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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20M%C3%BCnchen%E2%80%93Simbach
Bahnstrecke München–Simbach
|} Die Bahnstrecke München–Simbach ist eine 115 Kilometer lange, teils zweigleisige Hauptbahn in Bayern. Sie führt von München über Markt Schwaben, Dorfen und Mühldorf am Inn bis zur deutsch-österreichischen Grenze zwischen Simbach und Braunau am Inn. Die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen nahmen die Hauptbahn von München zur Staatsgrenze 1871 in Betrieb. Als Teil der kürzesten Verbindung zwischen München und Wien wurde sie bis in die 1890er Jahre von internationalen Fernzügen wie dem Orient-Express befahren; danach ging ihre Bedeutung im Personenfernverkehr zurück. Der Abschnitt München Ost–Markt Schwaben wurde für den Vorortverkehr von 1909 bis 1911 zweigleisig ausgebaut, 1970 elektrifiziert und wird seit 1972 durch die S-Bahn München bedient. Die übrige Strecke ist weiterhin nicht elektrifiziert und überwiegend eingleisig. Durch den Pendlerverkehr nach München und den Güterverkehr des Bayerischen Chemiedreiecks hat sie ein erhebliches Verkehrsaufkommen. Betreiber der Infrastruktur ist zwischen München und Mühldorf die DB Netz AG, zwischen Mühldorf und Simbach Grenze die DB RegioNetz Infrastruktur GmbH im Zuge des RegioNetzes Südostbayernbahn. Der als Teil der Strecke München–Simbach errichtete Abschnitt zwischen München Hbf und München Ost zählt heute zur Bahnstrecke München–Rosenheim. Geschichte Erste Ideen und Streckenvorschläge Zwischen 1857 und 1860 nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen auf der Bayerischen Maximiliansbahn von München über Holzkirchen und Rosenheim nach Salzburg den Betrieb auf. Zur selben Zeit nahmen die Bayerischen Ostbahnen von 1858 bis 1860 die Strecken München–Geiselhöring–Regensburg und Geiselhöring–Straubing–Passau in Betrieb. Das von diesen Bahnstrecken umschlossene Gebiet zwischen München, Salzburg, Passau und Straubing blieb hingegen ohne Eisenbahnanschluss und wurde daher bald als das eisenbahnlose Viereck bezeichnet. Zu Beginn der 1860er Jahre stellten Bürgerkomitees, Abgeordnete und Grundbesitzer zahlreiche Anträge zu einer eisenbahntechnischen Erschließung des Gebietes. Dabei wurden einerseits Nord-Süd-Verbindungen von Rosenheim oder Traunstein nach Regensburg, Straubing oder Passau, andererseits eine West-Ost-Strecke von München in Richtung der österreichischen Grenze vorgeschlagen. Zeitgleich war die Strecke von München nach Rosenheim, die den Verkehr in Richtung Salzburg und Kufstein aufnehmen musste, zunehmend überlastet. Ein zweigleisiger Ausbau war jedoch aufgrund der schwierigen Streckenführung im Teufelsgraben östlich von Holzkirchen nicht möglich. Daher entstand der Vorschlag zu einer Entlastungsstrecke von der Großhesseloher Brücke der Maximiliansbahn über Buchbach und durch das Rottal bis nach Schärding, wo Anschluss an die österreichische Strecke Wels–Passau der Kaiserin Elisabeth-Bahn bestehen sollte. Als weiterer Vorteil der Entlastungsstrecke wurde die erhebliche Verkürzung der Verbindung München–Wien gegenüber der bisherigen Streckenführung über Salzburg genannt. Insbesondere die Stadt Erding und die niederbayerischen Gemeinden Velden, Vilsbiburg, Eggenfelden und Pfarrkirchen sprachen sich für die Variante durch das Rottal aus. Die Gemeinden am Inn setzten sich hingegen für eine weiter südlich verlaufende Streckenführung von der Großhesseloher Brücke über Hohenlinden, Neuötting und Simbach nach Schärding ein. Für den Abschnitt Hohenlinden–Neuötting wurde dabei neben einer Variante durch das Isental eine Alternative über Haag und Mühldorf diskutiert. Die Generaldirektion der Königlichen Verkehrsanstalten erstellte daher 1863 im Auftrag des Königlichen Staatsministeriums des Handels und der öffentlichen Arbeiten ein Gutachten zu den Streckenvarianten. Dabei erwies sich die Strecke über Neuötting in beiden Varianten mit veranschlagten Kosten von etwa 12,2 Millionen Gulden als erheblich günstiger als die Führung durch das Rottal mit 16,3 Millionen Gulden, zudem entspräche die Neuöttinger Variante am besten den Verkehrsverhältnissen. Um die Strecke so direkt wie möglich an die österreichische Grenze zu führen, sprachen sich die Verkehrsanstalten für einen Grenzübergang bei Braunau anstatt bei Schärding aus. Am 24. September 1863 beschloss der Bayerische Landtag daraufhin die Errichtung der Strecke auf „kürzestem Wege“ von München über Neuötting und Simbach nach Braunau. Im Gesetz vom 5. Oktober 1863, „die Vervollständigung und weitere Ausdehnung der bayerischen Staatseisenbahnen betreffend“, genehmigte der Landtag eine Dotation von 15,4 Millionen Gulden für den Streckenbau. Streckenplanung Im November 1865 entschied die Generaldirektion der Königlichen Verkehrsanstalten, die Strecke vom Bahnhof München (heute München Hbf) aus – anstelle der ursprünglich geplanten Mitbenutzung der Bayerischen Maximiliansbahn bis zur Großhesseloher Brücke – auf direkterem Weg über Haidhausen (heute München Ost) zu führen und eine neue Isar­querung mit eigener Brücke weiter nördlich einzurichten. 1866 begannen die Planungen zur genauen Festlegung der Trassenführung. Neben der bereits 1863 erwogenen Variante über Anzing und Haag untersuchten die Verkehrsanstalten eine Streckenführung von München über die Marktgemeinden Schwaben und Dorfen nach Mühldorf. Da aufgrund der günstigen Geländeverhältnisse die Variante über Schwaben und Dorfen mit geringeren Steigungen errichtet werden konnte und zudem mit geringeren Kosten zu rechnen war, entschieden sich die Verkehrsanstalten für diese Variante. Im Abschnitt Mühldorf–Simbach setzte sich der Wallfahrtsort Altötting in einem Gesuch von 1865 für eine Streckenführung zwischen Neu- und Altötting und eine gemeinsame Station für beide Orte ein. Da diese Trasse zwei zusätzliche Brücken über den Inn bei Mühldorf und Marktl erfordert hätte, wurde sie jedoch verworfen und stattdessen eine Station nördlich von Neuötting geplant. Die Verhandlungen zum Bau der österreichischen Streckenfortsetzung von der Grenze bei Braunau zur Bahnstrecke Wels–Passau stießen zunächst auf politische Hindernisse. Die österreichische Regierung sah die Strecke als unnötig an und hatte aufgrund ihrer angespannten finanziellen Lage kein Interesse an neuen Bahnbauten. Eine Beteiligung an den Baukosten lehnte sie daher 1864 ab. Zudem befürchtete die Kaiserin Elisabeth-Bahn eine Konkurrenz zu ihren bestehenden Strecken nach Passau und Salzburg. 1865 gründete Maximilian von Arco-Valley ein Consortium, das am 22. August 1865 durch die österreichische Regierung die Konzession zum Bau und Betrieb der Verbindungsbahn von der Grenze nach Neumarkt im Hausruckkreis erhielt. Umstritten war die Lage des Grenzbahnhofs, der zunächst auf österreichischer Seite in Braunau errichtet werden sollte. 1866 sprachen sich die Verkehrsanstalten hingegen für die Verlegung des Grenzbahnhofes auf die bayerische Seite nach Simbach aus, um die Problematik einer bayerischen Betriebsführung in Österreich zu vermeiden. Durch den preußisch-österreichischen Krieg 1866 wurde der Abschluss eines Vertrages zwischen Bayern und Österreich weiter verzögert. Am 4. Juni 1867 schlossen die bayerische und die österreichische Regierung schließlich den Staatsvertrag „über den Bau und Betrieb einer Eisenbahn von München über Braunau zum Anschluße an die Kaiserin Elisabeth-Bahn bei Neumarkt“. Darin wurde festgelegt, dass der Grenzbahnhof mit allen Einrichtungen in Simbach errichtet werden solle und die Strecken auf beiden Seiten der Grenze innerhalb von drei Jahren fertigzustellen seien. Nach Abschluss des Staatsvertrags begannen 1867 die Detailplanungen des Trassenverlaufs. Die Strecke wurde dafür in sechs Bausektionen München, Schwaben, Dorfen, Mühldorf, Neuötting und Simbach eingeteilt. Die Bauoberleitung übernahm Eisenbahnbaudirektor Karl von Dyck. Als ingenieurtechnischer Referent war Karl Schnorr von Carolsfeld, später Generaldirektor der Bayerischen Staatseisenbahnen, an der Bauleitung beteiligt. Errichtung und Inbetriebnahme Im Frühjahr 1868 begannen die Bauarbeiten an der Strecke mit der Vergabe der Baulose an selbstständige Unternehmer. Die Trasse wurde auf ganzer Länge für einen späteren zweigleisigen Ausbau ausgelegt. Größere Erdarbeiten erforderte die Errichtung eines Einschnittes an der Wasserscheide zwischen Isar und Inn bei Obergeislbach. Der dabei gewonnene Aushub wurde zum Teil für den Bahndamm über das Hammerbachtal verwendet. Zwischen Neuötting und Marktl musste das Flussbett des Inns für die Errichtung der Bahntrasse verlegt werden; dabei wurden unter Einsatz einer Feldbahn 250.000 Kubikmeter Bruchsteine verbaut. Die aufwendigsten Arbeiten waren im Bereich der Sektion Simbach erforderlich: Zwischen Simbach und Braunau errichteten die bayerischen Verkehrsanstalten eine knapp 400 Meter lange Brücke über den Inn. Zudem waren zur Herstellung des Planums für den Grenzbahnhof Simbach großflächige Aufschüttungen notwendig. Während bei den Bauarbeiten in den ersten fünf Sektionen keine größeren Probleme auftraten, kam es bei den Großprojekten in der Sektion Simbach zu Verzögerungen. Am 20. Dezember 1870 nahm die Kaiserin Elisabeth-Bahn die österreichische Strecke von Braunau nach Neumarkt in Betrieb, während die Innbrücke noch immer nicht vollendet war. Aufgrund der nicht termingerechten Fertigstellung mussten die bayerischen Verkehrsanstalten 100.000 Gulden als Konventionalstrafe an die Kaiserin Elisabeth-Bahn entrichten. Mit einem Vertrag vom 6. März 1871 wurden der österreichische Teil des Grenzbahnhofs Simbach und die weiterführende Strecke bis zur Staatsgrenze an die Kaiserin Elisabeth-Bahn verpachtet, die als Betreiberin der österreichischen Anschlussstrecke den Fahrdienst zwischen Simbach und Braunau übernehmen sollte. Bereits am 15. März 1871 ging der 10 km lange zweigleisige Abschnitt im Münchner Stadtgebiet vom Bahnhof München über die Isar nach Haidhausen (ab 1876: München Ostbahnhof) in Betrieb, der als Gürtelbahn bezeichnet wurde. Am 12. April 1871 verkehrte ein erster Probezug von München nach Neuötting. Wegen der Verzögerungen an der Innbrücke entschied sich die Generaldirektion der Königlichen Verkehrsanstalten, zunächst nur den Abschnitt bis Neuötting zu eröffnen. Am 1. Mai 1871 nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen mit einer feierlichen Eröffnung den vorläufigen Betrieb auf der Teilstrecke Haidhausen–Neuötting auf. Nachdem die Innbrücke Mitte Mai fertiggestellt werden konnte, ging schließlich am 1. Juni 1871 der verbliebene Abschnitt von Neuötting über Simbach nach Braunau in Betrieb. Die Baukosten für die 124,51 km lange Strecke von München bis zur Staatsgrenze betrugen insgesamt 30.900.142 Mark und lagen damit um etwa 5,4 Millionen Mark über den 1863 veranschlagten Kosten. Erste Betriebsjahre Bei ihrer Inbetriebnahme verfügte die Hauptbahn München–Simbach über elf Bahnhöfe und sechs Personenhaltstellen (Haltepunkte), die bis 1907 auf 19 Bahnhöfe und fünf Haltepunkte erweitert wurden. Bereits am 15. März 1871 hatten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Hauptbahn von München über Grafing nach Rosenheim als weitere Abkürzungs- und Entlastungsstrecke für die alte über Holzkirchen führende Maximiliansbahn in Betrieb genommen. Die zweigleisige Gürtelbahn zwischen München (ab 1876: München Centralbahnhof) und Haidhausen (ab 1876: München Ostbahnhof) wurde von den Zügen nach Simbach und Rosenheim gemeinsam genutzt. Während die Gürtelbahn ursprünglich als Teil der Strecke München–Simbach geplant und errichtet worden war, wurde sie später Teil der Strecke München–Rosenheim; die Kilometrierung der Simbacher Strecke begann fortan erst in München Ost. Die Strecke München–Simbach beschleunigte die Wege aus dem bisherigen eisenbahnlosen Viereck in die Hauptstadt München erheblich und führte damit zu einem Aufschwung der Region östlich von München. Die Fahrgastzahlen und die Menge der transportierten Güter stiegen in den ersten Betriebsjahren stetig an. Dabei wiesen die Zwischenstationen Schwaben (heute Markt Schwaben), Dorfen, Mühldorf, Neuötting und Marktl das größte Verkehrsaufkommen auf. Bereits kurz nach der Eröffnung reichte die Ausstattung einiger Stationen für das gestiegene Verkehrsaufkommen nicht mehr aus. Die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen bauten daher bis 1881 die bisherigen Haltstellen Hörlkofen und Weidenbach zu Bahnhöfen mit Güterabfertigung und einem Ausweichgleis für Zugkreuzungen aus. Mit der Verstaatlichung der Kaiserin Elisabeth-Bahn ging die Betriebsführung zwischen Simbach und der Staatsgrenze 1884 auf die k.k. Staatsbahnen über. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Bahnstrecke München–Simbach Teil der bedeutendsten Bahnverbindung zwischen München und Wien. Mit dem zweigleisigen Ausbau der Strecken München–Rosenheim und Rosenheim–Salzburg bis 1898 verlor die weiterhin eingleisige Strecke über Simbach ihre Bedeutung im grenzüberschreitenden Verkehr zugunsten der Relation über Rosenheim, Salzburg und die Westbahn. Ausbau für den Vorortverkehr und Erster Weltkrieg Zum 1. Mai 1897 nahmen die Bayerischen Staatseisenbahnen zwischen München Ostbahnhof und Schwaben einen Vorortverkehr auf. Dafür richteten sie in diesem Streckenabschnitt die neuen Haltepunkte Zamdorf, Heimstetten und Grub ein. Die Einführung des Vorortverkehrs führte zu einem starken Anstieg des Fahrgastaufkommens: Die Zahl der verkauften Fahrkarten an den Stationen Riem, Feldkirchen, Poing und Schwaben erhöhte sich von 76.582 im Betriebsjahr 1896 auf 169.482 im Betriebsjahr 1899. Für das steigende Verkehrsaufkommen reichte die bisherige Streckenkapazität nicht mehr aus. Von 1900 bis 1903 zentralisierten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen die Weichen- und Signalbedienung in den Zwischenstationen durch die Einrichtung mechanischer Stellwerke. Auf dem durch den Vorortverkehr besonders stark ausgelasteten Abschnitt von München Ostbahnhof nach Schwaben planten die Bayerischen Staatseisenbahnen in den 1900er Jahren die Errichtung eines zweiten Streckengleises. Für den geplanten Bau des neuen Rangierbahnhofs München Ost war zwischen München Ostbahnhof und Riem zudem eine Streckenverschwenkung um etwa einen Kilometer nach Süden notwendig. Am 1. Mai 1909 nahmen die Bayerischen Staatseisenbahnen die neue zweigleisige Trasse von München Ostbahnhof nach Riem in Betrieb, die 260 Meter länger als die bisherige Trasse war. Die alte Trasse wurde durch die 1909 eröffnete Lokalbahn München Ost–Ismaning bei Zamdorf unterbrochen, während das Gleis östlich und westlich davon zunächst erhalten blieb. Der östliche Teil des alten Streckengleises wurde mit einer Verbindungskurve an die Ismaninger Strecke angeschlossen und noch bis 1932 als Anschlussbahn durch Sonderzüge zur Trabrennbahn Daglfing genutzt; 1933 wurde das Gleis abgebaut. Die Bauarbeiten für den zweigleisigen Ausbau des Abschnittes Riem–Schwaben begannen im Januar 1910. Zwei Bahnübergänge in Poing und Schwaben wurden dafür durch Straßenunterführungen ersetzt. Am 15. März 1911 ging das zweite Gleis von Riem bis Feldkirchen, am 12. April 1911 bis Poing und noch im selben Jahr schließlich bis Schwaben in Betrieb. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs kamen die Planungen für weitere Streckenausbauten und die Bauarbeiten am Rangierbahnhof München Ost zum Erliegen. Durch Militärtransporte und den Güterverkehr aus den Rüstungsbetrieben im späteren Bayerischen Chemiedreieck erlangte die Strecke erhebliche Bedeutung. Der Reisezugverkehr wurde hingegen zugunsten des Güterverkehrs eingeschränkt. Wegen Kohlenmangels verringerten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Zahl der Reisezüge zum Sommerfahrplan 1918 weiter auf drei tägliche Zugpaare. Gleichzeitig führten sie auf dem Abschnitt Mühldorf–Simbach eine Nachtruhe von 20:00 Uhr bis 4:40 Uhr ein, in der die Stationen nicht besetzt waren und kein Zugverkehr stattfand. Nach Ende des Krieges blieb der Verkehr durch den Brennstoffmangel und einen hohen Schadbestand der Fahrzeuge zunächst weiterhin eingeschränkt. Die Nachtruhe zwischen Mühldorf und Simbach blieb bis Ende der 1930er Jahre bestehen. Deutsche Reichsbahn und Zweiter Weltkrieg Für die Errichtung des Innkanals und des Wasserkraftwerks Töging erstellte die Innwerk, Bayerische Aluminium AG um 1920 eine Versorgungsbahn zum Transport von Baumaterial. Die provisorische Strecke zweigte zwischen Mühldorf und Töging bei Kilometer 79,5 von der Hauptbahn München–Simbach ab und wurde nach dem Ende der Bauarbeiten wieder zurückgebaut. Als Gleisanschluss zu ihrer am Kraftwerk gelegenen Aluminiumhütte errichtete die Innwerk AG von 1922 bis 1923 eine Werksbahn, die im Bahnhof Töging von der Hauptbahn abzweigte. 1924 nahm der Rangierbahnhof München Ost den vollständigen Betrieb auf. Für den Güterverkehr in Richtung Mühldorf und Simbach erbaute die Deutsche Reichsbahn ab 1925 eine eingleisige Verbindungsbahn vom Rangierbahnhof zum Bahnhof Riem. Am 1. März 1926 ging die 3,32 Kilometer lange Verbindungsstrecke, die nördlich der beiden Streckengleise der Hauptbahn München–Simbach verlief, in Betrieb. Mit dem „Anschluss“ Österreichs fielen im März 1938 die Pass- und Zollkontrollen im bisherigen Grenzbahnhof Simbach weg. Auf dem Streckenabschnitt von Simbach zur Innbrücke und der weiterführenden Strecke nach Neumarkt-Kallham übernahm die Deutsche Reichsbahn den Betrieb von den Österreichischen Bundesbahnen. Mit Ausnahme eines touristischen Eilzugpaares gab es jedoch weiterhin keine durchgehenden Reisezüge. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Strecke München–Simbach erneut von großer Bedeutung für Rüstungstransporte von den Chemiewerken rund um Mühldorf. Für den stark ansteigenden Güterverkehr errichtete die Deutsche Reichsbahn von 1939 bis 1942 in Mühldorf einen neuen Rangierbahnhof westlich der bisherigen Bahnhofsanlagen. Um längere Güter- und Wehrmachts­züge einsetzen zu können, verlängerte sie 1941 unter Einsatz von Kriegsgefangenen die Ausweichgleise der Zwischenstationen. Am 1. Januar 1942 nahm die Deutsche Reichsbahn eine eingleisige Verbindungsstrecke vom Bahnhof Feldkirchen zum Münchner Nordring, die Feldkirchner Tangente, in Betrieb, die den Güterzügen auf der Simbacher Strecke eine Umfahrung Münchens ermöglichte. Kriegsbedingt baute die Deutsche Reichsbahn ab 1941 auf dem Abschnitt Feldkirchen–Markt Schwaben das zweite Gleis in Richtung Simbach zurück; bis zum 10. September 1942 war es vollständig demontiert und wurde vermutlich an die Ostfront abgefahren. Lediglich der Abschnitt von München Ost nach Feldkirchen blieb zweigleisig befahrbar. Aufgrund ihrer strategischen Bedeutung war die Strecke gegen Ende des Krieges zunehmend Ziel von Luftangriffen, von denen insbesondere die Stationen München Ost, Dorfen Bahnhof und Mühldorf betroffen waren. Bei Bombenvorwarnungen für München mussten die Züge oftmals bereits in den Stationen Feldkirchen und Riem enden oder über die Feldkirchner Tangente und den Münchner Nordring umgeleitet werden. 1944 richtete die SS entlang der Simbacher Strecke die KZ-Außenlager Mettenheim und Thalham ein, die zum KZ-Außenlagerkomplex Mühldorf gehörten. Am 19. März 1945 führten die United States Army Air Forces einen schweren Luftangriff auf den Bahnhof Mühldorf aus, bei dem weite Teile des Bahnhofs zerstört und 129 Menschen getötet wurden. Drei bis vier Wochen lang war über Mühldorf kein durchgehender Verkehr mehr möglich. Für die Bergungs- und Aufräumarbeiten setzte die Deutsche Reichsbahn Arbeitstrupps aus KZ-Häftlingen ein. Mit dem Herannahen der amerikanischen Truppen transportierte die SS die Häftlinge der Außenlager im April 1945 in Güterwagen über die Strecke München–Simbach in Richtung München ab. Nachdem ein Güterzug mit etwa 3600 Häftlingen bei Poing zum Stehen gekommen war, wurden am 27. April durch die SS und einen zeitgleich stattfindenden Tieffliegerangriff fünfzig Häftlinge getötet. Am 17., 24. und 29. April 1945 war der Bahnhof Dorfen Ziel von Tieffliegerangriffen, die einen Lazarettzug und ein benachbartes Tanklager schwer beschädigten. Vor dem Eintreffen der amerikanischen Soldaten sprengte eine Wehrmachtseinheit am 1. Mai 1945 die Innbrücke zwischen Simbach und Braunau. Noch am selben Tag wurde die Strecke durch die amerikanischen Truppen eingenommen. S-Bahn-Ausbau und Verkehrsrückgang im Ostabschnitt Nach dem Kriegsende war die Strecke aufgrund der Zerstörungen zunächst nur eingeschränkt befahrbar. Für ein halbes Jahr fuhren lediglich Güterzüge bei Bedarf. Erst im Herbst 1945 konnte die Deutsche Reichsbahn zwischen München und Simbach den regulären Reisezugverkehr wiederaufnehmen. Die wenigen Züge waren zu Beginn aufgrund von Hamsterfahrten überfüllt. 1946 wurde die Innbrücke durch Einbau einer Kriegsbrücke wiederhergestellt, sodass ab dem 18. Dezember 1946 wieder Zugverkehr der amerikanischen Besatzer über die deutsch-österreichische Grenze stattfand. Bis 1949 erreichte der Reisezugverkehr wieder in etwa den Stand der Vorkriegszeit. Die seit dem Kriegsende nicht mehr befahrene Feldkirchner Tangente wurde 1949 stillgelegt und abgebaut. 1956 baute die Deutsche Bundesbahn das 1942 abgebaute zweite Streckengleis zwischen Feldkirchen und Markt Schwaben wieder auf. Bis 1968 ertüchtigte sie den Streckenabschnitt München–Mühldorf für eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h; seit den 1980er Jahren sind auf einzelnen Abschnitten 140 km/h zulässig. 1959 nahmen die Stadt München und die Deutsche Bundesbahn Planungen auf, den bisher vom Vorortverkehr bedienten Streckenabschnitt München Ost–Markt Schwaben und die Zweigstrecke Markt Schwaben–Erding in ein Münchner S-Bahn-System zu integrieren. Die Bauarbeiten zur Anpassung der Strecke für den S-Bahn-Betrieb begannen 1968. Die Stationen zwischen München Ost und Markt Schwaben erhielten neue 76 cm hohe und 210 m lange Bahnsteige mit höhenfreien Bahnsteigzugängen. Um S-Bahn-Züge aus Richtung Trudering über die Simbacher Strecke zum Bahnhof München Ost weiterführen zu können, richtete die Deutsche Bundesbahn östlich des Haltepunkts Berg am Laim zum 1. April 1970 die Abzweigstelle Baumkirchen mit anschließendem Überwerfungsbauwerk ein. Zwischen dem Bahnhof München Ost und dem neu eingerichteten S-Bahn-Haltepunkt Leuchtenbergring entstanden für den S-Bahn-Verkehr zwei eigene Gleise, während für die Züge von und nach Mühldorf auf dem ersten Streckenkilometer fortan nur noch ein Gleis zur Verfügung stand. Zudem elektrifizierte die Deutsche Bundesbahn den Abschnitt München Ost–Markt Schwaben mit 15 kV,  Hz Wechselspannung und stattete ihn dafür mit einer Regeloberleitung der Bauart Re 160 aus. Die Oberleitung ging am 7. September 1970 in Betrieb; am 27. September 1970 begann der planmäßige elektrische Zugbetrieb bis Markt Schwaben und weiter nach Erding. Am 28. Mai 1972 nahm die S-Bahn München den Betrieb von München über Markt Schwaben nach Erding auf. Gleichzeitig wurde der durch die S-Bahn befahrene Streckenabschnitt in den neuen Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) integriert. Auf dem Streckenabschnitt Mühldorf–Simbach ging das Verkehrsaufkommen hingegen ab den 1950er Jahren kontinuierlich zurück. Durch schlechte Anschlüsse an die Züge der Österreichischen Bundesbahnen im Bahnhof Simbach verlor die grenzüberschreitende Verbindung zunehmend an Bedeutung. In den Planungen für ihr Betriebswirtschaftlich optimales Netz sah die Deutsche Bundesbahn in den 1970er Jahren zunächst eine Stilllegung des Abschnittes von Töging nach Simbach vor, die sie jedoch nicht umsetzte. Nachdem der Bestand der Strecke gesichert war, erneuerten die Österreichischen Bundesbahnen von 1977 bis 1978 die Tragwerke der Innbrücke zwischen Simbach und Braunau. Bis 1981 erhöhte die Deutsche Bundesbahn die Streckengeschwindigkeit zwischen Mühldorf und Simbach von 100 km/h auf 120 km/h. Von 1979 bis 1980 baute sie die Bahnhöfe Neuötting, Perach und Buch (Inn) zu Haltestellen zurück, sodass zwischen Mühldorf und Simbach nur die Bahnhöfe Töging und Marktl für Zugkreuzungen verblieben. 1986 stellte sie schließlich den Personenverkehr an den Haltestellen Perach und Buch ein, 1987 folgte die Auflassung des Haltepunkts Julbach. Zwischen Riem und Feldkirchen errichtete die Deutsche Bundesbahn von 1989 bis 1992 südlich der Streckengleise einen Umschlag- und Containerbahnhof. Der Umschlagbahnhof München-Riem ging am 28. September 1992 in Betrieb und ist nur in Richtung Westen über den Bahnhof Riem an die Strecke München–Simbach angebunden. 2002 ging die Streckeninfrastruktur auf dem Abschnitt Mühldorf–Simbach Grenze einschließlich des Bahnhofs Mühldorf von DB Netz auf die Südostbayernbahn, ein RegioNetz der Deutschen Bahn, über. Gleichzeitig übernahm die Südostbayernbahn von DB Regio zum 15. Dezember 2002 den Betrieb des Schienenpersonennahverkehrs zwischen München, Mühldorf und Simbach als Teil des Liniensterns Mühldorf. Ausbaustrecke München–Mühldorf–Freilassing Zur Verbesserung des Fernverkehrs von München nach Salzburg war im Bundesverkehrswegeplan 1980 ein Ausbau der Bahnstrecken München–Rosenheim und Rosenheim–Salzburg vorgesehen. Anfang der 1980er Jahre schlug die Bundesbahndirektion München als Alternative einen Ausbau des Streckenabschnittes München–Mühldorf und der anschließenden Strecke Mühldorf–Freilassing vor. Gegenüber dem Ausbau der Strecken über Rosenheim, der erhebliche Neutrassierungen erfordert hätte, sollte eine Ausbaustrecke über Mühldorf aufgrund der günstigen Streckenführung und einer in Teilen bereits für zwei Gleise vorbereiteten Trassierung kostengünstiger sein. In der Folge nahm die Bundesregierung die Ausbaustrecke München–Mühldorf–Freilassing in den Bundesverkehrswegeplan 1985 auf und veranschlagte dafür Baukosten von 630 bis 670 Millionen D-Mark. 1990 begann die BD München mit den konkreten Planungsarbeiten für den Streckenausbau. Im bereits zweigleisigen Abschnitt München Ost–Markt Schwaben sah sie einen viergleisigen Ausbau durch Verlegung separater S-Bahn-Gleise, im Abschnitt Markt Schwaben–Mühldorf einen durchgehend zweigleisigen Ausbau und mehrere Linienverbesserungen für eine Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h vor. Die Fertigstellung der Ausbaustrecke war ursprünglich für 2000 vorgesehen. Aufgrund vorübergehender Unterbrechungen der Planung, mehrfacher Planungsänderungen und starker Kostensteigerungen wurde die Umsetzung des Projektes jedoch immer weiter verschoben. Um den seit 1972 bestehenden eingleisigen Engpass im Osten des Bahnhofs München Ost zu beseitigen, verlegte die Deutsche Bahn in einer Vorabmaßnahme die Simbacher Strecke 2003 zwischen München Ost und dem neu eingerichteten Bahnhofsteil München-Riem West auf eine neue Trasse. Dafür errichtete sie über das Gelände des seit 1991 größtenteils stillgelegten Rangierbahnhofs München Ost die 4,7 km lange zweigleisige Umfahrung Berg am Laim. Am 14. Dezember 2003 nahm die Deutsche Bahn die neue Streckenführung in Betrieb. Der Bau der Umfahrung kostete etwa 30 Millionen Euro, von denen zwei Drittel der Freistaat Bayern trug. Die bisherige Trasse über den Haltepunkt Berg am Laim erhielt die neue Streckennummer 5553 und wird seitdem nur noch durch den S-Bahn-Verkehr genutzt. Der viergleisige Ausbau der weiteren Strecke von München-Riem West bis Markt Schwaben wird seit dem Jahr 2010 nicht mehr verfolgt. Im Juni 2008 begannen die Bauarbeiten für den zweigleisigen Ausbau des 7,8 Kilometer langen Abschnittes von Ampfing bis zur Brücke über den Innkanal bei Altmühldorf. Im Zuge des Ausbaus gestaltete die Deutsche Bahn den Bahnhof Ampfing vollständig um und ersetzte zwei Bahnübergänge in Ampfing durch Eisenbahnüberführungen; die Baukosten betrugen 50 Millionen Euro. Im Dezember 2010 ging das zweite Streckengleis zwischen Ampfing und Altmühldorf in Betrieb. Die Arbeiten für die Fortführung des zweiten Gleises über 3,9 Kilometer von Altmühldorf bis in den Bahnhof Mühldorf begannen im Juli 2013. Die zweigleisige Brücke der Strecken München–Simbach und Rosenheim–Mühldorf über den Innkanal wurde bis Herbst 2015 durch eine neue dreigleisige Brücke ersetzt. Am 22. Mai 2017 nahm die Deutsche Bahn den zweigleisigen Betrieb zwischen Altmühldorf und Mühldorf auf. Im Bundesverkehrswegeplan 2030 sind der verbleibende zweigleisige Ausbau von Markt Schwaben bis Ampfing und die Elektrifizierung der Strecke Markt Schwaben–Mühldorf–Freilassing als Maßnahmen des „vordringlichen Bedarfs“ vorgesehen. Die Vorplanung für den Abschnitt Markt Schwaben–Ampfing wurde im April 2017 abgeschlossen; 2020 befanden sich alle Planungsabschnitte in der Entwurfsplanung. In der Verkehrspolitik der Europäischen Union ist die Ausbaustrecke im Rahmen der Transeuropäischen Netze Teil des Kernnetzkorridors Rhein – Donau zwischen Straßburg und Budapest. Über eine Neubaustrecke von der Bahnstrecke München–Simbach zum Flughafen München, die sogenannte Walpertskirchener Spange, soll die Verkehrsanbindung Südostbayerns sowie Oberösterreichs und des Landes Salzburg an den Flughafen verbessert werden. Die Strecke soll zudem mit der Daglfinger Kurve aus Richtung München-Riem direkt an den Münchner Nordring und mit der Truderinger Kurve an die Bahnstrecke München–Rosenheim angebunden werden. Mit Stand November 2018 ist der Bau dieser Verbindungskurven für den Zeitraum 2026–2029 geplant. Mit Stand Oktober 2022 sind die mittlerweile überarbeiteten Planungen umstritten, weil sie den für den Brennerbasistunnel-Zulauf zu erwartenden Verkehr und die damit verbundene Lärmbelästigung nicht genügend berücksichtigen würden. Aktuell müssen Züge, die auf die genannten Strecken übergehen sollen, im Bahnhof München Ost bzw. München Ost Rangierbahnhof wenden. Der dritte Gutachterentwurf zum Deutschlandtakt vom 30. Juni 2020 schlägt eine neue Fernverkehrslinie von München über Simbach nach Wien vor. Dazu sind für die Daglfinger Kurve, die Truderinger Kurve, den Umbau des Bahnhofs Riem, sowie die Entflechtung der S-Bahn zwischen Riem und München Ost Umbauten im Umfang von 199 Millionen Euro vorgesehen (zum Preisstand 2015). Weitere 136 Millionen Euro sind für eine Elektrifizierung zwischen Mühldorf und Braunau angesetzt, 16 Millionen Euro ferner für einen neuen Kreuzungsbahnhof in Julbach. Unfälle Am 13. Oktober 1909 stießen zwei Güterzüge in der westlichen Ausfahrt des Bahnhofs Thann-Matzbach frontal zusammen und entgleisten. Ursache war ein Fahrdienstleiterfehler, nachdem eine Zugkreuzung vom Bahnhof Dorfen in den Bahnhof Thann-Matzbach verlegt worden war. 13 Menschen wurden verletzt. Diese sehr hohe Zahl von Verletzten bei einem Güterzugunfall kam dadurch zustande, dass damals zahlreiche Bremser auch auf Güterzügen mitfuhren. Am 8. Januar 1941 stießen bei Wasentegernbach ein Zug der Wehrmacht und ein Güterzug zusammen. Ein Mensch starb, vier weitere wurden verletzt. Ursache war auch hier ein Fehler der Fahrdienstleiter von Dorfen und Schwindegg, die – vorschriftswidrig – die Zugfahrten nicht per Telegraf, sondern per Telefon vereinbart hatten, wobei es zu einem Missverständnis kam. Der schwerste Unfall auf dieser Strecke war der Eisenbahnunfall von Walpertskirchen am 8. November 1951, als – wieder nach einem Fahrdienstleiterfehler – ein Personenzug frontal auf einen Nahgüterzug auffuhr. 16 Menschen starben, 41 wurden darüber hinaus verletzt. Streckenbeschreibung Zwischen München Ost und Markt Schwaben ist die Strecke auf 21,1 km zweigleisig ausgebaut und elektrifiziert. Für die S-Bahn München sind zwischen München Ost und München-Riem West eigene Gleise vorhanden; im weiteren Verlauf bis Markt Schwaben wird die Strecke durch die S-Bahn-Züge mitbenutzt. In Markt Schwaben endet die Elektrifizierung. Zwischen Markt Schwaben und Ampfing ist die Strecke trotz eines erheblichen Personen- und Güterverkehrsaufkommens auf ca. 45 km zudem nur eingleisig. Ab Ampfing schließt sich ein 8 km langer zweigleisiger Ausbauabschnitt bis Mühldorf an. Der 40,3 km lange Abschnitt von Mühldorf bis zur Staatsgrenze bei Simbach ist wiederum nur eingleisig. Die Streckenhöchstgeschwindigkeit liegt bei 140 km/h. Verlauf München – Markt Schwaben Die Bahnstrecke München–Simbach beginnt bei Streckenkilometer 0,0 im Bahnhof München Ost. Bis 1909 führte die Strecke ab dem Nordende des Bahnhofs nach einer leichten Rechtskurve geradlinig in nordöstlicher Richtung, südlich an Zamdorf vorbei, bis zum Bahnhof Riem – den Verlauf der alten Trasse kann man heute noch teilweise am Wegenetz in geradliniger Verlängerung der Bahnhofsachse Riem Richtung Westen nahezu bis zur A94 nachvollziehen. Seit der Streckenverlegung biegt sie, parallel zu den Bahnstrecken nach Rosenheim und Ismaning, nach Osten ab und verläuft entlang der Grenze der Stadtteile Steinhausen im Norden und Berg am Laim im Süden. Bis 2003 führte die Strecke in diesem Bereich südlich am Rangierbahnhof München Ost entlang. Seit Eröffnung der Umfahrung Berg am Laim verlaufen die Fernbahngleise nördlich der noch betriebenen Rangierbahnhofsgleise auf dem Gelände der ehemaligen Richtungsgleise, während die bisherigen Streckengleise als S-Bahn-Gleise dienen. Östlich des Haltepunkts Berg am Laim trennt sich die Strecke von der Bahnstrecke München–Rosenheim und biegt nach Nordosten ab. Zwischen den Fern- und S-Bahn-Gleisen verläuft die eingleisige Verbindungsstrecke vom Rangierbahnhof München Ost zum Bahnhof Riem. Westlich des Gewerbegebiets Am Moosfeld kreuzen die Fernbahngleise die Verbindungsstrecke höhengleich und vereinigen sich im Bahnhofsteil München-Riem West mit den S-Bahn-Gleisen. Am Westende des Bahnhofs Riem bei Kilometer 6,2 trifft die Strecke in einer leichten Rechtskurve auf die ursprüngliche Trasse. Zwischen Riem und Dornach hindurch führt sie an der Münchner Stadtgrenze entlang und nördlich am Umschlagbahnhof München-Riem vorbei. Westlich von Feldkirchen trifft aus nordwestlicher Richtung die Trasse der Feldkirchner Tangente auf die Simbacher Strecke. An eine leichte Linkskurve am Westende des Bahnhofs Feldkirchen bei Kilometer 10,2 schließt sich eine neun Kilometer lange Gerade an, die südlich am Heimstettener See vorbeiführt und die Ortsgebiete von Heimstetten und Poing durchquert. Die Trasse verlässt die Münchner Schotterebene und biegt nördlich des Wildparks Poing an einem Endmoränenrest nach Nordosten Richtung Markt Schwaben ab. Markt Schwaben – Mühldorf Am Bahnhof Markt Schwaben bei Kilometer 21,1 zweigt nach Norden die Bahnstrecke nach Erding ab. Ab hier ist die Strecke nur noch eingleisig und verläuft weitgehend geradlinig mit einem stetigen Gefälle von 5 ‰ in nordöstlicher Richtung. Südlich von Ottenhofen überquert sie die Anzinger und Forstinninger Sempt und bei Unterschwillach die Schwillach, bevor sie am südlichen Ortsrand von Hörlkofen bei Kilometer 29,2 den Bahnhof Hörlkofen erreicht. Auf einem 18 Meter hohen Bahndamm durchquert die Strecke Walpertskirchen und das Tal des Hammerbachs. Etwa zwei Kilometer nordöstlich von Walpertskirchen biegt sie in einer Rechtskurve nach Osten ab und überwindet in einem 19 Meter tiefen Einschnitt die Wasserscheide zwischen Isar und Inn. Bei Obergeislbach überquert sie den Geislbach und erreicht bei Kilometer 38,5 den Bahnhof Thann-Matzbach, an dem die Bahnstrecke Thann-Matzbach–Haag nach Süden abzweigte. Im weiteren Verlauf fällt die Trasse in das Tal der Isen ab, überquert bei Esterndorf ein zweites Mal den Geislbach und dann, nach einer leichten Rechtskurve, die Isen. Nach einer Linkskurve wieder in Richtung Nordosten führend, verläuft die Strecke am südlichen Stadtrand von Dorfen entlang. Am Bahnhof Dorfen bei Kilometer 47,1 zweigte Richtung Norden die Nebenbahn nach Velden ab. Dem Tal der Isen folgend führt die Strecke mit vielen Kurven in Richtung Osten und durchquert Wasentegernbach. Nach dem Bahnhof Schwindegg bei Kilometer 54,0 überquert sie im Ortsgebiet von Schwindegg die Goldach und den Ornaubach. Bei Ziegelsham biegt sie nach Südosten ab, verläuft am Nordrand von Weidenbach entlang und schwenkt nördlich von Heldenstein wieder nach Osten. Kurzzeitig parallel zur Autobahn A 94 verlaufend, erreicht sie das Ortsgebiet von Ampfing. Ab dem Bahnhof Ampfing bei Kilometer 66,7 ist die Strecke bis Mühldorf wieder zweigleisig. Nach Verlassen des Ampfinger Ortsgebietes überquert sie die A 94, führt zwischen dem Waldgebiet Mühldorfer Hart im Süden und dem Ort Mettenheim-Hart im Norden hindurch und trifft auf die von Südwesten kommende Bahnstrecke Rosenheim–Mühldorf. Gemeinsam mit dieser überquert sie den Innkanal und führt nördlich an Altmühldorf vorbei zum Bahnhof Mühldorf (Oberbay) bei Streckenkilometer 74,8. Mühldorf – Staatsgrenze Noch im Stadtgebiet von Mühldorf überquert die Bahnstrecke in Kilometer 76,0 zum zweiten Mal den Innkanal, der bis Töging direkt südlich der Strecke verläuft. Dabei fällt sie allmählich zum Inntal hin ab. Die Strecke durchquert das Töginger Ortsgebiet und erreicht bei Kilometer 80,6 den Bahnhof Töging, an dessen Ostende eine Werksbahn zum Töginger Industriegebiet abzweigte. In einer Doppelkurve südlich an Winhöring vorbeiführend wird bei Kilometer 86,6 erneut die Isen überquert. Der ehemalige Bahnhof Neuötting bei Kilometer 87,8 liegt im Winhöringer Ortsteil Eisenfelden, etwa zwei Kilometer nördlich der Stadt Neuötting am anderen Ufer des Inns. Nach einer weiteren Doppelkurve verläuft die Trasse ab Perach am linksseitigen Hang des Inntals an der Innstaustufe des Kraftwerks Perach vorbei. Ab Kilometer 96,4 führt sie auf einem Bahndamm in einem langgezogenen Rechtsbogen zwischen dem Inn auf der rechten und einem See auf der linken Seite hindurch, der durch die Flusskorrektur beim Bahnbau aus einem Altwasserarm des Inns entstand. Nach einer kleinen Linkskurve liegt der Bahnhof Marktl bei Kilometer 100,8. Ab hier verläuft die Strecke auf der ebenen Hochterrasse des Inntals nördlich an Stammham vorbei, mit einer Brücke bei Kilometer 104,6 über den Türkenbach und südlich an den Orten Buch und Julbach vorbei. Bei Machendorf fällt die Trasse auf ein tieferes Plateau ab und erreicht nach drei Kilometern den Grenzbahnhof Simbach (Inn), an dem bis 1969 die Bahnstrecke nach Pocking abzweigte. Nach einem engen Rechtsbogen mit einem Radius von nur 300 Metern südlich des Simbacher Ortskerns wird auf einer stählernen Fachwerkbrücke der Inn zur benachbarten Stadt Braunau am Inn überquert. In der Mitte der Innbrücke befindet sich bei Kilometer 115,1 der Grenzpunkt zwischen Deutschland und Österreich, an dem die Strecke München–Simbach in die Strecke Neumarkt-Kallham–Braunau übergeht. Betriebsstellen München Ost Der Bahnhof München Ost () ging bereits am 15. März 1871 als Bahnhof Haidhausen mit der Gürtelbahn vom Bahnhof München in Betrieb. Mit Eröffnung der Strecken nach Simbach und Rosenheim wurde er noch 1871 zum Trennungsbahnhof. 1876 erhielt er den Namen München Ostbahnhof, der 1911 zu München Ost verkürzt wurde. 1898 nahmen die Bayerischen Staatseisenbahnen eine Lokalbahn nach Deisenhofen und 1909 eine Lokalbahn nach Ismaning in Betrieb. Seit 1972 endet am Bahnhof die Stammstrecke der S-Bahn München. Bahnhofsteile sind der 1924 fertiggestellte Rangierbahnhof München Ost und die 1972 eröffnete S-Bahn-Station Leuchtenbergring. München-Berg am Laim Der Haltepunkt München-Berg am Laim () wurde an der Simbacher Strecke am 1. Mai 1916 unter dem Namen Berg am Laim für den Vorortverkehr eröffnet. Er ersetzte einen 1915 aufgelassenen Haltepunkt gleichen Namens an der Bahnstrecke München–Rosenheim. 1970 errichtete die Deutsche Bundesbahn östlich des Haltepunkts die Abzweigstelle Baumkirchen (heute München-Berg am Laim Abzw), an der eine Verbindungsstrecke zum Bahnhof München-Trudering abzweigt. Seit 1972 halten in Berg am Laim die S-Bahn-Linien in Richtung Erding und Ebersberg. Zamdorf Der Haltepunkt Zamdorf () ging am 11. Juli 1897 in Betrieb und wurde nur durch den kurz zuvor aufgenommenen Vorortverkehr München Ostbahnhof–Markt Schwaben bedient. Er befand sich an einem Bahnübergang östlich des Ortes Zamdorf in der Gemeinde Berg am Laim. Als die Strecke für die Errichtung des Rangierbahnhofs München Ost im Bereich von Zamdorf nach Süden verschwenkt wurde, ließen die Bayerischen Staatseisenbahnen den Haltepunkt zum 1. Mai 1909 wieder auf. Ersatzweise richteten sie am 5. Juni 1909 einen neuen Haltepunkt Zamdorf an der neu eröffneten Lokalbahn München Ost–Ismaning ein, der bis 1959 in Betrieb blieb. Trabrennbahn Der Haltepunkt Trabrennbahn () befand sich südlich der Tribüne der Trabrennbahn Daglfing. Die Bayerischen Staatseisenbahnen richteten den Haltepunkt 1902 zur Eröffnung der Trabrennbahn ein und bedienten ihn ausschließlich an den Renntagen mit Sonderzügen. Um den Haltepunkt nach der Streckenverlegung 1909 weiterhin bedienen zu können, wurde er über eine Verbindungskurve an die Lokalbahn München Ost–Ismaning angebunden und dabei geringfügig verlegt. 1932 wurden die Sonderzüge zu den Pferderennen durch Busse ersetzt und der Haltepunkt aufgelassen. München-Riem Der Bahnhof München-Riem () liegt an der Stadtgrenze zwischen dem Münchner Stadtteil Riem und dem Aschheimer Ortsteil Dornach. Er ging als Personenhaltstelle mit dem Namen Riem in Betrieb und wurde 1893 zum Bahnhof ausgebaut. Seit 1926 endet am Bahnhof Riem eine eingleisige Verbindungsstrecke vom Rangierbahnhof München Ost. Der Bahnhof wird seit 1972 im Personenverkehr regulär nur noch durch die S-Bahn bedient. 1992 nahm östlich des Personenbahnhofs der Umschlagbahnhof München-Riem Ubf den Betrieb auf. Feldkirchen (b München) Der Bahnhof Feldkirchen (b München) () im Norden der Gemeinde Feldkirchen ging gemeinsam mit der Strecke als Ausweichstation für den Güter- und Personenverkehr mit zwei Hauptgleisen in Betrieb. Zwischen 1895 und 1910 wurden die Gleisanlagen des Bahnhofs erheblich erweitert. Durch mehrere Gleisanschlüsse erlangte er größere Bedeutung im Güterverkehr. Von 1941 bis 1949 zweigte im Bahnhof Feldkirchen die Feldkirchner Tangente als Verbindungsstrecke zum Münchner Nordring ab. Seit 1972 wird er im Personenverkehr ausschließlich durch die S-Bahn bedient. Heimstetten Der Haltepunkt Heimstetten () liegt am südlichen Ortsrand von Heimstetten in der Gemeinde Kirchheim bei München. Die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen nahmen den Haltepunkt am Schrankenposten 4 am 1. Mai 1897 mit Aufnahme des Vorortverkehrs in Betrieb. Er verfügte über ein kleines Betriebsgebäude mit einem Wartesaal und einem Dienstraum für den Haltestellenwärter. Für den S-Bahn-Betrieb erhielt der Haltepunkt um 1970 zwei neue Außenbahnsteige. In den 1970er Jahren richtete die Deutsche Bundesbahn östlich der Bahnsteige eine Ausweichanschlussstelle (Awanst) ein, über die mehrere Industriebetriebe im Gewerbegebiet südlich des Haltepunkts mit Gleisanschlüssen angebunden wurden. Das Gebäude des ehemaligen Schrankenpostens ist erhalten und steht leer. Grub (Oberbay) Der Haltepunkt Grub (Oberbay) () befindet sich südlich des Poinger Ortsteils Grub. Er ging am 1. Mai 1897 mit der Aufnahme des Vorortverkehrs am Schrankenposten 5 in Betrieb. Wie am Haltepunkt Poing wurde ein kleines Betriebsgebäude mit Wartesaal und Dienstraum errichtet. Bis etwa 1950 hielten in Grub neben den Personenzügen des Vorortverkehrs einzelne Nah- und Eilgüterzüge, die Milch von der Landwirtschaftlichen Versuchsanstalt in Grub zum Milchhof in München transportierten. Im Zuge des Ausbaus für den geplanten S-Bahn-Betrieb stattete die Deutsche Bundesbahn den Haltepunkt um 1970 mit zwei neuen Außenbahnsteigen aus. Anstelle des bisherigen Bahnübergangs entstand über dem Haltepunkt eine Straßenbrücke, von der Treppen zu den Bahnsteigen führen. Poing Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Poing () liegt westlich des Ortszentrums von Poing, östlich des Poinger Industriegebietes. Er ging als einfache Personenhaltstelle mit Schrankenposten in Betrieb und war mit einem zweigeschossigen Haltstellgebäude der größeren Ausführung und einem Abort­gebäude neben dem Streckengleis ausgestattet. 1893 bauten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Haltstelle zu einem Bahnhof mit einem Ausweichgleis und einem Ladegleis aus. Er erhielt westlich des bisherigen Gebäudes ein neues zweigeschossiges Empfangsgebäude, ein Nebengebäude und einen hölzernen Güterschuppen am Ladegleis. Das alte Haltstellgebäude wurde als Schrankenposten und Wärterhaus weitergenutzt und ein weiteres Wechselwärterhaus am Westende der Station eingerichtet. Ab 1900 war am Westende des Bahnhofs ein privater Gleisanschluss vorhanden. Mit dem zweigleisigen Streckenausbau ersetzten die Bayerischen Staatseisenbahnen den Bahnübergang im östlichen Bahnhofsbereich durch eine Straßenunterführung. Ab 1968 stattete die Deutsche Bundesbahn die Station für den S-Bahn-Verkehr mit zwei neuen Außenbahnsteigen und einer Bahnsteigunterführung aus. Dabei baute sie den Bahnhof zum 1. Juni 1969 zu einer Haltestelle zurück und richtete stattdessen weiter östlich eine Blockstelle ein. In den 1980er Jahren wurde der Güterschuppen abgebrochen. 