 23.01.2003, IV R 71/00, BStBl II 2004, 43). Wenn sowohl die zu Hause als auch die auswärts ausgeübten Tätigkeiten für das Berufsbild wesentlich und prägend sind, bildet das Arbeitszimmer nicht den Mittelpunkt (BFH, Urteil vom 28.08.2003, IV R 34/02, BStBl II 2004, 53).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe bildet das Arbeitszimmer des Klägers den Mittelpunkt seiner gesamten beruflichen Tätigkeit. Kern der Gutachtertätigkeit ist es, unter Ermittlung der erforderlichen Tatsachengrundlagen eine Prognoseentscheidung zu treffen und nachvollziehbar zu begründen. Alleiniger wesentlicher Schwerpunkt der Tätigkeit sind die im Arbeitszimmer ausgeübten Tätigkeiten der Auswertung der Akten und der Exploration durch die darauf aufbauenden, für das Treffen und die Begründung der Prognoseentscheidung erforderlichen Recherche-, Rechen-, Bewertungs- und Schreibarbeiten.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Dabei ist zunächst – was insoweit auch zwischen den Beteiligten unstreitig sein dürfte – davon auszugehen, dass das Treffen und Begründen der Prognoseentscheidung jedenfalls <em>einen</em> wesentlichen und die Tätigkeit prägenden Teil-Akt der Gesamttätigkeit bildet.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Diese Tätigkeit besteht aus dem Abfassen des Gutachtens und den zugrundeliegenden Berechnungen und Vorhersagen, wozu die vorhandenen und erhobenen Daten herangezogen werden. Das Aktenstudium und die Gerichtstermine dienen – was inzwischen (anders hingegen noch in der Begründung des Änderungsbescheids) ebenfalls unstreitig sein dürfte – nur der Vor- und Nachbereitung dieser Tätigkeit.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Nach Auffassung des Senats stellt die Exploration keinen weiteren wesentlichen und prägenden Teil der Tätigkeit dar. Diese Würdigung stützt sich auf die folgenden Umstände:</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">- Gegenstand und Ziel der Gutachteraufträge sind das Treffen und Begründen einer Prognoseentscheidung. Die Exploration ist zwar – was auch der Kläger nicht bestreitet – ein wichtiger Baustein für die Prognoseentscheidung. Bereits die Möglichkeit, ein Gutachten auch ohne Exploration zu verfassen – die wegen der Freiwilligkeit der Teilnahme des Probanden an der Exploration stets besteht (zur Möglichkeit der Verweigerung der Exploration BGH, Urteil vom 12.02.1998, 1 StR 588/97, BGHSt 44, 26; vgl. BGH, Beschluss vom 25.05.2011, 2 StR 585/10, juris) –, ist jedoch ein starkes Indiz dafür, dass sie der eigentlichen Tätigkeit, dem Treffen und Begründen der Prognoseentscheidung, nicht gleichwertig ist. Denn die Auftraggeber der Gutachter knüpfen die Beauftragung damit offensichtlich nicht an die Bedingung, dass eine Exploration durchgeführt wird.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">- Der Kläger hat zudem nachvollziehbar dargelegt, dass die Exploration weitgehend standardisiert ist und überdies zu einem guten Teil bereits bekannte Fakten nachzeichnet. Auch diese Tatsache spricht dagegen, der Exploration einen gleichwertigen Status neben dem Treffen und Begründen der Prognoseentscheidung einzuräumen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">- Die Exploration wird überdies nur in einem von zwei bzw. drei im Gutachten herangezogenen Analyseinstrumenten verwendet, nämlich im Rahmen der idiographischen Analyse. Die anderen Analyseinstrumente (Ermittlung der Basisraten der Rückfallquote und Berechnung genauerer Wahrscheinlichkeiten anhand abstrakter Parameter des Einzelfalls) sind unabhängig von der Exploration.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">- Nach Auffassung des Senats kommt es nicht darauf an, ob die Exploration höchstpersönlich durchzuführen ist. Zwar ist dies bei psychiatrischen Gerichtsgutachten zur Feststellung der Schuldfähigkeit der Fall (vgl. Bundesgerichtshof – BGH –, Beschluss vom 25.05.2011, 2 StR 585/10, juris; vgl. § 407a Abs. 3 Zivilprozessordnung). Selbst wenn diese Rechtsprechung – wofür allerdings einiges spricht – auch bei forensischen Gutachten Anwendung finden sollte, ändert dies aber nichts an der dargelegten Einstufung der Exploration als Vorbereitungshandlung. Zum einen ist nicht jede Tätigkeit, die höchstpersönlich erledigt werden muss, prägender Teil der Gesamttätigkeit. Dies wird deutlich an der Anhörung eines Gutachters in einem Gerichtstermin: Obwohl auch dies eine höchstpersönliche Pflicht ist, handelt es sich um eine bloße Nachbereitung, weil die wesentliche und prägende Arbeit bereits bis zum Abschluss des schriftlichen Gutachtens geleistet wurde. Zum anderen ändert die Pflicht zur höchstpersönlichen Durchführung der Exploration nichts an der Tatsache, dass der typische Gutachtenauftrag des Klägers nicht von der Möglichkeit der Exploration abhängt (vgl. wiederum BGH, Urteil vom 12.02.1998, 1 StR 588/97, BGHSt 44, 26).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">- Der zeitliche Umfang stellt jedenfalls kein Indiz dafür dar, dass die Explorationen einen Schwerpunkt der gesamten beruflichen Tätigkeit des Klägers bilden. Zwar schwanken die diesbezüglichen Schätzungen des Klägers (Angabe von 20 bis 33 % im Einspruch und Angabe von unter 10 % im Erörterungstermin). Jedenfalls nimmt die Exploration aber keinen überwiegenden zeitlichen Anteil ein, sodass sich aus der quantitativen Komponente kein Indiz gegen das häusliche Arbeitszimmer als Tätigkeitsmittelpunkt ableiten lässt.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Insgesamt gelangt der Senat daher zu der Einschätzung, dass die Exploration – ähnlich zur Tätigkeit der Beschaffung und Lektüre der Akten – auf einer Vorbereitungsebene stattfindet und die eigentliche, die Gesamttätigkeit als einziger Schwerpunkt prägende Tätigkeit die Auswertung der im Vorbereitungsstadium ermittelten Tatsachen ist.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.</p>
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<div>
<p>I. Es wird festgestellt, dass der Bescheid des Landratsamts Schwandorf vom 9.6.2020 (Az.: …*) rechtswidrig gewesen ist.</p>
<p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. </p>
<p>II.Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 1/4 und der Beklagte 3/4. </p>
<p>III.Der Gerichtsbescheid ist in Ziffer II. vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. </p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Feststellung, dass der Bescheid des Landratsamts Schwandorf vom 9.6.2020, mit dem die Erteilung einer Befreiung von der Absonderungspflicht nach der damals geltenden Verordnung über Quarantänemaßnahmen für Einreisende zur Bekämpfung des Coronavirus (Einreise-Quarantäneverordnung in der Gültigkeit vom 16.5.2020 bis 15.6.2020 - EQV) rechtswidrig war.</p>
<p><rd nr="2"/>Der in … wohnhafte Kläger hielt sich aufgrund einer Delegation seines Arbeitgebers seit 29.04.2017 in P* …, Malaysia auf. Da der Kläger eine Rückkehr an seinen Wohnsitz in … plante, beantrage er mit E-Mail vom 27.5.2020 noch in P* … bei dem Gesundheitsamt … die Befreiung von der Absonderungspflicht nach § 1 Abs. 1 EQV. Der Kläger beruft sich darin auf ein stabiles Infektionsgeschehen in P* … Es habe dort seit dem 26.4.2020 keine neu gemeldeten Infektionen mehr gegeben und seit dem 4.5.2020 sei kein einziger positiver Fall mehr in P* … gemeldet worden. Der Kläger habe sich seit dem Lockdown ab 18.3.2020 ausschließlich in P* … aufgehalten.</p>
<p><rd nr="3"/>Mit E-Mail vom 2.6.2020 wurde der Kläger auf die Absicht des Landratsamtes, den Antrag ablehnen zu wollen, hingewiesen. Ihm wurde eine Frist zur Stellungnahme bis zum 4.6.2020 gesetzt.</p>
<p><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 9.6.2020, nach Angaben des Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 15.6.2020, lehnte das Landratsamt Schwandorf den Antrag des Klägers auf Befreiung von der Quarantäneverpflichtung ab. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.</p>
<p><rd nr="5"/>Mit Schriftsatz vom 7.7.2020, bei Gericht eingegangen am 9.7.2020, ließ der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg erheben. Zur Begründung wird - wie bereits im Antrag - auf das zum Zeitpunkt der Antragstellung vorherrschende Infektionsgeschehen in P* … hingewiesen. Außerdem seien nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen wesentliche Teile der dortigen Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus in Bezug auf Ein- und Rückreisende nach einer Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren voraussichtlich rechtswidrig. Gemäß dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen sei der Verordnungsgeber gehalten, dem tatsächlichen Infektionsgeschehen Rechnung zu tragen und eine differenzierte Regelung zu erlassen.</p>
<p><rd nr="6"/>Der Umstand, dass es in P* … keine neu gemeldeten Infektionen mehr gegeben habe und kein einziger positiver Fall verzeichnet worden sei, stelle einen triftigen persönlichen Grund für die Erteilung einer Befreiung von der Absonderungspflicht dar. Ein begründeter Einzelfall im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 EQV liege vor, eine Absonderung sei nicht mehr notwendig gewesen. Ein negativer „Coronatest“ oder eine ärztliche Untersuchung auf Covid-19 seien ausreichend, um eine Nicht-Infektion nachzuweisen und somit die Anordnung einer Absonderung zu vermeiden.</p>
<p><rd nr="7"/>Weiterhin ergebe sich das besondere Fortsetzungsfeststellungsinteresse daraus, dass der Kläger beabsichtige Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Auch habe die angeordnete Einreise-Quarantäne diskriminierende Wirkung und sei mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff verbunden. Auch daraus ergebe sich ein Feststellungsinteresse. Eine gerichtliche Kontrolle müsse nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 19 Abs. 4 GG trotz fehlender aktueller Beschwer möglich sein. Zudem bestehe eine Wiederholungsgefahr, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Kläger in absehbarer Zeit aufgrund des arbeitsrechtlichen Weisungsverhältnisses in ein Gebiet geschickt werde, das während des Aufenthaltes als Risikogebiet qualifiziert werde.</p>
<p><rd nr="8"/>Der Kläger beantragt sinngemäß,</p>
<p>festzustellen, dass der Ausgangsbescheid des Beklagten vom 9.6.2020 rechtswidrig gewesen ist und der Beklagte dem Kläger eine Ausnahmegenehmigung nach § 2 Abs. 1 Satz 2 EQV in der im Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung geltenden Fassung hätte erteilen müssen.</p>
<p><rd nr="9"/>Der Beklagte beantragt,</p>
<p>die Klage abzuweisen.</p>
<p><rd nr="10"/>Die Klage sei bereits unzulässig. Ein irgendwie geartetes Feststellungsinteresse liege nicht vor. Ein Rehabilitationsinteresse, eine Diskriminierung und eine Wiederholungsgefahr seien nicht ersichtlich. Im Hinblick auf eine Absicht des Klägers, Schadensersatzansprüche geltend zu machen, werde ein berechtigtes Feststellungsinteresse nur dann anerkannt, wenn die Erledigung des Verwaltungsaktes erst nach Klageerhebung eingetreten sei. Nur dann rechtfertige der von einem Kläger in Bezug auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bereits entfaltete Aufwand die Fortführung der Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage, obwohl die Rechtmäßigkeit der Maßnahme auch von den ordentlichen Gerichten im Rahmen eines vor ihnen geltend gemachten Schadensersatzanspruches überprüft werden könne.</p>
<p><rd nr="11"/>Weiterhin sei die Entscheidung des Oberveraltungsgerichts Nordrhein-Westfalen nicht auf das gegenständliche Verfahren anzuwenden. Bei der EQV handle es sich um eine bayerische Verordnung, die zudem einen anderen Wortlaut als die nordrhein-westfälische Regelung aufweise.</p>
<p><rd nr="12"/>Neben einer Symptomfreiheit seien für eine Befreiung von der Absonderungspflicht zudem triftige berufliche oder persönliche Gründe erforderlich. Dies zeige ein Blick auf die gesetzlichen Ausnahmen nach § 2 Abs. 1 EQV. Allein der Umstand, dass kein einziger aktiver Fall im betroffenen Gebiet gemeldet worden sei, stelle noch keinen Grund für eine Ausnahme dar. Die Risikobewertung des Robert Koch-Institutes stehe fest. Dem Kläger sei es nicht gelungen einen schlüssigen Grund vorzubringen, der eine Erteilung der beantragten Befreiung rechtfertigen könne.</p>
<p><rd nr="13"/>Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, den Inhalt des Gerichtsakts und des vorgelegten Behördenakts Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="14"/>Gemäß § 84 Abs. 1 VwGO konnte das Gericht nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.</p>
<p><rd nr="15"/>Die zulässige Klage ist begründet, soweit der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids begehrt. Soweit er dagegen die Feststellung begehrt, dass der Beklagte zum Zeitpunkt der Ablehnung des Befreiungsantrags verpflichtet war, dem Kläger die beantragte Befreiung zu erteilen, ist sie unbegründet.</p>
<p><rd nr="16"/>1. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage in (doppelt) analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig.</p>
<p><rd nr="17"/>Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO in analoger Anwendung sowohl im Hinblick auf die ursprüngliche Statthaftigkeit einer Verpflichtungsklage in Form einer Versagungsgegenklage als auch im Hinblick auf die Erledigung des Klagebegehrens vor Klageerhebung die statthafte Klageart. Im Hinblick auf den Streitgegenstand der als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführten Verpflichtungsklage stellt das Gericht im Fall der Spruchreife im Zeitpunkt der Erledigung (Fall des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO) fest, ob der versagende Bescheid rechtswidrig war und dem Kläger der begehrte Anspruch zum genannten Zeitpunkt zustand. Ist die mit dem Verpflichtungsantrag verfolgte Sache nicht spruchreif (Fall des § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO) kann im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage die Feststellung begehrt werden, dass der versagende Bescheid rechtswidrig und die Behörde im Zeitpunkt der Erledigung zur (Neu-)Bescheidung verpflichtet war (ausführlich zur doppelt analogen Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bei Verpflichtungsklagen, wenn die Erledigung vor Klagerhebung eingetreten ist: BVerwG, U.v. 25.7.1985 - 3 C 25.84 - juris Rn. 38 f.; SchochKoVwGO/Riese, 41. EL Juli 2021, VwGO § 113 Rn. 98 f m.w.N. aus Rspr. und Lit.).</p>
<p><rd nr="18"/>Zulässig ist eine Fortsetzungsfeststellungsklage im Hinblick auf die Ablehnung des Erlasses eines Verwaltungsakts - hier einer Befreiung nach § 2 Abs. 1 Satz 2 EQV -, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an dieser Feststellung hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein und sich insbesondere aus den Gesichtspunkten der konkreten Wiederholungsgefahr, der Rehabilitierung, der schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung sowie der Präjudizwirkung für einen beabsichtigten Schadensersatzanspruch ergeben. Die gerichtliche Feststellung muss geeignet sein, die betroffene Position des Klägers zu verbessern (BVerwG, U.v. 17.11.2016 - 2 C 27.15 - juris Rn. 13 m.w.N.).</p>
<p><rd nr="19"/>Hier ist das Feststellungsinteresse nach Auffassung der entscheidenden Kammer jedenfalls aus dem Aspekt der schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung, die durch die Versagung der beantragten Befreiung bewirkt wird, gegeben. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt in einem aktuellen Urteil vom 26.7.2022 (20 B 22.29, 20 B 22.30 - BeckRS 2022, 19876 Rn. 42) für den Fall einer sich erledigenden Absonderungsanordnung Folgendes aus:</p>
<p>„Bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt (BVerwG, U. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -- BVerwGE 170, 319). Um einen gewichtigen, sich typischerweise kurzfristig erledigenden Grundrechtseingriff handelt es sich bei den Absonderungsanordnungen. Denn die grundsätzlich erforderliche Befristung einer Quarantäne beschränkt sich regelmäßig auf die Dauer des Krankheits- bzw. Ansteckungsverdachts und damit auf einen so kurzen Zeitraum, dass wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in der Hauptsache - den Art. 19 Abs. 4 GG aber grundsätzlich gebietet (vgl. nur BVerfG, B.v. 22.11.2016 - 1 BvL 6/14 u.a. - juris Rn. 25 ff.; vgl. auch Sachs in Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 146a) - nicht mehr zu erlangen ist. Bei der Quarantäneanordnung handelt es sich um einen erheblichen Eingriff in die Freiheitsgrundrechte der Kläger aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. VG Koblenz, U.v. 10.1.2022 - 3 K 385/21.KO - BeckRS 2022, 2814). Absonderungsanordnungen stellen wie Ausgangssperren jedenfalls Freiheitsbeschränkungen dar (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 19.11.2021 - 1 BvR 781/21 - juris Rn. 240 f., a.A. wohl BayVerfGH, E.v. 23.11.2020 - Vf. 59-VII-20 - juris Rn. 42 f.). Der auf die Betroffenen wirkende psychische Zwang ist bei der Absonderungsanordnung aufgrund der Bußgeldandrohung des § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG mit einer Geldbuße bis zu 25.000 Euro (§ 73 Abs. 2 IfSG), der drohenden Zwangsunterbringung nach § 30 Abs. 2 IfSG bei Verstößen gegen die Absonderung und der weitgehend fehlenden sachlichen und/oder zeitlichen Durchbrechung des grundsätzlichen Ausgangsverbots als hoch zu bewerten, denn Kontaktpersonen der Kategorie I, Verdachtspersonen und positiv getestete Personen durften während der gesamten, i.d.R. bis zu vierzehn Tage umfassenden Zeit der Isolation die Wohnung nicht ohne ausdrückliche Zustimmung des Gesundheitsamtes verlassen. Lediglich der zeitweise Aufenthalt in einem zur Wohnung gehörenden Garten, einer Terrasse oder eines Balkons war ohne eine vorherige Zustimmung des Gesundheitsamtes allein gestattet (vgl. Nrn. 2.1 bis 2.5 der Allgemeinverfügung). Ob diese Einschränkungen sogar für die Annahme einer Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG genügen und damit dem Richtervorbehalt unterliegen (so Nr. 7.3.2.7 des Berichts des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IfSG), kann dahinstehen, da bereits eine Freiheitsbeschränkung einen schweren Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darstellt. Deshalb kommt es auch nicht mehr darauf an, ob die Eingriffe in die Grundrechte der Kläger aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 19.11.2021 - 1 BvR 781/21 - a.a.O.) als schwerwiegend zu beurteilen sind.“</p>
<p><rd nr="20"/>Diese Überlegungen können auf den vorliegenden Fall vollumfänglich übertragen werden. Es handelt sich um die gleiche Fallkonstellation mit umgekehrtem Vorzeichen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EQV waren Personen, die aus einem Staat außerhalb der in Abs. 4 genannten Staatengruppe in den Freistaat Bayern einreisten, verpflichtet, sich unverzüglich nach der Einreise auf direktem Weg in die eigene Wohnung oder eine andere geeignete Unterkunft zu begeben und sich für einen Zeitraum von 14 Tagen nach ihrer Einreise ständig dort abzusondern. Ausgenommen waren Einreisende aus solchen Staaten, für die das Robert Koch-Institut (RKI) aufgrund der dortigen epidemiologischen Lage die Entbehrlichkeit von Schutzmaßnahmen in Bezug auf Ein- und Rückreisende ausdrücklich festgestellt hatte (§ 1a Abs. 1 EQV). Insoweit ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass Malaysia zum fraglichen Zeitpunkt zu den quarantänepflichtigen Staaten gehörte. Der Kläger war daher grundsätzlich den gleichen Einschränkungen unterworfen, wie eine Person, die durch Absonderungsanordnung einer Quarantäne unterworfen wurde. Ein Verstoß gegen die Quarantäneverpflichtung nach § 1 Abs. 1 EQV war nach § 3 Nr. 1 EQV i.V.m. § 73 Abs. 1a Nr. 24, Abs. 2 Hs. 2 IfSG ebenso wie ein Verstoß gegen eine Absonderungsanordnung mit einer Geldbuße bis zu 25.000 EUR bedroht. Die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof dargestellten Grundrechtseingriffe wurden jedoch dann nicht ausgelöst, wenn der Betroffene Einreisende gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 EQV eine Befreiung von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erhielt. Danach konnte die zuständige Kreisverwaltungsbehörde in begründeten Einzelfällen auf Antrag eine Befreiung von der Quarantäneverpflichtung erteilen. Eine rechtswidrige Versagung einer Befreiung von der Quarantäneverpflichtung der EQV hatte somit die gleichen schwerwiegenden Grundrechtseingriffe zur Folge, wie eine rechtswidrige Absonderungsanordnung.</p>
<p><rd nr="21"/>Allerdings gebietet die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG selbst bei tiefgreifenden Eingriffen in Rechte des Betroffenen nicht, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzunehmen, wenn dies nicht erforderlich ist, um die Effektivität des Rechtsschutzes zu sichern. Effektiver Rechtsschutz verlangt, dass der Betroffene ihn belastende Eingriffsmaßnahmen in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen lassen kann. Solange er durch den Verwaltungsakt beschwert ist, stehen ihm die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zur Verfügung. Erledigt sich der Verwaltungsakt durch Wegfall der Beschwer, ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nur zu bejahen, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende, Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt (BVerwG, U.v. 16.5.2013 - 8 C 14.12 - juris Rn. 32). Bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen hat das Bundesverfassungsgericht ein durch Art. 19 Abs. 4 GG geschütztes Rechtsschutzinteresse in Fällen angenommen, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Bei freiheitsentziehenden Haftanordnungen - etwa zur Vorbereitung der Ausweisung - nimmt die Rechtsprechung etwa ein Rechtsschutzinteresse in Fällen an, in denen die Haftdauer auf sechs Wochen begrenzt ist, da das Recht der Freiheit der Person unter den grundrechtlich verbrieften Rechten einen besonders hohen Rang einnimmt (vgl. BVerfG, B.v. 5.12.2001 - 2 BvR 527/99, 2 BvR 1337/00, 2 BvR 1777/00 - juris Rn. 36 f. m.w.N.).</p>
<p><rd nr="22"/>Nach Auffassung der streitentscheidenden Kammer entfällt das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht deshalb, weil es der Kläger unterlassen hat, vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 VwGO zu beantragen. Zwar hätte der Kläger im Rahmen eines Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich die Möglichkeit gehabt, einen möglichen Anspruch auf Erteilung einer Befreiung (vorläufig) durchzusetzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Unterlassung der Beantragung vorläufigen Rechtsschutzes das Rechtsschutzbedürfnis entfallen lässt. Nur wenn ein Antrag nach § 123 VwGO erfolgreich durchgeführt worden wäre, würde dies wohl dazu führen, dass ein Feststellungsinteresse zu verneinen wäre (vgl. dazu: BVerfG, B.v. 3.3.2004 - 1 BvR 461/103 - juris Rn. 39). In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass das verwaltungsgerichtliche Eilrechtschutzverfahren nach § 123 VwGO ein Beschlussverfahren ist, für das besondere Verfahrensregeln gelten. Dies gilt sowohl in formeller als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährt nach Maßgabe der Sachentscheidungsvoraussetzungen daher einen Anspruch auf Rechtsschutz in der Hauptsache und nicht nur auf Rechtsschutz in einem Eilverfahren (ausführlich dazu: BVerfG, B.v. 3.3.2004 - 1 BvR 461/03 - juris Rn. 29; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 113 Rn. 145). Darüber hinaus ist im vorliegenden Fall zu bedenken, dass es sich bei der beantragten Befreiung um eine Ermessensentscheidung handelte. Ein Eilrechtschutzverfahren nach § 123 VwGO hätte daher ohnehin nur dann gesichert erfolgreich sein können, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen hätte. Hätte das Gericht dagegen nur einen Ermessensfehlgebrauch festgestellt, so ist zwar anerkannt, dass auch der Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung im Rahmen eines Antrags nach § 123 VwGO vorläufig gesichert bzw. geregelt werden kann. Im Einzelnen ist dazu aber vieles umstritten (vgl. nur: SchochKoVwGO/Schoch, 41. EL Juli 2021, VwGO § 123 Rn. 161 ff.; Happ in: Eyermann, VwGO,15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 50; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 123 Rn. 28), weshalb in diesem Fall ein effektiver Rechtsschutz im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hätte erlangt werden können.</p>
<p><rd nr="23"/>Nach alledem ist das besondere Feststellungsinteresse des Klägers für die beantragte Feststellung zu bejahen.</p>
<p><rd nr="24"/>2. Die Klage ist zum Teil begründet. Der Kläger hatte einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Befreiung nach § 2 Abs. 1 Satz 2 EQV, der seitens des Landratsamts nicht erfüllt worden ist (2. a)). Einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Befreiung hatte er dagegen nicht (2 b)).</p>
<p><rd nr="25"/>a) Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 EQV konnte die zuständige Kreisverwaltungsbehörde in begründeten Einzelfällen auf Antrag eine Befreiung erteilen.</p>
<p><rd nr="26"/>Die Erteilung einer Befreiung setzte aus Sicht der entscheidenden Kammer zunächst voraus, dass ein besonders gelagerter Fall vorlag, der ein Abweichen von der allgemeinen Regelung rechtfertigen konnte. Dies folgt aus der Formulierung „in begründeten Einzelfällen“. Es musste sich mithin um einen atypischen Einzelfall handeln, den der Verordnungsgeber beim Erlass der allgemein gültigen Regelung nicht im Blick hatte. Erst unter diesen Voraussetzungen war für die zuständige Behörde ein Ermessensspielraum zur Erteilung einer Befreiung eröffnet. Ferner entspricht es aber dem Wesen eines Ausnahmefalls, dass eine Konstellation vorliegt, die sich vom abstrakt-generellen Regelungszweck der Norm, von der eine Ausnahme begehrt wird, abgrenzt, da sonst nicht zu erkennen wäre, worin eine Ausnahme liegen sollte. Die Erteilung einer Befreiung ist letztlich für besondere Fallgestaltungen vorgesehen, die von einer Regelung erfasst sind, obwohl diese vom Normgeber bei Betrachtung der maßgeblichen Umstände wohl davon ausgenommen worden wären (vgl. zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Öffnen von Ladengeschäften vom Öffnungsverbot des § 12 Abs. 1 Satz 1 der 12. BayIfSMV: VG Regensburg, B.v. 9.3.2021 - RO 5 E 21.353 - juris Rn. 35 ff.).</p>
<p><rd nr="27"/>Durch die Möglichkeit der Erteilung einer Befreiung wurde im Übrigen der vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen geforderten Berücksichtigung des tatsächlichen Infektionsgeschehens (vgl. dazu: OVG NRW B.v. 5.6.2020 - 13 B 776/20 - juris Rn. 52 ff.) Rechnung getragen, das im Rahmen der Erteilung einer derartigen Ausnahmegenehmigung berücksichtigt werden konnte.</p>
<p><rd nr="28"/>Diese Voraussetzungen lagen hier vor; denn der Antragsteller hat in seinem Befreiungsantrag nachvollziehbar ausgeführt, dass er sich zwar längere Zeit in Malaysia - einem Land, das nach der epidemiologischen Einschätzung des RKI zum fraglichen Zeitpunkt Schutzmaßnahmen in Bezug auf Ein- und Rückreisende erforderte - aufhielt. Er führte aber auch aus, dass er sich ausschließlich in P* … aufhielt, wo seit dem 26.4.2020 keine neu gemeldeten Infektionen mit SARS-CoV-2 auftraten und seit dem 4.5.2020 kein einziger Fall mehr gemeldet wurde. Nach seinem Vortrag war es somit sehr unwahrscheinlich, dass er das Coronavirus nach Deutschland einschleppen konnte. Aufgrund der Insellage von P* … konnte nach Auffassung der Kammer deshalb ein atypischer Einzelfall angenommen werden, der es gegebenenfalls hätte rechtfertigen können, eine Befreiung zu erteilen. Im ablehnenden Bescheid vom 9.6.2020 ist das Landratsamt hierauf jedoch nicht eingegangen. Das Landratsamt hat vielmehr nur ausgeführt, dass eine Symptomfreiheit des Klägers noch nicht die Zulassung einer Befreiung rechtfertigen könne. Auch das RKI habe keine Entbehrlichkeit von Schutzmaßnahmen in Bezug auf die Einreise aus Malaysia festgestellt. Auf den konkreten Einzelfall ist das Landratsamt nicht eingegangen. Die vom Kläger in seinem Befreiungsantrag angeführten Besonderheiten seines Einzelfalles hat die Behörde überhaupt nicht in ihre Entscheidung einbezogen. Auch wenn das Landratsamt erkannt hat, dass es eine Ermessensentscheidung im Sinne des Art. 40 BayVwVfG zu treffen hatte, hat es somit maßgebliche Gesichtspunkte bei der Ausübung des Ermessens nicht berücksichtigt. Dementsprechend lag ein Ermessensdefizit vor (vgl. dazu: SchochKoVwGO/Geis, 1. EL August 2021, VwVfG § 40 Rn. 107; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22. Aufl. 2021, § 40 Rn. 89), weshalb die ablehnende Entscheidung rechtswidrig war.</p>
<p><rd nr="29"/>Zwar ist der Beklagte im Rahmen seiner Klageerwiderung vom 20.7.2020 auch auf die vom Kläger vorgetragenen Gründe, insbesondere auf den Umstand, dass zum fraglichen Zeitpunkt in P* … keine einzige Infektion gemeldet worden war, eingegangen. Insoweit konnten jedoch im gerichtlichen Verfahren keine Ermessenserwägungen mehr nachgeschoben werden. Zwar kann die Verwaltungsbehörde nach § 114 Satz 2 VwGO ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Allerdings gilt dies nicht uneingeschränkt bei der Fortsetzungsfeststellungsklage. Da bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes auf den Zeitpunkt seiner Erledigung abzustellen ist und Änderungen der Sach- und Rechtslage nach Eintritt des erledigenden Ereignisses außer Betracht bleiben, darf das Gericht nur diejenigen Ermessenserwägungen berücksichtigen, die die Behörde während des gerichtlichen Verfahrens bis zur Erledigung ergänzt hat (NdsOVG, U.v. 19.2.2015 - 7 LC 63/13 - juris Rn. 64; SchochKoVwGO/Riese, 41. EL Juli 2021, VwGO § 114 Rn. 246). Nachdem hier die Erledigung bereits vor Klageerhebung eingetreten ist, war eine Ergänzung von Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren nicht mehr möglich.</p>
<p><rd nr="30"/>b) Gleichwohl vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass allein aufgrund der besonderen Lage P* … und des dortigen Infektionsgeschehens die Erteilung einer Befreiung aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zwingend geboten war. Eine Ermessensreduzierung auf Null lag mithin nicht vor. So hätte etwa in die Erwägungen auch einbezogen werden können, dass gegebenenfalls die Möglichkeit bestand, dass der Kläger beim Rückflug mit Fluggästen in Kontakt kommt, die aus anderen Landesteilen Malaysias stammen, etc. Dementsprechend wäre trotz der besonderen Umstände des Einzelfalls auch bei ordnungsgemäßer Ermessensausübung eine Ablehnung des Antrags möglich gewesen.</p>
<p><rd nr="31"/>Nach alledem hat die Klage nur im tenorierten Umfang Erfolg.</p>
<p><rd nr="32"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<p><rd nr="33"/>Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.</p>
</div>
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346,438 | vg-munchen-2022-08-18-m-3-k-213068 | {
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} | M 3 K 21.3068 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-09-06T10:01:48 | 2022-10-17T11:09:48 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>I.Die Klage wird abgewiesen. </p>
<p>II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. </p>
<p>III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Streitgegenstand ist die Verpflichtung des Beklagten als Aufgabenträger, die Kosten für die Beförderung des Klägers zu dem von ihm besuchten Gymnasium zu übernehmen.</p>
<p><rd nr="2"/>Der Kläger besucht das Gymnasiums Schrobenhausen. Per Formblatt wurde für den Kläger die Kostenfreiheit des Schulwegs beantragt.</p>
<p><rd nr="3"/>Mit Bescheid vom 12. Mai 2021 lehnte der Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, eine Beförderungspflicht bestehe nur, wenn der Schulweg für Schüler ab der 5. Jahrgangsstufe länger als 3 km ist. Der Schulweg des Klägers sei nicht länger als 3 km. Die Messung habe eine Wegstrecke von 2,99 km ergeben.</p>
<p><rd nr="4"/>Dagegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 8. Juni 2021, eingegangen am 9. Juni 2021, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragt zuletzt sinngemäß,</p>
<p><rd nr="5"/>unter Aufhebung des Bescheids vom 12. Mai 2021 den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die Kostenfreiheit des Schulwegs zu gewähren.</p>
<p><rd nr="6"/>Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass andere Routenplaner für den Schulweg des Klägers eine Entfernung länger als 3 km ausweisen würden. Es sei rechtsfehlerhaft auf denjenigen Routenplaner abzustellen, der die Entfernung des Schulweges kürzer als 3 km messe.</p>
<p><rd nr="7"/>Der Beklagte beantragt,</p>
<p><rd nr="8"/>die Klage abzuweisen.</p>
<p><rd nr="9"/>Es wird eine neue Berechnung der Schulweglänge mit Google Maps mit dem Ergebnis 2,97 km vorgelegt.</p>
<p><rd nr="10"/>Mit Beschluss vom 26. April 2022 wurde die Verwaltungsstreitsache auf den Einzelrichter übertragen.</p>
<p><rd nr="11"/>Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 28. September 2021 auf mündliche Verhandlung verzichtet. Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 24. Mai 2022 ebenfalls auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.</p>
<p><rd nr="12"/>Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="13"/>Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO.</p>
<p><rd nr="14"/>Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der streitgegenständliche ablehnende Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); der Kläger hat derzeit keinen Anspruch auf Übernahme der Schulwegbeförderungskosten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</p>
<p><rd nr="15"/>1. Die Klage ist, obwohl sie einen falschen Beklagten bezeichnet und nicht den Anspruchsinhaber als Kläger ausweist, zulässig. Der richtige Beklagte, hier das Landratsamt, ist der Klage durch Auslegung zu entnehmen. Auch der Kläger ist im Weg einer wohlwollenden Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont erkennbar. Er ist der Anspruchsinhaber auf Kostenfreiheit seines Schulweges, nicht seine Mutter als gesetzliche Vertreterin.</p>
<p><rd nr="16"/>Die Klageänderung der als Anfechtungsklage erhobenen Klage zur Verpflichtungsklage ist jedenfalls gem. § 91 Abs. 2 VwGO zulässig. Im Übrigen wäre die Klageänderung auch als sachdienlich zulässig (§ 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO).</p>
<p><rd nr="17"/>2. Die Klage ist aber unbegründet. Es besteht derzeit kein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Schulwegbeförderungskosten.</p>
<p><rd nr="18"/>Nach Art. 3 Abs. 1 Halbsatz 1 des Schulwegkostenfreiheitsgesetzes (SchKfrG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 452, BayRS 2230-5-1-K), das zuletzt durch § 1 Abs. 215 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98) geändert worden ist, trägt der Aufgabenträger die Kosten der notwendigen Beförderung der Schülerinnen und Schüler durch öffentliche oder private Verkehrsmittel auf dem Schulweg. Aufgabenträger ist bei Gymnasien die kreisfreie Stadt oder der Landkreis des gewöhnlichen Aufenthalts der Schülerinnen und Schüler (§ 1 Satz 2 der Schülerbeförderungsverordnung (SchBefV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. September 1994 (GVBl. S. 953, BayRS 2230-5-1-1-K), die zuletzt durch Verordnung vom 10. Mai 2022 (GVBl. S. 237) geändert worden ist). Notwendig ist die Beförderung ab der Jahrgangsstufe 5, wenn der Schulweg in einer Richtung mehr als drei Kilometer beträgt und die Zurücklegung des Schulwegs auf andere Weise nach den örtlichen Gegebenheiten und nach allgemeiner Verkehrsauffassung nicht zumutbar ist oder wenn eine dauernde Behinderung der Schülerin oder des Schülers die Beförderung erfordert (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 SchKfrG, § 2 Abs. 2 Satz 1 SchBefV). Bei besonders beschwerlichen oder besonders gefährlichen Schulwegen kann auch bei kürzeren Wegstrecken in widerruflicher Weise die Notwendigkeit der Beförderung anerkannt werden (Art. 2 Abs. 1 Satz 2 SchKfrG, § 2 Abs. 2 Satz 2 SchBefV).</p>
<p><rd nr="19"/>Der vom beklagten Aufgabenträger zuletzt zugrundegelegte Schulweg ist kürzer als drei Kilometer (a) und auch nicht besonders gefährlich oder beschwerlich (b).</p>
<p><rd nr="20"/>(a) Bei der Ermittlung der Schulweglänge ist die kürzeste zumutbare Wegstrecke zwischen der Wohnung der Schülerin oder des Schülers und der Schule zugrunde zu legen. Entscheidend ist die zu Fuß zurückzulegende Strecke im öffentlichen Verkehrsraum. Die Länge des Schulwegs wird von dem Punkt aus gemessen, an dem der Schüler aus dem Wohnhaus kommend auf die öffentliche Straße tritt, bis zu dem Punkt, an dem er das Schulgrundstück betritt. Die auf dem Wohngrundstück und auf dem Schulgelände zurückgelegten Wegstrecken bleiben für die Bestimmung der maßgeblichen Schulweglänge grundsätzlich außer Betracht. Der Schulweg endet dort, wo dem Schüler das Betreten des eingefriedeten oder sonst erkennbar abgegrenzten Schulgrundstücks möglich und erlaubt ist (vgl. insgesamt BayVGH U.v. 9.8.2011 - 7 B 10.1565 - juris Rn. 17 m.w.N.; BayVGH U.v. 17.2.2009 - 7 B 08.1027 - juris Rn. 18).</p>
<p><rd nr="21"/>Das Recht der Kostenfreiheit des Schulwegs ist hierbei nicht mit einem Anspruch auf exakte Messung in der Natur verbunden. Vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung genügt eine digitale Vermessung, deren Messergebnisse in ihrer Genauigkeit nicht entscheidungserheblich hinter einer Messung in Natur zurückbleiben (vgl. u.a. VG München, U.v. 14.11.2011 - M 3 K 11.670 - juris Rn. 17 ff.; VG Regensburg, GB.v. 14.2.2018 - RO 3 K 17.513 - juris Rn. 38; VG Würzburg, U.v. 5.6.2019 - W 2 K 18.1347 - juris Rn. 27).</p>
<p><rd nr="22"/>Die vom Landratsamt vorliegend mit Google Maps ermittelte Distanz zwischen dem mütterlichen Wohnhaus des Klägers und der Schule betrug in der dem Bescheid zugrundeliegenden Messung 2,99 km. Dieser Messung liegt allerdings nach eigenen Angaben des Landratsamts im Verfahren ein nicht vorhandener Zugang zur Schule zugrunde. In einer neuen Messung des Landratsamts mit Google Maps beträgt der Schulweg 2,97 km. Der Kläger legt Screenshots vier verschiedener Berechnungen jeweils verschiedener Routenplaner vor, die allesamt eine Entfernung von über 3 km ausweisen. Einwände gegen die Richtigkeit der Messergebnisse des Beklagten erhebt er keine. In der Behördenakte findet sich noch eine zusätzliche Entfernungsmessung (vermutlich über bayernatlas), nach der wiederum der Schulweg unter 3 km lang ist.</p>
<p><rd nr="23"/>Das Gericht kann die Messung des Landratsamts mit Google Maps schlüssig nachvollziehen. Eine Messung mit dem u.a. vom Kläger verwendeten Routenplaner Falk ergibt mit den Eingaben, die auch der Kläger ausweislich seines Screenshots verwendet, zwar eine Distanz von über 3 km (nämlich 3,01 km), allerdings liegt der Messung - zumindest bei der gerichtlichen Nachvollziehung - nicht der nächstmögliche, sondern ein deutlich weiter entfernter Betretenspunkt des Schulgeländes zugrunde. Dem vom Kläger vorgelegten Screenshot ist gar keine Wegführung, also auch keine Betretenspunkt zu entnehmen. Die übrigen vom Kläger vorgenommenen Messungen mit anderen Routenplaner sind für das Gericht nicht nachvollziehbar, zum Teil fehlt bereits die Angabe des verwendeten Routenplaners bzw. ist dieser nicht frei zugänglich, im Übrigen fehlt immer die zugrunde gelegte Wegführung (insbesondere der genau Start- und Endpunkt).</p>
<p><rd nr="24"/>Der Kläger hat somit schon keine substantiierten Einwendungen gegen die Messung des Landratsamts vorgebracht. Die (korrigierte) Messung des Landratsamts ist im Gegensatz zu den vom Kläger vorgelegten Berechnungen schlüssig und für das Gericht nachvollziehbar. Sie ist zutreffend.</p>
<p><rd nr="25"/>Im Übrigen würden auch die abweichenden Distanzangaben anderer Routenplaner allein nicht genügen um einen Anspruch des Klägers zu begründen. Es gilt - mangels fachrechtlicher Vorgaben - der allgemeine Rechtsgrundsatz, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht. Das bedeutet, dass die Unerweislichkeit der Tatsache, dass der Schulweg des Klägers länger als 3 km ist, hier im Bereich der Leistungsverwaltung zu Lasten des Klägers ginge. Der Anspruch wäre dem Kläger als auch aufgrund der ihm obliegenden und nicht erfüllten Beweislast zu versagen.</p>
<p><rd nr="26"/>(b) Der Schulweg des Klägers ist auch nicht als „besonders gefährlich“ i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 2 SchBefV anzusehen. Gegenteiliges wird nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich.</p>
<p><rd nr="27"/>(c) Mithin besteht keine Beförderungspflicht des Beklagten, da die Schule nicht weiter als 3 km vom Wohnort des Klägers entfernt ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 SchBefV).</p>
<p><rd nr="28"/>3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.</p>
</div>
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346,437 | vg-wurzburg-2022-08-18-w-5-k-2230401 | {
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} | W 5 K 22.30401 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-09-06T10:01:48 | 2022-10-17T11:09:47 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2022 verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.</p>
<p>II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Der Kläger ist Asylbewerber aus dem Jemen begehrt die Feststellung eines Abschiebungsverbots.</p>
<p><rd nr="2"/>1. Der am ... 2000 geborene Kläger ist jemenitischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Er reiste am 14. Oktober 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. November 2021 einen Asylantrag.</p>
<p><rd nr="3"/>Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 7. Januar 2022 gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe sein Heimatland aufgrund des Krieges verlassen. Seine Ehefrau sei im Jemen geblieben und lebe dort bei ihren Eltern. Ein Ort in der Nähe seiner Wohnung sei bei einem Luftangriff getroffen worden. Dabei sei er von einem Splitter an seinem linken Arm getroffen und verletzt worden. Der Arm sei dreimal operiert worden und er könne ihn nicht mehr richtig bewegen. Aufgrund des Krieges sei das Leben sehr schwer geworden. Manchmal hätten sie keine Lebensmittel, kein Strom und kein Wasser gehabt. Er habe die Schule nicht weiter besuchen können. Viele Menschen seien durch Luftangriffe ums Leben gekommen.</p>
<p><rd nr="4"/>2. Mit Bescheid vom 28. April 2022, dem Kläger ausgehändigt am 6. Mai 2022, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).</p>
<p><rd nr="5"/>Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Antragsteller sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Der Kläger habe vorgetragen, dass ihm - abgesehen vom Splitter - nichts passiert sei. Er sei unverfolgt aus dem Jemen ausgereist. Ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal liege nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Aus dem Vortrag des Klägers ergebe sich nicht, dass ihm die Todesstrafe oder ein ernstafter Schaden durch Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde. Eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide aus. Zwar bestehe im Jemen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Es bestehe jedoch keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Betroffenen allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne Weiteres Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gewährt werden müsste. Der Kläger stamme aus der Stadt Sanaa im Gouvernement Amanah al Asmah, welches nach den Erkenntnissen des Bundesamts als relativ sicher gelte. Individuelle gefahrerhöhenden Umstände seien nicht ersichtlich. Aufgrund des Splitters sei die Rückkehr nicht gefährlicher als für andere Bewohner Jemens. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG sei nicht gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Jemen führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch wenn insbesondere ärmere Bevölkerungsschichten häufig am Rande des Existenzminimums lebten, so gebe es keine Anzeichen dafür, dass die humanitären Bedingungen bei einer Rückkehr in den Jemen als derart schlecht zu bewerten wären, dass diese den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK aufwiesen. Auch unter Berücksichtigung individueller Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit der Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht erfüllt. Nichts anderes ergebe sich aufgrund der Corona-Pandemie. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger als junger Mann, auch ohne nennenswertes Vermögen, im Falle einer Rückkehr in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Vermögen zu erzielen, und mit Unterstützung seiner Brüder und der Familie damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die jemenitische Gesellschaft zu integrieren. Der Kläger sei jung und gegebenenfalls nur eingeschränkt erwerbsfähig. Er müsste sich wegen der Einschränkungen mit seinem Ellbogen eine Bürotätigkeit oder eine leichte Tätigkeit suchen. Er habe neun Jahre die Schule besucht und habe die Qualifikation für Bürotätigkeiten. Er könne auch die Unterstützung seiner Verwandten in Anspruch nehmen. Seine Ehefrau könne weiterhin bei ihren Eltern leben. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AsylG führen würde. Entsprechendes sei nicht vorgetragen worden. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlichen verschlechtern würden. Dies sei hier nicht der Fall.</p>
<p><rd nr="6"/>3. Am 20. Mai 2022 ließ der Kläger über die Klägerbevollmächtigte Klage erheben und zunächst sinngemäß beantragen,</p>
<p>die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,</p>
<p>hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,</p>
<p>weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Jemen vorliegt.</p>
<p><rd nr="7"/>Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Aussagen des Klägers in seiner Anhörung vor dem Bundesamt verwiesen.</p>
<p><rd nr="8"/>4. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragte für die Beklagte,</p>
<p>die Klage abzuweisen.</p>
<p><rd nr="9"/>Zur Begründung wurde auf die Begründung des angegriffenen Bescheids verwiesen.</p>
<p><rd nr="10"/>5. Mit Beschluss vom 19. Juli 2022 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter.</p>
<p><rd nr="11"/>6. In der mündlichen Verhandlung am 18. August 2022 erklärte die Klägerbevollmächtigte die Klagerücknahme hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes. Der diesbezügliche Teil des Klagebegehrens wurde vom Verfahren abgetrennt, unter dem Aktenzeichen W 5 K 22.30619 fortgeführt und eingestellt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sitzungsverlaufs wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.</p>
<p><rd nr="12"/>7. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="13"/>Die zulässige Klage, über die gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden konnte, obwohl die Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen war, ist - soweit über sie noch zu entscheiden war - begründet.</p>
<p><rd nr="14"/>Der Kläger hat unter Aufhebung der Ziffer 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2022 einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</p>
<p><rd nr="15"/>1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris).</p>
<p><rd nr="16"/>Angesichts der besonderen Umstände des hiesigen Einzelfalls kann unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage und der humanitären Situation im Jemen davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Jemen nicht in der Lage sein wird, sich eine den Anforderungen des Art. 3 EMRK entsprechende Existenz zu sichern.</p>
<p><rd nr="17"/>Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fasst im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 14 ff.) die Sicherheitslage im Jemen wie folgt zusammen:</p>
<p>„Der Krieg im Jemen brach im Jahr 2014 aus, als die Huthi weite Teile des Landes, darunter die Hauptstadt Sanaa, überrannten. Seit 2015 versucht eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition, die Huthi mit Luftangriffen zurückzudrängen, und die Regierung wiederherzustellen. Beiden Seiten werden schwere Verstöße gegen die Menschenrechte vorgeworfen (TAZ 10.12.2021). Das Land ist instabil und von bewaffneten Konflikten geprägt. Es bestehen erhebliche Sicherheitsrisiken. Die Entwicklung der Lage ist ungewiss In verschiedenen Landesteilen bekämpfen sich Regierungstruppen (unterstützt durch eine ausländische Koalition) und verschiedene aufständische Gruppierungen. Es finden regelmäßig Luftangriffe auf verschiedene Ziele statt. Auch Sana’a und Aden sind immer wieder von bewaffneten Auseinandersetzungen und Angriffen mit Raketen und Drohnen betroffen. Im Land und in den Küstengewässern werden auch Minen eingesetzt (EDA 30.08.2021). Zeitweise werden Blockaden über sämtliche Land-, Flug- und Schiffsverbindungen verhängt (EDA 30.08.2021). Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von terroristischen Akten gegen in- und ausländische Personen und Einrichtungen, einschließlich gegen humanitäre Organisationen. Regelmäßig fordern Anschläge Todesopfer und Verletzte (EDA 30.08.2021). Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) operierte im Jemen nicht immer unter ihrem eigentlichen Namen, sondern nannte sich z.B. im Jahr 2011 bei seiner teilweisen Eroberung von Abyan und Shabwa „Gefolgsleute der Scharia“ („Ansar al-Shariah“). Als die Gruppe 2014 bis 2015 die Stadt Mukallah besetzte, trat sie unter dem Namen „Söhne von Hadramawt“ („Sons of Hadramawt“) auf (SCSS 5.1.2021). Im Indischen Ozean und auch in den jemenitischen Gewässern ist Piraterie verbreitet, besonders im Golf von Aden (EDA 30.08.2021). Die Gewährleistung der Sicherheit durch staatliche Behörden ist nicht sichergestellt. Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert weiter an. Anfang August 2019 kam es zu schweren Gefechten zwischen südlichen Separatisten und der Regierung loyalen Truppen in der Hafenstadt Aden. In der Folge kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden selbst. Daneben kommt es auch in Taiz immer wieder zu Kämpfen. Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Die weiterhin fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar (AA 15.12.2021). Die staatlichen Institutionen sind landesweit nur noch sehr eingeschränkt funktionsfähig. Bereits im September 2014 hatten Milizen der schiitisch-zaiditischen Huthi-Bewegung die Kontrolle über weite Landesteile, darunter auch die Hauptstadt Sanaa, übernommen und auch Teile der Sicherheitskräfte unter ihre Kontrolle gebracht. Die staatlichen Sicherheitsorgane sind nur bedingt funktionsfähig und können im Einzelfall keinen ausreichenden Schutz garantieren (AA 15.12.2021). Es kommt weiterhin sehr rasch zu Versorgungsengpässen und Massendemonstrationen, zum Teil verbunden mit gewaltsamen Ausschreitungen (AA 15.12.2021). Bei Demonstrationen kann es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften kommen (EDA 30.08.2021). Nach sechs Jahren saudischer Militäraktionen im Jemen haben diese keines der Ziele erreicht: Präsiden Hadi befindet sich weiter im Exil, und seine Regierung ist schwach, während die Huthi aktuell stärker sind als zu Kriegsbeginn. Angesichts hunderttausender Toter und der weltweit schlimmsten humanitären Krise ist der Jemen so weit fragmentiert, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass aus ihm wieder ein einziger Staat werden kann - oder eine Zweiteilung wie vor 1990. Es gibt stattdessen viele Jemen, kleine Gebiete, die von einer steigenden Zahl an bewaffneten Gruppen gehalten werden, und die unterschiedliche Ziele verfolgen. Keine der bewaffneten Gruppen hat genug Macht, um den Rest des Landes zu beherrschen. Aber fast alle diese Gruppen besitzen genug Truppenstärke und Munition, um ein eventuelles nationales Friedensabkommen zu torpedieren, wenn sie ihre Interessen nicht adäquat vertreten sehen sollten (BI 25.3.2021). The Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) schätzt, dass seit Beginn der regionalen Intervention im Jemen im März 2015 bis Oktober 2021 über 145.000 JemenitInnen durch Gewalt getötet wurden (CRS 23.11.2021). In einem am 23.11.2021 veröffentlichten Report gibt das UNEntwicklungsprogramm (UNDP) an, bis Ende des Jahres 2021 mit 377.000 Kriegstoten seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 zu rechnen. Rund 60% der Todesfälle werden dabei den indirekten Folgen des Krieges zugerechnet, etwa Hunger oder mangelnde medizinische Versorgung. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren, die 70% der Todesopfer stellen (BAMF 29.11.2021). Ausländische Beobachter verurteilten die Menschenrechtsverletzungen durch alle Konfliktparteien (CRS 23.11.2021). Es gab zahlreiche Berichte über willkürliche oder rechtswidrige Tötungen durch derzeitige oder ehemalige Mitglieder der Sicherheitskräfte der Regierung. Auch politisch motivierte Tötungen durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Houthi-Truppen, militanter sezessionistischer Elemente und terroristischer und aufständischer Gruppen, die sich zu Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder zur Organisation Islamischen Staat bekennen, setzten sich im Laufe des Jahres fort (USDOS 30.3.2021). Die lange Zeit geteilte Hafenstadt Hodaida am Roten Meer fiel plötzlich unter komplette HouthiKontrolle, nachdem sich die mit Präsident Hadi verbündeten Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten (PolGeoNow 1.12.2021). Die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Huthi-Rebellen vertrieben seit November mehr als 25.000 Menschen aus der Umgebung der Hafenstadt Hodaida. Drei Fünftel der Zivilisten flohen in die von der Regierung gehaltenen Gebiete, der Rest zu den Rebellen (TAZ 10.12.2021). Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete der Provinz Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften um Marib. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. Der große militärische Vormarsch der Huthi-Kräfte zur Eroberung Maribs, der rohstoffreichen Provinz 170 Kilometer östlich von Sanaa und eine der letzten Hochburgen der jemenitischen Regierungstruppen, begann 2020 und hat sich seit Februar intensiviert. Zivilisten und Vertriebene in Marib befinden seit fast zwei Jahren in dieser Lage, und einige leiden unter schweren Entbehrungen. Die Huthi führten wiederholt wahllose Angriffe auf zivile Gebiete durch und blockierten humanitärer Hilfe (HRW 24.11.2021, vgl. CRS 23.11.2021). Die Provinz Marib ist weiterhin ungeminderter Schauplatz von Gefechten, wobei die nicht international anerkannte Regierung der Huthi langsam an Boden gegenüber den von Saudi-Arabien unterstützten Truppen von Präsident Hadi gewinnt (PolGeoNow 1.12.2021). Marib ist die letzte von der Regierung kontrollierte Großstadt im nördlichen Teil des Landes (BAMF 27.9.2021). Die Stadt Marib im Jemen ist von einst wenigen hunderttausend Einwohnern zu einer Millionenstadt angewachsen - einigen Schätzungen zufolge bis zu fast drei Millionen Menschen. In dem seit sieben Jahren andauernden jemenitischen Bürgerkrieg hat sich die Stadt zur wichtigsten Zufluchtsstätte der im Land Vertriebenen entwickelt (TAZ 10.12.2021). War Marib bis Anfang des Jahres noch ein Ruhepol im jemenitischen Bürgerkrieg und daher als Fluchtort beliebt, ist die Stadt inzwischen der am heftigsten umkämpfte Ort in diesem Krieg. Die Huthi-Rebellen versuchen derzeit, zunächst das Umland von Marib zu erobern. Die Stadt selbst kontrollieren noch die jemenitischen Regierungstruppen, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Bisher ist es vor allem die saudische Luftwaffe, die die Rebellen mit ihrem Bombardement noch abhält, sich bis an den Stadtrand vorzukämpfen (TAZ 10.12.2021). Seit Oktober 2021 haben die Huthi-Truppen die Kontrolle über die Bezirke Al-Abdiyah und Harib im südlichen Gouvernement Marib übernommen, während die Kämpfe in den Bezirken al-Jubah und Jabal Murad andauern und 93.000 Zivilisten zwingen, aus ihren Häusern zu fliehen und in der Stadt Marib, die bereits zwei Millionen Vertriebene beherbergt, Sicherheit zu suchen. Der Oktober 2021 war der tödlichste Monat seit Jahren im Gouvernement mit mehr als 100 Zivilisten, darunter Kinder, die getötet oder verwundet wurden (HRW 24.11.2021). Die Anti-Huthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens hat zwischen dem 23.11.2021 und 27.11.2021 mehrere Luftschläge gegen Ziele in Sanaa durchgeführt. Laut Angaben der Koalition richteten sich die Bombardierungen gegen militärische Einrichtungen. Die Huthi hingegen geben an, dass auch Wohnhäuser und eine Fabrik beschädigt worden seien und vermeldeten zwei Tote. Die Huthi hatten am 20.11.2021 mehr als ein Dutzend Drohnen gegen Ziele in Saudi-Arabien abgefeuert. In einem am 23.11.2021 veröffentlichten Report gibt das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) an, bis Ende des Jahres 2021 mit 377.000 Kriegstoten seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 zu rechnen. Rund 60% der Todesfälle werden dabei den indirekten Folgen des Krieges zugerechnet, etwa Hunger oder mangelnde medizinische Versorgung. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren, die 70% der Todesopfer stellen (BN 29.11.2021). Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September 2021 wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete des jemenitischen Gouvernements Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe um Marib zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. Der große militärische Vormarsch der Huthi-Kräfte zur Eroberung des Gouvernements Marib, des rohstoffreichen Gouvernements 170 Kilometer östlich von Sanaa, einer der letzten Hochburgen der jemenitischen Regierungstruppen, begann 2020 und hat sich seit Februar 2021 intensiviert. Zivilisten und Vertriebene in Marib sind seit fast zwei Jahren im Fadenkreuz gefangen, einige leiden unter schwerer Entbehrung. Die Houthi greifen wiederholt und scheinbar wahllos zivile Gebiete an und blockieren den Zugang zu humanitärer Hilfe (HRW 24.11.2021). Seit dem 17.9.2021 sind bei Kämpfen in den Gouvernments Marib und Shabwa mindestens 190 Soldaten ums Leben gekommen, davon rund 130 auf Seiten der Huthi. Die Huthi-Rebellen haben ihren Vormarsch auf die Stadt Marib im September 2021 nochmals intensiviert und griffen nun auch verstärkt aus dem benachbarten Gouvernement Shabwa an, wo sie erst kurz zuvor einige Bezirke erobert hatten. Marib ist die letzte von der Regierung kontrollierte Großstadt im nördlichen Teil des Landes und reich an Öl und Gas (BN 27.9.2021). Es gab zahlreiche Berichte über willkürliche oder rechtswidrige Tötungen durch derzeitige oder ehemalige Mitglieder der ROYG-Sicherheitskräfte. Politisch motivierte Tötungen durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Huthi-Truppen, militanter sezessionistischer Elemente und terroristischer und aufständischer Gruppen, die sich zu Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder zu einer Tochterorganisation des sogenannten Islamischen Staats (ISIS) bekennen, gab es auch im Laufe des Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021). Seit Oktober 2021 haben die Huthi-Truppen die Kontrolle über die Bezirke Al-Abdiyah und Harib im südlichen Gouvernement Marib übernommen, während die Kämpfe in den Bezirken al-Jubah und Jabal Murad andauern. 93.000 Zivilisten wurden dadurch gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen und in der Stadt Marib im Norden, die bereits zwei Millionen Vertriebene beherbergt, Sicherheit zu suchen. Die Bodenkämpfe zwischen der bewaffneten Huthi-Gruppe und den jemenitischen Regierungstruppen gehen weiter, während die Huthi-Kräfte das Gouvernement von drei Fronten aus umkreisen: von al-Jawf im Norden, al-Baydah im Süden und Sirwah und Nehem im Westen. Der Oktober 2021 war der tödlichste Monat seit Jahren im Gouvernement, mit mehr als 100 Zivilisten, darunter Kinder, die getötet oder verwundet wurden. Am 3.10.2021 haben laut jemenitischer Regierungsbehörden, drei Huthi-Raketen das Viertel al-Rawdah in der Stadt Marib getroffen, die zwei Kinder getötet und 33 Menschen, darunter auch Kinder, verletzt haben (HRW 24.11.2021).“</p>
<p><rd nr="18"/>Zu dem aktuellen Waffenstillstand https://unric.org/de/030822-jemen im Jemen bestehen folgende Erkenntnisse:</p>
<p>„Am 02.04.22 hat in Jemen ein zweimonatiger Waffenstillstand begonnen. Dieser wurde separat mit beiden Kriegsparteien von der UN ausgehandelt, der Beginn fällt auf den ersten Tag des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Der Waffenstillstand umfasst ebenfalls eine teilweise Lockerung der saudischen See- und Luftblockade, sodass bereits am 03.04.22 der erste von 18 geplanten Tankern mit Treibstoff den Hafen von Hodeida anlaufen konnte. Daneben sollen wöchentlich bis zu zwei kommerzielle Passagierflüge zwischen Sanaa und Ägypten bzw. Jordanien ermöglicht werden.“ (BAMF, briefing notes vom 4. April 2022).</p>
<p>„Der am 02.04.22 in Kraft getretene Waffenstillstand (vgl. BN v. 04.04.22) hat die Ausweitung von humanitären Hilfsprogrammen ermöglicht. Dennoch kommt es weiterhin zu Kampfhandlungen, insbesondere in der Gegend um die umkämpfte Stadt Marib im gleichnamigen Gouvernement. Als Teil der Waffenruhe wurden im Vorfeld ein Gefangenenaustausch sowie die Öffnung des Flughafens Sanaa für zwei kommerzielle Flugverbindungen pro Woche nach Ägypten und Jordanien vereinbart. Beides wurde bislang nicht umgesetzt, letzteres aufgrund Uneinigkeit bezüglich der Nutzung von durch Houthi-Behörden ausgestellte Reisepässe.“ (BAMF, briefing notes vom 25. April 2022).</p>
<p>„Das am 02.04.22 in Kraft getretene Waffenstillstandsabkommen, welches zunächst für zwei Monate angesetzt war, wurde am 02.06.22 um weitere zwei Monate verlängert. Obwohl die Waffenruhe weitgehend eingehalten wurde, wurden die Kampfhandlungen nicht vollständig eingestellt; mindestens 19 Zivilpersonen, darunter Kinder, wurden bei Kampfhandlungen in den Gouvernements Taizz und al-Dhali getötet. Die Waffenruhe umfasst weitere Vereinbarungen (vgl. BN v. 04.04.22), welche zum Großteil umgesetzt wurden. Eine Ausnahme bildet die Belagerung der Stadt Taizz, die entgegen getroffener Absprachen nicht beendet wurde. Die Stadt Taizz im 7 gleichnamigen Gouvernement ist zweigeteilt: Ein Teil befindet sich unter Kontrolle der Anti-Houthi-Koalition, der andere Teil wird seit 2016 von den Houthis belagert und ist vom Rest des Landes weitgehend abgeschnitten. Gespräche zwischen der jemenitischen Regierung, den Houthis und der UN über das Ende der Belagerung dauern an.“ (BAMF, briefing notes vom 13. Juni 2022).</p>
<p>„Wie am 18.07.22 bekannt wurde, drängt die UN auf eine Verlängerung des aktuellen Waffenstillstands um sechs Monate. Die momentane Waffenruhe war am 02.04.22 für zunächst zwei Monate in Kraft getreten und wurde Anfang Juni 2022 um weitere zwei Monate verlängert; bei Nichtverlängerung endet sie am 02.08.22. Der Waffenstillstand hat zu einem signifikanten Rückgang von Kampfhandlungen geführt, komplett eingestellt wurden diese jedoch zu keinem Zeitpunkt. Zuletzt wurde am 23.07.22 ein Kind getötet und zehn weitere Personen verletzt, als die Houthis ein Wohngebiet in der Stadt Taizz unter Beschuss genommen hatten.“ (BAMF, briefing notes vom 25. Juli 2022).</p>
<p>„Am Dienstag gab der UN-Sonderbeauftragte für Jemen Hans Grundberg bekannt, dass der Waffenstillstand in dem Land um weitere zwei Monate bis zum 2. Oktober verlängert wurde. Die Verlängerung beinhaltet eine Verpflichtung der Regierung und der Houthi-Rebellen, die Verhandlungen zu intensivieren, um so bald wie möglich ein erweitertes Abkommen zu erreichen. (…) Der von den Vereinten Nationen vermittelte Waffenstillstand trat erstmals am 2. April für zunächst zwei Monate in Kraft. Er wurde im Juni um weitere zwei Monate verlängert. Dies markiert die längste Periode relativer Ruhe im Jemen seit mehr als sieben Jahren des Konflikts. Zu den im vergangenen Monat gemeldeten Errungenschaften gehörten eine 60-prozentige Verringerung der zivilen Opfer und eine fast 50-prozentige Verringerung der Vertreibungen. Darüber hinaus sind 26 Treibstoffschiffe in Hudaydah eingelaufen, und es gab 36 Hin- und Rückflüge zwischen Sanaa und Jordaniens Hauptstadt Amman und Kairo, Ägypten. Grundberg betonte, dass das Hauptziel des Waffenstillstands weiterhin darin bestehe, der Zivilbevölkerung konkrete Hilfe zu leisten und ein günstiges Umfeld für eine friedliche Beilegung des Konflikts durch einen umfassenden politischen Prozess zu schaffen.“ (UNRIC - Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen, Waffenstillstand im Jemen um weitere zwei Monate verlängert, 3. August 2022, Internetveröffentlichung: https://unric.org/de/030822-jemen).</p>
<p><rd nr="19"/>Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 41 ff.) weiterhin zur humanitären Situation im Jemen aus:</p>