2004 baute die Deutsche Bahn das Ladegleis und den Gleisanschluss zurück, sodass die Haltestelle Poing zum Haltepunkt wurde. Neben dem nicht mehr für Bahnzwecke genutzten Empfangsgebäude sind noch das Haltstellgebäude und das Abortgebäude aus der Eröffnungszeit erhalten. Markt Schwaben Der Bahnhof Markt Schwaben () nahm unter dem Namen Schwaben als Ausweich- und Wasserstation den Betrieb auf. Mit der Eröffnung der Vizinalbahn nach Erding wurde er 1872 zum Trennungsbahnhof mit drei Hauptgleisen. Ab 1897 war der Bahnhof Endpunkt des Münchner Vorortverkehrs. Nach mehreren Erweiterungen verfügte er ab 1919 über fünf Hauptgleise und mehrere Gleisanschlüsse. Bis 1925 benannte die Deutsche Reichsbahn den Bahnhof Schwaben in Markt Schwaben um. Für den S-Bahn-Verkehr wurde er um 1970 umgebaut und mit zwei Mittelbahnsteigen ausgestattet. Hörlkofen Der Bahnhof Hörlkofen () befindet sich am südöstlichen Ortsrand von Hörlkofen in der Gemeinde Wörth. Bei seiner Eröffnung verfügte er als einfache Personenhaltstelle über ein zweigeschossiges Haltstellgebäude der größeren Ausführung am Streckengleis. Aufgrund seiner Lage an der Districtstraße Erding–Hohenlinden war er Umsteigestation zu den Pferdepostkursen nach Erding, Hohenlinden und Isen, sodass sich die Betriebsanlagen bald als zu klein erwiesen. 1875 bauten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Haltstelle daher zu einem Bahnhof mit beschränktem Güterverkehr aus. Er erhielt ein 358 Meter langes Ausweichgleis, ein Ladegleis mit Laderampe, ein Nebengebäude mit Güterlokal und zwei Wechselwärterhäuser an den Stationsenden. Durch die Verlängerung des Ausweichgleises auf die übliche Länge von 500 Metern wurde der Bahnhof 1881 zur vollwertigen Ausweichstation. Für das steigende Verkehrsaufkommen vergrößerten die Bayerischen Staatseisenbahnen 1893 das Empfangsgebäude durch eine Erweiterung nach Osten und ein drittes Obergeschoss; zudem errichteten sie einen Güterschuppen am Ladegleis. 1906 entstand gegenüber dem Empfangsgebäude ein Eisenbahnerwohnhaus. Um 1925 richtete die Deutsche Reichsbahn am Ostende des Bahnhofs Gleisanschlüsse zu einer Ziegelei und einem Lagerhaus ein, die vor 1985 wieder zurückgebaut wurden. Der Güterschuppen wurde 1984 abgebrochen. Im Dezember 1993 stellte die Deutsche Bundesbahn den Wagenladungsverkehr in Hörlkofen ein. Seit der Stilllegung des Ladegleises sind nur noch das durchgehende Hauptgleis mit Zwischenbahnsteig und das Ausweichgleis am Hausbahnsteig in Betrieb. Das Empfangsgebäude wird weiterhin für den Bahnbetrieb genutzt; zudem ist noch das Nebengebäude erhalten. Walpertskirchen Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Walpertskirchen () liegt nordwestlich des Walpertskirchener Ortszentrums. Bei seiner Eröffnung verfügte der Bahnhof neben dem durchgehenden Hauptgleis mit Zwischenbahnsteig über ein Ausweichgleis am Hausbahnsteig und ein einseitig nach Westen angebundenes Ladegleis mit Rampe. An Hochbauten waren ein zweigeschossiges Empfangsgebäude, ein Abortgebäude, ein Güterschuppen am Ladegleis und zwei Wechselwärterhäuser an den Einfahrweichen vorhanden. Im Zuge der Zentralisierung verlängerten die Bayerischen Staatseisenbahnen 1900 das Ausweichgleis und banden das Ladegleis mit vier Weichen beidseitig an. Zudem errichteten sie im Osten des Bahnhofs ein beidseitig angebundenes Abstellgleis, das bis 1909 der Übergabe von Güterwagen von der im Nachbarbahnhof Thann-Matzbach abzweigenden Lokalbahn nach Haag auf die Hauptbahn diente. 1963 wurde das nicht mehr genutzte Abstellgleis zurückgebaut. Zum 1. August 1966 legte die Deutsche Bundesbahn das Ausweichgleis still und wandelte den Bahnhof Walpertskirchen in eine unbesetzte Haltestelle um. Das seitdem leerstehende Empfangsgebäude und der Güterschuppen wurden im April 1976 abgebrochen. Im Juni 1983 richtete die Deutsche Bundesbahn in Walpertskirchen eine an das Ladegleis angebundene Entladeanlage ein, die der Anlieferung von Schüttgut für das örtliche Raiffeisen-Lagerhaus diente. Zum 22. Mai 1993 wurde der örtliche Güterverkehr eingestellt. Mitte 1994 legte die Deutsche Bahn das Ladegleis und die Schüttgutanlage still und baute sie im November 1994 zurück, sodass die Haltestelle zum Haltepunkt wurde. Der Haltepunkt ist mit einem Seitenbahnsteig ausgestattet; von den Hochbauten ist noch das westliche Wechselwärterhaus erhalten. Obergeislbach Die im Rahmen des Projekts Erdinger Ringschluss geplante Abzweigstelle Obergeislbach () soll südwestlich des Ortes Obergeislbach liegen. Die Planungen sehen eine höhenfreie Abzweigung der hier beginnenden eingleisigen Walpertskirchener Spange aus der zukünftig zweigleisig ausgebauten Strecke vor. Dabei soll das Gleis der Walpertskirchener Spange mittig beginnen und das nördliche Gleis der Strecke München–Simbach in Form eines Überwerfungsbauwerks in einem Einschnitt überqueren, um dann nach Nordwesten Richtung Erding zu führen. Eine Inbetriebnahme der Betriebsstelle zusammen mit der abzweigenden Strecke wird im Jahr 2027 erwartet. Thann-Matzbach Der Bahnhof Thann-Matzbach () befindet sich östlich des Ortes Thann, 1,5 Kilometer nördlich des Ortszentrums der Gemeinde Lengdorf. Die Bayerischen Staatseisenbahnen nahmen die Station Thann-Lengdorf am 20. Juni 1887 als Haltstelle mit beschränktem Güterdienst in Betrieb. Mit der Errichtung der abzweigenden Lokalbahn nach Haag wurde er 1900 zum Trennungsbahnhof ausgebaut und in Thann-Matzbach umbenannt. Seit der Stilllegung des letzten Streckenabschnittes der Nebenbahn 1991 ist Thann-Matzbach nur noch Zwischenbahnhof der Hauptbahn. Dorfen Bahnhof Der Bahnhof Dorfen Bahnhof () liegt einen Kilometer südwestlich der Altstadt von Dorfen. Er ging als Ausweich- und Wasserstation unter dem Namen Dorfen in Betrieb und war die bedeutendste Station zwischen München und Mühldorf. Mit der Eröffnung der Lokalbahn nach Velden wurde er 1898 zum Trennungsbahnhof und 1903 in Dorfen Bahnhof umbenannt. Der Bahnhof war Sitz von zwei Bahnmeistereien. Mit der Stilllegung der Nebenbahn 1993 wurde er wieder zum Zwischenbahnhof. Wasentegernbach Der Haltepunkt Wasentegernbach () im Norden des Ortes Wasentegernbach ging am 15. Oktober 1898 in Betrieb. Er entstand auf Initiative des örtlichen Gastwirtes aus dem Schrankenposten 19; als Stationsgebäude diente das bisherige Postengebäude. Ab 1900 war der Haltepunkt als Station mit beschränktem Güterdienst für die Stückgutverladung zugelassen. 1915 richteten die Bayerischen Staatseisenbahnen einen privaten Gleisanschluss für den Getreidehandel an der Bahnhofsrestauration ein und bauten den Haltepunkt dafür zum Bahnhof mit eigenem Stellwerk aus. Für den stets geringen Güterverkehr wurde am Gleisanschluss ein ausgemusterter Güterwagen als behelfsmäßiger Güterschuppen aufgestellt. Vor 1952 wurde der Bahnhof zu einer Haltestelle zurückgestuft. Aufgrund seiner geringen Benutzung gab die Deutsche Bundesbahn den Gleisanschluss zum 11. Oktober 1982 auf und baute die Haltestelle zum Haltepunkt zurück. Am 29. Mai 1988 wurde der Haltepunkt Wasentegernbach aufgelassen. 2017 hob die Deutsche Bahn den verbliebenen Schrankenposten im Zuge einer Erneuerung der Bahnübergangstechnik auf und brach das Stationsgebäude und den Bahnsteig ab. Schwindegg Der Bahnhof Schwindegg () befindet sich am nördlichen Ortsrand von Schwindegg, etwa 500 Meter westlich von Schloss Schwindegg. Bei seiner Inbetriebnahme war der Bahnhof mit einem dreigeschossigen Empfangsgebäude, zwei Abortgebäuden, einem Güterschuppen und zwei Wechselwärterhäusern an den Stationsenden ausgestattet. Die Gleisanlagen bestanden aus dem durchgehenden Hauptgleis am Hausbahnsteig, einem Ausweichgleis mit Zwischenbahnsteig und einem einseitig nach Westen angebundenen Ladegleis am Güterschuppen, von dem ein Stumpfgleis zu Laderampe abzweigte. Später wurde zur Erweiterung der Nutzlängen die Lage von durchgehendem Hauptgleis und Ausweichgleis getauscht, sodass fortan das Ausweichgleis am Hausbahnsteig lag. Um 1900 banden die Bayerischen Staatseisenbahnen die Ortsgüteranlage beidseitig an und verlegten zwischen Ausweich- und Ladegleis ein zusätzliches Abstellgleis, das sie zwischen Bahnsteigen und Empfangsgebäude hindurch bis zu einem Holzladeplatz im Osten der Station verlängerten. Zudem errichteten sie nahe dem Empfangsgebäude ein Wohnhaus für Bahnbedienstete. Für das hohe Güteraufkommen waren an der Ortsgüteranlage vor dem Ersten Weltkrieg sieben private Ladehallen vorhanden. 1970 wurde das bis dahin als Stumpfgleis ausgeführte Gleis zum Holzladeplatz auch auf der Ostseite an das Ausweichgleis angebunden. Von 1984 bis 1985 baute die Deutsche Bundesbahn die meisten Nebengleise zurück: Neben den zwei Hauptgleisen verblieb das nur noch einseitig nach Osten angebundene ehemalige Holzladegleis, das noch als Anschluss für ein Lagerhaus im Westen des Bahnhofs diente. Das ab den 1990er Jahren nicht mehr genutzte Ladegleis wurde um 2015 abgebaut. Das Empfangsgebäude ist erhalten und wird weiterhin für den Bahnbetrieb genutzt. Weidenbach Der Bahnhof Weidenbach () liegt im Osten des Ortes Weidenbach, zwei Kilometer nordwestlich von Heldenstein. Er wurde als Personenhaltstelle eröffnet und war zu Beginn nur mit einem einfachen Bahnsteig am Streckengleis, einem zweigeschossigen Haltstellgebäude der größeren Ausführung und einem Abortgebäude ausgestattet. Aufgrund des stark angestiegenen Verkehrsaufkommens bauten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Station 1881 zum Bahnhof aus und errichteten ein Ausweichgleis mit Bahnsteig sowie ein Ladegleis mit Güterschuppen und Laderampe. 1893 vergrößerten die Bayerischen Staatseisenbahnen das zu klein gewordene Stationsgebäude durch eine Erweiterung nach Osten und ein drittes Obergeschoss. 1984 baute die Deutsche Bundesbahn das beidseitig angebundene Ladegleis bis auf ein kurzes Stück zurück, das noch als Gleisanschluss zu einem landwirtschaftlichen Lagerhaus diente. Seit dem Rückbau dieses Gleisanschlusses sind nur noch das durchgehende Hauptgleis mit Zwischenbahnsteig und das Ausweichgleis am Hausbahnsteig vorhanden. Der Bahnhof hat ein sehr geringes Fahrgastaufkommen und wird nur noch von einzelnen Zügen bedient. Das Empfangsgebäude und das Nebengebäude sind erhalten. Ampfing Der Bahnhof Ampfing () befindet sich mitten im Ampfinger Ortsgebiet südwestlich des Zentrums. Er war von Beginn an mit drei Hauptgleisen, einem Ausweichgleis am Hausbahnsteig, dem durchgehenden Hauptgleis mit Zwischenbahnsteig und einem weiteren Ausweichgleis ohne Bahnsteig, ausgestattet. An Hochbauten waren ein dreigeschossiges Empfangsgebäude, zwei Abortgebäude, ein Güterschuppen und zwei Wechselwärterhäuser an den Bahnübergängen am West- und Ostende der Station vorhanden. Im Westen des Bahnhofs befand sich die einseitig angebundene Ortsgüteranlage mit Stumpfgleisen zur Laderampe und zum Güterschuppen. In Ampfing gab es bis 1930 eine Bahnmeisterei, die zunächst in einem Anbau am Güterschuppen, ab 1896 östlich des Empfangsgebäudes untergebracht war. 1900 errichteten die Bayerischen Staatseisenbahnen zwischen dem Ladegleis und dem nördlichen Ausweichgleis ein Abstellgleis für Güterwagen. Später entstand am Ostende des Bahnhofs ein privater Gleisanschluss zu einer Imprägnieranstalt. Die Deutsche Bundesbahn richtete in den 1960er Jahren südlich der Hauptgleise einen Gleisanschluss zu einer Mineralölfirma ein. Mit dem zweigleisigen Streckenausbau zwischen Ampfing und Altmühldorf baute die Deutsche Bahn den Bahnhof bis Dezember 2010 vollständig um. Der Bahnhof erhielt an den Gleisen 1 und 2 zwei neue barrierefreie Außenbahnsteige; das bahnsteiglose Ausweichgleis 3 wurde abgebaut. Das Empfangsgebäude wird weiterhin genutzt und enthält eine Fahrkartenverkaufsstelle. Mühldorf (Oberbay) Der Bahnhof Mühldorf (Oberbay) () war als betrieblicher Mittelpunkt der Strecke von Beginn an mit umfangreichen Hochbauten, einer Wasserstation und einem Lokschuppen ausgestattet. Seit der Eröffnung der Hauptbahn nach Plattling 1875, der Hauptbahn nach Rosenheim 1876, der Lokalbahn nach Burghausen 1897 und der Hauptbahn nach Freilassing 1908 ist Mühldorf ein wichtiger Bahnknotenpunkt. Die bisherige Lokstation wurde 1926 zum selbstständigen Bahnbetriebswerk. Von 1939 bis 1942 erweiterte die Deutsche Reichsbahn den Bahnhof um einen großen Rangierbahnhof. Töging (Inn) Der Bahnhof Töging (Inn) () befindet sich im Osten der Stadt Töging am Inn. Er ging am 15. Oktober 1882 als Haltstelle an einem bestehenden Schrankenposten in Betrieb und war die erste neu eingerichtete Station nach der Streckeneröffnung. Als Stationsgebäude diente das Gebäude des Schrankenpostens, das dafür auf der Ostseite einen Anbau mit Dienst- und Warteraum erhielt. 1907 bauten die Bayerischen Staatseisenbahnen den Haltepunkt zum Bahnhof aus und statteten ihn mit einem Ausweichgleis und einem Stellwerk aus. Ab 1922/23 zweigte am Ostende des Bahnhofs eine Werksbahn der Innwerk, Bayerische Aluminium AG ab, für die am Bahnhof Töging umfangreiche Ausbauten stattfanden. Südlich der zwei bestehenden Hauptgleise richtete die Deutsche Reichsbahn im Osten zwei Übergabegleise für den Verkehr zur Werksbahn und im Westen eine beidseitig angebundene Ortsgüteranlage mit Laderampe und Güterschuppen ein; im Norden verlegte sie ein zweites Ausweichgleis mit Bahnsteig. Zudem errichtete sie westlich des bisherigen Stationsgebäudes bis 1923 ein neues zweigeschossiges Empfangsgebäude und ein Nebengebäude. Das alte Stationsgebäude, das seit 1924 als Wohngebäude diente, wurde 1964 abgebrochen. Ab den 1970er Jahren baute die Deutsche Bundesbahn die Gleisanlagen in Töging schrittweise zurück. Ende 2013 wurde die Werksbahn gesperrt und 2021 die Anschlussweiche demontiert. Zum 1. Januar 2016 schloss die Deutsche Bahn die Güterverkehrsstelle Töging. Damit sind nur noch das durchgehende Hauptgleis am Hausbahnsteig und ein Ausweichgleis mit Zwischenbahnsteig in Betrieb. Das Empfangsgebäude von 1923 ist erhalten. Neuötting Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Neuötting () liegt im Ortsteil Eisenfelden der Gemeinde Winhöring, etwa 2,5 Kilometer nördlich der Altstadt von Neuötting. Von Mai bis Juni 1871 war er für einen Monat provisorische Endstation der Strecke aus München, danach Ausweich- und Wasserstation mit Sitz einer Bahnmeisterei. Von 1906 bis 1930 begann auf dem Bahnhofsvorplatz die Dampfstraßenbahn Neuötting–Altötting. 1980 wurde der Bahnhof zur Haltestelle und 2015 zum Haltepunkt zurückgebaut. Das leerstehende Empfangsgebäude steht unter Denkmalschutz. Perach Der Bahnhof Perach () im Süden der Gemeinde Perach war ursprünglich nicht vorgesehen und wurde nachträglich in die Streckenplanung eingefügt. Er war als einfache Personenhaltstelle zunächst mit einem zweigeschossigen Haltstellgebäude und einem Bahnsteig am Streckengleis ausgestattet. Ende der 1890er Jahre bauten die Bayerischen Staatseisenbahnen den Haltepunkt zum Bahnhof aus und errichteten ein Ausweichgleis mit Bahnsteig und einen hölzernen Güterschuppen. 1900 entstand südlich der Hauptgleise ein beidseitig angebundenes Abstellgleis, von dem im Osten ein Gleisanschluss zu einem Lagerhaus abzweigte. Die Deutsche Bundesbahn wandelte den Bahnhof zum 1. Februar 1980 in eine unbesetzte Halte- und Ausweichanschlussstelle um; dabei baute sie das Ausweichgleis und Teile des Abstellgleises zurück. Es verblieben lediglich das durchgehende Hauptgleis und der Gleisanschluss zum Lagerhaus, der von Mühldorf aus bedient wurde. Am 1. Juni 1986 stellte die Deutsche Bundesbahn den Personenverkehr an der Haltestelle Perach ein. Der Güterverkehr an der verbliebenen Ausweichanschlussstelle endete 1991. Das Empfangsgebäude und der Güterschuppen sind erhalten und in Privatbesitz. Marktl Der Bahnhof Marktl () liegt nordöstlich des Zentrums von Marktl auf der Gemeindegrenze zwischen Marktl und Stammham. Der Bahnhof war bei seiner Eröffnung mit einem zweigeschossigen Empfangsgebäude, einem Abortgebäude, einem Güterschuppen und zwei Wechselwärterhäusern an den Stationsenden ausgestattet. Die Gleisanlagen bestanden aus dem durchgehenden Hauptgleis am Hausbahnsteig, nördlich davon zwei bahnsteiglosen Ausweichgleisen und im Westen des Bahnhofs einem einseitig angebundenen Ladegleis am Güterschuppen mit einem Stumpfgleis zur Laderampe. Der Bahnhof Marktl hatte im Viehversand nach dem Bahnhof Simbach das zweitgrößte Verkehrsaufkommen entlang der Strecke. 1886 richteten die Bayerischen Staatseisenbahnen daher östlich des Empfangsgebäudes ein Stumpfgleis zur Viehverladung ein. 1900 wurde im Zuge der Zentralisierung die Lage des durchgehenden Hauptgleises und des südlichen Ausweichgleises getauscht; fortan lag das Ausweichgleis am Hausbahnsteig und das durchgehende Hauptgleis an einem neuen Zwischenbahnsteig. Zugleich banden die Bayerischen Staatseisenbahnen die Ortsgüteranlage beidseitig an und verlegten ein zusätzliches Abstellgleis zwischen Lade- und Ausweichgleis. Anfang der 1930er Jahre entstanden im Westen des Bahnhofs zwei private Gleisanschlüsse, die an die Ortsgüteranlage angebunden waren. Die Deutsche Bundesbahn begann Ende der 1970er Jahre mit dem Rückbau der Nebengleise. 1991 stellte die Deutsche Bundesbahn die Güterverladung in Marktl ein. Inzwischen sind nur noch die drei Hauptgleise vorhanden, von denen zwei mit Bahnsteigen ausgestattet sind. 2020 errichtete die Deutsche Bahn anstelle des bisherigen Haus- und Zwischenbahnsteigs einen barrierefreien Mittelbahnsteig, der weiterhin über einen höhengleichen Zugang erreichbar ist. Das Empfangsgebäude und der Güterschuppen sind erhalten. Buch (Inn) Der Bahnhof Buch (Inn) () befand sich im Ortsteil Buch der Gemeinde Julbach. Er wurde als Personenhaltstelle mit Schrankenposten errichtet und war mit einem zweigeschossigen Haltstellgebäude der größeren Ausführung und einem Abortgebäude neben dem Streckengleis ausgestattet. 1899 bauten die Bayerischen Staatseisenbahnen den Haltepunkt zum Bahnhof mit Güterverkehr aus. Sie errichteten nördlich des durchgehenden Hauptgleises ein Ausweichgleis mit Bahnsteig und ein neues zweigeschossiges Empfangsgebäude. Das bisherige Haltstellgebäude diente weiterhin als Wohngebäude und Schrankenposten. Im oder nach dem Ersten Weltkrieg erhielt der Bahnhof östlich des Empfangsgebäudes eine beidseitig angebundene Ortsgüteranlage mit einem Güterschuppen, einer Laderampe und einer Ladestraße. Zum 27. Mai 1979 stufte die Deutsche Bundesbahn den Bahnhof zu einer unbesetzten Halte- und Ausweichanschlussstelle zurück und baute das Ausweichgleis ab. Am 1. Juni 1986 gab sie den Personenverkehrshalt in Buch auf. 1991 wurde der Güterverkehr eingestellt und das Ladegleis in der Folge zurückgebaut. Die Empfangsgebäude von 1871 und 1899 sind als Wohnhäuser erhalten. Julbach Der Haltepunkt Julbach () im Südosten der Gemeinde Julbach ging am 20. Juni 1907 an der Stelle des Schrankenpostens 42 in Betrieb. Er war lediglich mit einem eingeschossigen Stationsgebäude in Holzbauweise westlich des Bahnübergangs ausgestattet. Später erhielt er noch einen hölzernen Güterschuppen östlich des Bahnübergangs. Am 30. September 1978 hob die Deutsche Bundesbahn den Schrankenposten auf; seitdem war der Haltepunkt nicht mehr besetzt. Zum 31. Mai 1987 wurde der Haltepunkt aufgelassen und die Gebäude wurden kurz darauf abgebrochen. Auf Initiative der Gemeinde Julbach nahm die Südostbayernbahn am 30. Juni 2004 einen neuen Haltepunkt in Julbach in Betrieb, der aus einem barrierefreien Seitenbahnsteig westlich des Bahnübergangs besteht. Die Baukosten von etwa 400.000 Euro wurden zu drei Vierteln durch den Freistaat Bayern, zu einem Viertel durch die Gemeinde und die Südostbayernbahn getragen. Simbach (Inn) Der Bahnhof Simbach (Inn) () im Süden der Gemeinde Simbach am Inn wurde als Grenzbahnhof zwischen Bayern und Österreich errichtet. Der Bahnhof war mit großzügigen Gleisanlagen und Hochbauten, zwei Betriebswerkstätten und einer Wasserstation ausgestattet. Von 1910 bis 1969 war er Trennungsbahnhof, an dem die Lokalbahn nach Pocking und Kößlarn abzweigte. Mit dem Rückgang des grenzüberschreitenden Verkehrs und dem Wegfall der Grenzkontrollen verlor er an Bedeutung und ist nur noch Umsteigepunkt zwischen deutschen und österreichischen Regionalzügen. Hochbauten Die Generaldirektion der Königlichen Verkehrsanstalten erstellte bis zum 30. Oktober 1867 ein erstes Programm für die Hochbauten an der Bahnstrecke München–Simbach, das sie 1868 noch einmal überarbeitete. In einer im September 1869 erstellten Kostenübersicht veranschlagte die Generaldirektion für die Hochbauten an den Zwischenstationen – ohne die Bahnhöfe Haidhausen und Simbach – Baukosten von 470.990 Gulden. Architekt war zunächst Friedrich Bürklein, später Jakob Graff. Alle Hochbauten der Strecke wurden in Sichtziegelbauweise ausgeführt. Die Empfangsgebäude waren überwiegend zwei- bis dreigeschossige Bauten mit flachen Walmdächern in unterschiedlichen Größen, die aufgrund ihrer Form als bayerische Würfel bezeichnet werden. Die in der ursprünglichen Planung noch nicht vorgesehenen Haltstellen Riem und Perach erhielten zweigeschossige quadratische Haltstellgebäude einfachster Bauart. Die Gebäude waren im Erdgeschoss mit einem Dienstraum und einem Warteraum ausgestattet; in einem kleinen Anbau befanden sich die Bahnhofstoiletten. An den übrigen Haltstellen in Poing, Hörlkofen, Weidenbach und Buch entstanden zweigeschossige Haltstellgebäude der größeren Ausführung mit einer Grundfläche von 9,00 m × 8,50 m. Neben Dienst- und Warteraum enthielten sie im Erdgeschoss noch eine Vorhalle. Alle diese Gebäude erwiesen sich nach dem Ausbau der Haltstellen zu Bahnhöfen als zu klein. In Hörlkofen und Weidenbach wurden die Stationsgebäude 1893 erweitert und aufgestockt, in Poing und Buch 1893 und 1899 durch Neubauten ersetzt. Die kleineren Bahnhöfe Feldkirchen und Walpertskirchen wurden mit zweigeschossigen Empfangsgebäuden auf einer Grundfläche von 14,20 m × 9,90 m ausgestattet. Der Bahnhof Schwindegg erhielt ein dreigeschossiges Gebäude mit gleichem Grundriss. Das Erdgeschoss bestand aus einer Vorhalle mit Fahrkartenschalter, einem Wartesaal erster und zweiter Klasse, einem Wartesaal dritter Klasse und einem Dienstraum; teilweise war zudem ein Zimmer für den Stationsdiener vorhanden. An den größeren Bahnhöfen Schwaben und Ampfing errichteten die Bayerischen Staatseisenbahnen dreigeschossige Empfangsgebäude mit einer Vorhalle, zwei Wartesälen und einem Dienstraum. Das Gebäude in Schwaben hatte eine Grundfläche von 15,50 m × 10,50 m, das Ampfinger Gebäude war etwas kleiner. Der Bahnhof Dorfen erhielt ein deutlich größeres Empfangsgebäude mit einer Grundfläche von 21,20 m × 12,00 m und fünf Fensterachsen. Das Empfangsgebäude des Bahnhofs Marktl entsprach im Grundriss in etwa dem Gebäude von Dorfen, war aber abweichend nur zweigeschossig ausgeführt und im Erdgeschoss mit Rundbogenfenstern und -türen ausgestattet. Die Bahnhöfe mit dem größten Verkehrsaufkommen in Haidhausen (heute München Ost), Mühldorf, Neuötting und Simbach erhielten große, individuell gestaltete Gebäude mit Seitenflügeln und Rundbogenelementen, die deutlich von den übrigen Empfangsgebäuden der Strecke abwichen. In den Obergeschossen waren bei allen Empfangsgebäuden Dienstwohnungen für das Bahnpersonal untergebracht. Die Gebäude in Feldkirchen, Schwaben und Dorfen wurden später um eingeschossige Seitenflügel ergänzt; zudem erhielten einige Gebäude Stellwerksvorbauten auf der Gleisseite. In den 1930er Jahren wurde an den meisten Empfangsgebäuden das Ziegelmauerwerk verputzt. Mit Ausnahme von München Ost, Riem, Walpertskirchen und Mühldorf sind noch alle Stationsgebäude aus der Eröffnungszeit vorhanden. Alle Bahnhöfe waren mit zwei Wechselwärter­häusern an den Einfahrweichen ausgestattet. Die Wärterhäuser waren eingeschossige Bauten mit Satteldach auf einer Grundfläche von 10,00 m × 6,20 m und enthielten die Wohnung des Wechselwärters sowie einen Raum für Ablösemänner. Baugleiche Gebäude entstanden an den Schrankenposten der Strecke. An den Wasserstationen Schwaben, Dorfen, Mühldorf, Neuötting und Simbach errichteten die Bayerischen Staatseisenbahnen Wasserhäuser, die als dreigeschossige Bauten mit flachem Walmdach ausgeführt wurden. Sie enthielten im Erdgeschoss eine Dampfwasserpumpe, im Zwischengeschoss eine Dienstwohnung und im Obergeschoss zwei Wasserbehälter. Stellwerke und Sicherungstechnik Nach der Inbetriebnahme der Strecke wurden die Weichen der Bahnhöfe zunächst vor Ort durch Wechselwärter gestellt. Ab 1875 statteten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Bahnhöfe mit auf dem Hausbahnsteig aufgestellten Perronsignalen aus, die anzeigten, ob der Zug an der Station halten musste oder durchfahren durfte. Ab 1876 sicherten sie zudem die Bahnhofseinfahrten mit Einfahrsignalen, die als Bahnhofsabschlusstelegraphen bezeichnet und durch die Wechselwärter gestellt wurden. 1900 begannen die Bayerischen Staatseisenbahnen ein Programm zur Centralisirung der Weichen- und Signalbedienung entlang der Strecke, um die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit des Bahnbetriebs zu erhöhen. Im Zuge dessen nahmen sie bis 1903 an allen Bahnhöfen zwischen München und Simbach mechanische Stellwerke der Bauart Krauss mit Kurbelwerk in Betrieb. In den kleineren Stationen wurde die gesamte Stellwerkstechnik in einem Befehlsstellwerk untergebracht, das sich im Empfangsgebäude oder im Freien auf dem Hausbahnsteig befand. Die Bahnhöfe Feldkirchen, Ampfing und Neuötting erhielten zusätzlich ein Wärterstellwerk gegenüber dem Empfangsgebäude, die Bahnhöfe Riem, Schwaben und Dorfen zwei Wärterstellwerke an den Bahnhofsenden. Für die Wärterstellwerke errichteten die Bayerischen Staatseisenbahnen zweigeschossige Stellwerkstürme mit Walmdach, die in Sichtziegelbauweise ausgeführt waren. Die bisherigen Einfahr- und Perronsignale wurden durch neue Einfahr- und Ausfahrsignale der bayerischen Bauart ersetzt. Nicht im Zentralisierungsprogramm enthalten war der Grenzbahnhof Simbach, dessen Weichen zunächst weiterhin vor Ort gestellt wurden. Nach der Errichtung der Werksbahn zum Innwerk erhielt der Bahnhof Töging 1924 als erste Station der Strecke ein mechanisches Stellwerk der Einheitsbauart anstelle des bisherigen Krauss-Stellwerks. 1931 wurde der bis dahin nicht zentralisierte Bahnhof Simbach und 1959 der Bahnhof Thann-Matzbach ebenfalls mit Stellwerken der Einheitsbauart ausgestattet. Der Bahnhof Mühldorf erhielt im Zuge der Errichtung des Rangierbahnhofs bis 1943 neue elektromechanische Stellwerke. Ab den 1960er Jahren ersetzte die Deutsche Bundesbahn an einigen Stationen die mechanischen Stellwerke und Formsignale durch neue Relaisstellwerke und Lichtsignale nach dem H/V-Signalsystem. 1965 nahm sie am Bahnhof Marktl, 1967 an den Bahnhöfen Feldkirchen und Ampfing und 1977 am Bahnhof Töging Drucktastenstellwerke der Siemens-Bauart Dr S2 in Betrieb. Der Bahnhof Markt Schwaben erhielt 1967 ein Spurplandrucktastenstellwerk der Siemens-Standardbauart Sp Dr S60. Im Bahnhof Simbach richtete die Deutsche Bundesbahn 1989 ein Spurplandrucktastenstellwerk der Lorenz-Bauart Sp Dr L30 ein, von dem fortan das Drucktastenstellwerk in Marktl ferngesteuert wurde. Damit war der Abschnitt Mühldorf–Simbach vollständig auf Lichtsignaltechnik umgestellt. 2000 stattete die Deutsche Bahn den Bahnhof Mühldorf mit einem elektronischen Stellwerk (ESTW) von Siemens und Lichtsignalen nach dem Ks-Signalsystem aus. 2004 ging im Bahnhof Dorfen ein weiteres ESTW von Siemens mit Ks-Signalen in Betrieb, das die letzten beiden mechanischen Wärterstellwerke der Strecke ersetzte. Im Zuge des zweigleisigen Ausbaus im Abschnitt Ampfing–Mühldorf nahm die Deutsche Bahn 2010 das Drucktastenstellwerk in Ampfing außer Betrieb und band den Bahnhof Ampfing an das ESTW Dorfen an. Zwischen Markt Schwaben und Ampfing sind in den Bahnhöfen Hörlkofen, Schwindegg und Weidenbach weiterhin die mechanischen Stellwerke der Bauart Krauss von 1900 und in Thann-Matzbach das mechanische Stellwerk der Einheitsbauart von 1959 in Betrieb. Diese vier Bahnhöfe sind noch mit Formsignalen ausgestattet und örtlich mit Fahrdienstleitern besetzt. Zwischen München und Markt Schwaben sowie in Töging, Marktl und Simbach sind Relaisstellwerke mit H/V-Signalen in Betrieb. Die Bahnhöfe Dorfen, Ampfing und Mühldorf sind mit elektronischer Stellwerkstechnik und Ks-Signalen ausgerüstet. Ursprünglich gab es an der Strecke 44 Schrankenposten, an denen Schrankenwärter über Seilwinden die beschrankten Bahnübergänge bedienten. Ab den 1960er Jahren ersetzte die Deutsche Bundesbahn an vielen Bahnübergängen die wärterbedienten Schranken durch zugbediente Schranken oder Blinklichtanlagen, sodass sich die Zahl der Schrankenposten zunehmend reduzierte. Der letzte Schrankenposten auf freier Strecke in Wasentegernbach wurde 2017 aufgelassen. In den Bahnhöfen Hörlkofen, Dorfen und Weidenbach sind weiterhin wärterbediente Bahnübergänge vorhanden. Kunstbauwerke Die Bayerischen Staatseisenbahnen legten die Widerlager und Pfeiler der Brückenbauwerke bereits bei der Errichtung der Strecke für einen zweigleisigen Betrieb aus. Die Brücken über die Sempt bei Markt Schwaben und über die Isen bei Dorfen und Neuötting wurden als einfeldrige eiserne Fachwerkkonstruktionen mit lichten Weiten von bis zu 20 Metern ausgeführt. Die 63 Meter lange Brücke über die Schwillach zwischen Markt Schwaben und Hörlkofen entstand als zweifeldrige Fachwerkbrücke mit gemauertem Mittelpfeiler. Später wurden die Fachwerkbrücken aus der Zeit der Streckeneröffnung durch einfache Balkenbrücken mit Stahlträgern ersetzt. Das größte Kunstbauwerk der Strecke ist die etwa 400 Meter lange Grenzbrücke über den Inn zwischen Simbach und Braunau. Sie wurde als Eisenfachwerkbrücke auf fünf Pfeilern mit Lichtweiten von knapp 60 Metern errichtet und quert den Fluss in einem Winkel von 60 Grad. Die im Zweiten Weltkrieg gesprengten Überbauten wurden zunächst durch eine Kriegsbrücke ersetzt; bis 1978 erhielt die Brücke neue Tragwerke mit Strebenfachwerk. Westlich und östlich des Bahnhofs Mühldorf entstanden von 1922 bis 1923 zwei Brücken über den neu errichteten Innkanal. Die westliche Brücke wurde von den Strecken München–Simbach und Rosenheim–Mühldorf genutzt und war als zweigleisige Bogenbrücke mit drei versetzten Feldern von je 34 Metern Stützweite ausgeführt. Mit dem zweigleisigen Streckenausbau wurde sie bis 2015 durch eine dreigleisige Brücke mit identischen Stützweiten ersetzt. Die östliche Kanalbrücke ist eine 50 Meter lange, einfeldrige Fachwerkbrücke mit untenliegender Fahrbahn. Fahrzeugeinsatz Bayerische Staatseisenbahnen Für den Betrieb der Bahnstrecke München–Simbach baute die Lokomotivfabrik J. A. Maffei 1870 sieben Schlepptenderlokomotiven der Klasse B VI, die nach Stationen der Strecke die Namen Thalkirchen, Haidhausen, Schwaben, Schwindegg, Marktl, Neuötting und Poing erhielten. Die Lokomotiven der Klasse B VI kamen, ebenso wie die ältere Klasse B V, ab der Eröffnung vor den Personenzügen zum Einsatz und waren in der Betriebswerkstätte (Bw) Simbach stationiert. Die Güterzüge wurden mit dreifach gekuppelten Lokomotiven der Gattungen C II und C III der Bw Simbach bespannt. Vor den Schnellzügen setzten die Bayerischen Staatseisenbahnen wohl ab 1872 die neue Klasse B VIII und ab 1874 die ersten Schnellzuglokomotiven der Klasse B IX ein, die in der Bw München beheimatet waren. Vor dem Orient-Express kamen zwischen München und Simbach stets die neuesten Schnellzuglokomotiven der Bw München zum Einsatz, zunächst die Klasse B IX, ab 1889 die Gattung B X und ab 1892 die Gattung B XI, zuletzt bis 1897 kurzzeitig das Einzelstück der Gattung AA I. Der 1897 aufgenommene Vorortverkehr zwischen München Ostbahnhof und Schwaben wurde durch die Bw München Ost mit Tenderlokomotiven der Gattung D IX durchgeführt. Vor den ab 1899 wieder eingeführten Schnell- und Eilzügen setzten die Bayerischen Staatseisenbahnen Lokomotiven der Gattung B XI ein. Ab 1906 kam die Gattung B XI zudem von der Bw Simbach aus vor den Personenzügen zum Einsatz und löste dort die seit der Eröffnung eingesetzte Gattung B VI ab. Im Güterzugdienst wurde die Gattung C III ab etwa 1900 durch die neuere Gattung C IV ersetzt, die in den Betriebswerkstätten München Ost und Simbach stationiert war. Später wurden einige Güter- und Viehzüge mit den schnelleren Lokomotiven der Gattung C VI bespannt. Die Personenzüge waren zu Beginn aus zweiachsigen Abteilwagen und Postwagen gebildet. Nach 1900 bestanden die Eilzüge aus dreiachsigen Abteil- und Durchgangswagen. In den Personenzügen kamen 1906 zwei- und dreiachsige Wagen sowie erste Drehgestell-Durchgangswagen der Bauart ABB zum Einsatz. Bis 1914 wurden die Abteilwagen fast vollständig durch Durchgangswagen der Bauarten C3i und B3i abgelöst. Deutsche Reichsbahn Die Gruppenverwaltung Bayern der Deutschen Reichsbahn ersetzte in den 1920er Jahren die meisten alten bayerischen Gattungen auf der Hauptbahn durch neue Lokomotiven. Von Dezember 1924 bis Januar 1926 stellte sie die Eil- und Personenzüge zwischen München und Simbach auf Tenderlokomotiven der preußischen Baureihe 780–5 um, die sie im Betriebswerk Simbach stationierte. Die Güterzüge wurden ab 1925 von den Betriebswerken Simbach und München Ost aus mit Heißdampflokomotiven der Baureihe 5415–17 bespannt, ab Sommer 1928 kam von Simbach aus die Baureihe 5710–35 (Preußische G 10) zum Einsatz. Die Personenzüge bestanden um 1930 überwiegend aus dreiachsigen Durchgangswagen, zum Teil waren Postwagen, Expressgut- und Milchkurswagen eingestellt. Im Vorortverkehr nach Schwaben begann 1922 der Einsatz von Tenderlokomotiven der Baureihe 700. Ab dem 2. November 1926 setzte die Deutsche Reichsbahn auf den Vorortzügen im Betriebswerk München Ost stationierte Akkumulatortriebwagen der Bauart Wittfeld und ab 1930 der Reichsbahn-Bauart ein, die bis 1930 die mit der Gattung D IX bespannten Wagenzüge im Vorortverkehr vollständig ablösten. Lediglich im Ausflugsverkehr an Wochenenden wurden die Vorortzüge weiterhin als Wagenzüge mit der Baureihe 700 geführt. Daneben kam die Baureihe 700 vom Betriebswerk Mühldorf aus vor in Mühldorf wendenden Personenzügen nach München Ost und Simbach zum Einsatz. Ab 1935 bespannte die Deutsche Reichsbahn einen Teil dieser Züge mit der Baureihe 64. Das 1938 und 1939 verkehrende Eilzugpaar München–Bad Aussee wurde aus vierachsigen Eilzugwagen gebildet und mit Schnellzuglokomotiven der Baureihe 184–5 (Bayerische S 3/6) oder österreichischen Tenderlokomotiven der Baureihe 772 bespannt. Daneben kamen nach dem „Anschluss“ österreichische Dampflokomotiven der Reihen 429, 170, 270, 229 und 29 im Güterverkehr auf der Strecke zum Einsatz, die über Simbach hinaus durchgebunden wurden. Ab 1939 setzte die Deutsche Reichsbahn vor den Güterzügen vom Bw Simbach aus zudem Einheitsdampflokomotiven der Baureihe 50 ein. Im Dezember 1941 ersetzte sie die bisherigen Streckenlokomotiven des Betriebswerks Simbach vollständig durch die Baureihe 384 für den Personenverkehr und 5415–17 für den Güterverkehr. Im weiteren Kriegsverlauf wurden die Güterzüge ab 1943 durch Kriegslokomotiven der Baureihen 52 und 42, die Personenzüge ab 1944 durch die Baureihe 3810–40 (Preußische P 8) übernommen. Bis 1948 wurden die Kriegslokomotiven vor den Güterzügen wieder durch in Mühldorf und Simbach stationierte Lokomotiven der Baureihe 5710–35 ersetzt. Vor einem Eilzugpaar München–Mühldorf kam von August 1946 bis Mai 1947 eine Schnellzuglokomotive der Baureihe 0310 zum Einsatz. Deutsche Bundesbahn Von 1951 bis 1956 setzte die Deutsche Bundesbahn Dieseltriebwagen der Baureihe VT 50 auf einer Eilzugverbindung von München nach Simbach und Passau mit Flügelung in Mühldorf ein. Ab 1955 kamen auf den Personenzügen zwischen Mühldorf und Simbach, vereinzelt auch bis München neue Uerdinger Schienenbusse der Baureihe VT 95 aus dem Bw Simbach zum Einsatz. Mit der Aufhebung des Betriebswerks Simbach im Mai 1959 gingen die lokbespannten Reisezugleistungen der Strecke mit Ausnahme des Vorortverkehrs auf das Bw Mühldorf über. Die Bespannung der Güterzüge übernahmen in den 1950er Jahren Lokomotiven der Baureihen 50 und 64, welche bis 1954 die Baureihe 5415–17 und bis 1960 die Baureihe 5710–35 ablösten. Im Münchner Vorortverkehr und vor einzelnen Züge bis Dorfen setzte die Deutsche Bundesbahn neben den Akkumulatortriebwagen weiterhin Lokomotiven der Baureihen 64 und 700 ein, von 1950 bis 1953 zudem die Baureihe 780–5. Ab 1958 kamen auf den Vorortzügen neue Akkumulatortriebwagen der Baureihe ETA 150 zum Einsatz. Einige Leistungen des Vorortverkehrs und die Personenzüge zwischen Mühldorf und Simbach wurden ab 1960 mit Schienenbussen der Baureihe VT 98 durchgeführt. Am 12. März 1965 begann der Einsatz von Großdiesellokomotiven der Baureihe V 160 im Reisezugdienst. Die Baureihe 3810–40 wurde vor den Personenzügen zwischen München und Mühldorf vollständig durch V 160 und Dampflokomotiven der Baureihe 01 abgelöst. Mit dem Einsatzende der Baureihe 01 kamen ab 1967 im Personenverkehr nur noch Diesellokomotiven zum Einsatz. 1965 endete der Einsatz der Baureihe 64 vor den Nahgüterzügen; ihre Leistungen übernahmen neue Diesellokomotiven der Baureihe V 100. Ab 1969 ersetzte die Deutsche Bundesbahn im Güterzugdienst die im Bw Mühldorf stationierten Einheitsdampflokomotiven der Baureihe 50 durch Diesellokomotiven der Baureihen 215 und 216, sodass 1970 der Planeinsatz von Dampflokomotiven auf der Strecke endete. Ab 1970 kamen Diesellokomotiven der Baureihe 218 zum Einsatz, die im Reise- und Güterzugdienst bis 1973 die Baureihe 216 und bis 1976 die Baureihe 215 ablösten. Bis 1957 stellte die Deutsche Bundesbahn die Personenzüge größtenteils auf dreiachsige Umbauwagen um. In den Eilzügen liefen weiterhin vierachsige Eilzugwagen und vereinzelt noch bis in die 1960er Jahre dreiachsige bayerische Durchgangswagen. In den Vorortzügen kamen noch zweiachsige Einheitswagen der Ganzstahlbauart (Donnerbüchsen) zum Einsatz. Ab 1964 setzte die Deutsche Bundesbahn n-Wagen ein, die bis Mitte der 1970er Jahre alle älteren Reisezugwagen auf der Strecke ablösten. Nach der Elektrifizierung des Abschnittes München–Markt Schwaben waren einige Vorortzüge ab 1970 kurzzeitig mit Elektrolokomotiven der Baureihe 144 bespannt. Mit Aufnahme des S-Bahn-Betriebs ging der Vorortverkehr 1972 vollständig auf die dreiteiligen Elektrotriebwagen der Baureihe 420 über, womit der Einsatz der Akkumulatortriebwagen endete. Im S-Bahn-Anschlussverkehr von Markt Schwaben nach Dorfen und Mühldorf kamen Diesellokomotiven der Baureihen 212 und 218 mit n-Wagen-Wendezügen sowie von 1978 bis 1991 Uerdinger Schienenbusse zum Einsatz. Deutsche Bahn Ab November 1993 setzte die Deutsche Bundesbahn Görlitzer Doppelstockwagen in den Eilzügen München–Mühldorf ein, die zunächst mit Diesellokomotiven der Baureihe 217, dann mit der Baureihe 218 bespannt wurden. Zwischen Mühldorf und Simbach ersetzte die Deutsche Bahn 1994 die Schienenbusse durch neue zweiteilige Dieseltriebwagen der Baureihe 628.4, die sie im Betriebswerk Mühldorf stationierte. Von 1995 bis 1997 und noch einmal von 1998 bis zu dessen Einstellung 2002 übernahmen die neuen Triebwagen zudem den S-Bahn-Anschlussverkehr. Zum 15. Dezember 2002 stellte die Deutsche Bahn den S-Bahn-Verkehr zwischen München und Markt Schwaben von der Baureihe 420 auf neue vierteilige Elektrotriebwagen der Baureihe 423 um. Seit Juni 2017 werden wieder einige S-Bahn-Leistungen auf der Strecke mit Triebwagen der Baureihe 420 geführt. Auf dem von 2008 bis 2012 verkehrenden Zugpaar München–Linz kamen Diesellokomotiven der Reihe 2016 mit Eurofima-Wagen der ÖBB zum Einsatz. Im Mai 2014 begann zwischen München und Mühldorf der Einsatz von Diesellokomotiven der Baureihe 245. Bis Dezember 2016 setzte die Südostbayernbahn noch n-Wagen in einzelnen Verstärkerzügen von München nach Simbach ein. Seitdem fahren auf den meisten Regionalbahnen München–Mühldorf und auf den zwei Regional-Express-Zugpaaren München–Simbach Lokomotiven der Baureihen 218 und 245 mit Doppelstockwagen; einzelne Leistungen werden mit Triebwagen der Baureihe 628 erbracht. Zwischen Mühldorf und Simbach kommen, abgesehen von den nach München durchgebundenen Zügen, Triebwagen der Baureihe 628 zum Einsatz. Im Güterverkehr setzte die Deutsche Bahn in den 1990er Jahren vor Ganzzügen Doppeltraktionen der Baureihe 218, vor Übergabezügen Lokomotiven der Baureihen 360, 290, 211 und 218 ein. DB Cargo bespannte die Güterzüge auf der Strecke noch bis 2011 mit in Mühldorf stationierten Lokomotiven der Baureihen 217, 218 und 225 und bis Mitte der 2010er Jahre mit den Baureihen 232 und 233. Seit 2010 kommen vor den Ganzzügen stattdessen neue Diesellokomotiven der Baureihe 247 (Class 77) zum Einsatz. Die Übergabezüge im Raum München sind mit der Baureihe 294 bespannt. Verkehr Personenverkehr 1871–1945 Im ersten provisorischen Fahrplan setzten die Bayerischen Staatseisenbahnen ab dem 1. Mai 1871 täglich zwei Güterzugpaare mit Personenbeförderung zwischen München und Neuötting ein. Mit Eröffnung der gesamten Strecke verkehrten ab dem 1. Juni 1871 ein als Postzug geführtes Personenzugpaar sowie zwei Güterzugpaare mit Personenbeförderung von München nach Simbach. 1872 stellten die Bayerischen Staatseisenbahnen einen ersten regulären Fahrplan auf, der zwei Postzugpaare von Ulm über München nach Simbach und ein Güterzugpaar mit Personenbeförderung von München nach Simbach vorsah. Zudem fuhr mit dem Courierzug 183/184 ab 1872 ein Schnellzugpaar von Paris nach Wien über die Strecke. Dieses hielt zwischen München und Simbach lediglich in Haidhausen, Dorfen, Mühldorf und Neuötting, ab 1873 nur noch in Haidhausen und Mühldorf. Die an allen Stationen haltenden Postzüge benötigten für die Strecke München–Simbach vier Stunden, während der Courierzug sie in drei Stunden zurücklegte. Bereits nach wenigen Jahren trennten die Bayerischen Staatseisenbahnen den Reiseverkehr vom Güterverkehr und ersetzten den letzten Güterzug mit Personenbeförderung durch einen Postzug. Ab dem 5. Juni 1883 führten die Bayerischen Staatseisenbahnen den neu eingerichteten Orient-Express von Paris nach Giurgiu über die Strecke München–Simbach. Der zunächst zweimal pro Woche, ab 1884 täglich fahrende Luxuszug ersetzte den bisherigen Courierzug Paris–Wien und durchfuhr die Strecke vom Münchner Centralbahnhof bis zum Grenzbahnhof Simbach nachts in nur 2:20 Stunden ohne Halt. Zum 1. Mai 1897 wurde der seit 1888 von Paris nach Konstantinopel fahrende Orient-Express von der Strecke München–Simbach auf die längere Linienführung über Rosenheim und Salzburg verlegt. 1891 setzten die Bayerischen Staatseisenbahnen zwischen München und Simbach vier, ab 1895 fünf Personenzugpaare mit Halt an allen Stationen ein. Nach Einführung des Vorortverkehrs mit zusätzlichen Stationen zwischen München Ostbahnhof und Schwaben hielten die über die ganze Strecke fahrenden Personenzüge weiterhin nur in Riem, Feldkirchen und Poing. Als Ersatz für den weggefallenen Orient-Express führten die Bayerischen Staatseisenbahnen 1899 wieder ein Schnellzugpaar von München nach Simbach ein, das mit bis zu 14 Unterwegshalten allerdings eine Fahrzeit von bis zu drei Stunden hatte. 1902 wurde es daher zum Eilzug und 1907 zum Personenzug zurückgestuft. Ersatzweise kam zum Winterfahrplan 1907 ein neues Eilzugpaar München–Mühldorf hinzu, das nur in München Ostbahnhof, Schwaben, Dorfen sowie in einer Richtung in Thann-Matzbach hielt; ab 1908 wurde es bis Simbach durchgebunden. Mit der Eröffnung der Hauptbahn Mühldorf–Freilassing kehrte auf dem Abschnitt München–Mühldorf ab Juli 1909 der internationale Fernverkehr zurück. Die Bayerischen Staatseisenbahnen führten anstelle des Eilzuges zwei Schnellzugpaare von München über Mühldorf nach Salzburg mit Halt in München Ostbahnhof und Dorfen ein, in denen Kurswagen von Berlin, Köln und Paris nach Wien und Triest mitliefen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Schnellzüge ein und verringerten die Zahl der Personenzüge. Bis August 1918 reduzierte sich der Reiseverkehr auf drei Personenzugpaare an Werktagen und vier an Sonntagen. Nach Ende des Krieges verkehrten wieder täglich fünf Personenzugpaare zwischen München und Simbach, die ab Beginn der 1920er Jahre durch zwei Eilzüge von München nach Mühldorf ergänzt wurden. Mit dem Sommerfahrplan 1923 führte die Deutsche Reichsbahn ein grenzüberschreitendes Tages-Schnellzugpaar von München über Simbach nach Wien ein, das sie jedoch zum folgenden Winterfahrplan wieder einstellte. Aufgrund des hohen Fahrgastaufkommens plante die Deutsche Reichsbahn ab Mitte der 1920er Jahre für die meisten Personenzüge und einzelne Eilzüge Vor- oder Nachzüge zur Entlastung zwischen München und Mühldorf ein. Nach dem „Anschluss“ Österreichs setzte die Deutsche Reichsbahn in den Sommerfahrplänen 1938 und 1939 ein über Simbach durchgebundenes saisonales Eilzugpaar von München nach Bad Aussee ein, das nur in München Ost, Mühldorf, Neuötting und Simbach hielt. Daneben verkehrten auf der Strecke 1939 an Werktagen vier Personenzugpaare München Ost–Simbach, je zwei Personenzugpaare München Ost–Mühldorf und Mühldorf–Simbach sowie zwei Eilzugpaare München Hbf–Mühldorf. Für die Gesamtstrecke benötigten die Personenzüge etwa drei Stunden und bis Mühldorf 1,5 Stunden, während die schnellsten Eilzüge die Strecke München Ost–Mühldorf in einer Stunde zurücklegten. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges beendete den Verkehr des saisonalen Eilzugpaares. Im weiteren Kriegsverlauf verringerte die Deutsche Reichsbahn das Angebot und stellte die Eilzüge ein; 1943 fuhren noch vier Personenzugpaare von München nach Simbach, zwei von München nach Mühldorf und eines von Mühldorf nach Simbach. Seit 1945 In der Nachkriegszeit blieb das Zugangebot zunächst gering; im Januar 1946 verkehrten werktags zwei Zugpaare München–Simbach und je eines von Dorfen nach Mühldorf und von Mühldorf nach Simbach. Ab Juli 1946 gab es wieder ein Eilzugpaar München–Mühldorf. Bis 1949 stieg die Zahl der Reisezüge wieder deutlich an. Ab 1950 fuhr ein als Eiltriebwagen (ET) geführtes Zugpaar von München nach Simbach und Passau, das im Bahnhof Mühldorf geflügelt wurde. Daneben setzte die Deutsche Bundesbahn im Winterfahrplan 1951/52 zwei Eilzug- und vier bis fünf Personenzugpaare von München nach Simbach ein, die durch einzelne Züge auf den Teilstrecken München Ost–Dorfen, Dorfen–Mühldorf und Mühldorf–Simbach ergänzt wurden. Die Fahrzeit der Personenzüge lag auf der Gesamtstrecke zwischen 2:45 und 3:40 Stunden; die Eilzüge benötigten mit Zwischenhalten in München Ost, Markt Schwaben, Thann-Matzbach, Dorfen, Ampfing, Mühldorf und Neuötting etwa 2:20 Stunden. Ab Mitte der 1950er Jahre wurden mit dem Einsatz von Schienenbussen zwischen Mühldorf und Simbach die meisten Zugläufe in Mühldorf gebrochen. Im Sommerfahrplan 1956 gab es täglich nur noch drei durchgehende Züge von München nach Simbach und einen Zug von Simbach nach München; bei den übrigen Verbindungen musste im Bahnhof Mühldorf umgestiegen werden. Im Mai 1966 stellte die Deutsche Bundesbahn die durchgehenden Reisezüge mit Ausnahme eines einzelnen Eilzuges an Sonntagen von Simbach nach München vollständig ein. Zwischen München und Mühldorf verkehrten im Winterfahrplan 1966/67 werktags sieben bis acht Personenzüge und drei Eilzüge, von denen einer ab Mühldorf weiter nach Passau fuhr. Zwischen Mühldorf und Simbach fuhren acht Personenzugpaare, die zum Teil ab Simbach nach Pocking durchgebunden waren. Mit Einführung des S-Bahn-Betriebs bis Markt Schwaben stellte die Deutsche Bundesbahn zum Sommerfahrplan 1972 das Zugangebot zwischen München und Mühldorf um. Zwischen Markt Schwaben und Mühldorf führte sie einen S-Bahn-Anschlussverkehr mit sechs Zugpaaren ein, während nur drei durchgehende Nahverkehrszugpaare von München bis Mühldorf verblieben. Stattdessen gab es für den durchgehenden Zugverkehr München–Mühldorf nun sechs Eilzugpaare, die ab Mühldorf größtenteils nach Burghausen und Passau durchliefen. Dadurch waren die kleineren Stationen Hörlkofen, Walpertskirchen, Thann-Matzbach, Wasentegernbach, Schwindegg und Weidenbach von München aus zu den meisten Zeiten nur noch mit Umstieg in Markt Schwaben zu erreichen. Zwischen Mühldorf und Simbach verkehrten 1972 zehn Zugpaare an Werktagen und sechs bis sieben an Sonntagen. Zur Anbindung der Rottaler Thermalbäder führte die Deutsche Bundesbahn im Mai 1978 wieder zwei durchgehende Eilzüge von München nach Simbach und einen Eilzug in der Gegenrichtung ein, von denen am Bahnhof Simbach Anschluss zu einem Bahnbus nach Bad Birnbach bestand. Zum 31. Mai 1981 richtete sie einen direkten Kurswagen zwischen München und Linz ein, der im Eilzug München–Simbach mitlief, und stellte damit erstmals seit 1939 wieder eine grenzüberschreitende Verbindung über Simbach her. Ab Juni 1991 lief der Kurswagen nur noch bis Wels und wurde schließlich im Mai 1994 eingestellt. Im Winterfahrplan 1991/92 fuhren die Eilzüge zwischen München und Mühldorf mit werktags 15 bis 16 Zugpaaren in einem angenäherten Stundentakt. Sechs Eilzugpaare waren bis Simbach durchgebunden und bildeten im Abschnitt Mühldorf–Simbach zusammen mit vier Nahverkehrszugpaaren einen angenäherten Zwei-Stunden-Takt. Im nur werktags fahrenden S-Bahn-Anschlussverkehr verkehrten von Markt Schwaben aus vier Züge nach Mühldorf, zwei bis Dorfen und einer bis Thann-Matzbach. Mit dem Linienstern Mühldorf führte die Deutsche Bahn zum 29. Mai 1994 einen Taktknoten am Bahnhof Mühldorf und einen festen Stundentakt auf den Linien München–Mühldorf und Mühldorf–Simbach ein. Die Südostbayernbahn gab im Dezember 2002 den S-Bahn-Anschlussverkehr auf und ersetzte ihn durch im Stundentakt verkehrende durchgehende Regionalbahnen zwischen München und Mühldorf mit Halt an den meisten Zwischenstationen. Ab dem 14. Dezember 2008 boten die Südostbayernbahn und die Österreichischen Bundesbahnen erneut durchgehenden Reisezugverkehr zwischen Bayern und Oberösterreich an. Ein Regional-Express-Zugpaar verkehrte mit wenigen Zwischenhalten morgens von Linz nach München und abends in der Gegenrichtung. Zwischen Mühldorf und Linz wurde ferner ein Zugpaar mit Halt an den meisten Stationen eingerichtet, das eine morgendliche Direktverbindung nach Österreich und eine abendliche Rückfahrgelegenheit bot. Am 8. Dezember 2012 wurde das Zugpaar München–Linz und am 15. Dezember 2013 auch das Zugpaar Mühldorf–Linz wieder eingestellt. 2021 setzt die Südostbayernbahn zwischen München Hbf und Mühldorf Regionalbahnen im Stundentakt ein, die für die Strecke eine Fahrzeit von etwa 70 Minuten benötigen. Der Haltepunkt Walpertskirchen wird dabei nur etwa alle zwei Stunden und die Bahnhöfe Thann-Matzbach und Weidenbach nur von einzelnen Zügen bedient. Auf dem Abschnitt Mühldorf–Simbach fahren im Stundentakt Regionalbahnen mit einer Fahrzeit von etwa 35 Minuten Für den Pendlerverkehr verkehren an Werktagen morgens zwei Regional-Express-Züge umsteigefrei von Simbach nach München und nachmittags zurück von München nach Simbach. Durch zusätzliche Verstärkerzüge zwischen München Ost und Mühldorf wird auf diesem Abschnitt in den Hauptverkehrszeiten ein 20- bis 30-Minuten-Takt hergestellt Der Streckenabschnitt München–Markt Schwaben ist in den Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV), der Abschnitt Julbach–Simbach in den Tarif der Verkehrsgemeinschaft Rottal-Inn integriert. Am 6. September 2021 wurde bekanntgegeben, dass das MVV-Gebiet im Dezember 2024 um den Streckenabschnitt Markt Schwaben–Dorfen erweitert werden wird, wofür der Freistaat Bayern 910.000 Euro und der Landkreis Erding 80.000 Euro Ausgleichszahlungen pro Jahr leisten werden. Zwischen Schwindegg und Simbach bietet die Südostbayernbahn eine kostenfreie Fahrradmitnahme an, für die die Landkreise Ausgleichszahlungen leisten. Vorort- und S-Bahn-Verkehr Ab dem 1. Mai 1897 verkehrten zwischen München Ostbahnhof und Schwaben sieben Zugpaare im Vorortverkehr, die alle Stationen in diesem Abschnitt bedienten. Im Bahnhof Schwaben bestand Anschluss an die Züge der Zweigstrecke Schwaben–Erding. Bis 1914 erhöhte sich das Angebot auf neun Zugpaare München Ost–Schwaben, von denen eines ab 1910 über Schwaben hinaus direkt nach Erding weiterfuhr. Zusätzliche Züge verkehrten zwischen München Ost und Feldkirchen. Während des Ersten Weltkriegs reduzierte sich die Zahl der Vorortzüge. Die Deutsche Reichsbahn band ab Anfang der 1920er Jahre alle Vorortzüge umsteigefrei von München Ost über Schwaben nach Erding durch. 1925 gab es fünf Zugpaare München Ost–Erding, die durch vier Zugpaare München Ost–Feldkirchen ergänzt wurden. Mit dem zunehmenden Pendlerverkehr erweiterte die Deutsche Reichsbahn die Zahl der Vorortzüge in den 1930er Jahren; 1939 setzte sie neun Zugpaare von München Ost nach Erding, fünf Zugpaare bis Markt Schwaben, zwei bis Feldkirchen und fünf bis München-Riem ein. Im Zweiten Weltkrieg ging der Vorortverkehr zwischen München Ost und Markt Schwaben bis 1943 auf zehn Zugpaare zurück. Im Winterfahrplan 1951/52 verkehrten zwischen München Ost und Markt Schwaben 17 Vorortzugpaare, von denen zwölf weiter bis Erding fuhren. Zudem gab es nun sechs Zugpaare von München Ost nach Feldkirchen und drei bis München-Riem. Dieses Angebot blieb bis Anfang der 1970er Jahre in etwa konstant; lediglich die in Feldkirchen und Riem wendenden Züge fielen weg. Mit Inbetriebnahme der S-Bahn München verkehrte im Abschnitt München Ost–Markt Schwaben ab dem 28. Mai 1972 die Linie S 6 im 40-Minuten-Takt von Tutzing bzw. Gauting über die S-Bahn-Stammstrecke nach Erding. In der morgendlichen und abendlichen Hauptverkehrszeit stellten zusätzliche Verstärkerzüge bis Markt Schwaben einen 20-Minuten-Takt her. Zum 2. Juni 1996 führte die Deutsche Bahn auf der S 6 bis Markt Schwaben einen ganztägigen 20-Minuten-Takt ein. Infolge eines Linientausches fährt auf der Strecke seit dem 12. Dezember 2004 die Linie S 2 von Petershausen nach Erding. Seit Dezember 2007 setzt die Deutsche Bahn morgens zusätzliche Express-S-Bahnen von Erding nach Dachau ein, die zwischen Markt Schwaben und München Leuchtenbergring nur in München-Riem halten. Seit der Elektrifizierung der Strecke Dachau–Altomünster 2014 verkehrt ein Teil der Züge der S 2 von Altomünster nach Erding Güterverkehr Im ersten Betriebsjahr wickelten die Bayerischen Staatseisenbahnen den gesamten Güterverkehr zwischen München und Simbach mit zwei Güterzugpaaren mit Personenbeförderung ab. Ab 1872 gab es auf der Strecke Güterzüge ohne Personenbeförderung. Dabei unterschieden die Bayerischen Staatseisenbahnen zwischen Sammelgüterzügen mit längeren Aufenthalten zur Verladung von Stückgut und schnelleren Güterzügen, die an den Zwischenstationen nur Wagen absetzten und aufnahmen. Ab 1880 begannen alle schnelleren Güterzüge im Bahnhof München Ost, während die Sammelgüterzüge weiterhin bis zum Münchner Centralbahnhof fuhren. Infolge des starken Anstiegs des Güterverkehrsaufkommens verkehrten 1880 bereits acht planmäßige Güterzüge, die durch sechs bei Bedarf verkehrende Züge ergänzt wurden. Neben dem Stückgut- und Wagenladungsverkehr war die Strecke für den Viehversand von Bedeutung, insbesondere im Import von Rindern aus Österreich-Ungarn für den Schlachthof am Bahnhof München Süd. 1895 führten die Bayerischen Staatseisenbahnen daher eigene Viehzüge von Simbach nach München Süd ein. 1896 fertigten die Bayerischen Staatseisenbahnen am Grenzbahnhof Simbach 25.414 Rinder ab; bis 1902 erhöhte sich die Zahl auf 61.778 Rinder. Im innerbayerischen Viehversand hatten zudem die Zwischenbahnhöfe Dorfen, Mühldorf, Neuötting und Marktl ein hohes Aufkommen. Ebenfalls von Bedeutung war der Milchtransport nach München, der mit in die Reisezüge eingestellten Milchkurswagen durchgeführt wurde. Mit über 4,6 Millionen Liter Milch hatte die Strecke 1912 das drittgrößte Aufkommen der auf München zuführenden Bahnstrecken. Ab etwa 1900 setzten die Bayerischen Staatseisenbahnen erste Durchgangsgüterzüge ein, die die Strecke München–Simbach im Gegensatz zu den Nah- und Stückgüterzügen ohne Rangier- und Verladearbeiten an den Zwischenstationen zurücklegten. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellten die Bayerischen Staatseisenbahnen die meisten Durchgangsgüterzüge ein, um die Strecke für Militärtransporte nutzen zu können. Im weiteren Kriegsverlauf kam es zu einer starken Zunahme des Güterverkehrs durch Rüstungsbetriebe: Auf dem Streckenabschnitt München–Mühldorf wurden vor allem Kalkstickstoff aus den Werken Trostberg, Schalchen und Hart an der Alz der Bayerischen Stickstoffwerke und Aceton aus den Wacker-Werken in Burghausen transportiert. Ab 1923 war die Aluminiumhütte der Innwerk AG, später der Vereinigten Aluminium-Werke (VAW), über eine neu errichtete Werksbahn an den Bahnhof Töging angeschlossen. Mit Ganzzügen wurden jährlich bis zu 120.000 Tonnen Aluminiumoxid angeliefert und bis zu 55.000 Tonnen Aluminium und Aluminiumlegierungen abtransportiert. Die Traktion auf der Werksbahn ab dem Bahnhof Töging übernahmen die VAW mit einer werkseigenen Rangierdampflokomotive. Ab Anfang der 1920er Jahre war der neue Rangierbahnhof München Ost Ausgangspunkt der meisten Güterzüge auf der Strecke. Einzelne Nah- und Stückgüterzüge verkehrten nun nicht mehr über die gesamte Strecke, sondern nur noch bis Feldkirchen, Markt Schwaben und Mühldorf. Um die bisher in Reisezügen beförderten Eilgut-, Vieh- und Milchkurswagen abzulösen, führte die Deutsche Reichsbahn 1924 Naheilgüterzüge mit Halt an allen Stationen ein. Mit der Einführung von Leichten Güterzügen im Stückgut-Schnellverkehr zwischen München-Laim Rbf und Simbach konnte die Deutsche Reichsbahn die Transportgeschwindigkeiten ab 1930 deutlich erhöhen. Ab Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Strecke verstärkt für Rüstungstransporte aus den Chemiewerken in Töging, Trostberg, Hart an der Alz und Gendorf genutzt. 1944 richtete die Deutsche Reichsbahn zwischen Ampfing und Mühldorf einen Gleisanschluss zur Bedienung des Militärflugplatzes Mettenheim ein, der direkt nach Kriegsende wieder demontiert wurde. Die Deutsche Bundesbahn verlegte Anfang der 1950er Jahre die Nahgüterzüge und Leichten Güterzüge überwiegend in die Nachtstunden, um die Reisezüge möglichst wenig zu behindern. Bis in die 1960er Jahre hatte die Strecke noch ein hohes Aufkommen im Vieh- und Stückgutverkehr, bevor dieser zugunsten des Straßengüterverkehrs zunehmend zurückging. Anfang der 1960er stellte die Deutsche Bundesbahn die Viehzüge und Mitte der 1960er den Stückgut-Schnellverkehr ein. In den 1970er Jahren ersetzte sie die durchgehenden Nahgüterzüge mit Halt an allen Stationen durch Übergabezüge, die von München Ost und Mühldorf aus einzelne Abschnitte der Strecke sowie die abzweigenden Nebenbahnen Thann-Matzbach–Haag und Dorfen–Velden bedienten. Unterdessen stieg ab den 1950er Jahren der Güterverkehr zu den Betrieben im Bayerischen Chemiedreieck, insbesondere zu den Werken in Trostberg, Gendorf und den Wacker-Werken stark an. Ab den 1970er Jahren verkehrten daher zunehmend Ganzzüge von München über Mühldorf nach Trostberg und Burghausen. 1984 führte die Deutsche Bundesbahn bereits 18 Ganzzüge über den Streckenabschnitt München–Mühldorf, die von den Chemiewerken nach Hamburg, Dormagen, Fürstenhausen, Ludwigshafen, Mannheim, Würzburg und Ingolstadt fuhren. Zudem verkehrten Bauxit-Züge zum Gleisanschluss des Aluminiumwerks Töging und grenzüberschreitend zum Aluminiumwerk Ranshofen bei Braunau. Daneben gab es insgesamt 18 Nahgüterzüge, die überwiegend von München nach Mühldorf, Feldkirchen und Erding liefen, sowie 35 Übergabezüge zur Bedienung der Gleisanschlüsse und Ortsgüteranlagen. Ab den 1980er Jahren stellte die Deutsche Bundesbahn den Wagenladungsverkehr an vielen Zwischenstationen der Strecke ein; bis Ende der 1990er wurden die meisten Ortsgüteranlagen aufgelassen. Noch bis April 2011 setzte DB Cargo ein werktägliches Übergabezugpaar zwischen Mühldorf und Simbach ein; mit seiner Einstellung endete die Bedienung des Bahnhofs Simbach im Güterverkehr. Seit Auflösung der Güterverkehrsstelle Töging (Inn) 2016 führt DB Cargo nur mehr München-Riem, München-Riem Ubf, Feldkirchen (b München), Heimstetten und Mühldorf (Oberbay) als Tarifpunkte des Wagenladungsverkehrs. Ortsgüteranlagen werden durch DB Netz in München-Riem und Mühldorf sowie – wenngleich nicht durch DB Cargo bedient – in Simbach vorgehalten. Mit der Schließung des Aluminiumwerks Töging endete 1996 der Verkehr von schweren Aluminiumoxid-Ganzzügen über die Werksbahn Töging. Nachfolgebetriebe im Industriepark Inntal, vor allem die Firma Aleris Recycling, wurden anschließend noch bedarfsweise von Übergabezügen bedient. Ende 2013 wurde das Anschlussgleis aufgrund von Schäden am Oberbau gesperrt; zum 1. Januar 2016 strich DB Cargo den Bahnhof Töging (Inn) entsprechend als Güterverkehrsstelle. Den Güterverkehr betreibt 2020 neben vereinzelten privaten Anbietern die DB-Tochter DB Cargo. Vor allem der Ganzzugverkehr aus dem Bayerischen Chemiedreieck sorgt für ein erhebliches Güterverkehrsaufkommen. Insgesamt ist der Streckenabschnitt Markt Schwaben–Ampfing damit eine der am stärksten befahrenen eingleisigen Strecken Deutschlands: 2011 wurden mit etwa drei Millionen Tonnen mehr als ein Prozent der deutschlandweit auf der Schiene transportierten Menge an Gütern über diese eingleisige, nicht elektrifizierte Strecke abgewickelt. Im Abschnitt Mühldorf–Simbach verkehren werktäglich einige grenzüberschreitende Kesselwagen-Ganzzüge von DB Cargo, die die Chemiewerke in Burghausen mit Österreich und der Slowakei verbinden. In Simbach übernehmen die Österreichischen Bundesbahnen diese Züge. Kursbuchstrecken In den ersten Betriebsjahren war die Strecke München–Simbach in den Kursbüchern zunächst als Teil der durchgehenden Verbindung Ulm–Simbach verzeichnet; ab den 1880er Jahren bildete sie eine eigenständige Kursbuchstrecke. Im Reichs-Kursbuch trug sie lange die Nummer 302; im neuen Nummernsystem des Deutschen Kursbuchs erhielt sie die Nummer 427. Ab 1970 war die Zweigstrecke Mühldorf–Burghausen in die Kursbuchtabelle der Strecke München–Simbach integriert, die 1972 die neue Nummer 940 erhielt. 1992 teilte die Deutsche Bundesbahn die Abschnitte München–Mühldorf, Mühldorf–Simbach und die Strecke Mühldorf–Burghausen in drei getrennte Kursbuchstrecken auf. Seitdem ist der Westabschnitt im Kursbuch unter der Nummer 940, der Ostabschnitt unter der Nummer 941 verzeichnet. Der Vorortverkehr von München Ost nach Schwaben war im Reichs-Kursbuch unter einer eigenen Kursbuchstrecke mit der Nummer 313a verzeichnet. Im Deutschen Kursbuch gab es ab den 1930er Jahren eine durchgehende Kursbuchstrecke München Ost–Erding unter Einbeziehung der Strecke Markt Schwaben–Erding. Seit Betriebsaufnahme der S-Bahn 1972 richtet sich die Kursbuchstrecke nach der auf der Strecke verkehrenden S-Bahn-Linie. Literatur Weblinks Ausbaustrecke München–Mühldorf–Freilassing. In: abs38.de. DB Netz AG. Georg Sattler: München – Mühldorf (– Simbach). Fotodokumentation 1988–2013. In: doku-des-alltags.de. Martin Wiedenmannott: Bahnstrecke Mühldorf–Simbach. Geschichte(n) einer Hauptbahn. In: muehldorf-simbach.de. Einzelnachweise Bahnstrecke in Bayern Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Bahnstrecke MunchenSimbach Internationale Bahnstrecke Eisenbahnprojekt in Deutschland
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Ungeschriebene Lehre
Als ungeschriebene Lehre bezeichnet man eine dem antiken Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.) zugeschriebene metaphysische Lehre. Sie wird in der neueren Forschung Prinzipienlehre genannt, denn sie handelt von zwei höchsten Prinzipien, auf die alles zurückgeführt wird. Die Bezeichnung „ungeschriebene Lehre“ bezieht sich auf die Annahme, dass Platon sein Konzept zwar mündlich dargelegt, aber nie schriftlich fixiert hat. Die Glaubwürdigkeit der einschlägigen Quellen ist umstritten. Ihnen zufolge war Platon der Meinung, bestimmte Teile seiner Lehre seien nicht zur Veröffentlichung geeignet. Da diese Lehrinhalte nicht auf allgemeinverständliche Weise schriftlich dargelegt werden könnten, müsse ihre Verbreitung in schriftlich fixierter Form zu Missverständnissen führen. Daher soll sich Platon darauf beschränkt haben, die ungeschriebene Lehre in seiner Philosophenschule, der Akademie, fortgeschrittenen Schülern zu erläutern. Aus dem mündlichen Unterricht sollen die überlieferten Angaben über den Inhalt stammen. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Philosophiehistoriker den großangelegten Versuch unternommen, die Grundzüge der „ungeschriebenen Lehre“ systematisch zu rekonstruieren. Dieses Vorhaben einer Forschergruppe, die „Tübinger Platonschule“ genannt wird, hat bei vielen Altertumswissenschaftlern Anklang gefunden. Andererseits haben aber auch zahlreiche Forscher Vorbehalte geltend gemacht oder die Rekonstruktion insgesamt verworfen. Manche Kritiker halten die Quellengrundlage der Tübinger Rekonstruktion für unzureichend, andere bestreiten sogar die Existenz einer ungeschriebenen Lehre Platons oder bezweifeln zumindest ihren systematischen Charakter und betrachten sie als ein unausgearbeitetes Konzept. Die intensive und teilweise scharfe Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern des „Tübinger Platonbilds“ wird von beiden Seiten mit großem Nachdruck geführt und von den Befürwortern als Paradigmenwechsel in der Platonforschung eingestuft. Terminologie Der Ausdruck „ungeschriebene Lehren“ ( ágrapha dógmata) zur Bezeichnung von schulinternen Lehrinhalten Platons ist erstmals bei dessen Schüler Aristoteles bezeugt. In seiner Physik schreibt Aristoteles, Platon habe in seinem Dialog Timaios einen Begriff anders verwendet als „in den sogenannten ungeschriebenen Lehren“. Auf diesen antiken Ausdruck greifen die modernen Befürworter der Authentizität der Prinzipienlehre zurück. Aristoteles verwendet hier das Wort „sogenannt“ nicht ironisch, sondern wertneutral. In der Forschungsliteratur ist auch von der „esoterischen Lehre“ Platons die Rede. Mit Esoterik im heute geläufigen Sinn des Wortes hat dies aber nichts zu tun, und es ist auch keine Geheimlehre gemeint. Der Begriff soll nur ausdrücken, dass die ungeschriebene Lehre für einen inneren Kreis von Philosophieschülern bestimmt war, die über die nötigen Vorkenntnisse verfügten und sich bereits mit der exoterischen Ideenlehre auseinandergesetzt hatten. Die modernen Befürworter der Rekonstruierbarkeit der ungeschriebenen Lehre werden manchmal verkürzend und salopp als „Esoteriker“ bezeichnet, die Vertreter von skeptischen Gegenpositionen als „Anti-Esoteriker“. Da die Rekonstruktion in erster Linie von Forschern der Universität Tübingen unternommen und verteidigt wurde, spricht man von den „Tübingern“, der „Tübinger Schule“ oder – zur Unterscheidung von einer theologischen Tübinger Schule – von der „Tübinger Platonschule“. Das aus der Rekonstruktion resultierende neue Bild von Platons Metaphysik wird „Tübinger Paradigma“ genannt. Seit die Tübinger Platon-Interpretation in dem Mailänder Gelehrten Giovanni Reale einen engagierten Fürsprecher gefunden hat, ist auch von der „Tübinger und Mailänder Schule“ die Rede. Reale hat für die Prinzipienlehre die Bezeichnung „Protologie“ (Lehre vom Ersten) eingeführt, weil sie von den ersten Prinzipien handelt. Quellenlage und Indizien Die Argumentation für das Tübinger Paradigma erfolgt in zwei Schritten. Der erste Schritt besteht in der Präsentation der Belege und Indizien für die Existenz philosophisch relevanter Sonderinhalte von Platons mündlichem Unterricht. Damit soll gezeigt werden, dass Platons Dialoge, die alle erhalten geblieben sind, nicht seine gesamte Philosophie darstellen, sondern nur deren zur schriftlichen Verbreitung bestimmten Teil. Im zweiten Schritt wird der Quellenbefund für die mutmaßlichen Inhalte der ungeschriebenen Lehre ausgewertet und der Versuch unternommen, ein kohärentes System zu rekonstruieren. Argumente für die Existenz einer ungeschriebenen Lehre Für die Existenz einer ungeschriebenen Lehre werden hauptsächlich folgende Belege angeführt und Argumente vorgebracht: Stellen in der Metaphysik und der Physik des Aristoteles, insbesondere eine Stelle in der Physik, wo er ausdrücklich auf „sogenannte ungeschriebene Lehren“ Platons Bezug nimmt. Hierzu wird geltend gemacht, dass Aristoteles ein langjähriger Schüler Platons und Kenner des Unterrichtsbetriebs in der Akademie war und daher als gut informiert gelten kann. Der Bericht des Aristoxenos, eines Schülers des Aristoteles, über Platons öffentlichen Vortrag „Über das Gute“. Wie Aristoxenos mitteilt, pflegte Aristoteles zu erzählen, der Vortrag habe mathematische und astronomische Darlegungen enthalten und Platon habe auch das Eine – das höchste Prinzip – thematisiert. Die letztere Angabe und der Titel des Vortrags lassen erkennen, dass es um die Prinzipienlehre ging. Nach der Darstellung des Aristoteles stieß der Vortrag bei dem philosophisch unkundigen Publikum auf Unverständnis. Platons „Schriftkritik“ in den Dialogen. In mehreren unzweifelhaft echten Dialogen artikuliert Platon seine Skepsis gegenüber der Schrift als Medium des Wissenstransfers und bringt seine Bevorzugung mündlicher Wissensvermittlung zum Ausdruck. Eine ausführliche Erläuterung seiner Position bietet er im Dialog Phaidros. Dort begründet er die Überlegenheit mündlicher gegenüber schriftlicher Verbreitung philosophischer Lehren mit der weitaus größeren Flexibilität des mündlichen Diskurses, die ein entscheidender Vorteil sei. Der Autor eines Textes könne sich nicht auf den Kenntnisstand und die Bedürfnisse der einzelnen Leser einstellen, er könne weder deren Fragen beantworten noch auf Kritik eingehen. All dies sei nur im Gespräch möglich; dort sei die Sprache lebendig und beseelt. Das Geschriebene sei nur ein Abbild des Gesprochenen. Das Schreiben und Lesen führe nicht nur zu einer Schwächung des Gedächtnisses, sondern sei auch zur Vermittlung von Weisheit ungeeignet; diese könne nur durch mündlichen Unterricht erfolgen. Nützlich seien geschriebene Worte nur als Gedächtnisstütze für diejenigen, die schon Bescheid wissen. Literarische Tätigkeit sei nur Spielerei. Das Wesentliche seien die persönlichen Gespräche mit Schülern, bei denen die Worte auf jeweils individuelle Weise in die Seele geschrieben würden. Nur wer so lehren könne, sei als Philosoph zu betrachten. Wer hingegen nichts „Wertvolleres“ (timiōtera) habe als schriftliche Texte, an deren Formulierung er lange gefeilt hat, der sei nur Schriftsteller. Das „Wertvollere“ – die Deutung dieser Stelle ist sehr umstritten – wird als Hinweis auf die ungeschriebene Lehre gedeutet. Die Schriftkritik im Siebten Brief, dessen Echtheit umstritten ist, aber von der Tübinger Schule angenommen wird. Dort äußert sich Platon – falls er tatsächlich der Verfasser ist – zu seinen nur mündlich vermittelten Lehren (das, „womit es mir ernst ist“). Er stellt nachdrücklich fest, es gebe darüber von ihm keine Schrift und werde auch niemals eine geben, denn dieser Stoff lasse sich keineswegs so wie andere Lerngegenstände mitteilen. Vielmehr entstehe das Verständnis in der Seele aus intensiver gemeinsamer Bemühung und aus dem gemeinsamen Leben. Dies geschehe plötzlich, wie ein übergesprungener Funke ein Licht entzündet. Eine schriftliche Fixierung sei schädlich, denn sie würde nur in den Lesern Illusionen erzeugen: entweder die Verachtung von Unverstandenem oder die Arroganz des Scheinwissens. Die „Aussparungsstellen“ in den Dialogen. In den Dialogen finden sich zahlreiche Stellen, an denen ein besonders wichtiges Thema zwar angesprochen, aber nicht näher erörtert wird. In manchen Fällen bricht die Diskussion gerade dort ab, wo sie sich dem Kern eines Problems nähert. Dabei geht es um Fragen, die für die Philosophie von grundlegender Bedeutung sind. Die Befürworter des Tübinger Paradigmas deuten die Aussparungsstellen als Hinweise auf Inhalte der ungeschriebenen Lehre, die in den Dialogen nur angedeutet werden können. Der Umstand, dass eine Unterscheidung zwischen „exoterischem“, zur Verbreitung in weiten Kreisen bestimmtem Wissen und „esoterischem“, nur für den Unterricht in einer Schule geeignetem Stoff nicht ungewöhnlich war. Auch Aristoteles hat eine solche Unterscheidung vorgenommen. Die in der Antike verbreitete Auffassung, dass der Gehalt derjenigen Lehren Platons, die mündlicher Mitteilung vorbehalten blieben, wesentlich über das in den Dialogen Dargelegte hinausging. Die mutmaßlich folgerichtige Durchführung von Platons Vorhaben, Individuelles auf Allgemeines und Vielheit auf Einheit zurückzuführen. Mit der Ideenlehre reduzierte er die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt auf die geringere Vielfalt der den Erscheinungen zugrunde liegenden Ideen. Innerhalb des hierarchisch geordneten Ideenreichs ließ er die vielen spezielleren Ideen von den weniger zahlreichen allgemeineren, umfassenden Ideen abhängen. Daraus ergibt sich die Vermutung, dass die Einführung der Ideen nur eine Etappe auf seinem Weg von der maximalen Vielheit zur größtmöglichen Einheit war. Es läge in der Konsequenz seines Denkens, die Zurückführung von Vielheit auf Einheit zum Abschluss zu bringen. Dies müsste in einer unveröffentlichten Theorie von den höchsten Prinzipien geschehen sein. Die Quellenbasis der Rekonstruktion Platon hat die schriftliche Verbreitung angeblicher Inhalte der ungeschriebenen Lehre zwar – falls der Siebte Brief echt ist – scharf missbilligt, doch gab es keine Schweigepflicht der „Eingeweihten“. Der „esoterische“ Charakter der Lehre ist nicht im Sinne einer Geheimhaltungsvorschrift oder eines Aufzeichnungsverbots zu verstehen. Vielmehr fertigten Schüler in der Akademie Aufzeichnungen an, die sie später veröffentlichten oder bei der Abfassung eigener Werke verwerteten. Dies spricht für die Rekonstruierbarkeit von Platons nur mündlich dargelegter Lehre anhand der „indirekten Tradition“, der Angaben anderer Autoren. Für die Rekonstruktion der ungeschriebenen Lehre sind vor allem folgende Quellen herangezogen worden: Die Metaphysik (Bücher Α, Μ und N) und die Physik (Buch Δ) des Aristoteles Fragmente von Aristoteles’ verlorenen Schriften Über das Gute und Über die Philosophie Die Metaphysik Theophrasts, eines Schülers des Aristoteles Zwei Fragmente der verlorenen Schrift Über Platon, die Platons Schüler Hermodoros von Syrakus verfasste Ein Fragment eines verlorenen Werks von Platons Schüler Speusippos Die Schrift Adversus mathematicos des Sextus Empiricus (10. Buch). Die dort dargestellten Lehren werden von Sextus allerdings nicht ausdrücklich Platon zugeschrieben, sondern als pythagoreisch bezeichnet. Dass Platon ihr Urheber sei, ist eine nur auf Indizien gestützte Hypothese. Platons Dialoge Politeia und Parmenides. Wenn man Platon aufgrund der indirekten Tradition die Prinzipienlehre zuschreibt, erscheinen manche Äußerungen und Gedankengänge in diesen beiden Dialogen in einem anderen Licht. Die so interpretierten Dialogtexte tragen dann ihrerseits zur schärferen Konturierung des Bildes von der Prinzipienlehre bei. Auch Erörterungen in anderen Dialogen – etwa dem Philebos und dem Timaios – können dann anders verstanden und in das System des Tübinger Paradigmas eingeordnet werden. Sogar in frühen Dialogen sind Anspielungen auf die Prinzipienlehre vermutet worden. Der mutmaßliche Inhalt Die Befürworter des Tübinger Paradigmas haben sich anhand der verstreuten Angaben und Indizien in den Quellen intensiv um die Rekonstruktion der Prinzipienlehre bemüht. Sie sehen in dieser Lehre das Kernstück der Philosophie Platons und sind zu einem relativ geschlossenen Bild ihrer Grundzüge gelangt. Allerdings sind viele wichtige Einzelheiten unbekannt oder strittig. Ein wichtiger Aspekt des Tübinger Paradigmas ist die Annahme, dass die ungeschriebene Lehre nicht zusammenhanglos neben der geschriebenen steht, sondern dass zwischen ihnen eine enge und notwendige Verbindung besteht. Sofern das Tübinger Paradigma der authentischen Lehre Platons entspricht, hat er mit der Prinzipienlehre in der Metaphysik einen neuen Weg beschritten. In der Ideenlehre hatte er manche Vorstellungen der Eleaten, einer Richtung der Vorsokratiker, aufgegriffen. Die Prinzipienlehre hingegen bricht mit der Grundüberzeugung der Eleaten, wonach nichts über dem vollkommenen, unwandelbaren Sein steht. Sie ersetzt diese Vorstellung durch das neuartige Konzept einer absoluten Transzendenz, das über das Sein hinausführt. Jenseits der seienden Dinge wird ein schlechthin vollkommener Bereich des „Überseienden“ oder „Seinstranszendenten“ angenommen. Dort soll der Ursprung aller seienden Dinge zu suchen sein. „Seinstranszendent“ nennt man das, was das Sein transzendiert (übersteigt), das heißt: sich auf einer höheren Ebene als die seienden Dinge befindet. In einem solchen Modell ist alles Seiende als solches in gewisser Hinsicht unvollkommen, da der Übergang vom absolut transzendenten Übersein zum Sein bereits eine Einschränkung der ursprünglichen absoluten Vollkommenheit darstellt. Die beiden Urprinzipien und ihr Zusammenwirken Mit der Ideenlehre führt Platon die sinnlich wahrnehmbare Welt auf vollkommene, unveränderliche Ideen zurück. Für ihn ist das Reich der „platonischen“ Ideen eine objektiv existierende metaphysische Realität, die unabhängig vom Dasein der Sinnesobjekte besteht. Die Ideen, nicht die Objekte der Sinneserfahrung, stellen die eigentliche Wirklichkeit dar. Sie sind die im eigentlichen Sinne seienden Dinge. Als prägende Muster der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind sie die Ursachen von deren Beschaffenheit und verleihen ihnen die Existenz. So wie die Ideenlehre die Existenz und Vielfalt der Erscheinungswelt erklären soll, dient die Prinzipienlehre als einheitliche Erklärung für die Existenz und Vielfalt des Ideenreichs. Die Zusammenfügung der beiden Theorien zielt somit auf ein vereinheitlichtes Modell von allem. Mit der Prinzipienlehre wird die Existenz der Ideen und damit auch diejenige der Sinnesobjekte auf nur zwei Urprinzipien zurückgeführt. Die beiden fundamentalen Urprinzipien sind das Eine als Prinzip der Einheit und Bestimmtheit und die „unbegrenzte“ oder „unbestimmte“ Zweiheit (ahóristos dyás). Die unbestimmte Zweiheit soll Platon als „das Große und Kleine“ oder „das Groß-Kleine“ (to méga kai to mikrón) beschrieben haben. Sie ist das Prinzip der Verminder- und Vermehrbarkeit, des Zweideutigen und Unbestimmten und der Vielheit. Dabei handelt es sich nicht um Unbegrenztheit im Sinne einer räumlichen oder quantitativen Unendlichkeit, sondern die Unbestimmtheit besteht im Fehlen einer Festlegung und damit einer Gestaltung. Mit der Bezeichnung „unbestimmt“ wird die Zweiheit als Urprinzip von der bestimmten Zweiheit – der Zahl Zwei – unterschieden und als meta-mathematisch gekennzeichnet. Die Einheit und die unbestimmte Zweiheit sind die Anfangsgründe von allem, denn aus ihrem Zusammenwirken resultiert die Ideenwelt und damit die Gesamtwirklichkeit. Die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnesphänomene beruht letztlich auf nur zwei Faktoren. Die formgebende Einheit ist die erzeugende Instanz, die formlose unbestimmte Zweiheit dient der Wirksamkeit der Einheit als Substrat. Ohne das Substrat könnte die Einheit nichts hervorbringen. Alles Sein beruht darauf, dass das Eine auf die unbestimmte Zweiheit einwirkt, indem es dem Formlosen Grenzen setzt, ihm Form und Merkmale verleiht und damit als Individuationsprinzip die einzelnen Entitäten in die Existenz bringt. In allem Seienden liegt eine Mischung der beiden Urprinzipien vor. Je nachdem, ob das eine oder das andere Urprinzip überwiegt, herrscht in den Entitäten Ordnung oder Unordnung vor. Je chaotischer etwas ist, desto stärker tritt darin die Präsenz des Zweiheitsprinzips hervor. Nach dem Tübinger Paradigma prägt das Konzept der beiden gegensätzlichen Urprinzipien nicht nur die Ontologie, sondern auch die Logik, die Ethik, die politische Philosophie, die Kosmologie, die Erkenntnistheorie und die Seelenlehre Platons. In der Ontologie entspricht dem Prinzipiengegensatz der Gegensatz von Sein und Nichtsein; je mehr sich in einem Ding der Einfluss des Zweiheitsprinzips geltend macht, desto geminderter ist sein Sein und desto niedriger daher sein ontologischer Rang. In der Logik steht die Einheit für Identität und Gleichheit, die unbestimmte Zweiheit für Verschiedenheit und Ungleichheit. Der ethischen Einstufung zufolge bedeutet die Einheit „Gutheit“ (aretḗ), die unbestimmte Zweiheit Schlechtigkeit. Im Staat ist die Einheit der Bürger das, was ihn zum Staat macht und seinen Fortbestand ermöglicht, während die Zweiheit sich als das spaltende, chelatisierende und auflösende Prinzip bemerkbar macht. In der Kosmologie zeigt sich die Einheit in der Ruhe, in der Beständigkeit und Ewigkeit der Welt, aber auch in der Belebtheit des Kosmos und im planmäßigen Handeln des Schöpfergottes (Demiurgen); die unbestimmte Zweiheit ist dort das Prinzip der Bewegung und Veränderung, insbesondere der Vergänglichkeit und speziell des Todes. Erkenntnistheoretisch steht die Einheit für das philosophische Wissen, das auf Kenntnis der unwandelbaren platonischen Ideen beruht, die unbestimmte Zweiheit für das von den Sinneseindrücken abhängige bloße Meinen. Im Seelenleben entspricht der Einheit die Vernunft, der unbestimmten Zweiheit der Bereich der Triebe und körpergebundenen Affekte. Die Abhängigkeit des Zweiheitsprinzips vom Einen ist allerdings nicht im Sinne einer reinen Negativität des zweiten Urprinzips, das an sich selbst betrachtet keinen positiven Seinsbestand begründet, aufzufassen. Nur in den vergänglichen Erscheinungen bewirkt die unbestimmte Zweiheit einen Mangel an Sein, indem sie die Bestimmtheit des Seins abschwächt. In der Ideenwelt hingegen ruft sie die gegenteilige Wirkung hervor: Fülle der Ideen und damit Reichtum an Seinsgehalt. Dort wird die Negativität der Zweiheit durch die Übermacht des Einen in Positivität umgewandelt. Monismus und Dualismus Die Annahme zweier Urprinzipien wirft die Frage auf, ob die Prinzipienlehre und damit im Fall ihrer Authentizität Platons gesamte Philosophie monistisch oder dualistisch ist. Monistisch ist das Modell, falls dem Gegensatz zwischen der Einheit und der unbestimmten Zweiheit ein einziges Prinzip zugrunde liegt. Dies ist der Fall, wenn das Vielheitsprinzip auf das Einheitsprinzip zurückgeführt und diesem dadurch untergeordnet wird. Eine andere monistische Interpretation der Prinzipienlehre besteht in der Annahme einer übergeordneten Meta-Einheit, die den beiden gegensätzlichen Prinzipien zugrunde liegt und sie vereinigt. Wenn hingegen die unbegrenzte Zweiheit als für sich getrennt bestehendes, von jeglicher Einheit unabhängiges Urprinzip aufgefasst wird, handelt es sich um eine dualistische Lehre. Den Angaben der Quellen lässt sich nicht eindeutig entnehmen, wie man sich das Verhältnis der beiden Urprinzipien vorzustellen hat. Klar ist immerhin, dass dem Einen ein höherer Rang zugewiesen wird als der unbestimmten Zweiheit und dass nur das Eine als absolut transzendent betrachtet wird. Dies spricht für eine monistische Interpretation der Prinzipienlehre und passt zu Äußerungen Platons in seinen Dialogen, die eine monistische Denkweise erkennen lassen. Im Dialog Menon schreibt er, dass alles in der Natur unter sich verwandt sei, und in der Politeia ist zu lesen, dass es einen Ursprung (archḗ) von allem gebe, den die Vernunft ergreifen könne. Bei den Befürwortern des Tübinger Paradigmas sind die Meinungen zu dieser Frage geteilt. Nach dem vorherrschenden Lösungsansatz betrachtete Platon zwar die unbestimmte Zweiheit als unentbehrlichen Grundbestandteil der Weltordnung, nahm aber ein allem übergeordnetes Einheitsprinzip an und war daher Monist. Diese Position haben Jens Halfwassen, Detlef Thiel und Vittorio Hösle ausführlich begründet. Halfwassen hält es für unmöglich, die unbestimmte Zweiheit aus dem Einen abzuleiten, da sie damit ihren Status als Urprinzip verlöre und weil das absolut transzendente Eine keine latente Vielheit in sich enthalten könne. Die unbestimmte Zweiheit sei aber dem Einen nicht gleichursprünglich und gleichmächtig, sondern von ihm abhängig. Sie sei Prinzip des Seienden nur im Zusammenwirken mit dem Einen, das allein Sein und Bestimmtheit setze. Damit erweist sich Platons Philosophie nach Halfwassens Deutung als letztlich monistisch. John Niemeyer Findlay plädiert ebenfalls nachdrücklich für ein monistisches Verständnis der Prinzipienlehre. Für Cornelia J. de Vogel ist der monistische Aspekt der Lehre der überwiegende. Von einem System mit teils monistischen, teils dualistischen Zügen gehen Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser aus. Christina Schefer meint, der Prinzipien-Gegensatz sei logisch unaufhebbar und weise daher über sich hinaus. Er verweise auf eine „unsagbare“ intuitive Urerfahrung, die Platon gemacht habe: die Erfahrung des Gottes Apollon als des gemeinsamen Grundes hinter den beiden Urprinzipien. Auch dieser Ansatz läuft somit auf eine monistische Gesamtkonzeption hinaus. Obwohl die Prinzipienlehre nach der heute vorherrschenden Forschungsmeinung als letztlich monistisches System angelegt ist, hat sie auch einen dualistischen Aspekt. Dieser wird von den Vertretern monistischer Interpretationen nicht bestritten, doch meinen sie, dass er der monistischen Gesamtstruktur untergeordnet ist. Die dualistische Seite des Konzepts besteht darin, dass nicht nur die Einheit, sondern auch die unbestimmte Zweiheit als Urprinzip aufgefasst wird. Diese Ursprünglichkeit der Zweiheit betont Giovanni Reale. Er hält aber den Begriff Dualismus für unpassend und spricht lieber von einer „bipolaren Struktur des Wirklichen“. Dabei berücksichtigt Reale aber auch, dass die beiden Pole nicht gleichgewichtig sind. Er stellt fest, dass die Einheit „der Zweiheit hierarchisch überlegen bleibt“. Gegen jede Ableitung der Zweiheit aus einem übergeordneten Einheitsprinzip und damit für einen konsequenten Dualismus Platons plädieren Heinz Happ, Marie-Dominique Richard und Paul Wilpert. Sie glauben, dass ein ursprünglicher Dualismus Platons später monistisch umgedeutet worden sei. Wenn die Prinzipienlehre authentisch und ihre monistische Deutung richtig ist, erhält Platons Metaphysik einen Charakter, der stark an die neuplatonischen Modelle aus der römischen Kaiserzeit erinnert. In diesem Fall ist das neuplatonische Verständnis seiner Philosophie in einem zentralen Bereich historisch richtig. Dann ist der Neuplatonismus weniger neuartig, als er ohne die Prinzipienlehre erschiene. Vertreter des Tübinger Paradigmas weisen auf diese Konsequenz hin. Sie sehen in Plotin, dem Begründer des Neuplatonismus, den konsequenten Fortsetzer einer von Platon selbst begründeten Denkrichtung. Plotins metaphysisches System sei in seinen Grundzügen schon der Generation von Platons Schülern vertraut gewesen. Dies entspricht Plotins eigener Sichtweise, denn er betrachtete sich nicht als Neuerer, sondern als getreuen Ausleger der Lehre Platons. Das Gute in der ungeschriebenen Lehre Ein wichtiges Forschungsproblem ist die umstrittene Frage nach der Stellung der Idee des Guten in dem metaphysischen System, das sich aus der Kombination von Ideenlehre und rekonstruierter Prinzipienlehre ergibt. Die Klärung dieser Frage hängt davon ab, wie man den Status deutet, den Platon der Idee des Guten im Rahmen der Ideenlehre zugedacht hat. In der Politeia grenzt er sie scharf von den übrigen Ideen ab. Er weist ihr eine einzigartige Vorrangstellung zu, denn nach seiner Überzeugung verdanken alle anderen Ideen ihr Sein dieser einen Idee. Somit sind sie ihr ontologisch untergeordnet. Den Ausgangspunkt der Forschungskontroverse bildet das umstrittene Verständnis des griechischen Begriffs Ousia – wörtlich „Seiendheit“ –, der gewöhnlich mit „Sein“ oder „Wesen“ wiedergegeben wird. In der Politeia ist zu lesen, das Gute sei „nicht die Ousia“, sondern „jenseits der Ousia“ und übertreffe sie an Ursprünglichkeit und Macht. Wenn hier nur das Wesen gemeint ist oder wenn die Stelle frei ausgelegt wird, lässt sich die Idee des Guten innerhalb des Ideenbereichs, des Bereichs der seienden Dinge, verorten. In diesem Fall kommt ihr keine absolute Transzendenz zu. Sie ist dann nicht seinstranszendent oder überseiend, sondern nimmt nur unter den seienden Dingen eine Vorrangstellung ein. Nach dieser Interpretation ist sie nicht Gegenstand der Prinzipienlehre, sondern nur der Ideenlehre. Wenn hingegen mit Ousia das Sein gemeint ist und die Stelle wörtlich ausgelegt wird, ist „jenseits der Ousia“ im Sinne von Seinstranszendenz zu verstehen. Dieser Deutung zufolge hat Platon die Idee des Guten als absolut transzendent betrachtet. Dann muss sie in den Bereich, mit dem sich die Prinzipienlehre befasst, eingeordnet werden. Falls Platon die Idee des Guten als seinstranszendent aufgefasst hat, stellt sich das Problem ihres Verhältnisses zum Einen. Die meisten Verfechter der Existenz der ungeschriebenen Lehre meinen, dass das Eine und die Idee des Guten für Platon identisch waren. Ihrer Argumentation zufolge ergibt sich die Identität daraus, dass es im Bereich der absoluten Transzendenz keine Bestimmungen und damit auch keine Unterscheidung zweier Prinzipien geben kann. Außerdem berufen sich die Vertreter der Identitätshypothese auf Angaben des Aristoteles. Eine abweichende Meinung vertritt Rafael Ferber. Er bejaht zwar die Existenz einer ungeschriebenen Lehre, deren Gegenstand das Gute gewesen sei, lehnt aber die Gleichsetzung des Guten mit dem Einen ab. Die idealen Zahlen Dem Bericht des Aristoxenos über Platons Vortrag „Über das Gute“ ist zu entnehmen, dass Ausführungen über die Zahlenlehre einen wesentlichen Teil der Argumentation ausmachten. Diese Thematik hat demnach in der ungeschriebenen Lehre eine wichtige Rolle gespielt. Es handelt sich dabei nicht um Mathematik, sondern um eine Philosophie der Zahlen. Platon unterscheidet zwischen den mathematischen Zahlen und metaphysischen „idealen“ (eidetischen) Zahlen. Im Gegensatz zu mathematischen