<p>„Die humanitäre Lage im Jemen sei niemals schlimmer gewesen als jetzt. Laut UN droht eine Hungersnot. Mehr als 20 Millionen Jemeniten benötigen humanitäre Hilfe und Schutz. Zwei von drei Menschen im Jemen benötigen Nahrungsmittelhilfe, medizinische Versorgung oder andere lebensrettende Unterstützung durch humanitäre Organisationen. Rund 400.000 Mädchen und Buben unter fünf Jahren seien unterernährt, denen Tod droht, wenn sie keine Hilfe bekommen (ARD 1.3.2021). Die Konfliktparteien behindern die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kraftstoff und anderen Gütern, die für das Überleben der Bevölkerung unabdingbar sind, und die bewaffnete Gruppe der Huthi schränkt die Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen weiterhin willkürlich ein. Die internationalen Finanzmittel für humanitäre Hilfe waren 2020 nur noch halb so hoch wie im Vorjahr. Dies verschärft auch die Nahrungsmittelknappheit und wirkt sich negativ auf die Trinkwasser-, Sanitär- und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aus (AI 7.4.2021). Der Konflikt und die Unsicherheit haben die jemenitische Wirtschaft schwer getroffen. Ein erfolgreicher Wiederaufbau nach dem Konflikt wird kostspielig sein - und da die inländischen Gesamteinnahmen weniger als 5% des BIP betragen (Weltbank, 2020) - muss ein Großteil dieses Geldes aus privaten und externen Quellen kommen. Eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung erfordert einen effektiven und gesunden Privatsektor, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (UNDP 23.11.2021). Jemen ist seit Jahren das ärmste Land im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) und leidet nun unter der schlimmsten humanitären Krise der Welt. Die seit 2015 anhaltenden Kämpfe haben die Wirtschaft des Landes verwüstet, was zu einer ernsten Ernährungsunsicherheit geführt und wichtige Infrastrukturen zerstört hat. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren im Jahr 2021 24,3 Millionen Menschen von Hunger und Krankheit bedroht, von denen etwa 14,4 Millionen akut auf Hilfe angewiesen waren. Hinzu kommt, dass etwa 20,5 Millionen Jemeniten ohne sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen leben und 16,2 Millionen Menschen aufgrund von Ernährungsunsicherheit und Unterernährung dringend Nothilfe benötigen. Wellen von Währungsabwertungen in den Jahren 2018 und 2019 haben zu einem anhaltenden Inflationsdruck auf den jemenitischen Riyal geführt, der die humanitäre Krise noch verschärft hat. Die Unterbrechung der Infrastruktur und der Finanzdienstleistungen hat die Tätigkeit des Privatsektors stark beeinträchtigt. Für mehr als 40% der jemenitischen Haushalte ist es schwierig auch nur das Nötigste an Lebensmitteln zu kaufen. Die Armut verschlimmert sich; während sie vor der Krise fast die Hälfte der rund 29 Millionen Einwohner des Jemen betraf, sind jetzt schätzungsweise drei Viertel davon betroffen - 71% bis 78% der Jemeniten. Frauen sind stärker betroffen als Männer (WB 1.11.2021). Im Rahmen einer Geberkonferenz am 23.9.2021 wurden weitere 600 Mio. USD an Hilfsmitteln für Jemen zugesagt, nachdem im März bereits 1,7 Mrd. USD an Hilfszusagen zusammengekommen waren. Benötigt werden laut UN-Generalsekretär Guterres jedoch insgesamt 3,85 Mrd. USD, somit bleibt nach wie vor eine Finanzierungslücke von über 1 Mrd. USD bestehen. Das Welternährungsprogramm hat im Rahmen der Geberkonferenz berichtet, dass Nahrungsmittelhilfen im Oktober 2021 gekürzt werden müssen, sollten keine neuen Gelder bereitgestellt werden. 16 Mio. Menschen im Jemen wären dann von Hunger bedroht (BN 27.9.2021). Die Machtergreifung der Huthi, die Luftangriffe der Koalition und die aktiven Kämpfe machten es für humanitäre Organisationen aufgrund von Sicherheitsrisiken schwierig, viele Gebiete des Landes zu erreichen (USDOS 30.3.2021). Auch die Versorgungssituation in den Flüchtlingscamps verschlechtert sich zusehends (BN 29.11.2021).“</p>
<p><rd nr="20"/>Das Auswärtige Amt beschreibt die Auswirkungen des Konflikts auf Zivilpersonen im Jemen, insbesondere in der Region Aden, in seiner Anfragebeantwortung gegenüber dem Verwaltungsgericht Leipzig (AA vom 18.6.2020) wie folgt:</p>
<p>„Bereits vor Ausbruch des aktuellen Konflikts vor fünf Jahren war Jemen das ärmste Land auf der Arabischen Halbinsel und im weltweiten·Vergleich einer der am wenigsten entwickelten Staaten. Die Verfügbarkeit von Lebensmitteln ist in Aden gegeben und im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ gut. Jedoch sind diese in ganz Jemen für viele nicht oder nur sehr eingeschränkt bezahlbar. Die Wasser- und Stromversorgung fällt häufig aus, auch die medizinische Versorgung befindet sich auf dem Niveau eines armen Entwicklungslandes. Die Situation hat sich durch die Verbreitung von Covid-19, insbesondere in Aden, weiter verschärft. Humanitäre Hilfe spielt in allen Landesteilen eine große Rolle. Angesichts des politisch und geographisch bedingten leichteren Zugangs zu den südlichen Landesteilen Jemens und insbesondere der Region Aden, werden dort Bedürftige mit großer Wahrscheinlichkeit erreicht. In Jemen herrscht weit verbreitete Arbeitslosigkeit, auch in der Region Aden.</p>
<p>(…)</p>
<p>Allgemein gilt, dass sich der Arbeitsmarkt sowohl für ungelernte als auch für ausgebildete Arbeitskräfte schwierig darstellt. Soziale Sicherungssysteme bestehen nicht. Vielmehr ist es üblich, dass Arbeitslose innerhalb der Großfamilien finanziell aufgefangen und mitfinanziert werden. Zuverlässige Statistiken bzgl. der Arbeitslosenzahlen gibt es für Jemen nicht. Im Süden verdingen sich junge Männer, die keine Arbeit finden, häufig bei Milizen.“</p>
<p><rd nr="21"/>Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führte zur humanitären Lage in den „briefing notes“ vom 4. Juli 2022 aus:</p>
<p>„Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) hat am 26.06.22 bekannt gegeben, die Lebensmittelrationen in Jemen weiter reduzieren zu müssen. Für rd. fünf Mio. Personen werden nun weniger als 50% der empfohlenen täglichen Nahrungsmittelzufuhr bereitgestellt, weitere acht Mio. Menschen erhalten ab sofort nur noch 25% der täglichen empfohlenen Ration. Als Grund gab das WFP u.a. die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sowie fehlende Finanzierung an. Bereits im Januar 2022 musste das WFP aufgrund unzureichender Finanzierung die Lebensmittelrationen in Jemen reduzieren (vgl. BN v. 03.01.22).“</p>
<p><rd nr="22"/>In den „briefing notes“ des Bundesamts vom 18. Juli 2022 heißt es weiter:</p>
<p>„Am 15.07.22 teilte Hossam Elsharkawi, Regionaldirektor der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), mit, dass sich die humanitäre Situation seit dem Waffenstillstand nicht verbessert habe. Dies liege vor allem an den gestiegenen Preisen für Lebensmittel, welche durch den Krieg in der Ukraine verursacht werden. Er machte in diesem Zusammenhang auch auf die vulnerable Lage von Kindern aufmerksam, welche zum Teil bereits aufgrund von Mangelernährung sterben. Zudem wies er auf die aktuelle Problematik von verunreinigtem Trinkwasser hin; dies sei seit einigen Wochen eines der Hauptprobleme in Jemen.“</p>
<p><rd nr="23"/>Ausgehend von diesen schlechten humanitären Bedingungen kann der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Lebensverhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK beanspruchen. Dabei geht das Gericht zwar nicht davon aus, dass derzeit für jeden alleinstehenden jungen Mann eine Rückkehr in den Jemen zwangsläufig aus humanitären Gründen ausgeschlossen ist. Im Einzelfall des Klägers ist jedoch zum einen zu berücksichtigen, dass die tatsächlichen Chancen für ihn, eine zur Finanzierung seines Existenzminimums auskömmliche (Gelegenheits-)Arbeit zu finden, als sehr schlecht einzustufen sind. Zu den bereits allgemein schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt tritt nämlich hinzu, dass der Kläger an einer Ellenbogenverletzung leidet, die er sich nach seiner ärztlicherseits nicht in Zweifel gezogenen Einlassung aufgrund von Splittern infolge eines Luftangriffs in der Nähe seiner Wohnung zugezogen hat und aufgrund derer er seinen linken Arm nur stark eingeschränkt - etwa nicht bis zum Mund - bewegen kann (vgl. Schreiben des Krankenhauses … … vom 18. und vom 19.1.2022), weshalb insbesondere eine Vielzahl an körperlichen (Gelegenheits-)Arbeiten für den Kläger von vornherein nicht in Betracht kommen. So ist ihm nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung etwa seine früher - sporadisch - ausgeübte Tätigkeit als Mofa-Taxifahrer nicht mehr möglich. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass er in seinem Heimatland seine Ehefrau zu versorgen hat und im Anschluss an seine neunjährige Schulausbildung kaum berufstätig gewesen ist. Seine wirtschaftliche Lage im Heimatland hat der Kläger als sehr schlecht beschrieben und bereits vor dem Bundesamt ausgeführt, dass manchmal weder Lebensmittel noch Strom und Wasser zur Verfügung standen. Der Kläger wäre in besonderem Maße - was auch anhand der Erkenntnismittel bestätigt wird - auf die Hilfe seiner Familie angewiesen, die nur noch teilweise im Jemen lebt. Nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung kann der Kläger eine solche Hilfe jedoch nicht erwarten. Sein Bruder, der in der Vergangenheit maßgeblich zum Lebensunterhalt beigetragen hat, lebt mittlerweile in Deutschland. Den im Jemen verbliebenen Verwandten gehe es - so führte der Kläger in der mündlichen Verhandlung näher aus - sehr schlecht; sie litten an Hunger und Ausfall der Infrastruktur. Zudem habe sein im Jemen verbliebener Bruder eine Behinderung und könne nichts Wesentliches zum Familienunterhalt beitragen. Da die wirtschaftliche Situation im Jemen landesweit vergleichbar schlecht ist, kann der Kläger auch nicht auf einen anderen Landesteil verwiesen werden (vgl. VG Leipzig, U.v. 26.1.2022 - 8 K 1880/19.A - unveröffentlicht), wo er erst recht keine ausreichende familiäre Unterstützung erwarten könnte. Die ihm im Ergebnis der Gesamtbetrachtung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohende Verelendung kann auch nicht durch denkbare Rückkehrhilfen kompensiert werden. Da im hiesigen Einzelfall somit ausreichende Anhaltspunkte für eine Verelendung und existenzielle Bedrohung des Klägers bestehen, ist von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auszugehen.</p>
<p><rd nr="24"/>2. Aus den genannten Gründen war der Klage in ihrem reduzierten Umfang stattzugeben und die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbots zu verpflichten.</p>
<p><rd nr="25"/>Die dieser Verpflichtung entgegenstehenden Ziffern 4 bis 6 des Ablehnungsbescheids des Bundesamts vom 28. April 2022 waren aufzuheben.</p>
<p><rd nr="26"/>Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.</p>
</div>
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Juli 2020 verpflichtet über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer auf das Gebiet der Podologie beschränkten Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird festgesetzt auf 10.000,00 €.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin begehrt die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis auf dem Gebiet der Podologie.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin ist staatlich geprüfte Podologin und übt diesen Beruf seit 2016 als Selbstständige aus. Mit Schreiben vom 11. März 2019 beantragte die Klägerin eine Heilpraktikererlaubnis beschränkt auf das Gebiet der Podologie und reichte mit dem Antrag umfangreiche Unterlagen ein. Der Beklagte hörte die Klägerin mit Schreiben vom 7. Mai 2020 zu der beabsichtigten Ablehnung ihres Antrages an. Mit Schreiben vom 25. Mai 2020 teilte die Klägerin im Rahmen ihrer Anhörung mit, dass nicht ausreichend gewürdigt worden sei, dass sie neben ihrer Zulassung zur Podologin zusätzlich über ein Zertifikat der Schule „Die Heilpraktiker Mentoren“ vom 27. Januar 2019 verfüge, wonach sie erfolgreich die Ausbildung „Heilpraktiker eingeschränkt auf den Bereich der Podologie“ mit 240 Zeitstunden und schriftlicher Prüfung abgeschlossen habe. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Juli 2020 den Antrag ab und setzte dafür Kosten (Gebühren und Auslagen) in Höhe von 143,13 € fest. Zur Begründung führt er an, dass das Heilpraktikergesetz für eine sektorale Heilpraktikererlaubnis keine Rechtsgrundlage biete. Nach dem Podologengesetz dürften Podologen im heilkundlichen Bereich nur nach ärztlicher Anleitung oder aufgrund ärztlicher Veranlassung tätig werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Erlaubniserteilung bei Physiotherapeuten könne insoweit nicht auf den Bereich der Podologie übertragen werden. Es liege folglich ein Versagungsgrund gemäß § 2 Abs. 1 i) der „Ersten Durchführungsverordnung für die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde (Heilpraktikergesetz)“ (DVO-HeilprG) vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Am 17. August 2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Die Ablehnung der Erteilung der Heilpraktikererlaubnis ohne vorherige Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten sei rechtswidrig und verletzte sie in ihren Rechten. Ihr stehe ein Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis zu. In dem von ihr besuchten Lehrgang an der Schule „Die Heilpraktiker Mentoren“ seien ihr insbesondere Kenntnisse in der Rechts- und Berufsheilkunde, in der Diagnostik, in Anamnese- und Untersuchungstechniken in der Praxis sowie Kenntnisse über Symptome, Differenzialdiagnosen und Komplikationen, Kenntnisse über Erkrankungen und deren Ursache sowie lebensrettende Sofortmaßnahmen nähergebracht worden. Die Verwaltungsbehörden in anderen Bundesländern würden eine sektorale Heilpraktikererlaubnis auf dem Gebiet der Podologie erteilen. Für den Beruf des Physiotherapeuten habe das Bundesverwaltungsgericht bereits festgestellt, dass die Heilpraktikererlaubnis teilbar sei. Der Bereich der Podologie sei hinreichend ausdifferenziert und abgrenzbar, so dass sich eine Abgrenzung der beabsichtigten beschränkten Heilbehandlung von einer uneingeschränkten Heilpraktikertätigkeit durchführen lasse.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin verweist auf ein Urteil des VG Gera aus dem Jahr 2014 (Az. 3 K 705/14 Ge), mit dem der Saale-Orla-Kreis verpflichtet wurde, die klagende Podologin zur sektoralen Heilpraktikertätigkeit zuzulassen. Das OVG Weimar habe in der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2019 in dem Berufungsverfahren (Az. 3 KO 194/15) die Rechtsauffassung des VG Gera bestätigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Juli 2020 zu verpflichten, über ihren Antrag auf Erteilung einer auf das Gebiet der Podologie beschränkten Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung trägt der Beklagte vor, dass gemäß § 1 Abs. 1 Heilpraktikergesetz (HeilprG) der Erlaubnis bedarf, wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben will. Auf die Erlaubnis bestehe ein Rechtsanspruch, wenn kein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 DVO-HeilprG eingreife. Gemäß § 2 Abs. 1 i) DVO-HeilprG ist die Erlaubnis nicht zu erteilen, wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt, die auf der Grundlage von Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern durchgeführt wurde, ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für die ihn aufsuchenden Patientinnen und Patienten bedeuten würde. Dieser Versagungsgrund greife im vorliegenden Fall. Für eine sektorale Heilpraktikererlaubnis auf dem Gebiet der Podologie mangele es an einer gesetzlichen Grundlage sowie höchstrichterlicher Rechtsprechung, die ersatzweise an die Stelle der gesetzlichen Grundlage treten könne. Für eine entsprechende Anwendung der zu dem Bereich der Physiotherapie ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fehle es an der Vergleichbarkeit der Berufe, insbesondere im Hinblick auf deren selbstständige Ausübung. Podologen könnten gemäß § 3 des Gesetzes über den Beruf der Podologin und des Podologen (Podologengesetz - PodG) im kosmetischen Bereich ausdrücklich selbstständig tätig werden, während im heilkundlichen Bereich ausdrücklich eine ärztliche Anleitung oder Veranlassung vorgeschrieben sei. Eine eigenverantwortliche Ausübung im heilkundlichen Bereich habe der Gesetzgeber im Berufsrecht ausdrücklich nicht ausgestaltet. In § 8 des Gesetzes über die Berufe in der Physiotherapie (Masseur- und Physio-therapeutengesetz - MPhG), der vom Bundesverwaltungsgericht für die Physiotherapie als Rechtsgrundlage herangezogen wurde, fehle es an derartigen Einschränkungen. Außerdem habe das Bundesverwaltungsgericht weitestgehend fachliche Argumente aus dem Bereich der Physiotherapie zu Grunde gelegt, die auf den Bereich der Podologie nicht übertragbar seien. Eine Übertragung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Bereich der Physiotherapie auf den Bereich der Podologie verbiete sich schon vor dem Hintergrund der fachlichen Besonderheiten und der Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber es für erforderlich gehalten habe, mit dem MPhG und dem PodG für jede Tätigkeit ein eigenes Berufsgesetz zu schaffen. Zudem sei zu berücksichtigen, dass aufgrund der nach dem Podologengesetz für die Ausübung der Podologie teilweise zulässigen selbstständigen beruflichen Tätigkeit, eine das gesamte Gebiet umfassende sektorale Erlaubnis ohnehin nicht erteilt werden könne, weil davon auch erlaubnisfreie Tätigkeiten umfasst würden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung über den Antrag auf Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis ist zulässig, insbesondere besteht ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin. Sie begehrt mit der Erteilung einer Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz eine Erweiterung des ihr bislang zugesprochenen Rechtskreises (vgl. VGH BW, Urt. v. 19. März 2009 - 9 S 1413/08 -, juris Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die Klage ist auch begründet. Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 14. Juli 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>I. Der Klägerin steht ein Anspruch auf erneute Entscheidung über ihren Antrag auf Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis für den Bereich der Podologie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu, § 113 Abs. 5 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>§ 1 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 HeilprG vom 17. Februar 1939 (in der im BGBl. III, Gliederungsnummer 2122-2, veröffentlichten bereinigten Fassung), in Verbindung mit der 1. DVO-HeilprG vom 18.2.1939 (in der im BGBl. III, Gliederungsnummer 2122-2-1, veröffentlichten bereinigten Fassung), jeweils zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2016, bilden die Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.02.2021 – 3 C 17/19 -, juris). Danach bedarf der Erlaubnis, wer die Heilkunde ausüben will, ohne als Arzt bestallt zu sein. Auf die Erteilung der Erlaubnis besteht ein Rechtsanspruch, wenn kein - rechtsstaatlich unbedenklicher - Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 der 1. DVO-HeilprG eingreift (vgl. stRspr. BVerwG, Urt. v. 26.08.2009 – 3 C 19.08 - und vom 10.10.2019 – 3 C 15.17 -, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte hat die Möglichkeit der Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis von vornherein verneint, so dass die gemäß § 2 Abs. 1 Buchstabe i) DVO-HeilprG erforderliche Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin noch nicht vorgenommen worden ist. Demnach ist die Sache nicht spruchreif und der Beklagte kann nur zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet werden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die von der Klägerin beabsichtigte Anwendung podologischer Behandlungsmethoden ohne ärztliche Verordnung ist eine heilkundliche Tätigkeit, die ohne Erlaubnis nicht ausgeübt werden darf (1.). Die Zuerkennung einer sektoral beschränkten Heilpraktikererlaubnis in Bezug auf das Gebiet der Podologie ist zulässig (2.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>1. Die podologische Behandlung, welche die Klägerin ohne ärztliche Verordnung durchführen will, stellt eine Heilbehandlung dar. Denn die Behandlung setzt medizinische Fachkenntnisse voraus und ist mit Gesundheitsrisiken verbunden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Ausübung der Heilkunde ist gemäß § 1 Abs. 2 HeilprG jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird. Der Begriff Feststellung erfasst alle Tätigkeiten, die die Entscheidung über das Vorliegen einer Krankheit ermöglichen sollen, also insbesondere Untersuchungen und Befunderhebungen. Heilung ist die vollständige Behebung des anormalen Zustands. Unter Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden ist die nicht unerhebliche Verbesserung des Zustandes in Richtung auf das Normale zu verstehen. Erforderlich ist, dass ein Bezug zu einem individuellen Krankheitsfall hergestellt wird, nur ganz allgemein gehaltene Ratschläge fallen hingegen nicht unter die Begriffe Feststellung, Heilung oder Linderung. Der Begriff Krankheit ist weit auszulegen und umfasst jede, auch nur unerhebliche oder vorübergehende Störung der normalen Beschaffenheit oder Tätigkeit des Körpers, die geheilt oder gelindert werden kann. Leiden sind lang anhaltende, häufig kaum oder nicht mehr therapeutisch beeinflussbare Funktionsstörungen, weshalb auch die Behandlung unheilbar Kranker Ausübung der Heilkunde ist. Unter Körperschäden sind alle grundsätzlich irreparablen, nicht krankhaften Veränderungen des Zustands oder der Funktion des Körpers, einzelner Organe oder Organteile zu verstehen (vgl. Schelling, in Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 1 HeilprG, Rn. 8). Wegen der mit dem Erlaubniszwang verbundenen Beschränkung der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ist der Begriff der Heilkunde verfassungskonform auszulegen. So fallen darunter nur solche Heilbehandlungen, die heilkundliche Fachkenntnisse erfordern und gesundheitliche Schäden verursachen können, wobei ein nur geringfügiges Gefährdungspotential nicht ausreicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.08.2010 – 3 C 28.09 -, juris Rn. 18). Ob Heilkunde ausgeübt wird oder nicht, beurteilt sich nach objektiven Maßstäben (vgl. Schelling, in Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 1 HeilprG, Rn.15).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>a) Die eigenverantwortliche Anwendung podologischer Methoden zur Krankenbehandlung ist danach Ausübung der Heilkunde, da heilkundliche Fachkenntnisse vorausgesetzt werden. Zur Bestimmung des Berufsbildes des Podologen ist vorrangig auf die Fixierung im Gesetz über den Beruf des Podologen, welches erstmalig 2002 in Kraft getreten ist, abzustellen. Die Podologie ist ein neues Berufsbild, welches sich in Deutschland erst nach dem Inkrafttreten des Heilpraktikergesetzes entwickelt hat. In dem Gesetzesentwurf (BT-Drs. 14/5593) heißt es zur Zielsetzung, dass mit dem neuen Beruf des Podologen, der die Qualität der Ausbildung sicherstellt, an die Seite der Ärzte ein qualifizierter Podologe gestellt werden soll, der wichtige Aufgaben in der Prävention, bei der Therapie und der Rehabilitation auf dem Gebiet der medizinischen Fußpflege übernehmen kann. Gemäß § 2 Abs. 1 PodG wird die Erlaubnis erteilt, wenn der Antragsteller 1. die vorgeschriebene Ausbildung abgeleistet und die staatliche Prüfung bestanden hat, 2. sich nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt, 3. nicht in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung des Berufs ungeeignet ist und 4. über die für die Ausübung der Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt. Die Ausbildungs- und Prüfungsanforderungen für den Beruf des Podologen zeigen, dass die Anwendung podologischer Behandlungsmethoden heilkundliche Fachkenntnisse erfordert. Der schriftliche Teil der Prüfung erstreckt sich gemäß § 5 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Podologinnen und Podologen (PodAPrV) auf die Fächergruppen Berufs-, Gesetzes- und Staatskunde; Psychologie/ Pädagogik/Soziologie; Anatomie; Physiologie; Allgemeine Krankheitslehre und Spezielle Krankheitslehre. Der mündliche Teil erstreckt sich gemäß § 6 PodAPrV auf die Fächer Theoretische Grundlagen der podologischen Behandlung, Spezielle Krankheitslehre, Arzneimittellehre, Material- und Warenkunde, Hygiene und Mikrobiologie. Der praktische Teil erstreckt sich gemäß § 7 PodAPrV auf die Fächer Podologische Behandlungsmaßnahmen (Der Prüfling hat unter Aufsicht an zwei Patientinnen oder Patienten nach vorheriger Befunderhebung eine podologische Behandlung durchzuführen. Dabei hat er sein Handeln zu erläutern und zu begründen sowie nachzuweisen, dass er seine Kenntnisse und Fertigkeiten am Patienten umsetzen kann) und Podologische Materialien und Hilfsmittel (Der Prüfling hat im Rahmen einer podologischen Behandlung am Patienten jeweils mindestens eine Nagelkorrekturmaßnahme sowie mindestens eine orthotische Korrekturmaßnahme durchzuführen. Dabei hat er sein Handeln zu erläutern und zu begründen.). Neben der Durchführung von fußpflegerischen Maßnahmen befähigt die Ausbildung demnach auch dazu, pathologische Veränderungen oder Symptome von Erkrankungen am Fuß, die eine ärztliche Abklärung erfordern, zu erkennen und medizinisch indizierte podologische Behandlungen durchzuführen. Es ergibt sich ein zeitlich und inhaltlich erheblicher Ausbildungsaufwand. Gemäß § 1 Abs. 1 PodAPrV umfasst die Ausbildung mindestens den in der Anlage 1 aufgeführten theoretischen und praktischen Unterricht von 2000 Stunden und die aufgeführte praktische Ausbildung von 1000 Stunden. Gemäß Anlage 4 (Fortbildung) zum Vertrag nach § 125 Absatz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) über die Versorgung mit Leistungen der Podologie und deren Vergütung vom 30.11.2020 sind Podologen verpflichtet, regelmäßig an Fortbildungen teilzunehmen. Dabei umfasst die Fortbildungsverpflichtung 48 Fortbildungspunkte in vier Jahren, wobei ein Fortbildungspunkt eine Unterrichtseinheit von 45 Minuten widerspiegelt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Vor dem Hintergrund des mit dem Heilkundebegriff verbundenen Zweckes, Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung abzuwehren, ist dieser grundsätzlich weit auszulegen. (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.10.2002 - 2 BvF 1/01 -, juris Rn. 170; VGH BW, Urt. v. 23.03.2017 – 9 S 1899/16 –, juris Rn. 44). Daher ändert sich an dem Heilkundecharakter der eigenverantwortlich ausgeübten Podologie auch dadurch nichts, dass zu ihrem Gebiet ebenso Methoden zählen, die für sich genommen keine ärztlichen oder heilkundlichen Fachkenntnisse voraussetzen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 10/17 -, juris Rn. 14). Die Einstufung der Podologie als Ausübung der Heilkunde im Sinne von § 1 Abs. 2 HeilprG verlangt nicht, dass jede Maßnahme aus dem podologischen Bereich für sich genommen heilkundliche Fachkenntnisse erfordert. Der Heilkundecharakter hängt auch nicht davon ab, dass der heilkundliche Anteil der Tätigkeit eine quantitative Schwelle überschreitet. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass dem heilkundliche Fachkenntnisse voraussetzenden Tätigkeitsbereich erhebliches Gewicht zukommt, weil er einen bedeutsamen Bestandteil der eigenverantwortlich ausgeübten Tätigkeit ausmacht (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 8/17 -, juris Rn. 15). Das Berufsbild des Podologen ist zwar nicht auf medizinisch indizierte podologische Behandlungen beschränkt. Neben Risikopatienten, wie z. B. Menschen mit einem diabetischen Fußsyndrom, kann jeder Mensch auch von allgemeinen fußpflegerischen Maßnahmen mit geeigneten Verfahren nach den anerkannten Regeln der Hygiene profitieren. Das in § 3 PodG beschriebene Ausbildungsziel macht aber deutlich, dass Tätigkeiten erfasst werden, welche als Heilbehandlungen einzustufen sind. Hinzu kommt eine sehr ausdifferenzierte Beschreibung podologischer Heilbehandlungen in der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1<br>PodAPrV (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 25.08.2016 – 7 K 1583/14 -, BeckRS 2016, 51362).Die eigenverantwortlich ausgeübte Podologie ist in erheblichem und damit ausreichendem Maß durch Methoden geprägt, die heilkundliche Fachkenntnisse voraussetzen. Dies ergibt sich vorliegend neben dem Podologengesetz aus der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Podologinnen und Podologen sowie der Heilmittelrichtlinie. Es ergeben sich auch keine Schwierigkeiten für die Bestimmung des Umfangs der erlaubten Heiltätigkeit daraus, dass zur podologischen Tätigkeit auch nicht-heilkundliche Verfahren und Behandlungsmethoden zählen. Denn podologische Maßnahmen, die keine Ausübung der Heilkunde darstellen, unterfallen nicht der Erlaubnispflicht des § 1 Abs. 1 HeilprG. Auf sie würde sich daher die sektorale Heilpraktikererlaubnis nicht erstrecken. Insoweit ergeben sich keine Unterschiede zur Erteilung einer unbeschränkten Erlaubnis. Erlaubnisgegenstand ist nach § 1 Abs. 1 und 2 HeilprG allein die erlaubnispflichtige heilkundliche Tätigkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 10/17 -, juris Rn. 32).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Bei der Podologie handelt es sich um ein gesetzlich vorgesehenes und durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses vorgegebenes Heilmittel (§ 124 Abs. 1 SGB V Heilmittel-Richtlinie vom 20.01.2011 / 19.05.2011, BAnz. 2011 Nr. 96, zuletzt geändert am 19.05.2016, BAnz. AT 10.08.2016 B2). Der Gemeinsame Bundesausschuss ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen in Deutschland (vgl. § 91 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Seine Richtlinien (§ 92 SGB V) haben den Charakter untergesetzlicher Normen und sind für alle gesetzlich Krankenversicherten und Akteure in der gesetzlichen Krankenversicherung rechtlich bindend. Angesichts dessen kommt auch der Heilmittel-Richtlinie eine berufsbildprägende Funktion zu (vgl. dazu VGH BW, Urt. v. 23.03.2017 – 9 S 1899/16 –, juris Rn. 42). In den §§ 27 bis 28b Heilmittelrichtlinie (HeilM-RL) sind wesentliche Behandlungsmethoden und Therapieformen der Podologie beschrieben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>b) Mit der eigenverantwortlichen Anwendung podologischer Methoden zur Krankenbehandlung ist die Gefahr nennenswerter gesundheitlicher Schäden verbunden. Zwar dürfte sich dies nicht ohne Weiteres aus dem Erfordernis ärztlicher oder heilkundlicher Fachkenntnisse herleiten lassen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind das Erfordernis ärztlicher oder heilkundlicher Fachkenntnisse einerseits und das der Gefahrenträchtigkeit andererseits stets kumulativ genannt worden. Es ist auch in der Sache keineswegs ausgeschlossen, dass bestimmte Behandlungen nur mit ärztlicher oder heilkundlicher Fachkenntnis ordnungsgemäß vorgenommen werden können, ohne dass beim Fehlen der Fachkenntnis nennenswerte Gefahren drohen (vgl. VGH BW, Urt. v. 23.03.2017 – 9 S 1899/16 –, juris Rn. 45).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Die Gefahrengeneigtheit der Podologie ist zu bejahen. Durch podologische Anwendungen können unmittelbar Gefahren hervorgerufen werden. Voraussetzung für ein nennenswertes Risiko ist, dass die Wahrscheinlichkeit einer Gesundheitsgefährdung nicht nur geringfügig ist (vgl. BVerwG, Urt v. 10.10. 2019 – 3 C 10/17 -, juris Rn. 17). Podologie umfasst präventive und kurative therapeutische Maßnahmen rund um den Fuß. Bei vorgeschädigten Patienten, die beispielsweise an Diabetes oder Hämophilie leiden, können bereits kleinste, oft unsichtbare, Mikroverletzungen zu ernsten medizinischen Problemen, z. B. Infektionen, führen. Auch die Übertragung gefährlicher Krankheiten wie Hepatitis C stellt eine Gefahr dar, die durch Desinfektion und Sterilisation von Behandlungsbesteck verhindert werden soll (vgl. etwa Informationen im Internet unter: Pediküre - Behandlung, Wirkung & Risiken | MedLexi.de - Risiken, Gefahren & Besonderheiten, abgerufen am: 25. Juli 2022). Zu den Aufgabenfeldern eines Podologen gehört auch die Behandlung von Diabetikern mit Folgeschäden am Fuß (Diabetisches Fußsyndrom – DFS) und von Patienten mit nachgewiesener Polyneuropathie an den Füßen. Polyneuropathie bezeichnet eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die auf vielfältige Ursachen zurückzuführen sein kann. Auch Diabetes mellitus kann verschiedene Komplikationen und Folgeerkrankungen nach sich ziehen. Behandlungsbedürftige Veränderungen am Fuß als Folge einer Diabeteserkrankung können zu Amputationen führen. In der BT-Drs. 14/5593 heißt es dazu auf Seite 8:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p><em>„Nach Schätzungen leiden zum Beispiel im Bereich der zahlenmäßig größten, von Fußveränderungen betroffenen Patientengruppe, das sind die rund vier bis sechs Millionen Diabeteserkrankten in Deutschland, ein Viertel an behandlungsbedürftigen Veränderungen am Fuß. Deren Folgen können bis zu Amputationen im Fußbereich führen. Die Zahl dieser Amputationen wäre nach Schätzungen durch podologische Maßnahmen, flankiert von gegebenenfalls erforderlichen orthopädieschuhtechnischen Maßnahmen, um mehr als 50 Prozent reduzierbar. Die St. Vincent-Deklaration der WHO, zu deren Zielen sich auch die Bundesregierung bekannt hat, stellte Diabetes mellitus als Volkskrankheit in Mitteleuropa und insbesondere Deutschland fest. Damit war Deutschland aufgefordert, binnen eines Zeitraumes von fünf Jahren die Anzahl diabetesbedingter Amputationen um die Hälfte zu reduzieren. Dennoch hat sich die Situation der Diabetiker bis heute nicht entscheidend verbessert; noch immer betreffen zwei Drittel aller in Deutschland durchgeführten Amputationen Diabetiker. Die diabetesgerechte Fußpflege durch fachkompetent ausgebildete Podologen ist daher ein Schritt, um die ausreichende und sachgerechte Versorgung der Diabetiker in Deutschland in einem Netz damit verbundener Maßnahmen, wie interdisziplinären Versorgungsnetzen, standardisierten Behandlungsvorgaben und strukturierten qualitätsgesicherten Schulungen zu verbessern.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p><em>„Nicht nur bei Diabetikern können unzureichend ausgebildete Behandler, die eine unsachgemäße Fußpflege unter mangelhaften hygienischen und apparativen Verhältnissen durchführen, zusätzliche Komplikationen hervorrufen. Auch sind in der Orthopädie und Dermatologie medizinische Fortschritte z. B. bezüglich der Neueinschätzung von Krankheiten gemacht worden, die bei unzureichender Berücksichtigung durch fehlende Selbsteinschätzung des Fußpflegers ein Gefahrenpotential für den Patienten darstellen können. Deswegen und zur Vermeidung zusätzlicher Behandlungskosten erscheint eine qualifizierte Fußpflege durch entsprechend ausgebildete Podologen unabdingbar. Dabei haben sich die neuen Erkenntnisse in der Hygiene und Mikrobiologie über Erregerbekämpfung und Resistenzstandards in der täglichen Arbeit niederzuschlagen. Bei der Beschreibung des Ausbildungsziels ist daher besonderer Wert auf die Betonung der anerkannten hygienischen Regeln gelegt worden, die während der Behandlung durch den Podologen einzuhalten sind.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Es ist davon auszugehen, dass insbesondere ältere Menschen podologische Behandlungen in Anspruch nehmen. Mithilfe von konservativen Behandlungsmaßnahmen durch einen Podologen sollen die in vielen Fällen unnötigen Operationen vermieden werden. Hier ist besonders das Anfertigen und Anpassen von podologischen Korrektur- und Hilfsmitteln, z. B. die Spangenbehandlung bei eingewachsenen Nägeln, zu nennen (vgl. BT-Drs. 14/5593, S. 9).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Überdies drohen bei der eigenverantwortlichen Anwendung podologischer Methoden zur Krankenbehandlung jedenfalls mittelbare Gefahren, weil ein Patient im Einzelfall davon absehen könnte, einen Arzt aufzusuchen, obwohl dies geboten wäre (vgl. zur Logopädie VGH BW, Urt. v. 23.03.2017 – 9 S 1899/16 –, juris Rn. 47). Im Falle einer (unerkannten) Neu- oder Wiedererkrankung könnten insbesondere frühere Patienten geneigt sein, statt eines Arztes einen selbstständig die Podologie ausübenden Behandler aufzusuchen, zu dem bereits eine länger dauernde Vertrauensbeziehung besteht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Die Erlaubnispflicht nach dem Heilpraktikergesetz entfällt nicht deshalb, weil die Klägerin ausgebildete Podologin ist. Die ihr nach dem Podologengesetz erteilte Erlaubnis berechtigt nicht zu Krankenbehandlungen ohne ärztliche Verordnung und somit nicht zur Ausübung der Heilkunde. Das Berufsrecht unterscheidet zwischen Heilberufen, die eigenverantwortlich körperliche oder seelische Leiden behandeln dürfen (Arzt, Zahnarzt, Psychotherapeut, Heilpraktiker), und den Heilhilfsberufen oder Gesundheitsfachberufen, die zur Krankenbehandlung grundsätzlich nur aufgrund ärztlicher Verordnung befugt sind. Das gesetzlich fixierte Berufsbild des Podologen zählt zu der zweiten Gruppe. In der BT-Drs. 14/5593 heißt es auf Seite 8 dazu: „Der Beruf der Podologin/des Podologen erfüllt die Anforderungen an einen anderen Heilberuf im Sinne des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 19 GG. Der Beruf ist – wie vergleichbare Gesundheitsfachberufe – durch die Arbeit am Patienten geprägt.“ Als Heilberufe im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG sind unter anderem Heilpraktiker, Physiotherapeuten, Logopäden und Psychotherapeuten anzusehen (vgl. BVerfG, Urt. v. 24. 10. 2002 - 2 BvF 1/01 -, NJW 2003, 41; Seiler, in: BeckOK Grundgesetz, Stand: Mai 2022, Art. 74 Rn. 71.1). Die Ausbildung ist gemäß § 3 PodG darauf ausgerichtet, unter ärztlicher Anleitung oder auf ärztliche Veranlassung medizinisch indizierte podologische Behandlungen durchzuführen und damit bei der Prävention, Therapie und Rehabilitation von Fußerkrankungen mitzuwirken. Aus § 27b HeilM-RL ergibt sich die Notwendigkeit einer ärztlichen Erstdiagnostik vor Verordnung einer Podologischen Therapie. Aus § 28a HeilM-RL ergibst sich, dass über die podologische Befunderhebung hinausgehende Diagnostik, die Wundversorgung und weitere Therapien, einschließlich konservativer oder invasiver Maßnahmen der Wundbehandlung (z. B. Anwendung lokaler Therapeutika, Eröffnung eitrigen Gewebes), für alle Stadien ärztliche Leistung bleiben. Auch für die Verordnung der Nagelspangenbehandlung prüft gemäß § 28 Abs. 4 S. 1 HeilM-RL ein Arzt mögliche Kontraindikationen. Deutlich wird die den Podologen durch das Berufsrecht gezogene Grenze zudem durch einen Vergleich mit der gesetzlichen Ausgestaltung des Berufsbildes der Psychotherapeuten. Diesen ist gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten (PsychThG) die Ausübung der Heilkunde im Bereich der Psychotherapie ausdrücklich erlaubt. Durch die Zulassung der Berufsausübung im Wege der Approbation wird die Gleichstellung mit den anderen Heilberufen dokumentiert, die die Versorgung der Patienten eigenverantwortlich wahrnehmen dürfen (BT-Drucks. 13/8035 S. 14 Nr. 7 und Nr. 8). Wenn der Gesetzgeber die Podologen ebenfalls zu einer eigenverantwortlichen Ausübung hätte berechtigen wollen, hätte er ihr Berufsrecht entsprechend ausgestaltet (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 26.08.2009 – 3 C 19.08 -, juris Rn. 14). Die Ausgestaltung eines Berufsbildes als Heilhilfsberuf bedeutet jedoch keine Sperre für eine eigenverantwortliche Tätigkeit in diesem Bereich auf Grundlage einer Heilpraktikererlaubnis (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 26.08.2009 – 3 C 19.08 -, juris Rn. 17). In § 1 Abs. 2 PodG sind lediglich die Voraussetzungen für das Führen der Berufsbezeichnung „Podologe/Podologin“ normiert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>2. Die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis für das Gebiet der Podologie ist zulässig. Da die Klägerin die Heilkunde i.S.d. § 1 Abs. 2 HeilprG, ohne als Arzt bestallt zu sein, bisher berufsmäßig nicht ausgeübt hat, kann ihr die Erlaubnis gemäß § 2 Abs. 1 HeilprG nur nach Maßgabe der gemäß § 7 HeilprG erlassenen DVO-HeilprG erteilt werden, wenn keine Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 DVO-HeilprG vorliegen. Gemäß § 2 Abs. 1 Buchstabe i) dieser Verordnung wird die Erlaubnis nicht erteilt, wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Volksgesundheit bedeuten würde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Die Heilpraktikererlaubnis ist anders als die einem Arzt mit der Approbation erteilte Heilbefugnis teilbar. Das Heilpraktikergesetz enthält weder dem Sinn noch dem Wortlaut nach ein Verbot der Erteilung einer inhaltlich beschränkten Erlaubnis. Bei Inkrafttreten des Gesetzes hat noch kein Bedürfnis für eine solche Beschränkung bestanden. Seitdem haben sich jedoch die Berufsbilder auf dem Sektor der Heilberufe in damals nicht vorhersehbarer Weise ausdifferenziert. Die Vorschriften des vorkonstitutionellen Heilpraktikergesetzes müssen daher im Lichte der Freiheit der Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 GG durch Auslegung an die gegenwärtigen Gegebenheiten angepasst werden. Danach ist eine uneingeschränkte Heilpraktikererlaubnis mit der Folge einer umfassenden Kenntnisüberprüfung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe i der 1. DVO-HeilprG zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Patienten nicht erforderlich und deshalb unverhältnismäßig, wenn ein Antragsteller die Heilkunde nur auf einem abgrenzbaren Gebiet ausüben will, dessen Tätigkeitsumfang hinreichend ausdifferenziert ist. In einem solchen Fall reicht es aus, eine auf dieses Gebiet beschränkte Erlaubnis zuzusprechen, solange sichergestellt ist, dass der Antragsteller die Grenzen seines Könnens kennt und beachtet (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.08.2009 – 3 C 19.08 -, juris Rn. 18; Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 15.17 -, juris Rn. 13; Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 10/17 -, juris Rn. 25).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Die für die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis erforderliche Ausdifferenziertheit und Abgrenzbarkeit des beantragten Tätigkeitssektors ist gegeben, wenn sich der Umfang der erlaubten Heiltätigkeit klar bestimmen und von anderen Bereichen der Heilkundeausübung abgrenzen lässt. In der Praxis dürfen keine Unklarheiten darüber bestehen, ob eine konkrete Behandlungsmaßnahme zu dem betreffenden Tätigkeitsgebiet zählt oder nicht (BVerwG, Urt. v. 26.08.2009 - 3 C 19.08 -, juris Rn. 19). Es muss eindeutig sein, welche Behandlungsmethoden und Therapieformen von dem Gebiet umfasst werden und zur Behandlung welcher Krankheiten, Leiden und Beschwerden sie eingesetzt werden. Die Zuerkennung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis ist daher nur möglich, soweit sich auf dem Gebiet der Heilkunde ein eigenständiges und abgrenzbares Berufsbild herausgebildet hat (BVerwG, Urt. v. 10. Oktober 2019 – 3 C 15.17 -, juris Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Es handelt sich bei der Podologie um einen hinreichend ausdifferenzierten und abgrenzbaren Bereich. Maßgeblich für die Frage der Teilbarkeit ist, ob sich aus dem allgemeinen Feld der Heilkunde abgrenzbare Teilbereiche ausdifferenziert haben (vgl. VGH BW, Urt. v. 19.03.2009 – 9 S 1413/08 -, BeckRS 2009, 32395 Rn. 46 f.). Da sich der Inhaber einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis gemäß § 5 HeilprG strafbar macht, wenn er Heilkunde außerhalb des ihm erlaubten Bereichs ausübt, muss er erkennen können, welche Tätigkeiten von der Erlaubnis gedeckt sind und wo seine Berechtigung endet (vgl. Kenntner: Vergabe von sektoralen Heilpraktikererlaubnissen nach Verwaltungsermessen, in NVwZ 2020, 438 (441)). In §§ 5 bis 7 PodAPrV sind die Ausbildungsinhalte ausführlich geregelt, mithin hinreichend ausdifferenziert. Zudem ergibt sich die Abgrenzbarkeit bereits aus der Bezeichnung Podologie, welche sich aus dem griechischen mit „Lehre am Fuß“ übersetzen lässt. Der Fuß stellt einen klar abgrenzbaren Bereich des Körpers dar. Insbesondere im Vergleich mit der Physiotherapie, welche eine ganzheitliche Behandlung des Bewegungsapparates beinhaltet, ist eine Abgrenzbarkeit vorliegend erst recht zu bejahen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 2 Abs. 2 DVO-HeilprG hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Länder „Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärtern nach § 2 des Heilpraktikergesetzes in Verbindung mit § 2 Absatz 1 Buchstabe i der Ersten Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz“ entwickelt. Die Leitlinien sollen dabei als Grundlage für die Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Heilpraktikeranwärters und damit als Grundlage für die Entscheidung dienen, ob die Ausübung der Heilkunde durch die betreffende Person eine Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung oder der sie aufsuchenden Patienten erwarten lässt. In der Leitlinie ist die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis vorgesehen, eine Beschränkung auf einzelne Gebiete enthält die Leitlinie nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Mit einem Runderlass vom 1. September 2018 hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung die Richtlinie zur Durchführung des Verfahrens zur Erteilung einer Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz (RdErl. d. MS v. 1. 9. 2018 - 405-41022/15 - VORIS 21064 -) erlassen. Unter Nr. 7 der Richtlinie zur Durchführung des Verfahrens zur Erteilung einer Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz in der Fassung vom 27. Juli 2020 ist die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis auf den Gebieten der Psychotherapie, Physiotherapie und Logopädie geregelt. Bei der Richtlinie handelt es sich um eine Verwaltungsvorschrift, der keine Außenwirkung zukommt. Insbesondere kann eine Verwaltungsvorschrift keine Berufsbeschränkung begründen und damit Art. 12 Abs. 1 GG entgegenstehen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Urt. v. 25.08.2016 – 7 K 1583/14 -, juris Rn. 92 f.) hat dazu ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><table class="Rsp">
<tr>
<th colspan="1" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">„<em>Die Verweigerung entsprechender Kenntnisüberprüfungen wirkt sich als Zulassungsbeschränkung zum Heilpraktikerberuf aus und beeinträchtigt den Schutzbereich des Grundrechts der Klägerin aus Art. 12 GG, ohne durch die Schranken des Grundrechts gedeckt zu sein. Ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit liegt hier vor, weil die Klägerin eine Tätigkeit aufgrund staatlicher Reglementierung nicht in der gewünschten Art und Weise ausüben kann. Sie darf mangels entsprechender sektoraler Heilpraktikererlaubnis keine eigenverantwortliche Heilbehandlung auf dem Gebiet der Podologie vornehmen. Die Gelegenheit zum Erwerb einer solchen Erlaubnis wird ihr rechtswidrig verweigert. Dieser Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 GG ist durch die Schranken des Grundrechts nicht gedeckt. Gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG ist hierfür eine gesetzliche Grundlage notwendig, welche den verfassungsrechtlichen Anforderungen an grundrechtsbeschränkende Gesetze genügt. An einem solchen, die Berufsfreiheit einschränkenden Gesetz fehlt es hier. Demgemäß muss das Gesundheitsamt der Beklagten Bewerbern um eine auf das Gebiet der Podologie beschränkte Heilpraktikererlaubnis Gelegenheit bieten, ihre diesbezüglichen Kenntnisse und Fähigkeiten darauf überprüfen zu lassen, ob eine Gefahr für die Volksgesundheit bestehen würde.“</em></p>
</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Der Großteil der anderen Bundesländer erteilt eine Heilpraktikererlaubnis beschränkt auf das Gebiet der Podologie. Es ist zutreffend, dass die Verwaltungsvorschriften anderer Bundesländer mangels Außenwirkung keine Verbindlichkeit entfalten. Jedoch handelt es sich bei dem Heilpraktikergesetz um Bundesrecht und es sind keine Gründe erkennbar, die bezogen auf Niedersachsen gegen die Zulässigkeit einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis auf dem Gebiet der Podologie sprechen würden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Die Entwicklung in der Rechtsprechung ist dahingehend zu beobachten, dass eine sek-torale Heilpraktikererlaubnis auf weiteren Gebieten für zulässig erachtet wird. So hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen aus den Jahren 2019 und 2021 geurteilt, dass die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis für die Gebiete Ergotherapie, Logopädie und Chiropraktik zulässig ist (BVerwG, Urt. v. 10.10.2019 3 C 10/17; Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 8/17; Urt. v. 25.02.2021 3 C 17/19). Dies lässt sich aufgrund der Unterschiede zu diesen Gebieten zwar nicht vollständig auf den Bereich der Podologie übertragen. Jedoch lässt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Tendenz zur Ausweitung der Möglichkeit der Erteilung von sektoralen Heilpraktikererlaubnissen auf weitere Gebiete erkennen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>In seinem Urteil vom 10. Oktober 2019 (Az. 3 C 15.17) lehnte das Bundesverwaltungsgericht eine sektorale Heilpraktikererlaubnis für das Gebiet der Osteopathie ab. Osteopathie und Podologie sind jedoch insoweit nicht vergleichbar, als dass kein eigenständiges Gesetz existiert, welches das Führen der Berufsbezeichnung „Osteopathin/ Osteopath“ regelt. Auch die osteopathische Ausbildung ist nicht einheitlich geregelt. Zudem geht die Osteopathie nach ihrem Selbstverständnis von einem ganzheitlichen Behandlungsansatz aus, so dass der Tätigkeitsumfang im Gegensatz zu dem der Podologie nicht eindeutig definiert und von anderen Behandlungsmethoden abgrenzbar ist. Ein weiterer Unterscheid besteht darin, dass es sich bei der Osteopathie anders als bei der Podologie nicht um ein gesetzlich vorgesehenes und durch die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses vorgegebenes Heilmittel handelt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Die Zuerkennung einer sektoralen Erlaubnis beruht darauf, dass sie eine systematische Unstimmigkeit abmildert, die sich ergibt, weil einerseits Berufsbilder mit erheblichen Qualifikationsanforderungen geschaffen werden und andererseits über das Heilpraktikergesetz die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Heilbehandlung allein aufgrund einer Kenntnisüberprüfung aufrechterhalten bleibt. Dem entspricht, die Zuerkennung einer sektoralen Erlaubnis an die Voraussetzung zu knüpfen, dass für den fraglichen Sektor ein gesetzlich bestimmtes Berufsbild vorliegt (BVerwG, Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 15.17 -, juris Rn. 21). Wie bereits ausgeführt, liegt für das Gebiet der Podologie durch das Podologengesetz sowie die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Podologinnen und Podologen ein solch gesetzlich bestimmtes Berufsbild vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Für den Umfang der nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe i) der DVO-HeilprG vorzunehmenden Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin gilt das Verhältnismäßigkeitsgebot. Von ihr dürfen nur solche Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden, die in Bezug zu der geplanten Heilkundetätigkeit stehen. Sie muss keine Kenntnisse und Fähigkeiten nachweisen, die sie für die beabsichtigte Tätigkeit nicht benötigt oder aufgrund ihrer Ausbildung ohnehin schon besitzt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.10.2019 – 3 C 10/17 -, juris Rn. 36). Die Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten kann beschränkt werden, wenn – wie im vorliegenden Fall – eine abgeschlossene Ausbildung in dem für die sektorale Heilpraktikererlaubnis einschlägigen bundesgesetzlich geregelten Heilberuf nachgewiesen werden kann. Es ist zu prüfen, ob und inwieweit die Kenntnisüberprüfung im Hinblick auf die durch die vorgelegte Urkunde sowie die vorgelegten Nachweise über absolvierte Zusatzausbildungen nachgewiesenen Qualifikationen entbehrlich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.01.1993 3 C 34/90 -, juris Rn. 32; Urt. v. 26.08.2009 – 3 C 19/08 -, juris Rn. 29). Auch nach Nr. 7 der Niedersächsischen Richtlinie zur Durchführung des Verfahrens zur Erteilung einer Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz kann die Überprüfung auf Kenntnisse und Fähigkeiten beschränkt werden, mit denen die antragstellende Person zeigt, dass sie in der Lage ist, die Lücke zwischen der vorhandenen Berufsqualifikation und der eigenverantwortlichen Ausübung von Heilkunde zu schließen, wenn sie über eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung verfügt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) erfolgt. Dabei hat sich die Kammer an Nr. 14.1 und Nr. 1.4 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ Beilage 2013, 57) orientiert. Danach ist für eine Berufsberechtigung der Jahresbetrag des erzielten oder erwarteten Gewinns, mindestens 15.000 €, in Ansatz zu bringen. Zu den erwarteten Mehreinnahmen hat die Klägerin nicht näher vorgetragen. Der Streitwert von 15.000 € ist um ein Drittel zu reduzieren, weil es der Klägerin um eine Neubescheidung geht.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006903&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
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346,365 | ovgni-2022-08-18-13-ps-15722 | {
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"slug": "ovgni",
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} | 13 PS 157/22 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-31T10:00:58 | 2022-10-17T11:09:36 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Entschädigung für die Teilnahme der ehrenamtlichen Richterin B. an den Sitzungen des 1. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts am … und am … wird auf insgesamt 495,60 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Das Verfahren ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p><strong>I.</strong> Die Festsetzung der Entschädigung der ehrenamtlichen Richterin durch den Senat beruht auf § 4 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen und Zeugen und Dritten (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz - JVEG -). Danach erfolgt die Festsetzung durch gerichtlichen Beschluss, wenn der Berechtigte oder die Staatskasse, hier der A. bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, die gerichtliche Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Zuständigkeit des 13. Senats ergibt sich aus § 4 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 JVEG in Verbindung mit der Geschäftsverteilung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und die Zuständigkeit des Senats anstelle des Einzelrichters aus § 4 Abs. 7 Satz 2 JVEG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Auf den danach statthaften und auch sonst zulässigen Antrag des Bezirksrevisors bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht vom 27. Mai 2022 ist für die Teilnahme der ehrenamtlichen Richterin B. an den Sitzungen des 1. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts am … und am … eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 495,60 EUR festzusetzen, die sich aus Tagegeld in Höhe von 28,00 EUR (1.), Entschädigung für Zeitversäumnis in Höhe von 140,00 EUR (2.) und Fahrtkostenersatz in Höhe von 327,60 EUR (3.) zusammensetzt. Eine Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung kann die ehrenamtliche Richterin hingegen nicht beanspruchen (4.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p><strong>1.</strong> Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung § 6 Abs. 1 JVEG erhält die ehrenamtliche Richterin, die innerhalb der Gemeinde, in der der Termin stattfindet, weder wohnt noch berufstätig ist, für die Zeit, während der sie aus Anlass der Wahrnehmung des Termins von ihrer Wohnung und ihrem Tätigkeitsmittelpunkt abwesend sein muss, ein <span style="text-decoration:underline">Tagegeld</span>, dessen Höhe sich nach der Verpflegungspauschale zur Abgeltung tatsächlich entstandener, beruflich veranlasster Mehraufwendungen im Inland nach dem Einkommensteuergesetz bemisst.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Ausgehend von den Abwesenheitszeiten der ehrenamtlichen Richterin (Sitzung am …: 6.30 Uhr bis 20.00 Uhr = 13,5 Stunden; Sitzung am …: 6.30 Uhr bis 17.30 Uhr = 11 Stunden) ist nach § 6 Abs. 1 JVEG in Verbindung mit § 9 Abs. 4a Satz 3 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für jeden der beiden Sitzungstage ein Tagegeld in Höhe 14,00 EUR, mithin insgesamt ein Tagegeld in Höhe von 28,00 EUR festzusetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p><strong>2.</strong> Die <span style="text-decoration:underline">Entschädigung für Zeitversäumnis</span> nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 in Verbindung mit § 16 JVG beträgt ausgehend von den zu I.1. genannten Zeiten und der Entschädigungsobergrenze des § 15 Abs. 2 JVEG (vgl. zu deren Anwendung: Toussaint, Kostenrecht, 52. Aufl. 2022, § 16 JVEG, Rn. 3) von zehn Stunden je Sitzungstag für jeden der beiden Sitzungstage 70,00 EUR (= 10 Stunden x 7,00 EUR/Stunde), insgesamt also 140,00 EUR.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p><strong>3.</strong> Der <span style="text-decoration:underline">Fahrtkostenersatz</span> nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 5 Abs. 2 Nr. 2 JVEG (0,42 EUR je gefahrenen Kilometer) beträgt bei jeweils 390 gefahrenen Kilometern zwischen dem Heimatort der ehrenamtlichen Richterin und dem Gerichtort einschließlich der Rückfahrt für jeden der beiden Sitzungstage 163,80 EUR, insgesamt also 327,60 EUR.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p><strong>4.</strong> Eine <span style="text-decoration:underline">Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung</span> nach § 15 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit § 17 JVEG kann die ehrenamtliche Richterin hingegen nicht beanspruchen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Ehrenamtliche Richterinnen, die einen eigenen Haushalt für mehrere Personen führen, erhalten nach § 17 Satz 1 JVEG neben der Entschädigung für Zeitversäumnis nach § 16 JVEG eine zusätzliche Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung von 17 EUR je Stunde, wenn sie nicht erwerbstätig sind oder wenn sie teilzeitbeschäftigt sind und außerhalb ihrer vereinbarten regelmäßigen täglichen Arbeitszeit herangezogen werden. Ehrenamtliche Richterinnen, die ein Erwerbsersatzeinkommen beziehen, stehen nach § 17 Satz 2 JVEG erwerbstätigen ehrenamtlichen Richterinnen gleich. Die letztgenannte, durch Art. 7 Nr. 13 Buchst. b des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz) vom 23. Juli 2013 (BGBl. I S. 2586) eingefügte Regelung stellt klar (vgl. zur bis dahin geltenden Rechtslage bereits: KG, Beschl. v. 16.8.2010 - 1 Ws 135/10 -, NStZ 2011, 240 - juris Rn. 3 m.w.N.), dass Bezieherinnen von Erwerbsersatzeinkommen rechtlich als erwerbstätige ehrenamtliche Richterinnen anzusehen sind und deshalb die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 17 Satz 1 JVEG für die Gewährung einer Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung nicht erfüllen. <em>"Erwerbsersatzeinkommen"</em> im Sinne des § 17 Satz 2 JVEG ist nach dem Willen des Gesetzgebers beispielsweise der Bezug einer Rente (so ausdrücklich Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz), BT-Drs. 17/11471 (neu), S. 325; vgl. dahingehend auch die Legaldefinition des § 18a Abs. 3 Satz 1 Nrn. 2 ff. SGB IV sowie OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.4.2014 - 14 AR 5/13 -, NVwZ-RR 2014, 708 - juris Rn. 2 ff.; Schneider, JVEG, 4. Aufl. 2021, § 17 Rn. 6). Da die 1947 geborene Antragstellerin im Zeitpunkt der Heranziehung als ehrenamtliche Richterin an beiden hier maßgeblichen Sitzungstagen eine Rente bezogen hat, ist sie folglich von der Gewährung einer Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung nach § 15 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit § 17 JVEG ausgeschlossen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Damit beträgt der Gesamtbetrag der festzusetzenden Entschädigung 495,60 EUR.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die vorherigen - und hinsichtlich der Festsetzung einer Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung nach § 15 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit § 17 JVEG fehlerhaften - Anweisungen durch den Kostenbeamten vom … und vom … werden durch diese Entscheidung gegenstandslos (vgl. Jahnke/Pflüger, JVEG, 28. Aufl. 2021, § 4 Rn. 1). Ein etwaiges Vertrauen der ehrenamtlichen Richterin in die Richtigkeit und den Fortbestand der fehlerhaften Anweisungen ist hier - trotz ihres fraglos fehlenden persönlichen Verschuldens und der offenbar mangelnden Anleitung und Schulung des Kostenbeamten durch die Gerichtsverwaltung - nicht von solchem Gewicht, dass es einer Festsetzung durch den Senat zu Lasten der ehrenamtlichen Richterin entgegenstehen würde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p><strong>II.</strong> Nach § 4 Abs. 8 JVEG ist das Verfahren gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006902&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
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346,341 | lg-munchen-ii-2022-08-18-7-o-1397721 | {
"id": 268,
"name": "Landgericht München II",
"slug": "lg-munchen-ii",
"city": 188,
"state": 4,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 7 O 13977/21 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-27T10:01:49 | 2022-10-17T11:09:34 | Endurteil | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>I. Die Beklagte wird verurteilt,</p>
<p>1. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagte)</p>
<p>in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Juli 2019</p>
<p>ein Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2), die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind,</p>
<p>angewendet oder zur Anwendung angeboten hat,</p>
<p>wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>- Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>- Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 15)</p>
<p>nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ mit mindestens drei Teilnehmern oder kerngleiche Dienste und zwar unter Angabe</p>
<table border="0" rules="none" class="cals framenone">
<colgroup>
<col/>
</colgroup>
<tbody>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1">
<p>a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,</p>
<p/>
</td></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="bottom">
<p>b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der</p>
<p/>
</td></tr>
</tbody>
</table>
<p>c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,</p>
<p>2. der Klägerin darüber Rechnung zu legen ist, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 3. August 2019 begangen hat, und zwar unter Angabe:</p>
<p>a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, - preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,</p>
<p>b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, - preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,</p>
<p>c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet sowie bei Internetwerbung der Internetadressen, der Schaltungszeiträume und der Zugriffszahlen,</p>
<p>d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,</p>
<p>wobei der Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflicht, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob eine bestimmte Lieferung oder ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist.</p>
<p>II.Es wird festgestellt, dass die Beklagte – als Gesamtschuldner neben den in Verfahren 7 O 10638/21 verurteilten Beklagten C International Limited und C Inc. – verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin und den vormaligen Inhabern des Klagepatents durch die zu I.1 bezeichneten seit dem 3. August 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.</p>
<p>III.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>IV.Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.</p>
<p>V.Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von</p>
<p>-einheitlich 25.000,00 € für Ziffern I.1 und I.2</p>
<p>-110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages für Ziffer IV.</p>
<p>Streitwert</p>
<p>Der Streitwert wird endgültig auf 83.400,00 € festgesetzt. </p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents EP 414 B1, Anlage K1, (im Folgenden: Klagepatent) und nimmt die Beklagte wegen unmittelbarer Patentverletzung in Anspruch.</p>
<p><rd nr="2"/>Das Klagepatent wurde am 25. Mai 2010 angemeldet und nimmt Prioritäten der europäischen Anmeldungen …930 mit Priorität vom 22. Mai 2009, …329 mit Priorität vom 28. Oktober 2009 und …966 mit Priorität vom 18. Dezember 2009 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents wurde am 3. Juli 2019 vom Europäischen Patentamt veröffentlicht. Die eingetragenen Patentansprüche 1 und 15 des Klagepatents lauten im englischen Original wie folgt:</p>
<p>„1. A system (40, 50) for identifying proximate devices (1, 2) arranged for detecting a sensory identifier (ID) and transmitting request messages (RQ1, RQ2) comprising representations of the detected sensory identifier, the system comprising:</p>
<p>- means for correlating representations of the detected sensory identifiers from the request messages received from the devices (1, 2) so as to match two or more of those devices, and</p>
<p>- means for carrying out an application involving devices that have been matched by said means for correlating representations, wherein said means for correlating are at least one correlation server (5) and said means for carrying out the application are at least one application server (6), the at least one correlation server (5) and the at least one application server (6) being distinct servers, wherein the proximate devices (1, 2) are arranged to include, in the request messages (RQ1, RQ2), an indication of an application to be executed, the at least one correlation server (5) being configured to compare the applications indicated by the request messages, and causing a transmitter (88) to transmit the match message based on the match to an application server identified by the matching indications of the application in the matched request messages.</p>
<p>15. A method of identifying proximate devices (1, 2) arranged for detecting a sensory identifier (ID) and transmitting request messages (RQ1, RQ2) comprising representations of the detected sensory identifier, the method comprising the steps of:</p>
<p>- correlating representations of the detected sensory identifiers from the request messages received from the devices (1, 2) so as to match two or more of those devices, and</p>
<p>- carrying out an application involving matching devices, wherein said matching is performed by at least one correlation server (5) and said carrying out the application is performed by at least one application server (6) the at least one correlation server (5) and the at least one application server (6) being distinct servers, the least one correlation server (5) comparing applications indicated by the request messages, the least one correlation server (5) transmitting the match message to an application server identified by the matching of the application in the matched request messages.“</p>
<p><rd nr="3"/>Wegen der weiteren Details wird auf die Patentschrift verwiesen.</p>
<p><rd nr="4"/>Die Klägerin greift die „Buddy Multiplayer Session“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ an. Die Muttergesellschaft der Beklagten, die C Inc. ist die Entwicklerin der App „K “ und bietet die App in der Bundesrepublik Deutschland zum Herunterladen an. Die Nutzer der App „K “ schließen mit der C International Ltd. Nutzungsbedingungen für die Nutzung der App ab. Die Beklagte zu 1) unterstützt die C Inc. und die C International Ltd. bei der Entwicklung der Software, im Kundensupport und im Marketing.</p>
<p><rd nr="5"/>Die Klägerin meint, die angegriffene Ausführungsform mache von der Lehre des Klagepatents gebrauch, weil die angegriffene Ausführungsform eine geteilte AugmentedReality-Erfahrung (nachfolgend: geteilte AR-Erfahrung oder Shared AR-Experience) ermögliche, in dessen Rahmen bis zu drei Spieler ein gemeinsames AR-Erlebnis ermöglicht werde. Dabei sende - insoweit unstreitig - der die Shared AR-Experience erstellende Spieler („Host:Client“) eine Anfrage an den Player Frontend Server (nachfolgend: PLFE). Dieser setze eine Buddy Multiplayer-Session auf und übermittele an den Host:Client einen verschlüsselten Token (nachfolgend: ARBE-Token) und eine Session ID, mittels UUID (=Universally Unique Identifier). Anschließend übermittele der Host:Client den ARBE-Token an den Augmented Reality Backend Server (nachfolgend: ARBE) und generiere, basierend auf dem empfangenen UUID, einen QR-Code, der eine Abbildung der UUID darstelle. Spieler, die an der Buddy Multiplayer Session teilnehmen möchten („Peer:Clients“), scannten den auf dem mobilen Endgerät des Host:Client dargestellten QR-Code mit ihren Endgeräten und erhielten so die UUID, die sie mittels einer Anfrage an den PLFE sendeten. Vom PLFE erhielten die Peer:Clients den ARBE-Token, den sie an den ARBE übermittelten, um sodann zur Buddy Multiplayer Session zu gelangen.</p>
<p><rd nr="6"/>Zum besseren Verständnis, wird nachfolgend die von der Beklagten vorgelegte Grafik zur Funktionsweise der angegriffenen Ausführungsform eingeblendet:</p>
<p><img src="BayBuergerServiceRS_2022_21264-1-de.jpeg" alt=""/></p>
<p><rd nr="7"/>Die Klägerin trägt vor, ursprüngliche Anmelderin und Inhaberin des Klagepatents sei die E. gewesen. Diese habe gemäß Verpflichtungs- und Übertragungsvertrag vom 25. Februar 2020 mit der T. das Klagepatent mit allen Rechten und Pflichten, einschließlich der Ansprüche auf Schadensersatz, Auskunft und Rechnungslegung für die Vergangenheit, auf diese übertragen. Die T. wiederum habe das Klagepatent mit allen Rechten und Pflichten, einschließlich der Ansprüche auf Schadensersatz, Auskunft und Rechnungslegung für die Vergangenheit, gemäß Verpflichtungs- und Übertragungsvertrag, mit Wirkung zum 17. Juli 2020, auf die Klägerin übertragen.</p>
<p><rd nr="8"/>Nach Erweiterung der Klage um Hilfsanträge beantragt die Klägerin zuletzt:</p>
<p>I. Die Beklagte zu verurteilen,</p>
<p>1. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Juli 2019 a) ein System (40, 50) zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen (1, 2), die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind,</p>
<p>hergestellt, angeboten und/oder gebraucht haben,</p>
<p>wobei das System Folgendes umfasst:</p>
<p>- Mittel zum Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und;</p>
<p>- Mittel zum Ausführen einer Anwendung mit Vorrichtungen, die durch die Mittel zum Korrelieren von Darstellungen abgeglichen wurden,</p>
<p>wobei die Mittel zum Korrelieren mindestens ein Korrelationsserver (5) sind und die Mittel zum Ausführen der Anwendung mindestens ein Anwendungsserver (6) sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind, wobei die benachbarten Vorrichtungen (1, 2) dazu eingerichtet sind, um in den Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) eine Angabe einer auszuführenden Anwendung zu enthalten, wobei der mindestens eine der Korrelationsserver (5) dazu konfiguriert ist, um die durch die Anfragemeldungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen, und bewirkt, dass ein Sender (88) die Abgleichsmeldung auf der Grundlage des Abgleichs an einen Anwendungsserver sendet, der durch die abgleichenden Angaben der Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen identifiziert wird;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 1) insbesondere wenn,</p>
<p>der mindestens eine Anwendungsserver (6) dazu eingerichtet ist, direkt mit den Vorrichtungen (1, 2) zu kommunizieren, mindestens nachdem er eine Abgleichsmeldung empfangen hat, die die Vorrichtungen auf Grundlage des Erfassens dieser Korrelation vom Korrelationsserver angibt;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 6) nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste;</p>
<p>b) ein Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2), die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind, angewendet oder zur Anwendung angeboten haben,</p>
<p>wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>- Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und - Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen, wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird und das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6), ausgeführt wird, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) unterschiedliche Server sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen identifizierten Anwendungsserver die Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen sendet;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 15) nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste und zwar unter Angabe</p>
<p>a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,</p>
<p>b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,</p>
<p>c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,</p>
<p>wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;</p>
<p>2. Hilfsweise für den Fall der Klageabweisung des Systemanspruchs (Klageantrag I.1.a))</p>
<p>der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Juli 2019 a) ein System (40, 50) zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen (1, 2), hergestellt, angeboten und/oder gebraucht haben, wobei das System Folgendes umfasst:</p>
<p>- die Vorrichtungen, die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind;</p>
<p>- Mittel zum Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und;</p>
<p>- Mittel zum Ausführen einer Anwendung mit Vorrichtungen, die durch die Mittel zum Korrelieren von Darstellungen abgeglichen wurden,</p>
<p>wobei die Mittel zum Korrelieren mindestens ein Korrelationsserver (5) sind und die Mittel zum Ausführen der Anwendung mindestens ein Anwendungsserver (6) sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind, wobei die benachbarten Vorrichtungen (1, 2) dazu eingerichtet sind, um in den Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) eine Angabe einer auszuführenden Anwendung zu enthalten, wobei der mindestens eine der Korrelationsserver (5) dazu konfiguriert ist, um die durch die Anfragemeldungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen, und bewirkt, dass ein Sender (88) die Abgleichsmeldung auf der Grundlage des Abgleichs an einen Anwendungsserver sendet, der durch die abgleichenden Angaben der Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen identifiziert wird;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 1) insbesondere wenn,</p>
<p>der mindestens eine Anwendungsserver (6) dazu eingerichtet ist, direkt mit den Vorrichtungen (1, 2) zu kommunizieren, mindestens nachdem er eine Abgleichsmeldung empfangen hat, die die Vorrichtungen auf Grundlage des Erfassens dieser Korrelation vom Korrelationsserver angibt;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 6) nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste;</p>
<p>b) ein Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2), angewendet oder zur Anwendung angeboten haben, wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>- Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) durch die Vorrichtungen und Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators durch die Vorrichtungen,</p>
<p>- Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>- Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird und das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6) ausgeführt wird, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) unterschiedliche Server sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen identifizierten Anwendungsserver die Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen sendet;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 15) nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste;</p>
<p>und zwar unter Angabe</p>
<p>a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,</p>
<p>b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,</p>
<p>c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,</p>
<p>wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;</p>
<p>3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen ist, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die zu Ziffer I.1, hilfsweise der zu Ziffer I.2 bezeichneten Handlungen seit dem 3. August 2019 begangen haben, und zwar unter Angabe:</p>
<p>a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,</p>
<p>b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,</p>
<p>c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet sowie bei Internetwerbung der Internetadressen, der Schaltungszeiträume und der Zugriffszahlen,</p>
<p>d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,</p>
<p>wobei den Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob eine bestimmte Lieferung oder ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;</p>
<p>II. Festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu I.1 bezeichneten, hilfsweise der ihr durch die zu I.2. bezeichneten, seit dem 3. August 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird;</p>
<p>Die Beklagte hat beim Bundespatentgericht am 31. Januar 2022 eine Nichtigkeitsklage gegen das Klagepatent anhängig gemacht (Az. 5 Ni 2/22 (EP); Anlagenkonvolut B2).</p>
<p><rd nr="9"/>Die Beklagten stimmen einer etwaigen Klageänderung nicht zu und beantragen,</p>
<p>1. die Klage abzuweisen;</p>
<p>hilfsweise,</p>
<p>2. den Rechtsstreit bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung des Bundespatentgerichts über die Nichtigkeitsklage der C Deutschland GmbH vom 22.01.2022, Az. 5 Ni 2/22 (EP), gegen das Klagepatent ausgesetzt.</p>
<p><rd nr="10"/>Die Klägerin wendet sich gegen eine Aussetzung des Verfahrens.</p>
<p><rd nr="11"/>Die Beklagte bestreitet die Übertragung des Klagepatents mit Nichtwissen, da die Klägerin die Übertragungsverträge nicht vorgelegt habe.</p>
<p><rd nr="12"/>Die Beklagte stellt eine Patentbenutzung in Abrede, insbesondere vergleiche der PFLE nur die UUID und nicht eine Darstellung der sensorischen Identifikatoren und die durch die Anfragemeldung angezeigte Anwendung. Zudem vergleiche der PLFE die von einem Client empfangene UUID nicht mit einer anderen empfangenen UUID, sondern mit einer serverseitig generierten und gespeicherten UUID. Auch sende der PLFE die Abgleichsmeldung nicht - wie vom Klagepatent vorgesehen - direkt an den ARBE. Zudem handelt es sich beim PLFE und dem ARBE nicht um verschiedene („distinct“) Server.</p>
<p><rd nr="13"/>Zudem fehle es an einer inländischen Benutzungshandlung. Die für den MultiplayerModus erforderlichen Server (PFLE und ARBE) und befänden sich nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in den Vereinigten Staaten von Amerika. Soweit der Konzern der Beklagten Server in der Bundesrepublik Deutschland nutzte, stellten diese keine für die Durchführung der angegriffenen Ausführungsform erforderliche Spielelogik bereit.</p>
<p><rd nr="14"/>Die Beklagte ist der Ansicht, dass es sich bei der Merkmalsgruppe 1 der eingetragenen Ansprüche 1 und 15, die sich auf die benachbarten Vorrichtungen beziehe, um eine Zweckangabe handele. Es sei daher ausreichend, dass das System (Anspruch 1) dazu eingerichtet sei, entsprechende Anfragemeldungen von Vorrichtungen, die Darstellungen eines sensorischen Identifikators und die Angabe einer auszuführenden Anwendung enthielten, empfangen zu können.</p>
<p><rd nr="15"/>Im Übrigen sei das Klagepatent offensichtlich nicht rechtsbeständig. Mangels Neuheit fehle die Patentfähigkeit, insbesondere gegenüber den Entgegenhaltungen D1 und D 2. Zudem beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.</p>
<p><rd nr="16"/>Dieses Verfahren wurde mit Beschluss vom 19.10.2021 aus dem Verfahren 7O 10368/21, das ursprünglich sowohl gegen die Beklagte als auch gegen die C International Limited und C Inc. geführt wurde, abgetrennt.</p>
<p><rd nr="17"/>Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf sämtliche Schriftsätze nebst Anlagen sowie alle gerichtlichen Verfügungen, Beschlüsse und Protokolle Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="18"/>Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Das Verfahren ist nicht auszusetzen.</p>
<p>A.</p>
<p><rd nr="19"/>Die Klage ist zulässig. Das Landgericht München I ist zuständig. Der Schadensersatzfeststellungsantrag ist zulässig. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, § 256 Abs. 1 ZPO. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte ist vor Erteilung der Auskunft noch nicht bezifferbar.</p>
<p>B.</p>
<p><rd nr="20"/>Der von der Klägerin gestellte Klageantrag zu Ziffer II. ist dahingehend auszulegen, dass sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr den Schaden zu ersetzten, der ihr bzw. den vormaligen Inhabern des Klagepatents entstanden ist.</p>
<p><rd nr="21"/>Anträge der Parteien sind als Prozesshandlungen der Auslegung fähig. Die zur Auslegung materiellrechtlicher Rechtsgeschäfte entwickelten Regeln sind entsprechend heranzuziehen. Danach kann nicht der bloße Wortlaut des Antrags entscheidend sein, sondern der durch ihn verkörperte Wille. Es ist dementsprechend nicht nur darauf zu abzustellen, ob der Antrag für sich allein betrachtet einen eindeutigen Sinn ergibt, sondern es ist auch die dem Antrag beigegebene Begründung zu beachten. Wie der Klageantrag zu verstehen ist, darf also nicht allein dem bloßen Wortlaut des Antrags entnommen werden, sondern hierfür ist auch die Sachverhaltsschilderung des Klägers maßgebend. Bei einer vom Gericht vorgenommenen Auslegung ist von dem Grundsatz auszugehen, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht.</p>
<p><rd nr="22"/>Danach ist der von der Klägerin gestellte Klageantrag II. dahingehend auszulegen, dass sie die Verpflichtung der Beklagte, ihr den Schaden zu ersetzten, der den jeweiligen Inhabern des Klagepatents entstanden ist, festgestellt wissen möchte. Zwar hat die Klägerin in dem Klageantrag beantragt, festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr entstanden ist. Zur Begründung des Schadensersatzanspruchs beruft sie sich jedoch auf die zwischen ihr und den vorherigen Inhabern des Klagepatents erfolgte Abtretung der streitgegenständlichen Ansprüche, so dass sie ihr Klagebegehren jedenfalls teilweise auf Ansprüche aus abgetretenem Recht stützt. Da dieses Klagebegehren - wohl versehentlich - keinen Niederschlag im Klageantrag gefunden hat, war der Antrag entsprechend auszulegen.</p>
<p>C.</p>
<p><rd nr="23"/>Die Klägerin ist als eingetragene Patentinhaberin aktivlegitimiert. Die Beklagte hat keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte aufgezeigt, aus denen sich die Unrichtigkeit des Patentregisters ergibt.</p>
<p><rd nr="24"/>Zwar hat die Eintragung im Patentregister keinen Einfluss auf die materielle Rechtslage, so dass für die Sachlegitimation im Verletzungsrechtsstreit nicht der Eintrag im Patentregister, sondern die materielle Rechtslage maßgeblich ist. Jedoch ist die Eintragung im Patentregister für die Beurteilung der Frage, wer materiellrechtlich Inhaber des Patents ist, nicht bedeutungslos. Ihr kommt im Rechtsstreit eine erhebliche Indizwirkung zu. Daher bedarf es in einem Verletzungsrechtsstreit regelmäßig keines weiteren Vortrags oder Beweisantritts, wenn sich eine Partei auf den aus dem Patentregister ersichtlichen Rechtsstand beruft. Eine Partei, die geltend macht, die materielle Rechtslage weiche vom Registerstand ab, muss vielmehr konkrete Anhaltspunkte aufzeigen, aus denen sich die Unrichtigkeit ergibt. Welche Anforderungen hierbei zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. So wird der Vortrag, ein im Patentregister eingetragener Rechtsübergang habe einige Wochen oder Monate vor dessen Eintragung stattgefunden, in der Regel keiner näheren Substantiierung oder Beweisführung bedürfen. Der Vortrag, der eingetragene Inhaber habe das Patent nicht wirksam oder zu einem anderen Zeitpunkt erworben, erfordert demgegenüber in der Regel nähere Darlegungen dazu, woraus sich die Unwirksamkeit des eingetragenen Rechtsübergangs ergeben soll (BGH, GRUR 2013, 713 - Fräsverfahren).</p>
<p><rd nr="25"/>Diesen Anforderungen wird der Vortrag der Beklagten nicht gerecht. Die Beklagte hat die Übertragung des Klagepatents lediglich mit Nichtwissen bestritten und keine Umstände vorgetragen, aus denen sich die Unwirksamkeit der eingetragenen Rechtsübergänge ergibt. Weiteren Vortrag der Klägerin, die konkret zum Übergang der Rechte vorgetragen hat, bedurfte es daher nicht.</p>
<p><rd nr="26"/>Soweit die Klägerin aus abgetretenem Recht klagt, hat die Beklagte die Wirksamkeit der Abtretung nicht bestritten, sondern lediglich die Übertragung des Klagepatents mit Nichtwissen bestritten. Das erstmalige Bestreiten der Abtretung der Ansprüche der vormaligen Inhaber des Klagepatents durch die Beklagte im nachgelassenen Schriftsatz war wegen § 296a ZPO als verspätet zurückzuweisen (vgl. unten D.). Insoweit hat die Beklagte keinen Schriftsatznachlass beantragt oder bekommen.</p>
<p>C.</p>
<p><rd nr="27"/>I. Das Klagepatent betrifft ein System und ein Verfahren zur Identifizierung von Vorrichtungen, die sich räumlich nahe sind.</p>
<p><rd nr="28"/>1. Im Stand der Technik sind Anwendungen, bspw. Spiele, bekannt, die auf mobilen Geräten genutzt werden können. Zum Teil erfordern diese Spiele mehrere Spieler, wobei jeder Spieler seine eigene Vorrichtung verwendet. Bevor ein Spiel mit mehreren Spielern beginnen kann, ist es erforderlich, die Spieler auszuwählen und ihre Vorrichtungen entsprechend zu identifizieren ([0002] und [0007]).</p>
<p><rd nr="29"/>Nach dem Klagepatent stehen verschieden Arten zur Identifizierung bereit. Zum Beispiel könne eine gespeicherte Telefonliste mit Telefonnummern anderer Mobilgeräte verwendet werden ([0003]). Jedoch enthalte eine solche Telefonliste keine Informationen über die Verfügbarkeit und Nähe der anderen Mobilgeräte. Für ein Multiplayer-Spiel, bei dem sich die jeweiligen Spieler in unmittelbarer Nähe (etwa Sichtabstand) befänden, müssten die Mobilgeräte daher auf andere Weise identifiziert werden ([0003]). Insoweit sei es möglich, die jeweilige Telefonnummer eines teilnehmenden Mobiltelefons manuell einzugeben ([0003]) oder die Identifizierung mittels Bluetooth vorzunehmen ([0004]).</p>
<p><rd nr="30"/>In Absatz [0008] der Beschreibung weist das Klagepatent zudem auf die internationale Patentanmeldung WO2009/014438 hin. Diese offenbare einen Anwendungsserver, der ein Verfahren nutze, bei dem sich in räumlicher Nähe befindende mobile Vorrichtungen mittels sensorischer Identifikatoren, bspw. einem Ton oder einem Bild, identifiziert werden. Die in der WO2009/014438 offenbarte Identifikationstechnik werde typischerweise genutzt, um eine Anwendung (bspw. ein Spiel) zu starten, an der die identifizierten Vorrichtungen teilnehmen. Zur Ausführung der Anwendung werde in der Regel derjenige Server verwendet, der auch die Identifikation durchgeführt hat.</p>
<p><rd nr="31"/>2. Das Klagepatent kritisiert an diesem Stand der Technik, dass eine Identifizierung mittels manueller Eingabe der Telefonnummern umständlich und fehleranfällig sei ([0003]). Auch die Verwendung von Bluetooth sei weder schnell noch mühelos, weil die zu identifizierenden Geräte zunächst aus einer Liste ausgewählt werden und gegebenenfalls auch ein Passwort abgefragt werde müssten ([0004]). Im Hinblick auf die Patentanmeldung WO2009/014438 kritisiert das Klagepatent, dass in diesem System die Korrelations- und die Anwendungsfunktion durch dieselbe Servereinheit ausgeführt werde, was gut funktioniere, sofern nur ein einzelner Server verwendet werde. Sofern diese Anordnung jedoch skaliert werde, werde sie ineffizient. Denn seien verschiedene Server jeweils für die Ausführung von unterschiedlichen Anwendungen eingerichtet, müsse der Identifikationsprozess (Korrelationsfunktion) durch jeden dieser Server gesondert durchgeführt werden, d.h. jeder einzelne Server müsste dazu eingerichtet sein, sowohl die Identifikation als auch die jeweilige Anwendung ausführen zu können. Insoweit müsste für jeden einzelnen Server der notwendige Speicherplatz und eine entsprechende Verarbeitungskapazität für beide Vorgänge vorgehalten werden ([0047]).</p>
<p><rd nr="32"/>3. Das Klagepatent stellt sich die Aufgabe, ein System und ein Verfahren mit einem einfachen und zugleich effektiven Mechanismus zum Identifizieren von Mobilgeräten, die sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, bereit zu stellen um nach der Identifizierung der Vorrichtungen anschließend eine Anwendung von mehreren unterschiedlichen Anwendungen zu aktivieren und auszuführen.</p>
<p><rd nr="33"/>4. Zur Lösung dieses Problems schlagen Klagepatentanspruch 1 ein System und Klagepatentanspruch 15 ein Verfahren vor, die sich wie folgt merkmalsmäßig gliedern lassen:</p>
<p>Anspruch 1</p>
<p>1. System (40, 50) zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen (1, 2),</p>
<p>1.1 die Vorrichtungen sind eingerichtet</p>
<p>1.1.1 zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und</p>
<p>1.1.2 zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2)</p>
<p>1.1.2.1 mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators,</p>
<p>1.1.3 um in den Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) eine Angabe einer auszuführenden Anwendung zu enthalten,</p>
<p>1.2 wobei das System Folgendes umfasst:</p>
<p>1.2.1 Mittel zum Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>1.2.1.1 wobei die Mittel zum Korrelieren mindestens ein Korrelationsserver (5) sind</p>
<p>1.2.1.2 und wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5)</p>
<p>1.2.1.2.1 dazu konfiguriert ist, um die durch die Anfragemeldungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen, und</p>
<p>1.2.1.2.2 bewirkt, dass ein Sender (88) die Abgleichsmeldung auf der Grundlage des Abgleichs an einen Anwendungsserver sendet, der durch die abgeglichenen Angaben der Anwendung in den abgeglichenen Anfragemeldungen identifiziert wird.</p>
<p>1.2.2 Mittel zum Ausführen einer Anwendung mit Vorrichtungen, die durch die Mittel zum Korrelieren von Darstellungen abgeglichen wurden,</p>
<p>1.2.2.1 wobei die Mittel zum Ausführen der Anwendung mindestens ein Anwendungsserver (6) sind,</p>
<p>1.2.3 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind.</p>
<p>Anspruch 15</p>
<p>15. Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2),</p>
<p>15.1 die Vorrichtungen sind eingerichtet</p>
<p>15.1.1 zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und 15.1.2 zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2)</p>
<p>15.1.2.1 mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators,</p>
<p>15.2 wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>15.2.1 Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und 15.2.1.1 wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird</p>
<p>15.2.1.2 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht,</p>
<p>15.2.1.3 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen der Anwendung in den abgeglichenen Anfragemeldungen identifizierten Anwendungsserver sendet;</p>
<p>15.2.2 Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>15.2.2.1 wobei das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6) ausgeführt wird;</p>
<p>15.2.3 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind.</p>
<p><rd nr="34"/>II. Diese Lehre bedarf der näheren Erläuterung:</p>
<p>1. Anspruch 1 (Systemanspruch)</p>
<p><rd nr="35"/>a) Die durch das Klagepatent unter Schutz gestellte technische Lehre ist aus der Sicht des angesprochenen Durchschnittsfachmanns, der über ein Diplom- oder Masterabschluss auf dem Gebiet der Elektrotechnik und mehrjährige Berufserfahrung im Bereich der Serverarchitektur verfügt, aus den Merkmalen der hier maßgeblichen Klagepatentansprüchen 1 und 15 im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit unter Heranziehung der Beschreibung sowie der Zeichnungen zu ermitteln.</p>
<p><rd nr="36"/>b) Merkmalsgruppe 1 entnimmt der Fachmann, dass es sich um ein Zweckangabe handelt und das klagepatentgemäße System daher (lediglich) geeignet sein muss zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen.</p>
<p><rd nr="37"/>Die in der Merkmalsgruppe 1 beschriebenen benachbarten Vorrichtungen sind klagepatentgemäß so ausgestaltet, dass sie sensorische Identifikatoren erfassen können. Insoweit entnimmt der Fachmann Absatz [0017], dass hierunter Identifikatoren zu verstehen sind, die mit den menschlichen Sinnen erfasst werden können, wie z.B. Töne, Bilder, Gerüche, Temperaturen, Bewegungen und/oder Beschleunigungen, oder auch ein Barcode (vgl. [0037]). Klagepatentgemäß handelt es sich bei Ortsidentifikatoren hingegen nicht um sensorische Identifikatoren, sondern um andere Identifikatoren, [0017].</p>
<p><rd nr="38"/>Die erfassten sensorischen Identifikatoren dienen klagepatentgemäß der Identifizierung benachbarter Vorrichtungen (vgl. [0042]), wobei das Erfassen der sensorischen Identifikatoren bspw. durch einen Scanner oder eine Kamera erfolgen kann.</p>
<p><rd nr="39"/>Soweit die Merkmalsgruppe 1 die Ausgestaltung der benachbarten Vorrichtungen weiter definiert, entnimmt der Fachmann dem Klagepatent, dass die Vorrichtungen geeignet sein müssen, eine Darstellung des erfassten sensorischen Identifikators zu erzeugen und eine Anfragemeldungen zu senden [0015], wobei die Anfragemeldungen Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren (Merkmal 1.1.2.1) und eine Angabe der auszuführenden Anwendung, bspw. ein auszuführendes Spiel (vgl. [0014] und [0029]), enthalten müssen.</p>
<p><rd nr="40"/>c) Die Merkmale 1.2.1 und 1.2.1.1 versteht der Fachmann dahingehend, dass das klagepatentgemäße System (mindestens) einen Korrelationsserver umfasst, der geeignet sein muss, die von den benachbarten Vorrichtungen gesendeten Anfragemeldungen zu empfangen und die in den Anfragemeldungen enthaltenen Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren zu korrelieren um abzugleichen, ob sich die Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren der zwei oder mehr benachbarten Vorrichtungen entsprechen („so as to match two or more of those devices“). Bei der Darstellung der erfassten sensorischen Identifikatoren kann es sich klagepatentgemäß um eine Zahlenfolge handeln [0018].</p>
<p><rd nr="41"/>Wie die Korrelation der Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren der mindestens zwei benachbarten Vorrichtungen im Einzelnen erfolgt, lässt der Anspruch 1 des Klagepatents offen. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, dass die Darstellungen der empfangenen sensorischen Identifikatoren jeweils (direkt) miteinander verglichen werden müssen, findet diese Auslegung keine Stütze in der Klagepatentschrift. Vielmehr gibt das Klagepatent in der Beschreibung lediglich vor, dass die Korrelation dazu dient, festzustellen, ob die mit der Anfragemeldung von den benachbarten Vorrichtungen empfangenen Daten, also die Darstellungen der sensorischen Identifikatoren, übereinstimmen, um festzustellen, ob sich die zwei oder mehr benachbarten Vorrichtungen aufeinander beziehen. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass durch Vergleich oder andere Methoden festgestellt wird, ob sich die empfangenen Daten entsprechen, bspw. auf dasselbe Ereignis beziehen [0045]. Insoweit ist es klagepatentgemäß auch möglich, dass die von den Vorrichtungen gesendeten Darstellungen der sensorischen Identifikatoren nicht miteinander verglichen werden, sondern jeweils mit einer bereits im Korrelationsserver vorhandenen Darstellung der sensorischen Identifikatoren. Denn der Korrelationsserver kann auch auf diese Weise feststellen, ob sich die empfangenen Darstellungen der sensorischen Identifikatoren entsprechen, mithin auf dasselbe Ereignis beziehen. Einen direkten Vergleich der empfangen Darstellungen der sensorischen Identifikatoren hingegen fordert weder der Wortlaut des Anspruchs 1 noch die Beschreibung des Klagepatents.</p>
<p><rd nr="42"/>Soweit die Beklagte erstmalig im nachgelassenen Schriftsatz vorgetragen hat, dass der Korrelationsserver die Vorrichtungen, die Darstellungen der sensorischen Identifikatoren senden, „matchen“ müsse im Sinne eines Herstellens einer Verknüpfung zwischen den Vorrichtungen, ergibt sich dies ebenfalls nicht aus dem Klagepatentanspruch 1. Dieser fordert, wie dargelegt, nur, dass die Darstellungen sensorischer Identifikatoren durch den Korrelationsserver korreliert werden müssen. Dass der Korrelationsserver durch das Korrelieren zudem eine Verknüpfung zwischen den Vorrichtungen herstellen muss, fordert der Anspruch hingegen nicht.</p>
<p><rd nr="43"/>d) Merkmal 1.2.1.2.1 entnimmt der Fachmann, dass der Korrelationsserver dazu konfiguriert sein muss, die durch die Anfragemeldungen der benachbarten Vorrichtungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen. In Verbindung mit Merkmal 1.2.1.2.2 erkennt der Fachmann, dass der Vergleich der angezeigten Anwendungen durch den Korrelationsserver erfolgt, um nach Durchführung des Vergleichs der angezeigten Anwendungen einen Sender gemäß Merkmal 1.2.1.2.2 in die Lage zu versetzten, eine Abgleichsmeldung an den durch den Vergleich der angezeigten Anwendungen identifizierten Anwendungsserver zu senden. Die Identifikation des zutreffenden Anwendungsservers ist insbesondere in den Fällen erforderlich, in denen ein Korrelationsserver die Korrelation der Darstellungen der sensorischen Identifikatoren für eine Mehrzahl von Anwendungen verschiedener Anwendungsserver durchführt, damit der Sender die Abgleichsmeldung an den zutreffenden Anwendungsserver senden kann.</p>
<p><rd nr="44"/>Im Hinblick auf die klagepatentgemäße Funktion des Vergleichs der Anwendungen ist es, entgegen der Ansicht der Beklagten, nicht erforderlich, dass es sich bei der in der Anfragemeldung enthaltenen Angabe einer Anwendung um eine von der Darstellung des sensorischen Identifikatoren unterschiedliche Zahlenfolge handelt, die in einem weiteren Datenfeld der Anfragemeldung enthalten sein muss, denn nach der klagepatentgemäßen Funktion des Vergleichs der Anwendung durch den Korrelationsserver ist dies nicht erforderlich. Vielmehr kommt es nur darauf an, dass der klagepatentgemäße Korrelationsserver in der Lage ist, den von den Nutzern der benachbarten Vorrichtung zur Ausführung der Anwendung benötigten Anwendungsserver zu identifizieren. Dies erfordert jedoch keine von der Darstellung der sensorischen Identifikatoren getrennte Zahlenfolge.</p>
<p><rd nr="45"/>Soweit sich die Beklagte zur Begründung ihrer Ansicht auf die Figur 7 und die hierzu korrespondierende Beschreibungsstelle [0065] sowie den Absatz [0071] der Beschreibung des Klagepatents bezieht, handelt es sich hierbei jeweils lediglich um Ausführungsbeispiele, die den Klagepatentanspruch nicht einschränken.</p>
<p><rd nr="46"/>e) Merkmal 1.2.1.2.2 verlangt, dass der Korrelationsserver dazu eingerichtet ist, zu bewirken, dass ein nicht näher definierter Sender auf Grundlage des Abgleichs der angezeigten Anwendungen (vgl. Merkmal 1.2.1.2.1) eine Abgleichsmeldung an den identifizierten Anwendungsserver sendet.</p>
<p><rd nr="47"/>Wie die Abgleichsmeldung ausgestaltet sein kann, lässt der Klagepatentanspruch offen. Erforderlich ist lediglich, dass diese Meldung aufgrund des Abgleichs erfolgt und an den aufgrund des Abgleichs identifizierten Anwendungsserver gesendet wird.</p>
<p><rd nr="48"/>Darüber hinaus fordert Anspruch 1 des Klagepatents, entgegen der Ansicht der Beklagten, nicht, dass der Korrelationsserver die Abgleichsmeldung sendet, vielmehr ist es ausreichend, dass der Korrelationsserver die Sendung der Abgleichsmeldung bewirkt („causing a transmitter“).</p>
<p><rd nr="49"/>Soweit die Beklagte der Ansicht ist, Merkmal 1.2.1.2.2 verlange eine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver, findet diese Ansicht, wie gezeigt, bereits im Anspruchswortlaut keine Stütze. Vielmehr fordert dieser noch nicht einmal, dass der Korrelationsserver die Abgleichmeldung sendet. Entsprechend lässt sich dem Anspruch nicht entnehmen, dass eine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver stattfinden muss. Im Einklang hierzu steht, dass nach Absatz [0051] des Klagepatents auch ein System anspruchsgemäß sein kann, bei dem keine direkte Kommunikation zwischen Korrelationsserver und Anwendungsserver stattfindet (vgl. insoweit auch Fig. 4b). Soweit die Beklagte auf das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 6 verweist, ist zutreffend, dass in dem mit Figur 6 beschriebenen Ausführungsbeispiel eine direkte Kommunikation zwischen Korrelationsserver und Anwendungsserver stattfindet, jedoch handelt es sich hierbei wiederum nur um eine nicht einschränkendes Ausführungsbeispiel.</p>
<p><rd nr="50"/>Entgegen der Ansicht der Beklagten lässt sich auch aus der Einschränkung des Anspruchs 1 im Erteilungsverfahren nicht entnehmen, dass mit der Einschränkung des ursprünglichen Patentanspruchs eine Beschränkung auf eine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver beabsichtigt war. Denn Absatz [0071], auf den sich die Klägerin zur Begründung der Einschränkung des Anspruchs im Erteilungsverfahren berufen hat, fordert ebenfalls keine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver.</p>
<p><rd nr="51"/>f) Nach den Merkmalen 1.2.2 und 1.2.2.1 umfasst das klagepatentgemäße System neben dem Korrelationsserver auch ein Mittel zum Ausführen der Anwendung, bei dem es sich um (mindestens) einen Anwendungsserver handelt, der geeignet ist, die klagepatentgemäße Anwendung unter Einbeziehung derjenigen benachbarten Vorrichtungen auszuführen, die die Anfragemeldungen an den Korrelationsserver gesendet haben und daraufhin vom Korrelationsserver nach Merkmal 1.2.1 abgeglichen wurden.</p>
<p><rd nr="52"/>Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass neben dem Korrelations- und dem Anwendungsserver auch die benachbarten Vorrichtungen Teil des Systems seien, wie sich aus den Absätzen [0048] und [0058] ergebe, ist ihr zwar insoweit zuzugeben, dass in dem in den Absätzen [0048] und [0058] beschriebenen Ausführungsbeispiel die Vorrichtungen („client devices“) als Teil des erfindungsgemäßen Systems beschrieben sind. Abweichend hiervon ergibt sich aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 jedoch, dass der Anspruch 1 des Klagepatents ein System umfasst, das lediglich die beiden Mittel zum Korrelieren („means for correlating“) und Mittel zum Ausführen („means for carrying out an application“) umfasst („comprising“). Darüber hinaus stellt der maßgebliche Anspruch 1 in Merkmal 1.2.2.1 ausdrücklich klar, dass das Mittel zum Ausführen der Anwendung gerade der (mindestens) einen Anwendungsserver ist („wherein said means for correlating are at least one correlation server“) und nicht der Anwendungsserver zusammen mit den abgeglichenen Vorrichtungen. In Übereinstimmung hiermit stellt Absatz [0001] des Klagepatents klar, dass es sich bei der gegenständlichen Erfindung um ein System bestehend aus einem Korrelationsserver und einem Applikationsserver handelt.</p>
<p><rd nr="53"/>g) Merkmal 1.2.3 entnimmt der Fachmann, dass es klagepatentgemäß darauf ankommt, dass jeder Server einen eigeständigen Funktionsbereich hat, mithin die dedizierten Aufgaben des Korrelierens einerseits und des Ausführens der Anwendung andererseits nicht in einer Servereinheit kombiniert sind, so dass es möglich ist, das beanspruchte Server-System effizient zu skalieren, [0075], indem beispielsweise ein System ermöglicht wird, in dem ein Server eine Anwendung bereitstellt, die Aufgabe des Korrelierens jedoch auf eine Mehrzahl von Korrelationsservern ausgegliedert wird. Umgekehrt ist es klagepatentgemäß möglich, eine Mehrzahl von ausführbaren Anwendungen auf verschiedene Anwendungsserver zu verteilen und gleichzeitig die Aufgabe des Korrelierens auf einen Korrelationsserver zu konzentrieren. Dem Klagepatent kommt es insoweit darauf an, dass nicht jeder Server über Ressourcen, bspw. Speicher, verfügen muss, um sowohl die Korrelations- als auch die Anwendungsfunktion ausführen zu können. Dabei können zwei oder mehr Server auch auf derselben Recheneinheit betrieben werden, [0050].</p>
<p>2. Anspruch 15 (Verfahrensanspruch)</p>
<p><rd nr="54"/>a) Die Ausführungen zur Auslegung des Klagepatents gelten im Wesentlichen sinngemäß für den Verfahrensanspruch. Soweit sich hinsichtlich der Auslegung des Verfahrensanspruch (Anspruch 15) Unterschiede zur Auslegung des Systemanspruchs (Anspruch 1) ergeben, werden diese nachfolgend dargestellt:</p>
<p><rd nr="55"/>b) Merkmal 15.2.1 verlangt, dass das Verfahren Darstellungen sensorischer Identifikatoren korreliert, mithin Zahlenfolgen, die tatsächlich einen sensorischen Identifikator repräsentieren.</p>
<p><rd nr="56"/>c) Entgegen Merkmal 1.2.1.2.2 muss nach Merkmal 15.2.1.3 der Korrelationsserver die Abgleichsmeldung senden. Jedoch fordert auch der Verfahrensanspruch nicht, dass der Korrelationsserver die Abgleichsmeldung direkt an den Anwendungsserver sendet.</p>
<p><rd nr="57"/>d) Abweichend von den Merkmalen 1.2.2 und 1.2.2.1 setzt der Vorrichtungsanspruch in den Merkmalen 15.2.2 und 15.2.2.1 voraus, dass die Anwendung zusammen mit abgestimmten Vorrichtungen ausgeführt wird („carrying out an application involving matching devices“). Im Unterschied zum Systemanspruch, der lediglich das Vorhandensein eines Anwendungsservers fordert, der geeignet ist, zusammen mit abgestimmten Vorrichtungen eine Anwendung auszuführen, verlangt der Verfahrensanspruch ausweislich des insoweit eindeutigen Wortlauts des Anspruch 15, dass die identifizierte Anwendung vom Anwendungsserver zusammen mit den abgestimmten Vorrichtungen (Merkmal 15.2.2) ausgeführt wird, wobei das Klagepatent es offen lässt, in welcher Art und Weise die Vorrichtungen die Anwendung zusammen mit dem die Anwendung ausführenden Anwendungsserver ausführen, also in welchem Umfang die Vorrichtungen an der Ausführung der Anwendung beteiligt sind. Ausreichend ist jedenfalls nach den Merkmalen 15.2.2 und 15.2.2.1, dass die Vorrichtungen an der Ausführung der Anwendung in irgendeiner Art und Weise beteiligt sind.</p>
<p><rd nr="58"/>Soweit nach Merkmal 15.2.2.1 die Ausführung der Anwendung vom Anwendungsserver auszuführen ist, ist dieses Merkmal nicht dahingehend zu verstehen, dass die Ausführung - anders als es Merkmal 15.2.2 verlangt - allein durch den Anwendungsserver ausgeführt wird und die Vorrichtungen an der Ausführung nicht beteiligt sind, sondern dahingehen, dass Merkmal 15.2.2.1 das klagepatentgemäße Verfahren dahingehend vom Stand der Technik abgrenzen möchte, dass die Anwendung (nur) vom Anwendungsserver und nicht auch vom Korrelationsserver ausgeführt wird.</p>
<p><rd nr="59"/>III. Die angegriffene Ausführungsform macht vom Gegenstand des Anspruchs 1 und des Anspruchs 15 des Klagepatents Gebrauch. Auf den hilfsweise zu Klageantrag I.1 a) gestellten „insbesondere“-Antrag (Unteranspruch 6 Klagepatents) kommt es nicht (mehr) an.</p>
<p><rd nr="60"/>1. Die angegriffene Ausführungsform wurde von der Klägerin als die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ bestimmt. Insoweit steht es der Klägerin frei, die angegriffene Ausführungsform zu definieren. Insbesondere muss die Klägerin nicht - wie die Beklagte meint - die gesamte „Real World Gaming“-Plattform „K “ angreifen.</p>
<p><rd nr="61"/>Soweit die Klägerin bei der Bestimmung der angegriffenen Ausführungsform nicht auch ausdrücklich auf die, für die Durchführung der „Buddy Multiplayer Session“ erforderlichen, Player Frontend Server (PLFE) und Augmented Reality Backend Server (ARBE) abstellt, ergibt sich aus ihrem Verletzungsvortrag zum Systemanspruch, dass diese insoweit Teil der angegriffenen Ausführungsform sind.</p>
<p><rd nr="62"/>2. Die angegriffene Ausführungsform macht unmittelbar wortsinngemäß von Patentanspruch 1 des Klagepatents Gebrauch.</p>
<p><rd nr="63"/>a) Die Parteien streiten um die Benutzung der Merkmale 1.2.1, 1.2.1.2.1, 1.2.1.2.2 und 1.2.3. Gegen die Benutzung der übrigen Merkmale wenden sich die Beklagten zu Recht nicht. Denn diese werden von der angegriffenen Ausführungsform verwirklicht.</p>
<p><rd nr="64"/>b) Die angegriffene Ausführungsform macht von Merkmal 1.2.1 Gebrauch.</p>
<p><rd nr="65"/>Unstreitig ermöglicht es die angegriffene Ausführungsform drei Spielern an der Buddy Multiplayer Session teilzunehmen und ermöglicht diesen damit eine Shared AR-Experience. Bei der Teilnahme von drei Spielern an der Buddy Multiplayer Session erzeugt der host:client (Spieler 1) aufgrund der vom PLFE (Korrelationsserver) erhaltenen UUID einen QR-Code, der von den beiden peer:clients (Spieler 2 und 3) gescannt wird. Diese senden jeweils eine Darstellung des QR-Codes sodann an den PLFE. Der PLFE, mithin der Korrelationsserver, vergleicht die von den beiden peer:Clients gesendeten Darstellungen des QR-Codes, die auch der UUID entsprechen können, mit der vom PLFE generierten UUID und stellt fest, ob die von den beiden peer:clients gesendeten Darstellungen des QR-Codes, also die erfassten sensorischen Identifikatoren, mit der vom PLFE generierten UUID übereinstimmen. Da, wie oben dargelegt, das Klagepatent eine direkte Korrelation der beiden Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren nicht verlangt, macht die angegriffene Ausführungsform von Merkmal 1.2.1 Gebrauch, weil sie, über den Vergleich mit der bekannten UUID, die beiden von den peer:clients empfangenen Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren (QR-Codes) zwingend dahingehend korreliert, als sie feststellt, ob sie mit dem ihr bekannten UUID übereinstimmen und damit auch zugleich feststellt, dass die beiden von den peer:clients gesendeten UUID übereinstimmen. Auf diese Möglichkeit der Verwirklichung des Merkmals 1.2.1 hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auch hingewiesen.</p>
<p><rd nr="66"/>Soweit die Beklagte im nachgelassenen Schriftsatz erstmalig fordert, dass durch den Korrelationsserver eine Verknüpfung zwischen den Vorrichtungen (Mobiltelefonen) hergestellt werden müsse und dies bei der angegriffenen Ausführungsform nicht der Fall sei, weil die Verknüpfung der Vorrichtungen bereits durch Einscannen des QR-Codes erfolge, verhilft ihr dies nicht zum Erfolg, da - wie gezeigt - der Klagepatentanspruch gerade nicht fordert, dass der Korrelationsserver die Verbindung zwischen den Vorrichtungen herstellt.</p>
<p><rd nr="67"/>Für die Verwirklichung des Merkmals 1.2.1 ist es zudem weiter unschädlich, dass der erste peer:client (Spieler 2), der die gescannte UUID zuerst an den PLFE sendet, bereits der Anwendung beitreten kann, bevor der zweite peer:client (Spieler 3) seine UUID an den PLFE sendet. Denn dem Klagepatent kommt es darauf an, dass alle beteiligten Vorrichtungen nach der Identifizierung zusammen die Anwendung ausführen können. Soweit einzelne Vorrichtungen bereits zuvor die Anwendung ausführen können, ist dies unschädlich.</p>
<p><rd nr="68"/>c) Merkmal 1.2.1.2.1 wird gleichfalls benutzt. Die von den peer:clients (Spieler 2 und 3) an den PLFE (Korrelationsserver) übersandte UUID umfasst die Session ID, mittels der der PLFE die auszuführende Anwendung, also die angegriffene Ausführungsform (Buddy Multiplayer Session) identifiziert. Der PLFE vergleicht diese von den peer:clients mit der UUID übermittelten Session IDs mit der ihm bekannten Session ID um festzustellen, ob sie sich auf dieselbe Buddy Multiplayer Session beziehen. Stimmen die Session IDs der beiden peer:clients überein übermittelt der PLFE an die peer:clients jeweils den ARBE Token.</p>
<p><rd nr="69"/>Damit vergleicht der PLFE (= Korrelationsserver) auch die Session ID des zweiten beitretenden peer:cient mit der dem PLFE bekannten Session ID und damit auch mit der vom ersten beitretenden peer.client übermittelten Session ID und übermittelt bei festgestellter Übereinstimmung den ARBE Token an den zweiten peer:client.</p>
<p><rd nr="70"/>Sofern die Beklagte eine Verletzung des Merkmals 1.2.1.2.1 in Abrede stellt, weil sowohl für Merkmal 1.2.1 als auch für Merkmal 1.2.1.2.1 die UUID korreliert bzw. miteinander verglichen wird und es an der Korrelation bzw. dem Vergleich zweier unterschiedlicher Zahlenfolgen fehle, ändert dies nichts an der Benutzung des Klagepatents, dann - wie oben dargestellt - verlangt das Klagepatent gerade nicht, dass der Vergleich der angezeigten Anwendung durch den Korrelationsserver durch einen Vergleich einer zur UUID unterschiedlichen Zahlenfolge erfolgen muss.</p>
<p><rd nr="71"/>d) Die angegriffene Ausführungsform macht auch von Merkmal 1.2.1.2.2 Gebrauch. Die Übermittlung des ARBE Token ist eine Abgleichsmeldung im Sinne des Klagepatents.</p>
<p><rd nr="72"/>Zwar geht die Beklagte insoweit zutreffend davon aus, dass es sich bei dem an den ersten beitretenden peer:client gesendete ARBE-Token nicht um die klagepatentgemäße Abgleichsmeldung handelt, sofern die Sendung diese ARBE-Tokens direkt nach dem Abgleich der vom ersten beitretenden peer:client gesendeten UUID und vor dem Abgleich des durch den zweiten beitretenden peer:client erfolgt, denn insoweit ist es denklogisch ausgeschlossen, dass das Senden der Abgleichmeldung aufgrund des Abgleichs der angezeigten Anwendungen erfolgt. Dass es bei der angegriffenen Ausführungsform möglich ist, dass der Abgleich der UUID des zweiten beitretenden peer:client vor dem Senden des ARBE-Token des ersten beitretenden peer:clients erfolgen kann, hat die Klägerin nicht vorgetragen.</p>
<p><rd nr="73"/>Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei dem an den zweiten beitretenden peer:client gesendeten ARBE-Token jedoch um eine klagepatentgemäße Abgleichsmeldung. Denn diese wird erst gesendet, nachdem der PLFE (Korrelationsserver) sowohl die vom ersten beitretenden peer:client als auch die vom zweiten beitretenden peer:client empfangen UUID mit der beim PLFD bekannten UUID korreliert hat und zudem verglichen hat, ob sich die mit der UUID übersandten Session ID des zweiten beitretenden peer:clients auf dieselbe Anwendung wie die des ersten beitretenden peer:clients bezieht. Dass die Korrelation bzw. der Vergleich der beiden UUID lediglich mittelbar über die Korrelation bzw. den Vergleich mit der beim PLFD bekannten UUID erfolgt, ist wie oben gezeigt, unschädlich. Insoweit war im Tenor klarstellend aufzunehmen, dass die Verurteilung nur erfolgt, soweit drei Teilnehmer an der Buddy Multiplayer Session teilnehmen bzw. teilgenommen haben.</p>
<p><rd nr="74"/>Soweit die Beklage im nachgelassenen Schriftsatz erstmalig vorträgt, bei dem ARBE Token handele es sich nicht um eine Abgleichsmeldung, weil der ARBE Token keinen Bezug zu dem Verhältnis zwischen den beiden beitretenden peer:clients herstelle, fordert das Klagepatent einen solchen Bezug jedoch nicht. Wie dargelegt, lässt das Klagepatent die Ausgestaltung und den Inhalt der Abgleichmeldung völlig offen und verlang nur, dass diese - wie es vorliegend geschieht - auf Grundlage des erfolgten Abgleichs erfolgt.</p>
<p><rd nr="75"/>Soweit die Beklagte der Ansicht ist der ARBE-Token sei keine klagepatengemäße Abgleichsmeldung, weil dieser nicht unmittelbar vom PLFE an den ARBE gesendet werde, ist es unstreitig, dass der PLFE die ARBE-Token an den zweiten beitretenden peer:client sendet, der diesen ARBE Token sodann an den ARBE weiterleiten. Da es, wie oben ausgeführt, klagepatentgemäß nicht darauf ankommt, dass die Abgleichsmeldung direkt vom Korrelationsserver (PLFE) an den Anwendungsserver (ARBE) gesendet wird, sondern es vielmehr ausreichend ist, dass der PLFE bewirkt, dass ein Sender die Abgleichsmeldung an den ARBE sendet, liegt eine Verletzung des Merkmals 1.2.1.2.2 durch die angegriffene Ausführungsform vor.</p>
<p><rd nr="76"/>Selbst wenn man mit der Beklagten davon ausgehen würde, dass der PLFE die Abgleichsmeldung senden muss, liegt eine Verwirklichung des Merkmals 1.2.1.2.2 vor, denn unstreitig sendet der PLFE den ARBE Token an die peer:clients, die den ARBE Token an den ARBE weiterleiten, ohne dass es einer eigenständigen Handlung des Nutzers der Vorrichtung bedarf. Daher sendet der PLFE, über den peer:client, der die Abgleichsmeldung unverändert weiterleitet, eine Abgleichsmeldung an den ARBE.</p>
<p><rd nr="77"/>e) Die angegriffene Ausführungsform macht auch von Merkmal 1.2.3 Gebrauch. Bei dem Korrelationsserver PLFE und dem Anwendungsserver für die angegriffene Ausführungsform, dem Buddy Multiplayer Session ARBE, handelt es sich um verschiedene Server im Sinne des Klagepatents. Insoweit ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der ARBE die Buddy Multiplayer Session ausführt und der PLFE die Korrelation bzw. den Vergleich der UUID vornimmt. Dass es sich bei dem ARBE und dem UUID um verschieden („distinct“) Server handelt ergibt sich bereits aus der Darstellung der Beklagten von der angegriffenen Ausführungsform, denn nach dem Vortrag der Beklagten können der PLFE und der ARBE nicht direkt miteinander kommunizieren und nutzen daher - was die Beklagten nicht bestritten haben - auch keine gemeinsamen Ressourcen. Wie ausgeführt kommt es dem Klagepatent jedoch gerade hierauf an.</p>
<p><rd nr="78"/>Sofern die Beklagte vorträgt, dass der PLFE erforderlich sei, um das Spiel K auszuführen, und der Multiplayer Modus, also die Buddy Multiplayer Session daher ohne den PLFE nicht ausgeführt werden könne, weil es sich insoweit nur um eine Erweiterung des Spiels K handele, verkennt die Beklagte, dass die Klägerin als angegriffene Ausführungsform lediglich die Anwendung der Buddy Multiplayer Session angreift. Für die Ausführung dieser Anwendung ist nach dem Vortrag der Klägerin allein der ARBE zuständig, wohingegen der PLFE insoweit die Korrelation und den Vergleich der UUID durchführt. Dass der PLFE erforderlich ist, um das gesamte Spiel K spielen zu können, mag zutreffend sein, ist allerdings für die Frage, ob die konkrete angegriffene Ausführungsform, mithin die Buddy Multiplayer Session, allein vom ARBE ausgeführt wird, irrelevant.</p>
<p><rd nr="79"/>Insoweit kann auch das Argument der Beklagten nicht verfangen, dass die Anwendung das Spiel K insgesamt sei. Denn zum einen obliegt es der Klägerin, die angegriffene Ausführungsform zu bestimmen, und zum anderen gibt das Klagepatent nicht vor, wie die Anwendung im Sinne des Klagepatents ausgestaltet sein muss. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass es sich bei der Buddy Multiplayer Session nicht um eine klagepatentgemäße Anwendung handelt.</p>
<p><rd nr="80"/>3. Die angegriffene Ausführungsform benutzt überdies den Verfahrensanspruch 15 des Klagepatents unmittelbar. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.</p>
<p><rd nr="81"/>Die angegriffene Ausführungsform führt das klagepatentgemäße Verfahren aus und insbesondere sendet auch der PLFE eine Abgleichsmeldung an den ARBE (vgl. oben).</p>
<p><rd nr="82"/>IV. Die Beklagte ist jedoch nur hinsichtlich des Verfahrensanspruchs (Anspruch 15) passivlegitimiert. Hinsichtlich des Systemanspruchs fehlt es hingegen an einer inländischen Benutzungshandlung durch die Beklagte, so dass die Klage insoweit abzuweisen war.</p>
<p><rd nr="83"/>1. Ein deutsches Patent oder ein vom Europäischen Patentamt nach dem EPÜ mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteiltes europäisches Patent ist benutzt, wenn jedenfalls eine der in § 9 Satz 2 PatG benannten Handlungen im Inland vorgenommen wird. Damit eine Handlung als Verletzung eines Schutzrechts in Betracht kommt, muss sie deshalb eine hinreichende Beziehung zu dessen räumlichem Geltungsbereich aufweisen (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Die Herstellung, das Anbieten, Inverkehrbringen, Gebrauchen, Einführen und Besitzen patentierter Erzeugnisse oder die Anwendung eines geschützten Verfahrens im Ausland ist hingegen nicht patentverletzend (RGZ 30, 52, 55).</p>
<p><rd nr="84"/>Problematisch sind die Fälle, in denen eine vollständige Verwirklichung der Lehre des Patents zwar erfolgt ist, das dazu Notwendige aber nicht nur im Inland stattfindet, sondern teilweise auch im Ausland, etwa wenn im Falle eines Verfahrenspatents die nötigen Verfahrensschritte teils im Inland, teils im Ausland ausgeführt wurden, oder wenn das Patent ein System schützt und sich nach dessen Herstellung die zugehörenden Bestandteile in unterschiedlichen Staaten befinden (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10; Haupt GRUR 2007, 187). Insoweit gilt für die Annahme einer inländischen Benutzungshandlung folgendes:</p>
<p><rd nr="85"/>Für das Anwenden eines Verfahrens bei dem eine oder mehrere Maßnahmen im Inland und andere im Ausland vorgenommen werden, ist es ausreichend, wenn die im Ausland bewerkstelligten anderen notwendigen Maßnahmen dem im Inland Handelnden ebenfalls zuzurechnen sind (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Für die inländische Benutzungshandlung des Herstellens genügt die Herstellung eines Vorrichtungsteils im Inland (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Entsprechend ist für das Gebrauchen und Herstellen eines Systems ebenfalls erforderlich, dass jedenfalls die Herstellung oder der Gebrauch eines Bestandteils des Systems in der Bundesrepublik Deutschland erfolgen (für einen Verfahrensanspruch vgl. LG München I, Urteil vom 21.04.2015 - 7 O 16945/15; zur Benutzungshandlung des Herstellens vgl. Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Bei einem im Inland abgegebenen Angebot kommt es hingegen nicht darauf an, wo die spätere Lieferung hin erfolgen soll (OLG München, InstGE 5, 15). Erforderlich aber auch ausreichend ist, dass die Angebotshandlung im Inland erfolgt und das angebotene Verfahren im Inland durchgeführt wird.</p>
<p><rd nr="86"/>Da eine Patentverletzung nicht nur durch Alleintäterschaft unter Verwirklichung aller Verfahrensschritte, sondern auch in Mittäterschaft und Nebentäterschaft begangen werden kann (BGH GRUR 2007, 773, 775 - Rohrschweißverfahren) stellt bei einem Patent, das ein Herstellungsverfahren schützt, jedenfalls eine Herstellung, die in bewusstem und gewollten Zusammenwirken arbeitsteilig von im Inland und im Ausland handelnden Personen erfolgt, eine Patentverletzung durch den inländischen Teilnehmer dar (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10).</p>
<p><rd nr="87"/>2. Hinsichtlich des eingetragenen Anspruchs 15 des Klagepatents (Verfahrensanspruch) verstößt die Beklagte gegen Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V. m. § 9 Nr. 2 PatG.</p>
<p><rd nr="88"/>a) Die Beklagte hat das klagepatentgemäße Verfahren jedenfalls als Nebentäterinnen in der Bundesrepublik Deutschland angewendet.</p>
<p><rd nr="89"/>aa) Die angegriffene Ausführungsform führt - wie oben dargestellt - das klagepatentgemäße Verfahren vollständig durch.</p>
<p><rd nr="90"/>bb) Die Beklagte ist hieran als Nebentäterinnen beteiligt. Dass sie - schon nach dem Vortrag der Klägerin - das klagepatentgemäße Verfahren nicht selbst durchführt und die Klägerin auch nicht aufzeigt, welcher Täter die Buddy Multiplayer Session durchführt, ist unschädlich, da zwischen den Parteien unstreitig ist, dass die Buddy Multiplayer Session, mithin das klagepatentgemäße Verfahren, durchgeführt wird und nach der Rechtsprechung des X. Zivilsenats des BGH die Verantwortlichkeit für eine Patentverletzung nicht voraussetzt, dass der in Anspruch Genommene in seiner Person eine der in § 9 S. 2 PatG bezeichneten Handlungen vornimmt (BGHZ 107, 46 [53] = GRUR 1990, 997 - Ethofumesat). Schuldner der Ansprüche auf Unterlassung, Schadensersatz, Auskunft und Vernichtung der verletzenden Gegenstände kann vielmehr auch sein, wer lediglich eine weitere Ursache für die Rechtsverletzung setzt, indem er eine von ihm ermöglichte Rechtsverletzung durch einen Dritten nicht unterbindet, obwohl dies von ihm zu erwarten wäre (BGHZ 142, 7 [12f.] = NJW 2000, 213 = GRUR 1999, 977 - Räumschild).</p>
<p><rd nr="91"/>Danach haften die Beklagte als Nebentäterinnen für die Verletzung des Klageanspruch 15 (Verfahren). Denn die Beklagte hat unstreitig ihrer Muttergesellschaft der C Inc bei der Entwicklung und bei der Zurverfügungstellung des Spiels K zum Download und die C International Limited beim Abschluss der Nutzungsbedingungen mit den jeweiligen Nutzern zum Durchführen des Spiels K unterstützt und damit eine Ursache für die Anwendung des klagepatentgemäßen Verfahrens (Buddy Multiplayer Session mit drei Spielern) nach Anspruch 15 gesetzt. Insoweit hat die Beklagte auch pflichtwidrig gehandelt, da ihr vorsätzliches Handeln gerade auf die Durchführung des Spiels und mithin des klagepatentgemäßen Verfahrens durch einen Dritten abzielt. Unabhängig davon handelten sie auch pflichtwidrig, da sie Patentverletzung durch die angegriffene Ausführungsform weiterhin gefördert haben, nachdem sie von der Klägerin durch die Klageerhebung darauf aufmerksam gemacht worden waren, dass die angegriffene Ausführungsform das Klagepatent verletzt.</p>
<p><rd nr="92"/>cc) Die bei der Anwendung des klagepatentgemäßen Verfahrens nach Anspruch 15 von Dritten im Ausland durchgeführten Verfahrensschritte sind der Beklagten zuzurechnen.</p>
<p><rd nr="93"/>Für den Tatbestand des Anwendens kann vor diesem Hintergrund die Vornahme einer von mehreren notwendigen Maßnahmen im Inland ausreichen, wenn die im Ausland bewerkstelligten anderen Maßnahmen dem im Inland Handelnden ebenfalls zuzurechnen sind (Benkard/Scharen, a.a.O., § 9 PatG Rdnr. 49). Im Ausland begangene Teilakte sind hierbei dann wie inländische zu behandeln, wenn sich der Täter sie zu eigen macht für einen im Inland eintretenden Verletzungserfolg. Um eine zu weitgehende Verantwortlichkeit auszuschließen, ist in derartigen Fällen allerdings eine wirtschaftlichnormative Betrachtungsweise als geeignetes Korrektiv geboten, wonach das fragliche Verhalten für den notwendigen Zurechnungszusammenhang zielgerichtet auf eine Wirkung im inländischen Markt zugeschnitten sein muss. Dadurch erfolgt ein Eingreifen nationalen Patentschutzes nur in Fällen, die das nationale Schutzgebiet unmittelbar betreffen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2009 - I-2 U 51/08 - Prepaid-Telefonkarten). Eine Zurechnung ausländischer Verfahrensschritte ist insbesondere dann angezeigt, wenn bei einem Verfahren die ersten Verfahrensschritte im Ausland erfolgen und die restlichen Verfahrensschritte im Inland durchgeführt werden (zu Herstellungsverfahren OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2009 - I-2 U 51/08 - Prepaid-Telefonkarten). Gerade in einem solchen Fall muss sich der Anwender regelmäßig die zuvor von ihm (oder einem Dritten) im Ausland begonnene Durchführung des Verfahrens zurechnen lassen, weil er auf diesen Maßnahmen aufbaut und sich diese im Inland zu Nutze und zu eigen macht.</p>
<p><rd nr="94"/>Die von der angegriffenen Ausführungsform durchgeführten Verfahrensschritte sind dazu angelegt, eine Teilnahme eines inländischen Nutzers an der Buddy Multiplayer Session zu ermöglichen, denn, wie oben bereits ausgeführt, handelt es sich bei dem Ausführen der Buddy Multiplayer Session durch den ARBE zusammen mit den mobilen Endgeräten um einen Verfahrensschritt des Verfahrensanspruchs.</p>
<p><rd nr="95"/>Zwar werden die ersten Verfahrensschritte, die Korrelation der Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren und das Abgleichen der durch die Anfragemeldung angegebenen Anwendungen, im Ausland durchgeführt, jedoch erfolgt der klagepatentgemäße Zweck des durchzuführenden Verfahrens, nämlich das gemeinsame Ausführen der Anwendung durch den ARBE zusammen mit den mobilen Endgeräten einer Mehrzahl von Spielern der Buddy Multiplayer Session, in Deutschland. Insoweit wird auch gerade der klagepatentgemäße Vorteil, nämlich die Trennung zwischen Korrelationsserver und Anwendungsserver nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland verwirklicht, weil sich die mobilen Endgeräte, die zusammen mit dem Anwendungsserver die Anwendung ausführen, unstreitig im Inland befinden. Die Beklagte baut mit ihren Handlungen damit gerade auf die im Ausland begangenen Handlungen Dritter auf und macht sich diese im Inland zu Nutze.</p>
<p><rd nr="96"/>Soweit die Beklagte der Ansicht ist, das Ausführen der Anwendung sei nicht vom Anspruch 15 des Klagepatents umfasst, weil die Aufgabe des Klagepatents lediglich die Aktivierung der Anwendung sei, verkennt sie, dass zwar die Beschreibung lediglich davon spricht, die Anwendung zu aktivieren, der maßgebliche Anspruch 15 des Klagepatents jedoch ausdrücklich fordert, dass die Anwendung durch den Anwendungsserver zusammen mit den Vorrichtungen ausgeführt wird („carrying out an application involving matching devices“).</p>
<p><rd nr="97"/>Auch die durchzuführende wirtschaftlichnormative Betrachtung ergibt, dass vorliegend die Zurechnung der im Ausland vorgenommenen Verfahrenshandlungen zu erfolgen hat, denn die klagepatentgemäße Anwendung wird von den Nutzern zusammen mit dem im Ausland befindlichen Anwendungsserver im Inland ausgeführt. Die kommerzielle Nutzung der patentgemäßen Lehre erfolgt mithin ausschließlich im Inland.</p>
<p><rd nr="98"/>b) Darüber hinaus haftet die Beklagte als Täter für die Benutzungshandlung des Anbietens des Verfahrens nach Anspruch 15 des Klagepatents.</p>
<p><rd nr="99"/>Die Beklagte hat die angegriffene Ausführungsform zur Anwendung im Inland angeboten, denn die Beklagten stellen den Nutzern der angegriffenen Ausführungsform (Buddy Multiplayer Session) durch die Entwicklung und das Zurverfügungstellen der angegriffenen Ausführungsform bzw. dem Abschluss der Nutzungsbedingungen mit den Spielern zusammen mit der C Inc. und der C International Limited in Aussicht, dass die Anwendung des klagepatentgemäßen Verfahrens auf ihre Veranlassung durch einen Dritten durchgeführt wird. Kenntnis von einer möglichen Verletzung des klagepatentgemäßen Verfahrens im Inland haben die Beklagten jedenfalls seit Klageerhebung.</p>