Zahlen lassen sich metaphysische keinen arithmetischen Operationen unterziehen. Beispielsweise ist, wenn es um ideale Zahlen geht, mit der Zwei nicht die Zahl 2, sondern das Wesen der Zweiheit gemeint. Die idealen Zahlen nehmen eine Mittelstellung zwischen den Urprinzipien und den Ideen ein. Sie stellen die ersten Entitäten dar, die aus den Urprinzipien hervorgehen. Das Hervorgehen ist – wie bei allen metaphysischen Erzeugungen – nicht zeitlich als Ereignis, sondern nur im Sinne einer ontologischen Abhängigkeit zu verstehen. Beispielsweise entsteht aus dem Zusammenwirken des Einen – des bestimmenden Faktors – und der unbestimmten Zweiheit – des Vielheitsprinzips – die Zweiheit im Bereich der idealen Zahlen. Diese ist als Produkt der beiden gegensätzlichen Urprinzipien von beiden geprägt: Sie ist die bestimmte Zweiheit. Ihre Bestimmtheit zeigt sich darin, dass sie das Verhältnis zwischen einem bestimmten Übertreffenden (dem Doppelten) und einem bestimmten Übertroffenen (dem Halben) ausdrückt. Sie ist keine Zahl, sondern eine Beziehung zwischen zwei Größen, von denen die eine das Doppelte der anderen ausmacht. Indem das Eine als bestimmender Faktor auf die unbestimmte Zweiheit, die in der Prinzipienlehre „das Große und Kleine“ genannt wird, einwirkt, eliminiert es deren Unbestimmtheit, die jedes Verhältnis zwischen Großem und Kleinem, Übertreffendem und Übertroffenem einschließt. So erzeugt das Eine durch Bestimmung der unbestimmten Vielheit die bestimmten Größenverhältnisse, die in der Prinzipienlehre als ideale Zahlen aufgefasst werden. Es entsteht die bestimmte Zweiheit, die je nach Betrachtungsperspektive als Doppeltheit oder Halbheit erscheint. Ebenso werden auch die übrigen idealen Zahlen aus den Urprinzipien abgeleitet. In den idealen Zahlen ist die Raumstruktur angelegt, aus ihnen ergeben sich die Dimensionen des Räumlichen. Wesentliche Einzelheiten dieser überzeitlichen „Entstehungsvorgänge“ sind aber nicht überliefert; wie man sie sich vorzustellen hat, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Erkenntnistheoretische Aspekte Aussagen über das höchste Prinzip zählte Platon zum Zuständigkeitsbereich des Dialektikers, des methodisch folgernden Philosophen. Somit hat er die Prinzipienlehre – falls er ihr Urheber ist – auf diskursivem Weg entwickelt und argumentativ begründet. Dabei ergab sich für ihn, dass ein höchstes Prinzip notwendig sei; das Eine sei indirekt aus seinen Wirkungen zu erschließen. Ob oder inwieweit Platon außerdem einen unmittelbaren Zugang zum absolut transzendenten Bereich der ursprünglichen Einheit für möglich gehalten oder gar für sich in Anspruch genommen hat, ist in der Forschung umstritten. Es stellt sich die Frage, ob sich im Rahmen seiner Lehre aus der Seinstranszendenz eine Erkenntnistranszendenz ergeben musste oder ob er das höchste Prinzip zumindest theoretisch für erkennbar hielt. Auf diskursivem Weg konnte Platon nur bis zur Einsicht gelangen, dass das höchste Prinzip zwar ein Erfordernis seiner Metaphysik ist, dass dem absolut Transzendenten aber mit den Mitteln des Verstandes – der Dialektik – nicht beizukommen ist. Somit blieb ihm für ein Erfassen des Einen – und des Guten, falls er dieses mit dem Einen gleichsetzte – nur die Möglichkeit eines intuitiven Zugangs. Strittig ist, ob er diesen Weg tatsächlich beschritten hat. Wenn er es getan hat, verzichtete er damit auf den Anspruch, im philosophischen Diskurs über jeden Erkenntnisschritt Rechenschaft ablegen zu können. Hinsichtlich der Idee des Guten schließt Michael Erler aus Äußerungen in der Politeia, dass Platon sie für intuitiv erkennbar gehalten hat. Gegen eine eigenständige Rolle der Intuition im Erkenntnisprozess wenden sich hingegen u. a. Peter Stemmer, Kurt von Fritz und Jürgen Villers. Jens Halfwassen meint, dass die Intuition zwar als ein unmittelbares Erfassen durch nichtsinnliche Anschauung für die Erkenntnis der Ideenwelt eine zentrale Rolle spiele, das höchste Prinzip aber erkenntnistranszendent sei. Das Eine sei für Platon zwar das Prinzip der Erkennbarkeit und der Erkenntniskraft, es selbst aber bleibe jeder Erkenntnis und Sagbarkeit entzogen. Auch Christina Schefer nimmt an, dass Platon sowohl in der geschriebenen als auch in der ungeschriebenen Lehre einen wie auch immer gearteten philosophischen Zugang zum absolut Transzendenten ausgeschlossen habe. Er habe diesen Zugang aber auf einem anderen Weg gefunden: in einer „unsagbaren“ religiösen Erfahrung, der Theophanie des Gottes Apollon. Im Zentrum seines Weltbilds habe weder die Ideenlehre noch die Prinzipienlehre gestanden, sondern die Apollon-Erfahrung, die keinen Lehrinhalt begründet habe. Das Tübinger Paradigma sei zwar tatsächlich ein wichtiger Bestandteil von Platons Philosophie, aber die Prinzipienlehre führe in Aporien (Ausweglosigkeiten), in eine Paradoxie und damit in eine Sackgasse. Platons Äußerungen sei jedoch zu entnehmen, dass er einen Ausweg gefunden habe, der über die Prinzipienlehre hinausführe. In dieser Platon-Deutung erhält somit auch die ungeschriebene Lehre den Charakter von etwas Vorläufigem. Hinsichtlich der Gewissheit, mit der Platon die Prinzipienlehre für wahr hielt, gehen in der Forschung die Meinungen weit auseinander. Die Tübinger Schule unterstellt ihm einen erkenntnistheoretischen Optimismus. Besonders weit geht dabei Hans Krämer. Er ist der Ansicht, Platon habe für sich selbst mit dem höchsten möglichen Gewissheitsgrad den Anspruch auf eine Erkenntnis der Wahrheit dieser Lehre erhoben, sei also bezüglich der ungeschriebenen Lehre „Dogmatiker“ gewesen. Andere Forscher, darunter insbesondere Rafael Ferber, vertreten die Gegenposition, wonach die ungeschriebene Lehre für Platon nur eine möglicherweise irrige Hypothese war. Konrad Gaiser meint, Platon habe die ungeschriebene Lehre zusammenhängend formuliert und als in sich geschlossene Konzeption vorgetragen, aber nicht als „Summe von dogmatisch feststehenden, doktrinär vertretenen, autoritär verkündeten Lehrsätzen“, sondern als kritisch überprüfbares, verbesserungsfähiges, auf ständige Weiterentwicklung angelegtes Modell. Wesentlich ist für Platon die Verknüpfung der Erkenntnistheorie mit der Ethik. Er betont, dass der Zugang zu den mündlich vermittelten Einsichten nur jenen Seelen offenstehe, welche die charakterlichen Voraussetzungen erfüllten. Der Philosoph, der mündlichen Unterricht erteile, habe jeweils zu prüfen, ob beim Schüler die erforderliche charakterliche Disposition vorhanden sei. Nach Platons Verständnis geht es bei der Erkenntnisgewinnung nicht um ein bloßes Begreifen mit dem Intellekt; vielmehr wird die Einsicht als Frucht langwieriger Bemühungen von der gesamten Seele erworben. Zwischen der Seele, der etwas vermittelt werden soll, und dem, was ihr zu vermitteln ist, muss eine innere Verwandtschaft bestehen. Die Datierungsfrage und die historische Einordnung Umstritten ist, wann Platon seinen öffentlichen Vortrag über das Gute gehalten hat. Für die Befürworter des Tübinger Paradigmas hängt damit die Frage zusammen, ob die ungeschriebene Lehre zu Platons Spätwerk gehört oder schon relativ früh ausgearbeitet wurde. Bei der Beantwortung dieser Frage spielt auch der Gegensatz zwischen „Unitariern“ und „Revisionisten“ eine Rolle. Während die Unitarier meinen, Platon habe in der Metaphysik durchgängig eine kohärente Position vertreten, unterscheiden die Revisionisten verschiedene Entwicklungsphasen seines Denkens und nehmen an, dass er durch auftauchende Probleme genötigt worden sei, seine Auffassung gravierend zu ändern. In der älteren Forschung herrschte die Auffassung, „Über das Gute“ sei eine „Altersvorlesung“ gewesen, die Platon an seinem Lebensende gehalten habe. Die Entstehung der ungeschriebenen Lehre wurde meist in die späte Phase seiner philosophischen Aktivität gesetzt. In der neueren Forschung mehren sich jedoch die Stimmen für eine Frühdatierung der ungeschriebenen Lehre. Dies kommt dem Ansatz der Unitarier entgegen. Ob schon frühe Dialoge Anspielungen auf die ungeschriebene Lehre enthalten, ist umstritten. Der herkömmlichen Einordnung des öffentlichen Vortrags als Altersvorlesung widerspricht Hans Krämer energisch. Er meint, der Vortrag sei in der Frühzeit von Platons Lehrtätigkeit gehalten worden. Außerdem sei „Über das Gute“ nicht nur eine einmalige öffentliche Vorlesung gewesen. Vielmehr handle es sich um eine Vortragsreihe, von der nur der erste, einführende Vortrag versuchsweise vor einem breiteren, unvorbereiteten Publikum gehalten worden sei. Nach dem Fehlschlag des öffentlichen Auftritts habe Platon die Konsequenz gezogen, diesen Stoff nur noch Philosophieschülern zu unterbreiten. Die Vorträge über das Gute mit Diskussion hätten eine Gesprächsreihe gebildet, mit der Platon jahrzehntelang regelmäßig seinen Schülern die ungeschriebene Lehre nahegebracht habe. Dies habe er bereits zur Zeit seiner ersten Sizilienreise (um 389/388) getan, also schon vor der Gründung der Akademie. Von den Philosophiehistorikern, die den öffentlichen Vortrag spät datieren, sind verschiedene zeitliche Eingrenzungen vorgeschlagen worden: der Zeitraum 359/355 (Karl-Heinz Ilting), der Zeitraum 360/358 (Hermann Schmitz), um 352 (Detlef Thiel) und die Zeit zwischen Dions Tod 354 und Platons Tod 348/347 (Konrad Gaiser). Gaiser betont dabei, dass er seine Spätdatierung des öffentlichen Vortrags nicht mit der Annahme verbindet, die ungeschriebene Lehre sei spät entstanden. Vielmehr sei diese Lehre schon früh in der Akademie Unterrichtsstoff gewesen, wohl bereits zur Zeit von Platons Schulgründung. Unklar ist, warum Platon anspruchsvolle Inhalte der ungeschriebenen Lehre öffentlich vor einem philosophisch ungebildeten Publikum vortrug, bei dem er – wie nicht anders zu erwarten – auf Unverständnis stieß. Gaiser vermutet, dass er vor die Öffentlichkeit trat, um verzerrten Darstellungen der ungeschriebenen Lehre entgegenzutreten und damals kursierende Gerüchte zu entkräften, denen zufolge die Akademie ein Hort subversiver Umtriebe war. Rezeption Nachwirkung bis zum Beginn der Moderne In der Generation von Platons Schülern war die Erinnerung an seinen mündlichen, von manchen Schülern aufgezeichneten Unterricht noch lebendig. Sie beeinflusste das heute großenteils verlorene philosophische Schrifttum dieser Zeit. Auf entschiedenen Widerspruch stieß die ungeschriebene Lehre bei Aristoteles, der sich in zwei nur fragmentarisch erhaltenen Abhandlungen – Über das Gute (drei Bücher) und Über die Philosophie – mit ihr auseinandersetzte und unter anderem auch in seinen Werken Metaphysik und Physik auf das Thema einging. Auch Aristoteles’ Schüler Theophrast befasste sich in seiner Metaphysik damit. Als sich in der Epoche des Hellenismus der Skeptizismus in der Akademie durchsetzte, konnte prinzipientheoretisches Lehrgut – soweit es noch bekannt war – kaum noch Interesse finden. Diese Ausrichtung des Interesses änderte sich zwar in der Zeit des Mittelplatonismus und des Neuplatonismus, doch war den damaligen Philosophen anscheinend von der Prinzipienlehre nicht viel mehr bekannt als den modernen Gelehrten. Nach der Wiederentdeckung der im Mittelalter verschollenen Originaltexte Platons in der Renaissance dominierte in der Frühen Neuzeit ein vom Neuplatonismus geprägtes Bild der Metaphysik Platons, zu dem auch die aus Aristoteles’ Darstellung bekannten Grundzüge der Prinzipienlehre gehörten. Zum Vorherrschen der neuplatonischen Platon-Interpretation hatte insbesondere der Humanist Marsilio Ficino (1433–1499) mit seinen Übersetzungen und kommentierenden Schriften beigetragen. Noch der einflussreiche populärwissenschaftliche Schriftsteller und Platon-Übersetzer Thomas Taylor (1758–1835) ordnete sich in diese Tradition der Platondeutung ein. Zwar wurde das neuplatonische Paradigma im 18. Jahrhundert zunehmend als problematisch eingeschätzt, doch gelang es nicht, es durch eine konsistente Alternative zu ersetzen. Die Existenz der ungeschriebenen Lehre wurde weiterhin akzeptiert; Wilhelm Gottlieb Tennemann stellte in seiner 1792–95 erschienenen Untersuchung System der Platonischen Philosophie fest, Platon habe nie beabsichtigt, seine Philosophie vollständig schriftlich darzustellen. 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert begann eine bis heute anhaltende Forschungsdiskussion um die Frage, ob tatsächlich mit einer ungeschriebenen Lehre zu rechnen ist, die gegenüber den Dialogen einen philosophischen Überschuss aufweist. Nachdem bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts das neuplatonische Paradigma vorgeherrscht hatte, führte Friedrich Schleiermacher mit der 1804 publizierten Einleitung zu seiner Platonübersetzung eine radikale Wende herbei, deren Folgen bis in die Gegenwart spürbar sind. Schleiermacher vertrat die These der materialen Vollständigkeit der Dialoge. Er war der Überzeugung, der gesamte Gehalt von Platons Philosophie sei in den Dialogen enthalten, eine inhaltlich darüber hinausgehende mündliche Lehre habe nicht existiert. Nach Schleiermachers Verständnis ist die Dialogform kein literarischer Zusatz zur platonischen Philosophie, sondern Form und Inhalt sind untrennbar verbunden; das platonische Philosophieren ist seiner Natur nach ausschließlich dialogisch darstellbar. Damit ist eine ungeschriebene Lehre mit philosophisch relevanten Sonderinhalten ausgeschlossen. Schleiermachers Auffassung fand bald breite Zustimmung und setzte sich durch. Zu ihren vielen Befürwortern zählte Eduard Zeller, ein führender Philosophiehistoriker des 19. Jahrhunderts, der in seinem nachhaltig einflussreichen Handbuch Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung Argumente gegen die „angebliche Geheimlehre“ vorbrachte. Zwar stieß Schleiermachers strikte Ablehnung einer mündlichen Lehre von Anfang an auch auf Widerspruch, doch blieben die Kritiker vereinzelt. 1808 teilte der später berühmte Gräzist August Boeckh in einer Rezension von Schleiermachers Platonübersetzung mit, dass er die Argumente gegen die ungeschriebene Lehre nicht überzeugend fand. Es gebe eine große Wahrscheinlichkeit, dass Platon „ein Esoterisches hatte“, Lehren, über die er sich in seinen Schriften nicht unverhohlen äußerte, sondern nur in dunklen Winken; „was er hier nicht bis zur höchsten Spitze hinaufgeführt hatte, diesem setzte er im mündlichen Unterrichte den Gipfel und den Schlussstein auf“. Christian August Brandis sammelte und kommentierte die Quellenaussagen zur ungeschriebenen Lehre, Friedrich Adolf Trendelenburg und Christian Hermann Weisse wiesen in ihren Untersuchungen auf die Bedeutung dieser Überlieferung hin. Auch Karl Friedrich Hermann wandte sich in einer 1849 publizierten Untersuchung über Platons schriftstellerische Motive gegen Schleiermachers These, indem er die Ansicht vertrat, Platon habe den Kern seiner Lehre in den Schriften nur angedeutet und auf direkte Weise nur mündlich dargelegt. 20. und 21. Jahrhundert Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war in der Platonforschung die „antiesoterische“ Richtung die eindeutig vorherrschende. Allerdings nahmen schon vor der Jahrhundertmitte einige Forscher an, dass es eine nur mündlich vermittelte Lehre Platons gegeben hat. Zu ihnen zählten John Burnet, Julius Stenzel, Alfred Edward Taylor, Léon Robin, Paul Wilpert und Heinrich Gomperz. Seit 1959 konkurriert das detailliert ausgearbeitete „Tübinger Paradigma“ mit der „antiesoterischen“ Interpretation. Harold Cherniss Im 20. Jahrhundert war der profilierteste Vertreter der „antiesoterischen“ Richtung Harold Cherniss. Er bezog schon ab 1942 Stellung, also vor der Erarbeitung und Veröffentlichung des Tübinger Paradigmas. Sein Hauptanliegen war die Entkräftung der Glaubwürdigkeit von Aristoteles’ Angaben, die er auf dessen antiplatonische Haltung und auf Missverständnisse zurückführte. Cherniss meinte, Aristoteles gebe im Rahmen seiner Polemik gegen Platon dessen Auffassung verfälschend wieder und widerspreche sich dabei selbst. Er bestritt rundweg einen inhaltlichen Überschuss von Platons mündlichen Lehren gegenüber den Dialogen. Moderne Hypothesen über den philosophischen Unterricht in der Akademie seien haltlose Spekulationen. Es bestehe ein grundlegender Widerspruch zwischen der Ideenlehre der Dialoge und den Angaben des Aristoteles. Platon habe durchgängig die Ideenlehre vertreten und es gebe kein plausibles Argument für die Annahme, dass er sie durch den angeblichen Inhalt einer ungeschriebenen Lehre fundamental modifiziert habe. Der Siebte Brief komme als Quelle nicht in Betracht, da er unecht sei. Die antisystematische Interpretation von Platons Philosophie Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist es zu einer Radikalisierung von Schleiermachers „dialogischem“ Ansatz gekommen. Zahlreiche Forscher haben sich für eine „antisystematische“ Interpretationsweise ausgesprochen, die auch als „Dialogtheorie“ bekannt ist. Diese Richtung verwirft jede Art von „dogmatischer“ Platondeutung und insbesondere die Möglichkeit einer „esoterischen“ ungeschriebenen Lehre. Sie wendet sich grundsätzlich gegen die Annahme, Platon habe eine bestimmte systematische Lehre besessen und als Wahrheit verkündet. Die antisystematischen Ansätze stimmen darin überein, dass das Wesentliche am platonischen Philosophieren nicht die Durchsetzung einzelner inhaltlicher Positionen sei, sondern die gemeinsame dialogische Reflexion und speziell die Erprobung von Analysemethoden. Dieses Philosophieren sei – was schon Schleiermacher betont hatte – durch seine Prozesshaftigkeit charakterisiert, deren Dynamik den Leser zum Weiterdenken anrege. Es ziele nicht auf dogmatisch fixierte endgültige Wahrheiten, sondern bestehe in einem nie zum Abschluss kommenden Fragen und Antworten. Diese Weiterentwicklung von Schleiermachers Dialogtheorie kehrte sich schließlich gegen ihn selbst: Ihm wurde vorgeworfen, aus den Dialogen zu Unrecht eine systematische Philosophie herausgelesen zu haben. Einen Widerspruch zwischen Platons prinzipieller Schriftkritik und der Annahme, er habe seine gesamte Philosophie schriftlich der Öffentlichkeit mitgeteilt, sehen die Befürworter der antisystematischen Interpretation nicht. Sie meinen, die Schriftkritik beziehe sich nur auf Lehrschriften. Da die Dialoge keine Lehrschriften sind, sondern den Stoff in der Gestalt fiktiver Gespräche darbieten, seien sie nicht von der Schriftkritik betroffen. Die Entstehung und Verbreitung des Tübinger Paradigmas Bis in die 1950er Jahre stand die Frage, ob man aus den Quellenzeugnissen auf die tatsächliche Existenz einer ungeschriebenen Lehre schließen darf, im Mittelpunkt der Diskussion. Seit die Tübinger Schule ihr neues Paradigma vorgetragen hat, dreht sich die lebhafte und kontroverse Debatte überdies um die Tübinger Hypothese, wonach die ungeschriebene Lehre in ihren Grundzügen rekonstruierbar ist und die Rekonstruktion den Kern von Platons Philosophie erschließt. Das Tübinger Paradigma wurde erstmals von Hans Joachim Krämer formuliert und eingehend begründet. Er veröffentlichte seine Ergebnisse 1959 in einer umgearbeiteten Fassung seiner von Wolfgang Schadewaldt betreuten Dissertation von 1957. 1963 habilitierte sich Konrad Gaiser, der ebenso wie Krämer ein Schüler Schadewaldts war, in Tübingen mit einer umfangreichen Monographie über die ungeschriebene Lehre. In der Folgezeit erläuterten und verteidigten die beiden Tübinger Gelehrten das Paradigma in einer Reihe von Publikationen. Weitere namhafte Vertreter des Paradigmas sind Thomas Alexander Szlezák, der von 1990 bis 2006 ebenfalls in Tübingen lehrte und sich insbesondere mit der Schriftkritik und den Aussparungsstellen befasst hat, der Heidelberger Philosophiehistoriker Jens Halfwassen, der vor allem die Geschichte der Prinzipienlehre vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum Neuplatonismus erforscht hat, und Vittorio Hösle. Zustimmung zum Tübinger Platonbild kam etwa von Michael Erler, Jürgen Wippern, Karl Albert, Heinz Happ, Willy Theiler, Klaus Oehler, Hermann Steinthal, John Niemeyer Findlay, Marie-Dominique Richard, Herwig Görgemanns, Walter Eder, Josef Seifert, Joachim Söder, Carl Friedrich von Weizsäcker, Detlef Thiel und – mit einem neuen, weitergehenden Ansatz – Christina Schefer, mit Vorbehalt auch von Cornelia J. de Vogel, Rafael Ferber, John M. Dillon, Jürgen Villers, Christopher Gill, Enrico Berti und Hans-Georg Gadamer. Da der Mailänder Philosophiehistoriker Giovanni Reale in einer eingehenden Untersuchung das Tübinger Paradigma weiterentwickelt hat, spricht man heute auch von einer „Tübinger und Mailänder Schule“. In Italien haben sich auch Maurizio Migliori und Giancarlo Movia für die Authentizität der ungeschriebenen Lehre ausgesprochen. Nachdrücklich tritt Reales Schülerin Patrizia Bonagura für das Tübinger Paradigma ein. Die Kritik am Tübinger Paradigma Unterschiedliche skeptische Gegenpositionen haben besonders im englischsprachigen, aber auch im deutschsprachigen Raum Resonanz gefunden. In den USA haben Gregory Vlastos und Reginald E. Allen gegen die Tübinger Platondeutung Stellung genommen. Leo Strauss, der sich nie explizit mit den „Tübingern“ auseinandergesetzt hat, wird heute ebenfalls als Kritiker des von ihnen erarbeiteten Paradigmas verstanden. In Italien kam Widerspruch gegen das Paradigma von Franco Trabattoni und Francesco Fronterotta, in Frankreich von Luc Brisson, in Schweden von Eugène Napoléon Tigerstedt. Zu den deutschsprachigen Kritikern zählen Theodor Ebert, Ernst Heitsch, Fritz-Peter Hager und Günther Patzig. Eine radikal skeptische Position lautet, Platon habe mündlich nichts gelehrt, was nicht in den Dialogen steht. Gemäßigte Skeptiker gehen zwar von einer ungeschriebenen Lehre aus, kritisieren aber die Tübinger Rekonstruktion als spekulativ, unzureichend begründet und zu weitreichend. Manche Kritiker des Tübinger Paradigmas bestreiten zwar nicht die Authentizität der Prinzipienlehre, sehen aber in ihr einen späten Einfall Platons, den er nicht systematisch ausgearbeitet und nicht in seine frühere Philosophie integriert habe. Sie meinen, es handle sich bei der Prinzipienlehre nicht um den Kern von Platons Philosophie, sondern nur um ein unausgereiftes Konzept aus der Endphase seiner philosophischen Arbeit. Er habe dieses Konzept als Hypothese eingeführt, aber nicht mit der Metaphysik seiner Dialoge zu einem stimmigen Ganzen verbunden. Zu den Vertretern dieser Deutung gehören Dorothea Frede, Karl-Heinz Ilting und Holger Thesleff. Ähnlich urteilen Andreas Graeser, der die ungeschriebene Lehre auf „schulinterne Diskussionsbeiträge“ reduziert, und Jürgen Mittelstraß, der „ein vorsichtiges Fragen und hypothetische Beantwortungsvorschläge“ Platons annimmt. Rafael Ferber meint, Platon habe die Prinzipienlehre unter anderem auch deswegen nicht schriftlich fixiert, weil er sie nicht als Wissen, sondern als bloße Meinung betrachtet habe. Margherita Isnardi Parente bestreitet nicht die Möglichkeit einer ungeschriebenen Lehre, schätzt aber die Überlieferung als unzuverlässig ein und hält das Tübinger Paradigma für unvereinbar mit der Philosophie der Dialoge, in denen die authentische Auffassung Platons zu finden sei. Die Darstellung des Aristoteles beziehe sich auf eine nicht von Platon selbst, sondern von Akademieangehörigen stammende Systematisierung platonischen Gedankenguts. Auch Franco Ferrari führt die Systematisierung nicht auf Platon zurück. Wolfgang Kullmann lehnt die Authentizität der Zweiprinzipienlehre nicht ab, sieht aber einen fundamentalen Widerspruch zwischen ihr und der Philosophie Platons in den Dialogen. Wolfgang Wieland geht von der Rekonstruierbarkeit der ungeschriebenen Lehre aus, stuft ihre philosophische Relevanz aber sehr niedrig ein und meint, es könne sich nicht um den Kern von Platons Lehre handeln. Franz von Kutschera hält die Existenz einer ungeschriebenen Prinzipientheorie Platons für kaum ernstlich bestreitbar, meint aber, die indirekte Überlieferung bewege sich philosophisch auf so niedrigem Niveau, dass ein sinnvoller Rekonstruktionsversuch von den Dialogen ausgehen müsse. Domenico Pesce bejaht die Existenz einer ungeschriebenen Lehre, deren Gegenstand das Gute gewesen sei, verwirft aber deren Rekonstruktion durch die Tübinger Schule und insbesondere die Annahme, Platon habe die Wirklichkeit für bipolar gehalten. Eine auffällige Begleiterscheinung der teils mit großer Schärfe geführten Auseinandersetzungen um das Tübinger Paradigma ist, dass Vertreter beider Seiten der jeweiligen Gegenseite eine weltanschauliche Voreingenommenheit unterstellt haben. Zu diesem Aspekt der Debatte bemerkt Konrad Gaiser: „In diesem Streit spielen, wohl auf beiden Seiten, eigene, moderne Vorstellungen von dem, was vorbildliche Philosophie ist, unbewusst mit; und deswegen ist auf eine Einigung in diesem Streit kaum zu hoffen.“ Quellen Margherita Isnardi Parente (Hrsg.): Testimonia Platonica (= Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, Classe di scienze morali, storiche e filologiche, Memorie, Reihe 9, Band 8 Heft 4 und Band 10 Heft 1). Rom 1997–1998 (kritische Ausgabe mit italienischer Übersetzung und Kommentar) Heft 1: Le testimonianze di Aristotele, 1997 Heft 2: Testimonianze di età ellenistica e di età imperiale, 1998 Giovanni Reale (Hrsg.): Autotestimonianze e rimandi dei dialoghi di Platone alle „dottrine non scritte“. Bompiani, Milano 2008, ISBN 978-88-452-6027-8 (Zusammenstellung einschlägiger Texte Platons mit italienischer Übersetzung und ausführlicher Einleitung, in der Reale auch auf Kritik an seiner Position eingeht) Literatur Übersichtsdarstellungen Michael Erler: Platon (= Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 2/2), Basel 2007, S. 406–429, 703–707 Franco Ferrari: Les doctrines non écrites. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Band 5, Teil 1 (= V a), CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 648–661 Konrad Gaiser: Platons esoterische Lehre. In: Konrad Gaiser: Gesammelte Schriften. Academia Verlag, Sankt Augustin 2004, ISBN 3-89665-188-9, S. 317–340 Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen. In: Marcel van Ackeren (Hrsg.): Platon verstehen. Themen und Perspektiven. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17442-9, S. 263–278 Untersuchungen Rafael Ferber: Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben? 2. Auflage, Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55824-5 Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. 3. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91911-2 (enthält S. 441–557 eine Zusammenstellung von Quellentexten) Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. 2., erweiterte Auflage, Saur, München und Leipzig 2006, ISBN 3-598-73055-1 Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Winter, Heidelberg 1959 (grundlegende Untersuchung, aber teilweise überholter Forschungsstand) Hans Joachim Krämer: Platone e i fondamenti della metafisica. Saggio sulla teoria dei principi e sulle dottrine non scritte di Platone. 6. Auflage, Vita e Pensiero, Milano 2001, ISBN 88-343-0731-3 (besser verwendbar als die sehr mangelhafte englische Übersetzung: Plato and the Foundations of Metaphysics. A Work on the Theory of the Principles and Unwritten Doctrines of Plato with a Collection of the Fundamental Documents. State University of New York Press, Albany 1990, ISBN 0-7914-0434-X) Giovanni Reale: Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“. 2., erweiterte Auflage, Schöningh, Paderborn 2000, ISBN 3-506-77052-7 (allgemeinverständliche Darstellung, daher als Einführung geeignet) Marie-Dominique Richard: L’enseignement oral de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme. 2., überarbeitete Auflage, Les Éditions du Cerf, Paris 2005, ISBN 2-204-07999-5 (enthält S. 243–381 eine Zusammenstellung der Quellentexte ohne kritischen Apparat mit französischer Übersetzung) Weblinks Vortrag von Thomas Alexander Szlezák: Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts Anmerkungen Griechische Philosophie Platon Ontologie Metaphysik Philosophie des Geistes Erkenntnistheorie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Banksia%20brownii
Banksia brownii
Banksia brownii ist eine Pflanzenart aus der Gattung Banksia in der Familie der Silberbaumgewächse (Proteaceae). Die natürlichen Vorkommen dieser im Südwesten Australiens endemischen Pflanzenart sind vor allem durch eingeschleppte Krankheitserreger stark bedroht. Wie andere Banksia-Arten wird auch Banksia brownii aufgrund ihrer attraktiven Blütenstände als Schnittblume vor allem im australischen Gartenbau kultiviert; im Vergleich zu anderen Banksia-Arten spielt sie dabei allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Beschreibung Erscheinungsbild, Rinde und Blatt Banksia brownii wächst meist als aufrechter Strauch mit Wuchshöhen zwischen 1 und 3 Metern, gelegentlich aber auch als bis zu 6 Meter hoher kleiner Baum oder in höheren, exponierten Lagen als niedriger, verbreiterter Strauch. Die graubraune Rinde ist glatt, dünn und mit Korkwarzen besetzt. Die dunkelgrünen Laubblätter sind lang und dünn, zwischen 3 und 10 Zentimeter lang und 5 bis 10 Millimeter breit. Auf der Unterseite sind sie mit weißen Härchen versehen. Die Oberfläche ist unbehaart. Auf den ersten Blick wirkt das Blatt wie gefiedert, ist aber sehr stark gelappt. Die Einschnitte zwischen den bis zu 70 lanzenförmigen und zur Spitze gebogenen Blattlappen enden kurz vor der Mittelrippe. Blütenstand und Blüte Der endständige, aufrechte, verzweigte, kolbenförmige Blütenstand ist mit einer Höhe von 6 bis 19 Zentimetern und einem Durchmesser von 8 bis 10 Zentimetern annähernd zylindrisch. Der Blütenstand ist metallisch rotbraun. Um die verholzte Hauptachse stehen spiralförmig Hunderte von dicht stehenden Einzelblüten. Sie setzen sich zusammen aus vier verwachsenen Tepalen, die am Ansatz cremefarben und am Ende graubraun sind. Der lange, dünne Griffel ist rostrot mit einer cremefarbenen Spitze und leicht herabgebogen. Frucht und Samen Die kolbenförmige Sammelbalgfrucht setzt sich aus bis zu sechzig Einzelbälgen zusammen, üblich sind jedoch nur wenige. Die einzelnen Balgfrüchte sind verholzt und weisen einen Durchmesser von etwa 5 Zentimetern auf. Die welken Blütenteile lassen sie wollig behaart erscheinen. Jeder Einzelbalg enthält, ungewöhnlich für eine Banksia, nur einen einzelnen Samen. Diese glänzend schwarzen Samen sind bei einer Länge von bis zu 20 Millimeter oval, und besitzen einen braunen, papierartigen Flügel. Ökologie Küstennahe Pflanzenpopulationen blühen in der Regel erstmals im fünften Lebensjahr, die Population in Stirling Range hingegen erst Jahre später. Untersuchungen an einem Standort dort ergaben, dass selbst im achten Jahr erst 15 % der Pflanzenexemplare blühten. Die Blütezeit ist variabel. Sie beginnt im März und endet im August mit einem Höhepunkt im Juni. Die Blüten öffnen sich mehrheitlich am Tage. Wie andere Banksia-Arten produziert auch Banksia brownii große Mengen Nektar und dient so als Futterquelle für zahlreiche Vögel, Insekten und Säugetiere. Neben einheimischen wie eingeführten Bienen, Honigfressern wie dem Weißaugen-Honigfresser, dem Rotlappen-Honigfresser oder dem Buntkopf-Honigfresser dienen dabei auch Säugetiere wie die Australische Buschratte oder der Honigbeutler als Bestäuber. Banksia brownii ist grundsätzlich selbstkompatibel, wenngleich beobachtet werden konnte, dass es im Rahmen der natürlichen Selektion zu einer Benachteiligung von Samen aus Selbstbestäubung kommt. Dessen ungeachtet ließ sich jedoch feststellen, dass die Art eine der niedrigsten Kreuzungsraten aller Banksia-Arten hat. Möglicherweise ist dies bedingt durch die geringe Größe der Populationen, welche den Besuch von Bestäubern kaum anregt und so die Wahrscheinlichkeit einer Fremdbestäubung reduziert. Bei weniger als 1 % der Blüten kommt es zu einer erfolgreichen Bestäubung und Befruchtung sowie zur Ausbildung der Frucht. Über 50 % der Blütenstände bilden überhaupt keine Frucht aus. Auch die Überlebensrate der Samen selbst ist ausgesprochen niedrig, mehr als die Hälfte der Samen einer Pflanze fällt Motten und Rüsselkäfern zum Opfer, die sich in die Früchte bohren, deren Larven die Samen fressen und die sich in den Bälgen verpuppen. Weitere Verluste verursachen Körnerfresser wie zum Beispiel Kakadus, welche die Früchte öffnen, um Samen und Larven gleichermaßen zu fressen. Die Früchte bleiben über Jahre hinweg an der Mutterpflanze. Ein kleiner Teil der Balgfrüchte reift und öffnet sich spontan und gibt so die Samen frei. Die Mehrzahl der Bälge bleibt jedoch verschlossen bis zum nächsten Buschfeuer, bei dem sich die Bälge dann öffnen. Diese Buschfeuer vernichten zwar die Mutterpflanze, die weder durch eine dicke Rinde geschützt ist noch durch Lignotuber neu austreiben kann, ermöglichen aber die Regeneration des Bestandes durch die ausgebrachte Saat. Da Banksia brownii ihre Samen größtenteils erst nach Buschfeuern freigibt, müssen diese in regelmäßigen Abständen erfolgen, um den Beständen die Produktion und Freigabe hinreichender Mengen an Samen zu ermöglichen. Das optimale Intervall liegt dabei bei rund 18 Jahren. Wenn sich die Abstände verringern, verbrennen die Pflanzen noch als unreife Pflanzen beziehungsweise bevor sie hinreichende Mengen an Samen zur Regeneration des Bestandes gebildet haben. Wenn die Feuer hingegen in zu großen Abständen erfolgen, sterben die Pflanzen noch vor der Freisetzung ihrer Samen ab. Vorkommen Banksia brownii ist endemisch im Südwesten von Western Australia zwischen Albany und dem Stirling-Range-Gebirge. Das Gebiet ist mit 19 Banksia-Arten (darunter fünf weiteren Endemiten) der Verbreitungsschwerpunkt der Gattung. Banksia brownii wächst in zwei geografisch voneinander getrennten Gebieten. Im südlichen Areal findet sie sich meist in von Eucalyptus marginata dominierten Wäldern mit flachen, nährstoffarmen, weißen oder grauen Sandböden auf Laterit. Im nördlichen Teilareal im Stirling Range-Gebirge wächst Banksia brownii in Höhenlagen zwischen 500 und 1100 Metern, in Heideland auf felsigen Berghängen und -gipfeln und in Schluchten auf Schiefergestein. Vergesellschaftet ist sie mit weiteren Arten der Gattung Banksia sowie Arten der Gattungen Dryandra, Lambertia, Isopogon, Hakea, Adenanthos, Eucalyptus, Agonis, Kunzea und Beaufortia. Nur 17 Standorte sind von Banksia brownii bekannt, sie umfassen insgesamt etwa 12.000 Individuen. Dabei bestehen nur fünf der Standorte aus mehr als 200 Individuen und nur zwei aus mehr als 500. Die Hälfte der Standorte umfasst weniger als 20 Individuen. Das Klima in diesem Gebiet ist gemäßigt-temperiert. Die Temperaturen schwanken zwischen 4 und 30 °C. Die Jahresniederschläge liegen bei 800 Millimeter. Gefährdung und Status Bis auf zwei Standorte leiden alle Populationen von Banksia brownii an einem durch den pflanzenschädigenden Organismus Phytophthora cinnamomi ausgelösten Sterben, das auch zahlreiche andere südwestaustralische Pflanzenarten bedroht und zur Wurzelfäule führt. Auch die beiden bisher nicht infizierten Standorte liegen in gefährdeten Gebieten und gelten daher ebenfalls als bedroht. Eine Bekämpfung des Waldsterbens erfolgt durch Zugangsbeschränkungen der Standorte sowie das weiträumige Ausbringen von Phosphit, das die Widerstandsfähigkeit der Pflanzen gegen Infektionen stärkt und zugleich als Mittel gegen Phytophthora wirksam ist. Das Versprühen aus der Luft kann den Pflanzen jedoch ebenfalls schaden, da die Aufnahme durch die Blätter das Wachstum von Wurzeln und Trieben beeinträchtigt, daher kann das Mittel nur begrenzt eingesetzt werden. Diese Bekämpfungsmaßnahmen werden begleitet von der Sammlung und Kaltlagerung von Samen für spätere Wiederaufforstungen. Neben dem Sterben durch Phytophthora cinnamomi unterliegt die Art auch der Gefährdung durch Habitatverluste aufgrund von Rodungen für Siedlungszwecke, Intervalländerungen der notwendigen Buschfeuer sowie durch die Sammlung von Blütenständen zu kommerziellen Zwecken. Auch die zunehmende Fragmentierung der Standorte bedroht die Art, da sie mittelbar zu genetischen Flaschenhälsen und verringerter Vitalität führen kann. Banksia brownii wird seit 1999 in Australien als Endangered („stark gefährdet“) gelistet und als Rare („selten“) im Western Australia's Wildlife Conservation Act. Anhand dieser Einstufungen konnten einige Bedrohungen (wie Rodungen und kommerzielle Absammlung) reduziert werden. Zusätzlich geschützt sind die nördlichen Bestände des Stirling Range, da das Gebiet als Nationalpark eingestuft ist (Stirling-Range-Nationalpark). Dessen ungeachtet wurde aufgrund des Sterbens der Art und eines errechneten Rückgangs der Bestände um 80 % in drei Generationen eine Anhebung der Gefährdungsstufe auf Critically Endangered („vom Aussterben bedroht“) gefordert. Es wird davon ausgegangen, dass Banksia brownii ohne Schutzmaßnahmen innerhalb von 10 Jahren ausgestorben sein wird. Das vollständige Verschwinden der Art kann unvorhergesehene und möglicherweise weitreichende Folgen für das Funktionieren der Ökosysteme durch die Veränderung der Vegetationszusammensetzungen haben, in denen Banksia brownii ein wesentliches Element darstellt (not only a tragedy in itself but may have unforeseen, and potentially disastrous, consequences for the functioning of the vegetation communities of which feather-leaved banksia is an integral part.) Systematik Von zwei genetisch verschiedene Typen von Banksia brownii wird derzeit berichtet: einer Bergform, die sich durch einen strauchigen Habitus, kurze, dünne und harte Blätter und einen gedrängten Blütenstand auszeichnet und die „Millbrook Road Form“, die als Baum wächst und längere, breitere und weiche Blätter hat. Diese Formen haben gegenwärtig keinen systematischen Rang. Genetische Untersuchungen sind jedoch geplant, die ermitteln sollen, ob für die beiden Formen Unterartstatus gerechtfertigt ist. Unter Liebhabern finden sich auch Berichte von einer Kreuzung zwischen beiden Typen, deren Nachkommen aber nicht fertil sind. Dies kann als ein Indiz für einen möglichen Artrang beider Formen gewertet werden. Banksia brownii wird aktuell in der Untergattung Banksia, Sektion Oncostylis, Reihe Spicigerae platziert (Letzteres wegen der zylindrischen Blütenstände). Die Spicigerae werden als eine der ältesten Reihen der Banksien verstanden, sie umfasst sowohl west- wie ostaustralische Arten, was darauf schließen lässt, dass sie bereits auf die Zeit vor der Entstehung der Nullarbor-Wüste zurückgeht. Ihr nächster Verwandter ist Banksia occidentalis, die sich durch kleinere, dunkelrote Blüten und nur schwach gezähnte Blätter von Banksia brownii unterscheidet. Phylogenetische Untersuchungen, die sowohl auf morphologischen wie molekulargenetischen Merkmalen basieren, bestätigten die Einstufung in die Sektion Oncostylis und die enge Verwandtschaft mit Banksia occidentalis. Botanische Geschichte Banksia brownii wurde erstmals 1829 nahe dem King George Sound von William Baxter gesammelt und von diesem erstbenannt, das Artepitheton ehrt den britischen Botaniker Robert Brown. Die formale Erstbeschreibung stammt von ebendiesem und erschien 1830 im Anhang zu Prodromus Florae Novae Hollandiae. Brown platzierte Banksia brownii in der Untergattung Banksia verae, den „Echten Banksien“, da ihr Blütenstand ein typischer Banksia-Blütenstand ist. Die Banksia verae wurden von Stephan Endlicher 1847 in Eubanksia umbenannt und 1856 von Carl Meissner zur Sektion herabgestuft. Meissner teilte die Sektion auch noch in drei Reihen und platzierte Banksia brownii bei den Dryandroideae. George Bentham verwarf 1870 in seiner Schrift Flora Australiensis Meissner's Reihen und fasste die Arten mit hakenförmigen Griffeln in einer Sektion zusammen, die er Oncostylis taufte. Diese Systematik hatte über einhundert Jahre Bestand bis zur Veröffentlichung von Alex Georges Monografie The Genus Banksia L.f. (Proteaceae) im Jahre 1981. Verwendung Dank der großen, metallisch-roten Blütenstände sowie der äußerst weichen und ansprechenden federartigen Blätter eignet sich Banksia brownii ebenso wie andere Banksia-Arten als gartenbauliche Kulturpflanze. Allerdings steht sie in ihrer Bedeutung als Schnittblume im australischen Gartenbau deutlich hinter anderen kultivierten Banksia-Arten wie z. B. Banksia coccinea, Banksia prionotes oder Banksia burdetti. Banksia brownii ist eine entsprechend weit verbreitete Kulturpflanze in Regionen, die nicht vom Phytophthora-Sterben betroffen sind. Sie bevorzugen einen geschützten, gut dränierten Standort, der im Sommer feucht gehalten wird. Banksia brownii ist schnellwüchsig, blüht aber erst nach einigen Jahren. Einmal etabliert, ist Banksia brownii frosthart und kann maßvoll beschnitten werden. Die Blüten sind besonders als späte Knospen attraktiv, mit ihrer Öffnung verlieren sie jedoch ihre Farbe. Haupthindernis der Kultivierung ist die erwähnte Anfälligkeit von Banksia brownii gegen den Krankheitserreger Phytophthora cinnamomi, der auch häufig in Gärten anzutreffen ist. Eine Veredelung auf Wurzelstöcke von Banksia integrifolia reduziert die Anfälligkeit dagegen und ermöglicht zugleich die Pflanzung auf Böden, die vom Profil von Banksia brownii abweichen. Einzelnachweise Weblinks Ausführliche Informationen zur Art, ihrer Standorte und Bedrohung (englisch) Eintrag in der Flora of Western Australia (englisch) Eintrag in der Flora of Australia (englisch) Silberbaumgewächse Proteaceae
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tiefwerder%20Wiesen
Tiefwerder Wiesen
Die Tiefwerder-Wiesen sind ein Rest der ehemaligen Auenlandschaft in der Havel-/Spreetalniederung auf dem Berliner Tiefwerder und im Niederungsbereich der Flusshalbinsel Pichelswerder im Ortsteil Wilhelmstadt des Bezirks Spandau. Die Feuchtwiesen sind von Altarmen der Havel durchzogen und stehen seit 1960 mit einer Fläche von 66,7 ha als Landschaftsschutzgebiet (LSG) unter Schutz. Im LSG liegt der Faule See, der aus einem Havelaltarm hervorgegangen ist. Das natürliche Überschwemmungsgebiet ist das letzte Berliner Hecht-Laichgebiet. Durch das Absinken des Havelwasserstandes hat sich die Zugänglichkeit der Wiesen für die Hechte seit 1990 bereits dramatisch verschlechtert. Das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 17, dessen Realisierung ein weiteres Absinken des Wasserstandes zur Folge hätte, bedroht das Biotop zusätzlich. Auf den seggengeprägten Feuchtwiesen wachsen in Berlin gefährdete Arten wie die Blasen-Segge. Das LSG ist ein wichtiges innerstädtisches Bindeglied im Biotopverbund Havel. Der Fluss dient beispielsweise als Flugleitbahn für Fledermäuse und als Wanderleitlinie für den in Berlin wieder heimischen Biber. Das Land Berlin prüft seit 2007 die Ausweitung des Schutzstatus zum Naturschutzgebiet. Gebietsgrenzen Das stark zergliederte Landschaftsschutzgebiet liegt zwischen der Havel, der Havelchaussee und der Heerstraße (Bundesstraßen B 2/B 5). Es beginnt im Norden mit einer schmalen Spitze östlich der Freiheitswiesen auf dem Tiefwerder. Die westliche Begrenzung des Gebiets verläuft nach Südwesten zwischen einer Kleingarten-/Wochenendsiedlung und einem Wald- und Wiesengebiet, dann weiter entlang des Faulen Sees, an dessen Ende sie den Kleinen Jürgengraben überschreitet. Im Niederungsgebiet südlich des Dorfes Tiefwerder wendet sich die Grenze nach Westen und führt ein Stück am Kleinen Jürgengraben entlang zur Havel. Entlang des Flusses und des Havelseenwegs zieht sich die Westgrenze nach Süden bis fast zur Freybrücke und erreicht auf dem Pichelswerder nach einem kurzen Schlenker die Heerstraße. Die Ostgrenze verläuft von der schmalen Nordspitze des Gebiets – unter Aussparung des Wasserwerks Tiefwerder – nach Süden entlang der Havelchaussee beziehungsweise des Havelaltarms Hohler Weg, der in den Stößensee mündet. Sie verläuft hier zudem parallel zur Bezirksgrenze zu Charlottenburg-Wilmersdorf, die an dem S-Bahn-Damm der Spandauer Vorortbahn entlangführt, der sich wiederum wenige Meter neben der Havelchaussee erhebt. Direkt vor dem Stößensee überschreitet die Grenze des LSG den Hohlen Weg nach Westen zum Steffenhorn, verläuft unterhalb des Schulzenwalls und Langen Walls am Hauptgraben zurück nach Norden. Dann umrundet sie am Quergraben zum Toten Mantel die auf einer Anhöhe von Pichelswerder gelegene Wochenendsiedlung, wendet sich unterhalb der Höhe wieder nach Süden und erreicht vorbei am Erdgasspeicher Pichelswerder die Heerstraße. Die südliche Begrenzung verläuft mit rund 300 Metern entlang der Heerstraße. Die größte Längsausdehnung erreicht das Landschaftsschutzgebiet von Nord nach Süd mit rund 1,6 Kilometern, die größte Breite liegt von West nach Ost bei rund 900 Metern. Während der deutschen Teilung wurde ein kleiner Teil der Tiefwerder Wiesen von der DDR als Exklave der Gemeinde Seeburg beansprucht. Wegen des Widerspruchs der britischen Behörden hatte dieser Anspruch aber keine Konsequenzen. Geologie, Naturraum und Klima Die Tiefwerder-Wiesen befinden sich im südlichen Mündungsbereich der Spree in die Havel. Die Spreeniederung verläuft im weichselglazialen Berliner Urstromtal, das aus mächtigen Sanden aufgebaut ist, die mehr als 20 Meter Mächtigkeit erreichen können. Die Havel folgt in ihrem Verlauf einer glazialen Rinne und quert das Urstromtal, ohne es über eine längere Strecke zu benutzen. Getrennt von der Havelchaussee und dem S-Bahn-Damm schließt sich im Osten der Schanzenwald an, der gleichfalls zum Talsandbereich der Spreeniederung gehört. Der Schanzenwald geht in die Murellenberge über und bildet mit ihnen das Naturschutzgebiet Murellenschlucht und Schanzenwald. Das Hügelgebiet aus Stauch- und Endmoränen gehört zur Nordwestkante des Teltowplateus. Zwar verlaufen die Tiefwerder-Wiesen und der Schanzenwald nur durch wenige Meter getrennt beidseitig der Havelchaussee parallel zueinander, doch ist der ursprünglich verbundene Naturraum durch den S-Bahn-Wall der Spandauer Vorortbahn („Olympiabahn“) heute getrennt. Die Anlage der Bahn erfolgte im Zuge der Vorbereitungen zu den Olympischen Sommerspielen, die bereits für 1916 geplant waren, wegen des Ersten Weltkriegs ausfielen und erst 20 Jahre später in Berlin stattfanden. Westlich der Havelrinne liegt die ehemalige Niederung Börnicker Lake (auch Birnicker Lake), auf deren sumpfigen Wiesen 1923 der Spandauer Südpark mit dem Südparksee angelegt wurde. Die Rinne läuft zur Scharfen Lanke und zum Grimnitzsee aus, der den Tiefwerder-Wiesen jenseits der Havel gegenüberliegt. Südlich der Heerstraße folgt dem LSG Tiefwerder-Wiesen das Landschaftsschutzgebiet Pichelswerder, nach dem sich die bei Tiefwerder kanalisierte Havel in die südliche Berliner Havelseenkette öffnet. Die Tiefwerder-Wiesen werden in der Naturraumeinheit D 12a (Ostdeutsches Tiefland, Mittelbrandenburgische Platten und Niederungen) dem Brandenburg-Potsdamer Havelgebiet (Nr. 812) zugeordnet. Die Tiefwerder-Wiesen liegen in einer gemäßigten Klimazone im Übergangsbereich vom atlantisch geprägten Klima Nord-/Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Das Klima entspricht dem der Berliner Stadtrandlagen. → Abschnitt Klima im Artikel Berlin Anthropogene Einflüsse auf die Überschwemmungsdynamik Die Biotop- und Landschaftsfunktion der Tiefwerder-Wiesen (auch als Hechtlaichwiesen bezeichnet) hängt von ihrer Überschwemmungsdynamik ab, die wiederum in hohem Maß dem Wasserstand der Havel und menschlichen Einflüssen unterliegt. Infolge der Speicherwirkung der Havelseen hat der Fluss verhältnismäßig ausgeglichene Wasserstände und durchzieht aufgrund seines geringen Gefälles – im Mittel etwa 0,05 % (das heißt 5 cm pro Kilometer) – das Land in ruhigem Lauf. Mittelalter Archäologische Funde – Gefäßbruchstücke vom Prager Typus – aus dem sechsten bis achten Jahrhundert belegen, dass am Ostufer des Faulen Sees (bis in das 19. Jahrhundert Wirchen-See) eine frühslawische Siedlung bestand. Die slawische Siedlungsperiode des Mittelalters beeinflusste den Wasserhaushalt des Gebiets nicht. Allerdings gehen auf diese Periode die Namen der meisten Havel-Altwassername und der ehemalige Seename, der sehr wahrscheinlich dem Namen der Siedlung entlehnt ist (Wirchen aus slawisch verch/virch = Höhe, Erhebung – bezogen auf die benachbarten Teltowhänge), zurück. → Abschnitt Frühslawische Siedlung im Hauptartikel: Tiefwerder Nach der deutschen Besiedlung stieg um 1180, insbesondere durch den Mühlenstau der Stadt Brandenburg, der Havel-Wasserspiegel per Rückstau in Spandau deutlich an, was die Überschwemmungsdynamik des Gebietes förderte. Die ersten Wasserregulierungen in der neuzeitlichen vorindustriellen Periode (1500–1750) blieben ohne nennenswerten Einfluss auf den Wasserhaushalt des Gebiets. Havelregulierungen, Elsgraben Bis Mitte des 19. Jahrhunderts überschwemmte das weitverzweigte Netz aus Mündungsarmen der Spree und zahlreichen Verästelungen der Havel die Niederung zwischen der Spree und Pichelswerder anhaltend. Nachhaltige Auswirkungen auf das Gewässernetz brachten 1880 und 1881 die Kanalisierung der bei Tiefwerder stark mäandrierenden Havel und die Flussregulierungen im Zuge des Ausbaus des Südhafens am Tiefwerder 1908. Allerdings blieb eine gute Überschwemmungsdynamik unter anderem durch den 1832 angelegten Elsgraben erhalten, der Hochwasser der Spree direkt in die Tiefwerder Wiesen leitete. Der bis 1886 schiffbare und bis etwa 1930 nach und nach zugeschüttete Wassergraben verband die (alte) Spree gegenüber der damaligen Otternbucht (ungefähr in Höhe des heutigen Heizkraftwerks Reuter) mit dem Faulen See. Der Graben sollte Spandau bei Hochwasser schützen, indem er das Wasser bereits vor der Stadt über den Faulen See zur Havel leitete. Der Elsgraben entwässerte zudem das Verlandungsmoor Fließwiese Ruhleben, eine ehemalige Toteisrinne und die nördliche Fortsetzung des Trockentals Murellenschlucht, in die Tiefwerder Wiesen. Siedlungsbau und Interessenkonflikte Zu Beginn des 20. Jahrhunderts engte der Siedlungsbau das Überschwemmungsgebiet durch Aufschüttungen immer mehr ein. 1816 war auf einer höhergelegenen und überschwemmungsfreien Fläche das Fischerdorf Tiefwerder angelegt worden. Im Nordteil entstanden ab 1910 Industrieanlagen. Zwischen 1910 und 1912 folgte der Bau der Heerstraße, die den Stößensee auf einer Aufschüttung und auch Pichelswerder teilt. Die Trinkwassergewinnung des Wasserwerks Tiefwerder führte ab 1914 zu einer Grundwasserabsenkung, sodass südlich des Dorfes und an einigen Gräben Kleingartenkolonien und Wochenendhäuser errichtet werden konnten. Die nördlich gelegenen Freiheitswiesen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg mit Trümmerschutt aufgeschüttet. Der verbliebene Überschwemmungsbereich im Landschaftsschutzgebiet Tiefwerder-Wiesen besteht heute nur noch aus einem begrenzten Niederungsbereich südlich des Dorfes. In diesem Bereich ließ das Land Berlin in den 1980er Jahren einen Straßendamm und aufgeschüttete Wege beseitigen und ersetzte die Fußwege zur Schonung der Feucht- und Nasswiesen zum Teil durch Stege und Brücken. Zur Renaturierung der Flächen sprach das Naturschutzamt Spandau im Jahr 2005 insgesamt 67 Pächtern, die Kleingartenparzellen auf landeseigenen Flächen des LSG hielten, die Kündigung aus. Zwar sind seither die meisten Parzellen geräumt und deren Lauben rückgebaut, allerdings gab das Kammergericht denjenigen Kleingärtnern, die gegen die Kündigung geklagt hatten, 2008 Recht. Heute wehren sich einige Anwohner gegen die Elektrozäune, die anlässlich der gewerblichen Haltung von Wasserbüffeln, Ziegen und Schafen errichtet wurden und sämtliche früheren Erholungsflächen umfassen. Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 17 Faktoren wie die Reduzierung der Spree-Zuflüsse in der Lausitz (das Wasservolumen, das die Spree der Havel zuführte, war an ihrer Mündung bis 1990 mit 38 m³/s gegenüber 15 m³/s mehr als doppelt so hoch wie das der Havel selbst) oder die Havelvertiefung führten seit 1990 zu einer Absenkung des Havelwasserspiegels. Außerdem verschlechterte sich die Überschwemmungsdynamik weiter, sodass selbst die Zugänglichkeit des kleinen Restbereichs für Hechte nur noch in manchen Jahren möglich ist (siehe unten). Wurde beispielsweise ein Wasserstand von vor 1990 nur an 220 Tagen pro Jahr unterschritten, so waren es in den 2000er Jahren bereits etwa 310 Tage. Das endgültige Aus drohte der Überschwemmungsdynamik durch das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ 17 (VDE Nr. 17), nach dessen Realisierung Schubverbände mit bis zu 2000 Tonnen und mit einer Abladetiefe von bis zu 2,8 Metern den Westhafen erreichen sollten. Die – aus ökologischen Gründen sehr umstrittene – Bundeswasserstraßenverbindung Rühen – Magdeburg – Berlin impliziert unter anderem einen Ausbau der Unteren Havel-Wasserstraße, des Elbe-Havel-Kanals, und die Begradigung eines Abschnittes der Spree. Die gesamte Strecke sollte auf vier Meter Tiefe und je nach Uferprofil auf 42–55 Meter (in Kurven bis zu 72 Meter) Wasserspiegelbreite ausgebaggert werden. In einem Zwischenbericht zum Verkehrsprojekt stellt das Abgeordnetenhaus von Berlin im Februar 2009 fest: „Durch das ausbaubedingte Absinken der Wasserstände (nach den alten Planungen 1 bis maximal 13 cm je nach Abflusssituation Niedrig-/Mittel-/Hochwasser) werden die Tiefwerder Wiesen nicht mehr mit der gleichen Dynamik überströmt wie heute.“ Sollte das Projekt tatsächlich trotz aller Widerstände und Einsprüche umgesetzt werden, strebt das Land Berlin an, über eine Ausgleichsmaßnahme die künstliche Bewässerung der Tiefwerder-Wiesen mit Havelwasser durchzusetzen und Fischtreppen anlegen zu lassen. Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes plante dazu: Flora und Fauna Die Beschreibung der artenreichen Flora und Fauna der Tiefwerder Wiesen bezieht sich auf den Bestand der 2000er Jahre. Pflanzen und Pflanzengesellschaften Seggenriede und Röhricht Die überschwemmten Großseggenwiesen, die die Tiefwerder-Wiesen lange dominierten, gehen aufgrund der immer selteneren Überflutungen zurück. Die bis zu zwei Meter hohe Ufer-Segge ist noch an den Gewässerrändern anzutreffen. Aus der Gattung der Seggen prägen heute Schlankseggenriede die vernässten Wiesenbereiche und Brachen. Die Kennart der Pflanzengesellschaft, die Schlank-Segge, ist eine mehrjährige, krautige Pflanze, die Wuchshöhen zwischen 30 und 150 cm erreicht. In den Verlandungsbereichen gesellt sich die in Berlin gefährdete Blasen-Segge hinzu, die gelegentlich mit der Schlank-Segge eine Hybride bildet. Das Schlankseggenried besitzt bei zunehmenden Entwässerungen zwar ein langes Überdauerungsvermögen, wird aber in Bereichen besser belüfteter Böden von Rohrglanzgrasröhrichten verdrängt. Zudem bestimmen ausgedehnte Wasser-Schwaden-Röhrichte die durchnässten, sumpfigen Bereiche. Das auch Riesen-Schwaden genannte, bis zu zwei Meter hohe Süßgras bildet artenarme und nicht selten reine Bestände aus. Für Blühaspekte sorgen in den Seggen und Röhricht bestimmten Wiesenteilen von Mai bis Juli die bis zu 60 cm hohe Kuckucks-Lichtnelke mit rosafarbenen Blüten. Von Mai bis August blühen die gelbleuchtenden Blüten des Pfennigkrauts und die gelegentlich schon ab März bis April oder Juni gelb blühende Sumpfdotterblume, die manchmal im Zeitraum von Juli bis Oktober eine schwächere Zweitblüte ausbildet. In der späteren Jahreszeit fügen die Hahnenfußgewächse Gelbe Wiesenraute (Juni bis August) und, vor allem im Juni, der Gift-Hahnenfuß weitere gelbe Blühaspekte hinzu. Von Juli bis September lockern die dunkelpurpurroten Blüten der Sumpf-Kratzdistel das gelbe Blühbild auf. Wildrosensträucher wie die Hunds-Rose öffnen im Frühsommer zahlreiche hellrosa Blüten an den Weg- und Gebüschrändern. Schilfrohrgürtel und Auwaldrelikte In den ausgedehnten Schilf- und Rohrkolben-Röhrichtgürteln der unverbauten Flussaltarme und Gräben bringen vereinzelt Blutweiderich, Sumpf-Ziest, Froschlöffel und die nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) als besonders geschützt eingestufte Wasserschwertlilie violett-rote, bordeaux-rote, weißliche und gelbe Farbtupfer. Die offenen Uferflächen und Gewässerränder prägen Weidenbüsche und Auwaldrelikte mit Silber-Weide und Flatterulme. Insbesondere am Havelaltarm Toter Mantel, der bis an die Heerstraße reicht, ist eine Weichholzaue erhalten. In der artenreichen Krautflora dieser Zonen wachsen Sumpffarngewächse wie der Sumpffarn (Theylpteris palustris), Sumpf-Labkraut, Steif-Segge und Gewöhnlicher Gilbweiderich, der früher in der Volksheilkunde bei Skorbut, Diarrhoe und Fieber verabreicht wurde. Das ursprünglich aus dem Himalaya stammende Drüsige Springkraut breitet sich an feuchtnassen, nährstoffreichen Standorten der Wiesen stark aus und bildet dichte Dominanzbestände. Der schnell wachsende und sich rasant vermehrende Neophyt wurde 1839 aus Kaschmir erstmals nach England importiert und gelangte von dort aus als Zierpflanze auf den europäischen Kontinent. Er gehört damit zu den sogenannten hemerochoren Pflanzen, die ethelochor – also gezielt – eingeführt wurde. Die wie alle Seerosengewächse in Deutschland geschützte Gelbe Teichrose bedeckt weite Teile der offenen Wasserflächen mit schwimmenden Laubblättern. Sattgelbe, zwittrige Blüten mit einem Durchmesser von 4 bis 12 cm ragen aus ihrem grünen Blättermeer heraus. Tiere Das Biotop Tiefwerder-Wiesen bietet einen vielfältigen Lebensraum für Fische, Amphibien, Reptilien, Insekten, Vögel und auch Säugetiere wie Fledermäuse und den nach mehreren Gastbesuchen inzwischen fest angesiedelten Biber. Fische Die Bedeutung der Tiefwerder-Wiesen als Hechtlaichplatz ergibt sich aus der Eiablage des Raubfisches. Der Substratlaicher sucht zwischen März und April bis in den Mai hinein überschwemmte Auwiesen oder seichte Uferbereiche stehender Gewässer auf, in denen er die Eier an Wasserpflanzen, Wurzeln oder Äste haftet. Während die zweite traditionelle Berliner Hechtlaichwiese am Parschenkessel auf der Pfaueninsel bereits vor Jahren für die Hechte unzugänglich wurde, können die Fische seit 1990 auch die Tiefwerder Wiesen kaum noch erreichen. „Bei Wassertiefen von weniger als 5 Zentimetern ist es nur noch Jungfischen möglich, die Verbindung vom Hauptgraben aus zu durchschwimmen. Lediglich in feuchten Jahren gelingt dies auch einigen Altfischen, sodass zumindest in diesen Jahren Hechte erfolgreich in den Tiefwerder-Wiesen ablaichen können.“ Auf der Lauer liegt der bis zu 1,5 Meter lange Hecht unter anderem nach Weißfischen wie Plötze, Güster und Rotfeder, die zu den Friedfischen zählen und in den Gräben und Flussaltarmen wie auch Flussbarsche zahlreich laichen. Die nach Anhang II der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) besonders geschützten Steinbeißer suchen ihre Nahrung nur in der Nacht und graben sich tagsüber in den Grund ein, wobei nur noch Kopf und Schwanz herausragen. Die ebenso geschützten Rapfen aus der Familie der Karpfenfische finden sich in jungen Jahren in kleinen Schulen zusammen, entwickeln sich aber im ausgewachsenen Alter zu Einzelgängern. Für diesen Fisch ist eine Durchgängigkeit der Gewässer überlebenswichtig. Säugetiere Der in den Tiefwerder-Wiesen sporadisch nachgewiesene Fischotter findet in den flachen, fischreichen Havelaltarmen und in den Überschwemmungsebenen sein bevorzugtes Habitat. Diese an das Wasserleben angepasste Marderart wird in der Berliner Roten Liste gefährdeter Arten als vom Aussterben bedroht geführt (Stand 2003) und gilt nach der BArtSchV als streng geschützt. Auch wenn das Land Berlin besondere Gutachten zur Population anfertigen ließ und Maßnahmen zur Bestandssicherung einleitete, bleibt „zweifelhaft, ob sich der Otter in Berlin fest etablieren kann, da seine Lebensräume durch Uferverbau, Gewässerverschmutzung und Erholungsdruck eingeschränkt sind und immer wieder Verluste durch Verkehr und Fischreusen auftreten können.“ Der Biber genießt den gleichen Schutzstatus und ist seit 1994 an der Oberhavel und im Tegeler See als „echter Neubürger“ mit mehreren Biberburgen heimisch. Vom Tegeler See aus besuchte das Nagetier die Tiefwerder-Wiesen havelabwärts mehrfach als Gast. Mittlerweile (Stand: 2008) sollen sich Biber fest in Tiefwerder angesiedelt haben. Füchse und Dachse ziehen in den Tiefwerder-Wiesen ihre Jungen auf. Wildschweine sind derart zahlreich vertreten, dass die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ihre Wühltätigkeit als eine weitere Ursache für den Rückgang der Großseggenwiesen anführt. Für die geplante Ausweisung des Landschaftsschutzgebietes als Naturschutzgebiet ließ das Land Berlin 2007 die Fledermausfauna in den Tiefwerder-Wiesen und auf Pichelswerder untersuchen. Fledermäusen wie dem Großen Mausohr (nach der BArtSchV streng geschützt und im Anhang II der FFH-Richtlinie gelistet; in Berlin 2003 von vom Aussterben bedroht auf stark gefährdet herabgestuft) oder der Wasserfledermaus (in Berlin 2003 von gefährdet auf stark gefährdet hochgestuft) dient die Havelrinne als Flugleitbahn und Jagdgebiet. Von ihren Quartieren wie der Zitadelle oder den alten Gemäuern auf der Pfaueninsel suchen die nachtaktiven und hochsozialen Fledermäuse die insektenreichen Tiefwerder Wiesen zur Jagd auf. Insekten Unter den Insekten ist das Vorkommen des in Berlin stark gefährdeten Schwarzen Kolbenwasserkäfers (Hydrophilus aterrimus) bemerkenswert. Der nach dem BNatSchG besonders geschützte und wärmeliebende Wasserkäfer ähnelt stark dem Großen Kolbenwasserkäfer und bevorzugt größere, zumeist perennierende Gewässer an sonnenexponierten Standorten. Zwar sind für die Imagines des großen Käfers (Länge bis zu fünf Zentimetern) viele Gewässer geeignet, nicht jedoch für deren Larven. „Gerade das 1. und 2. Larvenstadium benötigt äußerst flache, vegetationsreiche und ungestörte Flachwasserbereiche, da die Junglarven, gestützt durch den Pflanzenwuchs, ihre Nahrung (kleine Wasserschnecken) noch aus dem Wasser heben müssen, um sie außerhalb des Körpers vorzuverdauen.“ Verschiedene Rüsselkäferarten wurden in den Tiefwerder Wiesen in den 1980er Jahren und zu Beginn der 1990er Jahre letztmals nachgewiesen. Da intensives Nachsuchen keine weiteren Funde brachte, gelten die meist kleinen Käfer (1,3–20 mm) seither in Berlin überwiegend als verschollen. Dazu zählen der Ufer-Kleinrüssler (Ceutorhynchus scapularis; letzter Nachweis August 1985, ein Exemplar), der Hohlzahn-Kleinrüssler (Datonychus angulosus; Mai 1990, vier Exemplare), der Nahtstreif-Kätzchenrüssler (Dorytomus hirtipennis; Februar 1991, fünfzehn Exemplare unter den Rindenschuppen einer Silber-Weide) und der Breite Seidenrüssler (Smicronyx smreczynskii; Juni 1989, ein Exemplar). Der Schlick-Sumpfrüssler (Pelenomus velaris), der bevorzugt an Gewässerufern auf vegetationslosen, periodisch überschwemmten, staunassen Sand- und Schlammflächen lebt und dessen Entwicklungspflanze nicht bekannt ist, wurde in Berlin mit einem Exemplar erstmals und gleichzeitig letztmals im Mai 1990 nachgewiesen. Im Dezember 2003 gelang in den Tiefwerder-Wiesen der Neunachweis eines Exemplars des Braunroten Weidenrüsslers (Ellescus infirmus) am Gesiebe (Bodenprobe) einer Weide. Weitere Tiere Im Röhricht der Tiefwerder-Wiesen ist der Grasfrosch zu Hause, der zwar nach dem BNatSchG besonders geschützt ist, aber seit einer bereits 1991 festgestellten guten Bestandsentwicklung nicht mehr auf der aktuellen Berliner Roten Liste von 2003 als gefährdet eingestuft ist. Die Ringelnatter hingegen gilt in Berlin weiterhin als gefährdet. Auch sie findet in dem Gebiet ihren bevorzugten Lebensraum: strukturreiche, sowohl aquatische als auch terrestrische Feuchtgebiete. Graureiher verweilen in den Wiesen vor ihrem Herbstflug in den Süden zur Nahrungsaufnahme. Auch seltenen und gefährdeten Vogelarten dienen die Tiefwerder-Wiesen als Brut-, Durchzugs- und Überwinterungsgebiet. So ist gelegentlich der in Berlin stark gefährdete Eisvogel zu sehen. Die nach dem BNatSchG streng geschützte Art wurde aufgrund ihrer Gefährdung in Deutschland bereits zweimal, 1973 und 2009, zum Vogel des Jahres gewählt. In den Seggenrieden, Röhrichten und hohen Gräsern leben unter anderem Teichrohrsänger, Sumpfrohrsänger, Heckenbraunelle, Blässhuhn und Zwergtaucher. Auch der Vogel des Jahres 1983, die Uferschwalbe, kommt in den Tiefwerder-Wiesen vor. Ihre Jungvögel finden sich nach dem Verlassen der Bruthöhlen auf Schlafplätzen im Schilf und Weidendickicht in großer Zahl zusammen. Naturschutz und Wege Schutzgebiete und Pflegemaßnahmen Mit der Verordnung zum Schutze von Landschaftsteilen im Bezirk Spandau von Berlin (Tiefwerder-Wiesen) stellte das Land Berlin die Tiefwerder-Wiesen unter Landschaftsschutz. Das LSG wird heute unter der Nr. 24 geführt und seine Fläche wird mit 66,69 ha angegeben. Seit 2007 prüft das Land die Anhebung des Schutzstatus als Naturschutzgebiet. Durch das benachbarte Wasserwerk Tiefwerder, das sechs Berliner Bezirke mit Trinkwasser versorgt, gehören weite Teile des LSG zudem zur engeren Wasserschutzzone II. Als Zielvorstellung gab die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz im Landschaftsprogramm und Artenschutzprogramm 1994 an: Im Mittelpunkt sämtlicher Schutz- und Pflegemaßnahmen des Landschaftsschutzgebiets steht die beschriebene Erhaltung der Überschwemmungsdynamik, gegebenenfalls mittels künstlicher Bewässerung der Tiefwerder-Wiesen mit Havelwasser und Anlage von Fischtreppen. Darüber hinaus sollen nach den bereits erfolgten Rückbauten von Dämmen, Straßen, Lauben und Uferverbauen (siehe oben) Weichholzauen für den Biber gesichert werden. Zur Offenhaltung der Wiesen erfolgt seit 2014 keine regelmäßige Pflegemahd mehr. Stattdessen wurden asiatische Wasserbüffel, Schafe und Ziegen angesiedelt. Sämtliche Wiesen, insgesamt 16 Hektar Land, wurden dafür mit Elektrozäunen umzogen und sind damit für Bewohner und Besucher nicht mehr zugänglich. Forstliche Maßnahmen sollen den Wald auf dem angrenzenden Pichelswerder zu einem naturnahen Eichenmischwald entwickeln. Wegenetz und Anbindung an die Berliner Grünzüge Das zentrale Feuchtgebiet ist durch einen Rundweg erschlossen. Ein 1996 angelegter rund 200 Meter langer Bohlensteg führt durch die Nasswiesen und Holzbrücken leiten über mehrere Gräben und den Toten Mantel. Eine lange Fußgängerbrücke über den Kleinen Jürgengraben verbindet die Wiesen mit der Dorfstraße in Tiefwerder und zwei Fußwege mit der Heerstraße. Nach Süden ist das Gebiet über Pichelswerder und den Grunewald an den Havelhöhenweg und nach Osten an den Naturraum der Murellenberge und der Fließwiese Ruhleben an der Teltownordkante angebunden. In einem Planwerk Westraum Berlin schlug die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2004 einen Höhenweg auf der Teltownordkante vor, womit von den Tiefwerder-Wiesen ein nahezu durchgehender Grünzug entlang der Spree über das Schloss Charlottenburg und den Großen Tiergarten bis in die City West bestünde. 2007 stellte zudem die DB ProjektBau den Bullengrabengrünzug als naturschutzrechtliche Ersatzmaßnahme für die Beeinträchtigungen in Natur und Landschaft durch das Bauvorhaben der Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin fertig. Der Grünzug führt von der Havel entlang des Bullengrabens rund 4,5 Kilometer nach Westen bis nach Staaken. Da der Bullengrabengrünzug nur rund einen Kilometer nördlich des Dorfes Tiefwerder auf die Havel trifft, schlug die Senatsverwaltung vor, ihn mit einem Fußgängersteg über den Fluss an Tiefwerder und damit an die Tiefwerder-Wiesen und den Teltow-Hangkantenweg anzubinden. Die Tiefwerder-Wiesen im Biotopverbund Havel Der Biotopverbund spielt als Verbindung von Lebensräumen für die Erhaltung bedrohter Arten eine immer größere Rolle und wurde als neues Schutzziel im Naturschutzgesetz verankert. Für wandernde Fische, als Flugleitbahn für Fledermäuse, als Brut-, Durchzugs- und Überwinterungsgebiet von Vögeln oder als Wanderleitlinie für Biber und Fischotter kommt der Havel und ihrer Durchgängigkeit große Bedeutung zu. Die Berliner Naturschutzverbände nahmen deshalb im Jahr 2000 die Havel als verbindendes Landschaftselement als Biotopverbund in ihre Vorschlagsliste zur Nachmeldung von Schutzgebieten nach Artikel 10 der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) für das Land Berlin auf. Allein in Berlin vernetzt die Havel zehn Landschaftsschutz- und drei Naturschutzgebiete, darunter das NSG Insel Imchen bei Kladow, das NSG Pfaueninsel und das LSG Spandauer Forst. Im gesamten Lauf verbindet sie bereits bestehende FFH-Gebiete wie die Uckermärkische Seenlandschaft oder das Tegeler Fließ und festgesetzte SPA-Gebiete wie das Havelländische Luch oder die Niederungen der unteren Havel. Zusammen mit den angrenzenden Luchlandschaften Rhinluch, Havelländisches Luch, Dossebruch und Jäglitzniederung bildet die untere Havelniederung das größte zusammenhängende Binnen-Feuchtgebiet des westlichen Mitteleuropa. In diesem Biotopverbund stellen die zentral gelegenen Tiefwerder Wiesen ein wichtiges innerstädtisches Bindeglied und für viele Arten „einen Trittstein zur Durchquerung des Stadtgebietes“ dar. Literatur Biotoptypen- und FFH-Lebenraumtypenkartierung für das NSG Murellenschlucht und Schanzenwald, NSG Fließwiese Ruhleben und angrenzende Bereiche. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Planland (Planungsgruppe Landschaftsentwicklung), Berlin 2006. Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Slawenburg, Landesfestung, Industriezentrum. Untersuchungen zur Geschichte von Stadt und Bezirk Spandau. Colloquium-Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-7678-0593-6. Landschaftsschutzgebiet Tiefwerder Wiesen. In: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin: natürlich Berlin! Naturschutz- und NATURA 2000-Gebiete in Berlin. Verlag Natur & Text, Berlin 2007, ISBN 978-3-9810058-3-7, S. 114–119. H. J. Mahnkopf: Tiefwerder – Hechtlaichwiesen. Der Hecht als „Umweltschützer“. In: Berliner Naturschutzblätter, Berlin 1988, Jg. 32, S. 10–12. Winfried Schich: Die Havel als Wasserstraße im Mittelalter: Brücken, Dämme, Mühlen, Flutrinnen. Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften, 24. November 1992; Auszug (PDF; 299 kB) – der vollständige Text mit allen Belegen ist erschienen in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 1994, Band 45. Weblinks Landschaftsschutzgebiet Tiefwerder Wiesen. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Sachdaten mit Kartenlink) Verordnung zum Schutze von Landschaftsteilen im Bezirk Spandau von Berlin (Tiefwerder Wiesen). Vom 12. September 1960. (PDF; 29,43 kB) Senatsverwaltung für Stadtentwicklung VDE 17 – Eine Chance für die Tiefwerder Wiesen. (PDF; 433,65 kB) Pressemitteilung Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, Wasserstraßen-Neubauamt Berlin, 26. Juni 2008 Einzelnachweise Landschaftsschutzgebiet in Berlin Gewässer in Berlin STiefwerder Wiesen Berlin-Wilhelmstadt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Malfatti-Kreis
Malfatti-Kreis
Die Malfatti-Kreise, später bekannt als Malfattisches Problem, sind benannt nach Gianfrancesco Malfatti, der 1803 ihre Konstruktion angab. Bestimmt sind die Malfatti-Kreise – unabhängig von der Form des Ausgangsdreiecks – durch drei Kreise in einem Dreieck mit der Eigenschaft, dass jeder die beiden anderen Kreise von außen und zwei Dreiecksseiten von innen berührt. Malfatti nahm fälschlich an, dass diese Eigenschaft der Kreise das Problem löse, drei Kreise überschneidungsfrei so in ein Dreieck zu packen, dass sie maximalen Flächeninhalt haben. Warum die Malfatti-Kreise dieses sogenannte Malfatti’sche Maximierungsproblem, sprich die maximale Bedeckung der Dreiecksfläche durch drei Kreise, nicht lösen, lässt sich z. B. leicht an einem langen schmalen rechtwinkligen Dreieck erkennen. Für die Radien der Malfatti-Kreise eines Dreiecks ABC gilt: Dabei steht für den Inkreisradius und für den halben Dreiecksumfang. ist der Inkreismittelpunkt und sind die drei Winkelhalbierenden. Geschichtliches Das ursprüngliche Malfatti-Problem bezog sich auf eine Aufgabe aus der Stereotomie, deren vermeintliche Lösung Malfatti 1802 fand und 1803 in der Memoria di Matematica e Fisica della Società Italiana delle Scienze in seinem Artikel Memoria sopra un problema stereotomico veröffentlichte. Zu Beginn seines Artikels formuliert Malfatti dazu die Aufgabenstellung. Frei übersetzt lautet sie: Aus einem gegebenen rechtwinkligen Prisma aus beliebigem Material, z. B. Marmor, schneide daraus drei [kreisförmige] Zylinder mit der gleichen Höhe wie das Prisma, aber mit dem maximalen Gesamtvolumen, d. h. mit der minimalen Materialverschwendung aus dem Volumen des Prismas. In seinem Artikel Memoria sopra un problema stereotomico weist Malfatti auch darauf hin, dass diese stereotomische Aufgabe auf ein Problem der Flächengeometrie reduzierbar ist. Er definiert die Lage der Kreise, die dem Dreieck einbeschrieben sind, heute als Malfatti-Kreise bezeichnet, folgendermaßen: Freie Übersetzung Gegeben sei ein Dreieck, konstruiere drei Kreise darin so, dass jeder der Kreise tangential ist (das heißt, sie berühren einen Punkt) mit den anderen zwei und mit zwei Seiten des Dreiecks. Das wurde allerdings 1992 von W. A. Salgaller und G. A. Los widerlegt, die zeigten, dass die Lösung stattdessen dadurch erreicht wird, jeweils in aufeinanderfolgenden Schritten einen Kreis mit dem größten Flächeninhalt einzubeschreiben – im Folgenden beschrieben im Abschnitt Konstruktion nach Salgaller und Los. Bereits 1687 wurde das Malfatti-Konstruktionsproblem von Jakob I Bernoulli in einem Spezialfall gelöst (gleichschenkliges Dreieck) und später gaben Jakob Steiner auf rein geometrischem Weg und Alfred Clebsch Lösungen, Letzterer mit elliptischen Funktionen (1857, Crelle’s Journal). Auch der Japaner Ajima Naonobu gab 30 Jahre vor Malfatti im Rahmen japanischer Architektur eine Lösung. Dass die Konstruktion von Malfatti das Malfatti-Problem nicht in allen Fällen löste, zeigten schon Lob und Richmond 1930 mithilfe gleichseitiger Dreiecke sowie Howard W. Eves 1965 durch Untersuchungen anhand schmaler und langer Dreiecke. Im Jahr 1967 wurde sogar von Michael Goldberg in einem Aufsatz gezeigt, dass Malfattis Konstruktion dies in keinem Fall tut. Hierfür erbrachten, wie bereits oben erwähnt, Salgaller und Los 1992 die Lösung. Die Begründung von Salgaller und Los war aber nicht vollständig und auf reine numerische rechnerische Argumenten in manchen Schwerpunkten basiert (wie bei Goldberg 1967). Im Juni 2022 hat Giancarlo Lombardi dazu den ersten geometrisch-analytischen Beweis durchgeführt und somit die Lösung erledigt. Freie Übersetzung (Teil der Zusammenfassung) Geometrische Konstruktionen Ingmar Lehmann erläutert 2003 diverse Lösungen des Malfatti-Problems in seiner Analyse Das Malfatti-Problem – Ein Thema in der Begabtenförderung. Im Folgenden werden daraus vier Methoden im Einzelnen beschrieben. Konstruktion nach Malfatti Variante mit vorherigen Berechnungen Dazu leitet Lehmann mithilfe des Satzes des Pythagoras und der Ähnlichkeit von Dreiecken drei Gleichungen her, deren Lösungen die Tangentenabschnitte und liefern. Es werden noch folgende Beziehungen berücksichtigt: darin bedeuten die Bezeichnungen und Mit den entsprechend eingesetzten Werten ist es jetzt möglich, eine sogenannte Hilfsstrecke mit der Länge zu bestimmen dann gilt für die oben beschriebenen Tangentenabschnitte Wird in der Formel für der Faktor den Summanden einzeln zugeordnet ist damit eine sehr einfache und platzsparende geometrische Konstruktion (siehe nebenstehendes Bild) darstellbar. Konstruktionsbeschreibung Nach dem Zeichnen eines z. B. ungleichseitigen Dreiecks mit den Seitenlängen und wird der Mittelpunkt des Inkreises mithilfe der drei Winkelhalbierenden und bestimmt. Damit ergeben sich die Strecken und Es folgt das Fällen des Lots von auf die Strecke mit dem Fußpunkt und das Ziehen des Inkreises um mit dem Radius Das Fällen der Lote von auf mit dem Fußpunkt sowie von auf mit dem Fußpunkt schließt sich an. Nun wird die Länge der Hilfsstrecke folgendermaßen auf einer Zahlengeraden ermittelt. Zuerst werden die Streckenhälften und addiert, aus deren Summe die Streckenhälften und subtrahiert und schließlich zum erhaltenen Rest der halbe Inkreisradius addiert. Weiter geht es mit dem Bestimmen der Mittelpunkte der Malfatti-Kreise. Die Hilfsstrecke sprich mit dem Zirkel abgreifen und jeweils auf die drei Winkelhalbierenden und ab dem Inkreismittelpunkt übertragen; dies ergibt die Punkte und Ab den Punkten und einen Kreisbogen bis auf die Dreieckseite und ab einen Kreisbogen bis auf geschlagen, ergibt die Punkte und Es folgt das Errichten dreier Lote von den Fußpunkten und auf die betreffenden Winkelhalbierenden und somit ergeben sich die gesuchten Mittelpunkte und Um die Berührungspunkte und zu erhalten, sind noch drei Lote von den Mittelpunkten und auf die Dreieckseiten und nochmals zu fällen. Abschließend die Malfatti-Kreise und mit den Radien und einzeichnen und man erhält deren letzten drei Berührungspunkte und Somit sind die drei Malfatti-Kreise und mit ihren neun möglichen Berührungspunkten und konstruiert. Konstruktion nach Steiner-Petersen Jakob Steiner brachte 1826 die Malfatti-Kreise in Verbindung mit den Inkreisen aus drei Teildreiecken, die deswegen als Konstruktionselement für die Malfatti-Kreise verwendet werden können. Steiner formulierte dazu den Satz: Hierbei ist zu betonen, dass die von Steiner erwähnten Tangenten an die Malfatti-Kreise im Allgemeinen nicht die Winkelhalbierenden von sind, sondern deren Spiegelbilder an den Verbindungsgeraden zweier Inkreismittelpunkte der Teildreiecke. Julius Petersen fand im Jahr 1879 eine elementargeometrische Lösung (Variante ohne vorherige Berechnungen) des Konstruktionsproblems von Malfatti, die im Folgenden dargestellt ist. Konstruktionsbeschreibung Es ist wegen einer besseren Übersichtlichkeit vorteilhaft, die Konstruktion in drei Hauptschritten, (1)–(3), darzustellen. Dabei werden nur die relevanten Konstruktionselemente vom ersten in den zweiten bzw. vom zweiten in den dritten Hauptschritt übernommen. (1) Konstruktion der drei Inkreise der Teildreiecke und Nach dem Zeichnen eines z. B. ungleichseitigen Dreiecks mit den Seitenlängen und wird der Mittelpunkt des Inkreises mithilfe der drei Winkelhalbierenden und bestimmt. Die Inkreismittelpunkte und der Teildreiecke und erhält man wieder als Schnittpunkt zweier Winkelhalbierenden, z. B. durch Vierteln der Winkel und Es folgt das Fällen des Lots von auf die Strecke mit dem Fußpunkt und das Ziehen des Inkreises um mit dem Radius Das Fällen der Lote von auf mit dem Fußpunkt sowie von auf mit dem Fußpunkt und das Einzeichnen der letzten beiden Inkreise und um ihre Mittelpunkte bzw. schließen sich an. (2) Konstruktion der drei Tangenten und Es geht weiter mit dem Verbinden der Punkte mit der Halbierung der Strecke in und dem Einzeichnen des Thaleskreises Er schneidet den Inkreis in den Punkten und Nun zieht man die erste Tangente vom Punkt durch den Berührungspunkt des Inkreises bis sie die Dreieckseite in schneidet. Im Anschluss daran wird mit verbunden, die Strecke in halbiert und der Thaleskreis eingezeichnet. Er schneidet den Inkreis in den Punkten und Das Einzeichnen der zweiten Tangente vom Punkt durch bis sie die Dreieckseite in schneidet, liefert den Schnittpunkt Da auch ein Punkt auf der dritten Tangente sein muss, bedarf es zu deren Bestimmung nur noch einer Linie von durch bis auf die Dreieckseite und den Schnittpunkt Somit ist auch die dritte Tangente ermittelt. (3) Konstruktion der Malfatti-Kreise und Zunächst wird im Dreieck die Winkelhalbierende vom Punkt bis auf die Winkelhalbierende eingezeichnet; dabei ergibt sich der Mittelpunkt des ersten Malfatti-Kreises. Es folgt das Fällen des Lots von auf die Strecke mit dem Fußpunkt und das Ziehen des ersten Malfatti-Kreises um mit dem Radius Das Fällen der Lote von auf mit dem Fußpunkt sowie von auf die Tangente mit dem Fußpunkt schließt sich an. Die darauf folgende Linie ab durch bis auf die Winkelhalbierende erzeugt den Mittelpunkt Nach dem Einzeichnen des zweiten Malfatti-Kreises um mit dem Radius werden die Lote von auf mit dem Fußpunkt von auf mit dem Fußpunkt sowie von auf die Tangente mit dem Fußpunkt gefällt. Die darauf folgende Linie ab durch bis auf die Winkelhalbierende erzeugt den Mittelpunkt Nun folgt das Einzeichnen des dritten Malfatti-Kreises um mit dem Radius Um die Berührungspunkte und zu erhalten, bedarf es noch zweier gefällter Lote vom Mittelpunkt auf von auf und der Verbindung des Punktes mit Somit sind die drei Malfatti-Kreise und mit ihren neun möglichen Berührungspunkten und konstruiert. Konstruktion nach Lob und Richmond H. Lob und H. W. Richmond veröffentlichten 1930 eine Lösung für das Maximierungs-Problem von Malfatti. Darin wird der Inkreis des gleichseitigen Dreiecks als ein Kreis von dreien genutzt. Die Bedeckung der Dreiecksfläche durch diese Anordnung der Kreise ist nur marginal größer, nämlich um , aber dafür ist die Aufgabe leicht und mit wenig Aufwand darstellbar. Sie haben damit bewiesen, Konstruktionsbeschreibung Nach dem Zeichnen eines gleichseitigen Dreiecks mit den gleich langen Seitenlängen und wird der Mittelpunkt des Inkreises mithilfe der drei Winkelhalbierenden und bestimmt. Es folgt das Fällen des Lots von auf die Strecke mit dem Fußpunkt und das Ziehen des Inkreises um mit dem Radius die Schnittpunkte sind mit der Winkelhalbierenden und mit der Winkelhalbierenden Das Fällen der Lote von auf mit dem Fußpunkt sowie von auf mit dem Fußpunkt schließt sich an. Für die kleineren Kreise zieht man (im gleichseitigen Dreieck) zwei Parallelen zur Strecke  – eine ab dem Punkt bis auf die Strecke mit dem Schnittpunkt , die zweite ab dem Punkt bis auf die Strecke mit dem Schnittpunkt Das Errichten des Lots mit dem Fußpunkt auf die Winkelhalbierende und das Errichten des Lots auf die Winkelhalbierende mit dem Fußpunkt ergibt die Mittelpunkte und Nun wird ein Kreis um mit dem Radius und ein Kreis um mit dem Radius gezogen. Um die beiden letzten Berührungspunkte zu erhalten, werden abschließend zwei Lote auf gefällt, von und von , dabei ergeben sich die Fußpunkte und Somit sind in das gleichseitige Dreieck die drei Kreise und mit ihren neun möglichen Berührungspunkten und konstruiert. Konstruktion nach Goldberg Michael Goldberg veröffentlichte 1967 einen Aufsatz in dem er zeigte, dass Malfattis Konstruktion, unabhängig von der Form des Dreiecks, in keinem Fall das Maximierungs-Problem erfüllen kann. Zu diesem Ergebnis kam er – ohne es zu beweisen – durch Untersuchungen anhand unterschiedlicher Formen der Dreiecke, die alle eines gemeinsam hatten: Einer der drei Kreise war stets der Inkreis. Konstruktionsbeschreibung Nach dem Zeichnen des unregelmäßigen Dreiecks wird der Mittelpunkt des Inkreises mithilfe der zwei Winkelhalbierenden und bestimmt. Damit ergeben sich die Strecken und Es folgt das Fällen des Lots von auf die Strecke mit dem Fußpunkt und das Ziehen des Inkreises um mit dem Radius der Schnittpunkt auf ist Das Fällen der Lote von auf mit dem Fußpunkt sowie von auf mit dem Fußpunkt schließt sich an. Der Mittelpunkt des zweiten Kreises wird nun sehr einfach mit zwei Schritten bestimmt. Es bedarf dafür nur einer Senkrechten zur Strecke ab dem Punkt die in schneidet, und einer Winkelhalbierenden des Winkels Der damit erzeugte Punkt ist der Mittelpunkt des zweiten Kreises mit dem Radius und den Berührungspunkten und mit zwei Seiten des Dreiecks. Um für den dritten und letzten gesuchten Kreis den größtmöglichen Radius zu finden, werden zuerst auf zwei Winkelhalbierenden – auf dreien, falls es die Form des Dreiecks verlangt – mögliche Radien bestimmt. Man erhält sie durch analoge Wiederholung der Konstruktionsschritte des zweiten Kreises mit Mittelpunkt Die gepunkteten Linien im nebenstehenden Bild zeigen den auf der Winkelhalbierenden konstruierten Radius als Vergleichsmöglichkeit zum Radius auf Die Bewertung der beiden Radien ergibt . Daraus folgt: Der Kreis um den Mittelpunkt ist der gesuchte größtmögliche dritte Kreis . Somit sind in das unregelmäßige Dreieck die drei Kreise und mit ihren neun möglichen Berührungspunkten und konstruiert. Konstruktion nach Salgaller und Los W. A. Salgaller und G. A. Los veröffentlichten – nach ihrer Lösung 1992 (siehe Geschichtliches) – 1994 im Journal of Mathematical Sciences ihre Lösung des Malfatti’schen Maximierungs-Problems. Darin sind u. a. fünf allgemeine Dreiecke zu sehen, in denen jeweils der Inkreis einer der drei sich nicht überlappenden Kreise ist. Nur in einem Dreieck davon, in Konstruktion nach Goldberg beschrieben, liegen diese drei Kreise auf derselben Winkelhalbierenden. Bedeckung der Dreiecksfläche durch drei Kreise Die Methode nach Malfatti (Bild 1) sowie die Methode nach Steiner-Petersen erreicht oder ca. Die Methode nach Lob und Richmond (Bild 2) erreicht oder ca. Methode mit Inkreis nach Salgaller und Los sowie die Methode nach Goldberg (Bild 3 und Bild 4): Die Bedeckung der Dreiecksfläche, z. B. als prozentualer Wert, ist von der gewählten Form des Ausgangsdreiecks sowie von der Position der Kreise und abhängig. Für die dargestellte Formen, mit für die entsprechenden Flächeninhalte, gilt die Prozentformel: dies ergibt eine Bedeckung der Dreiecksfläche für das Dreieck in Bild 3 von bzw. für das Dreieck in Bild 4 von Literatur Marco Andreatta, Andras Bezdek, Jan P. Boronski: The Malfatti Problem: two centuries of debate. Mathematical Intelligencer, 2011, Nr. 1. Heinrich Dörrie: Malfatti’s Problem in 100 Great Problems of Elementary Mathematics: Their History and Solutions. Dover, New York 1965, ISBN 0-486-61348-8, S. 147–151. Michael Goldberg: On the Original Malfatti Problem (PDF; 553 kB) In Math. Mag. Nr. 40, 1967, S. 241–247. Charles Stanley Ogilvy: Excursions in Geometry. Dover, New York 1990, ISBN 0-486-26530-7. Weblinks Einzelnachweise Dreiecksgeometrie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl%20in%20Finnland%201956
Präsidentschaftswahl in Finnland 1956