<p><rd nr="100"/>Da, wie oben ausgeführt, die Anwendung in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, liegt ein Anbieten im Sinne des § 9 S. 2 Nr. 2 PatG vor.</p>
<p><rd nr="101"/>3. Die Beklagte ist hinsichtlich der Verletzung des Systemanspruchs (Anspruch 1 des Klagepatents) nicht passivlegitimiert. Sie hat die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland weder hergestellt, angeboten noch gebraucht. Wie oben ausgeführt umfasst das nach dem eingetragenen Anspruch 1 des Klagepatents geschützte System lediglich entsprechend ausgestaltete Korrelations- und Anwendungsserver. Weitere Bestandteile beinhaltet das nach Anspruch 1 des Klagepatents geschützte System nicht. Für die angegriffene Ausführungsform ist hinsichtlich des Anspruchs 1 mithin nur auf den streitgegenständlichen PLFE (Korrelationsserver) und den ARBE (Anwendungsserver) abzustellen. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist es daher für den Systemanspruch (eingetragener Anspruch 1) unerheblich, dass die Anwendung auf in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Mobilgeräten der jeweiligen Spieler ausgeführt wird oder Nachrichten zwischen dem PLFE und dem ARBE über die in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Vorrichtungen gesendet werden.</p>
<p><rd nr="102"/>a) Die Beklagte hat die angegriffene Ausführungsform nicht in der Bundesrepublik Deutschland gebraucht.</p>
<p><rd nr="103"/>Das Gebrauchen eines Erzeugnisses erfasst jedwede Verwendung, die irgendwie als bestimmungsgemäß oder sinnvoll gelten kann (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 46).</p>
<p><rd nr="104"/>Insoweit kann es vorliegend dahinstehen, ob die Beklagte die angegriffene Ausführungsform gebrauchen, denn jedenfalls erfolgt kein Gebrauchen in der Bundesrepublik Deutschland. Denn für eine inländische Benutzungshandlung eines Systems ist erforderlich, dass sich mindestens ein Bestandteil des Systems in Deutschland befindet. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Klägerin nicht vorgetragen hat, dass die Beklagte für den Betrieb der streitgegenständlichen Server verantwortlich sind oder welche Tätigkeit sie im Zusammenhang mit den Servern ausüben. Vielmehr hat sie lediglich vorgetragen, dass die Beklagte die C Inc. und die C International Limited unterstützt und die C Inc. die Entwicklerin der App „K “ ist und diese Spieleanwendung in Deutschland einer beliebigen Anzahl von Nutzern kostenlos zum Herunterladen auf handelsübliche Endgeräte anbietet und die jeweiligen Endnutzer, welche den K -Dienst mittels dieser App auf ihren Endgeräten in Deutschland nutzen, mit der C. diesbezügliche Nutzungsbedingungen abschließen.</p>
<p><rd nr="105"/>Im Hinblick auf das klagepatentgemäße System gemäß Anspruch 1, das - wie oben ausgeführt - leidglich aus dem mindesten einem Korrelationsserver und dem mindestens einem Anwendungsserver besteht, liegt jedenfalls kein Gebrauchen der angegriffenen Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland vor, da die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin nicht dargelegt und nachgewiesen hat, dass die streitgegenständlichen Server (PLFE und ARBE), in der Bundesrepublik Deutschland betrieben werden.</p>
<p><rd nr="106"/>Auf den unter Zeugenbeweis gestellten Vortrag der Beklagten, dass sich die streitgegenständlichen ARBE und PLFE nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern im Ausland, befänden, hat die Klägern unbestritten vorgetragen, dass die Beklagte zur Durchführung des Spiels K von Google einen Server in Deutschland (Frankfurt am Main) betreiben ließe. Dem Vortrag der Beklagten, dass es sich bei diesem Server nicht um den PLFE oder den ARBE handele, und zwischen der Beklagten und Google vertraglich sichergestellt sei, dass bestimmte Server, einschließlich PLFE und ARBE, ausschließlich in den USA betrieben würden, ist die Klägerin nicht mehr entgegengetreten und hat insoweit auch kein Beweis dafür angeboten, dass sich gerade PLFE und ARBE in der Bundesrepublik Deutschland befinden. Ebenso ist die Klägerin dem Vortrag der Beklagten, dass es sich bei dem in Frankfurt befindlichen Server um einen Serverendpunkt handele, der keinen spezifischen Bezug zur Buddy Multiplayer Session aufweise, sondern schlicht Teil des K - Spiels sei, in dem Mediendateien zwischengespeicherten würden, der jedoch nicht dazu verwendet werde, die für die Durchführung der angegriffenen Buddy Multiplayer Session erforderliche Spielelogik bereitzustellen, nicht entgegengetreten. Danach ist schon dem Vortrag der Klägerin nur zu entnehmen, dass lediglich ein Server, der für die Durchführung der Anwendung K verwendet wird, in der Bundesrepublik Deutschland betrieben wird. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin jedoch explizit die Buddy Multiplayer Session nebst den zugehörigen Servern als die angegriffene Ausführungsform definiert hat, kommt es nicht darauf an, ob ein Server, der für die Durchführung des gesamten Spiels K erforderlich ist, in der Bundesrepublik Deutschland befindet. Vielmehr ist allein relevant, ob sich die für den Betrieb der angegriffenen Ausführungsform (Buddy Multiplayer Session) erforderlichen Server in der Bundesrepublik Deutschland befinden. Dies lässt sich dem Vortrag der Klägerin hingegen gerade nicht entnehmen.</p>
<p><rd nr="107"/>Unabhängig davon ist die Klägerin für ihre Behauptung, die Beklagte gebrauche die angegriffene Ausführungsform in Deutschland, beweisfällig geblieben.</p>
<p><rd nr="108"/>b) Die Beklagte hat die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland nicht hergestellt und angeboten.</p>
<p><rd nr="109"/>Das Herstellens eines Erzeugnisses umfasst die gesamte Tätigkeit, durch die das Erzeugnis mit den im Patentanspruch definierten Merkmalen geschaffen wird, vom Beginn an und beschränkt sich nicht auf den letzten, die Vollendung des geschützten Erzeugnisses unmittelbar herbeiführenden Tätigkeitsakt (BGH GRUR 95, 338, 341 - Kleiderbügel).</p>
<p><rd nr="110"/>Das Anbieten umfasst alle Handlungen, die nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt einen schutzrechtsverletzenden Gegenstand der Nachfrage zur Verfügung stellen (BGHZ 167, 374, 378 - Kunststoffbügel) oder das Zustandekommen eines Geschäfts über einen unter dem Schutz des Patents stehenden Gegenstand ermöglichen oder befördern sollen, das die Benutzung dieses Gegenstands einschließt (BGH GRUR 2003, 1031, 1032 - Kupplung für optische Geräte). Maßgebend ist, ob derjenige, gegenüber dem die als mögliches „Anbieten“ zu qualifizierende Handlung vorgenommen wird, bei verständiger Würdigung der gegebenen objektiven Umstände annehmen muss, der „Anbietende“ sei bereit, ihm im Falle einer Bestellung den in Rede stehenden Gegenstand zur Verfügung zu stellen (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 41)</p>
<p><rd nr="111"/>Danach hat die Beklagte das streitgegenständliche System bestehend aus PLFE und ARBE in der Bundesrepublik Deutschland weder hergestellt noch angeboten. Denn die Klägerin hat lediglich vorgetragen, dass die Beklagten C Inc und die C International Limited unterstützt, die eine eigens entwickelte Anwendungssoftware zur Durchführung des Spiels K zum Herunterladen auf mobile Endgeräte zur Verfügung stellten und hierdurch die Benutzung des Dienstes und der Zugang zu der Server-Plattform in Deutschland ermöglicht werde. Mithin fehlt es an jeden Vortrag, dass die Beklagte die angegriffene Ausführungsform, bestehend aus PLFE und ARBE, in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt hat oder eine Handlung vorgenommen hat, die darauf gerichtet ist, die angegriffene Ausführungsform, also das System aus einem Korrelationsserver und einem Anwendungsserver, Dritten zur Verfügung zu stellen. Vielmehr richtet sich die von den Beklagten vorgenommenen Handlungen an die Nutzer des Spiels K. Diese sind jedoch nicht identisch mit möglichen Nachfragern nach dem System bestehend aus PLFE und ARBE.</p>
<p><rd nr="112"/>Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass die Beklagte Dritten die Nutzung des Spiels K in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichte, verkennt sie, dass das patentgemäßen System nach Anspruch 1 des Klagepatents nicht die Durchführung der Anwendung, also der Buddy Multiplayer Session des Spiels K, adressiert, sondern ein System bestehend aus (mindestens) zwei Servern unter Schutz stellt. Insoweit ist - wie bereits ausgeführt - zwischen dem Anbieten der Nutzung des Spiels K und dem Anbieten des Systems zu unterscheiden.</p>
<p><rd nr="113"/>V. Im Hinblick auf die Abweisung des Klageantrags zu Ziffer I.1.a) (Systemanspruch nach Anspruch 1), war (zusätzlich) insgesamt über den klageerweiternd geltend gemachten Hilfsantrag zu entscheiden, da die von der Klägerin definierte innerprozessuale Bedingung (Abweisung des Systemanspruchs) eingetreten ist.</p>
<p><rd nr="114"/>1. Die kurz vor der mündlichen Verhandlung erfolgte Klageänderung durch Erweiterung der Klage um Hilfsanträge ist zulässig. Zwar hat die Beklagte der Klageänderung nicht zugestimmt, die Klageänderung ist jedoch sachdienlich, weil eine Entscheidung über die geänderte Klage prozesswirtschaftlich ist, weil sie den Streitstoff des anhängigen Verfahrens ausräumt, einem andernfalls zu gewärtigenden Rechtsstreit vorbeugt, und die bisherigen Prozessergebnisse vollständig nutzbar bleiben.</p>
<p><rd nr="115"/>2. Die Hilfs-Klageanträge I.2.a) und I.2.b) sind unbegründet.</p>
<p><rd nr="116"/>a) Für die Auslegung der mit Klageantrag I.2. geltend gemachten Ansprüche ergeben sich im Hinblick auf den Hauptantrag folgende Änderungen.</p>
<p><rd nr="117"/>Der mit Klageantrag I.2.a) nunmehr geltend gemachte Systemanspruch umfasst - zusätzlich zu dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver - auch die Vorrichtungen, die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators und zu Senden von Anfragemeldungen mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind.</p>
<p><rd nr="118"/>Das Verfahren nach Antrag I.2.b) sieht zusätzlich das Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) durch die Vorrichtungen und das Senden von Anfragemeldungen mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators durch die Vorrichtung vor.</p>
<p><rd nr="119"/>b) Die Beklagte ist sowohl hinsichtlich des Systemanspruchs (Klageantrag I.2.a)) als auch hinsichtlich des Verfahrensanspruchs (Klageantrag I.2.b) nicht passivlegitimiert. aa) Dem mit dem Hilfsantrag gelten gemachte Systemanspruch fehlt es an einer inländischen Benutzungshandlung. Denn die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass die Beklagten oder Dritte, ggf. gemeinsam mit der Beklagten, das System bestehend aus dem Korrelations- und dem Anwendungsserver sowie den mobilen Endgeräten insgesamt täterschaftlich, mittäterschaftlich oder als Nebentäter im Inland gebrauchen. Zwar befinden sich die mobilen Endgeräte, also die klagepatentgemäßen Vorrichtungen, im Inland, jedoch hat die Klägerin nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich, dass ein Täter oder mehrere Mittäter bzw. Nebentäter das System bestehend aus einem Korrelations- und einem Anwendungsserver und benachbarten Vorrichtungen gebrauchen. Denn dies würde voraussetzen, dass der oder die Täter Tatherrschaft über die Nutzung sämtlicher Bestandteile des Systems innehaben bzw. pflichtwidrig den Gebrauch vorgenommen haben. Einen entsprechenden Vortrag hat die Klägerin jedoch nicht geführt. Vielmehr ist ersichtlich, dass das Gebrauchen der mobilen Endgeräte im Inland durch die jeweiligen Nutzer des Spiels K erfolgt. Diese handeln jedoch weder vorsätzlich noch fahrlässig hinsichtlich eines mittäterschaftlichen/nebentäterschaftlichen Gebrauchens eines Systems bestehend aus den mobilen Endgeräten, dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver. Mithin fehlt es an einem täterschaftlichen bzw. mittäterschaftlichen/nebentäterschaftlichen Gebrauchens des gesamten Systems. Vortrag zu einer mittelbaren Täterschaft hat die Klägerin ebenfalls nicht geleistet. Darüber hinaus ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Beklagte als Täter, Mittäter oder Nebentäter Vorrichtungen im Sinne des Klagepatents im Inland herstellt oder anbietet, um Buddy Multiplayer Sessions durchzuführen.</p>
<p><rd nr="120"/>Eines rechtlichen Hinweises auf den insoweit fehelenden Sachvortrag bedurfte es nicht, weil die Klägerin, im Hinblick auf die erst einen Tag vor dem Termin zur mündlichen Hauptverhandlung erfolgte Klageänderung, bewusst darauf verzichtet hat, neuen Sachvortrag zu leisten, und nur den bisher erfolgten Sachverhalt zur Entscheidung gestellt hat (vgl. Schriftsatz vom 13.7.2022; Protokoll vom 14.7.2022).</p>
<p><rd nr="121"/>bb) Hinsichtlich der mit dem Hilfsantrag geltend gemachten unmittelbaren Verletzung des Verfahrensanspruchs fehlt es an einer unmittelbaren Verletzung des hilfsweise geltend gemachten Anspruchs. Denn die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass die Beklagte oder ein oder mehrere Täter das gesamte Verfahren, insbesondere die Erfassung eines sensorischen Identifikators mittels einer Vorrichtung, bspw. eines mobilen Endgeräts, und das Senden einer Anfragemeldung mittels der Vorrichtung, täterschaftlich durchführen und insoweit eine unmittelbare Patentverletzung des Verfahrensanspruchs begehen. Soweit das Erfassen eines sensorischen Identifikators mittels einer Vorrichtung, bspw. eines mobilen Endgeräts, und das Senden einer Anfragemeldung mittels der Vorrichtung durch die Nutzer des Spiels K durchgeführt wird, handelt dieser nicht als Mittäter/Nebentäter neben den für die übrigen Verfahrensschritte verantwortlichen Mit- bzw. Nebentätern, da sie nicht bewusst und gewollt mit diesem zusammenwirken bzw. vorsätzlich oder fahrlässig eine patentverletzende Handlung ausführen. Im Übrigen fehlt insoweit jeglicher Vortrag. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass eine unmittelbare Patentverletzung auch dann in Betracht kommt, wenn in dem benutzten Teil der Erfindung der Erfindungsgedanke bis auf selbstverständliche, für die im Patent unter Schutz gestellte technische Lehre unbedeutende Zutaten bereits verwirklicht ist (OLG Düsseldorf, InstGE 13, 78 - Lungenfunktionsmessgerät). Denn anders als in dem vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fall, bei dem nach dem Erwerb der Software nur noch die Software auf einem vom Käufer bereitzustellenden Computer installiert werden musste, bedarf es vorliegend, neben dem Installieren der Applikation auch noch der Erfassung der sensorischen Identifikatoren und der Sendung einer Anfragemeldung durch die Nutzer. Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um einen selbstverständlichen, für den Erfindungsgedanken unwesentlichen Verfahrensschritt.</p>
<p><rd nr="122"/>Soweit möglicherweise eine mittelbare Patentverletzung vorliegt, hat sich die Klägerin hierauf nicht berufen, keinen entsprechenden Sachvortrag geleistet und keinen entsprechenden Antrag gestellt (§ 308 Abs. 1 ZPO).</p>
<p><rd nr="123"/>V. Da die übrigen Voraussetzungen einer Patentverletzung zwischen den Parteien zu Recht nicht umstritten sind, stehen der Klägerin die ausgeurteilten Ansprüche hinsichtlich des Verfahrensanspruchs (Klageantrag zu Ziffer I.1b) und Klageanträge I.3 und II. (soweit rückbezogen auf I.1.b)) zu.</p>
<p><rd nr="124"/>1. Der ausgesprochene Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140b Abs. 1, Abs. 3 PatG, §§ 242, 259 BGB.</p>
<p><rd nr="125"/>a) Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstandes unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.</p>
<p><rd nr="126"/>b) Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern.</p>
<p><rd nr="127"/>Die Klägerin ist im Übrigen auf die Angaben der Beklagten angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt. Die Beklagte wird durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt ist wie beantragt zu gewähren.</p>
<p><rd nr="128"/>2. Da die Beklagte die Verletzungshandlungen gemäß Ziffer I.1.b) zumindest fahrlässig begangen hat, ist sie dem Grunde nach zum Schadensersatz verpflichtet, Art. 64 Abs. 1, Abs. 3 EPÜ, § 139 Abs. 2 PatG.</p>
<p><rd nr="129"/>Bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte im Geschäftsbetrieb der Beklagten spätestens einen Monat nach Veröffentlichung der Erteilung des Klagepatents erkannt werden können und müssen, dass die angegriffenen Ausführungsform patentverletzend ist.</p>
<p><rd nr="130"/>Eine für die Feststellung der Schadensersatzpflicht ausreichende gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Schadens ist wegen des bereits eingetretenen Schadens aufgrund der geschehenen Patentbenutzungen begründet.</p>
<p>C.</p>
<p><rd nr="131"/>Eine Aussetzung mit Blick auf die erhobene Nichtigkeitsklage ist nach § 148 ZPO nicht veranlasst.</p>
<p><rd nr="132"/>I. Die Einleitung eines Einspruchsverfahrens oder die Erhebung einer Nichtigkeitsklage stellen als solches keinen Grund dar, das Verfahren auszusetzen. Anderenfalls würde man dem Angriff auf das Klagepatent eine den Patentschutz hemmende Wirkung beimessen, die ihm nach dem Gesetz gerade fremd ist (BGH GRUR 1987, 284 - Transportfahrzeug). Bei der gebotenen Interessenabwägung hat grundsätzlich das Interesse des Patentinhabers an der Durchsetzung des ihm erteilten Patents Vorrang (vgl. Cepl in: Cepl/Voß, aaO, § 148 ZPO Rn. 106 mwN). Denn das Patent bietet nur eine beschränkte Schutzdauer. Für die Dauer der Aussetzung ist das Schutzrecht mit Blick auf den Unterlassungsantrag, der einen wesentlichen Teil des Schutzrechts darstellt, praktisch aufgehoben. Daher kommt eine Aussetzung grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Vernichtung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Cepl in: Cepl/Voß, aaO, § 148 ZPO Rn. 107 m. w. N.).</p>
<p><rd nr="133"/>II. Nach diesen Maßstäben ist das Verfahren nicht auszusetzen.</p>
<p><rd nr="134"/>Vorliegend ist für die Aussetzungsfrage allein der geltend gemachte Anspruch 15 in seiner eingetragenen Fassung maßgeblich. Soweit die Klage hinsichtlich des geltend gemachten Systemanspruchs und der hilfsweise geltend gemachten Ansprüche abgewiesen wurde, hängt die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht von dem Rechtsbestand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung und der mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Ansprüchen ab, so dass eine Aussetzung im Hinblick hierauf von vornherein nicht in Betracht kommt.</p>
<p><rd nr="135"/>Der Gegenstand des für die Aussetzungsfrage allein maßgeblichen Anspruchs 15 (Verfahrensanspruch) in der erteilten Fassung ist nach Auffassung der Kammer rechtsbeständig. Die von den Beklagten im Rahmen ihres Aussetzungsantrags geltend gemachten Nichtigkeitsargumente greifen nicht durch. Der Gegenstand des Anspruchs 15 des Klagepatents ist neu und erfinderisch.</p>
<p><rd nr="136"/>1. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Gegenstand von Patentanspruch 15 durch die Entgegenhaltung US 2007/0093258 (Anlage B 4 = D1) nicht neuheitsschädlich vorweggenommen.</p>
<p><rd nr="137"/>Die D 1 betrifft ein System zur Implementierung von ressourcen- und/oder standortbasierter Abgleichdienste zwischen einem Benutzer eines drahtlosen Endgeräts (bspw. eines Mobiltelefons) und einer oder mehreren Ressourcen. Das in der D1 offenbarte System ist so konfiguriert, dass es einen Benutzer mit einer oder mehreren Ressourcen auf der Grundlage der Eigenschaften, Präferenzen und/oder des Standorts des Benutzers zusammenbringt, wobei zu Ressourcen andere Benutzer, gezielte Werbung, Unternehmen und/oder nahe gelegene Geschäfte zählen. Das in der D1 offenbarte System umfasst unter anderem verschiedene Mobilgeräte, die mit einem Server kommunizieren, der einen „Matching Engine“ und einen Application Server umfasst.</p>
<p><rd nr="138"/>Entgegen der Ansicht der Beklagten umfass die Entgegenhaltung D1 jedoch kein Verfahren zur Korrelation von Darstellungen sensorischer Identifikatoren (Merkmal 15.2.1). Soweit die Beklagte insoweit ausführt, dass das in der D1 offenbarte System dazu eingerichtet sei, Standortdaten zu korrelieren, handelt es sich bei Standortdaten, wie oben ausgeführt, nicht um Darstellungen sensorischer Identifikatoren im Sinne des Klagepatents, sondern um andere Identifikatoren. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, für den Systemanspruch komme es nicht darauf an, ob Darstellungen sensorischer Identifikatoren korreliert würden, da es sich aus Sicht des Korrelationsservers lediglich um eine (beliebige) Zahlenfolge handelt, kann es dahinstehen, ob diese Argumentation zutreffend ist, da, wie ausgeführt, für die Frage der Aussetzung lediglich auf den allein maßgeblichen Verfahrensanspruch abzustellen ist, der in Merkmal 15.2.1 jedoch ausdrücklich die Korrelation von Darstellungen sensorischer Identifikatoren fordert.</p>
<p><rd nr="139"/>2. Auch der Gegenstand der entgegengehaltenen Druckschrift US2005/0277472 A1 (Anlage B4 = D2) steht der Patentfähigkeit der Gegenstände des Klagepatents nicht entgegen.</p>
<p><rd nr="140"/>Denn auch das System der Entgegenhaltung D2 korreliert unstreitig wiederum lediglich übermittelte Standortinformationen und mithin keine Darstellungen sensorischer Identifikatoren. Auf die Ausführungen zu D1 kann insoweit verwiesen werden.</p>
<p><rd nr="141"/>3. Es ist auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass das Klagepatent mangels erfinderischer Tätigkeit ausgehend von der Entgegenhaltung US 2007/0174243 A1 (Anlage B 6 = D5) vernichtet werden wird.</p>
<p><rd nr="142"/>Denn eine Erfindung beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit, wenn Sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Nach der Rechtsprechung bedarf es, damit ein von den bisher beschrittenen Wegen abweichender Lösungsweg naheliegt, in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen und Hinweise oder sonstige Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen (BGH GRUR 2009, 746, 748 - Betrieb einer Sicherheitseinrichtung).</p>
<p><rd nr="143"/>Auch die Wahl des als nächstliegenden Stand der Technik herangezogenen Ausgangspunktes bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel aus dem Bemühen des Fachmanns abzuleiten ist, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder auch nur eine andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (BGH GRUR 2009, 1039, 1040 - Fischbissanzeiger).</p>
<p><rd nr="144"/>Insoweit fehlt es bereits an Vortrag der Beklagten, warum der Fachmann gerade die D5 als nächstliegenden Stand der Technik herangezogen hätte.</p>
<p><rd nr="145"/>Darüber hinaus offenbart die Entgegenhaltung D5 unstreitig keinen vom Korrelationsserver verschieden Anwendungsserver, der eine Anwendung ausführt. Soweit die Beklagten der Ansicht sind, dass es für den Fachmann ausgehend von den in Absatz [0018] der D1 genannten „sozialen Interessen“ naheliegend gewesen sei, das System der Entgegenhaltung D5 um einen von dem Korrelationsserver getrennten Anwendungsserver zu erweitern, verkennt sie, dass die dort genannten sozialen Interessen vom Korrelationsserver herangezogen wurden, um Nutzer abzugleichen, die dieselben Interessen teilen, um die passenden Nutzer zu matchen. Insoweit dürfte es aus Sicht des Fachmanns jedoch gerade nicht naheliegend gewesen sein, das auf das Matchen der Nutzer abzielende System dahingehend zu erweitern, dass die zuvor gematchten Nutzer, unter Nutzung des Systems, sodann gemeinsam Anwendungen ausführen.</p>
<p><rd nr="146"/>4. Die Kammer übt daher - unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls - das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend aus, das Verfahren nicht auszusetzen.</p>
<p>D.</p>
<p><rd nr="147"/>I. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92 Abs. 1 ZPO.</p>
<p><rd nr="148"/>Der Streitwert war, in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Parteien, zu jeweils 50% auf den System- und den Verfahrensanspruch aufzuteilen.</p>
<p><rd nr="149"/>II. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO. Die Höhe der Sicherheitsleistung ergibt sich aus den Angaben der Klägerin, der die Beklagten nicht entgegengetreten sind.</p>
<p><rd nr="150"/>III. Die Berechnung des Streitwerts ergibt sich aufgrund der Angaben der Klägerin in der Klage.</p>
<p><rd nr="151"/>Nach allgemeiner Auffassung stellt die eigene Wertangabe eines Klägers oder Antragstellers zu Beginn des Verfahrens ein gewichtiges Indiz für eine zutreffende Bewertung dar (ständige Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München, vgl. WRP 2008, 972 - Jackpot-Werbung vgl. auch BGH GRUR 1986, 93 - Berufungssumme GRUR 1977, 748 - Kaffeeverlosung II;), weil in diesem Verfahrensstadium, in dem die spätere Kostentragungspflicht noch offen ist, erfahrungsgemäß Angaben von größerer Objektivität erwartet werden dürfen, als zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kostentragungspflicht mit erheblicher Sicherheit vorauszusehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2008, - X ZR 125/06, juris). Dies gilt nur dann nicht, wenn sich die Wertangabe eines Klägers oder Antragstellers nicht in objektiv vertretbaren Grenzen gehalten hat (vgl. WRP 2008, 972 - Jackpot-Werbung).</p>
<p><rd nr="152"/>Vorliegend sind keine Gründe dafür ersichtlich, von der Angabe der Klägerin in der Klage abzugehen. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, der Streitwert sei untersetzt, weil der Jahresumsatz des Konzerns der Beklagten 900.000.000 bis 1.000.000.000 US-Dollar betrage. Davon entfielen 7 - 8% auf den Markt in Deutschland und davon 1% auf das Spiel „K“. Jedoch konnte die Klägerin keine Angaben dazu machen, welcher Anteil des Umsatzes auf die angegriffene Ausführungsform, mithin die Buddy Multiplayer Session, entfällt. Mangels besserer Erkenntnisse zum Umsatz des Konzerns der Beklagten mit der angegriffenen Ausführungsform besteht keine Veranlassung, von der ursprünglichen Streitwertangabe der Klägerin (€ 250.000,0 für drei Beklagte; € 166.700,00 nach Abtrennung der C G. GmbH) abzuweichen.</p>
<p><rd nr="153"/>IV. Sofern die Beklagte mit Schriftsatz vom 28.07.2022, nach Schluss der mündlichen Verhandlung, erstmalig die Abtretung der Ansprüche der vormaligen Inhaber des Klagepatents bestritten hat, war dieser Vortrag wegen § 296a ZPO als verspätet zurückzuweisen. Zwar war der Beklagten eine Schriftsatzfrist eingeräumt worden, jedoch war der Schriftsatznachlass auf Vorbringen zur vorläufigen Auslegung der Kammer, der Streitwertangaben der Klägerin, dem Vortrag der Klägerin im Termin zu den Algorithmen und dem Schriftsatz der Klägerin vom 13.07.2022 (Hilfsanträge) beschränkt. Ein Schriftsatzrecht zu dem bereits in der Klage erfolgten Vortrag der Klägerin zur Aktivlegitimation wurde hingegen nicht eingeräumt. Ein Anlass, die mündliche Verhandlung gemäß § 156 ZPO wiederzueröffnen, besteht nicht.</p>
</div>
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} | 19 E 899/21 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-27T10:01:30 | 2022-10-17T11:09:32 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0818.19E899.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der angefochtene Beschluss wird teilweise geändert.</p>
<p>Der Streitwert für das erstinstanzliche Klageverfahren wird auf 25.000,00 Euro festgesetzt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.</p>
<p>Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Das Oberverwaltungsgericht entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter als Einzelrichter, weil auch der angefochtene Streitwertbeschluss eine Einzelrichterentscheidung ist (§ 66 Abs. 6 Satz 1, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG). Diese Vorschriften finden nach ihrem Sinn und Zweck nicht nur auf eine erstinstanzliche Einzelrichterentscheidung nach § 6 VwGO Anwendung, sondern auch auf eine erstinstanzliche Berichterstatterentscheidung gemäß § 87a Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Mai 2021 - 19 E 311/21 -, juris, Rn. 1, vom 6. Juli 2020 - 4 E 845/19 -, juris, Rn. 1, und vom 23. Oktober 2018 - 13 E 737/18 -, juris, Rn. 1; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. April 2014 - 1 S 400/14 -, juris, Rn. 2 ff.; vgl. zum Streitstand Jacob, in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 87a Rn. 19; a. A. OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 18. März 2019 ‑ OVG 3 L 36.19 -, juris, Rn. 4, alle m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Eine Übertragung des Beschwerdeverfahrens an den Senat nach § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG kommt nicht in Betracht, da es weder besondere Schwierigkeiten aufweist noch die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Mit ihr begehrt der Kläger die Herabsetzung des Streitwerts für das durch Rücknahme beendete erstinstanzliche Klageverfahren von 50.000,00 Euro auf 15.000,00 Euro mit der Begründung, im korrespondierenden Eilverfahren habe der Senat den Streitwert auf 7.500,00 Euro festgesetzt. Mit diesem Begehren hat er in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Streitgegenstand dieses Klageverfahrens waren die Führungsuntersagung in Nr. I.1. und I.2. und die Androhung eines Zwangsgelds in Höhe von 50.000,00 Euro in Nr. II. der Untersagungsverfügung vom 11. Juli 2018.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">I. Die Streitwertbeschwerde ist begründet, soweit der Kläger mit ihr die Herabsetzung des Streitwerts von 50.000,00 Euro auf 25.000,00 Euro begehrt. In Anlehnung an Nr. 1.7.1 Satz 3 und Nr. 1.7.2 Satz 2 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Heft 1, Sonderbeilage, S. 4) ist der Streitwert vorliegend auf den für die Zwangsgeldandrohung anzusetzenden Betrag von 25.000,00 Euro festzusetzen, da er höher ist als der für die Grundverfügung selbst zu bemessende Streitwert. Denn die Bedeutung der Untersagung der Führung eines Titels, eines Grads oder einer Bezeichnung für den Kläger, auf die es nach diesen Vorschriften für die Streitwertfestsetzung ankommt, bemisst der Senat in ständiger Praxis in Anlehnung an Nr. 18.7 des Streitwertkatalogs mit dem dreifachen Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG, also 15.000,00 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 24. September 2021 ‑ 19 B 854/21 ‑, juris, Rn. 3, und vom 9. Januar 2020 ‑ 19 B 757/19 ‑, juris, Rn. 11 ff., vom 27. Februar 2018 ‑ 19 B 4/18 -, juris, Rn. 4, und vom 13. August 2013 ‑ 19 B 1032/12 -, juris, Rn. 41 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dabei folgt der Senat der obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach in Anlehnung an Nr. 1.7.1 Satz 3 des Streitwertkatalogs für eine Zwangsmittelandrohung nicht der volle angedrohte Betrag in Höhe von 50.000,00 Euro festzusetzen ist, sondern der halbe Wert in Höhe von 25.000,00 Euro, der auch in einem selbstständigen Vollstreckungsverfahren anzusetzen wäre. Mit dieser Halbierung tragen Nr. 1.7.1 Satz 3 des Streitwertkatalogs und die daran anknüpfende Streitwertpraxis der Gerichte dem Umstand Rechnung, dass die Behörde mit einer Zwangsgeldandrohung noch keine unmittelbare Zahlungsverpflichtung begründet, die allein den vollen Betrag als Streitwert rechtfertigen könnte. In der Formulierung in Nr. 1.7.2 Satz 2 des Streitwertkatalogs findet diese Erwägung keinen erneuten Ausdruck. Sie kann daher bei zu eng am Wortlaut haftender Anwendung zu einem Wertungswiderspruch zu Nr. 1.7.1 Satz 3 des Streitwertkatalogs führen (Nr. 1.7.2 Satz 2: „Soweit die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes bzw. des für die Ersatzvornahme zu entrichtenden Vorschusses höher ist als der für die Grundverfügung selbst zu bemessende Streitwert, ist dieser höhere Wert festzusetzen.“). Es gibt keinen sachlichen Grund, den Streitwert für eine Zwangsgeldandrohung bei einer Verbindung mit der Grundverfügung mit dem vollen Zwangsgeldbetrag zu bemessen, während der Streitwert bei einer Zwangsgeldandrohung, die Gegenstand eines selbstständigen Vollstreckungsverfahrens ist, nach Nr. 1.7.1 Satz 3 des Streitwertkatalogs nur in Höhe der Hälfte des angedrohten Zwangsgelds festzusetzen ist.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Ebenso OVG NRW, Beschluss vom 23. Dezember 2019 - 14 E 1003/19 -, juris, Rn. 3 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 16. März 2017 - 9 C 17.324 -, NVwZ-RR 2017, 512, juris, Rn. 6; Sächs. OVG, Beschlüsse vom 29. Juni 2015 - 1 E 48/15 -, juris, Rn. 3, und vom 8. April 2015 - 3 E 16/15 -, juris, Rn. 8 ff.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">In den Fällen, in denen die Rechtsprechung den Streitwert davon abweichend auf den vollen Betrag des angedrohten Zwangsgelds festsetzt, geschieht dies zumeist ohne inhaltliche Begründung.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. März 2021 - 14 B 151/21 -, juris, Rn. 7; Bay. VGH, Beschluss vom 8. Januar 2021 - 9 ZB 19.282 -, juris, Rn. 25; Sächs. OVG, Beschlüsse vom 20. Dezember 2019 - 6 B 44/19 -, juris, Rn. 21, und vom 29. November 2019 ‑ 6 B 143/18 -, NVwZ-RR 2020, 777, juris, Rn. 83; Nds. OVG, Beschluss vom 18. Juni 2018 ‑ 11 LA 237/16 -, ZfWG 2018, 428, juris, Rn. 114; OVG Berlin-Bbg. Beschlüsse vom 29. September 2017 ‑ OVG 2 S 14.17 -, juris, Rn. 22, und vom 2. Dezember 2016 - OVG 1 S 104.15 -, ZfWG 2017, 45, juris, Rn. 55; Hess. VGH, Beschluss vom 4. März 2014 - 6 B 2049/13 -, juris, Rn. 43.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Soweit ein Wertungswiderspruch zu Nr. 1.7.1 Satz 3 des Streitwertkatalogs mit der Begründung verneint wird, dass bei einer mit einer Zwangsgeldandrohung verbundenen Grundverfügung das auf die Beseitigung des Grundverwaltungsakts bezogene Interesse des Antragstellers zu berücksichtigen sei,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">so Hess. VGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 - 6 TE 2258/06 -, NVwZ-RR 2007, 427, juris, Rn. 2,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">vermag dies im Ergebnis nicht zu überzeugen. Denn Nr. 1.7.2 Satz 2 des Streitwertkatalogs greift nur, wenn der für die Grundverfügung selbst zu bemessende Streitwert hinter dem für die Zwangsgeldandrohung anzusetzenden Betrag zurückbleibt. Wenn in diesem Fall bei einer mit einer Zwangsgeldandrohung verbundenen Grundverfügung der Streitwert nach dem vollen Zwangsgeldbetrag bemessen wird, obwohl die Behörde das Zwangsgeld bislang lediglich angedroht und noch nicht festgesetzt hat, wäre der Streitwert höher als die Summe der Streitwerte, die für eine isolierte Grundverfügung und eine isolierte Zwangsgeldandrohung anzusetzen wären (im vorliegenden Fall: 15.000,00 Euro + 25.000,00 Euro = 40.000,00 Euro). Dies widerspräche auch der Wertung der Nr. 1.7.2 Satz 1 des Streitwertkatalogs, wonach bei einer mit einer Zwangsgeldandrohung verbundenen Grundverfügung die für die Bemessung des Streitwerts maßgebliche Bedeutung der Sache für den Kläger (§ 52 Abs. 1 GKG) geringer zu bewerten ist als bei zwei selbstständig angegriffenen Verfügungen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">II. Die weitergehende Streitwertbeschwerde ist unbegründet. Für die vom Kläger begehrte weitere Herabsetzung des Streitwerts auf 15.000,00 Euro fehlt eine Grundlage. Ohne Erfolg bleibt der Kläger insbesondere mit seinem Hinweis auf die Streitwertfestsetzung auf 7.500,00 Euro im korrespondierenden Eilverfahren (OVG NRW, Beschluss vom 24. September 2021 ‑ 19 B 854/21 ‑, juris). Hierbei lässt der Kläger die an Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 1.7.1 Satz 2 des Streitwertkatalogs anknüpfende Praxis außer Betracht, in Eilverfahren für die Zwangsgeldandrohung ein Achtel des angedrohten Zwangsgelds als Streitwert anzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kostenhinweis ergibt sich aus § 68 Abs. 3 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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} | 7 O 10368/21 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-26T10:01:47 | 2022-10-17T11:09:30 | Endurteil | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>I. Die Beklagten werden verurteilt,</p>
<p>1. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Juli 2019</p>
<p>ein Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2), die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind,</p>
<p>angewendet oder zur Anwendung angeboten haben,</p>
<p>wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>- Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>- Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird und das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6), ausgeführt wird, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) unterschiedliche Server sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht, wobei de mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen identifizierten Anwendungsserver die Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen sendet;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 15)</p>
<p>nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ mit mindestens drei Teilnehmern oder kerngleiche und zwar unter Angabe</p>
<p>a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,</p>
<p>b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der</p>
<p>c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,</p>
<p>wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;</p>
<p>2. der Klägerin darüber Rechnung zu legen ist, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die zu Ziffer I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 3. August 2019 begangen haben, und zwar unter Angabe:</p>
<p>a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, - preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,</p>
<p>b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, - preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,</p>
<p>c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet sowie bei Internetwerbung der Internetadressen, der Schaltungszeiträume und der Zugriffszahlen,</p>
<p>d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,</p>
<p>wobei den Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob eine bestimmte Lieferung oder ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist.</p>
<p>II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner - zusammen mit der im Verfahren 7 O 113977/21 verurteilten Beklagten C Germany GmbH - verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin und den vormaligen Inhabern des Klagepatents durch die zu I.1 bezeichneten seit dem 3. August 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.</p>
<p>III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>IV. Die Klägerin trägt 50% der Gerichtskosten sowie der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) und 2), die Beklagten tragen als Gesamtschuldner 50% der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Im Übrigen trägt jede Partei ihre Kosten selbst.</p>
<p>V. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von</p>
<p>- einheitlich 25.000,00 € für Ziffern I.1 und I.2</p>
<p>- 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages für Ziffer IV.</p>
<p>Streitwert: Der Streitwert wird endgültig auf 166.800,00 € festgesetzt.</p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents EP 414 B1, Anlage K1, (im Folgenden: Klagepatent) und nimmt die Beklagten wegen unmittelbarer Patentverletzung in Anspruch.</p>
<p><rd nr="2"/>Das Klagepatent wurde am 25. Mai 2010 angemeldet und nimmt Prioritäten der europäischen Anmeldungen …930 mit Priorität vom 22. Mai 2009, …329 mit Priorität vom 28. Oktober 2009 und …966 mit Priorität vom 18. Dezember 2009 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents wurde am 3. Juli 2019 vom Europäischen Patentamt veröffentlicht. Die eingetragenen Patentansprüche 1 und 15 des Klagepatents lauten im englischen Original wie folgt:</p>
<p>„1. A system (40, 50) for identifying proximate devices (1, 2) arranged for detecting a sensory identifier (ID) and transmitting request messages (RQ1, RQ2) comprising representations of the detected sensory identifier, the system comprising:</p>
<p>- means for correlating representations of the detected sensory identifiers from the request messages received from the devices (1, 2) so as to match two or more of those devices, and</p>
<p>- means for carrying out an application involving devices that have been matched by said means for correlating representations,</p>
<p>wherein said means for correlating are at least one correlation server (5) and said means for carrying out the application are at least one application server (6), the at least one correlation server (5) and the at least one application server (6) being distinct servers,</p>
<p>wherein the proximate devices (1, 2) are arranged to include, in the request messages (RQ1, RQ2), an indication of an application to be executed, the at least one correlation server (5) being configured to compare the applications indicated by the request messages, and causing a transmitter (88) to transmit the match message based on the match to an application server identified by the matching indications of the application in the matched request messages.</p>
<p>15. A method of identifying proximate devices (1, 2) arranged for detecting a sensory identifier (ID) and transmitting request messages (RQ1, RQ2) comprising representations of the detected sensory identifier, the method comprising the steps of:</p>
<p>- correlating representations of the detected sensory identifiers from the request messages received from the devices (1, 2) so as to match two or more of those devices, and</p>
<p>- carrying out an application involving matching devices,</p>
<p>wherein said matching is performed by at least one correlation server (5) and said carrying out the application is performed by at least one application server (6) the at least one correlation server (5) and the at least one application server (6) being distinct servers, the least one correlation server (5) comparing applications indicated by the request messages, the least one correlation server (5) transmitting the match message to an application server identified by the matching of the application in the matched request messages.“</p>
<p><rd nr="3"/>Wegen der weiteren Details wird auf die Patentschrift verwiesen.</p>
<p><rd nr="4"/>Die Klägerin greift die „Buddy Multiplayer Session“ der „Real World Gaming“-Plattform „K“ an. Die Beklagte zu 2) ist die Entwicklerin der App „K“ und bietet die App in der Bundesrepublik Deutschland zum Herunterladen an. Die Nutzer der App „K“ schließen mit der Beklagten zu 1) Nutzungsbedingungen für die Nutzung der App ab.</p>
<p><rd nr="5"/>Die Klägerin meint, die angegriffene Ausführungsform mache von der Lehre des Klagepatents gebrauch, weil die angegriffene Ausführungsform eine geteilte AugmentedReality-Erfahrung (nachfolgend: geteilte AR-Erfahrung oder Shared AR-Experience) ermögliche, in dessen Rahmen bis zu drei Spieler ein gemeinsames AR-Erlebnis ermöglicht werde. Dabei sende - insoweit unstreitig - der die Shared AR-Experience erstellende Spieler („Host:Client“) eine Anfrage an den Player Frontend Server (nachfolgend: PLFE). Dieser setze eine Buddy Multiplayer-Session auf und übermittele an den Host:Client einen verschlüsselten Token (nachfolgend: ARBE-Token) und eine Session ID, mittels UUID (=Universally Unique Identifier). Anschließend übermittele der Host:Client den ARBE-Token an den Augmented Reality Backend Server (nachfolgend: ARBE) und generiere, basierend auf dem empfangenen UUID, einen QR-Code, der eine Abbildung der UUID darstelle. Spieler, die an der Buddy Multiplayer Session teilnehmen möchten („Peer:Clients“), scannten den auf dem mobilen Endgerät des Host:Client dargestellten QR-Code mit ihren Endgeräten und erhielten so die UUID, die sie mittels einer Anfrage an den PLFE sendeten. Vom PLFE erhielten die Peer:Clients den ARBE-Token, den sie an den ARBE übermittelten, um sodann zur Buddy Multiplayer Session zu gelangen.</p>
<p><rd nr="6"/>Zum besseren Verständnis, wird nachfolgend die von den Beklagten vorgelegte Grafik zur Funktionsweise der angegriffenen Ausführungsform eingeblendet:</p>
<p><img src="BayBuergerServiceRS_2022_21235-1-de.jpeg" alt=""/></p>
<p><rd nr="7"/>Die Klägerin trägt vor, ursprüngliche Anmelderin und Inhaberin des Klagepatents sei die E. gewesen. Diese habe gemäß Verpflichtungs- und Übertragungsvertrag vom 25. Februar 2020 mit der T. das Klagepatent mit allen Rechten und Pflichten, einschließlich der Ansprüche auf Schadensersatz, Auskunft und Rechnungslegung für die Vergangenheit, auf diese übertragen. Die T. wiederum habe das Klagepatent mit allen Rechten und Pflichten, einschließlich der Ansprüche auf Schadensersatz, Auskunft und Rechnungslegung für die Vergangenheit, gemäß Verpflichtungs- und Übertragungsvertrag, mit Wirkung zum 17. Juli 2020, auf die Klägerin übertragen.</p>
<p><rd nr="8"/>Nach Erweiterung der Klage um Hilfsanträge beantragt die Klägerin zuletzt:</p>
<p>I. Die Beklagte zu verurteilen,</p>
<p>1. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Juli 2019</p>
<p>a) ein System (40, 50) zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen (1, 2), die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind,</p>
<p>hergestellt, angeboten und/oder gebraucht haben,</p>
<p>wobei das System Folgendes umfasst:</p>
<p>- Mittel zum Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und;</p>
<p>- Mittel zum Ausführen einer Anwendung mit Vorrichtungen, die durch die Mittel zum Korrelieren von Darstellungen abgeglichen wurden,</p>
<p>wobei die Mittel zum Korrelieren mindestens ein Korrelationsserver (5) sind und die Mittel zum Ausführen der Anwendung mindestens ein Anwendungsserver (6) sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind, wobei die benachbarten Vorrichtungen (1, 2) dazu eingerichtet sind, um in den Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) eine Angabe einer auszuführenden Anwendung zu enthalten, wobei der mindestens eine der Korrelationsserver (5) dazu konfiguriert ist, um die durch die Anfragemeldungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen, und bewirkt, dass ein Sender (88) die Abgleichsmeldung auf der Grundlage des Abgleichs an einen Anwendungsserver sendet, der durch die abgleichenden Angaben der Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen identifiziert wird;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 1)</p>
<p>insbesondere wenn,</p>
<p>der mindestens eine Anwendungsserver (6) dazu eingerichtet ist, direkt mit den Vorrichtungen (1, 2) zu kommunizieren, mindestens nachdem er eine Abgleichsmeldung empfangen hat, die die Vorrichtungen auf Grundlage des Erfassens dieser Korrelation vom Korrelationsserver angibt;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 6)</p>
<p>nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste;</p>
<p>b) ein Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2), die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind,</p>
<p>angewendet oder zur Anwendung angeboten haben,</p>
<p>wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>- Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>- Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird und das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6), ausgeführt wird, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) unterschiedliche Server sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen identifizierten Anwendungsserver die Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen sendet;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 15)</p>
<p>nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste</p>
<p>und zwar unter Angabe</p>
<p>a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,</p>
<p>b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,</p>
<p>c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,</p>
<p>wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;</p>
<p>2. Hilfsweise für den Fall der Klageabweisung des Systemanspruchs (Klageantrag I.1.a))</p>
<p>der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 3. Juli 2019</p>
<p>a) ein System (40, 50) zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen (1, 2), hergestellt, angeboten und/oder gebraucht haben, wobei das System Folgendes umfasst:</p>
<p>- die Vorrichtungen, die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind;</p>
<p>- Mittel zum Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und;</p>
<p>- Mittel zum Ausführen einer Anwendung mit Vorrichtungen, die durch die Mittel zum Korrelieren von Darstellungen abgeglichen wurden,</p>
<p>wobei die Mittel zum Korrelieren mindestens ein Korrelationsserver (5) sind und die Mittel zum Ausführen der Anwendung mindestens ein Anwendungsserver (6) sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind, wobei die benachbarten Vorrichtungen (1, 2) dazu eingerichtet sind, um in den Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) eine Angabe einer auszuführenden Anwendung zu enthalten, wobei der mindestens eine der Korrelationsserver (5) dazu konfiguriert ist, um die durch die Anfragemeldungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen, und bewirkt, dass ein Sender (88) die Abgleichsmeldung auf der Grundlage des Abgleichs an einen Anwendungsserver sendet, der durch die abgleichenden Angaben der Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen identifiziert wird;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 1)</p>
<p>insbesondere wenn,</p>
<p>der mindestens eine Anwendungsserver (6) dazu eingerichtet ist, direkt mit den Vorrichtungen (1, 2) zu kommunizieren, mindestens nachdem er eine Abgleichsmeldung empfangen hat, die die Vorrichtungen auf Grundlage des Erfassens dieser Korrelation vom Korrelationsserver angibt;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 6)</p>
<p>nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste;</p>
<p>b) ein Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2), angewendet oder zur Anwendung angeboten haben, wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p>- Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) durch die Vorrichtungen und Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators durch die Vorrichtungen,</p>
<p>- Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>- Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird und das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6) ausgeführt wird, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) unterschiedliche Server sind, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht, wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen identifizierten Anwendungsserver die Anwendung in den abgleichenden Anfragemeldungen sendet;</p>
<p>(unmittelbare Verletzung Anspruch 15)</p>
<p>nämlich die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ oder kerngleiche Dienste;</p>
<p>und zwar unter Angabe</p>
<p>a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,</p>
<p>b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,</p>
<p>c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,</p>
<p>wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;</p>
<p>3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen ist, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die zu Ziffer I.1, hilfsweise der zu Ziffer I.2 bezeichneten Handlungen seit dem 3. August 2019 begangen haben, und zwar unter Angabe:</p>
<p>a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,</p>
<p>b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,</p>
<p>c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet sowie bei Internetwerbung der Internetadressen, der Schaltungszeiträume und der Zugriffszahlen,</p>
<p>d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,</p>
<p>wobei den Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob eine bestimmte Lieferung oder ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;</p>
<p>II. Festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu I.1 bezeichneten, hilfsweise der ihr durch die zu I.2. bezeichneten, seit dem 3. August 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird;</p>
<p>Die C D. GmbH hat beim Bundespatentgericht am 31. Januar 2022 eine Nichtigkeitsklage gegen das Klagepatent anhängig gemacht (Az. 5 Ni 2/22 (EP); Anlagenkonvolut B2).</p>
<p><rd nr="9"/>Die Beklagten stimmen einer etwaigen Klageänderung nicht zu und beantragen,</p>
<p>1. die Klage abzuweisen;</p>
<p>hilfsweise,</p>
<p>2. den Rechtsstreit bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung des Bundespatentgerichts über die Nichtigkeitsklage der C D. GmbH vom 22.01.2022, Az. 5 Ni 2/22 (EP), gegen das Klagepatent ausgesetzt.</p>
<p><rd nr="10"/>Die Klägerin wendet sich gegen eine Aussetzung des Verfahrens.</p>
<p><rd nr="11"/>Die Beklagten bestreiten die Übertragung des Klagepatents mit Nichtwissen, da die Klägerin die Übertragungsverträge nicht vorgelegt habe.</p>
<p><rd nr="12"/>Die Beklagten stellen eine Patentbenutzung in Abrede, insbesondere vergleiche der PFLE nur die UUID und nicht eine Darstellung der sensorischen Identifikatoren und die durch die Anfragemeldung angezeigte Anwendung. Zudem vergleiche der PLFE die von einem Client empfangene UUID nicht mit einer anderen empfangenen UUID, sondern mit einer serverseitig generierten und gespeicherten UUID. Auch sende der PLFE die Abgleichsmeldung nicht - wie vom Klagepatent vorgesehen - direkt an den ARBE. Zudem handelt es sich beim PLFE und dem ARBE nicht um verschiedene („distinct“) Server.</p>
<p><rd nr="13"/>Zudem fehle es an einer inländischen Benutzungshandlung. Die für den MultiplayerModus erforderlichen Server (PFLE und ARBE) und befänden sich nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in den Vereinigten Staaten von Amerika. Soweit die Beklagten Server in der Bundesrepublik Deutschland nutzten, stellten diese keine für die Durchführung der angegriffenen Ausführungsform erforderliche Spielelogik bereit.</p>
<p><rd nr="14"/>Die Beklagten sind der Ansicht, dass es sich bei der Merkmalsgruppe 1 der eingetragenen Ansprüche 1 und 15, die sich auf die benachbarten Vorrichtungen beziehe, um eine Zweckangabe handele. Es sei daher ausreichend, dass das System (Anspruch 1) dazu eingerichtet sei, entsprechende Anfragemeldungen von Vorrichtungen, die Darstellungen eines sensorischen Identifikators und die Angabe einer auszuführenden Anwendung enthielten, empfangen zu können.</p>
<p><rd nr="15"/>Im Übrigen sei das Klagepatent offensichtlich nicht rechtsbeständig. Mangels Neuheit fehle die Patentfähigkeit, insbesondere gegenüber den Entgegenhaltungen D1 und D 2. Zudem beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.</p>
<p><rd nr="16"/>Das Verfahren gegen die Beklagte C G. GmbH wurde mit Beschluss vom 19.10.2021 abgetrennt und wird nunmehr unter dem Az. 7 O 13977/21 geführt. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf sämtliche Schriftsätze nebst Anlagen sowie alle gerichtlichen Verfügungen, Beschlüsse und Protokolle Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="17"/>Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Das Verfahren ist nicht auszusetzen.</p>
<p>A.</p>
<p><rd nr="18"/>Die Klage ist zulässig. Das Landgericht München I ist zuständig. Der Schadensersatzfeststellungsantrag ist zulässig. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, § 256 Abs. 1 ZPO. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagten ist vor Erteilung der Auskunft noch nicht bezifferbar.</p>
<p>B.</p>
<p><rd nr="19"/>Der von der Klägerin gestellte Klageantrag zu Ziffer II. ist dahingehend auszulegen, dass sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihr den Schaden zu ersetzten, der ihr bzw. den vormaligen Inhabern des Klagepatents entstanden ist.</p>
<p><rd nr="20"/>Anträge der Parteien sind als Prozesshandlungen der Auslegung fähig. Die zur Auslegung materiellrechtlicher Rechtsgeschäfte entwickelten Regeln sind entsprechend heranzuziehen. Danach kann nicht der bloße Wortlaut des Antrags entscheidend sein, sondern der durch ihn verkörperte Wille. Es ist dementsprechend nicht nur darauf zu abzustellen, ob der Antrag für sich allein betrachtet einen eindeutigen Sinn ergibt, sondern es ist auch die dem Antrag beigegebene Begründung zu beachten. Wie der Klageantrag zu verstehen ist, darf also nicht allein dem bloßen Wortlaut des Antrags entnommen werden, sondern hierfür ist auch die Sachverhaltsschilderung des Klägers maßgebend. Bei einer vom Gericht vorgenommenen Auslegung ist von dem Grundsatz auszugehen, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht.</p>
<p><rd nr="21"/>Danach ist der von der Klägerin gestellte Klageantrag II. dahingehend auszulegen, dass sie die Verpflichtung der Beklagten, ihr den Schaden zu ersetzten, der den jeweiligen Inhabern des Klagepatents entstanden ist, festgestellt wissen möchte. Zwar hat die Klägerin in dem Klageantrag beantragt, festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr entstanden ist. Zur Begründung des Schadensersatzanspruchs beruft sie sich jedoch auf die zwischen ihr und den vorherigen Inhabern des Klagepatents erfolgte Abtretung der streitgegenständlichen Ansprüche, so dass sie ihr Klagebegehren jedenfalls teilweise auf Ansprüche aus abgetretenem Recht stützt. Da dieses Klagebegehren - wohl versehentlich - keinen Niederschlag im Klageantrag gefunden hat, war der Antrag entsprechend auszulegen.</p>
<p>C.</p>
<p><rd nr="22"/>Die Klägerin ist als eingetragene Patentinhaberin aktivlegitimiert. Die Beklagten haben keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte aufgezeigt, aus denen sich die Unrichtigkeit des Patentregisters ergibt.</p>
<p><rd nr="23"/>Zwar hat die Eintragung im Patentregister keinen Einfluss auf die materielle Rechtslage, so dass für die Sachlegitimation im Verletzungsrechtsstreit nicht der Eintrag im Patentregister, sondern die materielle Rechtslage maßgeblich ist. Jedoch ist die Eintragung im Patentregister für die Beurteilung der Frage, wer materiellrechtlich Inhaber des Patents ist, nicht bedeutungslos. Ihr kommt im Rechtsstreit eine erhebliche Indizwirkung zu. Daher bedarf es in einem Verletzungsrechtsstreit regelmäßig keines weiteren Vortrags oder Beweisantritts, wenn sich eine Partei auf den aus dem Patentregister ersichtlichen Rechtsstand beruft. Eine Partei, die geltend macht, die materielle Rechtslage weiche vom Registerstand ab, muss vielmehr konkrete Anhaltspunkte aufzeigen, aus denen sich die Unrichtigkeit ergibt. Welche Anforderungen hierbei zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. So wird der Vortrag, ein im Patentregister eingetragener Rechtsübergang habe einige Wochen oder Monate vor dessen Eintragung stattgefunden, in der Regel keiner näheren Substantiierung oder Beweisführung bedürfen. Der Vortrag, der eingetragene Inhaber habe das Patent nicht wirksam oder zu einem anderen Zeitpunkt erworben, erfordert demgegenüber in der Regel nähere Darlegungen dazu, woraus sich die Unwirksamkeit des eingetragenen Rechtsübergangs ergeben soll (BGH, GRUR 2013, 713 - Fräsverfahren).</p>
<p><rd nr="24"/>Diesen Anforderungen wird der Vortrag der Beklagten nicht gerecht. Die Beklagten haben die Übertragung des Klagepatents lediglich mit Nichtwissen bestritten und keine Umstände vorgetragen, aus denen sich die Unwirksamkeit der eingetragenen Rechtsübergänge ergibt. Weiteren Vortrag der Klägerin, die konkret zum Übergang der Rechte vorgetragen hat, bedurfte es daher nicht.</p>
<p><rd nr="25"/>Soweit die Klägerin aus abgetretenem Recht klagt, haben die Beklagten die Wirksamkeit der Abtretung nicht bestritten, sondern lediglich die Übertragung des Klagepatents mit Nichtwissen bestritten. Das erstmalige Bestreiten der Abtretung der Ansprüche der vormaligen Inhaber des Klagepatents durch die Beklagten im nachgelassenen Schriftsatz war wegen § 296a ZPO als verspätet zurückzuweisen (vgl. unten D.). Insoweit haben die Beklagten keinen Schriftsatznachlass beantragt oder bekommen.</p>
<p>C.</p>
<p><rd nr="26"/>I. Das Klagepatent betrifft ein System und ein Verfahren zur Identifizierung von Vorrichtungen, die sich räumlich nahe sind.</p>
<p><rd nr="27"/>1. Im Stand der Technik sind Anwendungen, bspw. Spiele, bekannt, die auf mobilen Geräten genutzt werden können. Zum Teil erfordern diese Spiele mehrere Spieler, wobei jeder Spieler seine eigene Vorrichtung verwendet. Bevor ein Spiel mit mehreren Spielern beginnen kann, ist es erforderlich, die Spieler auszuwählen und ihre Vorrichtungen entsprechend zu identifizieren ([0002] und [0007]).</p>
<p><rd nr="28"/>Nach dem Klagepatent stehen verschieden Arten zur Identifizierung bereit. Zum Beispiel könne eine gespeicherte Telefonliste mit Telefonnummern anderer Mobilgeräte verwendet werden ([0003]). Jedoch enthalte eine solche Telefonliste keine Informationen über die Verfügbarkeit und Nähe der anderen Mobilgeräte. Für ein Multiplayer-Spiel, bei dem sich die jeweiligen Spieler in unmittelbarer Nähe (etwa Sichtabstand) befänden, müssten die Mobilgeräte daher auf andere Weise identifiziert werden ([0003]). Insoweit sei es möglich, die jeweilige Telefonnummer eines teilnehmenden Mobiltelefons manuell einzugeben ([0003]) oder die Identifizierung mittels Bluetooth vorzunehmen ([0004]).</p>
<p><rd nr="29"/>In Absatz [0008] der Beschreibung weist das Klagepatent zudem auf die internationale Patentanmeldung WO2009/014438 hin. Diese offenbare einen Anwendungsserver, der ein Verfahren nutze, bei dem sich in räumlicher Nähe befindende mobile Vorrichtungen mittels sensorischer Identifikatoren, bspw. einem Ton oder einem Bild, identifiziert werden. Die in der WO2009/014438 offenbarte Identifikationstechnik werde typischerweise genutzt, um eine Anwendung (bspw. ein Spiel) zu starten, an der die identifizierten Vorrichtungen teilnehmen. Zur Ausführung der Anwendung werde in der Regel derjenige Server verwendet, der auch die Identifikation durchgeführt hat.</p>
<p><rd nr="30"/>2. Das Klagepatent kritisiert an diesem Stand der Technik, dass eine Identifizierung mittels manueller Eingabe der Telefonnummern umständlich und fehleranfällig sei ([0003]). Auch die Verwendung von Bluetooth sei weder schnell noch mühelos, weil die zu identifizierenden Geräte zunächst aus einer Liste ausgewählt werden und gegebenenfalls auch ein Passwort abgefragt werde müssten ([0004]). Im Hinblick auf die Patentanmeldung WO2009/014438 kritisiert das Klagepatent, dass in diesem System die Korrelations- und die Anwendungsfunktion durch dieselbe Servereinheit ausgeführt werde, was gut funktioniere, sofern nur ein einzelner Server verwendet werde. Sofern diese Anordnung jedoch skaliert werde, werde sie ineffizient. Denn seien verschiedene Server jeweils für die Ausführung von unterschiedlichen Anwendungen eingerichtet, müsse der Identifikationsprozess (Korrelationsfunktion) durch jeden dieser Server gesondert durchgeführt werden, d.h. jeder einzelne Server müsste dazu eingerichtet sein, sowohl die Identifikation als auch die jeweilige Anwendung ausführen zu können. Insoweit müsste für jeden einzelnen Server der notwendige Speicherplatz und eine entsprechende Verarbeitungskapazität für beide Vorgänge vorgehalten werden ([0047]).</p>
<p><rd nr="31"/>3. Das Klagepatent stellt sich die Aufgabe, ein System und ein Verfahren mit einem einfachen und zugleich effektiven Mechanismus zum Identifizieren von Mobilgeräten, die sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, bereit zu stellen um nach der Identifizierung der Vorrichtungen anschließend eine Anwendung von mehreren unterschiedlichen Anwendungen zu aktivieren und auszuführen.</p>
<p><rd nr="32"/>4. Zur Lösung dieses Problems schlagen Klagepatentanspruch 1 ein System und Klagepatentanspruch 15 ein Verfahren vor, die sich wie folgt merkmalsmäßig gliedern lassen:</p>
<p>Anspruch 1</p>
<p>1. System (40, 50) zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen (1, 2),</p>
<p><rd nr="33"/>1.1 die Vorrichtungen sind eingerichtet</p>
<p>1.1.1 zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und</p>
<p>1.1.2 zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2)</p>
<p>1.1.2.1 mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators,</p>
<p>1.1.3 um in den Anfragemeldungen (RQ1, RQ2) eine Angabe einer auszuführenden Anwendung zu enthalten,</p>
<p>1.2 wobei das System Folgendes umfasst:</p>
<p><rd nr="34"/>1.2.1 Mittel zum Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und</p>
<p>1.2.1.1 wobei die Mittel zum Korrelieren mindestens ein Korrelationsserver (5) sind</p>
<p>1.2.1.2 und wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5)</p>
<p>1.2.1.2.1 dazu konfiguriert ist, um die durch die Anfragemeldungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen, und</p>
<p>1.2.1.2.2 bewirkt, dass ein Sender (88) die Abgleichsmeldung auf der Grundlage des Abgleichs an einen Anwendungsserver sendet, der durch die abgeglichenen Angaben der Anwendung in den abgeglichenen Anfragemeldungen identifiziert wird.</p>