In der Präsidentenwahl in Finnland 1956 wurde Urho Kekkonen erstmals zum Präsidenten der Republik Finnland gewählt. Das Vorfeld der Wahl war von einer starken Polarisierung der politischen Landschaft in Kekkonen-Befürworter und -Gegner geprägt. Kekkonens hauptsächliche Gegenkandidaten waren der Sozialdemokrat Karl-August Fagerholm sowie der für die konservative Opposition antretende Sakari Tuomioja. Im Wahlkampf standen sich pointiert die von Kekkonen verkörperte Politik der Annäherung an die Sowjetunion und die von seinen Gegnern propagierte unabhängigere und westlich orientierte Politik gegenüber. Die Wahlen zum Wahlmännerausschuss am 16. und 17. Januar 1956 stärkten Kekkonen, ergaben jedoch keine klaren Mehrheiten. Die eigentliche Präsidentenwahl durch den Wahlmännerausschuss am 15. Februar 1956 gestaltete sich dramatisch. Im zweiten Wahlgang brachten die konservativen Parteien den Amtsinhaber Juho Kusti Paasikivi als neuen Kandidaten ins Spiel. Taktisches Wahlverhalten der kommunistischen Volksdemokraten sorgte aber dafür, dass sich im als Stichwahl ausgestalteten dritten Wahlgang Kekkonen und Fagerholm gegenüberstanden. Hier gewann Kekkonen schließlich mit 151 zu 149 Stimmen. Das Zustandekommen der knappen Mehrheit sorgte in Finnland für jahrzehntelange Spekulationen. Amt und Wahlverfahren Zu den prägenden Zügen der finnischen Verfassung von 1919 gehörte die starke Stellung des Präsidenten. Der Präsident war der Oberbefehlshaber der Armee, die Außenpolitik unterstand seiner Autorität. Er hatte das jederzeitige Recht, das Parlament nach eigenem Ermessen aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Vom Parlament beschlossene Gesetze bedurften grundsätzlich der Unterschrift des Präsidenten. Verweigerte er die Ausfertigung, konnte das Gesetz erst nach den nächsten Parlamentswahlen durch das neue Parlament erneut beschlossen werden. In diesem Fall trat es auch ohne die Ausfertigung des Präsidenten in Kraft. Die Wahl des Präsidenten erfolgte für eine Amtszeit von sechs Jahren über ein direkt vom Volk gewähltes, mit 300 Personen besetztes Wahlmännergremium. In den Wahlen zum Wahlmännerausschuss traten regelmäßig Wahlbündnisse an, die jeweils einen konkreten Präsidentschaftskandidaten unterstützten. In der Ausübung ihres Mandats waren die Wahlmänner aber frei, und es war weder ausgeschlossen noch unüblich, dass auch noch während des Wahlverfahrens im Wahlmännerausschuss neue Kandidaten ins Spiel gebracht wurden. Im Wahlmännerausschuss wurde der Präsident in bis zu drei Wahlgängen gewählt. In den ersten beiden Wahlgängen war die absolute Mehrheit der Wahlmänner erforderlich. Soweit kein Kandidat diese Mehrheit erreichte, fand zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen ein Stichentscheid im dritten Wahlgang statt. Ausgangslage Zum Zeitpunkt der turnusmäßigen Wahl des finnischen Präsidenten im Jahr 1956 war der amtierende Präsident Juho Kusti Paasikivi 85 Jahre alt. Paasikivi hatte in seiner seit 1946 andauernden Amtszeit die Nachkriegspolitik Finnlands geprägt. Sein Name stand für eine Politik der Versöhnung und der freundschaftlichen Beziehungen zum ehemaligen Kriegsgegner Sowjetunion und für eine größtmögliche Enthaltung Finnlands aus den Interessengegensätzen der Großmächte. Diese sogenannte Paasikivi-Linie stand innenpolitisch einer starken Opposition gegenüber, die sich aus dem konservativen Lager mit der Nationalen Sammlungspartei an der Spitze bis in die westlich und antikommunistisch orientierte Sozialdemokratische Partei erstreckte. Zu den wichtigsten personellen Stützen der Paasikivi-Linie gehörte seit Jahren Urho Kekkonen aus der bäuerlichen Partei Landbund. Stärker noch als Paasikivi vertrat Kekkonen neben den Sowjetbeziehungen eine auch innenpolitische Einbindung der finnischen Kommunisten in die Verantwortung. Kekkonen war bereits 1944/45 als Justizminister unter Ministerpräsident Paasikivi an der Koalition der „großen Drei“ aus Landbund, Sozialdemokraten und der parlamentarischen Organisation der Kommunisten, der Demokratischen Union des Finnischen Volkes (Volksdemokraten), beteiligt. Unter Paasikivis Präsidentschaft war Kekkonen zwischen 1950 und 1956 in insgesamt fünf Regierungen Ministerpräsident. Die Regierungen dieses Zeitraums, neben Kekkonens Regierungen noch je ein Kabinett unter Sakari Tuomioja und Ralf Törngren, stürzten immer wieder über innenpolitische Krisen. Die stets außer Kontrolle zu geraten drohende Inflation schürte immer neue Arbeitskämpfe, in deren Schusslinie wegen der starken Regulierung der Wirtschaft auch stets die Regierung stand. Die Streiks waren aber auch immer wieder Mittel im politischen Machtkampf, insbesondere auch zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die um die Beherrschung der Gewerkschaften wetteiferten. Insbesondere Kekkonens Regierungen hatten gleichzeitig mit schwerer Kritik aus dem konservativen Lager, aber auch aus dem rechten Flügel des Landbundes selbst zu kämpfen, die sich an der außenpolitischen Linie ebenso entzündete wie an den kostenträchtigen Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation. Als Vertrauter Paasikivis und langjähriger Ministerpräsident war Kekkonen ein offensichtlicher Kandidat für die Nachfolge des Präsidenten. Dagegen formierten sich die politischen Gegner im Wesentlichen mit dem gemeinsamen Ziel, den Aufstieg Kekkonens zum Präsidenten zu verhindern. So formulierte Vorstandsmitglied Lauri Aho in der Sitzung des Parteirates der Sammlungspartei: Die stärkste Partei Finnlands, gemessen an der Vertretung im Parlament, waren die Sozialdemokraten, die in den 1954 abgehaltenen Wahlen 54 der 200 Sitze errungen hatten. Ihnen folgten der Landbund mit 53 Sitzen und die Volksdemokraten mit 43 Sitzen. Die Sammlungspartei gehörte mit 24 Sitzen schon zu den kleineren Parteien. Die mittelständische Volkspartei Finnlands verfügte über 13, die als Interessenvertreterin der schwedischsprachigen Minderheit agierende Schwedische Volkspartei über 12 Mandate. Kandidaten Die im Parlament vertretenen Parteien entschieden sich durchgehend dafür, jeweils eigene Kandidaten für die Präsidentenwahl aufzustellen und auf Wahlbündnisse zu verzichten. Die zu erwartende Zuspitzung auf die Frage für oder gegen Kekkonen war aber schon bei der Kandidatenwahl ein wichtiger Faktor. Kekkonen Der Landbund war die erste Partei, die offiziell ihren Präsidentschaftskandidaten benannte. Bereits ab September 1954 begannen die Bezirksverbände, Urho Kekkonen zu ihrem Kandidaten zu erklären. Im November beschloss Kekkonens Heimatverband, der Bezirksverband Kainuu, eine entsprechende formelle Nominierungsvorlage an den Parteirat. Völlig einmütig erfolgte die Nominierung Kekkonens jedoch nicht. Kekkonen war in seiner eigenen Partei nie unumstritten gewesen. Insbesondere der rechte Parteiflügel hatte den wachsenden Einfluss Kekkonens teilweise erbittert bekämpft. Wie auch bei den Kritikern aus anderen Parteien war der hauptsächliche Reibungspunkt die Annäherungspolitik an die Sowjetunion. Innerparteilich hatte aber auch Kekkonens Neigung für Ärger gesorgt, wichtige politische Entscheidungen ohne Konsultation der Parteiorgane zu fällen. Die innerparteiliche Opposition war im Laufe der Fünfzigerjahre schwächer geworden, aber nicht erloschen. So stellte der Bezirksverband Mittelösterbotten nur fünf Tage nach dem Beschluss aus Kainuu Viljami Kalliokoski als Gegenkandidat auf. Kalliokoski war seit 1922 fast durchgehend Parlamentsabgeordneter und war von 1941 bis 1945 Vorsitzender der Partei. Als Vertreter der alten Politik gehörte er zu den Kräften, die 1945 insbesondere auf Betreiben Kekkonens aus der Politik gedrängt wurden. In seiner Entscheidung am 9. Dezember 1954 stellte sich der Parteirat mit deutlicher Mehrheit, 62 gegen 10 Stimmen, hinter Kekkonen, der so als Kandidat nominiert wurde. Die innerparteiliche Opposition hielt in der Folge noch an Kalliokoski als einer Art Reservekandidat fest. Im März 1955, als Kekkonen wegen einer angeblichen Verwicklung in eine Schlägerei in die Kritik geriet, stellte sich die Opposition auch öffentlich gegen diesen. Letztlich drang die Opposition aber nicht durch. Die Bezirksversammlungen der Partei im September 1955 stellten sich einmütig hinter Kekkonen und stellten für die Wahlmännerwahl ausschließlich Kandidaten auf, die diesen klar unterstützten. Fagerholm In der sozialdemokratischen Partei führte die Kandidatenkür zu einer Spaltung in zwei Lager. Der profilierteste Politiker der Partei in der Nachkriegszeit war Karl-August Fagerholm. Er hatte zwischen 1948 und 1950 als Ministerpräsident einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung vorgestanden. In dieser Zeit war es ihm gelungen, den nach dem Krieg entstandenen Einfluss der Kommunisten in Politik und Gesellschaft zurückzudrängen. In diese Phase war allerdings auch eine Verhärtung in den Beziehungen zur Sowjetunion gefallen. Seit der Ablösung seiner Regierung bis zur Präsidentenwahl 1956 war Fagerholm als Parlamentspräsident formell zweithöchster Amtsträger Finnlands. Teile der Partei hatten jedoch Bedenken gegen die Kandidatur Fagerholms. Er wurde als zu sowjetfreundlich eingeschätzt, um als Gegenkandidat Kekkonens in einer möglichen Stichwahl auch die Stimmen des rechten Lagers auf sich vereinigen zu können. Daher wurde als Alternative Väinö Tanner ins Spiel gebracht. Der 74-jährige Tanner gehörte zu den bedeutendsten Politikern in der Zeit vor und während des Krieges. Als Mitglied des engsten Regierungskreises bis 1944 hatte er maßgeblichen Einfluss auf die finnische Kriegspolitik und gehörte in den Augen der Sowjetunion zu den hauptsächlichen Kriegsschuldigen. So musste er sich nach Kriegsende auch zunächst aus der Politik zurückziehen und wurde 1946 im Kriegsschuldprozess zu einer Haftstrafe verurteilt. In den Fünfzigerjahren kehrte er in die Politik zurück und genoss in seiner Partei hohes Ansehen, wenn er auch zu diesem Zeitpunkt kein formelles Amt innehatte. Auf dem Parteitag ließ dessen Verfahrensausschuss zur Klärung der Stimmungslage eine inoffizielle Abstimmung durchführen. Über deren Ausgang gehen die Erinnerungsbilder auseinander. Fagerholm erinnert sich, eine Stimme mehr als Tanner erhalten zu haben. Tanner-Biograf Hakalehto berichtet dagegen von einem Zweistimmenvorsprung für Tanner. Klarheit schaffte der Stimmgang jedenfalls nicht. Tanner hatte allerdings eine deutliche Unterstützung in der Partei zur Bedingung für seine Kandidatur gemacht. Der Verfahrensausschuss des Parteitages stellte sich daher nach Abstimmung auf den Standpunkt, dem Parteitag lediglich Fagerholm für die eigentliche Kandidatenwahl vorzuschlagen. Dieser wurde damit zum sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten. Übrige Kandidaten Die Demokratische Union des Finnischen Volkes bemühte sich zunächst, sich mit den Sozialdemokraten auf einen gemeinsamen Kandidaten der Arbeiterbewegung zu verständigen. Die Verhandlungen verliefen jedoch ergebnislos. So stellten die Volksdemokraten ihren Abgeordneten Eino Kilpi auf. Kilpi war ursprünglich Sozialdemokrat und von 1932 bis 1947 Chefredakteur des Parteiorgans Suomen Sosialidemokraatti gewesen. Er gehörte in der Schlussphase des Krieges zur sogenannten Friedensopposition, die einen schnellen Sonderfrieden mit der Sowjetunion befürwortete. In der Koalition der „großen Drei“ von 1946 bis 1948 war er zunächst Bildungs- und dann Innenminister. In dieser Zeit wechselte er in die Reihen der Volksdemokraten. Die konservative Sammlungspartei tat sich zunächst schwer bei der Suche nach einem Kandidaten, der in einer Stichwahl gegen Kekkonen in der Lage wäre, die Stimmen der Kekkonengegner auf sich zu vereinen. Vergeblich bemühte man sich, Nobelpreisträger Artturi Ilmari Virtanen oder Erzbischof Ilmari Salomies als Kandidaten zu gewinnen. Schließlich entschied sich die Partei im April 1955 für den damaligen Botschafter in London, Sakari Tuomioja. Tuomioja war von 1945 bis 1955 Chef der finnischen Zentralbank gewesen. Er diente als Minister in mehreren Regierungen und war von 1953 bis 1954 selbst Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Tuomioja selbst war Mitglied der Kleinpartei Liberaler Bund, die ihn ebenfalls als Kandidaten benannte. Die Volkspartei Finnlands ging mit dem Oberbürgermeister von Helsinki, Eero Rydman, ins Rennen. Die Schwedische Volkspartei vertraute auf Ralf Törngren, der in zahlreichen Regierungen Minister gewesen war und 1954 als Vermittlungslösung die Führung einer ansonsten aus Landbund und Sozialdemokraten gebildeten Regierung übernommen hatte. Wahlkampf Der Präsidentschaftswahlkampf Urho Kekkonens wurde durch eine effiziente Parteiinfrastruktur gestützt, die vom Generalsekretär des Landbundes, Arvo Korsimo, seit 1950 nachdrücklich entwickelt worden war. Sie beruhte auf einem Netz von lokalen Verbindungspersonen, die durch Schulungen auf den Wahlkampf vorbereitet und durch persönliche Treffen mit Kekkonen motiviert wurden. Kekkonen selbst sprach landesweit auf 253 Wahlveranstaltungen. Sachlich konzentrierte sich die Kampagne auf das Thema der friedlichen Weiterentwicklung des Landes unter der außenpolitischen Führung Kekkonens. Kekkonen wurde als Fortführer der erfolgreichen Paasikivi-Linie dargestellt. Einen besonderen Schub erhielt diese Strategie im Herbst 1955, als Kekkonen gemeinsam mit Präsident Paasikivi nach Moskau reiste und beide dort die Zusage erhielten, dass die Sowjetunion die Halbinsel Porkkala, die Finnland nach dem Krieg als sowjetischen Militärstützpunkt hatte abtreten müssen, im Januar 1956 vorzeitig zurückgeben würde. In der Wahlpropaganda stellte man den Anteil Kekkonens an diesem Erfolg in den Vordergrund und begann, von der Paasikivi-Kekkonen-Linie zu sprechen. Die Sozialdemokraten bewarben ihren Kandidaten mit dem Slogan „Fagerholm – Ein Mann des Volkes an die Spitze des Volkes.“ Die Kampagne blieb in ihrem Nachdruck hinter der Maschinerie des Landbundes zurück. Nach Einschätzung des den Sozialdemokraten nahestehenden Geschäftsmannes Kalle Kaihari lag dies einerseits am Fehlen eines Machers vom Kaliber Korsimos, andererseits an der in der Kandidatenkür aufgetretenen Spaltung der Partei. Im Übrigen war der sozialdemokratische Wahlkampf in erster Linie von der Gegnerschaft gegen Kekkonen einerseits und gegen die radikale Linke andererseits getragen. Generalsekretär Väinö Leskinen stellte im Januar 1956 fest: Besonders aggressiv bezog das rechte Parteienspektrum, allen voran die Sammlungspartei, Stellung gegen Kekkonen. Seine maßgebliche Rolle an den Kriegsschuldprozessen prangerte man als ebenso vaterlandslos an wie die Politik der Zugeständnisse an die Sowjetunion. Die Wahl Kekkonens zum Präsidenten würde die Rückkehr der Kommunisten in die Regierung bedeuten. Die Angriffe gingen auch in die persönliche Ebene. Kekkonens Lebenswandel sei unstet, er sei streitsüchtig und gewalttätig. Diese Beschuldigungen erhielten im Februar 1955 besonderen Auftrieb, als Kekkonen angeblich betrunken in eine Schlägerei mit seinem ehemaligen Weggefährten und nunmehrigen Gegner Tauno Jalanti verwickelt war. Die Flut der Kritik wurde begleitet von mehreren aus dem Boden gestampften Boulevardzeitungen, die sich auf Berichterstattung über Kekkonens Verfehlungen spezialisierten. Der Wahlkampf der Volksdemokraten enthielt sich dagegen weitgehend irgendwelcher Stellungnahmen zu Kekkonen. Die Propaganda richtete sich gegen den „das Großkapital repräsentierenden“ Tuomioja und den „rechten Sozialdemokraten“ Fagerholm. Sie stellte heraus, dass an Fagerholm gegebene Stimmen sich am Ende als Stimmen für Tuomioja entpuppen könnten. In der späteren innerparteilichen Diskussion wurde das schwache Abschneiden Kilpis insbesondere damit begründet, dass früh erkennbar geworden war, dass Kekkonen für die Kommunisten eine akzeptable Alternative sei, und dass die Wähler sich deshalb sogleich letzterem zugewandt hätten. Der Wahlkampf aller Parteien fand in erster Linie auf Wahlveranstaltungen und über die Presse statt. Im öffentlichen Rundfunk Finnlands durften die Kandidaten in den zwei Monaten vor der Wahl nicht erscheinen. Ausnahme war eine Programmreihe im Januar, in der jeder Kandidat sich einmal im Monologstil äußern durfte. Wahlen zum Wahlmännerausschuss Die fünften Wahlen zum Wahlmännerausschuss im unabhängigen Finnland wurden am 16. und 17. Januar 1956 abgehalten. Erstmals ermöglichte das Wahlgesetz die Stimmabgabe auch in Krankenhäusern, den finnischen Botschaften und auf finnischen Schiffen im Ausland. Die Wahlbeteiligung lag mit 73,4 % höher als je zuvor in Wahlmännerwahlen, jedoch niedriger als in der Parlamentswahl 1954. Die Abstimmung endete in einem deutlichen Sieg für Kekkonen. Sein Wahlbund erhielt 26,9 % der Stimmen und 88 Wahlmänner. Im Jahr 1950, als Kekkonen ebenfalls Kandidat gewesen war, hatte er nur 62 Wahlmännermandate errungen. Die anderen Kandidaten blieben hinter den Erwartungen zurück. Tuomioja blieb mit 57 Wahlmännern nur Dritter hinter Fagerholm, aus dessen Wahlbund 72 Wahlmänner gewählt wurden. Kilpi erzielte mit 56 Wahlmännern ein deutlich hinter der parlamentarischen Stärke seiner Partei zurückbleibendes Resultat. Törngren war mit 20, Rydman mit sieben Wahlmännern vertreten. Die Wahlen hatten keinem der Kandidaten einen solchen Sieg beschert, dass dessen Wahl zum Präsidenten hätte gesichert erscheinen können. Die Zeit bis zum Zusammentreten der Wahlmänner zur Präsidentenwahl war daher von intensiven Sondierungsgesprächen und Verhandlungen gekennzeichnet, die jedoch bis zum Wahltag keine eindeutigen Ergebnisse erbrachten. Im Lager Kekkonens ging man davon aus, dass die Unterstützung der Volksdemokraten unerlässlich sei und man diese auch gewinnen werde. Die fehlenden sieben Stimmen hoffte man aus dem Lager der Schwedischen Volkspartei und der Volkspartei Finnlands zu erhalten. Letztere geriet mit ihren sieben Wahlmännern bald in eine Schlüsselstellung. Sie wurde auch von der Sammlungspartei und den Sozialdemokraten umworben. Viel schien davon abzuhängen, wer in einem angenommenen dritten Wahlgang der Gegenkandidat Kekkonens wäre. Im Landbund ging man davon aus, die besten Chancen auf ein Abwerben bürgerlicher Stimmen zu haben, wenn der Gegner Fagerholm hieße. Andererseits hatten die Sozialdemokraten auch Bedenken gegen eine Unterstützung Tuomiojas angedeutet, wenn dieser gegen Kekkonen antreten würde. Bald nach der Wahl brachte die bürgerliche Presse daher die Möglichkeit eines gemeinsamen Kompromisskandidaten ins Spiel. Hier wurde einerseits mit Väinö Tanner, andererseits mit dem amtierenden Präsidenten Paasikivi spekuliert, ohne dass die Parteien konkrete Einigung erzielt hätten. Gleichzeitig sondierten die Volksdemokraten erneut die Möglichkeit eines gemeinsamen Kandidaten mit den Sozialdemokraten. Diese zeigten sich aber nicht interessiert. Schließlich begannen die Präsidentenwahlen am 15. Februar mit den ursprünglichen Kandidaten. Präsidentenwahl Die 300 Wahlmänner und -frauen traten am 15. Februar 1956 um 15 Uhr im Parlamentsgebäude in Helsinki zusammen. Als Vorsitzender der Versammlung fungierte den Vorschriften der Verfassung entsprechend der Ministerpräsident Urho Kekkonen, obwohl dieser selbst Präsidentschaftskandidat war. Im ersten Wahlgang stimmten alle Gruppierungen geschlossen für ihre jeweiligen Kandidaten. Die Verfassung sah für den Fall, dass keiner der Kandidaten eine absolute Stimmenmehrheit erhält, die sofortige Abhaltung des zweiten Wahlganges vor. Um den politischen Gruppierungen noch einmal Gelegenheit zu Verhandlungen zu geben, wurde die Sitzung jedoch zum Zwecke der Stimmnachzählung unterbrochen. Die Verhandlungspause zog sich letztlich auf fast vier Stunden hin. Die Verhandlungen auf den Gängen und in den Sälen des Parlamentsgebäudes waren fieberhaft. Johannes Virolainen, der über Jahrzehnte an der Spitze der finnischen Politik beteiligt war, schrieb 1984: Die Sammlungspartei und die beiden Volksparteien kamen in einer gemeinsamen Verhandlung zu dem Beschluss, dass nur eine Kandidatur Paasikivis die Wahl Kekkonens noch verhindern könne. Als man mit dem amtierenden Präsidenten Kontakt aufnahm, setzte dieser für eine Kandidatur die Unterstützung auch durch den Landbund voraus, was unter den gegebenen Umständen als ausgeschlossen gelten konnte. In der Folge setzten sich auch Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokraten um Tanner für eine Wahl Paasikivis ein. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Wahlmännergruppe hielt aber an dem früheren Beschluss fest, dass die Gruppe bis zum Schluss geschlossen hinter Fagerholm stehen sollte. Die Sammlungspartei und die Volksparteien entschlossen sich nichtsdestoweniger dafür, im zweiten Wahlgang für Paasikivi zu stimmen. Sie nahmen an, dass dieser ohne Weiteres den Sprung in den dritten Wahlgang schaffen und dort dann auch die Stimmen der Sozialdemokraten erhalten würde. Die Frage der Zustimmung Paasikivis blieb unklar, man ging aber davon aus, dass ihm letztlich die Unterstützung einer breiten Mehrheit genügen würde. Derweil versuchten die Abgeordneten des Landbundes, sich die Unterstützung der Volksdemokraten zu sichern. Für diese war Ausgangspunkt, dass der Antikommunist Fagerholm nicht wählbar war. Dagegen wäre Paasikivi als Symbolfigur der sowjetfreundlichen Außenpolitik für die hinter den Volksdemokraten stehenden Kommunisten grundsätzlich ein annehmbarer Kandidat gewesen. Dennoch konnten sich die Gruppenvorsitzenden Arvo Korsimo vom Landbund und Hertta Kuusinen von den Volksdemokraten auf ein abgestimmtes Vorgehen einigen. Entscheidend war für Letztere, dass die Wahl Paasikivis von den ärgsten politischen Gegnern betrieben wurde und daher verhindert werden müsse. Die Volksdemokraten versprachen daher, ihre Stimmen so unter Kekkonen und Fagerholm aufzuteilen, dass diese – und nicht Paasikivi – in den dritten Wahlgang einziehen. Gegen 19:45 Uhr traten die Wahlmänner wieder zusammen und Kekkonen verkündete das offizielle Ergebnis des ersten Wahlganges. Sodann wurde zum zweiten Wahlgang geschritten. In diesem erhielten Fagerholm 114, Kekkonen 102 und Paasikivi 84 Stimmen. Das Vorgehen der Volksdemokraten und das Ausscheiden Paasikivis sorgte im bürgerlichen Lager für große Verärgerung. Auch nach dem zweiten Wahlgang wurde eine kurze Verhandlungspause organisiert. Die Sammlungspartei beschloss nun, sich geschlossen hinter Fagerholm zu stellen, obwohl drei Abgeordnete lieber für Kekkonen stimmen wollten. Ein ebensolcher Beschluss erging auch in der Wahlmännergruppe der Schwedischen Volkspartei. Deren Wahlmann Verner Korsbäck stellte sich allerdings offen gegen diesen Beschluss und kündigte an, für Kekkonen zu stimmen. Aus der Volkspartei Finnlands hatte der Landbund bereits nach dem ersten Wahlgang Signale erhalten, dass fünf der sieben Wahlmänner in einem entscheidenden Wahlgang Kekkonen stützen würden. Nach dieser Ausgangslage und unter der Annahme, dass die Wahlmänner des Landbundes und der Volksdemokraten geschlossen für Kekkonen stimmen würden, schien es mit 150 zu 150 Stimmen zu einem Patt zu kommen. In diesem Fall hätte das Los die Wahl entschieden. Nach Durchführung des dritten Wahlganges sortierten die Wahlleiter die Stimmzettel in Stapel für Kekkonen und Fagerholm. Sodann, gegen 20:45 Uhr, las der zum Wahlleitergremium gehörende Väinö Leskinen, einer der erbittertsten Gegner Kekkonens, jeden einzelnen Stimmzettel laut vor, beginnend mit den Stimmen Kekkonens. Der Name Kekkonen erklang 151-mal. Nach einer nochmaligen Nachzählung der Stimmen verkündete der Versammlungsvorsitzende Urho Kekkonen, dass er zum Präsidenten der Republik für die Amtszeit vom 1. März 1956 bis zum 1. März 1962 gewählt worden sei, und schloss die Versammlung. „Die entscheidende Stimme“ Verlauf und Ausgang der Wahlen riefen stürmische Reaktionen hervor. Der Ärger der Unterlegenen richtete sich einerseits gegen die Volksdemokraten, die durch ihre taktische Stimmaufteilung Fagerholm in den dritten Wahlgang verholfen hatten. Andererseits entlud sich der Groll gegen die „Verräter“ aus dem bürgerlichen Lager. Unmittelbar nach der Wahl wie auch über Jahrzehnte später wurde über die Frage gerätselt, wer die entscheidende 151. Stimme für Kekkonen abgegeben hatte. Als Kandidaten für den entscheidenden Überläufer wurden in hunderten Zeitungsartikeln Anna Flinck und Penna Tervo von den Sozialdemokraten, Ture Hollstén von der Schwedischen Volkspartei, Leo Mattila von der Volkspartei Finnlands sowie Helena Virkki und Aatto Koivisto von der Sammlungspartei gehandelt. Über die Jahre wurden zahlreiche sich widersprechende Enthüllungen gemacht. 1981 berichtete Kalle Kaihari in einem eigens veröffentlichten Buch, dass er die entscheidende Stimme von Penna Tervo organisiert habe. Im Jahr 2006 verkündeten die Nachkommen des verstorbenen Ture Hollstén, dass dieser der Überläufer gewesen sei. Kekkonen selbst meinte ebenfalls, den Überläufer zu kennen. 1974 erklärte er im Familienkreis, dass Niilo Kosola von der Sammlungspartei ihm seinen Stimmzettel gezeigt habe, unmittelbar bevor er ihn in die Urne warf, und dass auf diesem Kekkonens Name gestanden habe. Kekkonen-Biograf Juhani Suomi stellt fest, dass sich, nachdem die politische Position Kekkonens sich stabilisiert hatte, so viele Wahlmänner aus dem Fagerholm-Lager zu einer Stimmabgabe für Kekkonen bekannt hätten, dass das Ergebnis gänzlich anders hätte aussehen müssen. Da er auch tatsächlich mehrere Überläuferversionen für glaubwürdig hält, neigt er zu der Annahme, dass es die eine entscheidende Stimme in Wirklichkeit nicht gegeben habe. Stattdessen habe es möglicherweise auf beiden Seiten Überläufer gegeben, die Gruppen des Landbundes und der Volksdemokraten hätten in Wirklichkeit nicht geschlossen hinter Kekkonen gestanden. Allen Verhinderungsversuchen zum Trotz wurde Urho Kekkonen am 1. März 1956 der achte Präsident der Republik Finnland. Er sollte dieses Amt für fast 26 Jahre bis 1982 innehaben und damit zur dominierenden Figur der finnischen Nachkriegspolitik werden. Literatur Kalle Kaihari: Ratkaiseva ääni (149–151). Jännitysvaalit 1956. Weilin + Göös, Espoo 1981, ISBN 951-35-2470-1 (zitiert: Kaihari). Juhani Suomi: Kuningastie. Urho Kekkonen 1950–1956. Otava, Helsinki 1990, ISBN 951-1-10403-9 (zitiert: Suomi). Einzelnachweise 1956 Finnland Prasident Finnische Geschichte (20. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof%20G%C3%B6rlitz
Bahnhof Görlitz
Bahnhof Görlitz ist der zentrale Personenbahnhof der Stadt Görlitz in Sachsen. Er verknüpft im Eisenbahnknoten Görlitz die Strecken in Richtung Berlin, Dresden, Breslau und Zittau miteinander. Bis zum Zweiten Weltkrieg war der am 1.  September 1847 eröffnete Bahnhof Görlitz ein bedeutender Knotenpunkt im deutschen Fernverkehr. Das steigende Verkehrsaufkommen erforderte in den 1860er Jahren sowie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Erweiterung seiner Anlagen. Nach der Verschiebung der deutschen Ostgrenze an Oder und Neiße kam es zu einem enormen Bedeutungsverlust. Heute ist er nur noch ein Regionalknoten im Schienenpersonennahverkehr. Fernverkehr in der einst bedeutsamen Relation (Paris –) Dresden – Breslau (– Warschau) gibt es seit 2004 nicht mehr. Hier werden täglich 120 Züge sowie 3600 Reisende und Besucher gezählt. Er ist Deutschlands östlichster Bahnhof. Görlitz ist Grenzbahnhof zwischen Deutschland und Polen. Bis zum EU-Beitritt Polens bzw. dem Beitritt zum Schengen-Raum erfolgte dort in allen internationalen Zügen die Zoll- und Passkontrolle. Lage Der Görlitzer Bahnhof liegt an Deutschlands Ostgrenze und ist Grenzbahnhof zum Nachbarland Polen. Der Bahnhof Hagenwerder sowie die Haltepunkte in Rauschwalde und Weinhübel sind weitere Bahnstationen der Stadt Görlitz. Der Bahnhofskomplex befindet sich in der südlichen Innenstadt an der Stadtteilgrenze zur Südstadt. Das Empfangsgebäude steht in der verlängerten Nord-Süd-Achse der Berliner Straße, die den Bahnhof mit dem Stadtzentrum verbindet. Nördlich des Bahnhofs begrenzt die Bahnhofstraße und südlich die Sattigstraße das Bahnhofsareal. Im Osten führt das Neißeviadukt über die Lausitzer Neiße, die hier die deutsch-polnische Grenze nach Zgorzelec markiert. Das Bahnhofsgelände gehörte einst zum Jannakschen Vorwerk und befand sich zum Zeitpunkt der Errichtung des Bahnhofs weit vor den damaligen Toren der Stadt. Dort richtete im Jahr 1641 der sächsische Kurfürst Johann Georg I. bei der Belagerung von Görlitz sein Hauptquartier ein. Auch Friedrich der Große schlug hier während eines Durchmarsches in der Zeit des Siebenjährigen Krieges sein Hauptquartier auf. Zuletzt gehörte das Grundstück dem Bauunternehmer Gustav Kießler, der an der Ausführung des Neißeviadukts beteiligt war. Straßenverkehr und Straßenbahn unterqueren im Jakobstunnel östlich des Bahnhofsgebäudes die Bahngleise. Westlich unterführt der Brautwiesentunnel die Bundesstraße 99 unter der Westausfahrt des Bahnhofs. Die Görlitzer Straßenbahn sowie die Busse des Regionalverkehrs besitzen vor dem Empfangsgebäude an der Bahnhofstraße Haltestellen. Am Südausgang, dem südlichen Aufgang aus der Bahnsteigunterführung, befindet sich die gleichnamige Straßenbahn- und Bushaltestelle als Umsteigehaltestelle im städtischen Nahverkehr. Geschichte Der Weg zum Eisenbahnanschluss Mit dem Einsatz von Dampfmaschinen und dem beginnenden industriellen Aufschwung Mitte des 19. Jahrhunderts in der Region wurde ein effizienteres Transportsystem notwendig, um die Waren auf weitere Absatzmärkte zu verteilen. Pferdefuhrwerke kamen auf den unzureichend ausgebauten Straßen schnell an ihre Leistungsgrenze. Die neue Dampfeisenbahntechnologie aus England versprach hierfür eine Lösung. Noch vor der ersten Eisenbahnstrecke in Deutschland schlug der Liegnitzer Regierungsbaurat Krause eine Eisenbahnstrecke von der schlesischen Hauptstadt Breslau nach Berlin und Dresden vor. Doch weil das Projekt nicht rentabel erschien, wurde es nicht realisiert. Der preußische Staat, zu dem Görlitz seit dem Wiener Kongress 1815 gehörte, setzte anfangs noch auf den Ausbau von Chausseen und Wasserstraßen. Wie in anderen Regionen in Deutschland konstituierte sich 1841 ein Eisenbahnverein, der Verein zur Wahrnehmung der Interessen der Stadt Görlitz bei Anlegung einer Eisenbahn zwischen Breslau und der Elbe. Bereits am 7. Januar 1842 erteilte der preußische König der Berlin-Frankfurter-Eisenbahngesellschaft die Konzession für den Bau einer Strecke von Breslau über Liegnitz und Bunzlau nach Görlitz und weiter bis an die sächsisch-preußische Landesgrenze. Die Beschaffung des benötigten Aktienkapitals misslang jedoch und somit erlosch die Konzession am 8. Januar des Folgejahres. Ende des Jahres 1843 erhielt die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn-Gesellschaft (NME) die Konzession für eine Eisenbahn von Frankfurt (Oder) nach Breslau und für eine Zweigbahn von Kohlfurt nach Görlitz. Im gleichen Jahr schlossen Preußen und Sachsen einen Staatsvertrag zum Bau der Eisenbahnstrecke von Dresden nach Görlitz. Der alte Bahnhof Im sächsisch-preußischen Staatsvertrag war Görlitz als Verknüpfungspunkt zwischen der Sächsisch-Schlesischen Eisenbahn (SSE) und der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn (NME) festgelegt. Die anfänglichen Pläne beider Gesellschaften sahen außer separaten Güter- und Lokschuppen auch getrennte Empfangsgebäude vor. Dies wurde jedoch aus Kostengründen verworfen. Man einigte sich auf ein gemeinsames Empfangsgebäude. Der Auftraggeber und Bauausführende war die NME. Dies dürfte auch ein Grund dafür gewesen sein, warum der Haupteingang mit den beiden Türmen in Richtung der Bahnstrecke nach Kohlfurt bzw. damals auch noch in Richtung der preußischen Hauptstadt Berlin zeigte. Die Grundsteinlegung für den kastellartigen Bahnhof erfolgte im Jahr 1845. Bereits am 1. September 1847 wurde er zeitgleich mit beiden Eisenbahnstrecken feierlich eröffnet. Der Neorenaissancebau stand auf einer Grundfläche von ca. 41,8 × 16,3 Metern und besaß drei Stockwerke. Markant waren seine beiden oktogonalen Türme an der Ostseite des Empfangsgebäudes, die den Haupteingang flankierten. Der heute polnische Bahnhof in Węgliniec (Kohlfurt) ähnelt dieser Bauform. Der ostseitige Hauptausgang führte über den Vorplatz auf die Jacobsstraße. Der Jakobstunnel existierte damals noch nicht und die Bahntrasse nach Kohlfurt überquerte die Jacobsstraße niveaugleich. Der Bahnhof wurde in Insellage errichtet. Südlich des Gebäudes verliefen die Gleise der Sächsisch-Schlesischen Eisenbahn und nördlich die der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn. Jede Bahngesellschaft verfügte auf ihrer Bahnhofsseite über einen eigenen Lokomotiv-, Wagen- sowie Güterschuppen. Auch die Drehscheiben und Kohleschuppen waren getrennt. Die sächsische Strecke endete im Osten des Empfangsgebäudes an der Drehscheibe noch vor der Jacobsstraße. Westlich des Empfangsgebäudes verband ein Übergabegleis die beiden Eisenbahnstrecken und ermöglichte den durchgehenden Transport von Gütern zwischen Leipzig und Breslau. Reisende mussten umsteigen. Die Fahrgäste gelangten durch eine gusseiserne Vorhalle am Haupteingang in die eigentliche Eingangshalle. In ihr befanden sich der Portier, die Polizei, der Fahrkartenschalter und die Gepäckannahme. Von der Eingangshalle führten Durchgänge zum nördlichen und südlichen Bahnsteig und zu den hinteren Wartesälen. Im ersten Stock befanden sich die Büros und die Dienstwohnung des Bahnhofsvorstehers. Im zweiten Stock wohnten weitere hohe Bahnhofsangestellte. Niedrigen Beamten und Tagelöhnern wiederum gehörten die Häuser an der Packhofstraße (heute: Berliner Straße). Der Bahnhof wurde von beiden Bahnbetreibern NME und SSE (ab 1852 Übergang in die preußische bzw. sächsische Staatsbahn) gleichberechtigt verwaltet und genutzt, obwohl die NME weiterhin alleiniger Eigentümer blieb. Im Adressbuch erschienen deshalb auch zwei unterschiedliche Anschriften: Eisenbahnhof der NME, An der Jacobsstraße 844 und Eisenbahnhof der SSE, Salomonstraße 13. Die gemeinsame Bahnhofsverwaltung endete mit dem Friedensschluss nach dem Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich und dessen Verbündeten. Zu den Verbündeten zählte auch das Königreich Sachsen, das sich nun von Preußen nach der Niederlage die Friedensbedingungen diktieren lassen musste. Dazu zählte, dass die Bahnhofsverwaltung nur noch der Preußischen Staatseisenbahn oblag. Da die technischen Einrichtungen der sächsischen Staatsbahn auf dem Bahnhofsgelände, wie z. B. Lokomotiv-, Güterwagen- und Wagenschuppen, trotzdem unter sächsischer Verwaltung blieben, behielten die sächsischen Beamten im Bahnhof weiterhin ein kleines Dienstzimmer. Aufgrund der nahen sächsischen Grenze bei Reichenbach war der Görlitzer Bahnhof schon damals eine Grenzstation, an der bis zur Reichsgründung im Jahr 1871 Passkontrollen durchgeführt wurden. Die Bahnhofserweiterung 1867 bis 1869 Durch den rasch zunehmenden Verkehr und die beiden neu im Bahnhof einmündenden Eisenbahnstrecken, der Schlesischen Gebirgsbahn (Breslau–Waldenburg–Görlitz) und der Berlin-Görlitzer Eisenbahn, war eine Bahnhofserweiterung notwendig. Die niveaugleichen Bahnübergänge am Blockhaus, an der Jakob-, der Salomonstraße und der Rauschwalder Straße stellten ein Hindernis für den innerstädtischen Verkehr dar. Auf der finalen Konferenz mit Angehörigen des städtischen Magistrats und der Eisenbahnen am 8.  Dezember 1866 einigte man sich auf die Einzelheiten des Umbaus. Ein für den städtischen Verkehr wichtiger Beschluss war die Unterführung der Jakobsstraße unter den Bahngleisen östlich des Bahnhofs, da der Bahnübergang wegen häufiger Rangier- und Zugfahrten oft geschlossen war. Die ausgehobenen Erdmassen für die 36 Fuß breite Unterführung wurden zur Aufschüttung des Bahnhofsareals und des Brautwiesendammes benutzt. Die im Volksmund als Jakobstunnel bezeichnete Unterführung wurde am 19. November 1868 eingeweiht. Etwa zur gleichen Zeit entstand am Blockhaus eine Straßenbrücke über die Gleise in Richtung des Neißeviadukts. Auch eine schmale Unterführung zwischen innerer (heute Bahnhofstraße) und äußerer Bahnhofstraße (heute Verlängerung der Sattigstraße) wurde angelegt. Sie war die Vorläuferin des Brautwiesentunnels. Andere schienengleiche Überführungen, wie z. B. zwischen Biesnitzer Kommunikationsweg (heute Melanchthonstraße) und Salomonstraße wurden geschlossen. Der Bau eines zusätzlichen Tunnels scheiterte, weil man sich über die Linienführung ab Salomon- oder Krölstraße nicht einig war. Auch die Einbindung der Berlin-Görlitzer Eisenbahn (BGE) bereitete Schwierigkeiten, da es sich um eine private Gesellschaft handelte. Diese plante anfangs ein separates Empfangsgebäude, einigte sich jedoch später mit der preußischen und der sächsischen Staatsbahn auf einen Anbau an das bestehende Bahnhofsgebäude. Da die Gleisbereiche getrennt bleiben sollten, mussten die Gleisanlagen am Bahnhof umgestaltet werden. Die ehemals sächsische Bahnhofsseite im Norden mit ihrem Bahnsteig wurde von da an von der BGE genutzt. Die sächsische und die preußische Staatsbahn teilten sich den Südperron. Um dem erhöhten Fahrgastaufkommen gerecht zu werden, wurde das Empfangsgebäude durch einen Anbau im Grundriss um das Doppelte auf 1700 m² vergrößert. Der neue Mitteltrakt, auch Vestibül genannt, erhielt einen Personentunnel, der die Unterquerung der Gleise bis zur Bahnhofsstraße in einer Achse mit der Packhofstraße (heute Berliner Straße) ermöglichte. Der umgebaute Bahnhofskomplex wurde am 31.  Juli 1869 eröffnet. Der Zugang zum Personentunnel an der Bahnhofstraße erhielt ein repräsentatives Vorempfangsgebäude. Eine breite Treppe führte in die Empfangshalle, deren Wände mit den Wappen von Berlin, Breslau, Cottbus, Dresden, Görlitz und Hirschberg geschmückt waren. Nachts wurden das Gebäude und der Fußgängertunnel durch mehr als hundert kugelförmige Gaslaternen erleuchtet. In der Halle sorgte ein fünfarmiger Leuchter für Licht. Der frühere Haupteingang an der Ostseite wurde verschlossen. Dort befand sich nun das Wachzimmer der Post, die mittlerweile den ganzen östlichen Trakt gepachtet hatte. Westlich folgten die BGE-Büros auf der Nordseite und die Büros der preußischen Staatsbahn auf der Südseite. An der Ostseite des neuen Vestibüls befand sich die Gepäckabfertigung, gegenüber dem Treppenaufgang die Fahrkartenschalter und auf der Westseite des Vestibüls schlossen sich die Wartesäle und ein Bahnhofsrestaurant an. Im Keller befanden sich Vorrats- und Wirtschaftsräume sowie die Restaurantküche. Im Obergeschoss wohnten der Bahnhofsvorsteher, hohe Beamte und der Bahnhofswirt. Die Bahnsteige erhielten Wellblechdächer. Im Jahr 1899 erhielt auch der Zittauer Bahnsteig eine Überdachung. Die Bahnstrecke aus Seidenberg wurde am 1.  Juli 1875 eröffnet. Die in Hagenwerder abzweigende Strecke durch das Neißetal nach Zittau folgte am 15. Oktober des gleichen Jahres. Mit der Bahnhofsumgestaltung entstanden auch neue Güterschuppen als Typenbauten, an der äußeren Bahnhofstraße (heute Sattigstraße) für die sächsische und preußische Staatsbahn und an der inneren Bahnhofstraße (heute Bahnhofstraße) für die BGE. Nach dem Umbau waren keine Wagenschuppen mehr vorgesehen. Nur die Lokomotiven wurden in Schuppen untergebracht, die für jede Eisenbahngesellschaft neu errichtet wurden. Es wurden drei Ringlokschuppen und jeweils eine Drehscheibe gebaut. Die NME errichtete ihr Lokdepot an der Bahnhofstraße in Höhe der Einmündung der Konsul- und Schillerstraße östlich des Bahnhofs. Die sächsische Staatsbahn baute ihr Depot an der Strecke nach Dresden im östlichen Bahnhofsvorfeld an der Rauschwalder Straße. Auf diesem Areal befindet sich noch das Bahnbetriebswerk Görlitz. Die BGE baute ihren Lokomotivschuppen an der Bahnhofstraße Ecke Jakobsstraße ungefähr dort, wo heute das Postamt steht. Die Stadtverwaltung und die Anwohner kritisierten den Bau wegen der befürchteten Lärm- und Schmutzbelästigung in der Nähe der Wohnhäuser. Die BGE führte als Kompromiss die Rauchabzugskamine überlang aus. Das Bahnpostamt im Empfangsgebäude erreichte bald seine Kapazitätsgrenzen. Im Jahr 1886 entstand an der Bahnhofstraße zwischen Bahnhofsvorhalle und dem BGE-Lokschuppen für 29. 000 Mark ein neues einstöckiges Bahnpostamt. 1877 wurde an der heutigen Sattigstraße zwischen Jauernicker Straße und Melanchthonstraße eine bahneigene Gasanstalt zur Leuchtgasversorgung des Bahnhofs und der Personenwagen errichtet. Sie verfügte über einen eigenen Gleisanschluss zum Transport von Kohle und Abtransport von Teer über eine Wagendrehscheibe. Bis Juni 1913 blieb das Werk in Betrieb. Neben diesen bahntechnischen Einrichtungen entstanden auch kommunale Einrichtungen in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes, z. B. der städtische Packhof an der Bahnhofstraße Ecke Salomonstraße, der am 1.  Oktober 1850 mit einer Lagerfläche von 2892 Quadratmetern eröffnet wurde. Die Stadt besaß seit 1834 das Packhofrecht, also das Recht, ein von der Zollverwaltung kontrolliertes und zur Niederlage von unverzollten Waren der Kaufleute bestimmtes Lager einzurichten. Einige Kaufleute wünschten sich schon bald einen neuen Packhof näher an den Gleisen, der im Jahr 1873 als Anbau an den preußischen und österreichischen Zollschuppen den Betrieb aufnahm. Er war mit 2379 m² kleiner als der alte Packhof. Die Lagerflächen wurden mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist vermietet. Während des Bahnhofsumbaus zwischen 1906 und 1917 musste der Packhof im Jahr 1913 wieder an seinen Ursprungsort zurückkehren. Zweiter Umbau 1906 bis 1917 Bereits zur Jahrhundertwende reichten die Kapazitäten des Bahnhofs nicht mehr aus, um täglich 112 Reisezüge und 72 planmäßige Güterzüge abzufertigen. Hinzu kamen noch bis zu 26 Sonderzüge an Festtagen und in der Urlaubszeit sowie 24 Bedarfsgüterzüge. Den größten Engpass stellte der zunehmende Güterverkehr dar, weil einzelne Güterabfertigungsbereiche nicht mehr genutzt werden durften, so die Freiladegleise an der Äußeren Bahnhofstraße, da die Rangierabteilungen die Hauptstrecke hätten kreuzen müssen. Vor der Bahnhofserweiterung sollte der Güterverkehr eingestellt werden. Es gab Erwägungen, den Vorortbahnhof Posottendorf-Leschwitz (heute Görlitz-Weinhübel) im Süden als Güterbahnhof auszubauen. Wegen der schwierigen Geländeverhältnisse erhielt ein Standort bei Schlauroth und Rauschwalde den Vorzug. Die Bauarbeiten am Verschiebebahnhof Schlauroth im Westen der Stadt wurden 1906 aufgenommen. 1909 wurde er dem Verkehr übergeben. Auch bei diesem Umbauprojekt gab es in der Planungsphase Schwierigkeiten, die Wünsche von Eisenbahn und städtischem Magistrat unter einen Hut zu bringen. So sollte z. B. der Gepäcktunnel nach dem Umbau als Personentunnel dienen, da laut Vorschrift der Treppenaufgang in der Mitte des Bahnsteigs enden musste. Das Empfangsgebäude hätte sich dann 16 Meter weiter westlich befunden. Dagegen erhob vor allem der damalige Stadtarchitekt Bedenken, denn der Haupteingang sollte sich in der Flucht der Berliner Straße befinden. Im Jahr 1907 einigte man sich auf einen östlichen Personentunnel und einen westlichen Gepäcktunnel. Weitere Kritikpunkte der Stadt waren der fehlende Zugang zur Südstadt in der Salomonstraße, ein fehlender Durchgang für Reisende zur Südstadt und die nur noch auf der Nordseite befindliche Güterabfertigung. Der Personendurchgang zur Südstadt in der Verlängerung des Personentunnels wurde mit dem letzten Plan vom März 1908 verwirklicht. Die anderen von der Stadt geforderten Änderungen wurden wegen des Betriebsablaufs im Bahnhof oder aus finanziellen Gründen nicht umgesetzt. Der Umbau begann mit den Gleisanlagen vor allem auf der Westseite. Am beschrankten Bahnübergang an der Rauschwalder Straße wurde das Gleisniveau durch Aufschüttungen so weit gehoben, dass die Gleise über die Straße geführt werden konnten. Die Dresdner Strecke wurde auf den neuen südlichen Brückenträger verlegt. Der Zugverkehr konnte während der Bauarbeiten auf der heutigen Güterzugstrecke nach Schlauroth aufrechterhalten werden. Der südliche Brückenteil für die Dresdner Strecke konnte am 1. Juli 1907 und der nördliche Brückenteil für die Güterzugstrecke zum Schlaurother Güterbahnhof 1909 eröffnet werden. Auch die Berliner Strecke musste 1911 trotz Protesten auf die neue Brücke verlegt werden, die bis 1913 zweigleisig ausgebaut wurde. Die Bahningenieure entwarfen das Bahnhofsvorfeld nach damals neuesten Gesichtspunkten. Von allen Bahnsteigen sollten Ein- und Ausfahrten zu allen Strecken möglich sein. An Stelle der Ladestraße an der Sattigstraße entstand ein Abstellbereich für Reisezüge. Die neue Ladestraße und die Rampen wurden auf dem ehemaligen Gelände der BGE parallel zur Bahnhofstraße bis zum Brautwiesentunnel angelegt. Weitere Entladeplätze entstanden an der Rauschwalder Straße über der Eisenbahnbrücke. Auch die drei Lokschuppen wurden zum Großteil abgebrochen, dafür wurde auf dem Areal des ehemaligen sächsischen Lokschuppens ein modernes Bahnbetriebswerk (Bw) eröffnet. Es verfügte über eine Drehscheibe und eine Schiebebühne. Ab 1912 begannen die Bauarbeiten an den neuen Bahnsteigen südlich des Empfangsgebäudes. Das Gleis 14 erhielt einen Behelfsbahnsteig mit einer Unterführung zum Bahnsteig 12. Dieser trug bis 1945 den Namen Militärbahnsteig, da dort die Militärtransporte abgewickelt wurden und sich die Militärküche befand. Das Gleis 13 diente als Güterzugdurchfahr- und Loklaufgleis. Der vierte neue Bahnsteig konnte erst 1917 nach dem Abriss des alten Bahnhofsgebäudes realisiert werden. Auf dem nördlichen Bahnhofsvorplatz entstanden 1917 zwei Verkehrshäuschen. In den westlichen mietete sich anfangs der Verkehrsverein Görlitz ein, der hier Blumen und Ansichtskarten verkaufte. Seit 1922 war hier eine Wechselstube untergebracht. Das östliche Häuschen diente der Straßenbahngesellschaft als Wartehalle für die Straßenbahnhaltestelle. Die Häuschen fielen der Umgestaltung des Bahnhofsvorplatzes 1937 zum Opfer. Elektrifizierung Mit der Wende zum 20. Jahrhundert wurde die elektrische Traktion eingeführt. Bei der Preußisch-Hessischen Staatsbahn entschloss man sich, sie auf einer Flachlandstrecke und einer Gebirgsstrecke zu erproben. Die Wahl fiel auf die Strecke Dessau – Bitterfeld in Mitteldeutschland und die Bahnstrecke Nieder Salzbrunn – Halbstadt in Schlesien. Ein Argument für die schlesische Strecke war die billige Steinkohle aus dem Waldenburger Revier, die sich gut zur Stromerzeugung eignete. Auch das preußische Kriegsministerium stimmte zu unter der Bedingung, dass genügend einsatzfähige Dampflokomotiven auf der Strecke vorzuhalten waren. Mit dem Kreditbewilligungsgesetz zur Elektrifizierung der Schlesischen Gebirgsbahn legte der preußische Landtag am 30.  Juni 1911 die finanzielle Grundlage zur Elektrifizierung. Die Bauarbeiten begannen 1912. Schon am 2.  April 1914 lieferte das Bahnkraftwerk Mittelsteine den ersten Bahnstrom und der elektrische Probebetrieb zwischen Niedersalzbrunn und Halbstadt konnte aufgenommen werden. Der Erste Weltkrieg verzögerte die Elektrifizierung, da das Kupfer für kriegswichtige Zwecke benötigt wurde. Nach dem Krieg wuchs das elektrifizierte Netz in Schlesien weiter an und Görlitz wurde über die Strecke Königszelt – Lauban angeschlossen. Am 1 . September 1923 traf der erste von einer Elektrolokomotive gezogene Zug in Görlitz ein, der Schnellzug 192 von Breslau über Hirschberg nach Berlin. In Görlitz mussten weiterfahrende Züge nach Norden, Süden oder Westen umgespannt werden, da Görlitz bzw. später der Verschiebebahnhof der westliche Endpunkt des elektrifizierten schlesischen Netzes war. Güterzüge aus Richtung Lauban konnten ab März 1924 bis zum Verschiebebahnhof Schlauroth elektrisch fahren. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit Da die Stadt an einer wichtigen Ost-West-Verbindung lag, rollten seit Kriegsbeginn verstärkt Militärtransporte durch den Bahnhof gen Osten. Von direkten Kriegseinwirkungen blieb der Bahnhof jedoch weitgehend verschont. Zwar überflogen bereits im August 1940 britische Flieger die Stadt und bombardierten verschiedene Ziele, der Bahnhof gehörte jedoch nicht dazu. Erst am 20.  Februar 1945 gegen 11.47 Uhr griffen sowjetische Frontflieger den Bahnhof an, hinterließen dabei aber nur geringe Schäden: Eine Bombe riss ein Loch in Dach und Wand des Lokschuppens des benachbarten Bahnbetriebswerks Görlitz. Das Werk besaß einen eigenen Luftschutzkeller. Andere Bahnhofsangestellte suchten bei Fliegeralarm den öffentlichen Luftschutzbunker am Südausgang unterhalb der Jakobuskathedrale auf. Die näher rückende Front zwang die Verwaltung der Reichsbahndirektion Breslau zur Evakuierung der Dienststellen. Am frühen Morgen des 27.  Januar 1945 trafen der Präsident der Reichsbahndirektion und sein Sonderstab mit einem Befehlszug in Görlitz ein. Bis die Sowjetarmee den Ring um die Festung Breslau schloss, verkehrte zwischen beiden Städten täglich ein Triebwagenzug im Kurierverkehr. Der Zug war lediglich Personen mit einem Kurierausweis vorbehalten. Mitte Februar 1945 begann die Verlegung der Direktionsbediensteten in Richtung Erfurt. Einschnitte im Betriebsablauf gab es vor allem beim elektrischen Betrieb auf der Schlesischen Gebirgsbahn gegen Ende des Krieges, wo wieder ein Mischbetrieb mit Dampf- und Elektrolokomotiven durchgeführt wurde. Im Februar 1945 wurde beim sowjetischen Vorstoß auf die Stadt das Unterwerk Lauban schwer beschädigt. Auch die Fahrleitungsanlagen wurden in Mitleidenschaft gezogen. Mit der Rückeroberung Laubans durch Wehrmachtseinheiten am 9.  