<p><rd nr="35"/>1.2.2 Mittel zum Ausführen einer Anwendung mit Vorrichtungen, die durch die Mittel zum Korrelieren von Darstellungen abgeglichen wurden,</p>
<p>1.2.2.1 wobei die Mittel zum Ausführen der Anwendung mindestens ein Anwendungsserver (6) sind,</p>
<p>1.2.3 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind.</p>
<p>Anspruch 15</p>
<p>15. Verfahren zum Identifizieren von benachbarten Vorrichtungen (1, 2),</p>
<p><rd nr="36"/>15.1 die Vorrichtungen sind eingerichtet</p>
<p>15.1.1 zum Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) und 15.1.2 zum Senden von Anfragemeldungen (RQ1, RQ2)</p>
<p>15.1.2.1 mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators,</p>
<p>15.2 wobei das Verfahren die folgenden Schritte umfasst:</p>
<p><rd nr="37"/>15.2.1 Korrelieren von Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren aus den von den Vorrichtungen (1, 2) empfangenen Anfragemeldungen, um zwei oder mehr dieser Vorrichtungen abzugleichen, und 15.2.1.1 wobei das Abgleichen von mindestens einem Korrelationsserver (5) ausgeführt wird</p>
<p>15.2.1.2 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) durch die Anfragemeldungen angegebene Anwendungen vergleicht,</p>
<p>15.2.1.3 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) die Abgleichsmeldung an einen durch das Abgleichen der Anwendung in den abgeglichenen Anfragemeldungen identifizierten Anwendungsserver sendet;</p>
<p>15.2.2 Ausführen einer Anwendung mit abgestimmten Vorrichtungen,</p>
<p>15.2.2.1 wobei das Ausführen der Anwendung von mindestens einem Anwendungsserver (6) ausgeführt wird;</p>
<p>15.2.3 wobei der mindestens eine Korrelationsserver (5) und der mindestens eine Anwendungsserver (6) verschiedene Server sind.</p>
<p><rd nr="38"/>II. Diese Lehre bedarf der näheren Erläuterung:</p>
<p>1. Anspruch 1 (Systemanspruch)</p>
<p><rd nr="39"/>a) Die durch das Klagepatent unter Schutz gestellte technische Lehre ist aus der Sicht des angesprochenen Durchschnittsfachmanns, der über ein Diplom- oder Masterabschluss auf dem Gebiet der Elektrotechnik und mehrjährige Berufserfahrung im Bereich der Serverarchitektur verfügt, aus den Merkmalen der hier maßgeblichen Klagepatentansprüchen 1 und 15 im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit unter Heranziehung der Beschreibung sowie der Zeichnungen zu ermitteln.</p>
<p><rd nr="40"/>b) Merkmalsgruppe 1 entnimmt der Fachmann, dass es sich um ein Zweckangabe handelt und das klagepatentgemäße System daher (lediglich) geeignet sein muss zum Identifizieren benachbarter Vorrichtungen.</p>
<p><rd nr="41"/>Die in der Merkmalsgruppe 1 beschriebenen benachbarten Vorrichtungen sind klagepatentgemäß so ausgestaltet, dass sie sensorische Identifikatoren erfassen können. Insoweit entnimmt der Fachmann Absatz [0017], dass hierunter Identifikatoren zu verstehen sind, die mit den menschlichen Sinnen erfasst werden können, wie z.B. Töne, Bilder, Gerüche, Temperaturen, Bewegungen und/oder Beschleunigungen, oder auch ein Barcode (vgl. [0037]). Klagepatentgemäß handelt es sich bei Ortsidentifikatoren hingegen nicht um sensorische Identifikatoren, sondern um andere Identifikatoren, [0017].</p>
<p><rd nr="42"/>Die erfassten sensorischen Identifikatoren dienen klagepatentgemäß der Identifizierung benachbarter Vorrichtungen (vgl. [0042]), wobei das Erfassen der sensorischen Identifikatoren bspw. durch einen Scanner oder eine Kamera erfolgen kann.</p>
<p><rd nr="43"/>Soweit die Merkmalsgruppe 1 die Ausgestaltung der benachbarten Vorrichtungen weiter definiert, entnimmt der Fachmann dem Klagepatent, dass die Vorrichtungen geeignet sein müssen, eine Darstellung des erfassten sensorischen Identifikators zu erzeugen und eine Anfragemeldungen zu senden [0015], wobei die Anfragemeldungen Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren (Merkmal 1.1.2.1) und eine Angabe der auszuführenden Anwendung, bspw. ein auszuführendes Spiel (vgl. [0014] und [0029]), enthalten müssen.</p>
<p><rd nr="44"/>c) Die Merkmale 1.2.1 und 1.2.1.1 versteht der Fachmann dahingehend, dass das klagepatentgemäße System (mindestens) einen Korrelationsserver umfasst, der geeignet sein muss, die von den benachbarten Vorrichtungen gesendeten Anfragemeldungen zu empfangen und die in den Anfragemeldungen enthaltenen Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren zu korrelieren um abzugleichen, ob sich die Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren der zwei oder mehr benachbarten Vorrichtungen entsprechen („so as to match two or more of those devices“). Bei der Darstellung der erfassten sensorischen Identifikatoren kann es sich klagepatentgemäß um eine Zahlenfolge handeln [0018].</p>
<p><rd nr="45"/>Wie die Korrelation der Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren der mindestens zwei benachbarten Vorrichtungen im Einzelnen erfolgt, lässt der Anspruch 1 des Klagepatents offen. Soweit die Beklagten der Ansicht sind, dass die Darstellungen der empfangenen sensorischen Identifikatoren jeweils (direkt) miteinander verglichen werden müssen, findet diese Auslegung keine Stütze in der Klagepatentschrift. Vielmehr gibt das Klagepatent in der Beschreibung lediglich vor, dass die Korrelation dazu dient, festzustellen, ob die mit der Anfragemeldung von den benachbarten Vorrichtungen empfangenen Daten, also die Darstellungen der sensorischen Identifikatoren, übereinstimmen um festzustellen, ob sich die zwei oder mehr benachbarten Vorrichtungen aufeinander beziehen. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass durch Vergleich oder andere Methoden festgestellt wird, ob sich die empfangenen Daten entsprechen, bspw. auf dasselbe Ereignis beziehen [0045]. Insoweit ist es klagepatentgemäß auch möglich, dass die von den Vorrichtungen gesendeten Darstellungen der sensorischen Identifikatoren nicht miteinander verglichen werden, sondern jeweils mit einer bereits im Korrelationsserver vorhandenen Darstellung der sensorischen Identifikatoren. Denn der Korrelationsserver kann auch auf diese Weise feststellen, ob sich die empfangenen Darstellungen der sensorischen Identifikatoren entsprechen, mithin auf dasselbe Ereignis beziehen. Einen direkten Vergleich der empfangen Darstellungen der sensorischen Identifikatoren hingegen fordert weder der Wortlaut des Anspruchs 1 noch die Beschreibung des Klagepatents.</p>
<p><rd nr="46"/>Soweit die Beklagten erstmalig im nachgelassenen Schriftsatz vorgetragen haben, dass der Korrelationsserver die Vorrichtungen, die Darstellungen der sensorischen Identifikatoren senden, „matchen“ müsse im Sinne eines Herstellens einer Verknüpfung zwischen den Vorrichtungen, ergibt sich dies ebenfalls nicht aus dem Klagepatentanspruch 1. Dieser fordert, wie dargelegt, nur, dass die Darstellungen sensorischer Identifikatoren durch den Korrelationsserver korreliert werden müssen. Dass der Korrelationsserver durch das Korrelieren zudem eine Verknüpfung zwischen den Vorrichtungen herstellen muss, fordert der Anspruch hingegen nicht.</p>
<p><rd nr="47"/>d) Merkmal 1.2.1.2.1 entnimmt der Fachmann, dass der Korrelationsserver dazu konfiguriert sein muss, die durch die Anfragemeldungen der benachbarten Vorrichtungen angezeigten Anwendungen zu vergleichen. In Verbindung mit Merkmal 1.2.1.2.2 erkennt der Fachmann, dass der Vergleich der angezeigten Anwendungen durch den Korrelationsserver erfolgt, um nach Durchführung des Vergleichs der angezeigten Anwendungen einen Sender gemäß Merkmal 1.2.1.2.2 in die Lage zu versetzten, eine Abgleichsmeldung an den durch den Vergleich der angezeigten Anwendungen identifizierten Anwendungsserver zu senden. Die Identifikation des zutreffenden Anwendungsservers ist insbesondere in den Fällen erforderlich, in denen ein Korrelationsserver die Korrelation der Darstellungen der sensorischen Identifikatoren für eine Mehrzahl von Anwendungen verschiedener Anwendungsserver durchführt, damit der Sender die Abgleichsmeldung an den zutreffenden Anwendungsserver senden kann.</p>
<p><rd nr="48"/>Im Hinblick auf die klagepatentgemäße Funktion des Vergleichs der Anwendungen ist es, entgegen der Ansicht der Beklagten, nicht erforderlich, dass es sich bei der in der Anfragemeldung enthaltenen Angabe einer Anwendung um eine von der Darstellung des sensorischen Identifikatoren unterschiedliche Zahlenfolge handelt, die in einem weiteren Datenfeld der Anfragemeldung enthalten sein muss, denn nach der klagepatentgemäßen Funktion des Vergleichs der Anwendung durch den Korrelationsserver ist dies nicht erforderlich. Vielmehr kommt es nur darauf an, dass der klagepatentgemäße Korrelationsserver in der Lage ist, den von den Nutzern der benachbarten Vorrichtung zur Ausführung der Anwendung benötigten Anwendungsserver zu identifizieren. Dies erfordert jedoch keine von der Darstellung der sensorischen Identifikatoren getrennte Zahlenfolge.</p>
<p><rd nr="49"/>Soweit sich die Beklagten zur Begründung ihrer Ansicht auf die Figur 7 und die hierzu korrespondierende Beschreibungsstelle [0065] sowie den Absatz [0071] der Beschreibung des Klagepatents beziehen, handelt es sich hierbei jeweils lediglich um Ausführungsbeispiele, die den Klagepatentanspruch nicht einschränken.</p>
<p><rd nr="50"/>e) Merkmal 1.2.1.2.2 verlangt, dass der Korrelationsserver dazu eingerichtet ist, zu bewirken, dass ein nicht näher definierter Sender auf Grundlage des Abgleichs der angezeigten Anwendungen (vgl. Merkmal 1.2.1.2.1) eine Abgleichsmeldung an den identifizierten Anwendungsserver sendet.</p>
<p><rd nr="51"/>Wie die Abgleichsmeldung ausgestaltet sein kann, lässt der Klagepatentanspruch offen. Erforderlich ist lediglich, dass diese Meldung aufgrund des Abgleichs erfolgt und an den aufgrund des Abgleichs identifizierten Anwendungsserver gesendet wird.</p>
<p><rd nr="52"/>Darüber hinaus fordert Anspruch 1 des Klagepatents, entgegen der Ansicht der Beklagten, nicht, dass der Korrelationsserver die Abgleichsmeldung sendet, vielmehr ist es ausreichend, dass der Korrelationssverver die Sendung der Abgleichsmeldung bewirkt („causing a transmitter“).</p>
<p><rd nr="53"/>Soweit die Beklagten der Ansicht sind, Merkmal 1.2.1.2.2 verlange eine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver, findet diese Ansicht, wie gezeigt, bereits im Anspruchswortlaut keine Stütze. Vielmehr fordert dieser noch nicht einmal, dass der Korrelationsserver die Abgleichmeldung sendet. Entsprechend lässt sich dem Anspruch nicht entnehmen, dass eine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver stattfinden muss. Im Einklang hierzu steht, dass nach Absatz [0051] des Klagepatents auch ein System anspruchsgemäß sein kann, bei dem keine direkte Kommunikation zwischen Korrelationsserver und Anwendungsserver stattfindet (vgl. insoweit auch Fig. 4b). Soweit die Beklagten auf das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 6 verweisen, ist zutreffend, dass in dem mit Figur 6 beschriebenen Ausführungsbeispiel eine direkte Kommunikation zwischen Korrelationsserver und Anwendungsserver stattfindet, jedoch handelt es sich hierbei wiederum nur um eine nicht einschränkendes Ausführungsbeispiel.</p>
<p><rd nr="54"/>Entgegen der Ansicht der Beklagten lässt sich auch aus der Einschränkung des Anspruchs 1 im Erteilungsverfahren nicht entnehmen, dass mit der Einschränkung des ursprünglichen Patentanspruchs eine Beschränkung auf eine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver beabsichtigt war. Denn Absatz [0071], auf den sich die Klägerin zur Begründung der Einschränkung des Anspruchs im Erteilungsverfahren berufen hat, fordert ebenfalls keine direkte Kommunikation zwischen dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver.</p>
<p><rd nr="55"/>f) Nach den Merkmalen 1.2.2 und 1.2.2.1 umfasst das klagepatentgemäße System neben dem Korrelationsserver auch ein Mittel zum Ausführen der Anwendung, bei dem es sich um (mindestens) einen Anwendungsserver handelt, der geeignet ist, die klagepatentgemäße Anwendung unter Einbeziehung derjenigen benachbarten Vorrichtungen auszuführen, die die Anfragemeldungen an den Korrelationsserver gesendet haben und daraufhin vom Korrelationsserver nach Merkmal 1.2.1 abgeglichen wurden.</p>
<p><rd nr="56"/>Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass neben dem Korrelations- und dem Anwendungsserver auch die benachbarten Vorrichtungen Teil des Systems seien, wie sich aus den Absätzen [0048] und [0058] ergebe, ist ihr zwar insoweit zuzugeben, dass in dem in den Absätzen [0048] und [0058] beschriebenen Ausführungsbeispiel die Vorrichtungen („client devices“) als Teil des erfindungsgemäßen Systems beschrieben sind. Abweichend hiervon ergibt sich aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 jedoch, dass der Anspruch 1 des Klagepatents ein System umfasst, das lediglich die beiden Mittel zum Korrelieren („means for correlating“) und Mittel zum Ausführen („means for carrying out an application“) umfasst („comprising“). Darüber hinaus stellt der maßgebliche Anspruch 1 in Merkmal 1.2.2.1 ausdrücklich klar, dass das Mittel zum Ausführen der Anwendung gerade der (mindestens) einen Anwendungsserver ist („wherein said means for correlating are at least one correlation server“) und nicht der Anwendungsserver zusammen mit den abgeglichenen Vorrichtungen. In Übereinstimmung hiermit stellt Absatz [0001] des Klagepatents klar, dass es sich bei der gegenständlichen Erfindung um ein System bestehend aus einem Korrelationsserver und einem Applikationsserver handelt.</p>
<p><rd nr="57"/>g) Merkmal 1.2.3 entnimmt der Fachmann, dass es klagepatentgemäß darauf ankommt,</p>
<p>dass jeder Server einen eigeständigen Funktionsbereich hat, mithin die dedizierten Aufgaben des Korrelierens einerseits und des Ausführens der Anwendung andererseits nicht in einer Servereinheit kombiniert sind, so dass es möglich ist, das beanspruchte Server-System effizient zu skalieren, [0075], indem beispielsweise ein System ermöglicht wird, in dem ein Server eine Anwendung bereitstellt, die Aufgabe des Korrelierens jedoch auf eine Mehrzahl von Korrelationsservern ausgegliedert wird. Umgekehrt ist es klagepatentgemäß möglich, eine Mehrzahl von ausführbaren Anwendungen auf verschiedene Anwendungsserver zu verteilen und gleichzeitig die Aufgabe des Korrelierens auf einen Korrelationsserver zu konzentrieren. Dem Klagepatent kommt es insoweit darauf an, dass nicht jeder Server über Ressourcen, bspw. Speicher, verfügen muss, um sowohl die Korrelations- als auch die Anwendungsfunktion ausführen zu können. Dabei können zwei oder mehr Server auch auf derselben Recheneinheit betrieben werden, [0050].</p>
<p>2. Anspruch 15 (Verfahrensanspruch)</p>
<p><rd nr="58"/>a) Die Ausführungen zur Auslegung des Klagepatents gelten im Wesentlichen sinngemäß für den Verfahrensanspruch. Soweit sich hinsichtlich der Auslegung des Verfahrensanspruch (Anspruch 15) Unterschiede zur Auslegung des Systemanspruchs (Anspruch 1) ergeben, werden diese nachfolgend dargestellt:</p>
<p><rd nr="59"/>b) Merkmal 15.2.1 verlangt, dass das Verfahren Darstellungen sensorischer Identifikatoren korreliert, mithin Zahlenfolgen, die tatsächlich einen sensorischen Identifikator repräsentieren.</p>
<p><rd nr="60"/>c) Entgegen Merkmal 1.2.1.2.2 muss nach Merkmal 15.2.1.3 der Korrelationsserver die Abgleichsmeldung senden. Jedoch fordert auch der Verfahrensanspruch nicht, dass der Korrelationsserver die Abgleichsmeldung direkt an den Anwendungsserver sendet.</p>
<p><rd nr="61"/>d) Abweichend von den Merkmalen 1.2.2 und 1.2.2.1 setzt der Vorrichtungsanspruch in den Merkmalen 15.2.2 und 15.2.2.1 voraus, dass die Anwendung zusammen mit abgestimmten Vorrichtungen ausgeführt wird („carrying out an application involving matching devices“). Im Unterschied zum Systemanspruch, der lediglich das Vorhandensein eines Anwendungsservers fordert, der geeignet ist, zusammen mit abgestimmten Vorrichtungen eine Anwendung auszuführen, verlangt der Verfahrensanspruch ausweislich des insoweit eindeutigen Wortlauts des Anspruch 15, dass die identifizierte Anwendung vom Anwendungsserver zusammen mit den abgestimmten Vorrichtungen (Merkmal 15.2.2) ausgeführt wird, wobei das Klagepatent es offen lässt, in welcher Art und Weise die Vorrichtungen die Anwendung zusammen mit dem die Anwendung ausführenden Anwendungsserver ausführen, also in welchem Umfang die Vorrichtungen an der Ausführung der Anwendung beteiligt sind. Ausreichend ist jedenfalls nach den Merkmalen 15.2.2 und 15.2.2.1, dass die Vorrichtungen an der Ausführung der Anwendung in irgendeiner Art und Weise beteiligt sind.</p>
<p><rd nr="62"/>Soweit nach Merkmal 15.2.2.1 die Ausführung der Anwendung vom Anwendungsserver auszuführen ist, ist dieses Merkmal nicht dahingehend zu verstehen, dass die Ausführung - anders als es Merkmal 15.2.2 verlangt - allein durch den Anwendungsserver ausgeführt wird und die Vorrichtungen an der Ausführung nicht beteiligt sind, sondern dahingehen, dass Merkmal 15.2.2.1 das klagepatentgemäße Verfahren dahingehend vom Stand der Technik abgrenzen möchte, dass die Anwendung (nur) vom Anwendungsserver und nicht auch vom Korrelationsserver ausgeführt wird.</p>
<p><rd nr="63"/>III. Die angegriffene Ausführungsform macht vom Gegenstand des Anspruchs 1 und des Anspruchs 15 des Klagepatents Gebrauch. Auf den hilfsweise zu Klageantrag I.1 a) gestellten „insbesondere“-Antrag (Unteranspruch 6 Klagepatents) kommt es nicht (mehr) an.</p>
<p><rd nr="64"/>1. Die angegriffene Ausführungsform wurde von der Klägerin als die „Buddy Multiplayer Sessions“ der „Real World Gaming“-Plattform „K “ bestimmt. Insoweit steht es der Klägerin frei, die angegriffene Ausführungsform zu definieren. Insbesondere muss die Klägerin nicht - wie die Beklagten meinen - die gesamte „Real World Gaming“-Plattform „K “ angreifen.</p>
<p><rd nr="65"/>Soweit die Klägerin bei der Bestimmung der angegriffenen Ausführungsform nicht auch ausdrücklich auf die, für die Durchführung der „Buddy Multiplayer Session“ erforderlichen, Player Frontend Server (PLFE) und Augmented Reality Backend Server (ARBE) abstellt, ergibt sich aus ihrem Verletzungsvortrag zum Systemanspruch, dass diese insoweit Teil der angegriffenen Ausführungsform sind.</p>
<p><rd nr="66"/>2. Die angegriffene Ausführungsform macht unmittelbar wortsinngemäß von Patentanspruch 1 des Klagepatents Gebrauch.</p>
<p><rd nr="67"/>a) Die Parteien streiten um die Benutzung der Merkmale 1.2.1, 1.2.1.2.1, 1.2.1.2.2 und 1.2.3. Gegen die Benutzung der übrigen Merkmale wenden sich die Beklagten zu Recht nicht. Denn diese werden von der angegriffenen Ausführungsform verwirklicht.</p>
<p><rd nr="68"/>b) Die angegriffene Ausführungsform macht von Merkmal 1.2.1 Gebrauch.</p>
<p><rd nr="69"/>Unstreitig ermöglicht es die angegriffene Ausführungsform drei Spielern an der Buddy Multiplayer Session teilzunehmen und ermöglicht diesen damit eine Shared AR-Experience. Bei der Teilnahme von drei Spielern an der Buddy Multiplayer Session erzeugt der host:client (Spieler 1) aufgrund der vom PLFE (Korrelationsserver) erhaltenen UUID einen QR-Code, der von den beiden peer:clients (Spieler 2 und 3) gescannt wird. Diese senden jeweils eine Darstellung des QR-Codes sodann an den PLFE. Der PLFE, mithin der Korrelationsserver, vergleicht die von den beiden peer:Clients gesendeten Darstellungen des QR-Codes, die auch der UUID entsprechen können, mit der vom PLFE generierten UUID und stellt fest, ob die von den beiden peer:clients gesendeten Darstellungen des QR-Codes, also die erfassten sensorischen Identifikatoren, mit der vom PLFE generierten UUID übereinstimmen. Da, wie oben dargelegt, das Klagepatent eine direkte Korrelation der beiden Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren nicht verlangt, macht die angegriffene Ausführungsform von Merkmal 1.2.1 Gebrauch, weil sie, über den Vergleich mit der bekannten UUID, die beiden von den peer:clients empfangenen Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren (QR-Codes) zwingend dahingehend korreliert, als sie feststellt, ob sie mit dem ihr bekannten UUID übereinstimmen und damit auch zugleich feststellt, dass die beiden von den peer:clients gesendeten UUID übereinstimmen. Auf diese Möglichkeit der Verwirklichung des Merkmals 1.2.1 hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auch hingewiesen.</p>
<p><rd nr="70"/>Soweit die Beklagten im nachgelassenen Schriftsatz erstmalig fordern, dass durch den Korrelationsserver eine Verknüpfung zwischen den Vorrichtungen (Mobiltelefonen) hergestellt werden müsse und dies bei der angegriffenen Ausführungsform nicht der Fall sei, weil die Verknüpfung der Vorrichtungen bereits durch Einscannen des QR-Codes erfolge, verhilft ihr dies nicht zum Erfolg, da - wie gezeigt - der Klagepatentanspruch gerade nicht fordert, dass der Korrelationsserver die Verbindung zwischen den Vorrichtungen herstellt.</p>
<p><rd nr="71"/>Für die Verwirklichung des Merkmals 1.2.1 ist es zudem weiter unschädlich, dass der erste peer:client (Spieler 2), der die gescannte UUID zuerst an den PLFE sendet, bereits der Anwendung beitreten kann, bevor der zweite peer:client (Spieler 3) seine UUID an den PLFE sendet. Denn dem Klagepatent kommt es darauf an, dass alle beteiligten Vorrichtungen nach der Identifizierung zusammen die Anwendung ausführen können. Soweit einzelne Vorrichtungen bereits zuvor die Anwendung ausführen können, ist dies unschädlich.</p>
<p><rd nr="72"/>c) Merkmal 1.2.1.2.1 wird gleichfalls benutzt. Die von den peer:clients (Spieler 2 und 3) an den PLFE (Korrelationsserver) übersandte UUID umfasst die Session ID, mittels der der PLFE die auszuführende Anwendung, also die angegriffene Ausführungsform (Buddy Multiplayer Session) identifiziert. Der PLFE vergleicht diese von den peer:clients mit der UUID übermittelten Session IDs mit der ihm bekannten Session ID um festzustellen, ob sie sich auf dieselbe Buddy Multiplayer Session beziehen. Stimmen die Session IDs der beiden peer:clients überein übermittelt der PLFE an die peer:clients jeweils den ARBE Token.</p>
<p><rd nr="73"/>Damit vergleicht der PLFE (= Korrelationsserver) auch die Session ID des zweiten beitretenden peer:cient mit der dem PLFE bekannten Session ID und damit auch mit der vom ersten beitretenden peer.client übermittelten Session ID und übermittelt bei festgestellter Übereinstimmung den ARBE Token an den zweiten peer:client.</p>
<p><rd nr="74"/>Sofern die Beklagten eine Verletzung des Merkmals 1.2.1.2.1 in Abrede stellen, weil sowohl für Merkmal 1.2.1 als auch für Merkmal 1.2.1.2.1 die UUID korreliert bzw. miteinander verglichen wird und es an der Korrelation bzw. dem Vergleich zweier unterschiedlicher Zahlenfolgen fehle, ändert dies nichts an der Benutzung des Klagepatents, dann - wie oben dargestellt - verlangt das Klagepatent gerade nicht, dass der Vergleich der angezeigten Anwendung durch den Korrelationsserver durch einen Vergleich einer zur UUID unterschiedlichen Zahlenfolge erfolgen muss.</p>
<p><rd nr="75"/>d) Die angegriffene Ausführungsform macht auch von Merkmal 1.2.1.2.2 Gebrauch. Die Übermittlung des ARBE Token ist eine Abgleichsmeldung im Sinne des Klagepatents.</p>
<p><rd nr="76"/>Zwar gehen die Beklagten insoweit zutreffend davon aus, dass es sich bei dem an den ersten beitretenden peer:client gesendete ARBE-Token nicht um die klagepatentgemäße Abgleichsmeldung handelt, sofern die Sendung diese ARBE-Tokens direkt nach dem Abgleich der vom ersten beitretenden peer:client gesendeten UUID und vor dem Abgleich des durch den zweiten beitretenden peer:client erfolgt, denn insoweit ist es denklogisch ausgeschlossen, dass das Senden der Abgleichmeldung aufgrund des Abgleichs der angezeigten Anwendungen erfolgt. Dass es bei der angegriffenen Ausführungsform möglich ist, dass der Abgleich der UUID des zweiten beitretenden peer:client vor dem Senden des ARBE-Token des ersten beitretenden peer:clients erfolgen kann, hat die Klägerin nicht vorgetragen.</p>
<p><rd nr="77"/>Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei dem an den zweiten beitretenden peer:client gesendeten ARBE-Token jedoch um eine klagepatentgemäße Abgleichsmeldung. Denn diese wird erst gesendet, nachdem der PLFE (Korrelationsserver) sowohl die vom ersten beitretenden peer:client als auch die vom zweiten beitretenden peer:client empfangen UUID mit der beim PLFD bekannten UUID korreliert hat und zudem verglichen hat, ob sich die mit der UUID übersandten Session ID des zweiten beitretenden peer:clients auf dieselbe Anwendung wie die des ersten beitretenden peer:clients bezieht. Dass die Korrelation bzw. der Vergleich der beiden UUID lediglich mittelbar über die Korrelation bzw. den Vergleich mit der beim PLFD bekannten UUID erfolgt, ist wie oben gezeigt, unschädlich. Insoweit war im Tenor klarstellend aufzunehmen, dass die Verurteilung nur erfolgt, soweit drei Teilnehmer an der Buddy Multiplayer Session teilnehmen bzw. teilgenommen haben.</p>
<p><rd nr="78"/>Soweit die Beklagen im nachgelassenen Schriftsatz erstmalig vortragen, bei dem ARBE Token handele es sich nicht um eine Abgleichsmeldung, weil der ARBE Token keinen Bezug zu dem Verhältnis zwischen den beiden beitretenden peer:clients herstelle, fordert das Klagepatent einen solchen Bezug jedoch nicht. Wie dargelegt, lässt das Klagepatent die Ausgestaltung und den Inhalt der Abgleichmeldung völlig offen und verlang nur, dass diese - wie es vorliegend geschieht - auf Grundlage des erfolgten Abgleichs erfolgt.</p>
<p><rd nr="79"/>Soweit die Beklagten der Ansicht sind, der ARBE-Token sei keine klagepatengemäße Abgleichsmeldung, weil dieser nicht unmittelbar vom PLFE an den ARBE gesendet werde, ist es unstreitig, dass der PLFE die ARBE-Token an den zweiten beitretenden peer:client sendet, der diesen ARBE Token sodann an den ARBE weiterleiten. Da es, wie oben ausgeführt, klagepatentgemäß nicht darauf ankommt, dass die Abgleichsmeldung direkt vom Korrelationsserver (PLFE) an den Anwendungsserver (ARBE) gesendet wird, sondern es vielmehr ausreichend ist, dass der PLFE bewirkt, dass ein Sender die Abgleichsmeldung an den ARBE sendet, liegt eine Verletzung des Merkmals 1.2.1.2.2 durch die angegriffene Ausführungsform vor.</p>
<p><rd nr="80"/>Selbst wenn man mit der Beklagten davon ausgehen würde, dass der PLFE die Abgleichsmeldung senden muss, liegt eine Verwirklichung des Merkmals 1.2.1.2.2 vor, denn unstreitig sendet der PLFE den ARBE Token an die peer:clients, die den ARBE Token an den ARBE weiterleiten, ohne dass es einer eigenständigen Handlung des Nutzers der Vorrichtung bedarf. Daher sendet der PLFE, über den peer:client, der die Abgleichsmeldung unverändert weiterleitet, eine Abgleichsmeldung an den ARBE.</p>
<p><rd nr="81"/>e) Die angegriffene Ausführungsform macht auch von Merkmal 1.2.3 Gebrauch. Bei dem Korrelationsserver PLFE und dem Anwendungsserver für die angegriffene Ausführungsform, dem Buddy Multiplayer Session ARBE, handelt es sich um verschiedene Server im Sinne des Klagepatents. Insoweit ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der ARBE die Buddy Multiplayer Session ausführt und der PLFE die Korrelation bzw. den Vergleich der UUID vornimmt. Dass es sich bei dem ARBE und dem UUID um verschieden („distinct“) Server handelt ergibt sich bereits aus der Darstellung der Beklagten von der angegriffenen Ausführungsform, denn nach dem Vortrag der Beklagten können der PLFE und der ARBE nicht direkt miteinander kommunizieren und nutzen daher - was die Beklagten nicht bestritten haben - auch keine gemeinsamen Ressourcen. Wie ausgeführt kommt es dem Klagepatent jedoch gerade hierauf an.</p>
<p><rd nr="82"/>Sofern die Beklagten vortragen, dass der PLFE erforderlich sei, um das Spiel K auszuführen, und der Multiplayer Modus, also die Buddy Multiplayer Session daher ohne den PLFE nicht ausgeführt werden könne, weil es sich insoweit nur um eine Erweiterung des Spiels K handele, verkennen die Beklagten, dass die Klägerin als angegriffene Ausführungsform lediglich die Anwendung der Buddy Multiplayer Session angreift. Für die Ausführung dieser Anwendung ist nach dem Vortrag der Klägerin allein der ARBE zuständig, wohingegen der PLFE insoweit die Korrelation und den Vergleich der UUID durchführt. Dass der PLFE erforderlich ist, um das gesamte Spiel K spielen zu können, mag zutreffend sein, ist allerdings für die Frage, ob die konkrete angegriffene Ausführungsform, mithin die Buddy Multiplayer Session, allein vom ARBE ausgeführt wird, irrelevant.</p>
<p><rd nr="83"/>Insoweit kann auch das Argument der Beklagten nicht verfangen, dass die Anwendung das Spiel K insgesamt sei. Denn zum einen obliegt es der Klägerin, die angegriffene Ausführungsform zu bestimmen, und zum anderen gibt das Klagepatent nicht vor, wie die Anwendung im Sinne des Klagepatents ausgestaltet sein muss. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass es sich bei der Buddy Multiplayer Session nicht um eine klagepatentgemäße Anwendung handelt.</p>
<p><rd nr="84"/>3. Die angegriffene Ausführungsform benutzt überdies den Verfahrensanspruch 15 des Klagepatents unmittelbar. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.</p>
<p><rd nr="85"/>Die angegriffene Ausführungsform führt das klagepatentgemäße Verfahren aus und insbesondere sendet auch der PLFE eine Abgleichsmeldung an den ARBE (vgl. oben).</p>
<p>IV. Die Beklagten sind jedoch nur hinsichtlich des Verfahrensanspruchs (Anspruch 15) passivlegitimiert. Hinsichtlich des Systemanspruchs fehlt es hingegen an einer inländischen Benutzungshandlung durch die Beklagten, so dass die Klage insoweit abzuweisen war.</p>
<p><rd nr="86"/>1. Ein deutsches Patent oder ein vom Europäischen Patentamt nach dem EPÜ mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteiltes europäisches Patent ist benutzt, wenn jedenfalls eine der in § 9 Satz 2 PatG benannten Handlungen im Inland vorgenommen wird. Damit eine Handlung als Verletzung eines Schutzrechts in Betracht kommt, muss sie deshalb eine hinreichende Beziehung zu dessen räumlichem Geltungsbereich aufweisen (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Die Herstellung, das Anbieten, Inverkehrbringen, Gebrauchen, Einführen und Besitzen patentierter Erzeugnisse oder die Anwendung eines geschützten Verfahrens im Ausland ist hingegen nicht patentverletzend (RGZ 30, 52, 55).</p>
<p><rd nr="87"/>Problematisch sind die Fälle, in denen eine vollständige Verwirklichung der Lehre des Patents zwar erfolgt ist, das dazu Notwendige aber nicht nur im Inland stattfindet, sondern teilweise auch im Ausland, etwa wenn im Falle eines Verfahrenspatents die nötigen Verfahrensschritte teils im Inland, teils im Ausland ausgeführt wurden, oder wenn das Patent ein System schützt und sich nach dessen Herstellung die zugehörenden Bestandteile in unterschiedlichen Staaten befinden (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10; Haupt GRUR 2007, 187). Insoweit gilt für die Annahme einer inländischen Benutzungshandlung folgendes:</p>
<p><rd nr="88"/>Für das Anwenden eines Verfahrens bei dem eine oder mehrere Maßnahmen im Inland und andere im Ausland vorgenommen werden, ist es ausreichend, wenn die im Ausland bewerkstelligten anderen notwendigen Maßnahmen dem im Inland Handelnden ebenfalls zuzurechnen sind (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Für die inländische Benutzungshandlung des Herstellens genügt die Herstellung eines Vorrichtungsteils im Inland (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Entsprechend ist für das Gebrauchen und Herstellen eines Systems ebenfalls erforderlich, dass jedenfalls die Herstellung oder der Gebrauch eines Bestandteils des Systems in der Bundesrepublik Deutschland erfolgen (für einen Verfahrensanspruch vgl. LG München I, Urteil vom 21.04.2015 - 7 O 16945/15; zur Benutzungshandlung des Herstellens vgl. Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10). Bei einem im Inland abgegebenen Angebot kommt es hingegen nicht darauf an, wo die spätere Lieferung hin erfolgen soll (OLG München, InstGE 5, 15). Erforderlich aber auch ausreichend ist, dass die Angebotshandlung im Inland erfolgt und das angebotene Verfahren im Inland durchgeführt wird.</p>
<p><rd nr="89"/>Da eine Patentverletzung nicht nur durch Alleintäterschaft unter Verwirklichung aller Verfahrensschritte, sondern auch in Mittäterschaft und Nebentäterschaft begangen werden kann (BGH GRUR 2007, 773, 775 - Rohrschweißverfahren) stellt bei einem Patent, das ein Herstellungsverfahren schützt, jedenfalls eine Herstellung, die in bewusstem und gewollten Zusammenwirken arbeitsteilig von im Inland und im Ausland handelnden Personen erfolgt, eine Patentverletzung durch den inländischen Teilnehmer dar (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 10).</p>
<p><rd nr="90"/>2. Hinsichtlich des eingetragenen Anspruchs 15 des Klagepatents (Verfahrensanspruch) verstößt die Beklagte gegen Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V. m. § 9 Nr. 2 PatG.</p>
<p><rd nr="91"/>a) Die Beklagten haben das klagepatentgemäße Verfahren jedenfalls als Nebentäterinnen in der Bundesrepublik Deutschland angewendet.</p>
<p><rd nr="92"/>aa) Die angegriffene Ausführungsform führt - wie oben dargestellt - das klagepatentgemäße Verfahren vollständig durch.</p>
<p><rd nr="93"/>bb) Die Beklagten sind hieran als Nebentäterinnen beteiligt. Dass sie - schon nach dem Vortrag der Klägerin - das klagepatentgemäße Verfahren nicht selbst durchführen und die Klägerin auch nicht aufzeigt, welcher Täter die Buddy Multiplayer Session durchführt, ist unschädlich, da zwischen den Parteien unstreitig ist, dass die Buddy Multiplayer Session, mithin das klagepatentgemäße Verfahren, durchgeführt wird und nach der Rechtsprechung des X. Zivilsenats des BGH die Verantwortlichkeit für eine Patentverletzung nicht voraussetzt, dass der in Anspruch Genommene in seiner Person eine der in § 9 S. 2 PatG bezeichneten Handlungen vornimmt (BGHZ 107, 46 [53] = GRUR 1990, 997 - Ethofumesat). Schuldner der Ansprüche auf Unterlassung, Schadensersatz, Auskunft und Vernichtung der verletzenden Gegenstände kann vielmehr auch sein, wer lediglich eine weitere Ursache für die Rechtsverletzung setzt, indem er eine von ihm ermöglichte Rechtsverletzung durch einen Dritten nicht unterbindet, obwohl dies von ihm zu erwarten wäre (BGHZ 142, 7 [12f.] = NJW 2000, 213 = GRUR 1999, 977 - Räumschild).</p>
<p><rd nr="94"/>Danach haften die Beklagten als Nebentäterinnen für die Verletzung des Klageanspruch 15 (Verfahren). Denn die Beklagten haben mit der Entwicklung und der Zurverfügungstellung des Spiels K zum Download (Beklagte zu 2) und dem Abschluss der Nutzungsbedingungen mit den jeweiligen Nutzern zum Durchführen des Spiels K (Beklagte zu 1) eine Ursache für die Anwendung des klagepatentgemäßen Verfahrens (Buddy Multiplayer Session mit drei Spielern) nach Anspruch 15 gesetzt. Insoweit haben die Beklagten auch pflichtwidrig gehandelt, da ihr vorsätzliches Handeln gerade auf die Durchführung des Spiels und mithin des klagepatentgemäßen Verfahrens durch einen Dritten abzielt. Unabhängig davon handelten sie auch pflichtwidrig, da sie Patentverletzung durch die angegriffene Ausführungsform weiterhin gefördert haben, nachdem sie von der Klägerin durch die Klageerhebung darauf aufmerksam gemacht worden waren, dass die angegriffene Ausführungsform das Klagepatent verletzt.</p>
<p><rd nr="95"/>cc) Die bei der Anwendung des klagepatentgemäßen Verfahrens nach Anspruch 15 von Dritten im Ausland durchgeführten Verfahrensschritte sind den Beklagten zuzurechnen.</p>
<p><rd nr="96"/>Für den Tatbestand des Anwendens kann vor diesem Hintergrund die Vornahme einer von mehreren notwendigen Maßnahmen im Inland ausreichen, wenn die im Ausland bewerkstelligten anderen Maßnahmen dem im Inland Handelnden ebenfalls zuzurechnen sind (Benkard/Scharen, a.a.O., § 9 PatG Rdnr. 49). Im Ausland begangene Teilakte sind hierbei dann wie inländische zu behandeln, wenn sich der Täter sie zu eigen macht für einen im Inland eintretenden Verletzungserfolg. Um eine zu weitgehende Verantwortlichkeit auszuschließen, ist in derartigen Fällen allerdings eine wirtschaftlichnormative Betrachtungsweise als geeignetes Korrektiv geboten, wonach das fragliche Verhalten für den notwendigen Zurechnungszusammenhang zielgerichtet auf eine Wirkung im inländischen Markt zugeschnitten sein muss. Dadurch erfolgt ein Eingreifen nationalen Patentschutzes nur in Fällen, die das nationale Schutzgebiet unmittelbar betreffen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2009 - I-2 U 51/08 - Prepaid-Telefonkarten). Eine Zurechnung ausländischer Verfahrensschritte ist insbesondere dann angezeigt, wenn bei einem Verfahren die ersten Verfahrensschritte im Ausland erfolgen und die restlichen Verfahrensschritte im Inland durchgeführt werden (zu Herstellungsverfahren OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2009 - I-2 U 51/08 - Prepaid-Telefonkarten). Gerade in einem solchen Fall muss sich der Anwender regelmäßig die zuvor von ihm (oder einem Dritten) im Ausland begonnene Durchführung des Verfahrens zurechnen lassen, weil er auf diesen Maßnahmen aufbaut und sich diese im Inland zu Nutze und zu eigen macht.</p>
<p><rd nr="97"/>Die von der angegriffenen Ausführungsform durchgeführten Verfahrensschritte sind dazu angelegt, eine Teilnahme eines inländischen Nutzers an der Buddy Multiplayer Session zu ermöglichen, denn, wie oben bereits ausgeführt, handelt es sich bei dem Ausführen der Buddy Multiplayer Session durch den ARBE zusammen mit den mobilen Endgeräten um einen Verfahrensschritt des Verfahrensanspruchs.</p>
<p><rd nr="98"/>Zwar werden die ersten Verfahrensschritte, die Korrelation der Darstellungen der erfassten sensorischen Identifikatoren und das Abgleichen der durch die Anfragemeldung angegebenen Anwendungen, im Ausland durchgeführt, jedoch erfolgt der klagepatentgemäße Zweck des durchzuführenden Verfahrens, nämlich das gemeinsame Ausführen der Anwendung durch den ARBE zusammen mit den mobilen Endgeräten einer Mehrzahl von Spielern der Buddy Multiplayer Session, in Deutschland. Insoweit wird auch gerade der klagepatentgemäße Vorteil, nämlich die Trennung zwischen Korrelationsserver und Anwendungsserver nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland verwirklicht, weil sich die mobilen Endgeräte, die zusammen mit dem Anwendungsserver die Anwendung ausführen, unstreitig im Inland befinden. Die Beklagten bauen mit ihren Handlungen damit gerade auf die im Ausland begangenen Handlungen Dritter auf und machen sich diese im Inland zu Nutze.</p>
<p><rd nr="99"/>Soweit die Beklagten der Ansicht sind, das Ausführen der Anwendung sei nicht vom Anspruch 15 des Klagepatents umfasst, weil die Aufgabe des Klagepatents lediglich die Aktivierung der Anwendung sei, verkennt sie, dass zwar die Beschreibung lediglich davon spricht, die Anwendung zu aktivieren, der maßgebliche Anspruch 15 des Klagepatents jedoch ausdrücklich fordert, dass die Anwendung durch den Anwendungsserver zusammen mit den Vorrichtungen ausgeführt wird („carrying out an application involving matching devices“).</p>
<p><rd nr="100"/>Auch die durchzuführende wirtschaftlichnormative Betrachtung ergibt, dass vorliegend die Zurechnung der im Ausland vorgenommenen Verfahrenshandlungen zu erfolgen hat, denn die klagepatentgemäße Anwendung wird von den Nutzern zusammen mit dem im Ausland befindlichen Anwendungsserver im Inland ausgeführt. Die kommerzielle Nutzung der patentgemäßen Lehre erfolgt mithin ausschließlich im Inland.</p>
<p><rd nr="101"/>b) Darüber hinaus haftet die Beklagten als Täter für die Benutzungshandlung des Anbietens des Verfahrens nach Anspruch 15 des Klagepatents.</p>
<p><rd nr="102"/>Die Beklagten haben die angegriffene Ausführungsform zur Anwendung im Inland angeboten, denn die Beklagten stellen den Nutzern der angegriffenen Ausführungsform (Buddy Multiplayer Session) durch die Entwicklung und das Zurverfügungstellen der angegriffenen Ausführungsform (Beklagte zu 2) bzw. dem Abschluss der Nutzungsbedingungen mit den Spielern (Beklagte zu 1) in Aussicht, dass die Anwendung des klagepatentgemäßen Verfahrens auf ihre Veranlassung durch einen Dritten durchgeführt wird. Kenntnis von einer möglichen Verletzung des klagepatentgemäßen Verfahrens im Inland haben die Beklagten jedenfalls seit Klageerhebung.</p>
<p><rd nr="103"/>Da, wie oben ausgeführt, die Anwendung in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, liegt ein Anbieten im Sinne des § 9 S. 2 Nr. 2 PatG vor.</p>
<p><rd nr="104"/>3. Die Beklagten sind hinsichtlich der Verletzung des Systemanspruchs (Anspruch 1 des Klagepatents) nicht passivlegitimiert. Sie haben die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland weder hergestellt, angeboten noch gebraucht. Wie oben ausgeführt umfasst das nach dem eingetragenen Anspruch 1 des Klagepatents geschützte System lediglich entsprechend ausgestaltete Korrelations- und Anwendungsserver. Weitere Bestandteile beinhaltet das nach Anspruch 1 des Klagepatents geschützte System nicht. Für die angegriffene Ausführungsform ist hinsichtlich des Anspruchs 1 mithin nur auf den streitgegenständlichen PLFE (Korrelationsserver) und den ARBE (Anwendungsserver) abzustellen. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist es daher für den Systemanspruch (eingetragener Anspruch 1) unerheblich, dass die Anwendung auf in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Mobilgeräten der jeweiligen Spieler ausgeführt wird oder Nachrichten zwischen dem PLFE und dem ARBE über die in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Vorrichtungen gesendet werden.</p>
<p><rd nr="105"/>a) Die Beklagten haben die angegriffene Ausführungsform nicht in der Bundesrepublik Deutschland gebraucht.</p>
<p><rd nr="106"/>Das Gebrauchen eines Erzeugnisses erfasst jedwede Verwendung, die irgendwie als bestimmungsgemäß oder sinnvoll gelten kann (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 46).</p>
<p><rd nr="107"/>Insoweit kann es vorliegend dahinstehen, ob die Beklagten die angegriffene Ausführungsform gebrauchen, denn jedenfalls erfolgt kein Gebrauchen in der Bundesrepublik Deutschland. Denn für eine inländische Benutzungshandlung eines Systems ist erforderlich, dass sich mindestens ein Bestandteil des Systems in Deutschland befindet. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Klägerin nicht vorgetragen hat, dass die Beklagten für den Betrieb der streitgegenständlichen Server verantwortlich sind oder welche Tätigkeit sie im Zusammenhang mit den Servern ausüben. Vielmehr hat sie lediglich vorgetragen, dass die Beklagte zu 2) Entwicklerin der App „K “ ist und diese Spieleanwendung in Deutschland einer beliebigen Anzahl von Nutzern kostenlos zum Herunterladen auf handelsübliche Endgeräte anbietet und die jeweiligen Endnutzer, welche den K -Dienst mittels dieser App auf ihren Endgeräten in Deutschland nutzen, mit der Beklagten zu 1) diesbezügliche Nutzungsbedingungen abschließen.</p>
<p><rd nr="108"/>Im Hinblick auf das klagepatentgemäße System gemäß Anspruch 1, das - wie oben ausgeführt - leidglich aus dem mindesten einem Korrelationsserver und dem mindestens einem Anwendungsserver besteht, liegt jedenfalls kein Gebrauchen der angegriffenen Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland vor, da die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin nicht dargelegt und nachgewiesen hat, dass die streitgegenständlichen Server (PLFE und ARBE), in der Bundesrepublik Deutschland betrieben werden.</p>
<p><rd nr="109"/>Auf den unter Zeugenbeweis gestellten Vortrag der Beklagten, dass sich die streitgegenständlichen ARBE und PLFE nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern im Ausland, befänden, hat die Klägern unbestritten vorgetragen, dass die Beklagten zur Durchführung des Spiels K von Google einen Server in Deutschland (Frankfurt am Main) betreiben ließen. Dem Vortrag der Beklagten, dass es sich bei diesem Server nicht um den PLFE oder den ARBE handele, und zwischen den Beklagten und Google vertraglich sichergestellt sei, dass bestimmte Server, einschließlich PLFE und ARBE, ausschließlich in den USA betrieben würden, ist die Klägerin nicht mehr entgegengetreten und hat insoweit auch kein Beweis dafür angeboten, dass sich gerade PLFE und ARBE in der Bundesrepublik Deutschland befinden. Ebenso ist die Klägerin dem Vortrag der Beklagten, dass es sich bei dem in Frankfurt befindlichen Server um einen Serverendpunkt handele, der keinen spezifischen Bezug zur Buddy Multiplayer Session aufweise, sondern schlicht Teil des K - Spiels sei, in dem Mediendateien zwischengespeicherten würden, der jedoch nicht dazu verwendet werde, die für die Durchführung der angegriffenen Buddy Multiplayer Session erforderliche Spielelogik bereitzustellen, nicht entgegengetreten. Danach ist schon dem Vortrag der Klägerin nur zu entnehmen, dass lediglich ein Server, der für die Durchführung der Anwendung K verwendet wird, in der Bundesrepublik Deutschland betrieben wird. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin jedoch explizit die Buddy Multiplayer Session nebst den zugehörigen Servern als die angegriffene Ausführungsform definiert hat, kommt es nicht darauf an, ob ein Server, der für die Durchführung des gesamten Spiels K erforderlich ist, in der Bundesrepublik Deutschland befindet. Vielmehr ist allein relevant, ob sich die für den Betrieb der angegriffenen Ausführungsform (Buddy Multiplayer Session) erforderlichen Server in der Bundesrepublik Deutschland befinden. Dies lässt sich dem Vortrag der Klägerin hingegen gerade nicht entnehmen.</p>
<p><rd nr="110"/>Unabhängig davon ist die Klägerin für ihre Behauptung, die Beklagten gebrauchten die angegriffene Ausführungsform in Deutschland, beweisfällig geblieben.</p>
<p><rd nr="111"/>b) Die Beklagten haben die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland nicht hergestellt und angeboten.</p>
<p><rd nr="112"/>Das Herstellens eines Erzeugnisses umfasst die gesamte Tätigkeit, durch die das Erzeugnis mit den im Patentanspruch definierten Merkmalen geschaffen wird, vom Beginn an und beschränkt sich nicht auf den letzten, die Vollendung des geschützten Erzeugnisses unmittelbar herbeiführenden Tätigkeitsakt (BGH GRUR 95, 338, 341 - Kleiderbügel).</p>
<p><rd nr="113"/>Das Anbieten umfasst alle Handlungen, die nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt einen schutzrechtsverletzenden Gegenstand der Nachfrage zur Verfügung stellen (BGHZ 167, 374, 378 - Kunststoffbügel) oder das Zustandekommen eines Geschäfts über einen unter dem Schutz des Patents stehenden Gegenstand ermöglichen oder befördern sollen, das die Benutzung dieses Gegenstands einschließt (BGH GRUR 2003, 1031, 1032 - Kupplung für optische Geräte). Maßgebend ist, ob derjenige, gegenüber dem die als mögliches „Anbieten“ zu qualifizierende Handlung vorgenommen wird, bei verständiger Würdigung der gegebenen objektiven Umstände annehmen muss, der „Anbietende“ sei bereit, ihm im Falle einer Bestellung den in Rede stehenden Gegenstand zur Verfügung zu stellen (Benkard PatG/Scharen, 11. Aufl. 2015, PatG § 9 Rn. 41)</p>
<p><rd nr="114"/>Danach hat die Beklagten das streitgegenständliche System bestehend aus PLFE und ARBE in der Bundesrepublik Deutschland weder hergestellt noch angeboten. Denn die Klägerin hat lediglich vorgetragen, dass die Beklagten zu 1) und 2) eine eigens entwickelte Anwendungssoftware zur Durchführung des Spiels K zum Herunterladen auf mobile Endgeräte zur Verfügung stelle und hierdurch die Benutzung des Dienstes und der Zugang zu der Server-Plattform in Deutschland ermöglicht werde. Mithin fehlt es an jeden Vortrag, dass die Beklagten die angegriffene Ausführungsform, bestehend aus PLFE und ARBE, in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt haben oder eine Handlung vorgenommen haben, die darauf gerichtet ist, die angegriffene Ausführungsform, also das System aus einem Korrelationsserver und einem Anwendungsserver, Dritten zur Verfügung zu stellen. Vielmehr richten sich die von den Beklagten vorgenommenen Handlungen an die Nutzer des Spiels Pomémon Go. Diese sind jedoch nicht identisch mit möglichen Nachfragern nach dem System bestehend aus PLFE und ARBE.</p>
<p><rd nr="115"/>Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass die Beklagten Dritten die Nutzung des Spiels K in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichten, verkennt sie, dass das patentgemäßen System nach Anspruch 1 des Klagepatents nicht die Durchführung der Anwendung, also der Buddy Multiplayer Session des Spiels K, adressiert, sondern ein System bestehend aus (mindestens) zwei Servern unter Schutz stellt. Insoweit ist - wie bereits ausgeführt - zwischen dem Anbieten der Nutzung des Spiels K und dem Anbieten des Systems zu unterscheiden.</p>
<p><rd nr="116"/>V. Im Hinblick auf die Abweisung des Klageantrags zu Ziffer I.1.a) (Systemanspruch nach Anspruch 1), war (zusätzlich) insgesamt über den klageerweiternd geltend gemachten Hilfsantrag zu entscheiden, da die von der Klägerin definierte innerprozessuale Bedingung (Abweisung des Systemanspruchs) eingetreten ist.</p>
<p><rd nr="117"/>1. Die kurz vor der mündlichen Verhandlung erfolgte Klageänderung durch Erweiterung der Klage um Hilfsanträge ist zulässig. Zwar hat die Beklagte der Klageänderung nicht zugestimmt, die Klageänderung ist jedoch sachdienlich, weil eine Entscheidung über die geänderte Klage prozesswirtschaftlich ist, weil sie den Streitstoff des anhängigen Verfahrens ausräumt, einem andernfalls zu gewärtigenden Rechtsstreit vorbeugt, und die bisherigen Prozessergebnisse vollständig nutzbar bleiben.</p>
<p><rd nr="118"/>2. Die Hilfs-Klageanträge I.2.a) und I.2.b) sind unbegründet.</p>
<p><rd nr="119"/>a) Für die Auslegung der mit Klageantrag I.2. geltend gemachten Ansprüche ergeben sich im Hinblick auf den Hauptantrag folgende Änderungen.</p>
<p><rd nr="120"/>Der mit Klageantrag I.2.a) nunmehr geltend gemachte Systemanspruch umfasst - zusätzlich zu dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver - auch die Vorrichtungen, die zum Erfassen eines sensorischen Identifikators und zu Senden von Anfragemeldungen mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators eingerichtet sind.</p>
<p><rd nr="121"/>Das Verfahren nach Antrag I.2.b) sieht zusätzlich das Erfassen eines sensorischen Identifikators (ID) durch die Vorrichtungen und das Senden von Anfragemeldungen mit Darstellungen des erfassten sensorischen Identifikators durch die Vorrichtung vor.</p>
<p><rd nr="122"/>b) Die Beklagten sind sowohl hinsichtlich des Systemanspruchs (Klageantrag I.2.a)) als auch hinsichtlich des Verfahrensanspruchs (Klageantrag I.2.b) nicht passivlegitimiert. aa) Dem mit dem Hilfsantrag gelten gemachte Systemanspruch fehlt es an einer inländischen Benutzungshandlung. Denn die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass die Beklagten oder Dritte, ggf. gemeinsam mit den Beklagten, das System bestehend aus dem Korrelations- und dem Anwendungsserver sowie den mobilen Endgeräten insgesamt täterschaftlich, mittäterschaftlich oder als Nebentäter im Inland gebrauchen. Zwar befinden sich die mobilen Endgeräte, also die klagepatentgemäßen Vorrichtungen, im Inland, jedoch hat die Klägerin nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich, dass ein Täter oder mehrere Mittäter bzw. Nebentäter das System bestehend aus einem Korrelations- und einem Anwendungsserver und benachbarten Vorrichtungen gebrauchen. Denn dies würde voraussetzen, dass der oder die Täter Tatherrschaft über die Nutzung sämtlicher Bestandteile des Systems innehaben bzw. pflichtwidrig den Gebrauch vorgenommen haben. Einen entsprechenden Vortrag hat die Klägerin jedoch nicht geführt. Vielmehr ist ersichtlich, dass das Gebrauchen der mobilen Endgeräte im Inland durch die jeweiligen Nutzer des Spiels K erfolgt. Diese handeln jedoch weder vorsätzlich noch fahrlässig hinsichtlich eines mittäterschaftlichen/nebentäterschaftlichen Gebrauchens eines Systems bestehend aus den mobilen Endgeräten, dem Korrelationsserver und dem Anwendungsserver. Mithin fehlt es an einem täterschaftlichen bzw. mittäterschaftlichen/nebentäterschaftlichen Gebrauchens des gesamten Systems. Vortrag zu einer mittelbaren Täterschaft hat die Klägerin ebenfalls nicht geleistet. Darüber hinaus ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Beklagten als Täter, Mittäter oder Nebentäter Vorrichtungen im Sinne des Klagepatents im Inland herstellen oder anbieten, um Buddy Multiplayer Sessions durchzuführen.</p>
<p><rd nr="123"/>Eines rechtlichen Hinweises auf den insoweit fehelenden Sachvortrag bedurfte es nicht, weil die Klägerin, im Hinblick auf die erst einen Tag vor dem Termin zur mündlichen Hauptverhandlung erfolgte Klageänderung, bewusst darauf verzichtet hat, neuen Sachvortrag zu leisten, und nur den bisher erfolgten Sachverhalt zur Entscheidung gestellt hat (vgl. Schriftsatz vom 13.7.2022; Protokoll vom 14.7.2022).</p>
<p><rd nr="124"/>bb) Hinsichtlich der mit dem Hilfsantrag geltend gemachten unmittelbaren Verletzung des Verfahrensanspruchs fehlt es an einer unmittelbaren Verletzung des hilfsweise geltend gemachten Anspruchs. Denn die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass die Beklagten oder ein oder mehrere Täter das gesamte Verfahren, insbesondere die Erfassung eines sensorischen Identifikators mittels einer Vorrichtung, bspw. eines mobilen Endgeräts, und das Senden einer Anfragemeldung mittels der Vorrichtung, täterschaftlich durchführen und insoweit eine unmittelbare Patentverletzung des Verfahrensanspruchs begehen. Soweit das Erfassen eines sensorischen Identifikators mittels einer Vorrichtung, bspw. eines mobilen Endgeräts, und das Senden einer Anfragemeldung mittels der Vorrichtung durch die Nutzer des Spiels K durchgeführt wird, handelt dieser nicht als Mittäter/Nebentäter neben den für die übrigen Verfahrensschritte verantwortlichen Mit- bzw. Nebentätern, da sie nicht bewusst und gewollt mit diesem zusammenwirken bzw. vorsätzlich oder fahrlässig eine patentverletzende Handlung ausführen. Im Übrigen fehlt insoweit jeglicher Vortrag. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass eine unmittelbare Patentverletzung auch dann in Betracht kommt, wenn in dem benutzten Teil der Erfindung der Erfindungsgedanke bis auf selbstverständliche, für die im Patent unter Schutz gestellte technische Lehre unbedeutende Zutaten bereits verwirklicht ist (OLG Düsseldorf, InstGE 13, 78 - Lungenfunktionsmessgerät). Denn anders als in dem vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fall, bei dem nach dem Erwerb der Software nur noch die Software auf einem vom Käufer bereitzustellenden Computer installiert werden musste, bedarf es vorliegend, neben dem Installieren der Applikation auch noch der Erfassung der sensorischen Identifikatoren und der Sendung einer Anfragemeldung durch die Nutzer. Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um einen selbstverständlichen, für den Erfindungsgedanken unwesentlichen Verfahrensschritt.</p>
<p><rd nr="125"/>Soweit möglicherweise eine mittelbare Patentverletzung vorliegt, hat sich die Klägerin hierauf nicht berufen, keinen entsprechenden Sachvortrag geleistet und keinen entsprechenden Antrag gestellt (§ 308 Abs. 1 ZPO).</p>
<p><rd nr="126"/>V. Da die übrigen Voraussetzungen einer Patentverletzung zwischen den Parteien zu Recht nicht umstritten sind, stehen der Klägerin die ausgeurteilten Ansprüche hinsichtlich des Verfahrensanspruchs (Klageantrag zu Ziffer I.1b) und Klageanträge I.3 und II. (soweit rückbezogen auf I.1.b)) zu.</p>
<p><rd nr="127"/>1. Der ausgesprochene Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140b Abs. 1, Abs. 3 PatG, §§ 242, 259 BGB.</p>
<p><rd nr="128"/>a) Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstandes unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.</p>
<p><rd nr="129"/>b) Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern.</p>
<p><rd nr="130"/>Die Klägerin ist im Übrigen auf die Angaben der Beklagten angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt. Die Beklagten werden durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt ist wie beantragt zu gewähren.</p>
<p><rd nr="131"/>2. Da die Beklagten die Verletzungshandlungen gemäß Ziffer I.1.b) zumindest fahrlässig begangen haben, sind sie dem Grunde nach zum Schadensersatz verpflichtet, Art. 64 Abs. 1, Abs. 3 EPÜ, § 139 Abs. 2 PatG.</p>
<p><rd nr="132"/>Bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte im Geschäftsbetrieb der Beklagten spätestens einen Monat nach Veröffentlichung der Erteilung des Klagepatents erkannt werden können und müssen, dass die angegriffenen Ausführungsform patentverletzend ist.</p>
<p><rd nr="133"/>Eine für die Feststellung der Schadensersatzpflicht ausreichende gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Schadens ist wegen des bereits eingetretenen Schadens aufgrund der geschehenen Patentbenutzungen begründet.</p>
<p>C.</p>
<p><rd nr="134"/>Eine Aussetzung mit Blick auf die erhobene Nichtigkeitsklage ist nach § 148 ZPO nicht veranlasst.</p>
<p><rd nr="135"/>I. Die Einleitung eines Einspruchsverfahrens oder die Erhebung einer Nichtigkeitsklage stellen als solches keinen Grund dar, das Verfahren auszusetzen. Anderenfalls würde man dem Angriff auf das Klagepatent eine den Patentschutz hemmende Wirkung beimessen, die ihm nach dem Gesetz gerade fremd ist (BGH GRUR 1987, 284 - Transportfahrzeug). Bei der gebotenen Interessenabwägung hat grundsätzlich das Interesse des Patentinhabers an der Durchsetzung des ihm erteilten Patents Vorrang (vgl. Cepl in: Cepl/Voß, aaO, § 148 ZPO Rn. 106 mwN). Denn das Patent bietet nur eine beschränkte Schutzdauer. Für die Dauer der Aussetzung ist das Schutzrecht mit Blick auf den Unterlassungsantrag, der einen wesentlichen Teil des Schutzrechts darstellt, praktisch aufgehoben. Daher kommt eine Aussetzung grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Vernichtung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Cepl in: Cepl/Voß, aaO, § 148 ZPO Rn. 107 m. w. N.).</p>
<p><rd nr="136"/>II. Nach diesen Maßstäben ist das Verfahren nicht auszusetzen.</p>
<p><rd nr="137"/>Vorliegend ist für die Aussetzungsfrage allein der geltend gemachte Anspruch 15 in seiner eingetragenen Fassung maßgeblich. Soweit die Klage hinsichtlich des geltend gemachten Systemanspruchs und der hilfsweise geltend gemachten Ansprüche abgewiesen wurde, hängt die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht von dem Rechtsbestand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung und der mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Ansprüchen ab, so dass eine Aussetzung im Hinblick hierauf von vornherein nicht in Betracht kommt.</p>
<p><rd nr="138"/>Der Gegenstand des für die Aussetzungsfrage allein maßgeblichen Anspruchs 15 (Verfahrensanspruch) in der erteilten Fassung ist nach Auffassung der Kammer rechtsbeständig. Die von den Beklagten im Rahmen ihres Aussetzungsantrags geltend gemachten Nichtigkeitsargumente greifen nicht durch. Der Gegenstand des Anspruchs 15 des Klagepatents ist neu und erfinderisch.</p>
<p><rd nr="139"/>1. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Gegenstand von Patentanspruch 15 durch die Entgegenhaltung US 2007/0093258 (Anlage B 4 = D1) nicht neuheitsschädlich vorweggenommen.</p>
<p><rd nr="140"/>Die D 1 betrifft ein System zur Implementierung von ressourcen- und/oder standortbasierter Abgleichdienste zwischen einem Benutzer eines drahtlosen Endgeräts (bspw. eines Mobiltelefons) und einer oder mehreren Ressourcen. Das in der D1 offenbarte System ist so konfiguriert, dass es einen Benutzer mit einer oder mehreren Ressourcen auf der Grundlage der Eigenschaften, Präferenzen und/oder des Standorts des Benutzers zusammenbringt, wobei zu Ressourcen andere Benutzer, gezielte Werbung, Unternehmen und/oder nahe gelegene Geschäfte zählen. Das in der D1 offenbarte System umfasst unter anderem verschiedene Mobilgeräte, die mit einem Server kommunizieren, der einen „Matching Engine“ und einen Application Server umfasst.</p>
<p><rd nr="141"/>Entgegen der Ansicht umfass die Entgegenhaltung D1 jedoch kein Verfahren zur Korrelation von Darstellungen sensorischer Identifikatoren (Merkmal 15.2.1). Soweit die Beklagten insoweit ausführen, dass das in der D1 offenbarte System dazu eingerichtet sei, Standortdaten zu korrelieren, handelt es sich bei Standortdaten, wie oben ausgeführt, nicht um Darstellungen sensorischer Identifikatoren im Sinne des Klagepatents, sondern um andere Identifikatoren. Soweit die Beklagten der Ansicht sind, für den Systemanspruch komme es nicht darauf an, ob Darstellungen sensorischer Identifikatoren korreliert würden, da es sich aus Sicht des Korrelationsservers lediglich um eine (beliebige) Zahlenfolge handelt, kann es dahinstehen, ob diese Argumentation zutreffend ist, da, wie ausgeführt, für die Frage der Aussetzung lediglich auf den allein maßgeblichen Verfahrensanspruch abzustellen ist, der in Merkmal 15.2.1 jedoch ausdrücklich die Korrelation von Darstellungen sensorischer Identifikatoren verlangt.</p>
<p><rd nr="142"/>2. Auch der Gegenstand der entgegengehaltenen Druckschrift US2005/0277472 A1 (Anlage B4 = D2) steht der Patentfähigkeit der Gegenstände des Klagepatents nicht entgegen.</p>
<p><rd nr="143"/>Denn auch das System der Entgegenhaltung D2 korreliert unstreitig wiederum lediglich übermittelte Standortinformationen und mithin keine Darstellungen sensorischer Identifikatoren. Auf die Ausführungen zu D1 kann insoweit verwiesen werden.</p>
<p><rd nr="144"/>3. Es ist auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass das Klagepatent mangels erfinderischer Tätigkeit ausgehend von der Entgegenhaltung US 2007/0174243 A1 (Anlage B 6 = D5) vernichtet werden wird.</p>
<p><rd nr="145"/>Denn eine Erfindung beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit, wenn Sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Nach der Rechtsprechung bedarf es, damit ein von den bisher beschrittenen Wegen abweichender Lösungsweg naheliegt, in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen und Hinweise oder sonstige Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen (BGH GRUR 2009, 746, 748 - Betrieb einer Sicherheitseinrichtung).</p>
<p><rd nr="146"/>Auch die Wahl des als nächstliegenden Stand der Technik herangezogenen Ausgangspunktes bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel aus dem Bemühen des Fachmanns abzuleiten ist, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder auch nur eine andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (BGH GRUR 2009, 1039, 1040 - Fischbissanzeiger).</p>
<p><rd nr="147"/>Insoweit fehlt es bereits an Vortrag der Beklagten, warum der Fachmann gerade die D5 als nächstliegenden Stand der Technik herangezogen hätte.</p>
<p><rd nr="148"/>Darüber hinaus offenbart die Entgegenhaltung D5 unstreitig keinen vom Korrelationsserver verschieden Anwendungsserver, der eine Anwendung ausführt. Soweit die Beklagten der Ansicht sind, dass es für den Fachmann ausgehend von den in Absatz [0018] der D1 genannten „sozialen Interessen“ naheliegend gewesen sei, das System der Entgegenhaltung D5 um einen von dem Korrelationsserver getrennten Anwendungsserver zu erweitern, verkennt sie, dass die dort genannten sozialen Interessen vom Korrelationsserver herangezogen wurden, um Nutzer abzugleichen, die dieselben Interessen teilen, um die passenden Nutzer zu matchen. Insoweit dürfte es aus Sicht des Fachmanns jedoch gerade nicht naheliegend gewesen sein, das auf das Matchen der Nutzer abzielende System dahingehend zu erweitern, dass die zuvor gematchten Nutzer, unter Nutzung des Systems, sodann gemeinsam Anwendungen ausführen.</p>
<p><rd nr="149"/>4. Die Kammer übt daher - unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls - das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend aus, das Verfahren nicht auszusetzen.</p>
<p>D.</p>
<p><rd nr="150"/>I. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92 Abs. 1, 100 Abs. 1 ZPO.</p>
<p><rd nr="151"/>Der Streitwert war, in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Parteien, zu jeweils 50% auf den System- und den Verfahrensanspruch aufzuteilen.</p>
<p><rd nr="152"/>II. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO. Die Höhe der Sicherheitsleistung ergibt sich aus den Angaben der Klägerin, der die Beklagten nicht entgegengetreten sind.</p>
<p><rd nr="153"/>III. Die Berechnung des Streitwerts ergibt sich aufgrund der Angaben der Klägerin in der Klage.</p>
<p><rd nr="154"/>Nach allgemeiner Auffassung stellt die eigene Wertangabe eines Klägers oder Antragstellers zu Beginn des Verfahrens ein gewichtiges Indiz für eine zutreffende Bewertung dar (ständige Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München, vgl. WRP 2008, 972 - Jackpot-Werbung vgl. auch BGH GRUR 1986, 93 - Berufungssumme GRUR 1977, 748 - Kaffeeverlosung II;), weil in diesem Verfahrensstadium, in dem die spätere Kostentragungspflicht noch offen ist, erfahrungsgemäß Angaben von größerer Objektivität erwartet werden dürfen, als zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kostentragungspflicht mit erheblicher Sicherheit vorauszusehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2008, - X ZR 125/06, juris). Dies gilt nur dann nicht, wenn sich die Wertangabe eines Klägers oder Antragstellers nicht in objektiv vertretbaren Grenzen gehalten hat (vgl. WRP 2008, 972 - Jackpot-Werbung).</p>