März 1945 konnte kurzzeitig auf der Strecke Görlitz–Lauban noch einmal der Betrieb aufgenommen werden. Der elektrische Betrieb war jedoch aufgrund der zerstörten Stromversorgung nicht mehr möglich. Auch die verbliebenen fahrbereiten elektrischen Lokomotiven wurden nach Westen abgefahren, um sie vor der vorrückenden Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Die Sprengung des Neißeviadukts am 7.  Mai 1945 bedeutete das Ende des elektrischen Betriebs auf der Strecke in Richtung Hirschberg. Dabei stürzten drei Bögen des Viadukts ein. Auch die Fahrleitung wurde unterbrochen. Noch bis Ende 1945 hingen die Gleise zwischen den beiden Brückenfragmenten und dienten Flüchtlingen aus dem Osten zur Flucht auf die Westseite der Neiße. Die stromlose Fahrleitung zwischen Viadukt und Rangierbahnhof Schlauroth wurde bereits im Herbst 1945 abgebaut. Die Fahrleitungsmasten hingegen wurden entweder einer neuen Funktion zugeführt oder fielen Verschrottungsaktionen zwischen 1968 und 1970 zum Opfer. Einige Masten wurden als Lademaß genutzt oder dienten noch bis 2011 als Beleuchtungsmasten an der Westausfahrt. Am 8.  Mai 1945 besetzte die Rote Armee die Stadt und brachte auch den Bahnhof unter ihre Kontrolle. Unter dem Stadtkommandanten Gardeoberst Iljitsch Nesterow wurde eine sowjetische Bahnhofskommandantur eingerichtet, die bis Mitte August 1945 den Verkehr um den Bahnhof kontrollierte und steuerte. Der Bahnhof lag nach der Sprengung des Neißeviadukts und aller anderen Neißebrücken der Strecken nach Seidenberg und Zittau im Süden, dem gesprengten Löbauer Viadukt im Westen und der durch die Neißeoffensive der Roten Armee im Norden bei Kodersdorf zerstörten Strecke nach Cottbus vollkommen isoliert. Am 23.  Juli 1945 verkehrten wieder zwei Zugpaare bis ins nördlich von Görlitz gelegene Horka. Zwei Tage später konnte wieder bis Weißwasser gefahren werden. Am 6.  August 1945 wurde der Pendelverkehr zwischen Löbau Ost, einem provisorischen Haltepunkt am östlichen Brückenkopf des Löbauer Viadukts, und Görlitz wieder aufgenommen. Nachdem das Löbauer und das Bautzner Viadukt wieder provisorisch befahrbar waren, verkehrte am 10.  November 1945 der erste Personenzug von Görlitz bis Dresden-Neustadt. Die erste Zugverbindung von und nach Zittau bestand ab dem 9.  September 1945. Die Neißetalbahn war damit die erste wieder durchgängig befahrbare Eisenbahnstrecke von Görlitz aus. Im Folgejahr sperrte die polnische Verwaltung die Streckenteile auf ihrem Territorium für den Durchgangsverkehr. Zwischen Görlitz und Hagenwerder wurde nun der Pendelverkehr aufgenommen. Während des Wiederaufbaus bis einschließlich 1946 ließ die Sowjetunion das zweite Streckengleis auf allen in den Bahnhof einmündenden Strecken und auch Bahnhofsgleise abbauen und das gewonnene Material als Reparationsleistung abtransportieren. Mit einem Befehl der Sowjetischen Militäradministration vom 11.  August 1945 wurde der Eisenbahnbetrieb wieder den deutschen Behörden übergeben. Der Bahnhof gehörte nun nicht mehr zur Reichsbahndirektion Breslau, sondern unterstand seitdem der Reichsbahndirektion Dresden. Auch bei der Gründung der Reichsbahndirektion Cottbus im Jahr 1946 blieb der Bahnhof zunächst unter Dresdner Verwaltung. DDR-Zeit und politische Wende Mit einer Umstrukturierung am 1.  Januar 1955 gelangte der Bahnhof zum Direktionsbezirk Cottbus; dort blieb er bis zur Auflösung der Direktion im Oktober 1990. In den 1950er Jahren fand wieder Eisenbahnverkehr in alle Richtungen statt. Seit dem 1.  Juli 1948 endeten auch die Züge der Görlitzer Kreisbahn im Görlitzer Bahnhof. Zuvor fuhren die Züge nur bis zum Kreisbahnhof Görlitz  West an der Rauschwalder Straße. Der Bahnhof hatte auch zu DDR-Zeiten große Bedeutung im Fern- und Nahverkehr. Im Jahr 1952 begannen polnische Arbeiter mit dem Wiederaufbau des Neißeviaduktes. Grundlage hierfür war das 1950 geschlossene Görlitzer Abkommen, in dem die DDR und die Volksrepublik Polen die Oder-Neiße-Grenze als Staatsgrenze zwischen beiden Staaten anerkannten. Der grenzüberschreitende Reiseverkehr in das „sozialistische Bruderland“ – die Volksrepublik Polen – über das wiedererrichtete Neißeviadukt wurde am 22.  Mai 1957 feierlich aufgenommen. Hierzu wurde der Bahnsteig IV mit den Gleisen 11 und 12 verlängert und 1957/1958 durch die Hochbaumeisterei (Hbm) Görlitz ein Grenzzollgebäude auf der Westseite des Bahnsteigs errichtet. In der Mitte des Bahnsteigs sollte ein Metallzaun den Grenzübertritt ohne Kontrollen unmöglich machen. Deutsche Grenzbeamte und Zöllner kontrollierten die Züge direkt am Bahnsteig. In den 1960er Jahren hielten täglich bis zu sechs internationale Reisezugpaare in Görlitz. Der Lokomotiv- und Personalwechsel fand bis zur Einstellung der letzten lokomotivbespannten grenzüberschreitenden Interregio-Zugpaare am 11.  Dezember 2004 in Görlitz statt. Im Jahr 1956 konnten mit der Zuteilung von Drahtglas die durch den Krieg entstandenen Schäden an der Bahnsteighalle behoben werden. Ab 1985 hielt die Mikroelektronik Einzug. Sämtliche Stellwerke, Rangierlokomotiven und das komplette Rangierpersonal wurden mit Funktechnik ausgerüstet. Die Fahrkartenausgabe erhielt einen rechnergestützten Fahrkartendrucker und Zugang zum elektronischen Platzkartenreservierungssystem. Auch die ersten Fahrkartenautomaten mit Dialogbetrieb wurden im Bahnhof aufgestellt. Mit der politischen Wende im Osten Deutschlands 1989 begann ein starker Ansturm auf die Züge nach Berlin und in die Bundesrepublik. Ab 1991 sank die Zahl der Reisenden stark, da immer mehr Bürger den Individualverkehr bevorzugten. Die Mitarbeiter des Bereiches Technische Anlagen des Bahnwagenbetriebswerkes Löbau (Bww) bauten in den Jahren 1963/1964 die Großwaschanlage GWA-4 im östlichen Abstellbereich des Bahnhofes. Es war die einzige stationäre Außenreinigungsanlage in der gesamten Reichsbahndirektion Cottbus. Die Mitarbeiter der Wagenreinigung waren seit 1945 im Sozialgebäude an der Ostseite des Bahnhofes untergebracht. In den folgenden Jahren entstanden durch die Mitarbeiter des Bereiches Technische Anlagen auch die Druckluftversorgung (1968) und der Schornstein für die Vorheizanlage (1981) des Bahnhofes. Seit 1953 gehörten auch die Wagenmeister nicht mehr zum örtlichen Bahnbetriebswerk. Sie bildeten von nun an den eigenständigen Wagenmeistereiposten Görlitz im Bereich Technischer Wagendienst des Bww Löbau. Die Diensträume waren anfangs in dem Gebäude neben dem Bahnhofswasserturm untergebracht. Später zogen die Mitarbeiter in ein ausgebautes Gebäude am Westende des Bahnsteigs III zwischen den Gleisen 9 und 10. Reichte in der Anfangszeit noch ein Wagenmeister je Schicht aus, so wurde infolge des erhöhten Reise- und Güterzugaufkommens die Besetzung ab 1966 auf drei Wagenmeister pro Schicht erhöht. Der Aufgabenbereich der Wagenmeister umfasste die Prüfung der Reisezug- und Güterwagen auf ihren technischen Zustand, die Bremsprüfung und die Bremsproben. Auch die Überprüfung von Lademaßüberschreitungen und Unfalluntersuchungen gehörten zum Aufgabenspektrum des Wagenmeistereipostens. Fünf Jahre nach der Aufnahme des grenzüberschreitenden Verkehrs nach Polen wurde 1962 in Görlitz auch eine Wagengrenzstelle eingerichtet, die dafür zuständig war, die ein- und ausgehenden Güterwagen zu registrieren sowie die Wagenmieten abzurechnen. Anfang der 1970er Jahre wurden in Görlitz drei Zuggarnituren für den grenzüberschreitenden Verkehr beheimatet. Anfangs wurden dafür Neubauwagen aus dem VEB Waggonbau Bautzen eingesetzt, die Ende der 1970er Jahre durch Wagen aus dem Neubauprogramm des Reichsbahnausbesserungswerks Halberstadt abgelöst wurden. Sie verkehrten von Görlitz zu den westdeutschen Endbahnhöfen in Frankfurt am Main, Köln, München und Stuttgart. Weiterhin war die Abfertigung von sechs grenzüberschreitenden Reisezügen sowie vier Güterzügen von und nach Polen und 66 Reisezügen im Binnenverkehr vorgesehen. Obwohl 1988 der Damplokomotivbetrieb bei der Deutschen Reichsbahn auf Regelspur offiziell aufgegeben wurde, konnten noch bis Anfang 1990 Dampflokomotiven der Baureihen 52.80 und 50 am Bahnhof beobachtet werden. Sie wurden bis zur Einführung einer elektrischen Zugvorheizanlage zum Vorheizen von Reisezügen verwendet. Entwicklung ab 1990 Am 22. November 1991 wurde am Bahnhof Görlitz die erste Bahnhofsmission der neuen Bundesländer eröffnet, nachdem sie in den 1950er Jahren in der DDR geschlossen worden waren. Bis 1995 war sie in einem Bauwagen untergebracht und bezog dann Räumlichkeiten am Südausgang. Erstmals bot eine Vorgängerorganisation der heutigen Bahnhofsmission um die Jahrhundertwende in Görlitz ihre Hilfsdienste an. Damit zählte die Stadt zu den ersten in Deutschland mit einer solchen Einrichtung. Nach der Wende verlor der Bahnhof an Bedeutung. Im Jahr 1993 wurde die Güterabfertigung geschlossen, zwei Jahre später das Bahnpostamt. Mitte der 1990er Jahre begann der umfassende Umbau der Gleisanlagen. Der Außenbahnsteig mit den Gleisen 3 und 4, zuletzt vor allem von den Zügen in Richtung Zittau genutzt, wurde im Jahr 2000 aufgegeben. Für die Zittauer Bahnlinie wurden die Gleise 7 und 8 benutzt. Die Umgestaltung des Ostkopfes ermöglichte es, den nördlichen Teil des Jakobstunnels abzureißen und den südlichen Teil, über den nun alle nach Osten auslaufenden Gleise führen, durch einen Neubau zu ersetzen. Seit der Inbetriebnahme des elektronischen Stellwerkes (ESTW) Görlitz am 25.  Juni 2000 werden die Weichen und Signale von der Betriebszentrale in Leipzig aus gesteuert. Die örtlichen Stellwerke verloren damit ihre Funktion und wurden bis auf das Reiterstellwerk B5 auf dem Westkopf im ersten Halbjahr 2004 abgebrochen. Im Oktober 2009 begannen die Bauarbeiten für den Einbau der Personenaufzüge vom Personentunnel hinauf zu den Bahnsteigen II (Gleise 7 und 8) und IV (Gleise 11 und 12). Der Einbau kostete 1,3 Millionen Euro und war im September 2010 beendet. Zur gleichen Zeit wurden die Türen der Empfangshalle zum Personentunnel und zum Bahnhofsvorplatz mit automatischen Türöffnern ausgestattet. Im Jahr 2012 wurde die Bahnsteigüberdachung des Bahnsteigs II am östlichen Ende hinter dem Aufzug zum Posttunnel abgebaut. Der Bahnsteig am Gleis 8 und am Stumpfgleis 31 diente einst der Postverladung. Auch der Aufgang vom Personentunnel zum Freibahnsteig wurde verschlossen. Ein Tor verhinderte bereits die Jahre davor den Zutritt von der Treppe auf den Bahnsteig. Am 25.  März 2013 fanden Dreharbeiten für den Film zum Buch „Die Bücherdiebin“ in der Bahnhofshalle statt. Hierzu wurde der Bahnsteig II mit den Gleisen 7 und 8 für den Verkehr gesperrt. Der Bahnsteig wurde hierzu mit historischen Requisiten wie Holzbänken und Hakenkreuzfahnen ausgestattet und in den Bahnhof der fiktiven Romanstadt Molching in den 1930er Jahren verwandelt. Der Bahnsteig wurde auf beiden Seiten von zwei historischen, dampflokbespannten Personenzügen mit sogenannten Donnerbüchsen flankiert. Mit dem Betreiberwechsel im Ostsachsennetz von der DB Regio zur Vogtlandbahn (heute „Die Länderbahn“, Marke Trilex) im Dezember 2014 wurden im gesamten Verbundraum des ZVON die Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn an den Bahnhöfen und auch im Bahnhof Görlitz abgebaut. Das Reisezentrum der Deutschen Bahn blieb jedoch erhalten. Im März 2015 ließ die Deutsche Bahn auf der östlichen Abstellanlage die Waschanlage abreißen und 200 m Gleis abbauen. Weiterhin wurden sechs Weichen erneuert und zwei ausgebaut. Aufgrund einer Sondergenehmigung dürfen seit Ende 2015 auch polnische Triebfahrzeuge ohne deutsche Zugbeeinflussungseinrichtung PZB 90 in den Bahnhof Görlitz einfahren. Jedoch ist nach Pressemeldungen ein deutschsprachiger Lotse für den Abschnitt zwischen Zgorzelec und Görlitz vorgeschrieben. Seit dem Fahrplanwechsel am 13.  Dezember 2015 verkehren neben den bis zu drei täglichen Zugpaaren des Dresden-Wrocław-Express vier Zugpaare des polnischen Eisenbahnverkehrsunternehmens Koleje Dolnośląskie zwischen Jelenia Góra und Węgliniec. Am 16.  September 2017 veranstaltete die Deutsche Bahn anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bahnhofsgebäudes ein Bahnhofsfest. Unter anderem stellten die Länderbahn, die Ostdeutsche Eisenbahn, Bombardier Transportation und die ostsächsischen Eisenbahnfreunde Fahrzeuge aus. Weiterhin konnte der Gepäcktunnel besichtigt werden, es gab eine Lesung sowie Ausstellungen. Zukunft Der Bahnhof soll umfassend saniert und modernisiert werden, ursprünglich war hierfür der Zeitraum von 2016 bis 2020 vorgesehen. Hierbei sollen die Empfangshalle saniert und heller gestaltet sowie der Südausgang barrierefrei umgebaut werden. Auch der Bahnsteig an den Gleisen 9 und 10 soll einen Aufzug zum Personentunnel erhalten. Im März 2013 fanden erste Gespräche zu den Umbauarbeiten zwischen dem Verkehrsverbund Oberlausitz-Niederschlesien (ZVON) und der Deutschen Bahn statt. Der genaue Umfang und die Finanzierung der Arbeiten waren zu diesem Zeitpunkt jedoch noch unklar. Nach Schätzungen des Verkehrsverbundes belaufen sich die Investitionskosten auf einem niedrigen zweistelligen Millionenbetrag. Im Januar 2017 wurde bekannt, dass die Deutsche Bahn die Arbeiten an der Bahnhofshalle ausschrieb. Diese beinhaltet die Instandsetzung aller Stahlbauteile, die Erneuerung der Fundamente, die Entwässerung sowie Dacheindeckung mit Verglasung. Der Baubeginn war zwischenzeitlich für das Jahr 2020 vorgesehen und soll etwa zwei Jahre betragen. Die Planungen für einen Aufzug zu den Gleisen 9 und 10 soll separat ausgeschrieben werden. Geplant war der Baubeginn zur Modernisierung des Daches, der Fensterfläche und der Beleuchtung im vierten Quartal 2021. Die Deutsche Bahn erhielt jedoch kein zuschlagsfähiges Angebot für diese Arbeiten, wodurch die Sanierung nicht wie vorhergesehen starten kann und die Bahn eine neue Ausschreibung samt neuer Terminschiene plant. Während die aus Polen kommende Strecke seit 2019 bis zur Grenze auf dem Neißeviadukt elektrifiziert ist, fehlt rund ein Kilometer auf deutscher Seite bis zum Bahnhof Görlitz, sodass elektrische Züge aus Polen den Bahnhof weiterhin nicht erreichen können. Ein Terminplan für eine Elektrifizierung dieser Lücke existiert bis heute (Stand: Mai 2020) nicht, was umfangreich kritisiert wird. Deutsche und polnische Vertreter trafen sich am 30. Mai 2018 in Görlitz zu einem Fachgespräch zur Elektrifizierung des Bahnhofes Görlitz. Zu den Teilnehmern zählten u. a. der sächsische Staatssekretär Hartmut Mangold, der stellvertretende Abteilungsleiter im Ministerium für Infrastruktur der Republik Polen, der Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege sowie der Bundestagsabgeordnete Stephan Kühn. Der polnische Vertreter wies auf den Abschluss der Elektrifizierung der Strecke von Węgliniec nach Zgorzelec bis Dezember 2019 hin und auf die Tatsache, dass damit beim Dresden-Wrocław-Express voraussichtlich ab diesem Datum ein Umsteigen in Zgorzelec notwendig sein wird. Die Elektrifizierungslücke zwischen Zgorzelec und Görlitz – „dem natürlichen Ziel der Elektrifizierung“ – steht auch einem seitens des polnischen Verkehrsministeriums geplanten Intercity-Zugpaar Warschau–Görlitz entgegen. Auch entspräche der Realisierungszeitraum von zehn Jahren nicht der Wichtigkeit dieses Projektes. Der Görlitzer Oberbürgermeister, der Bundestagsabgeordnete Kühn sowie der Freistaat Sachsen wie auch die Woiwodschaft Dolny Sląsk richteten an die Bundesregierung die Forderung nach einem klaren Bekenntnis zum Anschluss Ostsachsens an das elektrifizierte Eisenbahnnetz. Aufgrund fehlender Perspektive für die Streckenelektrifizierung durch den Bund finanziert der Freistaat Sachsen nun die nötigen Vorplanungen und Baugrunduntersuchungen. Konkret ist geplant, den Außenbahnsteig für die Gleise 3 und 4 wieder in Betrieb zu nehmen und diese sowie die Gleise 7 und 8 mit dem polnischen Stromsystem (3 kV Gleichspannung) zu elektrifizieren. Die Gleise 9 bis 13 sollen mit dem deutschen Wechselstromsystem elektrifiziert werden. Kurze Systemtrennstellen sind am östlichen Ende von Gleis 9 sowie an den westlichen Enden der Gleise 3 und 8 geplant. Für 2021 ist der Ersatzneubau der baufälligen Blockhausstraßenbrücke über die Strecke von Zgorzelec geplant, die hiermit einhergehende Lichtraumerweiterung wird als Voraussetzung für die Streckenelektrifizierung genannt. Entsprechend einer Absichtserklärung zwischen Freistaat Sachsen und dem Bundesverkehrsministeriums vom 23.  September 2021 soll der Streckenabschnitt zwischen Zgorzelec als derzeitigen Endpunkt der mit 3 kV Gleichspannung elektrifizierten polnischen Bahnnetzes und dem Bahnhof Görlitz nun bis 2025/2026 ebenfalls mit dem gleichen Spannungssystem elektrifiziert werden, um den polnischen Zügen die Durchbindung bis auf die deutsche Seite zu ermöglichen. Im März 2021 wurde bekannt, dass die Deutsche Bahn den Abriss des ehemaligen SSE-Übernachtungsgebäudes (zuletzt: Wagenmeistereiposten) neben dem Wasserturm am nordöstlichen Ende der Melanchthonstraße sowie von Teilen des Eilgutschuppens südlich der Bahnsteighalle plant. Bauwerke Empfangsgebäude Das von Architekt Alexander Rüdell und Regierungsbaumeister Gotthard Eckert entworfene Empfangsgebäude ist in seinem äußeren Erscheinungsbild dem früheren Empfangsgebäude des Dortmunder Hauptbahnhofs nachempfunden. Es wurde am 6.  September 1917 eingeweiht und kostete 600. 000 Mark. Auf dem Dach thront der Uhrenturm, der bis zur Spitze 38,4 Meter hoch ist und dessen nach Norden und Süden zeigende Zifferblätter 1,85 Meter messen. Die Plattform des Turms erhebt sich 32 Meter über Straßenniveau. Die Haupthalle mit ihrem 13,4 Meter hohen Tonnengewölbe bildet den Dreh- und Angelpunkt des Bahnhofs. Durch jeweils fünf große Hallenfenster auf der Nord- und Südseite fällt Tageslicht in die Halle. Die Fenster auf der Südseite waren früher mit den Wappen von Görlitz, Schlesien und der Oberlausitz und die auf der Nordseite mit den Wappen von Deutschland, Preußen und Sachsen geschmückt. Bei der Restaurierung der Hallenfenster 1993 wurden in die Fenster die Stadtwappen der Städte des Oberlausitzer Sechsstädtebundes eingelassen. 1984 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt und die Empfangshalle in ihren Originalzustand zurückversetzt. Nach der Wende wurden 1991 die Toiletten auf den neusten Stand gebracht; 1993 wurde ein modernes Reisezentrum eingerichtet. In der Empfangshalle sind einige Einzelhändler, ein Reisezentrum der Deutschen Bahn mit zwei Schaltern, ein Autovermieter sowie eine kleine Information untergebracht. Der ehemalige südliche Wartesaal wird unter dem Namen Gleis 1 für kulturelle Veranstaltungen, u. a. Lesungen oder Feiern, genutzt. Anfangs gab es zwei getrennte Wartesäle für die Reisenden der ersten und zweiten sowie der dritten und vierten Wagenklasse. Der Wartesaal für die dritte und vierte Klasse hatte den rustikalen Charakter einer Bauernstube mit einer grobschlächtigen, grüngebeizten Holzverkleidung. Der Holzkronleuchter war mit einem geschnitzten Bahnhofspförtner, einem Dienstmann, einem Handlungsreisenden und einer Spreewälderin verziert. Über einem Wandbrunnen aus Ton stand der Spruch: In Zuversicht auf Deutschlands Sieg ward hier gebaut trotz Not und Krieg. Der Spruch verweist auf den Ersten Weltkrieg, als das Empfangsgebäude entstand. Der Warteraum für die erste und zweite Klasse hatte eine rotgebeizte Wandverkleidung, viel Schmuck, bemalte Fenster und stilvolle Leuchten. Bei der Eröffnung befand sich der Fahrkartenschalter in der Mitte der Südseite der Halle, wie noch über den Türen des Zeitungsladens zu lesen ist. Nach der Wende wurde dort das Reisezentrum eingerichtet, das später in die Verkaufsräume an der Nordseite umzog. Im Jahr 1954 wurde der mittige Haupteingang teilweise, ab 1958 komplett geschlossen. Die beiden Seiteneingänge dienen als Hauptzugänge der Halle. 1958 wurde die achteckige Hallenuhr verschrottet und es entstanden die nördlich in der Halle befindlichen Containerbauten für die Wechselstube der Staatsbank und ein Kiosk. Bei den denkmalpflegerischen Arbeiten in der Bahnhofshalle 1985 wurde eine neue Hallenuhr im alten Stil angebracht. Dächer und Fassaden wurden erst nach der Wende 1993 im Vorfeld des Tages der Sachsen in der Stadt saniert und kosteten insgesamt 5,8 Millionen Mark. Bahnhofshalle, Bahnsteige und Personentunnel Dass der Görlitzer Bahnhof eine Bahnhofshalle besitzt, ist dem Stadtrat Hertzog zu verdanken. Zuerst sollte jeder Bahnsteig mit separaten Bahnsteigüberdachungen versehen werden. Hertzog vertrat gegenüber dem Ministerium die Meinung, dass unter den hiesigen Windverhältnissen schwache und betagtere Reisende von einer Windbö erfasst und auf die Gleise geschleudert werden könnten. Man einigte sich auf die Überdachung der südlichen vier Gleise. So entstand anfangs nur eine zweischiffige Halle. Die Stadt bewilligte jedoch einen Zuschuss von 60. 000 Mark, um sie um ein weiteres Schiff erweitern zu können. Die Fertigstellung der Hallenkonstruktion war für 1914 geplant. Der Termin konnte jedoch wegen des Ersten Weltkrieges nicht eingehalten werden. Die südlichen zwei Hallen wurden 1916 fertiggestellt. Da der Bahnsteig III stark von Militärzügen frequentiert wurde, konnte die komplette Halle erst 1917 übergeben werden. Die dreischiffige Bahnhofshalle überspannt die Bahnsteige II bis IV mit den Gleisen 7 bis 12. Lediglich der Bahnsteig I mit den Gleisen 3 und 4 liegt außerhalb der Bahnsteighalle und erhielt eine separate Bahnsteigüberdachung. Dieser Bahnsteig wurde im Juni 2000 geschlossen. Die Gleise 3 und 4 wurden im April 2006 abgebaut, somit kann der Bahnsteig nicht mehr genutzt werden. Der Bahnhof verfügt nunmehr über sechs in Betrieb befindliche Bahnsteiggleise, die Gleise 7 bis 12. Die Nummern der Gleise 1 und 2 sowie 5 und 6 erscheinen nicht auf den Gleisanzeigern. Diese für Rangier- und Durchfahrten vergebenen Gleise befanden sich zwischen dem Außenbahnsteig und der Bahnhofshalle bzw. dem Empfangsgebäude. Das Gleis 6 fiel vermutlich bereits den sowjetischen Reparationsforderungen zum Opfer. Es verlängerte das zweite Streckengleis vom Verschiebebahnhof und Ausbesserungswerk in Schlauroth. Im September 2010 wurde an den Bahnsteigen der Gleise 11/12 und 7/8 jeweils ein Aufzug vom Personentunnel hinauf zur Bahnsteigplattform eröffnet. Der Bahnsteig der Gleise 9/10 verfügt schon seit längerer Zeit über einen Treppenschrägaufzug. Während des Aufzugsbaus auf der Ostseite des Personentunnels wurden auch die beiden äußeren Flügeltüren vom Personentunnel zur Haupthalle sowie die beiden Türen auf der östlichen Seite von der Haupthalle zum Bahnhofsvorplatz mit elektrischen Türöffnern versehen. Der Personentunnel führt von der Bahnhofshalle vorbei an den Gleisaufgängen zum sogenannten Südausgang, einem kleinen Gebäude, das die ost- und westwärts hinaufführenden 21 Treppenstufen zur Sattigstraße vor der Witterung schützt. In der Mitte des Baus befinden sich auf Straßenniveau Büros. Der Personentunnel ist neun Meter breit, verengt sich jedoch auf dem südlichen Abschnitt zwischen dem Aufgang zum Bahnsteig der Gleise 11/12 und dem Südausgang auf vier Meter Breite. Die Unterführung ist 2½ Meter hoch. In der Mitte des Personentunnels gegenüber den Aufgängen zu den Bahnsteigen befand sich bis 1962 ein Sanitätsraum des Deutschen Roten Kreuzes. 1962 zog in diese Räume ein Intershop ein, der jedoch 1970 mit der Mitropa in das Empfangsgebäude zog. Zwischenzeitlich befand sich im ehemaligen Sanitätsraum ein Bistro, heute sind dort die Diensträume der Ostdeutschen Eisenbahn (ODEG) untergebracht. Parallel zum Personentunnel verläuft östlich der Posttunnel. Er ist dreieinhalb Meter breit, beginnt im Postgebäude und führt südwärts zu den Bahnsteigen. Fünf Aufzüge verbinden den Posttunnel mit den Bahnsteigen I, II und IV sowie die Versorgungsbahnsteige zwischen den Gleisen 8 und 9 sowie 10 und 11. Westlich des Personentunnels befindet sich der Gepäcktunnel. Er ist viereinhalb Meter breit und führt vom Empfangsgebäude zum Eilgutschuppen an der Sattigstraße. Auch vom Gepäcktunnel führen Aufzüge zu den Bahnsteigen. Bereits für die Nutzung des Personentunnels wurde eine Bahnsteigkarte erforderlich. In drei Passimeterkabinen auf der Empfangsgebäude- und zwei auf der Südseite, auf Grund ihres Aussehens auch Badewannen genannt, kassierten Bahnbeamte die Gebühr für die Karten. Im Jahr 1920 kosteten sie 20 Pfennig. Der Preis stieg 1922 auf eine Mark und infolge der Inflation vertausendfachte sich der Preis. Während des Zweiten Weltkriegs konnte der Tunnel kostenfrei passiert werden, da er direkt zum Luftschutzbunker auf dem Sattigplatz führte. Jedoch wurde mittig entlang des Tunnels ein Maschendrahtzaun aufgebaut, der den Passanten den Zutritt zu den Bahnsteigen versperrte. Der Zaun bestand bis etwa 1960. Die folgende Tabelle führt die Bahnsteiggleise des Bahnhofes auf und ordnet ihnen u. a. die früher übliche Bahnsteignummer, ihre nutzbare Länge, ihre Bahnsteighöhe sowie die hauptsächlich angefahrenen Ziele (2010 und vor 1945) zu. Bahnpostamt Die Post eröffnete bereits am 15.  September 1847 eine Zweigstelle im damaligen Bahnhofsgebäude. Ihre Hauptaufgabe war es, die Post im Wechselverkehr zwischen NME und SSE auszutauschen. Die Dienststelle wurde 1850 wegen zu geringem Postaufkommen geschlossen und am 1.  Dezember 1863 wiedereröffnet. Die Post nutzte mittlerweile den gesamten östlichen Flügel des alten Empfangsgebäudes. Während des Deutschen Krieges zwischen Preußen und Österreich und Sachsen als österreichischem Bündnispartner stellte das Grenzpostamt bis zum 1.  Januar 1869 seinen Dienst ein. Nach der Reichsgründung 1871 erhielt das nun kaiserliche Reichspostamt am 1.  April die amtliche Bezeichnung Görlitz  3. Die starke Bevölkerungszunahme in den Wohnvierteln um den Bahnhof erforderte größere Räumlichkeiten. So baute die Post für 29. 000 Mark zwischen Bahnhofsgebäude und BGE-Lokschuppen ein eigenes Domizil. Auch dieses Gebäude musste dem Bahnhofsneubau 1913 weichen. Am 15.  Mai 1915 wurde das Hauptpostamt  1 trotz des Kriegsausbruches 1914 nach etwa zwei Jahren Bauzeit eröffnet. Es war eines der ersten neuen Gebäude des Bahnhofskomplexes an der Bahnhofsstraße und kostete die Post vom Grundstückserwerb bis zum fertiggestellten Gebäude mehr als 660. 000 Mark. Am Gebäude befinden sich schmiedeeiserne Gitter mit Bildern aus der Postgeschichte. Neben den Schalterräumen im Erdgeschoss lagen die Amtszimmer des Postdirektors. Seine Wohnräume befanden sich im ersten Stock, wo auch der Briefträgersaal, der Entkartungssaal und die Räume für die Vorsteher der Briefträger, der Geldbriefträger und der Postanweisungsverrechungsstelle waren. Im zweiten Stock befanden sich große Lagerräume und weitere Dienstwohnungen dienstniederer Beamter. Insgesamt umfasst das ehemalige Bahnpostamt eine Nettogeschossfläche von 4028 Quadratmetern. Im Giebeldreieck des Mittelrisalits befindet sich das Relief eines Adlers über dem eine Krone thront. Dies war die Insigne der Kaiserlichen Reichspost. Flankiert wird der Adler von jeweils drei wehenden Fahnen an den Seiten, einem Eisernen Kreuz darüber und Eichenlaub darunter. Dies soll wohl an die Entstehungszeit während des Ersten Weltkriegs erinnern. Unterhalb der drei Fenster des Giebels war einst die Inschrift „Postamt“ zu lesen. Der Schriftzug ist jedoch zurzeit durch das Logo der Deutschen Post verdeckt. Die Fenster im Erdgeschoss sind schmuckvoll vergittert. In Höhe der Oberlichter sind auf sechs Gittern typische Szenen aus der Postgeschichte abgebildet. Sie stammen vom Görlitzer Schlossermeister Kalle. Die großen Buchstaben über den drei straßenseitigen Eingängen kennzeichneten die verschiedenen Säle bzw. Schalter. Durch den Eingang A gelangte man in die Postschalterhalle und den Eingang C in die Paketschalterhalle. Der Eingang B führte wiederum in den Briefsortiersaal und Büros der Verwaltung. Ein Kuriosum war die druckluftbetriebene Rohrpostanlage. Die Messingrohre führten vom Bahnhofspostamt bis zum Postamt am Postplatz in der Innenstadt. Die Anlage ist nicht mehr betriebsfähig. Die Post verfügte auch über einen eigenen Posttunnel östlich vom Personentunnel. Zwei Bahnsteige besitzen an ihrem östlichen Ende noch Aufzüge aus dem Jahr 1914. Die übrigen drei Aufzüge wurden 1957 erneuert. Das Bahnpostamt wurde am 30.  Dezember 1995 geschlossen. Das ehemalige Bahnpostamt wurde 2008 von der Deutschen Post an einen luxemburgischen Investmentfonds verkauft, der die Gebäude samt dem 3613 m² großen Grundstück 2015 an die Senioren-Wohnen Görlitz weiterverkaufte. Die Gesellschaft möchte in der ehemaligen Post 33 kleine Mietwohnungen mit einer Größe zwischen ca. 30 und 75 m² sowie eine Serviceeinrichtung mit einer Betreuungskraft einrichten. Die ersten Wohnungen sollen im Frühjahr 2019 fertiggestellt sein. Verwaltungsgebäude An das Empfangsgebäude schließt sich westlich das Verwaltungsgebäude im gleichen Stil an. Der westliche Teil des Gebäudes steht jedoch im Gegensatz zum Empfangsgebäude direkt an der Bahnhofstraße. Der östliche Teil ist einige Meter zurückgesetzt in einer Achse mit dem Empfangsgebäude. Es war nach der Fertigstellung Sitz des Betriebsamtes I und II – später Reichsbahnamt Görlitz  I und Reichsbahnamt Görlitz  II. Das Betriebsamt  II zog 1918 in die Konsulstraße 57 um. Dafür zogen das Maschinenamt und das Verkehrsamt von der Krölstraße 45 in das Haus ein. Die Reichsbahnämter waren verwaltungstechnische Mittelbehörden der Reichsbahndirektion Breslau. Dem Reichsbahnamt I waren der Bahnhof Görlitz, der Rangierbahnhof Schlauroth, die Bahnmeistereien I und II und das Amt  I unterstellt. Dem Reichsbahnamt  II unterstanden die Bahnmeisterei Moys, die Bahnbetriebswerke Görlitz und Schlauroth sowie das Amt  II. Das Verkehrsamt war unter anderem für die Bahnhofskasse, die Fahrkartenausgabe sowie für die Gepäck- und Güterabfertigung zuständig. Nach der Auflösung der Reichsbahndirektion Breslau infolge des Zweiten Weltkrieges kam der Bahnhof Görlitz zur Reichsbahndirektion Dresden. Die Reichsbahnämter Görlitz I und II wurden aufgelöst und die bisher unterstellten Ämter dem Reichsbahnamt Bautzen zugeordnet. Nach der Wende zog kurzzeitig eine Filiale der Sparda-Bank Berlin in das Gebäude ein. Heute befinden sich in dem Gebäude eine Zweigstelle der DB Services Südost und eisenbahnfremde gewerbliche Mieter. Güterabfertigung Am Standort des ehemaligen NME-Güterschuppens an der Südseite der Bahnsteighalle hinter den Durchfahrtsgleisen entstand nach der zweiten Bahnhofsumgestaltung ein Güterschuppen für Eilgüter. Er besaß eine unterirdische Verbindung zur Eilgutannahme im Empfangsgebäude. Firmen aus der Südstadt wünschten sich Verlademöglichkeiten an der Südseite, was aus Gründen des Betriebsablaufes jedoch abgelehnt wurde. Sie wurden auf den baldigen Ausbau des Vorortbahnhofes in Posottendorf-Leschwitz zum Güterbahnhof vertröstet. 1906 war ein zweiteiliger Güterschuppen mit getrenntem Empfangs- und Versandteil an der Bahnhofstraße vorgesehen, jedoch wurde dem Drängen der Görlitzer Firmen nachgegeben, die sich geeignete Lagerräume in der Nähe des Bahnhofes wünschten. Zwischen dem Empfangs- und Versandteil entstanden Lagerräume mit 18  Ladeluken. Den östlichen Abschluss bildete das zweistöckige Güterabfertigungsgebäude, den westlichen die Zollabfertigung mit Zollschuppen. Weitere Gebäude waren der kleinere Lagerschuppen u. a. für Militärausrüstung und den österreichischen Zoll sowie der Aufenthaltsraum des Rangierpersonals. Auch ein Ladebockkran sowie Straßen- und Gleiswaagen waren auf dem Gelände vorhanden. An der Rauschwalder Straße befanden sich einzelne Laderampen für Holz, Möbel und Vieh. Der Güterbahnhof und die Ladestraßen nahmen fast das ganze Areal zwischen den Gleisen der Dresdner Strecke, der Bahnhofstraße, dem Brautwiesenplatz und der Rauschwalder Straße ein. 1988 wurden an der Möbelladerampe die Tatra KT4D für den städtischen Straßenbahnbetrieb abgeladen und über ein provisorisches Meterspurgleis auf die Straßenbahnstrecke auf der Rauschwalder Straße überführt. Nach 80-jährigem Betrieb wurde der Güterbahnhof am 31.  Dezember 1993 geschlossen. Der Güterknoten für Ostsachsen war ab 1994 Bautzen. Im Jahr 2018 kaufte die Waldorfschule Görlitz der Deutschen Bahn einen Teil des ehemaligen Güterschuppens ab, um es zum Schulgebäude umzubauen. Im Herbst 2020 bezog die Schule schließlich die neuen Räumlichkeiten. In dem Bereich der ehemaligen Ladestraßen und Gleisanlagen zwischen Bahnhofstraße und Güterschuppen entsteht seit 2021 auf der seit den 1990er Jahren brach liegenden 1,7 ha großen Fläche der sogenannte Brautwiesenpark als Stadtteilpark, der in mehrere Funktionsbereiche untergliedert ist u. a. mit Spiel- und Sportplätzen, Verweilzonen und Treffpunkten. Stellwerke Sämtliche Weichen im Bahnhof waren bis zum zweiten Umbau des Bahnhofs ortsbedient. Für die Handweichenwärter gab es mehr als zwanzig Weichenstellerbuden. Nach dem Bau der Stellwerke verschwanden sie bis auf wenige in gering frequentierten Rangierbereichen. Die restlichen Weichen wurden mit elektrischen Antrieben fernbedient. Der Bahnhof Görlitz galt bis in die 1960er Jahre bei der Hochschule für Verkehrswesen Friedrich List in Dresden als Musterbeispiel für einen rationellen Betriebsablauf. Im Befehlsstellwerk Gt (ab 1960: B5) westlich der Bahnhofshalle arbeitete der Fahrdienstleiter und regelte von dort alle Zugfahrten. In der Kurzbezeichnung Gt steht das G für Görlitz und das t für Turm. Ein eventueller Buchstabe dazwischen gibt die Himmelsrichtung des Stellwerkes an. Das Stellwerk Gt und Got (ab 1960: W2) sind sogenannte Reiterstellwerke, d. h. sie überspannen mit ihrem brückenartigen Stellwerksraum eines oder mehrere Gleise. Das Stellwerk B5 überspannte die Gleise 13 und 14. Das Stellwerk W2 unterquerten an der östlichen Ausfahrt zur Abstellgruppe die Gleise 15 und 16. Weitere Stellwerke befanden sich nördlich des Freibahnsteigs zwischen den Gleisen 1 und 2 (Stellwerk W3) und an der Dresdner Strecke westlich des Abzweigs zum Bahnbetriebswerk Görlitz (Stellwerk W8). Sämtliche Stellwerke waren elektromechanische Stellwerke der Bauform Siemens & Halske. Bei der Umbezeichnung der Stellwerke im Jahr 1960 wurden die himmelsrichtungsbezogenen Namen der Stellwerke durch eine Abkürzung für ihre Funktion und eine laufende Nummer ersetzt. Die Nummerierung begann der Stellwerke begann im Osten und führte fortlaufend in Richtung Westen. Das Befehlsstellwerk erhielt die Abkürzung B und die Wärterstellwerke W. Die Handweichen- und Schrankenposten bekamen die Kurzbezeichnung R. R1 befand sich südlich vom Gleis 21 in der östlichen Abstellgruppe und war somit der östlichste Stellposten. Der Stellposten R4 war für die Schranke bei W3 und den Steuerhof zuständig. Der Stellwerksposten R6 befand sich an den südwestlichen Gütergleisen und war für die Gleise zu den Ladestraßen und Lagerplätze an der Rauschwalder Straße zuständig. Diese Posten waren 2004 bereits einige Jahre außer Betrieb. Lediglich die Posten R7 und R9 waren 2004 noch in Betrieb. R7 war der Drehscheibe des Bahnbetriebswerks und R9 den Weichen im Bereich des Bahnbetriebswerks zugeteilt. Im Jahr 1993 wurde die Fassade des Befehlsstellwerks B5 saniert und das Dach neugedeckt. Auch die Schwerkraftheizung wurde durch eine Gasheizung ersetzt. 1995 begannen Planungen für ein elektronisches Stellwerk (ESTW), u. a. da das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) der Stellwerkstechnik nur eine beschränkte Betriebserlaubnis mit Auflagen gewährte. Die Bauarbeiten begannen 1998. Auf die Inbetriebnahme des elektronischen Stellwerks Görlitz am 25.  Juni 2000 folgte im ersten Halbjahr 2004 der Abbruch der bisherigen Stellwerke. Nur das ehemalige Befehlsstellwerk B5 (Gt) blieb im veränderten Bahnhofsbild erhalten. Im Herbst 2008 lagen im Bahnhof noch maximal neun Gleise nebeneinander, die durch 30 elektrisch betriebene Weichen miteinander verbunden waren. Wasserturm Der Wasserturm an der Sattigstraße auf Höhe der Einmündung der Melanchthonstraße stammt aus der zweiten Umbauphase des Bahnhofsareals. Er wurde im Jahr 1913 erbaut und fasste 200 m³ Wasser. Das gespeicherte Wasser diente sowohl der Versorgung der Dampflokomotiven über die Wasserkräne als auch der Wasserversorgung des gesamten Bahnhofsgeländes. Die Zuleitung zu den Wasserkränen erfolgte über Rohre mit einem Durchmesser von 20 cm. Am westlichen Ende des Bahnsteiggleises 7 ist noch ein Wasserkran erhalten. Bis 1903 pumpte eine Lokomobile Neißewasser auf Bahnhofsniveau und versorgte die Dampflokomotiven mit Wasser. Die Pumpstation befand sich in der Nähe des Viaduktes in einem zweigeschossigen Ziegelbau mit einer prunkvollen, hölzernen Dachkonstruktion. In einem flachen Anbau standen zur Feuerung Kessel zur Verfügung. Die Abgase wurden über einen langen Schlot an der Seite des einstöckigen Anbaus abgeleitet. Der Wasserdampf Dampfmaschinen, die wiederum über einen Kurbeltrieb die Kolbenpumpen in Gang setzten. Der Turm am Bahnhof wurde vom 300 m³ fassenden Wasserturm in Schlauroth gespeist. Dieser wiederum versorgte auch die dortigen Bahneinrichtungen, darunter auch das Bahnbetriebswerk Schlauroth (später: Ausbesserungswerk Görlitz) und den Verschiebebahnhof. Die Wasserleitung führte vom höher gelegenen Schlaurother Wasserturm entlang der Bahnstrecke Görlitz–Dresden bis zum Wasserturm an der westlichen Bahnhofsausfahrt. Der Schlaurother Wasserturm wurde wiederum von drei Brunnen gespeist, deren Pumpen von einem Wasserwart reguliert wurden. Er konnte den Füllstand ablesen und die Pumpenleistung entsprechend anpassen. Bei einem Ausfall der bahneigenen Wasserwirtschaft konnte das Bahnhofsgelände auch über die öffentliche Ringleitung versorgt werden. Das tägliche Wasserverbrauch betrug zwischen 800 und 1.000 m³. Mit dem Bau einer Wasseraufbereitungsanlage konnte das Wasser schließlich auch chemisch behandelt werden, um die Bildung von Wasserstein an den Kesselwänden der Lokomotiven zu verhindern. Mit der Einstellung des Dampflokomotivbetriebes sank der Wasserverbrauch drastisch. Funktion des Verkehrsbauwerks Bahnstrecken In Görlitz treffen sich folgende fünf Bahnstrecken: Berlin – Görlitz, Görlitz – Dresden, Görlitz – Hagenwerder (– Zittau), Węgliniec (ehemals Kohlfurt) – Görlitz und Wałbrzych (ehemals Waldenburg-Dittersbach) – Görlitz (Schlesische Gebirgsbahn). Die beiden letztgenannten Strecken vereinigen sich bereits westlich des Bahnhofs Zgorzelec (ehemals Bahnhof Görlitz-Moys) vor dem Neißeviadukt, führen dann gemeinsam über den Viadukt und befinden sich seit Kriegsende 1945 auf polnischem Territorium. Gemäß der deutschen Kilometrierung des Streckenabschnittes zwischen Viadukt und Bahnhof mündet in Görlitz die Bahnstrecke aus Węgliniec ein und folgt damit der Kilometrierung vor dem Krieg. Nach der Neukilometrierung nach dem Krieg auf polnischer Seite verläuft jedoch die Schlesische Gebirgsbahn bis zum Viadukt und nicht die Węgliniecer Strecke. Auf dem östlichen Bahnhofsvorfeld mündet auch die Strecke von Zittau – Hagenwerder ein, nachdem sie durch den Blockhaustunnel die Strecke aus Zgorzelec unterquert hat. Im westlichen Bereich vereinigen sich die Strecken aus Berlin und Dresden etwa in Höhe der Straßenunterführung der Rauschwalder Straße. Der Personenverkehr auf der Görlitzer Kreisbahn nach Königshain wurde am 22.  Mai 1993 eingestellt und Strecke am 31 . Dezember 1994 stillgelegt. Nach dem Abbau des Oberbaus wurde am 30.  April 2009 auf dem Bahndamm ein Fahrradweg eröffnet. Auf der Bahnstrecke Görlitz–Seidenberg werden nur noch einzelne Streckenabschnitte befahren. Nach der Sprengung der Neißebrücke südlich von Hagenwerder war kein durchgehender Verkehr mehr möglich. Die Lücke wurde nie geschlossen. Der auf der deutschen Seite verbliebene Ast bis zum Bahnhof Hagenwerder wird auch von den Zügen der Relation von Görlitz nach Zittau genutzt. Das nach dem Zweiten Weltkrieg abgebaute zweite Streckengleis bis Hagenwerder bekam die Strecke aufgrund der nun geringeren Auslastung nie zurück. Auch die einst zweigleisige Bahnstrecke nach Berlin ist seit Ende des Krieges zwischen Cottbus und Görlitz nur noch eingleisig. Personenverkehr Mit der Eröffnung des Bahnhofs am 1.  September 1847 verkehrten täglich jeweils vier Zugpaare von Görlitz nach Dresden und Kohlfurt. Etwa fünf Jahre später stieg die Zahl der durchgehenden Reisezugverbindungen auf fünf je Richtung. Wenig später im Jahr 1854 folgte auch die erste Eilzugverbindung nach Dresden. Mit der Eröffnung der Berlin-Görlitzer-Eisenbahn im Jahr 1867 kamen zwei Personen- und ein gemischtes Zugpaar nach Berlin hinzu. Zu einem weiteren starken Anstieg des Personenverkehrs kam es mit der Eröffnung der Strecken nach Seidenberg und Zittau im Jahr 1875. Anfangs verkehrten vier Reisezugpaare nach Seidenberg und fünf nach Zittau. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verkehrten bereits jeweils ein Schnellzugpaar nach Breslau und nach Hirschberg sowie zwei Schnellzugpaare nach Berlin und drei nach Dresden. Die 1920er und 1930er Jahre waren die Glanzzeit des Bahnhofs. So fuhren täglich sechs Schnellzug-, zwei Eilzug- und 14 Personenzugpaare über Kohlfurt zum großen Teil auch weiter bis nach Breslau, sieben Schnellzug-, zwei Eilzug- und neun Personenzugpaare durchgehend nach Dresden, zwei Schnellzug-, vier Eilzug- und neun Personenzugpaare nach Berlin sowie jeweils maximal sieben Personenzüge nach Seidenberg bzw. Zittau. Auch ein Schnellzug zwischen Berlin und Wien, der D 293, hielt in Görlitz, ebenso die Wintersportzüge ins Riesengebirge, die Touristenzüge nach Oberschreiberhau und die sogenannten Bäderzüge von Berlin nach Bad  Kudowa. Während des Zweiten Weltkriegs sank die Anzahl der Zugverbindungen auf manchen Relationen fast bis auf die Hälfte. Nach dem Krieg lief der Bahnverkehr angesichts der starken Schäden schnell wieder an. Anfänglich fuhren nur wenige Zugpaare, doch schon bald konnten sich die Zahlen bei den Zugverbindungen auf höherem Niveau stabilisieren. In den 1960er und 1970er Jahren verkehrten bereits wieder bis zu sechs grenzüberschreitende Schnellzugpaare von und nach Polen, jeweils drei Schnellzug-, Eilzug- und durchlaufende Personenzugpaare in Richtung Berlin sowie drei Schnellzug-, ein Eilzug und vier durchlaufende Personenzugpaare in Richtung Dresden. Die Zahlen blieben jedoch insgesamt weit hinter denen der Vorkriegsjahre zurück. Personenzüge auf den seit Kriegsende grenzüberschreitenden Strecken wurden nicht wieder eingeführt. Auch nach Zittau verkehrten durch das Neißetal nur noch fünf Personenzugpaare. Weitere Züge nach Zittau fuhren jedoch über Löbau und Ebersbach. Nach der Wende wurden die meisten Schnellzug- in Interregioverbindungen umgewandelt. Nach Dresden verkehrten die Interregios im Zweistundentakt und es gab in den 1990er Jahren auch Interregioverbindungen nach Aachen, Berlin, Erfurt, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Hannover, Rostock, Oberstdorf im Allgäu oder Wilhelmshaven. Aus der Schnellzugära blieben lediglich die Zugpaare D 450/451 und D 452/453 auf der Relation Warschau – Breslau – Görlitz – Leipzig – Frankfurt am Main – Saarbrücken – Paris sowie für kurze Zeit das Zugpaar D 2352/2353 von Zittau über Görlitz nach Rostock bestehen, dagegen entfiel beispielsweise die lange bestehende Schnellzugverbindung nach Köln über Hannover. Aber auch die Zeit der Interregioverbindungen endete mit dem Fahrplan 2000/2001. Die zweistündlichen Interregioverbindungen nach Dresden wurden durch fünf lokbespannte Regionalexpresszüge ersetzt, andere Verbindungen wurden ersatzlos gestrichen. Einen kurzzeitigen Aufschub bei der Abschaffung des Interregiolinien in Deutschland erhielten die drei verbliebenen Interregiozugpaare Dresden – Görlitz – Breslau. Am 11.  Dezember 2004 wurden auch die letzten Interregiozüge zwischen Dresden und Breslau eingestellt. Sie waren neben einem InterCityzugpaar Görlitz – Nürnberg die letzten drei Fernverkehrszugpaare mit Halt in der Neißestadt. Bis zum 1.  März 2009 sorgte lediglich die Polnische Staatsbahn für grenzüberschreitenden Reisezugverkehr. Die Züge begannen und endeten jedoch alle in Görlitz. Im März 2009 nahm der Dresden-Wrocław-Express seinen Betrieb auf. Er verband die sächsische Landeshauptstadt mit der niederschlesischen Woiwodschaftshauptstadt. Mit dem Fahrplanwechsel am 9.  Dezember 2012 entfielen die drei Zugpaare der Regionalexpresslinie 100 nach Breslau. Dafür wurden drei Zugpaare der Regionalexpresslinie 1 nach Breslau verlängert. Nach sechs Jahren wurde die Verbindung aufgrund von Finanzmittelkürzungen der Regierung gegenüber dem niederschlesischen Woiwodschaftsamt zum 1.  März 2015 eingestellt. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2015 wurden die durchgehenden Züge nach Breslau wieder angeboten. Einige polnische Regionalzüge, die früher nur bis Zgorzelec fuhren, wurden seitdem bis nach Görlitz durchgebunden. Am 3.  Februar 2018 nahm das polnische Eisenbahnverkehrsunternehmen Polregio die neue Bahnverbindung von Görlitz nach Zielona Góra (Grünberg) auf. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2014 werden die Regionalbahn- und die Regionalexpresslinie nach Dresden von der Vogtlandbahn unter dem Namen Trilex betrieben. Sie gewann die Ausschreibung für das Ostsachsennetz. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2019 wurde der Zweistundentakt der Regionalexpresslinie 1 auf einen Stundentakt verdichtet. Einige Züge verkehren jedoch nur bis Bischofswerda und bieten dort direkten Anschluss an die Regionalexpresslinie 2 aus Zittau nach Dresden. Ebenso entfiel mit dem Fahrplanwechsel und der Aufnahme des elektrischen Betriebs auf der polnischen Strecke zwischen Węgliniec und Zgorzelec die Durchbindung der Regionalexpresszüge bis nach Węgliniec. Hierfür wird nun eine größere Anzahl an Regionalexpresszügen bzw. einigen Regionalbahnen bis nach Zgorzelec durchgebunden und bieten dort Anschluss zu den Zügen nach Breslau. (Stand: 15.  Dezember 2019) Verkehrsanbindung Öffentlicher Verkehr Der Bahnhof ist ein Knotenpunkt des öffentlichen Regionalverkehrs. Auf der Nordseite des Bahnhofes befinden sich fünf Bussteige. Von den Bussteigen 1 bis 4 fahren die Regionalbuslinien der Regionalbus Oberlausitz (RBO) und der Kraftverkehrsgesellschaft Dreiländereck (KVG) und verbinden den Bahnhof mit dem näheren Umland; der Bussteig 5 ist für den Schienenersatzverkehr reserviert. Seit Juni 1882 verkehrt die Straßenbahn zum Bahnhof. Anfangs fuhren die Reisenden noch mit einer Pferdestraßenbahn vom Bahnhof in die Stadt, aber bereits im Dezember 1897 waren die Linien durch die AEG auf elektrischen Betrieb umgestellt. Heute biegt die Straßenbahn von der Berliner Straße, aus dem Stadtzentrum kommend, vor dem Haupteingang in Richtung Osten ab. Dort befindet sich die Straßenbahnhaltestelle Bahnhof. Auf ihrer Weiterfahrt in Richtung Süden unterquert sie die Bahnhofsgleise im Jakobstunnel und trennt sich vor Erreichen der Haltestelle Südausgang in die Linien nach Biesnitz und Weinhübel. Die Haltestelle Südausgang befindet sich auf der Südseite des Bahnhofs am Südaufgang des Personentunnels. Sie ist eine bedeutende Umsteigehaltestelle im städtischen Nahverkehrsnetz der Görlitzer Verkehrsbetriebe (GVB). Im städtischen Spätverkehr zwischen 19 und 24 Uhr treffen sich dort die Spätverkehrslinie 1 und halbstündlich alternierend mit den Linien B und N, um das Umsteigen in alle Fahrtrichtungen zu ermöglichen. Die Haltestelle Südausgang wird ebenso wie die Haltestelle Bahnhof tagsüber durch die Straßenbahnlinien 1 und 2 bedient. Die Stadtbuslinien B und N halten nur am Südausgang. Seit längerer Zeit beabsichtigten Stadt und Verkehrsverbund Oberlausitz-Niederschlesien, am Bahnhof eine Nahverkehrsschnittstelle zwischen Bus und Bahn einzurichten. Anfängliche Pläne, dies am Standort des neben der Bahnsteighalle liegenden Bahnsteiges I (Gleis 3 und 4) zu realisieren, scheiterten. Der neue Busbahnhof wurde schließlich am 11.  Dezember 2015 auf der Nordseite des Bahnhofs an der Stelle der Anbindung der ehemaligen Ortsgüteranlagen eröffnet. Von der Haltestelle Bahnhof Südausgang verkehrten seit Mai bzw. Juni 2015 zwei Fernbuslinien des Unternehmens Deutsche Post Mobility. Sie führten über verschiedene Routen nach Köln. Es folgten Fernbusse verschiedener Gesellschaften nach Berlin, Breslau, München, Prag und Warschau. Mit der Übernahme des Unternehmens Postbus durch Flixbus wurden die Postbuslinien Ende 2016 eingestellt bzw. durch Flixbuslinien ersetzt. Seit der Fertigstellung des neuen Busbahnhofes verkehren die Fernbusse am Busbahnhof auf der nördlichen Seite. Individualverkehr Die Bahnhofstraße und die Zittauer Straße verbinden den Bahnhof mit der Bundesstraße 99, die unweit westlich und südlich verläuft. Auf dem Bahnhofsvorplatz im Norden gibt es einige Stellplätze für PKW. Auch ein Taxistand befindet sich dort. Östlich des Jakobstunnels entstand nach der Wende ein Parkhaus eines privaten Betreibers. In der DDR-Zeit gab es Pläne der Hochbaumeisterei der Deutschen Reichsbahn, den Bahnhofsvorplatz vom Kraftfahrzeugverkehr zu befreien. Die Bahnhofstraße sollte zwischen Salomonstraße im Westen und Jakobstraße im Osten den Vorplatz unterführen. Die Fußgängerzone entlang der Berliner Straße hätte direkt vor dem Mitteleingang des Empfangsgebäudes enden sollen. Lediglich die Straßenbahn sollte noch von der Berliner Straße auf den Bahnhofsvorplatz einbiegen. Die Pläne wurden jedoch wegen fehlender finanzieller Mittel nie realisiert. Literatur Weblinks Baumaßnahme Görlitz Bahnhof im BauInfoPortal der Deutschen Bahn Umfangreiche Bildersammlung auf schlesische-eisenbahnen.de Pläne des „Locomotivschuppens“ in der „Allgemeinen Bauzeitung“ auf Anno (Austrian Newspapers Online) Interaktive Ansicht der Bahnhofshalle Einzelnachweise Gorlitz Kulturdenkmal in Görlitz Bauwerk des Jugendstils in Görlitz Gorlitz Innenstadt (Görlitz) Südstadt (Görlitz) Gorlitz Bauwerk von Alexander Rüdell Bahnstrecke Görlitz–Dresden Bahnstrecke Berlin–Görlitz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ahmose-Pyramide