<p><rd nr="155"/>Vorliegend sind keine Gründe dafür ersichtlich, von der Angabe der Klägerin in der Klage abzugehen. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, der Streitwert sei untersetzt, weil der Jahresumsatz der Beklagten 900.000.000 bis 1.000.000.000 US-Dollar betrage. Davon entfielen 7 - 8% auf den Markt in Deutschland und davon 1% auf das Spiel „K“. Jedoch konnte die Klägerin keine Angaben dazu machen, welcher Anteil des Umsatzes auf die angegriffene Ausführungsform, mithin die Buddy Multiplayer Session, entfällt. Mangels besserer Erkenntnisse zum Umsatz der Beklagten mit der angegriffenen Ausführungsform besteht keine Veranlassung, von der ursprünglichen Streitwertangabe der Klägerin (€ 250.000,0 für drei Beklagte; € 166.700,00 nach Abtrennung der C G. GmbH) abzuweichen.</p>
<p><rd nr="156"/>IV. Sofern die Beklagten mit Schriftsatz vom 28.07.2022, nach Schluss der mündlichen Verhandlung, erstmalig die Abtretung der Ansprüche der vormaligen Inhaber des Klagepatents bestritten haben, war dieser Vortrag wegen § 296a ZPO als verspätet zurückzuweisen. Zwar war den Beklagten eine Schriftsatzfrist eingeräumt worden, jedoch war der Schriftsatznachlass auf Vorbringen zur vorläufigen Auslegung der Kammer, der Streitwertangaben der Klägerin, dem Vortrag der Klägerin im Termin zu den Algorithmen und dem Schriftsatz der Klägerin vom 13.07.2022 (Hilfsanträge) beschränkt. Ein Schriftsatzrecht zu dem bereits in der Klage erfolgten Vortrag der Klägerin zur Aktivlegitimation wurde hingegen nicht eingeräumt. Ein Anlass, die mündliche Verhandlung gemäß § 156 ZPO wiederzueröffnen, besteht nicht.</p>
</div>
|
|
346,280 | ovgnrw-2022-08-18-8-b-66122 | {
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<p>Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 16. Mai 2022 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.</p>
<p>Die Anträge werden abgelehnt.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller wendet sich gegen die verkehrsrechtliche Anordnung der Antragsgegnerin vom 16. Januar 2020, durch die diese in ihrem Stadtgebiet auf der Landesstraße (L) 001 zwischen den Knotenpunkten O. Straße / S.----straße und N. Straße / Am Q. für die Zeit von 22 bis 6 Uhr die Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h angeordnet und den Straßenbaulastträger, den Landesbetrieb Straßenbau NRW, aufgefordert hat, diese Anordnung durch Aufstellung entsprechender Verkehrszeichen umzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dieser verkehrsrechtlichen Anordnung ging der vom Rat der Antragsgegnerin beschlossene Lärmaktionsplan vom 13. Dezember 2018 voran, der auf fünf lärmbelasteten innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen („Belastungsachsen“), darunter die „Achse N. Straße / E. Straße / O. Straße“ in C. , die Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen vorsieht. Wörtlich heißt es: „Entlang dieser Belastungsachsen soll zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h festgesetzt werden.“ Der erst nachträglich als Träger der Straßenbaulast beteiligte Landesbetrieb Straßenbau NRW nahm zu dieser Planung mit Schreiben vom 20. November 2019 unter Bezugnahme auf seine schalltechnische Untersuchung vom 25. Oktober 2019 kritisch Stellung und befürwortete die geplante Geschwindigkeitsbeschränkung nur in Bezug auf den hier in Rede stehenden Teilabschnitt der L 137 und auch nur in Bezug auf die Nachtzeit (22 bis 6 Uhr). Unter Bezugnahme darauf erließ die Antragsgegnerin unter dem 16. Januar 2020 für den genannten Streckenabschnitt beschränkt auf die Nachtzeit die hier streitbefangene verkehrsrechtliche Anordnung. Die Verkehrszeichen 274-30 mit Zusatzzeichen 1040-31 stellte der Landesbetrieb Straßenbau NRW am 26. Februar 2021 auf.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 3. Februar 2022 hat der Kläger Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen 6 K 1199/22 beim Verwaltungsgericht Düsseldorf anhängig ist. Am 28. April 2022 hat er ferner den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Durch Beschluss vom 16. Mai 2022 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet und der Antragsgegnerin aufgegeben, den Landesbetrieb Straßenbau NRW anzuweisen, die aufgestellten Verkehrszeichen vorläufig zu entfernen bzw. unwirksam zu machen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag sei zulässig; insbesondere sei die Klage fristgerecht erhoben und der Antragsteller antragsbefugt, weil er als Verkehrsteilnehmer von der Regelung durch das Verkehrszeichen betroffen sei; dass er die Strecke nach seinem Wohnsitzwechsel nicht mehr regelmäßig befahre, sei unerheblich. Der Antrag sei auch begründet. Zwar könnten Lärmbeeinträchtigungen durch Straßenverkehr eine qualifizierte Gefahrenlage begründen, die die Straßenverkehrsbehörde nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zum Einschreiten berechtigten. Die Kammer gehe ferner davon aus, dass die Richtwerte der Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-StV) an der eingerichteten Tempo 30-Strecke zwischen rund 1,7 dB(A) und 2,1 bis 2,9 dB(A) überschritten würden, und zwar an einem Viertel bis einem Drittel der anliegenden Gebäude. Nach Aktenlage spreche aber alles dafür, dass die im Ermessen der Antragsgegnerin als Straßenverkehrsbehörde stehende verkehrsrechtliche Anordnung rechtswidrig sei, weil diese ihr Ermessen gar nicht ausgeübt habe, sondern sich an den vom Rat am 13. Dezember 2018 beschlossenen Lärmaktionsplan gebunden geglaubt habe. Die Anordnung vom 16. Januar 2020 enthalte keine Ermessensbegründung; Derartiges finde sich auch nicht in dem Lärmaktionsplan, ebenso wenig an anderer Stelle in den Verwaltungsvorgängen einschließlich der in Zusammenhang mit dem Lärmaktionsplan vorgelegten Unterlagen. In dem Schriftverkehr mit dem Straßenbaulastträger habe das Straßenverkehrsamt der Antragsgegnerin darauf hingewiesen, dass die Anordnungen aufgrund des Lärmaktionsplans ohne weitere Prüfung umzusetzen seien und sie deshalb zur Beschränkung des fließenden Verkehrs angehalten sei. Eine Ermessensreduzierung auf die hier angeordnete Verkehrsbeschränkung liege aber nicht vor; andere Möglichkeiten, etwa Maßnahmen des passiven Lärmschutzes, seien nicht erwogen worden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss hat die Antragsgegnerin Beschwerde erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäß gestellten Anträgen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 6 K 1199/22 (VG Düsseldorf) gegen die verkehrsrechtliche Anordnung der Antragsgegnerin vom 16. Januar 2020 und auf Aufhebung der Vollziehung zu Unrecht stattgegeben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist hier wegen der sofortigen Vollziehbarkeit der die verkehrsrechtliche Anordnung der Antragsgegnerin nach § 45 Abs. 5 Satz 1 StVO umsetzenden Verkehrszeichen (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO analog) statthaft. Die in diesem Verfahren gebotene Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Die Erfolgsaussichten der Klage gegen die angegriffene verkehrsrechtliche Anordnung sind nach derzeitigem Sach- und Streitstand offen. Diese erweist sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts jedenfalls nicht als offensichtlich rechtswidrig; insbesondere liegt ein Ermessensausfall nicht vor (dazu 1.). Davon ausgehend überwiegt das öffentliche Interesse am Vollzug der angefochtenen Maßnahme das Aussetzungsinteresse des Antragstellers (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Hinreichend belastbare Aussagen über die Erfolgsaussichten der vorliegenden Klage lassen sich ohne die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens nach Aktenlage nicht treffen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">a) Die in der Beschwerdebegründung nochmals angesprochenen Zweifel der Antragsgegnerin, ob der Antragsteller wegen der Verlegung seines Hauptwohnsitzes von N1. nach C1. antragsbefugt sei, sind unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Für die Antragsbefugnis i. S. d. § 42 Abs. 2 VwGO genügt es, dass nach dem substantiierten Vorbringen des Antragstellers eine Verletzung seiner Rechte möglich ist. An der Antragsbefugnis fehlt es nur dann, wenn die vom Antragsteller geltend gemachte Rechtsposition offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder ihm zustehen kann. Für den Adressaten eines belastenden Verwaltungsakts bedeutet dies stets die Bejahung der Antragsbefugnis, weil zumindest eine Verletzung der allgemeinen Freiheitsgewährleistung nach Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht kommt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 29. April 2020 - 7 C 29.18 ‑, juris Rn. 15, und vom 21. August 2003 - 3 C 15.03 -, juris Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Ein Verkehrsteilnehmer kann als eine Verletzung seiner Rechte geltend machen, die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für eine auch ihn treffende Verkehrsbeschränkung nach § 45 Abs. 1 StVO seien nicht gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1993 - 11 C 35.92 -, juris Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dass der Antragsteller trotz der Verlegung seines Hauptwohnsitzes weiterhin von der streitgegenständlichen Maßnahme betroffen ist, legt er - von der Antragsgegnerin unwidersprochen und nachvollziehbar - durch sein Vorbringen dar, er habe bei seinen Eltern in N1. weiterhin einen Zweitwohnsitz und besuche diese sowie seine Freunde dort regelmäßig. Hiervon unabhängig setzt die Klagebefugnis eines Verkehrsteilnehmers gegen ein Verkehrszeichen, mit dem er - wie hier - bereits konfrontiert worden ist, nicht voraus, dass er von dem Verkehrszeichen nach seinen persönlichen Lebensumständen in einer gewissen Regelmäßigkeit oder Nachhaltigkeit tatsächlich betroffen wird.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. August 2003 - 3 C 15.03 ‑, juris Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">b) Auf Grundlage der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob die angefochtene verkehrsrechtliche Anordnung vom 16. Januar 2020 rechtmäßig ist.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">aa) Ungeachtet der Frage, ob und ggf. inwieweit ein Lärmaktionsplan nach § 47d Abs. 6 i. V. m. § 47 Abs. 6 Satz 1 BImSchG bindende Wirkung haben kann, kommt als Rechtsgrundlage für die durch Aufstellung von Verkehrszeichen umgesetzte verkehrsrechtliche Anordnung nur § 45 StVO in Betracht. Eine gesonderte Rechtsgrundlage nach dem Vorbild des für Luftreinhaltepläne geltenden § 40 Abs. 1 BImSchG enthalten die Vorschriften des Lärmschutzrechts nicht. Daraus folgt, dass bei der Umsetzung der in einem Lärmaktionsplan vorgesehenen Maßnahmen die Tatbestandsvoraussetzungen des Straßenverkehrsrechts erfüllt sein müssen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. Klinger/Douhaire, in: Appel/Ohms/Sauer, BImSchG, 2021, § 47d Rn. 31 und 47; Cancik, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: Dezember 2021, § 47d BImSchG Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Darauf, ob den jeweiligen Fachbehörden bei der Umsetzung von in Lärmaktionsplänen festgelegten Lärmminderungsmaßnahmen noch das ihnen nach der fachlichen Eingriffsnorm eingeräumte Ermessen zusteht, kommt es in diesem Zusammenhang zunächst nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO verlangt für Beschränkungen des fließenden Verkehrs grundsätzlich eine Gefahrenlage, die auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen ist und das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung erheblich übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. März 2018 - 8 A 1247/16 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Ein Einschreiten zum Schutz vor Verkehrsimmissionen setzt nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO nicht voraus, dass gesetzlich bestimmte Schall- oder Schadstoffgrenzwerte überschritten werden; maßgeblich ist vielmehr, ob die Verkehrsimmissionen Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 - 7 C 76.84 ‑, juris Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung) dienen bei der Beurteilung der zumutbaren Lärmbelastung der Wohnbevölkerung i. S. v. § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO als Orientierungshilfe, ab welcher Schwelle regelmäßig von einer erheblichen Immissionsbelastung auszugehen ist. Werden die in Nr. 2.1 der Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-StV) vom 23. November 2007 aufgeführten Richtwerte überschritten, kann sich das Ermessen der Behörde zur Pflicht zum Einschreiten verdichten. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist aber auch dann nicht zwangsläufig gegeben. Maßgeblich sind die Besonderheiten des Einzelfalls</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. März 2018 - 8 A 1247/16 -, juris Rn. 30 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">bb) Es spricht auch in Ansehung des Beschwerdevorbringens der Beteiligten derzeit Überwiegendes dafür, dass die für eine Verkehrsregelung erforderliche besondere Gefahrenlage in Bezug auf Lärmeinwirkungen - zu den im Lärmaktionsplan erwähnten Abgasen findet sich in den Akten nichts weiter - besteht. Insoweit teilt der Senat die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, das die Frage zwar letztlich offen gelassen, aber hierzu ausgeführt hat: Die Richtwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV würden an der angeordneten Tempo-30-Strecke „zwischen rund 1,7 dB(A) und 2,1 bis 2,9 dB(A)“ überschritten, und zwar an einem Viertel bis einem Drittel der anliegenden Gebäude. Dem liege zugrunde, dass die Antragsgegnerin auf der Grundlage der schalltechnischen Untersuchung des Straßenbaulastträgers vom 25. Oktober 2019 davon ausgehe, dass an 23 Prozent der fraglichen Gebäude die Richtwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV überschritten würden. Der Antragsteller trete dem nicht entgegen, sondern gehe selbst von einer Überschreitung der „Orientierungswerte“ an 133 der 359 Messpunkte um die vorgenannten dB(A)-Werte aus. Diese Wertung greifen die Beteiligten im Beschwerdeverfahren nicht an. Die Antragsgegnerin führt insofern gleichsam ergänzend aus, sie sei auch schon vor dem Überschreiten von Grenzwerten zu einem Einschreiten berechtigt. Der Antragsteller wiederum bestreitet ausdrücklich nicht, dass die Antragsgegnerin berechtigt war, „gefahrabwehrendes Tätigwerden zu prüfen“.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Sachverhaltswürdigung, dass an einer erheblichen Anzahl von Gebäuden, darunter ersichtlich auch zahlreiche Wohngebäude, die maßgeblichen Richtwerte nachts überschritten werden, teilt der Senat. Sie stützt sich nicht allein auf die dem Lärmaktionsplan zugrunde liegende Lärmkarte nach § 47c BImSchG,</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 11. Februar 2016 - 1 B 241/15 -, juris Rn. 19 ff, das die sich aus der Lärmkartierung nach § 47c BImSchG ergebenden Beurteilungspegel als für die Beurteilung der Lärmbelastung nicht ausreichend betrachtet,</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">sondern auf eine schalltechnische Untersuchung nach Maßgabe der Verkehrslärmschutzverordnung und der Lärmschutz-Richtlinien-StV, deren inhaltliche Aussagekraft nach summarischer Prüfung nicht in Frage steht. Das gilt auch, soweit die an den betreffenden Straßenzug angrenzenden bebauten Flächen in der schalltechnischen Untersuchung fast ausschließlich teils als Allgemeines Wohngebiet (WA) und teils als Mischgebiet (MI) eingeordnet worden sind. Der Senat weist aber darauf hin, dass der Anteil der Gebäude im von der Tempo-30-Maßnahme der Antragsgegnerin erfassten Straßenabschnitt, an denen der Grenzwert von 60 dB(A) bzw. 62 dB(A) allein aufgrund des Straßenverkehrslärms nachts überschritten wird, eher bei einem Drittel als bei einem Viertel liegen dürfte. Der von der Antragsgegnerin angenommene Wert von 23 Prozent bezieht sich auf die der Stellungnahme des Straßenbaulastträgers vom 25. Oktober 2019 angefügte Tabelle „N1. Beurteilungspegel L137_C. _Bestand_2015_Lsr-StV“. Diese enthält Pegelwerte zu allen an der „Achse N. Straße / E. Straße / O. Straße“, für die der Lärmaktionsplan der Antragsgegnerin Tempo-30 vorsieht, liegenden Gebäude. Auf diese bezieht sich die streitgegenständliche Maßnahme der Antragsgegnerin aber nicht vollständig. Dies scheint der Antragsteller bei seiner Berechnung berücksichtigt zu haben. Wie viele Personen in den betroffenen Häusern wohnen, ist nach Aktenlage bislang wohl nicht ermittelt worden. Da es sich hier aber nach den nicht in Frage gestellten Annahmen in der schalltechnischen Untersuchung um ein Allgemeines Wohngebiet sowie ein Mischgebiet handelt, ist von einer Betroffenheit der Wohnbevölkerung i. S. d. § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO auszugehen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">cc) Ermessensfehler, die unter Berücksichtigung des durch § 114 VwGO eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsmaßstabs zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im Hauptsacheverfahren,</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. September 2017 - 3 B 50.16 -, juris Rn. 8,</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">zur Aufhebung der verkehrsrechtlichen Anordnung führen, liegen beim gegenwärtigen Sach- und Streitstand jedenfalls nicht eindeutig vor.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">(1) Allerdings spricht Erhebliches für die Richtigkeit der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Erlass der auf § 45 StVO gestützten verkehrsrechtlichen Anordnung auch dann im Ermessen der Straßenverkehrsbehörde steht und eine entsprechende, den rechtlichen Anforderungen genügende Begründung erforderlich sein kann, wenn die Maßnahme als solche bereits in einem Lärmaktionsplan vorgesehen ist.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Nach § 47d Abs. 6 i. V. m. § 47 Abs. 6 Satz 1 BImSchG sind die Maßnahmen, die Lärmaktionspläne festlegen, durch Anordnungen oder sonstige Entscheidungen der zuständigen Träger öffentlicher Verwaltung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz oder nach anderen Rechtsvorschriften durchzusetzen. Ob und inwieweit hierbei die Pflicht der Behörde zur Ermessensausübung in Einzelfällen entfällt, ist bislang nicht abschließend geklärt. Aber auch soweit in der Rechtsprechung eine Bindung des Ermessens an den Lärmaktionsplan bejaht wird, liegt dem die Annahme zu Grunde, dass die Lärmaktionsplanung den fachrechtlichen Ermessensspielraum nicht ohne Weiteres überlagert. Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung ist jedenfalls einerseits die Wirksamkeit des Lärmaktionsplans und der dort getroffenen Festlegungen sowie andererseits die Erfüllung der fachrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen. Eine Bindung an die Vorgaben eines Lärmaktionsplans im Rahmen einer nachfolgenden, grundsätzlich in das Ermessen der Fachbehörde gestellten Umsetzungsentscheidung kommt daher von vornherein allenfalls dann in Betracht, wenn der Lärmaktionsplan verfahrensordnungsgemäß zustande gekommen ist und hinreichend bestimmte, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Festlegungen enthält.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17. Juli 2018 - 10 S 2449/17 -, juris Rn. 28 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">(2) Dies zugrunde gelegt kommt hier ernsthaft in Betracht, dass der in Rede stehende Lärmaktionsplan vom 13. Dezember 2018 nicht die in § 47d Abs. 6 i. V. m. § 47 Abs. 6 Satz 1 BImSchG geregelte Bindungswirkung entfaltet.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zweifelhaft erscheint bereits, ob sich der Lärmaktionsplan selbst eine solche Bindungswirkung beimisst. Dagegen könnte neben der Formulierung, dass entlang der aufgeführten Belastungsachsen die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h festgesetzt werden „soll“, auch sprechen, dass die Straßenzüge, für die die Geschwindigkeitsbegrenzung gelten soll, nur schlagwortartig umrissen, aber nicht konkret bezeichnet worden sind. Die Annahme, dass mit der Definition der Belastungsachse N. Straße / E. Straße / O. Straße zugleich verbindlich festgelegt werden sollte, dass Tempo 30 auch in den nicht oder nur locker bebauten Teilbereichen der genannten Straßen anzuordnen sei, drängt sich zumindest nicht auf.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon bestehen nach jetzigem Stand Zweifel an dem ordnungsgemäßen Zustandekommen des Lärmaktionsplans. Dass eine hinreichende, nicht zuletzt zur umfassenden Ermittlung des zugrunde zu legenden Sachverhalts und des maßgeblichen Abwägungsmaterials wohl gebotene Behördenbeteiligung,</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">vgl. Cancik, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht (Dezember 2021), § 47d BImSchG Rn. 21; Wysk, in: Giesberts/Reinhardt, BeckOK Umweltrecht (Juli 2020), § 47d BImSchG Rn. 27,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">erfolgt ist, kann nach derzeitiger Aktenlage nicht festgestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Der Straßenbaulastträger verweist in seiner Stellungnahme zur Einführung von Tempo 30 durch die Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2019 darauf, dass er als Träger öffentlicher Belange nicht über die öffentliche Auslegung der Lärmaktionsplanung informiert worden und es ihm daher unmöglich gewesen sei, eine Stellungnahme abzugeben. Ein Anspruch der Kommune auf Realisierung von in Lärmaktionsplänen festgesetzten Maßnahmen, für die kein Einvernehmen mit ihm hergestellt worden sei, bestehe gemäß Runderlass des Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 7. Februar 2008 - V-5-8820.4.1 - nicht. Auf der anderen Seite befindet sich in der Beschlussvorlage vom 23. Oktober 2018 ‑ DezIII / 0842 / 2018 - der Hinweis, die Verwaltung sei unter anderem mit dem Straßenbaulastträger im Gespräch und strebe für die Umsetzung des Lärmaktionsplanes eine einvernehmliche Lösung an. Die Antragsgegnerin trägt in der Beschwerdebegründung vor, sie habe den Straßenbaulastträger beteiligt. Auch insoweit bedarf es gegebenenfalls einer weiteren Sachaufklärung.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass derzeit wenig für einen - vom Verwaltungsgericht sinngemäß angenommenen - Begründungs- und Abwägungsausfall des Rates spricht. Den von der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren eingereichten Ratsdokumenten lässt sich eine Begründung für die in den Plan aufgenommenen Maßnahmen und eine Abwägung unterschiedlicher Belange durchaus entnehmen. So enthält etwa die Beschlussvorlage vom 19. September 2018 unter Ziffer 2. eine Begründung für Tempo 30 entlang der Belastungsachsen. Ob sich der Rat der Antragsgegnerin beispielsweise mit den vom Verwaltungsgericht auf S. 10 ff. des Beschlussabdrucks erwähnten Alternativmaßnahmen (vertiefter) hätte befassen müssen, lässt sich im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nicht abschließend klären.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">(3) Geht man somit davon aus, dass die verkehrsrechtliche Anordnung einer eigenständigen Ermessensentscheidung der Straßenverkehrsbehörde bedurfte, liegt jedenfalls ein Ermessensfehler in Gestalt eines Ermessensausfalls, der auch in einem gerichtlichen Verfahren nicht durch nachträgliche Ergänzung von Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO zu beheben wäre, erkennbar nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Eine § 39 VwVfG NRW entsprechende Begründung enthält die an den Landesbetrieb Straßenbau NRW gerichtete Anordnung vom 16. Januar 2020 nicht; es findet sich in den Verwaltungsvorgängen auch kein diesbezüglicher Vermerk, aus dem sich die Erwägungen, die dieser Anordnung zugrunde liegen, ergeben. Auf die Erwägungen, die dem Lärmaktionsplan zugrunde gelegen haben, kann in diesem Zusammenhang schon deshalb nicht abgestellt werden, weil die hier getroffene Anordnung nicht mit dem Inhalt des Plans identisch ist und weil dem Rat die tatsächlichen Erkenntnisse - konkret: die Ergebnisse der vom Landesbetrieb Straßenbau NRW durchgeführten schalltechnischen Untersuchung - noch gar nicht vorlagen. Das Fehlen eines die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin zusammenfassenden schriftlichen Vermerks bedeutet aber nicht, dass eine Ermessensentscheidung bei Erlass der verkehrsrechtlichen Anordnung nicht getroffen worden wäre. Vielmehr folgt schon aus dem Umstand, dass die Straßenverkehrsbehörde der Antragsgegnerin die Vorgaben des Lärmaktionsplans gerade nicht 1:1, sondern nach Beteiligung des Straßenbaulastträgers ersichtlich unter Berücksichtigung der von diesem geäußerten Einwände und der vorgelegten Lärmuntersuchung nur in Bezug auf den oben näher bezeichneten Teilbereich der Belastungsachse N. Straße / E. Straße / O. Straße, nicht auf die weiteren im Lärmaktionsplan aufgeführten Belastungsachsen und zudem auch nur in Bezug auf die Nachtzeit umgesetzt hat, dass hier eine eigenständige, vom Lärmaktionsplan abweichende Anordnung getroffen worden ist, was notwendigerweise eine Ermessensausübung voraussetzt.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht stützt seine gegenteilige Auffassung im Wesentlichen darauf, dass die Antragsgegnerin in einem Schreiben an den Straßenbaulastträger vom 29. Januar 2020 ausgeführt habe, sie habe die im Lärmaktionsplan enthaltenen Anordnungen ohne weitere Prüfung umzusetzen. Auch im Schreiben an den Straßenbaulastträger vom 25. März 2019 habe sie auf den Lärmaktionsplan verwiesen und dabei ausgeführt, sie sei zu einer Beschränkung des fließenden Verkehrs angehalten. Ein vollständiger Ausfall des Ermessens ergibt sich daraus bei der gebotenen Gesamtschau nicht. Vielmehr befinden sich gerade in den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Schreiben Ausführungen, die die von der Antragsgegnerin ins Auge gefasste Maßnahme rechtfertigen sollen. So führt die Antragsgegnerin im Schreiben vom 29. Januar 2020 - nachdem der Straßenbaulastträger sein Einvernehmen mit der Anordnung von Tempo 30 nur teilweise erteilt hatte - unter anderem aus, es sei nicht anzuzweifeln, dass diese Anordnung zu einer Verbesserung der Lärmsituation beitrage und darüber hinaus die Verkehrssicherheit erhöhe. Dies bestätigten Erfahrungen aus anderen Städten sowie Untersuchungen des Umweltbundesamtes. Danach werde die Qualität des Verkehrsflusses durch die Absenkung von Tempo 50 auf Tempo 30 gerade nicht beeinträchtigt. Die mittlere Geschwindigkeit sinke im Laufe der Zeit kontinuierlich ab und habe somit sehr wohl einen ausgeprägten Lärmminderungseffekt. Die Erwägungen, die die Antragsgegnerin zum Erlass der streitgegenständlichen Maßnahme bewogen haben, sind demnach sehr wohl erkennbar. Dass sich die wiedergegebenen Ausführungen sinngemäß auch in den „Aufstellungsvorgängen“ für den Lärmaktionsplan wiederfinden, spricht nicht gegen eine Ermessensausübung durch die Antragsgegnerin auch bei Umsetzung der Maßnahme. Dieser Umstand ist im vorliegenden Fall eher als bewusste Übernahme der Argumentation und nicht etwa als weitere Rechtfertigung der eigenen Bindung anzusehen. Hierfür spricht auch, dass bei der Antragsgegnerin behördenintern dasselbe Dezernat sowohl für die Vorbereitung der Lärmaktionsplanung als auch für die Umsetzung der streitgegenständlichen Maßnahme zuständig war.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Auch wenn die Antragsgegnerin zu Beginn ihrer Korrespondenz mit dem Straßenbaulastträger zu erkennen gegeben haben mag, dass sie beabsichtige, die vorgesehenen Maßnahmen „ohne weitere Prüfung umzusetzen“, hat sie dies im Ergebnis nicht getan. Vielmehr ist dem im Verwaltungsvorgang befindlichen internen Vermerk vom 10. Januar 2019 über das weitere Vorgehen bei der Umsetzung des Lärmaktionsplans zu entnehmen, dass auch die Antragsgegnerin die fehlende Bindung erkannt hat. In dem Vermerk heißt es unter anderem: „Die Ergebnisse des Lärmaktionsplanes können nicht als Grundlage herangezogen werden, sondern stellen nur einen Verdachtsfall der Lärmüberschreitung dar.“</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon, dass hier ersichtlich kein Ermessensnichtgebrauch vorliegt, bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen eine nachträgliche Ergänzung der Ermessenserwägungen. Eine ermessensfehlerfreie Begründung kann im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG NRW). Die Ergänzung von Ermessenserwägungen ist - abgesehen von dem hier nicht vorliegenden Fall eines Ermessensnichtgebrauchs - ebenfalls möglich (vgl. § 114 Satz 2 VwGO). Ein im gerichtlichen Verfahren eingereichtes Verteidigungsvorbringen reicht hierfür allerdings nicht aus. Trägt die Behörde neue Umstände oder neue Ermessenserwägungen erst in einem laufenden Verwaltungsprozess vor, muss sie, um den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (vgl. § 37 VwVfG [NRW]) zu genügen, unmissverständlich deutlich machen, dass es sich nicht nur um prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern um eine Änderung des Verwaltungsakts selbst. Andernfalls wäre dem Betroffenen keine sachgemäße Rechtsverteidigung möglich, was wiederum mit der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbaren wäre.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C 46.12 -, juris Rn. 35; OVG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">(4) Ob die hier getroffene Ermessensentscheidung in jeder Hinsicht den rechtlichen Anforderungen genügt,</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu nochmals BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1986 - 7 C 76.84 -, juris, sowie ausführlich OVG NRW, Urteil vom 1. Juni 2005 - 8 A 2350/04 -, juris Rn. 50 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">muss der weiteren Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung ist jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich, dass sich die Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung wegen eines Ermessensfehlers als rechtswidrig erweisen wird. Dafür reicht es nicht aus, dass - wie das Verwaltungsgericht unter dem Aspekt einer fehlenden Ermessensreduzierung auf Null bzw. der Anordnung der konkreten streitbefangenen Geschwindigkeitsbegrenzung ausgeführt hat - im vorliegenden Fall zur Reduzierung der Lärmbelastung auch andere Maßnahmen erwogen werden könnten. Dass die Geschwindigkeitsbegrenzung zur Erreichung des angestrebten Zwecks ungeeignet ist oder es andere, weniger belastende, aber gleich wirksame, beispielsweise auch kurzfristig umsetzbare Maßnahmen gibt, drängt sich nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand nicht auf. Das gilt auch, soweit sich die Antragsgegnerin in Bezug auf die Auswirkungen der Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h auf Materialien des Umweltbundesamtes bezogen hat, deren Tragfähigkeit der Antragsteller in Frage stellt. Dass die Geschwindigkeitsbegrenzung zu einer Reduzierung der Lärmwerte führen wird, kann mit Blick auf die schalltechnische Untersuchung des Straßenbaulastträgers nicht ernstlich zweifelhaft sein. Aus den vom Landesbetrieb Straßenbau NRW in seiner Stellungnahme vom 25. Oktober 2019/20. November 2019 ausgeführten Gründen erscheint die Geschwindigkeitsbegrenzung auch unter Berücksichtigung der Verkehrsbedeutung der L 001 mit Blick auf die Vielzahl der Überschreitungen der nächtlichen Pegelwerte und die zu erwartende Pegelminderung aller Voraussicht nach nicht als unverhältnismäßig.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Verkehrsbedeutung der betreffenden Straße ist zwar mit der ihr widmungsgemäß zukommenden Bedeutung zu berücksichtigen, steht der Anordnung von Verkehrsbeschränkungen zum Schutze der Wohnbevölkerung aber keineswegs entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. jeweils zu Bundesstraßen: OVG NRW, Urteil vom 1. Juni 2005 - 8 A 2350/04 -, juris Rn. 50 ff., und Beschluss vom 25. Juli 2007 - 8 A 3518/06 -, juris Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Ob und inwieweit die Antragsgegnerin als Straßenverkehrsbehörde bei der Entscheidung über eine auf § 45 StVO gestützte Verkehrsbeschränkung auch die vom Verwaltungsgericht angesprochenen Handlungsalternativen, insbesondere auch in Bezug auf andere Lärmquellen sowie Möglichkeiten des passiven Lärmschutzes, hätte einbeziehen müssen, bedarf noch einer ergänzenden Prüfung.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">2. Die bei offenen Erfolgsaussichten erforderliche weiter gehende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Stellte sich bei einer Änderung der erstinstanzlichen Eilentscheidung später heraus, dass die verkehrsbeschränkende Maßnahme der Antragsgegnerin aufzuheben ist, wäre der Antragsteller verpflichtet, sich bis zum erstinstanzlichen Abschluss des Hauptsacheverfahrens an eine rechtswidrige Anordnung zu halten, wodurch er zumindest in seiner aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt wäre. Dies beträfe ihn, da er seinen Hauptwohnsitz nicht mehr in N1. hat, allerdings nur bei gelegentlichen Besuchsfahrten dorthin und auch nur auf dem hier in Rede stehenden Teilstück der L 001 in der Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr, wodurch nach den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts pro Fahrt ein zusätzlicher Zeitaufwand von weniger als einer Minute entsteht. Ein geringfügig erhöhter Zeitaufwand erscheint für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens zumutbar. Beließe der Senat es dagegen bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung und ergäbe die Durchführung des Hauptsacheverfahrens, dass die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf dem von der Anordnung betroffenen Streckenabschnitt auf 30 km/h rechtmäßig ist, müssten die (zahlreichen) Anwohner des betroffenen Streckenabschnitts auf die in der Stellungnahme des Straßenbaulastträgers näher konkretisierte und hier auch nicht ernstlich in Zweifel zu ziehende Verbesserung der nächtlichen Ruhezeit zum Schutz ihrer Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verzichten. Dass die Maßnahme zu einer erheblichen Störung des allgemeinen nächtlichen Verkehrsaufkommens führen würde, ist nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">3. Ausgehend von der Erfolglosigkeit des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist für die auf § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gestützte Anordnung einer Aufhebung der Vollziehung kein Raum. Die diesbezügliche Regelung in dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts ist ebenfalls aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 46.15 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wonach bei verkehrsregelnden Anordnungen der Auffangwert i. S. d. § 52 Abs. 2 GKG (5.000,- Euro) anzusetzen und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs um die Hälfte zu reduzieren ist.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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346,272 | lg-arnsberg-2022-08-18-3-ns-180-js-71521-9 | {
"id": 801,
"name": "Landgericht Arnsberg",
"slug": "lg-arnsberg",
"city": 384,
"state": 12,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 3 Ns-180 Js 715/21-98/22 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-23T10:01:05 | 2022-10-17T11:09:22 | Beschluss | ECLI:DE:LGAR:2022:0818.3NS180JS715.21.98.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Fahrerlaubnis der Angeklagten wird vorläufig entzogen.</p>
<p>Dieser Beschluss bewirkt gleichzeitig die Beschlagnahme des Führerscheins.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht Warstein hat die Angeklagte am 07.06.2022 wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 30 € verurteilt und ihr verboten, für die Dauer von zwei Monaten Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen. Das Amtsgericht hat ferner entschieden, dass eine Anrechnung auf die durch Beschluss über den vorläufigen Entzug der Fahrerlaubnis bewirkten Sperre nicht erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft zuungunsten der Angeklagten Berufung eingelegt und diese auf den Rechtsfolgenausspruch und konkret auf die unterlassene Entziehung der Fahrerlaubnis beschränkt. Das Amtsgericht hatte die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis am 13.06.2022 aufgehoben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beruht auf § 111a StPO. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Angeklagten gemäß § 69 StGB die Fahrerlaubnis entzogen werden wird. Denn die Angeklagte ist – insoweit rechtskräftig - wegen einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung gemäß § 315 c Abs. 1 Nr. 1a StGB verurteilt worden.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das Berufungsgericht ist nicht gehindert, diese Maßnahme anzuordnen, obwohl das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil eine Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB nicht angeordnet hat. Zwar werden für eine solche Konstellation in Ansehung des § 111a Abs. 2 StPO regelmäßig neue Tatsachen oder Beweismittel gefordert (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 111a, RN 3 aE und RN 13, m.w.N.). Dem steht es jedoch gleich, wenn das angefochtene Urteil trotz Vorliegens eines Regelfalls des § 69 Abs. 2 Nr. 1 StGB jegliche Ausführungen für eine Widerlegung der Regelvermutung vermissen lässt und die Frage eines Eignungsmangels weder positiv noch negativ beantwortet.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">So verhält es sich hier. In den schriftlichen Urteilsgründen ist entgegen § 267 Abs. 6 Satz 2 StPO nicht ausgeführt, warum die Fahrerlaubnis nicht entzogen worden ist, obwohl ein Regelfall nach § 69 Abs. 2 Nr. 1 StGB vorliegt. Es wird lediglich die Anordnung des Fahrverbots damit begründet, dieses sei als Denkzettel und Besinnungsstrafe zur Einwirkung auf die Angeklagte erforderlich. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich aus der rechtswidrigen Tat ergibt, dass die Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist oder die gesetzliche Regelvermutung widerlegt ist, fehlt jedoch völlig.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dem Erfordernis des Vorliegens neuer Tatsachen steht es nach Ansicht der Kammer deshalb gleich, wenn solche tatsächlichen Umstände in dem Urteil erster Instanz trotz gesetzlicher Vorgabe gar nicht berücksichtigt worden sind und in der Berufungsinstanz erstmals in die Entscheidungsfindung einfließen (müssen), also die tatsächliche Frage eines Eignungsmangels erstmals geklärt werden muss.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beschlagnahmeanordnung beruht auf § 111a Abs. 3 StPO.</p>
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346,248 | ovgnrw-2022-08-18-19-a-109022a | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 19 A 1090/22.A | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-20T10:01:04 | 2022-10-17T11:09:19 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0818.19A1090.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Anträge werden abgelehnt.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I. Der Prozesskostenhilfeantrag für das Verfahren zweiter Instanz ist unbegründet. Der Berufungszulassungsantrag hat aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">II. Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AsylG genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zu den Darlegungsanforderungen nach der inhaltsgleichen Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Beschluss vom 28. März 2022 ‑ 1 B 9.22 ‑, juris, Rn. 21 ff. (zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2022 ‑ 19 A 657/22.A ‑, AuAS 2022, 150, juris, Rn. 3, vom 18. Mai 2022 ‑ 19 A 532/22.A ‑, juris, Rn. 6, und vom 9. Februar 2022 ‑ 19 A 544/21.A ‑, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Diese Anforderungen erfüllen die durch die Kläger aufgeworfenen Fragen nicht. Die Kläger halten für grundsätzlich bedeutsam die Fragen,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1. ob es für alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern ohne unterstützende Familien- und Sozialstrukturen angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation in Nigeria möglich ist, das Existenzminimum durch eigene Arbeit zu sichern,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. ob es rechtlich zulässig ist, minderjährige nigerianische Staatsangehörige darauf zu verweisen, ihre mit ihnen zurückkehrende Mutter könne auch ohne soziales und familiäres Netzwerk in Nigeria ein ausreichendes Existenzminimum erwirtschaften und es sei insofern zumutbar, sich in Nigeria niederzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">3. ob die dargestellte gerichtliche Erwartung an das Verhalten der Kläger bei Rückkehr nach Nigeria mit ihren Grundrechten aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 und Art. 6 GG sowie den Normen der UN-Kinderrechtskonvention vereinbar ist.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Fragen zu 1. und 2. im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Nigeria sind – soweit sie überhaupt in generalisierender Weise klärungsfähig sind – nicht mehr klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt sind. Der Senat hat auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie festgestellt, dass grundsätzlich auch alleinstehende Frauen mit Kleinkindern ohne unterstützende Familien- und Sozialstrukturen am Ort ihres Aufenthalts das Existenzminimum durch eigene Arbeit sichern können, wobei nicht verkannt wird, dass die bereits allgemein schwierige soziale und ökonomische Lage für diese Personen prekär ist.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2021 ‑ 19 A 4604/19.A ‑, juris, Rn. 65 bis 67.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Einer weiteren Klärung dieser generalisierenden Tatsachenfeststellungen bedarf es nicht. Der Senat hat ausdrücklich festgestellt, dass jeweils die individuellen Umstände zu berücksichtigen sind, wobei Bildung, berufliche Fähigkeiten, die familiäre und psychologische Situation, der ökonomische Status und etwaige Kontakte in Nigeria von Bedeutung sein können.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteile vom 22. Juni 2021 ‑ 19 A 4386/19.A ‑, juris, und vom 18. Mai 2021, a. a. O., jeweils Rn. 67.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall bei der Prüfung etwa der Möglichkeit und Zumutbarkeit internen Schutzes (§ 3e AsylG) im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes, oder auch bei der Prüfung von Abschiebungsverboten vorliegen, ist eine Frage der Rechtsanwendung im Einzelfall. Nach diesem Maßstab steht die ausdrücklich einzelfallbezogene Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots an eine alleinstehende nigerianische Schwangere und Mutter von bereits zwei kleinen Kindern durch das VG Osnabrück, Urteil vom 20. August 2020 ‑ 4 A 304/17 ‑, juris, Rn. 35 ff., 45 ff., auf welche die Kläger sich berufen, in keinem Widerspruch zum angefochtenen Urteil. Der Zulassungsantrag ergibt keinen erneuten oder weitergehenden Klärungsbedarf in Bezug auf diese Tatsachenfeststellungen. Zum Teil bezieht sich der Zulassungsantrag nur auf Quellen, die angesichts der aktuellen – auch vom Verwaltungsgericht zitierten – Rechtsprechung des Senats überholt sind. Zum Teil führt er Medienberichte an, die sich mit den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Versorgungslage in Afrika beschäftigen. Ein konkreter Bezug zur spezifischen Situation in Nigeria wird hierin jedoch nicht hergestellt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Inwiefern insoweit das Verwaltungsgericht die Pflicht zur gleichsam „tagesaktuellen“ Erfassung und Bewertung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 9. Februar 2021 ‑ 2 BvQ 8/21 ‑, BayVBl. 2021, 340, juris, Rn. 7, und vom 25. April 2018 ‑ 2 BvR 2435/17 ‑, NVwZ 2018, 1563, juris, Rn. 34,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">nicht beachtet haben könnte, zeigt der Zulassungsantrag nicht substantiiert auf.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon unterlassen die Kläger jegliche Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnissen insbesondere zu den verfügbaren Unterstützungsprogrammen und Starthilfen in Nigeria, wie auch mit den individuellen Feststellungen zur Fähigkeit der Klägerin zu 1., allein für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt sicherzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auch die Frage zu 3. führt nicht zur Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Sie zielt allein auf die konkrete Rechtsanwendung im Einzelfall, ohne dass ihre generalisierende Klärungsfähigkeit oder auch -bedürftigkeit aufgezeigt wird. Auch aus dem diesbezüglichen Zulassungsvorbringen (S. 6 bis 9 des Zulassungsantrags) ergibt sich, dass die Kläger in der Sache die aus ihrer Sicht unzutreffende einzelfallbezogene Bewertung des Verwaltungsgerichts rügen, einer Abschiebung nach Nigeria stehe der im Rahmen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu beachtende Art. 3 EMRK nicht entgegen. Letztlich wenden sich die Kläger damit nur gegen eine ihr Asylverfahren betreffende vermeintlich fehlerhafte Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Im Berufungszulassungsverfahren ist jedoch im Regelfall – und so auch hier – kein Raum, diese im Einzelfall zu überprüfen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
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346,247 | ovgnrw-2022-08-18-13-b-85122 | {
"id": 823,
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"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 13 B 851/22 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-20T10:01:02 | 2022-10-17T11:09:19 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0818.13B851.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 1. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Die gegen die Ablehnung der begehrten Zwischenentscheidung gerichtete Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthaft. Hiernach steht den Beteiligten gegen alle Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters, die nicht Urteile oder Gerichtsbescheide sind, die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht zu, soweit nicht in der Verwaltungsgerichtsordnung etwas anderes bestimmt ist. Eine abweichende Bestimmung in diesem Sinne greift vorliegend nicht ein. Die Beschwerdemöglichkeit ist insbesondere nicht nach § 146 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen. Eine vom Verwaltungsgericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes getroffene Zwischenentscheidung bzw. deren Ablehnung stellt keine – insoweit nur in Betracht kommende – prozessleitende Verfügung i. S. v. § 146 Abs. 2 VwGO dar. Denn sie bezieht sich nicht allein auf den äußeren, förmlichen Fortgang des Verfahrens. Sie trifft vielmehr eine sachliche, wenn auch nur befristete Entscheidung über das vorläufige Rechtsschutzbegehren des jeweiligen Antragstellers.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Januar 2022 ‑ 6 B 1999/21 -, juris, Rn. 4, vom 18. Februar 2021 ‑ 5 B 175/21 -, juris, Rn. 2, vom 16. Juli 2020 ‑ 8 B 907/20 -, juris, Rn. 2, vom 10. Dezember 2014 ‑ 1 B 1251/14 -, juris, Rn. 3, vom 14. Dezember 2012 - 1 B 1411/12 -, juris, Rn. 2, und vom 5. November 2008 ‑ 8 B 1631/08 -, juris, Rn. 4 f., jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">2. Die mithin statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist aber unbegründet. Die Voraussetzungen für den Erlass eines Hängebeschlusses liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ob eine Zwischenentscheidung in Form eines sogenannten Hängebeschlusses im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren ergeht, ist im Wege einer Interessenabwägung zu ermitteln. Der Erlass einer Zwischenentscheidung ist zulässig und geboten, wenn der Eilantrag nicht offensichtlich aussichtslos ist und ohne die befristete Zwischenentscheidung die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gefährdet wäre. Eine Zwischenentscheidung wäre danach erforderlich, wenn zu befürchten wäre, dass bis zur Entscheidung im gerichtlichen Eilverfahren unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des effektiven Rechtsschutzes vollendete Tatsachen geschaffen werden, weil irreversible Zustände oder schwere und unabwendbare Nachteile drohen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 11. Oktober 2013 - 1 BvR 2616/13 -, Rn. 7; BVerwG, Beschluss vom 12. November 2020 - 4 VR 6.20 -, juris, Rn. 2 m. w. N.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14. Oktober 2021 - 5 S 2503/21 -, juris, Rn. 9; Schoch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 80, Rn. 359 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">In Anwendung dieser Grundsätze ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass eine Zwischenentscheidung – über den 17. Juli 2022 hinaus – nicht erforderlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin führt zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung. Denn die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass ihr ein irreversibler Zustand oder schwere und unabwendbare Nachteile drohen, die aus Gründen effektiven Rechtsschutzes eine Zwischenregelung erforderlich machen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">a. Soweit die Antragstellerin unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihres Chief Marketing Officer darauf abstellt, dass ihr täglich ein Umsatz in Höhe eines vierstelligen Betrages verloren gehe, legt sie nicht dar, dass hierdurch irreversible Zustände einzutreten drohen. Zwar entstehen der Antragstellerin infolge der Befolgung der angegriffenen Untersagungsverfügung der Antragsgegnerin vom 15. Juni 2022 wirtschaftliche Einbußen. Dies allein genügt aber nicht für den Erlass der begehrten Zwischenentscheidung, da die Antragstellerin schon nicht geltend macht, dass das Abwarten des alsbald zu erwartenden Ausgangs des Eilverfahrens zu einer endgültigen Aufgabe ihrer Geschäftstätigkeit führen könnte oder aus sonstigen Gründen unumkehrbare Folgen eintreten. Es erschließt sich auch sonst nicht, weshalb die Antragstellerin im Falle eines erfolgreichen Eilantrags ohne Zwischenregelung ihre Geschäftstätigkeit nicht wieder vollumfänglich aufnehmen können sollte, nachdem sie die ihr untersagte Online-Teilnahme an den kostenpflichtigen TV-Gewinnspielen einstweilen einstellen musste. Insbesondere kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass eine im Falle eines Erfolgs des Eilrechtsschutzverfahrens nur vorübergehende Einstellung der Online-Teilnahme an den kostenpflichtigen TV-Gewinnspielen zu einer unumkehrbaren Abwanderung von Kunden führt. Näheres hat die Antragstellerin auch mit der Beschwerde nicht vorgetragen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch zur vorübergehenden Schließung einer Spielhalle VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20. Juli 2021 - 6 S 2237/21 -, juris, Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Solch irreversible Folgen erscheinen auch vor dem Hintergrund, dass der Antragstellerin die Einnahmen aus den Gewinnspielen verbleiben, die über die anderen beiden Teilnahmewege (Telefon und SMS) generiert werden, und sie darüber hinaus ausweislich ihres Internetauftritts (https://www.ad-alliance.de/cms/unternehmen/ueber adalliance.html) zahlreiche weitere Werbedienstleistungen für unterschiedliche Medien anbietet, fernliegend. Die Antragstellerin trägt insoweit weder vor, wie hoch die ihr danach verbleibenden Einnahmen sind, noch wie viel Prozent ihrer Einnahmen über die ihr allein untersagte Online-Teilnahme erwirtschaftet werden. Angesichts dessen können die geltend gemachten Folgen auch nicht als schwere und unabwendbare Nachteile eingestuft werden, die aus Gründen effektiven Rechtsschutzes die begehrte Zwischenregelung erforderten.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ist danach bereits nicht erkennbar, dass der Antragstellerin die Befolgung der Untersagungsverfügung bis zur abschließenden Entscheidung im vorliegenden Eilverfahren unzumutbar ist, kann dahingestellt bleiben, ob die wirtschaftlichen Schäden abgemildert würden, wenn sie das Angebot zur Online-Teilnahme kostenfrei zur Verfügung stellte. Ungeachtet dessen ist der Vortrag der Antragstellerin, bei einer kostenlosen Phase trete ein Gewöhnungseffekt bei den Kunden ein, der zu einem Kundenverlust bei einer Rückumstellung auf ein kostenpflichtiges Angebot führe, durch nichts weiter belegt und damit rein spekulativer Natur.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auf die von der Antragstellerin aufgeworfene Frage, ob das Verwaltungsgericht davon ausgehen durfte, dass „etwaige rechtswidrige Nachteile“, welche die Antragstellerin durch die Umstellung des kostenpflichtigen Angebots auf ein kostenloses Angebot erleiden werde, im Wege des Schadensersatzes wieder gut zu machen sein könnten, kommt es vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b. Der weitere Einwand der Antragstellerin, das Verwaltungsgericht habe nicht unberücksichtigt lassen dürfen, dass in Ziffer 3 der Untersagungsverfügung ein Zwangsgeld in Höhe von 30.000 Euro angedroht werde und die Antragsgegnerin zudem auf eine mögliche Geldbuße bis zu 500.000 Euro hinweise, greift ebenfalls nicht durch. Diese Folgen kann die Antragstellerin selbst abwenden, indem sie die vollziehbare Untersagungsverfügung befolgt. Dass sie dies nicht beabsichtigt, hat sie im Übrigen schon nicht geltend gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">In diesem Zusammenhang dringt die Antragstellerin auch nicht mit ihrer weiteren Rüge durch, dass es ihr nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht zuzumuten sei, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen auf der Anklagebank erleben zu müssen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 7. April 2003 ‑ 1 BvR 2129/02 -, juris, Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Anders als in dem Verfahren, das der vorstehend zitierten Entscheidung zu Grunde lag, wird die Antragstellerin infolge des Nichterlasses der begehrten Zwischenentscheidung nicht auf ihr zur Verfügung stehende Rechtsmittel in einem – soweit ersichtlich schon nicht anhängigen – Bußgeldverfahren verwiesen. Vielmehr wird die Frage, ob die Antragstellerin unerlaubtes öffentliches Glücksspiel veranstaltet, vermittelt, unterstützt oder bewirbt und dadurch ordnungswidrig nach § 28a Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 15 GlüStV 2021 handelt, im Rahmen des beim Verwaltungsgericht anhängigen Eilverfahrens überprüft werden.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">c. Schließlich dringt die Antragstellerin auch nicht mit ihrer Rüge durch, die Antragsgegnerin sei bislang nicht eingeschritten, obgleich ihr das Angebot, das bereits seit 2016 auf dem Markt sei, seit spätestens März 2017 bekannt gewesen sei, da dieser Einwand angesichts des vorstehend dargestellten Maßstabes für die Entscheidung über den Erlass oder die Ablehnung der begehrten Zwischenentscheidung unerheblich ist.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Eine Kostenentscheidung ist nicht erforderlich. Die durch das Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten gehören zu den Kosten des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO. Es liegt insofern kein gegenüber jenem Verfahren selbständiges Nebenverfahren vor.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2021 ‑ 5 B 175/21 -, juris, Rn. 24, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Einer Streitwertfestsetzung bedarf es in der Folge ebenfalls nicht.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
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346,245 | ovgni-2022-08-18-1-me-5722 | {
"id": 601,
"name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht",
"slug": "ovgni",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 1 ME 57/22 | 2022-08-18T00:00:00 | 2022-08-20T10:00:44 | 2022-10-17T11:09:19 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 27. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 12.500 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin wendet sich mit der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, durch den ihr Antrag auf Aussetzung der Vollziehung einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung abgelehnt worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin ist Miteigentümerin des Grundstücks A-Straße (Gemarkung F., Flur G., Flurstück H.) auf dem Gebiet der Antragsgegnerin, das mit einem Wohnhaus bebaut ist. Die Beigeladene beabsichtigt die Errichtung eines 17 m langen, schmalen, zweigeschossigen Hauses mit einem flachen Satteldach auf dem westlich angrenzenden Nachbarflurstück I.. Die Außenwand des Gebäudes soll am nordöstlichen Ende in Richtung des Grundstücks der Antragstellerin auf einer Länge von 5,65 m soweit hervortreten, dass sie in diesem Bereich zur gemeinsamen Grundstücksgrenze einen Abstand von rund 2 m einhält.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Wegen Unterschreitung des Mindestabstands von 3 m hat die Antragstellerin Widerspruch gegen die am 10. September 2021 erteilte Baugenehmigung eingelegt und die Aussetzung der Vollziehung der Genehmigung beantragt. Nach Ablehnung des Aussetzungsantrags und Zurückweisung des Widerspruchs hat die Antragstellerin Klage erhoben und zugleich Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 27. April 2022 abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, das Bauvorhaben verstoße nicht gegen die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin dürfe der Abstand gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO in der hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung, auch durch die Außenwand des Gebäudes selbst unterschritten werden. Danach dürfe der Abstand um höchstens ein Drittel unterschritten werden, wenn die vortretenden Gebäudeteile insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand in Anspruch nehmen würden. Auf die seit dem 1. Januar 2022 geltende Gesetzesfassung, wonach erforderlich sei, dass die privilegierten Gebäudeteile, nicht aber das Gebäude selbst, vor die Außenwand träten, könne sich die Antragstellerin nicht berufen, weil die Rechtslage zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung zugrunde zu legen sei und nachträgliche Rechtsänderungen zu Ungunsten des Bauherrn nicht zu berücksichtigen seien. Darauf, dass der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung die Änderung als Klarstellung verstanden wissen will, komme es nicht an. Der Gesetzgeber habe der Änderung keine Rückwirkung beigemessen, die überdies auch verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen würde. Die Antragstellerin könne die Unzulässigkeit des Bauvorhabens auch nicht aus einem von ihr behaupteten Verstoß gegen Bauplanungsrecht herleiten. Gegenüber Vorhaben im Anwendungsbereich des § 34 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB könnten Vorgaben zum Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche nur im Rahmen des Rücksichtnahmegebots Nachbarschutz entfalten. Dieses Gebot sei bei einer Beeinträchtigung der Belichtung, Belüftung oder Besonnung aber regelmäßig nicht verletzt, wenn die bauordnungsrechtlichen erforderlichen Abstandsflächen eingehalten würden. Eine Ausnahmekonstellation, etwa eine erdrückende Wirkung, liege nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Gegen diesen Beschluss, der der Antragstellerin am 29. April 2022 zugestellt worden ist, richtet sich die Beschwerde vom 2. Mai 2022, eingegangen am gleichen Tag.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerde, auf deren fristgerecht vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin teilt zunächst die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass auf den vorliegenden Fall § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO in der bei Bescheidung des Bauantrags und bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) anzuwenden sei. Diese lautete:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„Der Abstand nach den Abs. 1 und 2 [0,5 H, mindestens jedoch 3 m] darf unterschritten werden von<br>[...]</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. Eingangsüberdachungen, Hauseingangstreppen, Balkonen, sonstigen Vorbauten und anderen vortretenden Gebäudeteilen, wenn die Gebäudeteile insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand in Anspruch nehmen, um nicht mehr als 1,50 m, höchstens jedoch um ein Drittel, und<br>[...].“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Durch das Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Bauordnung und des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetzes vom 10. November 2021 (GVBl. S. 732), in Kraft getreten am 1. Januar 2022, wurde § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO geändert und lautet jetzt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„Der Abstand nach den Abs. 1 und 2 [0,5 H, mindestens jedoch 3 m] darf unterschritten werden von<br>[...]</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. vor die Außenwand tretenden Gebäudeteilen, wie Eingangsüberdachungen, Hauseingangstreppen, Terrassenüberdachungen und Balkonen, sowie Dachgauben, wenn die Gebäudeteile insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand in Anspruch nehmen, um nicht mehr als 1,50 m, höchstens jedoch um ein Drittel, und<br>[...].“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Dies verbiete es jedoch nicht, die Auslegung der Norm in der hier anzuwendenden, früheren Fassung durch den Senat im Lichte der Gesetzesänderung und deren Begründung noch einmal zu hinterfragen. Eine nochmalige Überprüfung müsse zum Ergebnis führen, dass bereits § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO a.F. so zu interpretieren sei, die Änderung mit dem Gesetzgeber - wie sich aus der Begründung ergebe - lediglich als Klarstellung aufzufassen. Die frühere vom Senat vertretene Auffassung habe von Anfang an auf einem Missverständnis beruht. Der Begriff „Vortreten“ habe schon in der alten Gesetzesfassung nach einem Bezugspunkt verlangt. Dieser könne nur die Außenwand sein. Das Hervortreten der Außenwand selbst könne demnach kein Vorbau sein. Ein Erker könne nur dann ein aus der Gebäudewand vorspringender Vorbau sein, wenn er nicht auf den Erdboden reiche und somit nicht der Erweiterung des Raumes diene, sondern sich auf bestimmte Funktionen wie Ausblick, Belichtung und Fassadengestaltung beschränke. Im konkreten Fall werde aber durch den „Versprung“ der Außenwand Wohnfläche gewonnen, wozu die Privilegierung gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO a.F. nicht habe dienen sollen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Diese Argumentation gibt dem Senat keinen Anlass, seine Rechtsprechung zu § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO a.F. abzuändern, wonach an die Stelle des früher im Gesetz verwendeten Tatbestandsmerkmals des Unterordnens eine rein mathematische Betrachtung getreten ist, die gerade nicht auf die Funktion des durch die Grenzüberschreitung entstandenen Raums abstellt. In seinem Beschluss vom 4. Juni 2019 (- 1 ME 76/19 -, BauR 2019, 1434 = juris Rn. 9) hat der Senat zu dem auch hier angeführten Argument, der privilegierte Gebäudeteil müsse vor die Außenwand treten, bereits ausgeführt: „Der Versuch der Antragsteller, diese mathematische Betrachtung mit dem Argument zu korrigieren, der privilegierte Gebäudeteil müsse vor die Außenwand hervortreten, es könne nicht die Außenwand selbst hervortreten, verfängt nicht; er findet im Gesetz keinerlei Stütze. Vielmehr privilegierten § 7 Abs. 7 NBauO in der Fassung vom 23. Juli 1973 (GVBl. S. 259) und auch § 7b Abs. 1 Satz 2 NBauO in der Fassung vom 11. April 1986 (GVBl. S. 103) ausdrücklich auch Erker, die ebenfalls nicht vor der eigentlichen Außenwand des Gebäudes errichtet sein müssen, sondern deren Außenwand zugleich die Außenwand des Gebäudes darstellen kann. [...] Insbesondere ist unschädlich, dass der Vorbau nicht - ähnlich einer Loggia - gesonderten Raum schafft, sondern den Innenraum ‚nach außen‘ erweitert (vgl. Barth/Mühler, Abstandsvorschriften der Niedersächsischen Bauordnung, 4. Aufl. 2013, § 5 NBauO, Rn. 48).“ Hieran hält der Senat fest. Der von der Antragstellerin vermisste Bezugspunkt für die Drittel-Regelung war unter Geltung des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO a.F. der gesetzlich einzuhaltende Grenzabstand. Auf oder - von der Grenze aus betrachtet - hinter dieser Grenzabstandslinie mussten zwei Drittel der Außenwand verlaufen. Dass durch das übrige vor diese Grenzabstandslinie tretende Drittel keine Erweiterung des Innenraums bewirkt werden und etwa ein Erker deshalb nicht bis auf den Boden reichen durfte, lässt sich § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO a.F. nicht entnehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat auch zutreffend ausgeführt, dass die Gesetzesbegründung, wonach der bisherige Gesetzeswortlaut nur „klargestellt“ werde, keine bindende Wirkung entfaltet. Die in der Begründung des Gesetzesentwurfs in Anspruch genommene Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation ist für die rechtsprechende Gewalt nicht verbindlich. Sie schränkt die Kontrollrechte und -pflichten der Fachgerichte nicht ein. Zur verbindlichen Auslegung einer Norm ist letztlich allein die rechtsprechende Gewalt berufen, die gemäß Art. 92 GG den Richtern anvertraut ist. Dies gilt auch für die Frage, ob eine Norm konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hat. Der Gesetzgeber ist zwar befugt, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu handeln, zu der auch die aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grenzen für rückwirkende Rechtsetzung gehören, und dabei gegebenenfalls eine Rechtsprechung zu korrigieren, mit der er nicht einverstanden ist. Er kann diese Ausgangslage und die Prüfungskompetenz der Gerichte aber nicht durch die Behauptung unterlaufen, seine Norm habe klarstellenden Charakter (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvL 11/06 - BVerfGE 126, 369 = juris Rn. 73).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Darüber hinaus stützt die Antragstellerin ihren Antrag darauf, dass § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO a.F., wonach der Abstand von vor die Außenwand tretenden Gebäudeteilen unterschritten werden darf, wenn die Gebäudeteile insgesamt nicht mehr als ein Drittel „[...] der Breite der jeweiligen Außenwand [...]“ in Anspruch nehmen, hinsichtlich des Maßes dieser Breite nachbarschützend sei. Kraft des sich daraus ergebenden Drittschutzes könne die Antragstellerin verlangen, die Länge der Außenwand auf die höchstzulässige Länge zu beschränken. Zwar träfen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, dass die Regelungen zum Maß der baulichen Nutzung keine nachbarschützende Wirkung hätten, im Grundsatz zu. Allerdings sei die „Breite der jeweiligen Außenwand“ das maßgebliche Berechnungskriterium für das „Drittel“, auf dem sie, die Antragstellerin, eine Unterschreitung des - nachbarschützenden - Grenzabstands hinnehmen müsse. Würde man dem Nachbarn insofern Rechtsschutz versagen, müsste dieser im Extremfall, etwa bei einer willkürlich genehmigten 30 m langen Außenwand, auf einer Länge von 10 m eine Unterschreitung des Grenzabstands hinnehmen. Dies zugrunde gelegt könne sich die Antragstellerin gegen die laut Baugenehmigung zulässige Breite von 17 m zur Wehr setzen, weil sich ein Gebäude mit einer so langen Außenwand nicht in die Umgebung einfüge.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Dieser Argumentation tritt der Senat nicht bei. Würde man ihr folgen, würde man dem Nachbarn die Möglichkeit einräumen, mittelbar aus einem Verstoß gegen ihrerseits nicht drittschützenden Vorschriften zum Maß der baulichen Nutzung subjektive Abwehrrechte herzuleiten (vgl. dazu auch BVerwG, Urt. v, 28.10.1993 - 4 C 5.93 -, BauR 1994, 354 = BRS 55 Nr. 168 = NVwZ 1994, 686 = juris Rn. 19). In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass es einen von konkreten Beeinträchtigungen unabhängigen Anspruch auf Einhaltung eines aus der Umgebungsbebauung abgeleiteten Maßes der baulichen Nutzung, entsprechend dem hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung auch für nach § 34 Abs. 2 BauGB zu beurteilende Gebiete anerkannten Gebietserhaltungsanspruch, nicht gibt. Gerügt werden kann das fehlende Sich-Einfügen eines Vorhabens nach dem Maß der baulichen Nutzung vom Nachbarn mithin nur dann, wenn es sich gleichzeitig als Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme darstellt, namentlich, weil das Vorhaben eine erdrückende Wirkung ausübt oder Nachbargrundstücke unzumutbar verschattet (Senatsbeschl. v. 9.3.2020 - 1 ME 154/19 -, juris Rn. 8; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 19.10.1995 - 4 B 215.95 -, BauR 1996, 82 = BRS 57 Nr. 219 = juris Rn. 2 f.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Eine konkrete Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt nicht darin, dass der Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines 17 m langen Gebäudes erteilt worden ist, denn die Länge der Außenwand an sich beeinträchtigt die Antragstellerin nicht unzumutbar; dies macht sie auch mit der Beschwerde nicht geltend. Die geltend gemachte Beschwer der Antragstellerin resultiert vielmehr mittelbar daraus, dass sich die Länge der gemeinsamen Grundstücksgrenze, auf der die Beigeladene den gesetzlich vorgesehenen Grenzabstand unterschreiten darf, rechnerisch aus der genehmigten Länge der Außenwand ergibt. Diese Länge ist aber als Bestandteil des Maßes der zulässigen Bebauung ein Merkmal des Sich-Einfügens im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, dem für sich genommen kein Drittschutz zukommt. Das Bauordnungsrecht knüpft zwar in § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO an diese Länge an; vermittelt insoweit aber ebenfalls keinen Drittschutz, sondern verlangt zugunsten des Nachbarn lediglich, dass die tatbestandlichen Anforderungen der Norm eingehalten werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Anders, als es die Antragstellerin darstellt, ist sie deshalb aber nicht schutzlos einer Genehmigung einer übermäßigen Länge des Nachbarvorhabens ausgeliefert. Soweit damit unzumutbare Beeinträchtigungen verbunden sind, kann sie sich auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme berufen. Ist das nicht der Fall, bedarf sie nach dem System des baurechtlichen Nachbarschutzes keiner Rechtsschutzmöglichkeit; einen Anspruch auf rechtmäßige Verhältnisse auf dem Nachbargrundstück hat sie nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil sie sich durch Antragstellung einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
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346,744 | vg-koln-2022-08-17-26-k-185622 | {
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<p>Der Bescheid des Beklagten vom 02.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist anerkanntes Opfer von Gewalttaten. Mit Antrag vom 17.12.2020 beantragte sie bei dem Beklagten Eingliederungshilfe in Form von Leistungen zum ambulant betreuten Wohnen als persönliches Budget in Form von 21 Fachleistungsstunden und 148 Assistenzstunden pro Woche nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit § 27d Abs. 1 Nr. 3 BVG für die Zeit vom 01.01.2021 bis 01.01.2023. Zum Zeitpunkt der Antragstellung lebte die Klägerin in N. . Am 01.03.2021 zog sie nach C. .</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Anhörung vom 27.05.2021 wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass der grundsätzliche Bedarf an Unterstützung im Umfang von 8 Fachleistungsstunden pro Woche unzweifelhaft vorliege und von Seiten des Beklagten anerkannt werde. Allerdings könne der darüber hinaus angemeldete Bedarf einer 24-Stunden-Betreuung anhand der Aktenlage nicht nachvollzogen werden. Auch mit Schreiben vom 25.08.2021 und vom 10.09.2021 wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass eine Entscheidung über den Antrag nicht nach Aktenlage im Sinne der Klägerin getroffen werden könne. Um den tatsächlichen Hilfebedarf substantiiert einschätzen zu können, sei ein unabhängiger Fachdienst mit der Bedarfsermittlung zu beauftragen. Hierfür sei die Vorlage einer unterschriebenen „Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sowie datenschutzrechtliche Einwilligung“ der Klägerin erforderlich. Auf die Mitwirkungspflichten der Klägerin nach §§ 60 ff. SGB X [sic!] wurde in diesem Zusammenhang hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Im September 2021 erlangte der Beklagte Kenntnis vom Umzug der Klägerin nach C. .</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 07.10.2021 hörte der Beklagte die Klägerin zu einer geplanten Ablehnung des Antrags wegen mangelnder Mitwirkung an. Das Anhörungsschreiben enthielt den Hinweis, dass eine Bewilligung durch den Beklagten allenfalls noch für Januar und Februar 2021 in Frage komme, da mit dem Umzug der Klägerin nach C. ein Zuständigkeitswechsel auf den Landschaftsverband Westfalen-Lippe erfolgt sei. Der Beklagte forderte erneut unter Fristsetzung die unterschriebene „Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sowie datenschutzrechtliche Einwilligung“ an, ohne dass die Klägerin reagierte.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 02.12.2021 den Antrag wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I ab.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 08.12.2021 erfolgte die Abgabe des Verfahrens an den Landschaftsverband Westfalen-Lippe.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 10.01.2022 hat die Klägerin Klage beim VG Düsseldorf erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Durch Beschluss vom 23.03.2022 hat das VG Düsseldorf das Verfahren an das erkennende Gericht verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat keinen konkreten Antrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, der angefochtene Bescheid lehne den Antrag der Klägerin lediglich für die Monate Januar und Februar 2021 ab. Das ergebe eine Auslegung des Bescheides. Für eine Entscheidung über diesen Zeitraum sei der Beklagte auch örtlich zuständig gewesen, da die Klägerin erst zum 01.03.2021 nach C. verzogen sei. Hierdurch sei die örtliche Zuständigkeit des Beklagten für diese beiden Monate nicht rückwirkend entfallen. Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid eine Versagung für den gesamten Zeitraum ausgesprochen habe und nicht nur für die Monate Januar und Februar 2021, so sei der Versagungsbescheid insgesamt rechtmäßig. Zwar läge dann für die Zeit ab März 2021 aufgrund der fehlenden örtlichen Zuständigkeit des Beklagten ein Verfahrensmangel vor. Jedoch sei dieser Mangel nach § 42 S. 1 SGB X unbeachtlich, da aufgrund der fehlenden Mitwirkung der Klägerin keine andere Entscheidung und insbesondere keine Entscheidung in der Sache habe getroffen werden können, da die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen worden seien.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 02.12.2021 (§ 88 VwGO) begehrt, hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Sie ist zulässig. Insbesondere ist im Falle eines Versagungsbescheides wegen fehlender Mitwirkung die Anfechtungsklage statthafte Klageart, da eine Verwaltungsentscheidung über den Leistungsanspruch noch nicht getroffen worden ist. Die Ablehnung eines Leistungsantrags wegen fehlender Mitwirkung kann daher nur zur Überprüfung der Versagungsvoraussetzungen des § 66 SGB I führen, mangels einer Sachentscheidung der Behörde über das Leistungsbegehren nicht zu einer Prüfung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen durch das Gericht.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">BSG, Urt. v. 22.02.1995 – 4 RA 44/94, juris, Rn. 16; BSG, Urt. v. 17.02.2004 – B 1 KR 4/02 R, juris, Rn. 12; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 04.02.2014 – 16 K 5987/13, juris, Rn. 15; <em>Voelzke</em> in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. (Stand: 19.08.2021), § 66 Rn. 73,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das gilt unabhängig davon, ob die Ablehnung der beantragten Leistung im angefochtenen Bescheid auf Januar und Februar 2021 begrenzt ist oder nicht. Denn der Beklagte war aufgrund des Umzuges der Klägerin zum 01.03.2021 nach C. insgesamt nicht (mehr) für die Entscheidung zuständig. Gemäß § 3 Abs. 1 KOVVfG ist die Verwaltungsbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk der Antragsteller oder Berechtigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das hat zur Folge, dass sich die örtliche Zuständigkeit im laufenden Verfahren kraft Gesetzes ändert, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Verwaltungsbehörde verzieht. Dies gilt entgegen der Auffassung des Beklagten für die Entscheidung über den gesamten Bewilligungszeitraum und damit auch für die Entscheidung über die Leistungen für die Zeit vor dem Umzug – mithin für die Monate Januar und Februar 2021. Eine zeitliche Aufspaltung der örtlichen Zuständigkeit sieht § 3 Abs. 1 KOVVfG im Falle des Umzuges des Antragstellers nicht vor. Gegen eine solche Aufspaltung der Zuständigkeit spricht maßgeblich, dass sich dem im vorliegenden Fall anwendbaren § 2 Abs. 2 SGB X,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">vgl. BT-Drs. 14/5800, S. 36,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">entnehmen lässt, dass im Falle einer Änderung zuständigkeitsbegründender Umstände – wie hier dem Umzug der Klägerin – eine einheitliche Entscheidung einer Behörde zu treffen ist. Dies zeigt sich schon darin, dass § 2 Abs. 2 SGB X explizit die „bisher“ zuständige Behörde von der „nunmehr“ zuständigen Behörde unterscheidet. Dies zeigt sich aber auch darin, dass die Vorschrift es nur unter bestimmten Umständen und nur mit Zustimmung der „nunmehr zuständigen Behörde“ ermöglicht, dass die „bisher zuständige Behörde“ das Verwaltungsverfahren weiterhin fortführt. Im Umkehrschluss darf die alte Behörde das Verwaltungsverfahren nach einem Zuständigkeitswechsel ohne Zustimmung der nunmehr zuständigen Behörde nicht mehr fortführen. Für eine zeitliche Aufspaltung der Zuständigkeit für einzelne Abschnitte eines einheitlichen Bewilligungszeitraumes bleibt nach dieser Vorschrift kein Raum. Eine solche Aufspaltung der Zuständigkeit widerspräche auch dem ausdrücklich geäußerten Willen des Gesetzgebers. Im Gegensatz zur vorherigen Gesetzesfassung – nach der diejenige Behörde eine einheitliche Entscheidung über den Antrag zu treffen hatte, in deren Bezirk der Antragsteller im Zeitpunkt <span style="text-decoration:underline">der Antragstellung</span> seinen Wohnsitz hatte – sollte „im Interesse einer ortsnahen Bearbeitung“</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">BT-Drs. 14/5800, S. 36.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">nunmehr ausdrücklich diejenige Behörde örtlich zuständig sein, in deren Bezirk der Antragsteller im Zeitpunkt <span style="text-decoration:underline">der Behördenentscheidung</span> seinen Wohnsitz hat. Eine zeitliche Aufspaltung der örtlichen Zuständigkeit widerspräche klar diesem Ziel des Gesetzgebers, eine ortsnahe Entscheidung zu ermöglichen, da bei einer Aufspaltung der Zuständigkeit – zumindest über einen Teil des Antrages – weiterhin eine ortsferne Behörde entscheiden würde.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte wörtlich auf Rohr/Sträßer/Dahm, Kommentar zum Sozialen Entschädigungsrecht, § 3 KOVVfG, Rn. 5 Bezug nimmt, um seine gegenteilige Auffassung zu stützen, überzeugt dies nicht. Denn die zitierte Fundstelle enthält gerade nicht die Aussage, dass es trotz des Umzugs der Klägerin bei der örtlichen Zuständigkeit des Beklagten für den Zeitraum vor dem Umzug verbleibt, wenn es dort heißt:</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">„Eine Verlegung des Wohnsitzes/gewöhnlichen Aufenthalts in den Bezirk einer anderen Verwaltungsbehörde hat kraft Gesetzes mit dem Zeitpunkt dieser Änderung einen Zuständigkeitswechsel zur Folge. (…) Ohne Zustimmung der nun zuständigen Verwaltungsbehörde darf die bisher zuständige weder ein Verwaltungsverfahren fortsetzen noch sonstige Maßnahmen treffen. Erlässt die bisher zuständige Behörde (…) gleichwohl nach der Zuständigkeitsänderung noch Entscheidungen ohne Zustimmung der nun zuständigen Verwaltungsbehörde, sind diese Entscheidungen mit einem Verfahrensmangel behaftet. Dieser ist nach §§ 41, 42 SGB X unbeachtlich, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.“</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Demnach durfte der Beklagte – ohne eine hier nicht erteilte Zustimmung des nun zuständigen Landschaftsverbands Westfalen-Lippe – weder das Verwaltungsverfahren fortsetzen noch sonstige Maßnahmen treffen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die mangelnde örtliche Zuständigkeit ist vorliegend auch nicht nach § 42 Satz 1 SGB X unbeachtlich. Nach § 42 Satz 1 SGB X kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Die Anwendung dieser Norm ist bei gebundenen Entscheidungen unproblematisch. Der Beklagte hat jedoch mit seinem Bescheid vom 02.12.2021 ausdrücklich eine Ermessensentscheidung nach den §§ 60 ff. SGB I, hier konkret nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I, getroffen. Dabei war es nicht „offensichtlich“, d. h. alternativlos, dass der Landschaftsverband Westfalen-Lippe in identischer Weise von dem ihm zustehenden Ermessen Gebrauch gemacht hätte. So hat der Beklagte selbst im Laufe des Verwaltungsverfahrens zeitweise eine inhaltliche Entscheidung nach Aktenlage zumindest über einen Teil der beantragten Leistung durchaus erwogen und in einer ersten Anhörung gar formuliert: „Nach alldem ist der Bedarf an 8 FLS/Woche hinreichend begründet und kann ab dem 01.01.2021 anerkannt werden.“</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. mit § 708 Nr. 11, § 711 und § 709 Satz 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Eine Zulassung der Berufung gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO erfolgt nicht, weil die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO nicht vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">35</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
|
346,603 | vg-koln-2022-08-17-21-k-502021 | {
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"name": "Verwaltungsgericht Köln",
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} | 21 K 5020/21 | 2022-08-17T00:00:00 | 2022-09-17T10:01:47 | 2022-10-17T11:10:15 | Urteil | ECLI:DE:VGK:2022:0817.21K5020.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar, für die Beigeladene jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages. Die Klägerin darf die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>T a t b e s t a n d:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit von Genehmigungen von Entgelten für lizenzpflichtige Postdienstleistungen nach § 19 PostG im Rahmen von Price-Cap-Verfahren. Die Klägerin ist die Selbstverwaltungsorganisation der in Berlin zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Beigeladene ging am 1. Januar 1995 aus der früheren Behörde Deutsche Bundespost hervor und ist ein börsennotiertes Logistik- und Postunternehmen. Sie hält auf dem deutschen Markt für Briefdienstleistungen einen Umsatzanteil von mehr als 80 % und hat sich gegenüber der Beklagten verpflichtet, die Versorgung mit bestimmten grundlegenden Postdienstleistungen im gesamten Bundesgebiet sicherzustellen (Universaldienst).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Entgeltgenehmigungsbeschluss vom 4. Dezember 2015 (BK0-00/000) genehmigte die Beklagte vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Dezember 2018 u.a. Entgelte wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Standardbrief National 0,70 €</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Kompaktbrief National 0,85 €</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Großbrief National 1,45 €</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Maxibrief National 2,60 €</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Zusatzleistung Einschreiben National 2,50 €</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zusatzleistung Rückschein National 2,15 €</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Zusätzliche Leistungen Werbeantwort Standardbrief 0,70 €</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In der Rechtsbehelfsbelehrung wurde ausgeführt, dass gegen diesen Beschluss innerhalb eines Monats nach Zustellung Klage bei dem Verwaltungsgericht Köln erhoben werden könne. Die Entscheidung wurde der Beigeladenen und anderen im Verwaltungsverfahren Beteiligten zugestellt, nicht aber der Klägerin. Die Entgeltgenehmigung wurde am 13. Januar 2016 im Amtsblatt der Beklagten veröffentlicht. In der Folge nahm die Klägerin die Leistungen Standardbrief National, Kompaktbrief National, Großbrief National, Maxibrief National, Zusatzleistung Einschreiben National und Zusatzleistung Rückschein National in Höhe von ingesamt 82.292,85 € in Anspruch.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Mit einstweiliger Anordnung vom 31. Oktober 2018 beschloss die Beklagte, dass die mit dem Beschluss BK0-00/000 genehmigten Entgelte über den 31. Dezember 2018 hinaus bis zu einer neuen Genehmigung von Entgelten auf Grundlage eines Hauptsache-Beschlusses gelten sollten. Mit Entgeltgenehmigungsbeschluss vom 12. Dezember 2019 (BK0-00/000) genehmigte die Beklagte dann bis zum 31. Dezember 2021 in Ziffer 1. u.a. Entgelte wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Standardbrief National 0,80 €</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Kompaktbrief National 0,95 €</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Großbrief National 1,55 €</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Maxibrief National 2,70 €</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Zusatzleistung Einschreiben National 2,50 €</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zusatzleistung Rückschein National 2,20 €</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zusätzliche Leistungen Werbeantwort Standardbrief 0,80 €</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">In der Rechtsbehelfsbelehrung wurde auch hier ausgeführt, dass gegen diesen Beschluss innerhalb eines Monats nach Zustellung Klage bei dem Verwaltungsgericht Köln erhoben werden könne. Die Entscheidung wurde der Beigeladenen und den anderen im Verwaltungsverfahren Beteiligten zugestellt, nicht aber der Klägerin. Die Entscheidung wurde dann am 22. Januar 2020 im Amtsblatt der Beklagten veröffentlicht. In der Folge nahm die Klägerin die Leistungen Standardbrief National, Kompaktbrief National, Großbrief National, Maxibrief National, Zusatzleistung Einschreiben National und Zusatzleistung Rückschein National in Höhe von mindestens 90.264,61 € in Anspruch.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Am 29. September 2021 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, dass die Klage zulässig sei. Die Klägerin sei klagebefugt, da sie die angegriffenen Leistungen in Anspruch genommen habe. Dies gelte auch für die zusätzliche Leistung Werbeantwort Standardbrief. Dabei gehe es um die Wahlbriefe für die Kammerwahlen. Die Rückumschläge würden von den einzelnen Mitgliedern zur Rücksendung an die Klägerin bei der Beizuladenden eingeliefert, dafür entrichte jedoch die Klägerin das Porto („Porto zahlt Empfänger“). Das Porto für die eingelieferten Briefe stelle die Beigeladene der Klägerin bei Zustellung dieser Briefe in Rechnung. Diesbezüglich legte die Klägerin für das Jahr 2021 beispielhaft Quittungen vor. Insgesamt habe die Klägerin für beide Kammerwahlen jeweils mindestens 6.000 € an Porti bezahlt.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei nicht verfristet, da die Entgeltgenehmigungen der Klägerin nicht zugestellt worden seien. Eine öffentliche Bekanntgabe der Entgeltgenehmigungen nach § 41 Abs. 3 Satz 1 VwVfG i.V.m. § 22 Abs. 4 PostG sei nach der Rechtsprechung der Kammer zum Telekommunikationsrecht unzulässig; diese Rechtsprechung müsse auf das Postrecht übertragen werden, da die Regelungen im Post- und Telekommunikationsrecht vergleichbar seien. Auch eine öffentliche Bekanntgabe nach § 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG sei nicht erfolgt, da eine Entgeltgenehmigung keine Allgemeinverfügung sei und da es im Übrigen an einem Bekanntgabewillen fehle. Sollte das Gericht dennoch von einer wirksamen Bekanntgabe ausgehen, laufe zu Lasten der Klägerin gleichwohl weder die Monatsfrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO noch die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. VwGO. Denn die auf der Internetseite der Beklagten veröffentlichte Rechtsbehelfsbelehrung sei aus Sicht der Postkunden dahin zu verstehen, dass sie selbst keine Klage erheben könnten, da sie nicht am Verfahren beteiligt und ihnen der Beschluss nicht zugestellt worden sei. Diese Belehrung sei einer Belehrung gleichzustellen, dass kein Rechtsmittel bestehe.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin habe ihr Klagerecht auch nicht verwirkt. Die Verwirkung eines Klagerechts setze voraus, dass der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf habe vertrauen dürfen, dass dieser sein Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend mache (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete hierauf auch tatsächlich vertraut habe (Vertrauenstatbestand) und sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehe. Das Verhalten des Berechtigten müsse beim Verpflichteten nicht nur die Vorstellung begründet haben, dass das Recht nicht mehr geltend gemacht werde; der Verpflichtete müsse sich hierauf auch tatsächlich eingerichtet haben. Es sei daher ein Ursachenzusammenhang zwischen der verzögerten Geltendmachung des Rechts und den Dispositionen des Verpflichteten erforderlich. Durch bloßen Zeitablauf könne hingegen eine Verwirkung nicht eintreten.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für eine Verwirkung lägen nicht vor, wenn der Verpflichtete davon ausgehen müsse, dass der Berechtigte von den ihm zustehenden Ansprüchen nichts wisse. So liege es hier: Weder habe die Klägerin gewusst, dass das erhobene Porto auf Genehmigungen beruhe, noch habe sie ihr Anfechtungsrecht und die Rechtswidrigkeit der Genehmigung bis zur Aufklärung durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten gekannt; das habe der Beklagten und der Beigeladenen klar sein müssen. Dieser fehlenden Kenntnis stehe auch kein „Kennen-müssen“ der Klägerin gleich. Denn die Mitarbeiter der Klägerin seien nicht verpflichtet gewesen, diesbezüglich Erkundigungen einzuholen. Insbesondere bestehe zwischen den Kunden der Beigeladenen und dieser insoweit kein besonderes Treueverhältnis. Es gehe um ein Massengeschäft und jeder einzelne neue Beförderungsauftrag begründe ein neues Vertragsverhältnis, das mit Zahlung des Portos und Beförderung des Briefs abgeschlossen sei. Erst im Jahr 2015 sei eine Klagebefugnis der Endkunden durch das Bundesverwaltungsgericht anerkannt worden, eine breitere Aufmerksamkeit in Presse und Rundfunk habe das Urteil aber nicht gefunden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin habe für die Beigeladene auch keine Vertrauensgrundlage dadurch geschaffen, dass sie die Porti bezahlt habe. Insbesondere sei unerheblich, dass die Beigeladene ihre Leistungen bereits erbracht habe. Denn die Klägerin sei auf die Leistungen der Beigeladenen angewiesen gewesen. Auch liege ein Vertrauenstatbestand bei der Beklagten nicht vor. Die Beklagte habe ein Verfahren zur Rücknahme der Entgeltgenehmigung 2019 eingeleitet und der Presse darüber Auskunft gegeben, dieses Verfahren sei dann aber still und heimlich eingestellt worden. Es wäre vielmehr objektiv geboten gewesen, dass die Überprüfung der Genehmigung 2019 zu einer Neufestsetzung der Porti führe, die einen Ausgleich dafür schaffe, dass die Postkunden in der vorangegangenen Entgeltgenehmigung überhöhte Porti bezahlt hätten. Auch bei der Beigeladenen liege ein Vertrauenstatbestand nicht vor. Denn nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2020 - 6 C 1.19 - habe die Beigeladene nicht darauf vertrauen können, dass es keine weiteren Klagen gegen die Entgeltgenehmigungen geben werde. Schließlich gebe es keinen Ursachenzusammenhang zwischen einer etwa von der Klägerin geschaffenen Vertrauensgrundlage und einer Betätigung des Vertrauens durch die Beigeladene (wie dies etwa im Baurecht regelmäßig der Fall sei). Denn die Beigeladene habe sich infolge des Verhaltens der Klägerin nicht darauf eingerichtet, dass die Klägerin die erteilten Entgeltgenehmigungen nicht mehr anfechten werde.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Auch sei das Verhalten der Klägerin nicht illoyal gewesen. Zum einen sei eine Klageerhebung gegen Porti in den Jahren 2016 bis 2019 völlig unüblich gewesen; nur ein Verband habe jeweils Klagen erhoben. Zum anderen sei auch das Zuwarten in den Jahren 2020 und 2021 nachvollziehbar gewesen, da es im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes Bestrebungen gegeben habe, die Entgeltgenehmigungen im Hinblick auf die Monita des Bundesverwaltungsgerichtes neu zu ordnen. Schließlich sei eine Rückabwicklung der gezahlten Porti der Beigeladenen auch zumutbar. Angesichts des Gesamtumsatzes der Beigeladenen für die streitgegenständlichen Leistungen sei das, was die Klägerin zurückverlangen könne, marginal. Eine andere Beurteilung sei auch nicht deshalb geboten, weil weitere Postkunden die Entgeltgenehmigung anfechten und Ansprüche auf Rückerstattung des überzahlten Portos geltend machen könnten. Ein großer Teil der Verbraucher und der kleinen Unternehmen werde keine Klage erheben, weil sich diese Postkunden ihres Klagerechts nicht bewusst seien oder weil sich eine Klage für sie nicht lohne. Die Großkunden der Beigeladenen nähmen überwiegend andere, nicht der Entgeltgenehmigung unterliegende Produkte der Beigeladenen in Anspruch (insbesondere Teilleistungen). Daher werde die Beigeladene die Gewinne, die ihr durch die rechtswidrige Bemessung des Gewinnzuschlags zugeflossen seien, ohnehin zu einem großen Teil behalten können.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Diese fehlende Unzumutbarkeit der Rückabwicklung werde auch durch die Regelungen in den Kommunalabgabengesetzen der Länder bestätigt. Diese schrieben überwiegend vor, dass Kostenüberdeckungen, die in einem Kalkulationszeitraum entstanden seien, im nächsten Kalkulationszeitraum auszugleichen seien. Insoweit seien nicht nur Kostenüberdeckungen, die auf einer Abweichung des Ist-Ergebnisses vom Soll-Ergebnis beruhten auszugleichen, sondern auch solche, die auf fehlerhaften Gebührenkalkulationen beruhten. Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeute dies, dass bei Rückforderungen von Überzahlungen im vorangegangen Genehmigungszeitraum während des laufenden Genehmigungszeitraums von einer Unzumutbarkeit für die Beigeladene keine Rede sein könne. Im Kommunalabgabenrecht sei die Überzahlung gegenüber allen Nutzern auszugleichen. Daher wäre ein Ausgleich der Überzahlung gegenüber allen Postnutzern auch der Beigeladenen zumutbar. Übertrage die Beklagte nicht ausgenutzte Preiserhöhungsspielräume auf nachfolgende Entgeltperioden, so sei sie als verpflichtet anzusehen, Überschreitungen des Preiserhöhungsspielraums in vorangegangenen Perioden in nachfolgenden Perioden zugunsten der Postkunden auszugleichen. Vorliegend hätten aber die genehmigten Entgelte 2016 und 2019 den Preiserhöhungsspielraum überschritten, der sich bei einer rechtmäßigen Bemessung des Gewinnzuschlags ergeben hätte. Die Beigeladene habe daher damit rechnen müssen, dass sie die überhöhten Porti nicht behalten dürfe.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Schließlich sei zu berücksichtigen, dass die Annahme einer Verwirkung (binnen Jahresfrist) auch mit dem unionsrechtlichen Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz unvereinbar wäre, der hier nach Art. 22 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (Postrichtlinie) Geltung beanspruche. Danach sei das Verhalten der Postkunden nicht treuwidrig, wenn sie von der Erhebung einer Klage absähen, solange nicht geklärt sei, dass die genehmigten Entgelte rechtswidrig seien. Die große Mehrheit der Postkunden sei darauf angewiesen, dass die Klärung durch einen Kläger herbeigeführt werde, der über den Willen und die Ressourcen für einen Anfechtungsprozess verfüge und diesen durch die Instanzen führe. Dementsprechend sei im Rahmen des unionsrechtlichen Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatzes im Kartell- und Verbraucherschutzrecht anerkannt, dass im Rahmen der Prüfung einer Verjährung zu berücksichtigen sei, ob Kenntnis darüber bestehe, dass das beanstandete Verhalten rechtswidrig gewesen sei oder nicht. Diese kartellrechtlichen Grundsätze seien hier zur Anwendung zu bringen, da die Vorschriften nach §§ 20 ff. PostG einem mit dem Kartellrecht vergleichbaren Schutz der Postkunden dienten; die Postkunden seien - mit nur wenigen Ausnahmen - nicht in der Lage, die Rechtswidrigkeit einer Entgeltgenehmigung für die Porti der Beigeladenen selbst zu beurteilen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">den Beschluss der Beklagten vom 4. Dezember 2015 (Az.: BK0-00/000) in der Fassung des Beschlusses der Beklagten vom 31. Oktober 2018 (Az.: BK0-00/00) im Verhältnis zwischen den Beteiligten insoweit aufzuheben, als die Beklagte darin die Entgelte für Standard-, Kompakt-, Groß- und Maxibriefe sowie für die Zusatzleistungen Einschreiben und Rückschein und die zusätzliche Leistung Werbeantwort Standardbrief (jeweils national) genehmigt hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">und</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">den Beschluss der Beklagten vom 12. Dezember 2019 (Az.: BK0-00/000) im Verhältnis zwischen den Beteiligten insoweit aufzuheben, als die Beklagte darin die Entgelte für Standard-, Kompakt-, Groß- und Maxibriefe sowie für die Zusatzleistungen Einschreiben und Rückschein und die zusätzliche Leistung Werbeantwort Standardbrief (jeweils national) genehmigt hat.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei unzulässig, da verfristet (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts werde derjenige, der sichere Kenntnis von der Erteilung einer Genehmigung habe oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erlangen müssen, so behandelt, als wäre ihm die Genehmigung im Zeitpunkt der Kenntniserlangung bekanntgegeben worden (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -, juris). Hier habe aber die Klägerin spätestens bei der Inanspruchnahme der Beförderungsleistungen von den Entgeltgenehmigungen erfahren. Auch habe eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die regelmäßig Postdienstleistungen ausschreibe, einen direkten Zugang zu Informationen und ein gesteigertes Interesse an den rechtlichen Vorgaben im Postsektor. Zumindest müsse aber insoweit die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. VwGO gelten. Schließlich bleibe offen, warum gegen die Entgeltgenehmigungen auch nach Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Mai 2020 nicht Rechtsmittel eingelegt worden seien.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Auch sei das Recht zur Klageerhebung verwirkt gewesen. Die Klägerin habe sich mit der Klage gegen die Entgeltgenehmigungen fast sechs Jahre Zeit gelassen. Eine Klageerhebung mit einer derartigen zeitlichen Verzögerung sei als missbräuchliche Rechtsausübung zu sehen, da die Beklagte zu einem so späten Zeitpunkt nicht mehr mit einer Klageerhebung habe rechnen müssen. Somit sei auch das Umstandsmoment erfüllt. Die betroffene Behörde rechne nicht mehr mit einer Klageerhebung gegen die von ihr getroffene Entscheidung, wenn ein Berechtigter unter Verhältnissen ihr gegenüber untätig bleibe, unter denen jedermann vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen hätte. Bei der Bewertung des noch tolerablen Zeitraums dürfe nicht schematisch auf einen bestimmten Zeitablauf abgestellt werden, sondern es sei von den näheren Umständen des Einzelfalls auszugehen. Denn von der Verwirkung des Rechtsschutzinteresses könne auch dann ausgegangen werden, wenn zwar das Umstandsmoment in den Hintergrund trete, aber der Kläger eine derart lange Zeit abgewart habe, dass mit einem Tätigwerden schlechthin nicht mehr zu rechnen gewesen sei. Auch ein Abwarten der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 6 C 1.19 und der Veröffentlichung der Entscheidungsgründe lasse nicht auf eine Erweiterung des tolerablen Zeitrahmens schließen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei bereits am 27. Mai 2020 ergangen und sei vom Bundesverwaltungsgericht in dessen Pressemitteilung vom 28. Mai 2020 kommuniziert worden. Bis zur Klageerhebung habe die Klägerin nochmals rund ein Jahr verstreichen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die von der Klägerin vorgetragenen Erwägungen zu einem Schadensausgleich - wie im Kommunalabgabenrecht - seien weder gesetzlich vorgesehen, noch praktisch vollziehbar. Wie ein solcher Ausgleich konkret erfolgen solle, führe die Klägerin nicht aus. Eine genaue Berechnung, welche Schäden den einzelnen Postkunden infolge einer vermeintlich unrechtmäßigen Portoerhöhung im Einzelnen entstanden seien, lasse sich aufgrund der Methodik der Price-Cap-Regulierung, die von einer Preisänderungsrate für einen Korb von Dienstleistungen ausgehe, schwerlich errechnen. Einen pauschalen Ausgleich in der folgenden Entgeltperiode zu schaffen, sei nach jetzigem Entgeltregulierungsregime nicht vorgesehen; eine von der Klägerin vorgetragene Pflicht der Beklagten, Überschreitungen des Preiserhöhungsspielraums in vorangegangenen Perioden in den nachfolgenden Perioden zugunsten der Postkunden auszugleichen, bestehe nicht. Fraglich sei zudem, ob der von der Klägerin vorgetragene Lösungsvorschlag überhaupt ihren Interessen diene. Die Klägerin fordere letztlich eine im Postgesetz - im Gegensatz zum GWB - nicht vorgesehene Vorteilsabschöpfung in einer nachfolgenden Price-Cap-Periode. Dies könne ihrem Interesse, eine eigene Kompensation für (angeblich) zu viel gezahlte Entgelte zu erhalten, nicht zum Erfolg verhelfen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Beigeladene beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Soweit es um die Leistung „Werbeantwort Standardbrief“ gehe, sei die Klage mangels Klagebefugnis unzulässig. Es sei nicht ersichtlich, dass die Klägerin diese Leistung in Anspruch genommen habe. Die Klage sei auch insgesamt unzulässig, da verfristet. Die Verfristung ergebe sich daraus, dass die Klägerin hier die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. VwGO nicht eingehalten habe. Eine Anwendung dieser Jahresfrist scheitere nicht daran, dass keine wirksame Bekanntgabe vorliege. Die Rechtsprechung der Kammer zum Telekommunikationsrecht könne im Hinblick auf § 41 Abs. 3 Satz 1 VwVfG nicht auf das Postrecht übertragen werden. Denn die Beigeladene als reguliertes Unternehmen befördere werktäglich im Schnitt fast 50 Mio. Briefsendungen und schließe damit werktäglich also fast 50 Mio. Beförderungsverträge ab. Daher sei der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgegangen, dass mit der gesetzlich vorgeschriebenen Veröffentlichung der erteilten Entgeltgenehmigungen im Amtsblatt (§ 22 Abs. 4 PostG) den Publizitätsvorschriften für den Beginn der Rechtsmittelfristen genüge getan worden sei. Jedenfalls seien die Entgeltgenehmigungen nach dem Postrecht Allgemeinverfügungen nach § 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG, welche öffentlich bekannt gegeben werden dürften. Aber selbst wenn man der Auffassung sei, dass die Veröffentlichungen im Amtsblatt mangels ausdrücklicher gesetzlicher Zulassung keine Form der öffentlichen Bekanntgabe darstellten, sei die Gesetzeslücke über den Rechtsgedanken des § 58 Abs. 2 Satz 1 1 Alt. VwGO zu schließen. Dies ergebe sich daraus, dass jedem Kunden mit Inanspruchnahme der von der Beigeladenen erbrachten Beförderungsleistung der Regelungsgehalt der aktuell gültigen Entgeltgenehmigung umfassend verdeutlicht werde. Nicht überzeugen könne schließlich die Argumentation der Klägerin, wonach die Jahresfrist deswegen nicht zu laufen begonnen habe, weil die Gegenausnahme in § 58 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. VwGO einschlägig sei. Insbesondere habe hier die Rechtsbehelfsbelehrung nicht den Hinweis enthalten, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Auch habe die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt, da sie über 6 Jahre zugewartet habe, bevor sie Klage erhoben habe. Diese Verwirkung stehe damit im Zusammenhang, dass zwischen den Endkunden der Beigeladenen und dieser ein besonderes Treueverhältnis bestehe, weil es in den - massenhaften - Vertragsverhältnissen in aller Regel nicht zu einem direkten Kontakt zwischen der Beigeladenen und ihren Kunden komme. Vielmehr würden die Verträge faktisch abgeschlossen, und zwar durch Einwurf in den Briefkasten der Beigeladenen. Die Beigeladene sei bei diesem Befund darauf angewiesen, dass die Kunden ihre Bedenken gegenüber den genehmigten Entgelten alsbald nach erstmaliger Inanspruchnahme der Beförderungsleistungen gegenüber der Beigeladenen, zumindest gegenüber der Beklagten, äußerten. Im besonderen Fall der Klägerin komme hinzu, dass sie erhebliche Sendungsmengen bei der Beigeladenen eingeliefert habe. Es komme daher nicht nur zu einer intensiveren Vertragsbeziehung, sondern zu einer dem Baunachbarverhältnis vergleichbaren Konstellation.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Auch sei der Klägerin eine frühere Klageerhebung zumutbar gewesen. So seien seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. August 2015 - 6 C 8.14 - die Klagemöglichkeit von Endkunden bekannt gewesen. Auf die Schaffung einer Vertrauensgrundlage durch die Klägerin und deren Inanspruchnahme durch die Beigeladene könne es hier nicht ankommen. Es liege auf der Hand, dass aufgrund der schieren Masse von Vertragsabschlüssen durch die Beigeladene bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Verwirkung vorlägen, nicht darauf abgestellt werden könne, wie das Verhalten des einzelnen Postkunden aus Sicht der Beigeladenen zu beurteilen sei. In den allermeisten Fällen, nämlich immer dann, wenn es zum faktischen Vertragsabschluss komme, kenne die Beigeladene die Kunden gar nicht. Sie könne über die Kundenverhältnisse, die durch faktischen Vertragsschluss zustande kommen, auch aus rein tatsächlichen Gründen keine Vertragsdokumentation führen. Vielmehr sei grundsätzlich darauf abzustellen, dass die Porti entrichtet worden seien. Schließlich sei es der Beigeladenen auch nicht zumutbar, der Klägerin das Porto zu erstatten. So favorisiere die Klägerin eine Auslegung des Verwirkungstatbestands, der im Ergebnis einer nahezu unbegrenzten Zahl von Anfechtungen den Weg zu den Verwaltungsgerichten öffne. Der Hinweis der Klägerin, ob und wenn ja mit wie vielen weiteren Anfechtungen zu rechnen sei, sei reine Spekulation. Folge man dem Ansatz der Klägerin, wären auch Anfechtungsklagen aus den ersten Regulierungsperioden, also Rückerstattungsansprüche aus den Jahren 2003 und den Folgejahren, nicht verwirkt. Es liege auf der Hand, dass bei einer Ausweitung der Klagemöglichkeiten auf sämtliche in der Vergangenheit liegende Zeiträume fraglos von einer Unzumutbarkeit auf Seiten der Beigeladenen auszugehen sei. Die Vertragsverhältnisse seien jahrelang, zum Teil Jahrzehnte lang, abgewickelt worden und es gebe keinerlei Unterlagen über die bei dieser Betrachtung Milliarden Beförderungsfälle.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Schließlich und endlich seien im Rahmen der Prüfung der Verwirkungsvoraussetzungen auch öffentliche Interessen in den Blick zu nehmen. Zu diesen öffentlichen Interessen gehöre auch das öffentliche Interesse am Rechtsfrieden. Dieses Interesse habe im postalischen Sektor aufgrund der täglich millionenfach abgeschlossenen Beförderungsverträge besonderes Gewicht. Ein Konflikt mit dem unionsrechtlichen Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz bestehe nicht, da nicht erkennbar sei, dass eine postrechtliche Entgeltgenehmigung aus unionsrechtlichen Gründen noch nach über sechs Jahren und zu einem Zeitpunkt anfechtbar sein müsse, zu dem bereits die folgende Regulierungsperiode abgelaufen sei. Der Vergleich der Klägerin mit einer Abschöpfung im Kartellrecht gehe fehl, da es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Postrecht eine Abschöpfung wie im Kartellrecht nicht gebe. Die Rechtsprechung Manfredi, auf die sich die Klägerin beziehe, nehme nur kartellrechtliche Schadensersatzansprüche in den Blick. Dies bedeute einen qualitativen Unterschied zu dem hier in Rede stehenden Anfechtungsrecht nach den nationalen, verwaltungsgerichtlichen Bestimmungen. Denn die kartellrechtlichen Schadensersatzansprüche knüpften an das primärrechtlich verankerte Kartell- bzw. Missbrauchsverbot in Art. 101, 102 AEUV an, das keiner Umsetzung mehr bedürfe. Vorliegend stünden aber keine primärrechtlich eingeräumten Rechtspositionen der Postkunden in Rede. Vielmehr formuliere das einschlägige Sekundärrecht in Art. 22 Abs. 3 Satz 1 der Postrichtlinie nur den Auftrag an die Mitgliedstaaten, wirksame Verfahren vorzusehen, nach denen jeder Nutzer oder Postdiensteanbieter, der von einer Entscheidung einer nationalen Regulierungsbehörde betroffen sei, bei einer von den beteiligten Parteien unabhängigen Beschwerdestelle Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegen könne. Der Unionsgesetzgeber habe demnach im Postrecht gerade nicht wie im Kartellrecht Rechte der Nutzer und Postdiensteanbieter im Primärrecht geschaffen. Auch sonst scheide eine Übernahme der diesbezüglichen kartellrechtlichen Grundsätze aus, zumal sich diese auf Verjährungsfristen bezögen, während es hier um Klagefristen gehe. Verjährungs- und Klagefristen hätten qualitativ unterschiedliche Zielsetzungen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der Verweis der Klägerin auf die Rechtslage im Kommunalabgabenrecht sei abwegig. Dort gehe es um fiskalische Prinzipien und nicht um die betriebswirtschaftliche Planung eines privaten Unternehmens. Die mehrjährige Planung und Geschäftsperspektive sowie die Verantwortung vor den Aktionären, die prägend für das wettbewerbliche Umfeld seien, in dem die Beigeladene tätig sei, spiele im Kommunalabgabenrecht überhaupt keine Rolle. Hinzu komme, dass im Kommunalabgabenrecht die zwingende Gestaltung privatrechtlicher Verträge durch staatliche Genehmigungsakte (vgl. für das Postrecht § 23 PostG) nicht auf dem Gebührengläubiger laste.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Bundesnetzagentur Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat keinen Erfolg, da sie unzulässig ist. Zwar steht der Zulässigkeit der Klage keine fehlende Klagebefugnis (1.) und keine Fristversäumung (2.) entgegen. Jedoch hat die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt (3.).</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">1. Die Klägerin ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). Dritte sind nach § 42 Abs. 2 VwGO berechtigt, die Genehmigung des Entgelts für eine bestimmte Postdienstleistung gerichtlich anzugreifen, wenn sie diese Dienstleistung während der Geltungsdauer der Genehmigung in Anspruch genommen haben. Unter dieser Voraussetzung greift die Entgeltgenehmigung in das einfach-rechtlich gewährleistete Recht auch der Klägerin ein, frei mit jedermann Verträge abschließen zu können (vgl. § 311 BGB). Dieses Recht wird durch die rechtsgestaltende Wirkung der Entgeltgenehmigung nach § 23 Abs. 1 und 2 Satz 1 PostG beeinträchtigt, weil weder das regulierte Unternehmen noch seine Kunden Einfluss auf die Höhe des Entgelts nehmen können.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2020 - 6 C 1.19 -, juris Rn. 21 f. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Danach kann die Klägerin die genannten Entgeltgenehmigungen für die Leistungen Standard-, Kompakt-, Groß- und Maxibrief sowie für die Zusatzleistungen Einschreiben und Rückschein (jeweils national) angreifen, da sie diese Leistung in den beiden Entgeltgenehmigungsperioden unstreitig in Anspruch genommen hat. Entsprechendes gilt für die Inanspruchnahme der zusätzlichen Leistung „Werbeantwort Standardbrief“. Zwar hat die Beigeladene insoweit eine Inanspruchnahme dieser Leistung durch die Klägerin bestritten. Die Klägerin ist dem jedoch entgegen getreten und hat für das Jahr 2021 unter Vorlage von Quittungen substantiiert belegt, dass sie diese Leistung für Wahlbriefe für die Kammerwahlen in Anspruch genommen habe (Bl. 348 ff. GA). Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass diese Leistung auch für die vorangegangene Entgeltgenehmigungsperiode in Anspruch genommen wurde, da auch in dieser nach den nachvollziehbaren Angaben der Klägerin Kammerwahlen durchgeführt wurden.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">2. Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, dass die Klägerin die Klagefrist versäumt hat. Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage zwar innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden. Der Lauf dieser Frist setzt jedoch eine ordnungsgemäße Bekanntgabe voraus, die hier nicht vorlag. Unstreitig wurden die Beschlüsse vom 4. Dezember 2015 und vom 12. Dezember 2019 der Klägerin gegenüber nicht nach § 44 Satz 2 PostG i.V.m. § 79 Abs. 1 Satz 2 TKG 1996 bekannt gegeben. Eine Bekanntgabe erfolgte der Klägerin gegenüber auch nicht nach § 41 Abs. 3 Satz 1 VwVfG i.V.m. § 22 Abs. 4 PostG. Denn § 22 Abs. 4 PostG stellt keine Rechtsvorschrift dar, mit der ein Verwaltungsakt öffentlich bekannt gegeben werden darf. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 22 Abs. 4 PostG. Dort wird von einer Veröffentlichung genehmigter Entgelte gesprochen. Weder ist dort die Rede von einer Bekanntgabe, vor allem aber spricht die Vorschrift von der Veröffentlichung <span style="text-decoration:underline">genehmigter</span> Entgelte; Entgelte werden aber erst <span style="text-decoration:underline">durch</span> Bekanntgabe genehmigt. Dies wird durch systematische Überlegungen bestätigt. Eine Bekanntgaberegelung ist allein in § 44 Satz 2 PostG i.V.m. § 79 Abs. 1 Satz 2 TKG 1996 enthalten. Insoweit kann § 22 Abs. 4 PostG auch nicht als spezielle Regelung allein für das Postrecht verstanden werden, da auch § 28 Abs. 4 TKG 1996 - neben den Vorschriften für eine Bekanntgabe - eine Veröffentlichung von Entgelten nach dem TKG im Amtsblatt der Regulierungsbehörde vorsah. Das Gesagte wird endlich durch den Sinn und Zweck des § 22 Abs. 4 PostG bestätigt. Die Vorschrift zielt nicht auf die Kunden der Beigeladenen sondern auf ihre Wettbewerber. Es soll zur Information der Marktteilnehmer und damit zum Schutz des Wettbewerbs erreicht werden, dass die genehmigte Postdienstleistung anhand der bei Antragstellung vorzulegenden Leistungsbeschreibung auch inhaltlich konkretisiert werden kann. Nur so sind betroffene Marktteilnehmer in der Lage zu beurteilen, ob es für die konkrete, vom marktbeherrschenden Unternehmen angebotene Leistung bereits ein genehmigtes Entgelt gibt und wie hoch dieses ist.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu Lübbing, in: Beck´scher PostG Kommentar, 2. Aufl. 2004, § 22 Rn. 84. Vgl. zu alldem aus dem TKG auch VG Köln, Urteil vom 1. August 2007 - 21 K 4013/06 -, juris Rn. 28 ff.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auch erfolgte hier eine wirksame Bekanntgabe nicht nach § 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG i.V.m. den Veröffentlichungen im Amtsblatt der Regulierungsbehörde. Nach dieser Vorschrift darf eine Allgemeinverfügung auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist. Dabei kann dahinstehen, ob postrechtliche Entgeltgenehmigungen Allgemeinverfügungen darstellen und ob ein Amtsblatt einer Bundesbehörde als „ortsübliches Bekanntmachungsorgan“ im Sinne von § 41 Abs. 4 VwVfG angesehen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Für die Einstufung einer telekommunikationsrechtlichen Entgeltgenehmigung als Allgemeinverfügung: Neumann, jurisPR-BVerwG 6/2014 Anm. 6.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls ist Voraussetzung jeglicher Bekanntgabe - auch der Bekanntgabe nach § 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG -, dass ein diesbezüglicher Bekanngabewillen - hier also ein Willen zur öffentlichen Bekanntgabe - vorlag.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 53 und Baer, in: Schoch/Schneider, VwVfG, Stand August 2021, § 41 Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Bekanntgabewille bestand hier ersichtlich allerdings nur gegenüber den jeweils am Verfahren Beteiligten, nicht aber gegenüber der Allgemeinheit und der Klägerin. Hinsichtlich der Veröffentlichungen im Bundesanzeiger wurde jeweils nur verfügt: „Bitte Veröffentlichung des anliegenden Manuskriptes im nächsten Amtsblatt veranlassen“ (vgl. zu alldem Bl. 775 ff., 834 ff BA II im Verfahren VG Köln 21 K 5020/21 und Bl. 1050 ff., 1061 ff. BA III zum Verfahren VG Köln 21 K 273/20). Dass damit - in Übereinstimmung mit den vorherigen Bekanntgaben an die im Verwaltungsverfahren Beteiligten - weitere Bekanntgaben einer Allgemeinverfügung erfolgen sollten, ist nicht ersichtlich. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass § 22 Abs. 4 PostG - den die Beklagte offensichtlich angewendet hat - eben keine Bekanntgabevorschrift darstellt und dass die gewählten Rechtsmittelbelehrungen - Klagefrist von einem Monat nach <em>Zustellung</em> - ersichtlich nicht auf die Bekanntgabe einer Allgemeinverfügung zugeschnitten sind.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Schließlich und endlich erfolgte eine Bekanntgabe hier nicht nach § 8 VwZG durch tatsächliche Kenntnisnahme von den Entgeltgenehmigungen (wann auch immer diese erfolgt sein mag). Zwar ist § 8 VwZG entsprechend auch auf Bekanntgabemängel anwendbar. Jedoch erfordert eine Heilung nach dieser Vorschrift auch, dass ein Bekanntgabewille vorlag. Daran fehlt es hier jedoch.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Zu den Voraussetzungen des § 8 VwZG vgl. z.B. U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 232, 237; Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG VwZG, 12. Auflage 2021, § 8 Rn. 1 f.; L. Ronellenfitsch, in: BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 56. Edition Stand: 1. Oktober 2019, § 8 VwZG Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">3. Die Klägerin hat ihr Klagerecht jedoch verwirkt. Es ist unstreitig, dass Klagerechte verwirkt werden können. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der auch im öffentlichen Recht Anwendung findet.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 - 2 BvR 255/67 -, juris Rn. 18; BVerwG. Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 18 sowie Beschlüsse vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 -, juris Rn. 9 und vom 8. September 2020 - 1 B 31.20 -, juris Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Eine Verwirkung von Klagerechten setzt voraus, dass das Klagerecht nicht mehr ausgeübt werden kann, weil seit der Möglichkeit der Klagerhebung eine längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Klagerhebung unter Berücksichtigung des beim Verpflichteten - oder bei einem Dritten - daraus erwachsenen Vertrauens als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist dann der Fall, wenn seit der Möglichkeit der Klageerhebung längere Zeit verstrichen ist (sog. Zeitmoment) und der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (sog. Umstandsmoment). Erst dadurch wird eine Situation geschaffen, auf die ein Beteiligter vertrauen, sich einstellen und einrichten darf (sog. Vertrauensmoment).</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 - 2 BvR 255/67 -, juris Rn. 18; BVerwG, Urteile vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 19 ff. und vom 16. Mai 1991 - 4 C.89 -, juris Rn. 22 ff. sowie Beschluss vom 18. Juli 2019 - 6 B 18.19 -, juris Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Eine „Möglichkeit zur Klageerhebung“ in dem genannten Sinne ist bei einer Anfechtungsklage dann gegeben, wenn der Kläger den in Rede stehenden Verwaltungsakt kannte oder kennen musste. Ein „Kennen-müssen“ liegt vor, wenn sich dem Kläger das Vorliegen eines Verwaltungsaktes aufdrängen musste und es ihm möglich und zumutbar war, sich über die Existenz und den Inhalt des Verwaltungsaktes - etwa durch einfache Nachfrage - Gewissheit zu verschaffen; dabei <em>können</em> sich Erkundigungsobliegenheiten aus einem Treueverhältnis ergeben. Im Baurecht ist beispielsweise anerkannt, dass sich grundsätzlich ein solches „Kennen-müssen“ aus dem äußerlichen Baubeginn ergibt. Dem entspricht es, wenn im Beamtenrecht auf die Kenntnis von der tatsächlichen Beförderung von Mitbewerbern abgestellt wird.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Z.B. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 -, juris Rn. 9 ff. und Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 24 ff. jeweils m.w.N. Eine Modifikation hinsichtlich einer Berücksichtigung auch des „Kennen-müssens“ folgt nicht aus dem Beschluss des BVerwG vom 15. Januar 2020 - 2 B 38.19 -, juris Rn. 12. Soweit dort nur von einem „Kennen“ die Rede ist, geht es um die Frage, ob der Kläger davon wusste, dass ihm zustehende Rechte möglicherweise tangiert wurden.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Dagegen ist hingegen grundsätzlich unerheblich, ob der Betroffene weiß, dass der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist (oder nicht). Denn die Verwirkung knüpft zunächst einmal an die Möglichkeit zur Klageerhebung an, ob eine Klage aber begründet (oder unbegründet) ist, hat mit einer Möglichkeit zur Klageerhebung nichts zu tun. Auch hat die Verwirkung des prozessualen Rechts zur Folge, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung nicht mehr geltend machen kann; daraus folgt zugleich, dass es für die Annahme einer Verwirkung unerheblich ist, ob ein Verwaltungsakt rechtskonform ist oder nicht. Das stimmt damit überein, dass - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - die Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes nach § 60 Abs. 1 VwGO keine Widereinsetzung in die Klagefrist (nach anschließender Kenntniserlangung) rechtfertigt.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Zur Unerheblichkeit der Rechtskonformität eines Verwaltungsaktes für eine Verwirkung BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 2017 - 1 B 103.17 -, juris Rn. 4 f. und Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 21. Zur Unerheblichkeit der Kenntnis von der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes für eine Wiedereinsetzung BVerwG, Beschlüsse vom 15. März 1989 - 7 B 40.89 -, juris Rn. 5 vom 18. Juli 1988 - 3 B 33.88 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des sog. „Zeitmoments“ bei der Verwirkung ist zu berücksichtigen, wieviel Zeit seit der Möglichkeit der Klageerhebung vergangen ist. Je mehr Zeit von der Möglichkeit zur Klageerhebung bis zur tatsächlichen Klageerhebung vergangen ist, desto eher wird eine Verwirkung in Betracht kommen. In der Regel wird die Verwirkungsfrist in Anlehnung an die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 1 Alt. VwGO bestimmt.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Zur je länger, je eher Regel vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. September 2020 - 1 B 31.20 -, juris Rn. 10 m.w.N. Zur „regelmäßigen“ Bestimmung der Verwirkungsfrist in Anlehnung an § 58 Abs. 2 Satz 1 1 Alt. VwGO z.B. BVerwG, Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 28 und Beschlüsse vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 -, juris Rn. 8 f., 14 f. und vom 13. März 2020 - 8 B 2.20 -, juris Rn. 17; BFH, Urteil vom 14. Juni 1972 - II 149/65 -, juris Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des „Umstands-„ und des „Vertrauensmoments“ der Verwirkung ist in den Blick zu nehmen, ob neben dem Zeitablauf besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung unter Berücksichtigung des beim Verpflichteten - oder bei einem Dritten - daraus erwachsenen Vertrauens als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Dies ist der Fall, wenn der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt. Erst dadurch wird eine Situation geschaffen, auf die ein Beteiligter vertrauen, sich einstellen und einrichten darf (siehe Oben). Dabei sind die Merkmale - Möglichkeit der Klageerhebung, Zeit-, Umstands- und Vertrauensmoment - nicht in jedem Fall klar voneinander abgrenzbar und stehen in einer Wechselwirkung. Fehlt z.B. das Umstands- oder/und das Vertrauensmoment, tritt zwar eine Verwirkung auch bei sehr langer Dauer der Nichtgeltendmachung eines Rechts jedenfalls regelmäßig nicht ein. Infolge der genannten Wechselwirkung der Merkmale zueinander kann aber auch anderes gelten. Maßgeblich ist eine Gesamtbewertung aller zeitlichen und sonstigen Umstände. Dies kann im Einzelfall bei mehrpoligen Rechtsbeziehungen zu komplexen Abwägungsvorgängen führen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 - 2 BvR 255/67 -, juris Rn. 19; BVerwG, Urteile vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 19 ff. und vom 16. Mai 1991 - 4 C.89 -, juris Rn. 22 ff. sowie Beschluss vom 18. Juli 2019 - 6 B 18.19 -, juris Rn. 7.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Insoweit sind die Interessen der Beteiligten in den Blick zu nehmen. Zu diesen Beteiligten gehört - zunächst einmal - der Kläger. So darf über die Annahme einer Verwirkung - dessen Rechtsschutzanspruch nicht praktisch unmöglich oder unzumutbar gemacht oder übermäßig erschwert werden. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn die Beschränkung aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 15. April 1980 - 2 BvR 970/79 -, juris Rn. 6, vom 20. April 1982 - 2 BvL 26/81 -, juris Rn. 56 und vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 370/84 -, juris Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Andererseits sind auch die Interessen der übrigen Beteiligten - d.h. die Interessen des Beklagten und etwa Beigeladener - in den Blick zu nehmen. Insbesondere - d.h. aber nicht nur! - dann, wenn die genannten Beteiligten aufgrund der Untätigkeit des Klägers den Eindruck gewinnen durften, dass eine Klageerhebung nicht beabsichtigt sei und es dann infolge dieses Eindrucks und infolge des Zeitablaufes zu Rechtsverlusten kommt oder wenn der Beigeladene im Vertrauen auf eine Nichtklageerhebung Dispositionen getroffen hat, sind dessen Interessen schutzwürdig. Aber auch andere Interessen von Beteiligten sind zu berücksichtigen, so z.B. die Interessen an der Erhaltung der Stabilität von Ämtern von Beteiligten.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 35 und Beschlüsse vom Beschlüsse vom 11. September 2018 - 4 B 34.18 -, juris Rn. 15, vom 18. Juli 2019 - 6 B 18.19 -, juris Rn. 16 ff. und vom 13. März 2020 - 8 B 2.20 -, juris Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Gewichtung der Interessen der Beteiligten ist zu berücksichtigen, ob die Beteiligten untereinander in einem besonderen Verhältnis stehen, das es rechtfertigt für alle Beteiligen - also auch für den Kläger - Treuepflichten zu beachten. In der Rechtsprechung ist dies für das nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis zugrunde gelegt worden. Denn nach Treu und Glauben wird von den grenznachbarlich Verbundenen eine besondere Rücksichtnahme gegeneinander gefordert.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -, juris Rn. 24 sowie Beschlüsse vom 28. August 1987 - 4 N 3.86 -, juris Rn 12 ff. und vom 13. März 2020 - 8 B 2.20 -, Umdruck Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Schließlich sind im Rahmen der Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht nur die Interessen Beteiligter, sondern auch öffentliche Interessen in den Blick zu nehmen. Solche öffentlichen Interessen können Interessen an der Erhaltung des Rechtsfriedens sein, aber auch andere Interessen (wie z.B. die Interessen an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung).</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Z.B. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 - 2 BvR 255/67 -, juris Rn. 19; BVerwG, Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 30 f. sowie Beschluss vom 8. September 2020 - 1 B 31.20 -, juris Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt. Dies gilt sowohl für die die Klage gegen die Entgeltgenehmigung vom 4. Dezember 2015 (a) als auch für die Klage gegen die Entgeltgenehmigung vom 12. Dezember 2019 (b).</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">a) Die Klägerin hat ihr Klagerecht gegen die Entgeltgenehmigung vom 4. Dezember 2015 verwirkt. Die Klägerin musste ihr Klagerecht seit spätestens seit Anfang 2016 - d.h. seit der regelmäßigen Inanspruchnahme der genannten Leistungen - kennen. Dass die Entgelte für die hier beanspruchten Dienstleistungen auf einer Entgeltgenehmigung beruhen ergibt sich unmittelbar aus den §§ 19 ff. PostG und dass auch Endkunden gegen solche Entgeltgenehmigungen klagen können (so sie die Leistung in Anspruch genommen haben), ist seit 2015 anerkannt.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. August 2015 - 6 C 8.14 -, juris Rn. 11 ff. Über diese Entscheidung wurde auch in den Medien berichtet, vgl. z.B. 134 ff. GA in dem Verfahren VG Köln 21 K 5050/21.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Dass die Klägerin beides nicht gewusst hat, mag sein (wenngleich dies für den ersten Umstand schon sehr unwahrscheinlich ist). Dies ist jedoch schon deswegen unerheblich, da sie die Selbstverwaltungsorganisation der in Berlin zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist. Eine solche Organisation muss sämtliche rechtlichen Umstände, auf die sie sich einlässt kennen, zumal die Klägerin regelmäßig ein höheres Portovolumen bei der Beigeladenen generiert hat. Von daher kann an dieser Stelle dahinstehen, ob hier auch ein besonderes Treueverhältnis bestand (was der Fall ist, siehe unten), aufgrund dessen sie zur Einholung von Rechtsrat gehalten gewesen wäre. Richtig ist allerdings, dass die Klägerin zunächst nicht wissen musste, dass die jetzt angegriffene Entgeltgenehmigung rechtswidrig war. Dies hat sich letztinstanzlich erst 2020 herausgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2020 - 6 C 1.19 -, juris Rn. 43 ff. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Das ist allerdings unerheblich (siehe oben). Anderes ergibt sich hier nicht aus Art. 22 Abs. 3 Satz 1 der Postrichtlinie in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz. Nach Art. 22 Abs. 3 der Postrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten u.a. sicher, dass es auf nationaler Ebene wirksame Verfahren gibt, nach denen jeder Nutzer, der von einer Entscheidung einer nationalen Regulierungsbehörde betroffen ist, bei einer von den beteiligten Parteien unabhängigen Beschwerdestelle Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegen kann. Im Rahmen dieser Vorschrift gilt auch der gemeinschaftsrechtliche Effektivitätsgrundsatz. Dieser Grundsatz gebietet es, dass das nationale Recht die Ausübung der durch Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren darf. Allerdings sind Geltung und Reichweite des Effektivitätsgrundsatzes von der jeweiligen nationalen Verfahrensordnung abhängig.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Zu alldem siehe EuGH, Urteile vom 20. September 2001 - C-453/99 -, juris Rn. 29 ff., vom 13. Juli 2006 - C-295/04 -, juris Rn. 77 ff. und vom 22. April 2021 - C-485/19 -, juris Rn. 51 ff. und 53 zur Bezugnahme auf die jeweilige nationale Verfahrensordnung.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Hier sieht die nationale Verfahrensordnung vor, dass die Entgelte für Porti durch Entgeltgenehmigung, also durch Verwaltungsakt, geregelt werden. Dass Verwaltungsakte bestimmte Sachbereiche regeln - und zwar abschließend - ergibt sich unmittelbar aus § 35 VwVfG; dass sie dies grundsätzlich ungeachtet ihrer Rechtmäßigkeit tun, ergibt sich aus den §§ 43 ff VwVfG. Vor diesem Hintergrund regelt das nationale Recht grundsätzlich bestimmte Fristen für den Angriff auf die Verwaltungsakte (§§ 74, 58 Abs. 2 VwGO) die auch dann gelten, wenn die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsakte unklar ist. Das ist konsequent: Ist die Rechtswirksamkeit eines Verwaltungsaktes nicht von dessen Rechtmäßigkeit abhängig, muss es für die Frage, ob und wann dieser Verwaltungsakt angegriffen werden kann auf anderes ankommen. Daher kann die Rechtsprechung des EuGH zum Kartell- und Verbraucherschutzrecht nicht auf die hier zu entscheidende Frage übertragen werden. Zwar hat der EuGH es dort bezüglich des Laufs von Verjährungsfristen unter dem Gesichtspunkt der Effektivität z.T. wohl nicht für zulässig angesehen, den Lauf der Verjährungsfrist davon unabhängig zu gestalten, ob der Kläger die Chance hatte, die Kartell- bzw. Verbraucherrechtswidrigkeit eines Verhaltens zu erkennen oder nicht. Anknüpfungspunkt dieser Rechtsprechung waren jedoch bestimmte Handlungen privater Individuen, deren Rechtmäßigkeit in Rede stand.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 20. September 2001 - C-453/99 -, juris Rn. 29 ff., vom 13. Juli 2006 - C-295/04 -, juris Rn. 77 ff. und vom 22. April 2021 - C-485/19 -, juris Rn. 51 ff.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Hier ist jedoch nach nationalem Recht der Anknüpfungspunkt von Klagerechten ein Verwaltungsakt, dessen Wirksamkeit grundsätzlich von seiner Rechtmäßigkeit nicht berührt wird. Von daher ist es zwangsläufig, dass die Eröffnung von Klagerechten gegen einen Verwaltungsakt nicht von dessen Rechtmäßigkeit bzw. deren Kenntnis abhängen kann. Auch bezieht sich die Frage der Verjährung eines Anspruches unmittelbar auf das jeweilige materielle Recht, dementsprechend ist es nachvollziehbar, die Frage des Laufs von Verjährungsfristen auf das jeweilige materielle Recht zu beziehen. Anderes gilt hingegen, soweit es um Zulässigkeitsfragen geht, wie etwa die Wahrung einer Frist oder die Annahme einer Verwirkung. Schließlich haben Klagen im Kartell- bzw. Verbraucherschutzrecht eine spezifische Schutzfunktion. An einer solchen spezifischen Schutzfunktion fehlt es aber für allgemeine verwaltungsrechtliche Klagen und zwar auch dann, wenn man auf Art. 22 Abs. 3 der Postrichtlinie abstellt. Abgesehen von alldem ist nicht ersichtlich, weshalb es unzumutbar sein sollte, binnen 5 ½ Jahren Klage gegen einen Verwaltungsakt zu erheben.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Daher ist vorliegend auch das Zeitmoment für eine Verwirkung gegeben. Hier sind seit dem Zeitpunkt der möglichen Klagerhebung im Jahr 2016 (erstmalige Inanspruchnahme der Leistungen) bis zur tatsächlichen Klageerhebung ca. 5 ½ Jahre verstrichen. Die Klage liegt damit weit außerhalb der Frist, mit der das sog. Zeitmoment in entsprechende Anwendung von § 58 Abs. 2 VwGO regelmäßig bemessen wird. Vielmehr ist das Verstreichen dieser 5 ½ Jahre eher ein Argument dafür, dass die Klägerin bei Klageerhebung ihr Recht zur Klage bereits verwirkt hatte. Dies gilt zumal deshalb, als die Klageerhebung zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, in dem die angegriffene Entgeltgenehmigung längst ausgelaufen war.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Zu dem Zeitpunkt der Klageerhebung am 29. September 2021 lagen hier auch besondere Umstände vor, welche die verspätete Klageerhebung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Für die Klägerin ist dabei in den Blick zu nehmen, dass ihr eine vorherige Erhebung der Klage gegen die Entgeltgenehmigung ohne weiteres zumutbar gewesen ist. Die Klägerin ist die Selbstverwaltungsorganisation der in Berlin zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und hat regelmäßig ein höheres Portovolumen bei der Beigeladenen generiert; beides hätte eine deutlich frühere Klageerhebung nahe gelegt. Bezüglich der Beigeladenen ist in den Blick zu nehmen, dass diese aus einer Nicht-Klageerhebung durch die Klägerin nach 5 ½ Jahren schließen durfte, dass eine Klage auch nicht mehr erhoben werden würde. Zwar wurden hierauf gestützte Dispositionen der Beigeladenen nicht getroffen. Gleichwohl war die Beigeladene insoweit schutzwürdig. Dabei kann hier dahinstehen, für welche Zeiträume die Interessen der Beigeladenen als schutzwürdig angesehen werden können (siehe unten). Jedenfalls ist offensichtlich, dass die Beigeladene ein schutzwürdiges Interesse daran hat, dass es <em>irgendeine</em> zeitliche Begrenzung der Klagemöglichkeiten gibt. Denn sonst könnten <em>alle</em> Kunden der Post - d.h. ca. 50 Millionen - nach dem Durchlauf eines Musterverfahrens - ohne jegliche zeitliche Begrenzung und ohne prozessuale Risiken - alle Porti rückabwickeln. Das würde den Fortbestand der Beigeladenen in Rede stellen. Dabei ist allein ausschlaggebend, dass bereits die Möglichkeit einer zeitlich unbeschränkten Rückforderung von Porti den Bestand der Beigeladenen in Frage stellen würde; die Beigeladene könnte sich nicht darauf verlassen, dass bestehende Rechte nicht auch tatsächlich ausgeübt werden. Insoweit steht der generellen Schutzwürdigkeit der Beigeladenen nicht entgegen, dass im Rahmen einer Verwirkung nur individuelle Momente ausschlaggebend sein könnten. Dagegen spricht schon, dass es vorliegend um Massenverkehrsleistungen geht.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 5. August 2015 - 6 C 8/14 -, juris Rn. 22 und vom 20. Februar 1981 - 7 C 29/78 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Der Schutzwürdigkeit der Beigeladenen steht auch nicht entgegen, dass sie verpflichtet gewesen wäre, Rücklagen zu bilden, um erga omnes überhöhte Entgelte zurückzuzahlen. Denn eine solche Rückzahlungsverpflichtung bedürfte jedenfalls einer gesetzlichen Grundlage, für die hier aber nichts ersichtlich ist. Auch eine Verpflichtung zur Bildung von Rücklagen aufgrund des Umstandes, dass es eine Verpflichtung zur Abschöpfung etwa zu Unrecht vereinnahmter überhöhter Entgelte gebe, besteht nicht. Denn eine solche Abschöpfungsverpflichtung gibt es nicht.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Zu Rückzahlungsverpflichtungen im Kommunalabgabenrecht aufgrund gesetzlicher Grundlage VGH B.-W., Urteil vom 11. März 2010 - 2 S 2938/08 – juris Rn. 42 ff.; anders etwa für das nordrhein-westfälische Landesrecht OVG NRW, Urteil vom 30. November 2010 - 9 A 1579/08 -, juris Rn. 11 ff. Zur - fehlenden - Abschöpfungsverpflichtung im Postrecht siehe BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2020 - 6 C 1.19 -, juris Rn. 63 ff.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Es tritt hinzu, dass die Klägerin und die Beigeladene in einem dauerhaften Schuldverhältnis standen, aus dem Treuepflichten folgten, die eine zügige Erhebung von Klagen gegen die Entgeltgenehmigung nahelegten. Die Klägerin hat die regulierten Leistungen der Beigeladenen (deren Genehmigung sie nunmehr angreift) in ganz erheblichem Umfang in Anspruch genommen und hat sie auch bezahlt. Für dieses private Beförderungsverhältnis gelten grundsätzlich die Vorschriften über den Werkvertrag nach §§ 631 ff BGB und über den Frachtvertrag nach §§ 407 ff. HGB (vgl. Nr. 2 Abs. 1 und Nr. 1 Abs. 3 der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutschen Post AG BRIEF NATIONAL i.V.m. § 407 Abs. 1 und 2 HGB); damit findet grundsätzlich auch § 242 BGB Anwendung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieses Beförderungsverhältnis kein einmaliges, sondern ein (häufig) wiederkehrendes Verhältnis war, wodurch in besonderem Umfang die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben geboten ist.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Zur Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben bei häufig wiederkehrenden Rechtsverhältnissen vgl. Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2022, § 242 BGB Rn. 46 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Zwar war die Beigeladene - jedenfalls ganz überwiegend - hier zur Beförderung der Briefe der Klägerin nach § 3 PDLV i.V.m. §§ 13, 14, 56 PostG verpflichtet und der privatrechtliche Briefbeförderungsvertrag zwischen der Klägerin und der Beigeladenen wurde öffentlich-rechtlich überlagert (§ 11 Abs. 2 PostG i.V.m. §§ 2 ff. PUDLV und § 18 PostG i.V.m. §§ 2 ff. PDLV). Allerdings machen gerade die Regelungen der Post-Universaldienstleistungsverordnung und der Postdienstleistungsverordnung deutlich, dass es bei ihnen um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwischen der Klägerin und der Beigeladenen geht. Damit sprechen diese Regelungen nicht gegen, sondern eher für das Bestehen eines Treueverhältnisses.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Zur Beförderungsverpflichtung der Beigeladenen vgl. VG Köln, Beschluss vom 4. Januar 2021 - 21 L 2082/20 -, juris Rn. 29 ff. m.w.N. Zum Ausgleichcharakter von PUDLV und PDLV vgl. §§ 2 ff. und 6 PUDLV sowie §§ 2 und 3 PDLV. Zum Rückschluss von Regelungen mit Ausgleichscharakter auf ein Treueverhältnis vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. August 1987 - 4 N 3.86 -, juris Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Schließlich sprechen auch öffentliche Interessen dafür, dass die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt hat. Denn ohne eine zeitliche Begrenzung von Klagerechten würden öffentliche Interessen - nämlich solche an der Erhaltung des Universaldienstes (§§ 11 ff. PostG) - beeinträchtigt. Dem kann nicht durchgreifend entgegen gehalten werden, dass diese Beeinträchtigung öffentlicher Interessen vom Gesetzgeber zu verantworten sei, da er keine sachgerechte Bekanntgaberegelung für postrechtliche Entgeltgenehmigungen getroffen habe, obschon eine solche nach der weitgehenden Anerkennung von Klagebefugnissen im Postrecht jedenfalls nicht fernliegend gewesen wäre. Denn selbst wenn dies richtig wäre, bleibt es dabei, dass sich die Kammer allein mit der eben nunmehr gegebenen Rechtslage auseinanderzusetzen hat.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Damit ergibt sich bei zusammenfassender Sichtweise, dass die Klägerin hier ihr Klagerecht dadurch verwirkt hat, dass sie erst 5 ½ Jahre nach Inanspruchnahme der regulierten Leistung Klage gegen die Entgeltgenehmigung erhoben hat, obschon ihr dies bereits vorher möglich gewesen wäre und obschon sowohl Interessen der Beigeladenen und öffentliche Interessen als auch das Bestehen eines Treueverhältnisses zwischen der Klägerin und der Beigeladenen für eine vorherige Klageerhebung gesprochen hätten. Dabei steht dem Gesagten nicht durchgreifend entgegen, dass die Beklagte im Jahr 2020/2021 zwischenzeitlich erwogen hat, die der hier angegriffenen Entgeltgenehmigung nachfolgende Entgeltgenehmigung zurückzunehmen. Denn von einer Rücknahme der hier angegriffenen Entgeltgenehmigung war nie die Rede. Auch spricht alles dafür, dass die Klägerin bereits zu diesem Zeitpunkt ihr Recht zur Klageerhebung verwirkt hatte. Jedenfalls erfolgte die Klageerhebung hier auch deutlich nach dem Zeitpunkt, zu dem die Beklagte ihre diesbezügliche Prüfung beendet hatte. Schließlich spricht gegen dieses Ergebnis auch nicht die Wertung des § 58 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. VwGO. Nach dieser Vorschrift kann ein Rechtsbehelf ohne Rücksicht auf eine Frist eingelegt werden, wenn eine schriftliche Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei. Zwar wird diese Vorschrift nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entsprechend auf den Fall angewendet, in dem eine Rechtsbehelfsbelehrung im Hinblick auf einen <em>falschen</em> Rechtsbehelf erfolgt ist. Eine dergestalt falsche Rechtsmittelbelehrung war hier der angegriffenen Entgeltgenehmigung jedoch nicht beigefügt worden. Allein der Umstand, dass die Rechtsbehelfsbelehrung der Entgeltgenehmigung bezüglich der Klägerin deshalb falsch war, da sie auf eine Zustellung abstellte (die gegenüber der Klägerin nicht erfolgt ist), ändert nichts daran, dass der richtige Rechtsbehelf („Klage“) in der Rechtsmittelbelehrung angegeben worden war. Einer Ausweitung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 58 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. VwGO auf die Fälle „einfach“ falscher Rechtmittelbelehrungen steht § 58 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. VwGO entgegen. Auch konnte die Rechtmittelbelehrung nicht so verstanden werden, dass nur diejenigen, denen die Entscheidung zugestellt wurde, dagegen Klage erheben konnten. Die Bezugnahme auf die „Zustellung“ erfolgte hier nur im Rahmen der Berechnung der Monatsfrist und nicht im Hinblick darauf, dass auch die Klagemöglichkeit von der Zustellung abhänge.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 58 Abs. 2 Satz 1 2 Alt. VwGO vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 2. April 1987 - 5 C 67.84 -, juris Rn. 15 m.w.N. Zur „einfachen“ Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich der Klägerin hier vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Februar 2012 - 14 B 1566/11 -, juris Rn. 2 f.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">b) Die Klägerin hat auch ihr Recht gegen die Entgeltgenehmigung vom 12. Dezember 2019 zu klagen verwirkt. Die Klägerin musste ihr Klagerecht seit spätestens Anfang 2020 - d.h. seit der regelmäßigen Inanspruchnahme der genannten Leistungen - kennen. Dass die Entgelte für die hier beanspruchten Dienstleistungen auf einer Entgeltgenehmigung beruhen, ergibt sich unmittelbar aus den §§ 19 ff. PostG, und dass auch Endkunden gegen solche Entgeltgenehmigungen klagen können (so sie die Leistung in Anspruch genommen haben), ist seit 2015 anerkannt (siehe oben). Dass die Klägerin beides nicht gewusst hat, mag sein (wenngleich dies für den ersten Umstand schon sehr unwahrscheinlich ist). Dies ist jedoch schon deswegen unerheblich, da sie bereits in der Vergangenheit diesbezüglich Kenntnisse hätte haben bzw. sich hätte verschaffen müssen (siehe oben). Daher ist vorliegend auch das Zeitmoment für eine Verwirkung gegeben. Hier sind seit dem Zeitpunkt der möglichen Klagerhebung im Jahr 2020 (Inanspruchnahme der Leistungen) bis zur tatsächlichen Klageerhebung ca. 1 ½ Jahre verstrichen. Die Klage liegt damit außerhalb der Frist, mit der das sog. Zeitmoment in entsprechender Anwendung von § 58 Abs. 2 Satz 1 1 Alt. VwGO regelmäßig bemessen wird. Zu dem Zeitpunkt der Klageerhebung am 29. September 2021 lagen hier auch besondere Umstände vor, welche die verspätete Klageerhebung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Für die Klägerin ist dabei in den Blick zu nehmen, dass ihr eine vorherige Erhebung der Klage gegen die Entgeltgenehmigung ohne weiteres zumutbar gewesen ist. Die Klägerin ist die Selbstverwaltungsorganisation der in Berlin zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und hat regelmäßig ein höheres Portovolumen bei der Beigeladenen generiert; beides hätte - wie schon in der Vergangenheit (siehe oben) - eine deutlich frühere Klageerhebung nahe gelegt.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Bezüglich der Beigeladenen ist in den Blick zu nehmen, dass diese aus einer Nicht-Klageerhebung durch die Klägerin nach 1 ½ Jahren schließen durfte, dass eine Klage auch nicht mehr erhoben werden würde. Zwar wurden hierauf gestützte Dispositionen der Beigeladenen nicht getroffen. Auch ist die Beigeladene insoweit nur bedingt schutzwürdig. Zwar mochte die Beigeladene aufgrund des Verhaltens der Klägerin schließen, dass es nicht mehr die Klägerin sein werde, die gegen die Entgeltgenehmigung klagen werde. Dieser „Vertrauenstatbestand“ konnte jedoch für die Beigeladene nur untergeordnete Bedeutung haben, da sie hinsichtlich aller anderen Postkunden zumindest damit rechnen musste, dass über die gesamte Entgeltgenehmigungsperiode - frei von dem Tatbestand einer Verwirkung - Klagen erhoben werden konnten. Denn der Eintritt einer Verwirkung setzt die Möglichkeit zur Erhebung einer zulässigen Klage voraus, was nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Klagebefugnis bedeutet, dass auch derjenige noch zulässig Klage gegen die zugrundeliegende Entgeltgenehmigung erheben kann, der am letzten Tag der Regulierungsperiode erstmalig eine Briefmarke erworben und die Leistungen der Post in Anspruch genommen hat. Andererseits ist offensichtlich, dass die Beigeladene ein schutzwürdiges Interesse daran hat, dass es <em>irgendeine</em> zeitliche Begrenzung der Klagemöglichkeiten gibt und dass hieran auch ein nachhaltiges öffentliches Interesse besteht (siehe oben). Beides könnte allerdings dafür sprechen, für die Bemessung einer Verwirkung auf den Ablauf der jeweiligen Regulierungsperiode abzustellen. Dem stünde allerdings entgegen, dass ein Abstellen auf den Ablauf der Regulierungsperiode dazu führen würde, dass diejenigen, die später als ein Jahr vor Ablauf der Regulierungsperiode erstmalig ein Postwertzeichen erwerben, zu einer „Verwirkungsfrist“ kommen würden, die ggf. deutlich unter einem Jahr liegen würde. Jedoch wäre dann ein solcher Zeitraum im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG zu knapp bemessen.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Siehe zur vergleichbaren Problematik im Beamtenrecht (bei einem Abstellen auf all- oder halbjährliche Beförderungsstichtage) BVerwG, Urteil vom 30. August 2018 - 2 C 10.17 -, juris Rn. 30.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Dieser Konsequenz könnte man nur dadurch begegnen, dass man als Bezugspunkt für eine Verwirkung die Regulierungsperiode zuzüglich einer Frist in entsprechender Anwendung von § 58 Abs. 2 Satz 1 1. Alt VwGO wählen würde. Das würde allerdings nichts daran ändern, dass je nach dem Zeitpunkt des Erwerbs von Postwertzeichen und der Inanspruchnahme der Leistungen der Beigeladenen für die Beteiligten höchst unterschiedliche „Verwirkungsfristen“ gelten würden, was dem Gedanken der Rechtssicherheit und der Erhaltung des Rechtsfriedens zuwider liefe. Umgekehrt spricht der Umstand, dass sich die Klägerin mit der Beigeladenen in einem dauerhaften Schuldverhältnis befunden hat dafür, dass die Klägerin - wie im Nachbarschaftsverhältnis - grundsätzlich Klagerechte binnen Jahresfrist verwirken konnte. Dafür spricht weiter, dass so die gesetzliche Wertung des § 58 Abs. 2 Satz 1 1 Alt. VwGO aufgenommen und ein Gleichlauf zur Rechtsprechung im Bau- und Beamtenrecht hergestellt wird; auch die Verjährungsvorschrift nach § 9 PDLV streitet für eine solche Lösung. Schließlich gewährleistet ein Abstellen auf eine „Verwirkungsfrist“ von einem Jahr - statt ein Abstellen auf eine solche Frist bezogen auf die gesamte Regulierungsperiode (ggf. zuzüglich eines Jahres) - einen besseren Schutz öffentlicher Interessen an der Erhaltung des Universaldienstes. Denn eine durchgreifende Beeinträchtigung des Universaldienstes der Post nach § 11 Abs. 1 PostG ist durch Klagen binnen eines Jahres in der Regel deshalb nicht gegeben, da bei solchen Klagen die Kläger in der Regel noch prozessuale Risiken hinnehmen müssen, da binnen eines Jahres die Rechtmäßigkeit einer Entgeltgenehmigung in der Regel nicht abschließend geklärt sein wird. Schließlich steht einem Abstellen auf eine regelmäßige „Verwirkungsfrist“ von einem Jahr nicht entgegen, dass es dadurch möglicherweise dazu käme, dass bei erstmaliger Inanspruchnahme des Produktes kurz nach Ergehen der Entgeltgenehmigung die „Verwirkungsfrist“ dann möglicherweise nach einem Jahr „abgelaufen“ wäre, der Endkunde der Beigeladenen aber - möglicherweise - gleichwohl darauf angewiesen wäre, die Universaldienstleistungen der Beigeladenen weiter in Anspruch zu nehmen (ohne nunmehr dagegen noch zulässig klagen zu können). Dies ist letztlich nur Konsequenz des Umstandes, dass Angriffsgegenstand eben die Entgeltgenehmigung bleibt, obschon die „Verwirkungsfrist“ erst mit der (erstmaligen) Inanspruchnahme der Leistung beginnt zu „laufen“. Dementsprechend kann es auch im Baunachbarrecht dazu kommen, dass der Bau des Bauherrn weiter „zu Lasten“ des Baunachbarn fortschreitet, ohne dass dieser dagegen Klage erheben könnte, weil er sein Klagerecht bereits verwirkt hat.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Schließlich steht dem Gesagten nicht durchgreifend entgegen, dass die Beklagte im Jahr 2020/2021 zwischenzeitlich erwogen hat, die hier angegriffene Entgeltgenehmigung zurückzunehmen. Zwar mag dies - allgemein - als Grund angesehen werden können einen „Plan“ zur Erhebung einer Klage zurückzustellen, ohne dass das als treuwidrig angesehen werden könnte. Indes waren die zwischenzeitlichen Erwägungen der Beklagten offensichtlich nicht ausschlaggebend dafür, dass die Klägerin ihre Klage erst am 29. September 2021 erhoben hat. Denn die Beklagte hatte bereits mit Entscheidung vom 14. April 2021 das Verfahren zur Rücknahme der Entgeltgenehmigung eingestellt. Entsprechendes gilt für den Umstand, dass nach der Beanstandung der Entgeltgenehmigung vom 4. Dezember 2015 durch das Bundesverwaltungsgericht,</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2020 - 6 C 1.19 -, juris Rn. 43 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">der Gesetzgeber tätig wurde. Denn die diesbezügliche Neuregelung durch den Gesetzgeber trat bereits am 18. März 2021 in Kraft. Auch mit der Neuregelung hatte die Klageerhebung also ersichtlich nichts zu tun.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die Berufung und die Sprungrevision sind gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 124 a Abs. 1 S. 1 VwGO sowie § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 134 VwGO zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Den Beteiligten steht gegen dieses Urteil die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung ‑‑ ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen. Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Den Beteiligten steht gegen dieses Urteil wahlweise statt der Berufung auch die Revision an das Bundesverwaltungsgericht unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Kläger und der Beklagte zustimmen.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsfrist ist auch gewahrt, wenn die Revision innerhalb der Frist schriftlich bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, eingelegt wird. Die Revision muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Zudem ist der Revisionsschrift die Zustimmung des Klägers und des Beklagten zur Einlegung der Sprungrevision beizufügen.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen angeben, die den Mangel ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Im Revisionsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Revision und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Revisionsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">184.557,46 €</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Streitwert entspricht der Bedeutung der Sache für die Klägerin (§ 52 Abs. 1 GKG). Denn jedenfalls für diesen Betrag hat sie nach ihren Angaben Porti bezahlt, die auf den angegriffenen Entgeltgenehmigungen beruhen. Ob und wieviel an Porti sie für die erbrachten Leistungen der Beigeladenen nach der hier begehrten Aufhebung der Entgeltgenehmigung letztlich zu zahlen hätte, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens (weshalb am vorläufig festgesetzten Streitwert nicht festgehalten werden kann).</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,575 | fg-munster-2022-08-17-7-k-315621-kg | {
"id": 792,
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} | 7 K 3156/21 Kg | 2022-08-17T00:00:00 | 2022-09-15T10:01:22 | 2022-10-17T11:10:11 | Urteil | ECLI:DE:FGMS:2022:0817.7K3156.21KG.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Tatbestand</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Streitig ist, ob der Klägerin ein Kindergeldgeldanspruch für ihren am 00.05.2000 geborenen Sohn O S zusteht.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Nach dem Abitur begann ihr Sohn im August 2018 eine Berufsausbildung zum Technischen Produktdesigner mit der Fachrichtung Produktgestaltung und -konstruktion bei der M GmbH. Die Ausbildung sollte bis Januar 2021 dauern. Die Ausbildungsvergütung betrug 986,94 EUR im ersten Ausbildungsjahr, 1.056,49 EUR im zweiten Ausbildungsjahr und 1.147,82 EUR im dritten Ausbildungsjahr (Berufsausbildungsvertrag vom 12.10.2017, Bl. 20 der Gerichtsakte).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zum Wintersemester 2018/2019 begann O S ein berufs- oder ausbildungsbegleitendes Verbundstudium „Maschinenbau (Bachelor)“ an der Fachhochschule T in J (vgl. Studienbescheinigung vom 07.02.2021, Bl. 29 der Kindergeldakte). Das Studium besteht aus neun Semestern. Die Studieninhalte werden sowohl im Selbststudium durch Lernbriefe (rund 70 % des Studiums) als auch in Präsenzveranstaltungen (rund 30 % des Studiums) vermittelt (vgl. § 5 Abs. 1 der Studienordnung). Die Präsenzveranstaltungen finden in der Regel alle zwei Wochen samstags und insgesamt an acht Samstagen pro Semester statt. In den ersten fünf Semestern werden Grundlagenfächer wie Mathematik, Technische Mechanik oder Physik durchgenommen. In den folgenden Semestern werden die Kenntnisse in den verschiedenen Anwendungsgebieten vertieft und erweitert (vgl. Flyer zum Studiengang auf der Homepage der Hochschule). Auf der Homepage der Hochschule sind verschiedene Arbeitgeber – unter anderem auch die M GmbH – aufgelistet, welche grundsätzlich bereit sind, ein Verbundstudium zu unterstützen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte bewilligte der Klägerin Kindergeld ab Juni 2018 (Bescheid vom 10.04.2018, Bl. 20 der Kindergeldakte).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Dezember 2020 schloss O S mit der M GmbH einen „befristeten Arbeits- und Qualifizierungsvertrag. Die Einstellung erfolgte ab 16.01.2021 als Verbundstudent für Arbeiten der Tariflohn- bzw. Stammlohngruppe EG08 (monatlich brutto 2.883,50 EUR, effektiv (sh. Arbeitszeit) = 2.306,80 EUR). Als Eintrittsdatum war der 15.08.2018 vorgesehen. Der Arbeitsvertrag wurde unter der „auflösenden Bedingung“ geschlossen, dass O S seine Berufsausbildung am 15.01.2021 erfolgreich abschließt. O S wurde als Verbundstudent der Kostenstelle der Personalabteilung zugeordnet (Abschnitt 1). Nach Abschnitt 2 des Vertrages erfolgte zum Zwecke der Erfüllung der Studienverpflichtungen an einem Arbeitstag eine unbezahlte Freistellung von der Arbeit (i.d.R. an einem Freitag). Die Freistellung verminderte die Vergütung und die übrigen zeitabhängigen Ansprüche (z.B. Urlaub). Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betrug 28 Stunden. Nach Abschnitt 4 des Vertrages war O S verpflichtet, auch andere ihm zugewiesene vergleichbare/zumutbare Arbeiten und Tätigkeiten zu übernehmen. Abschnitt 8 des Vertrages sah vor, dass er nach Abschluss seiner Berufsausbildung zwecks Erfüllung der Zusage gemäß § 4 des Vertrages vom 12.10.2017 im Rahmen einer zeitlichen Befristung mit Sachgrund übernommen wird, damit er im Rahmen eines arbeitsbegleitenden Studiums den Studienabschluss als Bachelor of Engineering erreichen kann. Die Befristung sollte enden mit dem Abschluss des Studiums oder mit Ablauf des Monats, in dem das Studium aufgegeben wird. Bei Überschreitung der Regelstudienzeit von neun Semestern sollte sich der Arbeits- und Qualifizierungsvertrag um längstens zwei Semester verlängern. Für die Anfertigung der Bachelorarbeit war eine bezahlte Freistellung von zwei Wochen vorgesehen. O S erklärte sich bereit, Überstunden und Schichtarbeit zu leisten. Wegen der Einzelheiten wird auf den Arbeits- und Qualifizierungsvertrag vom 10.12.2020 Bezug genommen (Bl. 18 f. der Gerichtsakte).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 15.01.2021 schoss O S seine Berufsausbildung erfolgreich ab (Bl. 40 der Kindergeldakte).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des Arbeits- und Qualifizierungsvertrages wurde O S in verschiedenen Abteilungen der M GmbH (März 2021 bis August 2021: Entwicklung Technologie; September 2021 bis Februar 2022: Entwicklung Automobil; März und April 2022: Qualitätstechnik; Mai und Juni 2022: Qualitätslabor; Juli und August 2022: Industrialisierung Metall/Montage; September 2022 bis November 2022: Erarbeitung des Themas der Bachelorarbeit in den Abteilungen Entwicklung Automobil und Entwicklung Technologie; Dezember 2022: Erarbeitung der Bachelorarbeit) eingesetzt (vgl. Bl. 70 der Gerichtsakte).</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hob die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2021 auf und führte an, dass der Sohn der Klägerin im Januar 2021 seine Berufsausbildung abschließen werde (Aufhebungsbescheid vom 08.01.2021, Bl. 25 der Kindergeldakte). Mit Bescheid vom 11.02.2021 lehnte sie die Bewilligung von Kindergeld ab Februar 2021 ab und führte unter Hinweis auf § 32 Abs. 4 Satz 2 und 3 des Einkommensteuergesetzes – EStG – an, dass ihr Sohn bereits eine erste Berufsausbildung abgeschlossen habe und nunmehr einer im Vordergrund stehenden Erwerbstätigkeit nachgehe (Bl. 35 der Kindergeldakte). Mit Schreiben vom 23.03.2021 – eingegangen bei der Beklagten am 26.03.2021 – legte die Klägerin Einspruch gegen den Bescheid vom 11.02.2021 ein (Bl. 38 der Kindergeldakte). Die Beklagte verwarf den Einspruch als unzulässig (Einspruchsentscheidung vom 30.03.2021, Bl. 44 der Kindergeldakte).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 09.09.2021 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Kindergeld ab dem Monat März 2021 ab (Bl. 69 der Kindergeldakte).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin legte Einspruch ein (Bl. 82 der Kindergeldakte) und teilte mit, dass ihr Sohn sein Bachelorstudium voraussichtlich im März 2023 abschließen werde und dass das Studium mit ungefähr 23 Wochenstunden stattfinde (Bl. 66 ff. der Kindergeldakte). Zudem legte sie eine Bestätigung der M GmbH vom 14.09.2021, wonach die Ausbildung voraussichtlich bis 01.01.2023 dauern werde (Bl. 76 der Kindergeldakte), sowie eine Bescheinigung der Fachhochschule vom 01.12.2021, wonach im siebten Fachsemester ein wöchentlicher Arbeitsaufwand von ca. 22 Stunden (Bearbeitung von Lernbriefen und Präsenzveranstaltungen) vorgesehen sei, vor (Bl. 88 der Kindergeldakte).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 09.12.2021 als unbegründet zurück und führte an, dass die Ausbildungsmaßnahme gegenüber der Berufstätigkeit des Kindes in den Hintergrund trete (Bl. 89 ff. der Kindergeldakte).</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Mit der dagegen gerichteten Klage macht die Klägerin ergänzend geltend, dass in dem gesamten Verbundstudium eine Erstausbildung zu sehen sei. Hierfür spreche, dass ihr Sohn keiner Vollzeitbeschäftigung nachgehe, sondern an einem Tag pro Woche unbezahlt freigestellt und als Verbundstudent angestellt sei. Auch sei der Arbeits- und Qualifizierungsvertrag auf Grund der Zusage in dem Ausbildungsvertrag abgeschlossen worden. Auf der Homepage der Hochschule werde ausgeführt, dass die Studieninhalte in den Grundsätzen mit Vertretern der regionalen Unternehmen abgestimmt seien. Auch sei zu beachten, dass andere Studierende weiterhin Kindergeld erhielten.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 09.09.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.12.2021 zu verpflichten, ihr Kindergeld für ihren Sohn O S ab dem Monat März 2021 zu bewilligen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen (Beschluss vom 05.07.2022).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Sache wurde am 17.08.2022 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Entscheidungsgründe</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist unbegründet. Der Ablehnungsbescheid vom 09.09.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.12.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Ihr steht kein Kindergeldanspruch für ihren Sohn ab März 2021 zu (§ 101 Satz 1 FGO). Der Kindergeldanspruch ist nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen, da ihr Sohn mit der Ausbildung zum Technischen Produktdesigner eine erstmalige Berufsausbildung abgeschlossen hat (dazu I.), kein Ausbildungsdienstverhältnis nach § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG vorliegt (dazu II.) und für die rechtliche Beurteilung unerheblich ist, ob bei anderen Studierenden in gleichgelagerten Fällen ein Kindergeldanspruch bejaht worden ist (dazu III.).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">I. Der Kindergeldanspruch ist nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen, da der Sohn der Klägerin mit der Ausbildung zum Technischen Produktdesigner bereits eine erstmalige Berufsausbildung abgeschlossen hat.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">1. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG besteht Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, wenn dieses für einen Beruf ausgebildet wird. In den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG wird ein Kind nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung oder eines Erststudiums nur berücksichtigt, wenn es keiner schädlichen Erwerbstätigkeit nachgeht (§ 32 Abs. 4 Satz 2 und 3 EStG).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a) Bei der Erstausbildung muss es sich um einen öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang handeln. Dieser muss auf einen Abschluss ausgerichtet sein, der in Form einer Prüfung erfolgt. Durch die berufliche Ausbildungsmaßnahme muss das Kind die notwendigen fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die zur Aufnahme eines Berufs befähigen, wodurch insbesondere eine Abgrenzung gegenüber dem Besuch einer allgemein bildenden Schule erfolgen soll. Liegen mehrere Ausbildungsabschnitte vor, können diese eine einheitliche Erstausbildung darstellen, wenn sie zeitlich und inhaltlich so aufeinander abgestimmt sind, dass die Ausbildung nach Erreichen des ersten Abschlusses fortgesetzt werden soll und das vom Kind angestrebte Berufsziel erst über den weiterführenden Abschluss erreicht werden kann. In einem solchen Fall muss aufgrund objektiver Beweisanzeichen erkennbar sein, dass das Kind die für sein angestrebtes Berufsziel erforderliche Ausbildung nicht bereits mit dem ersten erlangten Abschluss beendet hat. Dabei ist darauf abzustellen, ob sich die einzelnen Ausbildungsabschnitte als integrative Teile einer einheitlichen Ausbildung darstellen. Insoweit kommt es vor allem darauf an, ob die Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen Zusammenhang (z.B. dieselbe Berufssparte, derselbe fachliche Bereich) zueinander stehen und in engem zeitlichen Zusammenhang durchgeführt werden. An einer Ausbildungseinheit fehlt es dagegen, wenn die Aufnahme des zweiten Ausbildungsabschnitts eine berufspraktische Tätigkeit voraussetzt oder das Kind nach dem Ende des ersten Ausbildungsabschnitts eine Berufstätigkeit aufnimmt, die nicht nur der zeitlichen Überbrückung bis zum nächstmöglichen Beginn des weiteren Ausbildungsabschnitts dient (BFH-Urteil vom 17.01.2019 III R 8/18, BFH/NV 2019, 815 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">b) An einer einheitlichen Erstausbildung kann es auch dann fehlen, wenn das Kind nach Erlangung des ersten Abschlusses in einem öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang eine Berufstätigkeit aufnimmt und die daneben in einem weiteren Ausbildungsabschnitt durchgeführten Ausbildungsmaßnahmen gegenüber der Berufstätigkeit in den Hintergrund treten. Ob die nach Erlangung des Abschlusses aufgenommene Berufstätigkeit die Hauptsache und die weiteren Ausbildungsmaßnahmen eine auf Weiterbildung und/oder Aufstieg in dem bereits aufgenommenen Berufszweig gerichtete Nebensache darstellen, ist dabei anhand einer Gesamtwürdigung der Verhältnisse zu entscheiden, für die vor allem die nachfolgenden Kriterien von Bedeutung sind (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17.01.2019 III R 8/18, BFH/NV 2019, 815 m.w.N.):</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">aa) Für die Aufnahme einer Berufstätigkeit als Hauptsache spricht, dass sich das Kind längerfristig an einen Arbeitgeber bindet, indem es etwa ein zeitlich unbefristetes oder auf jedenfalls mehr als 26 Wochen befristetes Beschäftigungsverhältnis mit einer regelmäßigen vollzeitigen oder nahezu vollzeitigen Wochenarbeitszeit eingeht. Ist das Beschäftigungsverhältnis dagegen bis zum Beginn des nächsten Ausbildungsabschnitts befristet oder überschreitet die regelmäßige Wochenarbeitszeit die 20-Stundengrenze allenfalls geringfügig, kann dies für eine im Vordergrund stehende Berufsausbildung sprechen, die noch Teil einer einheitlichen Erstausbildung ist. Für eine im Vordergrund stehende Berufsausbildung kommt es auch darauf an, in welchem zeitlichen Verhältnis die Arbeitstätigkeit und die Ausbildungsmaßnahmen zueinander stehen. Da die Summe aus Arbeits- und Ausbildungszeit nicht selten über 40 Wochenstunden liegen wird, kann allein eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von über 20 Stunden noch nicht den Ausschlag geben. Führt das Kind etwa neben einer 22 Wochenstunden umfassenden Arbeitstätigkeit ein Vollzeitstudium an der Universität durch, kann auch weiter der Ausbildungscharakter im Vordergrund stehen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">bb) Weiter ist von Bedeutung, ob das Kind mit der nach Erlangung des ersten Abschlusses aufgenommenen Berufstätigkeit bereits die durch den Abschluss erlangte Qualifikation nutzt, um eine durch diese eröffnete Berufstätigkeit auszuüben. Wird z.B. ein Geselle oder Kaufmann von seinem Ausbildungsbetrieb im erlernten Beruf übernommen oder nimmt ein Bachelor eine durch diesen Abschluss eröffnete Stelle an, kann dies Indiz dafür sein, dass die Berufstätigkeit in den Vordergrund getreten ist. Denn ein solcher Sachverhalt spricht dafür, dass die weiteren Ausbildungsmaßnahmen nur der beruflichen Weiterbildung oder Höherqualifizierung in einem bereits aufgenommenen und ausgeübten Beruf dienen. Nimmt das Kind dagegen eine Berufstätigkeit auf, die ihm auch ohne den erlangten Abschluss eröffnet wäre (z.B. Aushilfstätigkeit in der Gastronomie oder im Handel) oder handelt es sich bei der Erwerbstätigkeit typischerweise um keine dauerhafte Berufstätigkeit (z.B. bei einem Bachelor, der während des nachfolgenden Masterstudiums mit 19 Stunden als wissenschaftliche Hilfskraft tätig ist und daneben drei Nachhilfestunden pro Woche gibt), kann das für eine im Vordergrund stehende Berufsausbildung sprechen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">cc) Darüber hinaus ist in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen, inwieweit die Arbeitstätigkeit im Hinblick auf den Zeitpunkt ihrer Durchführung den im nächsten Ausbildungsabschnitt durchgeführten Ausbildungsmaßnahmen untergeordnet ist und die Beschäftigung mithin nach ihrem äußeren Erscheinungsbild "neben der Ausbildung" durchgeführt wird. Wird etwa eine Teilzeittätigkeit von regelmäßig 22 Wochenstunden so verteilt, dass sie sich dem jeweiligen Ausbildungsplan anpasst, ist das ein Indiz für eine im Vordergrund stehende Ausbildung. Gleiches gilt, wenn das Kind etwa während des Semesters maximal 20 Wochenstunden arbeitet, durch eine während der Semesterferien erhöhte Wochenstundenzahl aber auf eine durchschnittliche Arbeitszeit von mehr als 20 Wochenstunden kommt. Arbeitet das Kind dagegen annähernd vollzeitig und werden die Ausbildungsmaßnahmen nur am Abend und am Wochenende durchgeführt, deutet dies darauf hin, dass die weiteren Ausbildungsmaßnahmen nur "neben der Berufstätigkeit" durchgeführt werden. Schließlich kann auch von Bedeutung sein, ob und inwieweit die Berufstätigkeit und die Ausbildungsmaßnahmen über den zeitlichen Aspekt hinaus auch inhaltlich aufeinander abgestimmt sind (BFH-Urteil vom 17.01.2019 III R 8/18, BFH/NV 2019, 815).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. Nach diesen Grundsätzen ist die Ausbildung zum Technischen Produktdesigner als erstmalige Berufsausbildung anzusehen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">a) Bei der Ausbildung handelt sich um einen öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang. Der Abschluss erfolgt in der Form einer Prüfung und der Sohn der Klägerin erwirbt durch die Ausbildung die notwendigen fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse, die zur Aufnahme eines Berufs befähigen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">b) In der Ausbildung zum Technischen Produktdesigner und dem Verbundstudium ist keine einheitliche Erstausbildung zu sehen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Zwar spricht einiges dafür, dass die Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen Zusammenhang zueinander stehen und in engem zeitlichen Zusammenhang durchgeführt werden. Allerdings ist bei Anwendung der vom Bundesfinanzhof aufgestellten Kriterien in der Gesamtabwägung davon auszugehen, dass das Verbundstudium gegenüber der Beschäftigung im Rahmen des Arbeits- und Qualifizierungsvertrages in den Hintergrund tritt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">aa) Für die Aufnahme einer Berufstätigkeit als Hauptsache spricht, dass sich der Sohn der Klägerin längerfristig an die M GmbH gebunden hat, indem er ein bis zu dem Ende seines Studiums und damit voraussichtlich auf zwei Jahre befristetes Beschäftigungsverhältnis mit einer nahezu vollzeitigen Wochenarbeitszeit – nämlich 28 Stunden – eingegangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der gesamte Arbeitsaufwand für das Studium beträgt nach dem Vortrag der Klägerin nur 23 Stunden bzw. nach der Bescheinigung der Fachhochschule 22 Stunden. Zudem kann der Zeugenaussage des Sohnes, er habe die arbeitsfreien Freitage – insbesondere zu Beginn des Semesters – nicht immer für das Selbststudium genutzt, entnommen werden, dass der zeitliche Aufwand in den ersten Semesterwochen geringer als 22 bzw. 23 Stunden ausgefallen sein wird.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">bb) Ohne die Ausbildung zum Technischen Produktdesigner hätte der Sohn der Klägerin seine Beschäftigung im Rahmen des Arbeits- und Qualifizierungsvertrages nicht aufnehmen können. Damit hat er die durch die Berufsausbildung erlangte Qualifikation genutzt, um eine durch diese eröffnete Berufstätigkeit auszuüben.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Hierfür spricht, dass der Arbeits- und Qualifizierungsvertrag unter der Bedingung geschlossen wurde, dass der Sohn seine Ausbildung zum Technischen Produktdesigner abschließt. Auch liegt die Vergütung leicht über dem durchschnittlichen Einstiegsgehalt eines Produktdesigners (2.500 EUR brutto, vgl. https://www.ausbildung.de/berufe/technischer-produktdesigner/gehalt/).</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Angesichts dieser Umstände fällt nicht ins Gewicht, dass der Arbeits- und Qualifizierungsvertrag nicht auf eine dauerhafte Beschäftigung angelegt ist, sondern nur für die Zeit bis zum Abschluss des Bachelorstudiums abgeschlossen worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">cc) Auch wird die Beschäftigung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht „neben der Ausbildung“ durchgeführt. Vielmehr geht der Sohn der Kläger seinem Verbundstudium „neben der Berufstätigkeit“ nach. Dies zeigt sich darin, dass seine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 28 Stunden beträgt, während das Studium in der Regel nur an dem arbeitsfreien Freitag sowie am Abend und am Wochenende durchgeführt wird. Angesichts dieser Zeiteinteilung fällt nicht in ins Gewicht, dass der Sohn vereinzelt auch während der Arbeitszeit gelernt haben mag.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">dd) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass der Sohn der Klägerin die weitergehende Ausbildungsmaßnahme – also das Verbundstudium – bereits während seiner Berufsausbildung im Rahmen eines dualen Studiums begonnen hat und dass er nach Abschluss seiner Ausbildung im Rahmen eines „Arbeits- und Qualifizierungsvertrages“ angestellt worden ist. Beide Umstände zeigen lediglich, dass die gesamte Ausbildung mit dem Abschluss der Berufsausbildung noch nicht abgeschlossen war, lassen aber keinen Rückschluss darauf zu, ob der zweite Ausbildungsabschnitt im Verhältnis zur Erwerbstätigkeit im Vordergrund steht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">II. Es liegt kein Ausbildungsdienstverhältnis im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG vor.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">1. Ein Ausbildungsdienstverhältnis setzt nach der Rechtsprechung zum Lohnsteuerrecht nicht nur ein Dienstverhältnis besonderer Art voraus, das durch den Ausbildungszweck geprägt ist. Hinzukommen muss, dass die Ausbildungsmaßnahme selbst Gegenstand und Ziel des Dienstverhältnisses ist, die Ausbildung mithin verpflichtender Gegenstand des Arbeitsvertrages ist und die vom Arbeitnehmer geschuldete Leistung, für die der Arbeitgeber bezahlt, in der Teilnahme an der Berufsausbildungsmaßnahme besteht. In Abgrenzung hierzu reicht somit ein normales Dienst- oder Arbeitsverhältnis, das schwerpunktmäßig durch die Erbringung einer Arbeitsleistung nach Weisung des Dienstberechtigten und gegen die Zahlung von Entgelt charakterisiert wird, nicht aus. Selbst wenn das Dienstverhältnis neben der Arbeitsleistung auch berufliche Fortbildungen und Qualifizierungen des Arbeitnehmers zum Gegenstand hat, diese aber nicht den wesentlichen Inhalt des Vertrages ausmachen, wird das Dienstverhältnis nicht zu einem Ausbildungsdienstverhältnis (BFH-Urteil vom 23.06.2015 III R 37/14, BStBl II 2016, 55).</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Nach A 20.3.2 Abs. 2 DA-KG 2022 fehlt es bei berufsbegleitenden und berufsintegrierten dualen Studiengängen häufig an einer Ausrichtung der Tätigkeit für den Arbeitgeber auf den Inhalt des Studiums, sodass in solchen Fällen die Annahme eines Ausbildungsdienstverhältnisses ausscheidet. Liegt hingegen eine Verknüpfung zwischen Studium und praktischer Tätigkeit vor, die über eine bloße thematische Verbindung zwischen der Fachrichtung des Studiengangs und der in dem Unternehmen ausgeübten Tätigkeit oder eine rein organisatorische Verzahnung hinausgeht, ist die Tätigkeit als im Rahmen eines Ausbildungsdienstverhältnisses ausgeübt zu betrachten.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">2. Nach diesen Grundsätzen begründet der „Arbeits- und Qualifizierungsvertrag“ kein Ausbildungsdienstverhältnis.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Zwar lassen die Vertragsbezeichnung und der Umstand, dass der Sohn der Klägerin in verschiedenen Abteilungen eingesetzt wird, darauf schließen, dass der Vertrag auch die berufliche Fortbildung des Sohnes zum Gegenstand hat. Hierfür spricht auch, dass sich die M GmbH auf der Homepage der Fachhochschule bereit erklärt hat, ein Verbundstudium zu unterstützen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Fortbildung macht aber nicht den wesentlichen Inhalt des Vertrages aus. Vielmehr wird der Vertrag schwerpunktmäßig durch die Erbringung einer Arbeitsleistung nach Weisung des Dienstberechtigten und gegen die Zahlung von Entgelt charakterisiert. Hierfür spricht, dass der Sohn der Klägerin eine Vergütung erhält, die nicht unter dem Einstiegsgehalt eines Produktdesigners liegt, seine Tätigkeiten – ausweislich seiner Zeugenaussage – auch eigenverantwortlich durchführt und nach dem Vertragsinhalt auch zu anderen zumutbaren Arbeiten sowie zu Überstunden und Schichtarbeit verpflichtet ist. Auch sind die Beschäftigung und das Studium nicht in der Weise aufeinander abgestimmt, dass die für den Einsatz in den jeweiligen Abteilungen erforderlichen Kenntnisse parallel auch in dem Studium durchgenommen würden.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">III. Schließlich kann offen bleiben, ob bei anderen Studierenden in gleichgelagerten Fällen ein Kindergeldanspruch bejaht worden ist. Denn der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes) gewährt keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis. Eine „Gleichheit im Unrecht“ gibt es nicht (BFH-Urteil vom 24.02.2010 III R 3/08, BFH/NV 2010, 1262).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen. Die Entscheidung ist auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ergangen. Nach Auffassung des Gerichts sind die Grundsätze, die der Bundesfinanzhof für mehraktige Berufsausbildungen aufgestellt hat, auch auf duale Studiengänge – also auf Studiengänge, welche neben einer Berufsausbildung aufgenommen werden – anzuwenden. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann nicht entnommen werden, dass insoweit andere Kriterien heranzuziehen wären.</p>
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346,525 | vg-koln-2022-08-17-23-l-113622 | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 23 L 1136/22 | 2022-08-17T00:00:00 | 2022-09-13T10:01:19 | 2022-10-17T11:10:03 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0817.23L1136.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1.</p>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>2.</p>
<p>Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung seiner Klage im Verfahren 23 K 4044/22 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 13. Juni 2022 wiederherzustellen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen belastenden Verwaltungsakt wiederherstellen bzw. anordnen, wenn bei einer Interessenabwägung das private Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf nach dem zum Entscheidungszeitpunkt gegebenen Erkenntnisstand aller Voraussicht nach erfolglos bleiben wird; bei offensichtlichen Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs überwiegt demgegenüber regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Vorliegend wird die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung vom 13. Juni 2022 ist nach der gebotenen summarischen Prüfung rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Entziehung der Fahrerlaubnis findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 S. 1 FeV.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung ist formell rechtmäßig, insbesondere wurde der Antragsteller gem. § 28 Abs. 1 VwVfG NRW zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis durch Schreiben vom 3. März 2022 angehört.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Ordnungsverfügung ist auch materiell rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 S. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde demjenigen die Fahrerlaubnis zu entziehen, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Als ungeeignet ist gem. § 46 Abs. 1 S. 2 FeV insbesondere derjenige anzusehen, der Erkrankungen oder Mängel nach Anlage 4, 5 oder 6 der FeV aufweist.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach Ziffer 8.1 der Anlage 4 zur FeV ist Alkoholmissbrauch ein die Fahreignung ausschließender Mangel. Alkoholmissbrauch im Sinne dieser Regelung liegt dann vor, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 17. März 2021 – 3 C 3.20 –, BVerwGE 172, 18-37, Rn. 20.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Voraussetzung für jede Entziehung der Fahrerlaubnis ist, dass die Tatsachen, aus denen sich die Ungeeignetheit ergibt, erwiesen sind. Bloße Eignungszweifel genügen nicht. Aufgetretene Bedenken auf einer hinreichend gesicherten Tatsachengrundlage müssen sich vielmehr zu der prognostischen Gewissheit verdichtet haben. Es ist unter Einbeziehung von Mitwirkungspflichten des Betroffenen Sache der Verwaltungsbehörde, den Nachweis der entscheidungserheblichen Tatsachen zu führen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2013 – 16 B 1229/12 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Grundsätzen steht die Ungeeignetheit des Antragstellers fest. Auf Grundlage des medizinisch-psychologischen Gutachtens des TÜV X. vom 26. April 2022 hat der Antragsgegner zu Recht den Schluss gezogen, dass beim Antragsteller aktuell keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen gegeben ist. Das Gutachten weist keine erkennbaren Mängel auf.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Voraussetzungen näher BVerwG, Beschluss vom 30. März 1995 – 8 B 167.94 –, juris.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Es kann dabei offen bleiben, ob die Anordnung des Gutachtens rechtmäßig erfolgte. Hat der Kraftfahrer das von ihm geforderte Gutachten vorgelegt oder sich einer angeordneten Prüfung gestellt, hat sich dadurch die Anordnung in der Weise erledigt, dass von seitens der Behörde rechtswidrig erlangten Erkenntnissen nicht mehr gesprochen werden kann. Zudem schafft das Ergebnis der Prüfung oder des Gutachtens eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat. Ein Verbot, diese Tatsache für die Entscheidung über die Fahrerlaubnisentziehung zu verwerten, lässt sich aus den Regelungen der §§ 11 ff. FeV oder sonstigem innerstaatlichen Recht nicht ableiten. Einem Verwertungsverbot steht auch das Interesse der Allgemeinheit entgegen, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2010 – 3 C 2.10 –, BVerwGE 137, 10-20, Rn. 19, m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das Gutachten ist in sich schlüssig und geht, was die Feststellungen zum alkoholbedingten Vorfall am 2. Mai 2021 betrifft, vom richtigen Sachverhalt aus. Nachvollziehbar und unter Heranziehung wissenschaftlich belegter Erkenntnisse ist im Gutachten ausgeführt, dass der gemessene Blutalkoholwert von 2,28 Promille (Untersuchungsbefund des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Y. vom 4. Mai 2021 über die am 2. Mai 2021 entnommene Blutprobe des Antragstellers) darauf schließen lässt, dass beim Antragsteller eine erhebliche körperliche Alkoholtoleranz auf Basis eines allgemein erhöhten Alkoholkonsums außerhalb des sozial üblichen Rahmens vorliege.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Gutachter haben sich entsprechend der ihnen vorgelegten Fragestellung ausführlich sowohl mit der körperlichen als auch mit der psychologischen Konstitution des Antragstellers auseinandergesetzt. Entgegen der Darstellung des Antragstellers haben sie den ausreichenden körperlichen Untersuchungsbefunden hinreichend Rechnung getragen, ihre negative Prognose indes zulässigerweise auf die psychologischen Befunde gestützt.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Jenseits einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille ist nach dem aktuellen Stand der verkehrsmedizinischen Forschung von einer so ausgeprägten Alkoholtoleranz auszugehen, wie sie durch einen bloß gelegentlichen Konsum von Alkohol bzw. durch einen Konsum innerhalb des gesellschaftlich anerkannten Rahmens nicht zu erklären ist. Menschen mit moderaten Trinkgewohnheiten erreichen eine solche Blutalkoholkonzentration nicht, weil schon zuvor physiologische Prozesse - insbesondere Schläfrigkeit, Schwindel oder starke Übelkeit - auftreten, die einen Abbruch der Alkoholaufnahme erzwingen. Es bedarf eines intensiven "Trinktrainings", also des häufigen vorangegangenen Genusses hoher Alkoholmengen bis an die erwähnte physiologische Grenze und darüber hinaus, um eine entsprechende Giftfestigkeit zu erlangen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juli 2015 – 16 B 584/15 –, Rn. 11-13, juris, m.w.N; BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 – 3 C 32.07 –, BVerwGE 131, 163-171, Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl kann aus einer hohen Alkoholgewöhnung nicht in jedem Fall eine hohe Wahrscheinlichkeit zukünftiger Trunkenheitsfahrten abgeleitet werden. Vielmehr hängt die Gefahr von Trunkenheitsfahrten nicht nur von den Trinkgewohnheiten des Betreffenden ab, sondern auch - etwa - von dem Stellenwert, den das Autofahren oder ganz allgemein die Mobilität in dessen Leben einnimmt. Auch die Verhaltensänderungen im Zustand der Trunkenheit sind erfahrungsgemäß individuell höchst unterschiedlich und reichen von einer trägen und passiven Friedfertigkeit bis hin zu einer starken Neigung zu Selbstüberschätzung und Impulshaftigkeit mit teilweise aggressiven Zügen; daraus folgt, dass rauschbedingte zeitweilige Persönlichkeitsveränderungen einzelfallbezogen zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Trunkenheitsfahrten führen können, insoweit aber keine Zwangsläufigkeit besteht. Daher müssen zu der hohen Alkoholtoleranz weitere tatsächliche Umstände hinzukommen, die in der Gesamtschau mit der gegebenen oder vermuteten Alkoholproblematik bei realistischer Betrachtung die Annahme rechtfertigen, dass das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Solche Umstände liegen in der Regel vor, wenn der jeweilige Fahrerlaubnisinhaber oder Fahrerlaubnisbewerber im Zusammenhang mit der anlassgebenden Alkoholisierung bereits Anstalten zu einer Fahrzeugbenutzung gemacht hat. Eine tatsächliche Trunkenheitsfahrt ist hingegen nicht erforderlich.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juli 2015 – 16 B 584/15 –, Rn. 15 - 16, juris.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Außerdem können aus sonstigen Verhaltensweisen wie der Begehung alkoholtypischer Straftaten außerhalb des Straßenverkehrs, aggressivem Auftreten unter Alkoholeinfluss oder sonstigen irrationalen, auf einen alkoholbedingten Kontrollverlust hindeutenden Handlungen Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit von Trunkenheitsfahrten gezogen werden,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Juli 2015 – 16 B 584/15 –, Rn. 25, juris, m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat am 2. Mai 2021 unter der zuvor genannten Alkoholisierung Anstalten zu einer Fahrzeugbenutzung gemacht. Er wurde von den Polizeibeamten im Fahrzeug mit laufendem Motor sitzend angetroffen. Gegenüber den Polizeibeamten gab der Antragsteller an, dass er die Fahrt antreten wollte. Die Einlassung während der Begutachtung am 26. April 2022, er habe lediglich den Vergaser seines Fahrzeugs überprüfen wollen, stellt sich insoweit als unglaubhaftes verfahrensangepasstes Vorbringen dar.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass das diesbezügliche Strafverfahren nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, hindert nicht an der Verwertung der Erkenntnisse im gefahrenabwehrrechtlichen Verfahren. Es handelt sich gerade nicht um eine gerichtliche Entscheidung im Sinne des § 3 Abs. 4 StVG. Zumal es hier, wie oben dargestellt, auch gar nicht darauf ankommt, ob tatsächlich der Straftatbestand der Trunkenheitsfahrt erfüllt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat im Bescheid zulässigerweise hinsichtlich der Feststellung der Ungeeignetheit des Antragstellers zusätzlich auf die den weiteren Strafverfahren gegen den Antragsteller zugrundeliegenden Geschehnisse im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch abgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner durfte nach § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1, Abs. 3 StPO i. V. m. § 14 Abs. 1 Nr. 7 lit. b) des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) Einsicht in die Strafverfahrensakte nehmen. Nach § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO sind Auskünfte aus Strafakten an öffentliche Stellen zulässig, soweit diesen Stellen in sonstigen Fällen auf Grund einer besonderen Vorschrift von Amts wegen personenbezogene Daten aus Strafverfahren übermittelt werden dürfen. Akteneinsicht kann gewährt werden, wenn die Erteilung von Auskünften einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde (§ 474 Abs. 3 StPO). Gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 7 lit. b) EGGVG ist in Strafsachen die Übermittlung personenbezogener Daten des Beschuldigten, die den Gegenstand des Verfahrens betreffen, u. a. zulässig, wenn die Kenntnis der Daten aus der Sicht der übermittelnden Stelle erforderlich für den Widerruf, die Rücknahme, die Versagung oder Einschränkung einer verkehrsrechtlichen Erlaubnis ist.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"> Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. November 2018 – 16 B 568/18 –, n.v.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Aus den übrigen Strafverfahrensakten (hinsichtlich der Geschehnisse am 3. und 4. Juni 2021 und 6. Januar 2022, auch jeweils nach § 153 Abs. 2 bzw. § 153a Abs. 2 StPO eingestellt) ergibt sich mindestens ein aggressives Auftreten des Antragstellers unter jeweils festgestelltem hohem Alkoholeinfluss, welches auf einen alkoholbedingten Kontrollverlust hindeutet und somit im Zusammenhang mit der festgestellten hohen Alkoholgewöhnung Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit von Trunkenheitsfahrten ziehen lässt. Wegen der Einzelheiten des aggressiven Auftretens wird Bezug genommen auf die im Verwaltungsvorgang enthaltenen Kopien aus den vom Antragsgegner beigezogenen Strafverfahrensakten.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Untersagung der Führung fahrerlaubnisfreier Kraftfahrzeuge beruht ebenfalls auf § 3 Abs. 1 StVG und begegnet aufgrund der vorstehend festgestellten Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Auch unabhängig von der zuvor erörterten Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ordnungsverfügung fällt eine allgemeine, d. h. vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens losgelöste, Interessenabwägung hier zum Nachteil des Antragstellers aus. Zum Schutz von Leib und Leben der übrigen Verkehrsteilnehmer besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse daran, den Antragsteller durch eine sofort wirksame Maßnahme vorläufig von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr auszuschließen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dieser Interessenlage BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Juli 2007 – 1 BvR 305/07 –, juris, Rn. 6; OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Mai 2012 – 16 B 536/12 –, juris, Rn. 33 und vom 26. März 2012 – 16 B 277/12 –, juris, Rn. 23.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins ergibt sich aus § 3 Abs. 2 S. 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der Rechtmäßigkeit der Verfügung begegnen auch die Zwangsmittelandrohung sowie die Gebührenfestsetzung keinen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Dabei ist hinsichtlich der Ordnungsverfügung die Hälfte des für das Hauptsacheverfahren maßgeblichen Betrages (Auffangwert) festgesetzt worden.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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