Ahmose-Pyramide
Die Ahmose-Pyramide ist eine zur Zeit des altägyptischen Königs Ahmose I. zwischen 1550 und 1525 v. Chr. im Tempel-Komplex von Abydos errichtete Pyramide. Sie war die einzige Königspyramide, die von Beginn an als Kenotaph (Scheingrab) und nicht als Grabmal geplant wurde. Die Ahmose-Pyramide war gleichzeitig die letzte Königspyramide in Ägypten, denn wie Ahmose I. wurde kein Nachfolger mehr in einer Pyramide bestattet. Sie ist heute eine Ruine und erscheint nur noch als flacher Geröllhügel. Erforschung Der Komplex wurde erstmals von Arthur Mace und Charles T. Currelly zwischen 1899 und 1902 im Auftrag des Egypt Exploration Fund untersucht, die den Geröllhügel als Rest einer Pyramide identifizierten. Die Arbeiten blieben jedoch bruchstückhaft und lieferten nur einen groben Überblick über die Anlage und ihre Strukturen. Ausgrabungen konzentrierten sich auf den Pyramidentempel. Mace grub zudem einen Tunnel unter die Pyramide, um einen eventuell vorhandenen Unterbau zu finden. Currelly forschte auf dem Areal bis 1904 weiter. Seit 1993 unternahm Stephen P. Harvey neue Ausgrabungen auf dem Komplex, die unter anderem eine Vielzahl von Relieffragmenten ergaben und die Natur der Tetischeri-Kapelle als Pyramide klären konnten. Bei diesen Grabungen wurden außerdem die Ruinen mehrerer Bauwerke des Tempelkomplexes freigelegt. Bauumstände Nach seinem Sieg über die Hyksos, die über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren in Ägypten geherrscht hatten, erlangte Ahmose I. die vollständige Regierungsgewalt über das ganze Land (Ober- und Unterägypten) und begründete so das Neue Reich. Treibende Kraft hinter den Anstrengungen zur Reichseinigung scheint Ahmoses Großmutter Tetischeri gewesen zu sein. Obwohl Abydos seit der Frühgeschichte Ägyptens ein bedeutender Standort für Kult- und Grabbauten war, war die Pyramide Ahmoses die erste große Pyramide, die dort errichtet wurde. Allerdings besaßen verschiedene Herrscher der 17. Dynastie dort Gräber in Form von Kleinpyramiden, die jedoch eine Basislänge von 10 m nicht überschritten. Die Anlage des Pyramiden- und Tempelkomplexes des Ahmose unterschied sich im Aufbau grundlegend von allen früheren Pyramidenkomplexen, da das typische Schema von Taltempel, Aufweg, Pyramidentempel und Pyramide hier nicht eingehalten wurde. Mit dem Terrassentempel und dem Osirisgrab wurden neue Elemente in den Aufbau des Pyramidenkomplexes eingeführt. Das eigentliche, ursprüngliche Grab Ahmoses, welches bislang nicht lokalisiert wurde, lag vermutlich in Dra Abu el-Naga. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine von Herbert E. Winlock 1913 entdeckte Kleinpyramide, doch wird dieses Grabmal von anderen Forschern auch Ahmoses Vorgänger Kamose oder seinem möglichen Sohn Ahmose Sapair zugeschrieben. Seine Mumie sowie die seiner Großmutter Tetischeri fanden sich in der Cachette von Deir el-Bahari, wohin sie in der 22. Dynastie zum Schutz vor Grabräubern verbracht wurden. Der Ahmose-Kult um diese Pyramiden- und Tempelanlage ist durch eine Stele über einen Zeitraum von etwa 300 Jahren bis in die Zeit Ramses' II. nachgewiesen. Die Inschrift bezeugt, dass ein Prozessionsboot des Ahmosekults den Anwohnern als Orakel des vergöttlichten Königs diente. Pyramide Die Pyramide hatte eine Basislänge von 52,5 m (entspricht 100 Königsellen) und bestand aus einem Geröll- und Sandkern, der mit einer Verkleidung aus feinem Kalkstein versehen war. Der lose Kern wurde dabei von den Verkleidungssteinen in Form gehalten und hatte keine eigene Stabilität. Mace fand bei Ausgrabungen noch zwei Lagen der Verkleidungssteine, aus denen ein Neigungswinkel von etwa 60° abgeleitet werden konnte, womit sie deutlich steiler war als die Pyramiden des Alten und Mittleren Reichs. So erreichte die Pyramide eine rekonstruierte Höhe von 45 m. Nachdem die Verkleidungsschicht in späteren Zeiten ein Opfer des Steinraubs wurde, verlor der lose Kern seinen Zusammenhalt und sackte zu dem heute nur noch 10 m hohen Schuttkegel zusammen. Das Kernmaterial stammte möglicherweise aus dem Abraum des unterirdischen Osirisgrabs im südlichen Bereich des Komplexes. Eine halbmondförmige Lehmziegel-Struktur zwischen der Nordseite der Pyramide und dem Pyramidentempel konnte durch Harveys Arbeiten als Überrest einer Baurampe identifiziert werden. Die Pyramide weist als einzige der größeren Pyramiden keine Substruktur auf, womit eine Funktion als Grabbau ausgeschlossen werden kann. Mace trieb 1902 vergeblich einen Tunnel von der Nordseite unter die Ruine, um verborgene Gänge aufzuspüren. Auch spätere Untersuchungen konnten keine Substruktur unter der Pyramide entdecken. Gänge im Pyramidenkorpus können aufgrund des lockeren Gefüges der Geröll- und Sandbauweise des Kerns ausgeschlossen werden. Komplex Für den Komplex wurde ein bis dato im Pyramidenbau noch nie verwendeter Aufbau gewählt. Während der übliche Aufbau aus einem Taltempel im Bereich der Vegetationsgrenze und einer weiter in der Wüste gelegenen Pyramide bestand, war diese Pyramide mit den zugehörigen Tempeln am talseitigen Ende des Komplexes nahe der Überflutungsgrenze des Nils angeordnet. Weiter in der Wüste lagen eine kleinere Kenotaph-Pyramide sowie ein Osirisgrab und ein Terrassentempel. Die langgestreckte Anlage erinnert im Aufbau an das Osirisgrab, das Sesostris III. in Abydos anlegen ließ. Die Komponenten sind entlang einer Linie angeordnet und waren vermutlich über eine gerade Straße verbunden, die allerdings nicht mehr nachweisbar ist. Eine Umfassungsmauer wie bei früheren Pyramidenkomplexen üblich konnte nicht gefunden werden. Tempelkomplex Der Pyramidentempel befand sich auf der Nordseite der Pyramide, grenzte aber nicht an diese. Das Bauwerk besaß dicke Mauern und einen Durchgang zu einem in der Mitte gelegenen Hof, an dessen Rückseite sich eine Säulenkolonnade befunden haben könnte. Neben dem Eingang fanden sich zwei Gruben, die möglicherweise mit jeweils einem Baum bepflanzt waren. Harvey fand im Tempelbereich über 2000 bemalte Relieffragmente, die Motive aus dem Kampf Ahmoses gegen die Hyksos zeigen und den Tempel zierten. Auf den Abbildungen finden sich die ältesten bekannten Darstellungen von Pferden mit Streitwagen in Ägypten. Ein weiterer kleiner Tempel („Tempel A“) befand sich an der Nordostecke und diente zur Verehrung von Ahmose sowie seiner Schwester und Gattin, Ahmose Nefertari. Dieses Bauwerk wurde von einigen Forschern auf Grund der Lage fälschlich für eine Kultpyramide gehalten. Direkt östlich davon sind die Überreste eines weiteren Tempels zu finden („Tempel B“), der Ahmose zugeordnet wird. Ein größerer Tempel („Tempel C“) befindet sich nördlich davon und grenzt an den Pyramidentempel, der Ahmose-Nefertari zugerechnet wird. Im Osten angrenzend befinden sich die Ruinen eines Wirtschafts- oder Verwaltungsgebäudes. Allerdings sind die östlichen Teile des Gebäudekomplexes von einem neuzeitlichen moslemischen Friedhof überbaut und somit einer Erforschung nicht zugänglich. Pyramide der Tetischeri Auf halbem Weg zwischen der Ahmose-Pyramide und dem Terrassentempel befinden sich die Überreste einer Ziegel-Struktur mit den Basismaßen 21 m × 23 m, die aufgrund von dort gefundenen Inschriften ursprünglich als Schrein von Ahmoses Großmutter Tetischeri interpretiert wurde. Ebenso wurde 1902 in den Ruinen eine Stele (CG 34002) gefunden, die auf die Pyramide und den Tempel Tetischeris verweist. Auf den darauf befindlichen Inschriften teilt Ahmose seiner Frau die Pläne zur Errichtung einer Gedenkpyramide für seine in Theben bestattete Großmutter mit. Zum Zeitpunkt des Fundes der Stele wurde vermutet, dass die Bezeichnung Pyramide nur symbolisch wäre, da die Ruinen damals noch nicht als Pyramidenbau erkannt waren. Der laut der Inschrift bei der Pyramide befindliche Garten und der künstlich angelegte See sind archäologisch noch nicht nachgewiesen. Neuere Arbeiten von Harvey konnten nachweisen, dass es sich bei dem Bauwerk tatsächlich um eine Pyramide handelt. Ungewöhnlich ist jedoch, dass diese auf einem Fundament aus mit Geröll gefüllten Lehmziegel-Kasematten errichtet wurde. Ein Gang reicht bis in die Mitte dieses Kasemattenfundaments. Bei diesen Ausgrabungen wurden auch Fragmente des Pyramidions gefunden, womit der Nachweis eines ähnlichen Neigungswinkels wie bei der Ahmose-Pyramide möglich war. Diese Funde ermöglichten die Erklärung der Pyramidenbezeichnung für dieses Bauwerk im Text der oben erwähnten Stele. Zudem wurde auch eine aus Lehmziegeln bestehende Einfriedung von 90 m × 70 m um die kleine Pyramide gefunden. Innerhalb der Einfriedung befanden sich mehrere kleine Gebäude, deren Zweck noch nicht geklärt ist. Osirisgrab Im südlichen Viertel des Komplexes befand sich Ahmoses Osirisgrab. Dieses stellte ein symbolisches Grab des Totengottes Osiris dar, dessen im altägyptischen Mythos zerstückelter Körper über das ganze Land verteilt war. Ebenso kann es als Symbol für die Unterwelt angesehen werden. Das Osirisgrab war in der Art dem des Sesostris III. ähnlich, aber sehr nachlässig und grob ausgeführt. Die Eingangsgrube war sehr unscheinbar und unterschied sich kaum von einem Grab eines gewöhnlichen Bürgers. Der gewundene unterirdische Gang war grob aus dem Felsen des Untergrunds gehauen. Kurz nach dem Eingang folgten zwei kleine seitliche Kammern. In der Mitte des Verlaufs erreichte der Gang eine Halle mit 18 aus dem Felsen stehen gelassenen Pfeilern, deren Höhe nur der des Gangs entsprach. Hinter der Halle führte der Gang stärker abfallend zu einer einfachen Grotte. Die Wände der Kammern und Gänge waren weder geglättet noch dekoriert. Das Osirisgrab ist quer zur Orientierungslinie von der Pyramide zum Terrassentempel ausgerichtet, an der die Bauten des Komplexes angeordnet sind. Terrassentempel Am südlichen Ende befand sich vor der Steilwand der Klippen ein Terrassentempel. An diesem Tempel wurden vergrabene Votivgaben in Form von Keramikgefäßen, Modellen von Booten und Steinvasen gefunden. Der Tempel war über einen aus mehreren Treppen und trapezförmigen Räumen bestehenden Aufstieg zu betreten. Oben führte ein Korridor nach Süden zu einer kleinen Kammer, in der sich vermutlich eine auf einem Podest aufgestellte Herrscherstatue befand. Bedeutung Mit der Ahmose-Pyramide endete das Zeitalter der Königspyramiden in Ägypten. Während die Wiederaufnahme des Pyramidenbaus im Mittleren Reich eine Reihe von Folgebauten nach sich zog, blieb es im Neuen Reich bei einem einzelnen Pyramidenbau. Bei keinem der auf Ahmose I. folgenden Herrscher konnte ein derartiges Bauprojekt nachgewiesen werden. Lediglich die nubischen Könige, die in der 25. Dynastie über Ägypten herrschten, bauten noch Gräber in Pyramidenform. Diese waren jedoch außerhalb des traditionell zu Ägypten zählenden Reichsgebiets gelegen. In Ägypten selbst wurden im Neuen Reich Privatgräber mit kleinen pyramidenförmigen Aufbauten versehen. Literatur Allgemein Mark Lehner: Geheimnis der Pyramiden. ECON, Düsseldorf 1997, ISBN 3-572-01039-X, S. 190 ff. Hermann Schlögl: Das alte Ägypten. Beck, München 2008, ISBN 3-406-48005-5. Vorberichte zur Grabung Stephen P. Harvey: Abydos. (Volltext als PDF; 484 KB). In: The Oriental Institute 2002–2003 Annual Report. The Oriental Institute of the University of Chicago, Chicago 2003. Stephen P. Harvey: (MS Word; 2,3 MB). In: Tenth International Congress of Egyptologists. University of the Aegean, Rhodes 2008, S. 113. Julia Budka: The Oriental Institute Ahmose and Tetisheri Project at Abydos 2002–2004: The New Kingdom Pottery. (online). Stephen P. Harvey: Report on Abydos, Ahmose and Tetisheri Project, 2006-2007 Season. (online). Weblinks Alan Winston: Ahmose Pyramid at Abydos Jimmy Dunn: The Last Royal Pyramid in Egypt - An Update on the Pyramid of Ahmose William Harms: Abydos: A place with many ancient stories to tell Pyramid of Ahmose I at Abydos Einzelnachweise Anmerkungen Ägyptische Pyramide Erbaut im 16. Jahrhundert v. Chr. 18. Dynastie (Ägypten) Kenotaph Abydos (Ägypten)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Skigebiet%20Kreuzberg
Skigebiet Kreuzberg
Das Skigebiet Kreuzberg liegt auf der Nordseite des im bayerischen Teil der Rhön bei Bischofsheim gelegenen Kreuzbergs (). Es reicht von etwa 600 bis 900 Metern Höhe. In ihm befinden sich vier Skilifte mit Längen von 250 bis 1408 Metern, die elf Abfahrten mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden erschließen. Die Abfahrten haben Längen von 250 bis 3000 Meter und sind insgesamt etwa 15 Kilometer lang. Es handelt sich um das größte Skigebiet und aufgrund der Länge und Steilheit der Pisten um eines der anspruchsvollsten in der Rhön. Aufgrund ihrer Höhen- und Nordlage zählen die beiden oberen Skilifte (Rothanglift und der Blicklift) zu den schneesichersten Skiliften. Der Dreitannenlift ist der längste Skilift in der Rhön, er ist außerdem der längste Schlepplift mit dem größten Höhenunterschied in Deutschland außerhalb der Alpen. An das Gebiet mit Abfahrten schließen sich eine Skisprunganlage mit drei auch im Sommer benutzbaren Schanzen (Mattenschanzen), mehrere Langlaufloipen und Winterwanderwege an. Lage Das Skigebiet am Kreuzberg befindet sich im Naturpark Bayerische Rhön und im Biosphärenreservat Rhön, die zum Regierungsbezirk Unterfranken gehören. Das Skigebiet ist dadurch Naturschutzauflagen unterworfen, die teilweise in den hessischen Wintersportgebieten der Rhön nicht bestehen. Im Nord-Nordosten des Skigebiets liegt die Stadt Bischofsheim in der Rhön und im Südosten die Gemeinde Sandberg, beide im Landkreis Rhön-Grabfeld, im Westen der Markt Wildflecken, Landkreis Bad Kissingen. Der Nordhang des Kreuzberges, der überwiegend vom Skigebiet eingenommen wird, weist eine große Hangneigung auf und fällt zum Oberlauf der tief in das Gelände eingeschnittenen Brend, einem Zufluss der Fränkischen Saale, auf etwa 400 Meter über Normalnull ab. In etwa drei Kilometer horizontaler Entfernung werden über 500 Meter Höhenunterschied überwunden. Beschreibung Skilifte Im Skigebiet befinden sich die Schlepplifte Blicklift, Rothanglift, Dreitannenlift und Fischzuchtlift, die eine stündliche Beförderungskapazität von etwa 3600 Personen haben. Einkehrmöglichkeiten bestehen pistennah in der Drei-Tannen-Alm und in der Gemündener Hütte. Auch die Gaststätte im Kloster Kreuzberg, wo selbst gebrautes Bier ausgeschenkt wird, gehört noch zum Umfeld der Lifte. Drei der Skilifte, der Dreitannenlift, der Rothanglift und der Blicklift, firmieren unter dem Namen Skilifte Kreuzberg. Eigentümer der Lifte, die bei ausreichender Schneelage täglich geöffnet sind, ist die Familie Willert, Pächter ist Thomas Fuß aus Haselbach. Diese Skilifte enden in ähnlicher Höhenlage und geringem Abstand zueinander, so dass von einem Lift auf die Piste eines anderen gewechselt werden kann. So ist die Befahrung aller Pisten vom gleichen Einstiegspunkt aus nach und nach möglich. Der vierte Skilift, der Fischzuchtlift, ist eigenständig und bei entsprechender Schneelage an Wochenenden und in den Weihnachtsferien geöffnet. Pächter des Skilifts ist die Familie Enders. Blicklift Der Blicklift der Marke Doppelmayr, Baujahr 1958, ist der älteste Schlepplift in der Rhön und im nördlichen Bayern. Er überwindet bei einer Gesamtlänge von 600 Metern mit vier Portalstützen – jeweils zwei stehende Profile, die oben waagerecht miteinander verbunden sind und das Seil führen – einen Höhenunterschied von 110 Metern (780 bis 890 Meter über Normalnull). Der Lift befindet sich am Nordhang des Kreuzberges und bedient drei Abfahrten mit Längen von 620 bis 940 Metern und leichten bis mittleren Schwierigkeitsgraden. Der Skilift führt zur Bergkuppe am Bischofsheimer Blick, von dem der Name abgeleitet ist. Er wird durch einen Dieselmotor in der Talstation angetrieben. Die Personenbeförderung geschieht mit Doppellangbügeln aus Kunststoff – Gehänge mit langen Bügeln, an denen Haltegriffe für zwei Personen angebracht sind. Rothanglift Der Rothanglift der Marke Doppelmayr, Baujahr 1963, überwindet bei einer Gesamtlänge von 580 Metern mit sechs Portalstützen einen Höhenunterschied von 100 Metern (etwa 775 bis 875 Meter über Normalnull). Der Lift befindet sich am Nordwesthang des Kreuzberges und bedient drei Abfahrten mit Längen von 580 bis 890 Metern und leichten bis mittleren Schwierigkeitsgraden. Der Antrieb geschieht durch einen Dieselmotor in der Talstation. Die Liftbenutzer werden mittels Doppellangbügeln aus Kunststoff befördert. Dreitannenlift Der Dreitannenlift der Marke Doppelmayr, Baujahr 1964, ist der längste Skilift und überwindet bei einer Gesamtlänge von 1408 Metern auf 13 Portalstützen mit 318 Metern (von 575 bis auf 890 Meter über Normalnull) den größten Höhenunterschied im mitteldeutschen Raum. Der Lift befindet sich am Nordosthang des Kreuzberges und bedient vier leichte bis schwere Abfahrten mit Längen von 1460 bis 3000 Metern und laut DSV stellenweise über 40 Prozent Längs- und Quergefälle. Die Pisten sind die längsten und anspruchsvollsten in der Rhön. Der Antrieb geschieht durch einen Dieselmotor in der Talstation. Zur Personenbeförderung dienen Doppelkurzbügel aus Holz, die vom Liftpersonal den Benutzern gereicht werden. Fischzuchtlift Der Fischzuchtlift, Baujahr 1970, überwindet mit einer Gesamtlänge von 250 Metern einen Höhenunterschied von 50 Metern (590 bis 640 Meter über Normalnull). Die Talstation des Liftes befindet sich oberhalb der Dreitannenlift-Talstation, bei dessen zweiter Portalstütze. Die Personenbeförderung geschieht ohne Portalstützen mit niederer Seilführung, wobei das Seil in Gesäßhöhe eines Erwachsenen verläuft, an der Haltebügel angebracht sind. Er wird unabhängig vom Betrieb Skilifte Kreuzberg geführt. Die zugehörige Skipiste führt über den unteren Teil der Kanonenrohr-Abfahrt. Skisprungschanzen Im Skigebiet stehen auf etwa 600 Meter über Normalnull die Kreuzbergschanzen, auf denen seit 1952 gesprungen wird. Die im Jahre 1997 wiedererrichtete Schanzenanlage besteht aus drei Mattenschanzen (K-Punkte: 16, 30 und 50 Meter), die den neuesten FIS-Normen entsprechen und überwiegend vom Skisprungnachwuchs genutzt werden. Die Kreuzbergschanze ist die einzige Sprungschanze in der Rhön und in Unterfranken. Die drei Schanzen sind mit einem bis zum 4. Dezember 2012 gültigen Zertifikat beim Deutschen Skiverband (DSV) mit den Zertifikatsnummern DSV 190 (K-16), 191 (K-30) und 192 (K-50) gelistet. Die größte Veranstaltung auf den Schanzen fand vom 24. bis 26. Januar 1964 mit den Nordischen Winterspielen der bayerischen Skijugend statt. Die größte Weite, allerdings gestürzt, wurde mit 74 Metern von Henrik Ohlmeyer vom SC Bischofsgrün erzielt. Langlaufloipen Das Skigebiet ist von zwei Loipen für die klassische Skilanglauf-Technik durchzogen. Die Rundloipe Neustädter Haus (auch Kleine Schleife genannt) hat eine Länge von sieben Kilometern und liegt 630 bis 750 Meter über Normalnull hoch. Der Schwierigkeitsgrad ist „schwer“ und es werden 130 Höhenmeter überwunden. Die Rundloipe Kreuzberg (auch Große Schleife genannt) liegt auf 750 bis 820 Meter über Normalnull. Die Länge beträgt neun Kilometer, der Schwierigkeitsgrad ist „mittel“ bei ebenfalls 130 Höhenmetern. Die Einstiegspunkte zu den Loipen befinden sich beim Kloster Kreuzberg und beim Neustädter Haus. Rodelhänge Im Skigebiet befinden sich zwei Rodelhänge. Eine Bahn mit einer Länge von 300 Metern auf etwa 840 Meter über Normalnull befindet sich beim Gasthof Roth am Ende des Wanderweges Kniebreche, neben der Zufahrtsstraße zum Kloster Kreuzberg, ein weiterer Rodelhang unterhalb des Klostergartens am Kloster Kreuzberg auf etwa 880 Meter über Normalnull mit einer Länge von 250 Metern. Winterwanderwege Das Skigebiet ist von mehreren Winterwanderwegen durchzogen. Einer führt von Haselbach über vier Kilometer über die Kreuzbergschanze zum Gipfel, ein weiterer, 4,5 Kilometer langer, von Haselbach über das Neustädter Haus bis zum Sender Kreuzberg auf dem Gipfelplateau. Ein ebenfalls 4,5 Kilometer langer Winterwanderweg verbindet den Arnsberg mit dem Kloster Kreuzberg. Im unteren Bereich des Skigebietes befindet sich ein Rundwanderweg mit 4,1 Kilometer Länge, der von Haselbach über die Gästehäuser und das Caritasheim zurück nach Haselbach führt. Geschichte Der Skibetrieb am Kreuzberg begann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Skitouristen kamen an den Sonntagen mit einem Sonderzug der Deutschen Reichsbahn, dem Ski-Express, aus Schweinfurt und Würzburg zum Bahnhof in Bischofsheim angereist. Von dort ging es mit dem Bus oder zu Fuß in das Skigebiet am Kreuzberg. An besucherstarken Tagen pendelten bis zu sieben Busse zwischen Haselbach und dem Kreuzberg. Die Skifahrer fuhren talwärts auf nicht präparierten Pisten und schmalen, steilen Waldwiesen, Wieslich genannt, nach Haselbach. Mit dem Bus wurden die Skifahrer bis in die 1950er Jahre von Haselbach in das Skigebiet transportiert. Teilweise ging es auch nach der Abfahrt zu Fuß mit geschulterten Skiern wieder nach oben, so dass kaum mehr als drei Abfahrten am Tag möglich waren. In den Jahren 1932 und 1933 entstand im Skigebiet an der Fischzucht die erste Sprungschanze, die nach dem Zweiten Weltkrieg erneuert wurde. Im Jahre 1952 begann der Bau der Großen Kreuzbergschanze, die zur damaligen Zeit mit einem K-Punkt von 75 Metern eine der größten Schanzen in Deutschland war. Die Kleine Kreuzbergschanze mit einem K-Punkt von 38 Metern wurde in den Jahren 1953 bis 1954 direkt neben der großen gebaut. Im Sommer 1958 baute der Schreibfedern-Fabrikant Otto Willert aus Neuendorf bei Lohr am Main mit dem Blicklift den ersten Skilift am Kreuzberg, einen der ersten in Deutschland außerhalb der Alpen. Der Skilift, der für eine Bergauffahrt zweieinhalb Minuten benötigt, hatte ursprünglich zur Personenbeförderung Holzbügel. Später wurde der Lift mit Kunststoffbügeln ausgestattet. Der reguläre Skibetrieb begann am 4. Dezember 1958. Zu erreichen war der Lift zu Fuß von Haselbach aus. Die Piste wurde damals durch Festtreten des Schnees mit Skiern präpariert. Der Winter 1958/1959 war am Kreuzberg schneearm, so dass der Lift in der ersten Saison nur an 44 Tagen in Betrieb war. An den Betriebstagen war er stark besucht, die Gäste kamen aus dem weiteren Umland wie Aschaffenburg, Lohr am Main und Wertheim. Im Jahre 1963 wurde mit dem Rothanglift der zweite Skilift am Kreuzberg mit der Talstation in der Nähe der Zufahrtsstraße zum Kloster Kreuzberg in Betrieb genommen. Unterhalb der Talstation wurde ein Parkplatz angelegt, nun konnten die Skifahrer mit dem Kraftfahrzeug direkt in das Skigebiet fahren. Im Jahre 1964 wurde mit dem Dreitannenlift der längste Skilift in der Rhön gebaut. Zur Präparierung der Pisten wurde im Jahre 1968 erstmals eine Pistenwalze eingesetzt. Der Winter 1969/1970 war der bisher schneereichste in der Geschichte der Kreuzberglifte. Der erste Schnee fiel Mitte November 1969 und blieb bis Anfang April 1970 liegen. Die Lifte liefen in diesem Winter an 143 Tagen. Im Jahre 1970 wurde oberhalb der Talstation des Dreitannenlifts der Fischzuchtlift als Familienbetrieb eröffnet. Der RWV Haselbach richtete am 9. und 10. September 1978 die Grasski-Europameisterschaft mit den Disziplinen Slalom und Riesenslalom und Teilnehmern aus sieben Nationen am Kreuzberg aus. Im Februar 1988 fand das letzte Springen auf der Kleinen Kreuzbergschanze statt. Das Springen auf der Großen Kreuzbergschanze war bereits mehrere Jahre vorher eingestellt worden. In den Wintern 1981/1982 und 1983/1984 konnten die Kreuzberglifte mit 116 und 117 letztmals über 100 Betriebstage in einer Saison verzeichnen. 1986 pachtete Thomas Fuß die Skilifte. Ende der 1980er Jahre wurden die Winter am Kreuzberg immer schneeärmer. Im Winter 1988/1989 liefen die Lifte an sechs, 1989/1990 an 19 Tagen. Im Jahre 1997 wurden neue Sprungschanzen mit Konstruktionspunkten von 16, 30 und 50 Metern gebaut. Die beiden kleineren Schanzen wurden mit Matten belegt, so dass ein Springen im Sommer möglich wurde. Vom Sommer 2005 bis zum Frühling 2006 wurde die 50-Meter-Schanze ebenfalls mit Matten belegt. Der Winter 1998/1999 ermöglichte mit 57 Tagen die längste Betriebsdauer seit Ende der 1980er Jahre. Im Januar 2005 wurde am Blicklift ein Funpark für Snowboarder mit verschiedenen Sprungelementen eröffnet und 2006 eine neue Pistenraupe mit flexibler Fräse und breiter Spur angeschafft. Damit stehen drei Pistenfahrzeuge zur Verfügung. Der Winter 2005/2006 war einer der schneereichsten in der Geschichte der Kreuzberglifte. Der erste Schnee fiel Mitte November und blieb bis April liegen. Die Schneemengen reichten jedoch nicht an die des Winters 1969/1970 heran. Im Winter 2006/2007 waren die Lifte überhaupt nicht in Betrieb, weil es nicht genügend geschneit hatte. Der Winter 2008/2009 war in der Rhön schneereich. Die Lifte Rothang und Blick liefen bereits im November und mit Unterbrechungen bis zum Ende des Winters. Der Dreitannenlift hatte im Vergleich zu den Vorjahren ebenfalls viele Betriebstage. Siehe auch Skigebiete der Rhön Ski- und Rodelarena Wasserkuppe Loipenzentrum Rotes Moor Wintersportgebiet Simmelsberg Literatur Einzelnachweise Anmerkungen Weblinks Skilifte Kreuzberg Kreuzberg – Ein Lift statt sieben Busse bei Mainpost.de Wie der Kreuzberg zu seinen Skiliften kam bei Osthessen-News Wintersport (Rhön) Bischofsheim in der Rhön Sport (Landkreis Rhön-Grabfeld)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Palast%20Barberini
Palast Barberini
Der Palast Barberini, in jüngerer Zeit auch Palais Barberini genannt, war ein unter dem preußischen König Friedrich II. nach Entwürfen Carl von Gontards 1771 bis 1772 errichtetes klassizistisch-barockes Bürgerhaus in der Humboldtstraße 5/6 in Potsdam. Seine Hauptfassade ist zum Alten Markt mit dem Potsdamer Stadtschloss und der Nikolaikirche gerichtet. Seinen Namen erhielt das Gebäude nach dem vom König zum Vorbild bestimmten Palazzo Barberini in Rom. Die Potsdamer Nachschöpfung der italienischen Vorlage bildete den monumentalen südöstlichen Abschluss des Alten Marktes und gehörte zusammen mit dem ebenfalls von Gontard entworfenen benachbarten Noackschen Haus Humboldtstraße 4 zu den letzten unter Friedrich II. entstandenen Bauten rund um die Platzanlage. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Palaisbau nach Entwürfen von Ludwig Persius und Ludwig Ferdinand Hesse um zwei rückseitige, zur Havel gerichtete Seitenflügel erweitert und als Stätte des Potsdamer Kultur- und Vereinslebens genutzt. Beim Luftangriff am 14. April 1945 wurde der Palast Barberini weitgehend zerstört und die Ruine in der SBZ-Zeit abgerissen. Danach wurde das Grundstück lange als Grünfläche und Parkplatz genutzt. Im Zuge der Umgestaltung der Potsdamer Mitte mit dem Wiederaufbau des Stadtschlosses als Landtagsneubau und weiterer Gebäude in der Nachbarschaft erfolgte nach Spenden durch den Unternehmer Hasso Plattner von 2013 bis Ende 2016 eine äußerlich weitgehend am Original orientierte Wiedererrichtung des Palastes Barberini zur Nutzung als Kunsthaus Museum Barberini. Lage Das Grundstück des Palastes Barberini gehörte zum mittelalterlichen Siedlungskern der Stadt Potsdam im Umfeld des Havelübergangs und der am späteren Standort des Schlosses befindlichen Burganlage. Die Stadtansichten des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts zeigen die dichte Bebauung dieses Gebiets. Nähere Details zu den sicher vorhandenen Vorgängerbauten sind nicht bekannt. Das Gebäude stand auf der Südseite des Alten Marktes innerhalb des geschlossenen Straßenzuges der Humboldtstraße, der sich östlich der Platzanlage mit der Brauerstraße fortsetzte. Alte Karten zeigen die vom stadtseitigen Ende der Langen Brücke in nordöstlicher Richtung zum Alten Markt verlaufende Straßenführung, die nach dem Abriss der Stadtschlossruine 1960 und der Bebauung auf der Südseite verschwand. Das nunmehr in den Komplex des Alten Rathauses einbezogene so genannte Knobelsdorffhaus mit der ehemaligen Adresse Brauerstraße 10 gibt heute die Ecke dieses ansonsten ebenfalls verlorenen Straßenzuges und des Alten Marktes an. Die nordwestliche Begrenzung der auf Plänen des 18. Jahrhunderts als Schloss-Straße oder Schloss-Gasse bezeichneten Straße bildete ein Seitenflügel des Stadtschlosses, während die Bebauung mit Bürgerhäusern im Südosten mit ihren wirtschaftlich genutzten Seitenflügeln den Raum bis zur Havel einnahm. In Mangers Baugeschichte von Potsdam wird die Lage mit den Worten „am alten Markte unweit des Schlosses“ beschrieben. Im Zuge der nach 1806 erfolgten Einführung von Hausnummern in Potsdam erhielten die Häuser die Adresse „Am Schloss 5/6“, ab 1874 dann Humboldtstraße 5/6. Benennung Der Palast Barberini war das einzige in Potsdam nach fremder Vorlage errichtete Gebäude, das nicht nur kunsthistorisch gebildeten Kreisen, sondern auch dem breiten Publikum unter dem Namen seines Vorbildes geläufig war. Während eine 1754 an der Ecke Schlossstraße/Hohewegstraße errichtete Kopie des von Andrea Palladio entworfenen Palazzo Valmarana in Vicenza der Allgemeinheit als Plögerscher Gasthof oder Kommandantur bekannt war und die in der Breiten Straße befindliche Nachschöpfung eines Entwurfs von Inigo Jones für Whitehall Palace nach den Erstbesitzern Hiller-Brandtsche Häuser genannt wurde, blieb die Bezeichnung Palast Barberini bei den Potsdamer Einwohnern lebendig und war auch auf verschiedenen Stadtplänen so eingetragen. Eine Rolle mochte dabei eine Vermischung mit dem Namen der berühmten Tänzerin Barberina gespielt haben, die von Friedrich II. verehrt wurde und von 1744 bis 1749 an der Königlichen Oper in Berlin engagiert war. Zu dem Potsdamer Bauwerk gab es allerdings keine Verbindung. Die Bezeichnung Palais Barberini findet sich erst in Presseerzeugnissen und Veröffentlichungen jüngeren Datums, nicht aber in der stadtgeschichtlichen und kunsthistorischen Literatur über Potsdam. Palast als königlicher Städtebau Unter König Friedrich Wilhelm I. wurden weite Teile der Altstadt erneuert und mit schlichten Fachwerk- oder Massivbauten versehen. Sein Sohn Friedrich II. ließ diese Gebäude ab 1748 nach und nach durch prächtigere Häuser ersetzen. Dies geschah ausgehend vom Stadtschloss und ausschließlich nach aus dem Blickwinkel des Königs entwickelten Vorgaben und oftmals nach ausländischen Vorbildern, die von Friedrich II. ausgewählt wurden. Dabei war es zweitrangig, ob die vom König aus der Literatur ausgewählten Vorlagen am Originalstandort auch realisiert worden waren. Einen Schwerpunkt bildeten Bauten der italienischen Renaissance und des Manierismus, aber auch englische und französische Bauten wurden für die Potsdamer Verhältnisse adaptiert. Da diese Vorbilder ursprünglich für völlig andere Zwecke und Bewohnerschichten geplant worden waren, zeigten sich immer wieder eklatante Widersprüche zwischen den Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten der bürgerlichen Nutzer und dem königlichen Repräsentationswillen, zumal der König auch noch zur größtmöglichen Sparsamkeit drängte: „Wenn doch große Herren, besonders solche, die außer ihrem Vergnügen zugleich zum Besten ihrer Unterthanen bauen, nicht so sehr auf armselige Ersparungen sehen wollten! wie groß würde in der Folge der Vortheil für dieselben sein! besonders in Potsdam, wo für arme Bürger Palläste erbauet werden, deren Unterhalt öfters mehr beträgt, als der ganze Nutzen der Vermiethung und des Erwerbes.“ Als 1771 bis 1772 der Palast Barberini erbaut wurde, war die Umgestaltung der übrigen Platzfronten des Alten Marktes lange abgeschlossen und die Erneuerung weiter entfernter Stadtviertel bereits im Gange. Lediglich das südwestlich anschließende Haus Humboldtstraße 4 wurde erst 1777 neu gebaut. Das nach dem Vorbild des von Michele Sanmicheli um 1530 entworfenen Palazzo Pompei in Verona errichtete Haus Humboldtstraße 3 entstand bereits 1754, ebenso die in nordöstlicher Richtung anschließende Häuserzeile der Brauerstraße 1–6. Friedrich Mielke vermutet, dass der König über keine adäquate Vorlage verfügte, die der städtebaulich exponierten Lage entsprochen hätte. Außerdem kam durch den Siebenjährigen Krieg (1756–1763) das Baugeschehen in Potsdam weitestgehend zum Erliegen. Darüber hinaus mag es eine Rolle gespielt haben, dass die oben genannten Nachbarbauten vom Schloss aus eher überblickt werden konnten: Das Haus Humboldtstraße 3 lag gegenüber einer Durchfahrt zum Schlosshof, während die Häuserzeile Brauerstraße 1–6 vom Fortunaportal aus eher einzusehen war als die eigentliche Südseite des Marktes. Nach den Kriegszerstörungen und Abrissen in der Folgezeit haben sich in Potsdam lediglich das Alte Rathaus von 1753 sowie das benachbarte Haus Brauerstraße 10 und die 1769 nach Plänen Georg Christian Ungers errichteten Hiller-Brandtschen Häuser in der Breiten Straße als Beispiele der Nachahmung ausländischer Vorbilder erhalten. Der Palast Barberini stand zeitlich am Ende der Epoche kopierter Palastfassaden. In den 1770er und 1780er Jahren kam es in Potsdam mit den Arbeiten Ungers, Andreas Ludwig Krügers, Johann Gottlob Schulzes und anderer zu einer eigenständigen Entwicklung spätbarocker Bürgerhäuser, die in Aussehen und Funktion den Anforderungen der Nutzer entsprachen. Entwurf Der Entwurf des vom Zimmermeister Naumann und dem Gastwirt Berkholz bewohnten Hauses wird Carl von Gontard zugeschrieben, wobei auch eine Mitarbeit Georg Christian Ungers in Erwägung gezogen wird. Als Vorbild diente den Architekten der ab 1625 erbaute Palazzo Barberini in Rom, der nach Entwürfen von Carlo Maderno, Gianlorenzo Bernini und Francesco Borromini entstanden war und den Gontard höchstwahrscheinlich aus eigener Anschauung kannte. Mielke führt weiterhin Parallelen zu einer Abbildung in Paul Deckers Vorlagenwerk Fürstlicher Baumeister… vom Anfang des 18. Jahrhunderts an, die unter dem Einfluss des römischen Baus entstand und die Friedrich II. aus seiner Bibliothek bekannt war. Baubeschreibung Beim Palast Barberini handelte es sich um zwei hinter einer einheitlichen Fassade zusammengefasste dreigeschossige Bürgerhäuser, die auf königliche Kosten anstelle schlichterer Vorgängerbauten errichtet worden sind, um dem Alten Markt das vom König gewünschte repräsentative Aussehen zu geben. Die Fassade verfügte über dreizehn Fensterachsen, von denen die mittleren fünf einen weit vorspringenden Risalit bildeten, der sich durch seine Architektur deutlich von den jeweils vierachsigen, in der Straßenflucht liegenden Seitenflügeln unterschied. Der Mittelrisalit war durch eine geschossweise vorgelegte Gliederung aus toskanischen, ionischen und korinthischen Säulenordnungen akzentuiert. Im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss waren diese als Dreiviertelsäulen ausgebildet. Das zweite Obergeschoss erhielt dagegen eine Gliederung durch Pilaster, wobei diese noch durch jeweils zwei hinterschoben erscheinende halbe Pilaster begleitet wurden. In den Rücklagen der Obergeschosse erschienen große Rundbogenfenster, während das Erdgeschoss des Risalits in Bogenstellungen geöffnet war. Das Mittelfenster des ersten Obergeschosses erhielt einen Altan mit Balusterbrüstung auf zwei vor der Fassade stehenden Vollsäulen. Die jeweils vierachsigen Seitenflügel nahmen die Gliederung des Risalits in vereinfachter Form auf. Hier erfolgte diese im Erd- und ersten Obergeschoss durch flache Lisenen, während im zweiten Obergeschoss die glatte Wandfläche dominierte. Zusätzlich zu den drei Hauptgeschossen verfügten die unteren beiden Etagen in den Seitenflügeln noch über jeweils ein niedriges Mezzaningeschoss, das sich in gerahmten querrechteckigen Fenstern zur Straße öffnete. Die Fenster der Hauptgeschosse hatten im Erdgeschoss gerade, in den Obergeschossen abwechselnd angeordnete dreieckige und segmentbogige Verdachungen. Den oberen Abschluss bildete eine Attika, die im Risalit mit Balustern versehen und mit Vasen bekrönt war. Durch die Attika wurde das flache Satteldach des Hauses weitgehend verdeckt. Die zur Havel gelegene Rückseite der Bürgerhäuser war zur Zeit ihrer Errichtung schlicht ausgebildet und nicht durch eine besondere Architektursprache hervorgehoben, da sich hier lediglich untergeordneten Zwecken dienende Wirtschaftsgebäude befanden. Die beiden im 19. Jahrhundert im Zuge der Umnutzung der Gebäude rückseitig angebauten langen Seitenflügel von jeweils zwölf zu drei Achsen folgten in ihrer Geschossteilung und Formensprache den straßenseitigen Flügeln. Allerdings wurde hier auf die Ausbildung einer Attika verzichtet. Unter dem flachen abgewalmten Dach war eine Gesimszone mit kleinen Öffnungen zum Dachboden angeordnet. Über Fensterverdachungen verfügten hier lediglich die drei Achsen der Längsseiten an den havelseitigen Enden sowie die Stirnseiten der Flügel, so dass der Eindruck von Kopfbauten entstand. Die Rückseite des Mittelbaus erhielt eine dem straßenseitigen Mittelrisalit entsprechende repräsentative Fassadengliederung. Über die Aufteilung der Innenräume zur Erbauungszeit des Hauptbaus 1771 bis 1772 ist mangels erhaltener Unterlagen nichts bekannt. Beim Um- und Erweiterungsbau zwischen 1845 und 1849 wurden die vorher im Hauptbau untergebrachten Wohnungen in die neuen Seitenflügel verlegt, im Erdgeschoss des Mittelbaus eine den gestiegenen Repräsentationsanforderungen entsprechende Durchfahrt mit Säulenstellungen geschaffen und in dessen Obergeschossen mehrere reich verzierte Säle eingebaut. Der havelseitige Hof zwischen den Seitenflügeln war gärtnerisch gestaltet. Eine breite Freitreppe führte von hier an das Flussufer. Die auf der Grundrisszeichnung des 19. Jahrhunderts erkennbaren L-förmigen Nebengebäude, welche symmetrisch in der Verlängerung der Seitenflügel angeordnet waren und Ställe und Toiletten enthielten, sind später durch Pergolen ersetzt worden. Ausführung Zur Zeit der Errichtung des Palasts Barberini war es in Potsdam üblich, dass die von den königlichen Umgestaltungsmaßnahmen betroffenen Bewohner im Frühjahr ihre alten Häuser verließen und den Neubau im Herbst beziehen konnten. Der 1771 begonnene Bau dagegen zog sich aufgrund der Größe des Vorhabens bis in das Jahr 1772 hin. Zudem berichtet Manger, dass die beiden hinter der monumentalen Fassade befindlichen Häuser von unterschiedlichen Werkmeistern ausgeführt worden sind, wobei es an einem Teil wegen nachlässiger Arbeit während der Bauzeit zu einem Einsturz kam, bei dem „etliche [Arbeiter] auf der Stelle todt blieben“. Der König habe ungnädig auf den Fall reagiert, „und doch ging seine Milde so weit, daß er nicht eher wieder in diese Gegend kam, bis alles in fertigen Stand gesetzt war, damit er alsdenn seine Zufriedenheit über die Ausführung bezeugen konnte“. Vorbild Palazzo Barberini (Rom) Das vom König ausgewählte Vorbild ist ein monumentaler Barockpalast, der im Gegensatz zu anderen Beispielen der römischen Palastarchitektur frei auf einem großen Grundstück steht und nicht in einen Straßenzug oder in eine Karreestruktur eingebunden ist. Daher wurde hier der Mittelbau von zwei vorspringenden Seitenflügeln eingefasst, die einen Ehrenhof bilden. In Potsdam wurden stattdessen die Seitenflügel zurückgesetzt, um den hier fünf- statt siebenachsigen Mittelrisalit im Straßenraum der Humboldt- und Brauerstraße als Blickpunkt wirken zu lassen. Außerdem hätte die Ausbildung einer Ehrenhofsituation die ohnehin unregelmäßige Platzfigur des Alten Marktes weiter verunklärt und auch nicht Potsdamer Baugepflogenheiten entsprochen. Der Palazzo Barberini in Rom besitzt keine Mezzaningeschosse. Diese wurden in Potsdam eingefügt, um das für Bürgerhäuser überdimensionierte Bauvolumen ausnutzen zu können, aber auch, um die Heizkosten der großzügig bemessenen Räume zu senken. Allerdings resultierten aus den niedrigen Zwischengeschossen der nach fremden Vorlagen erbauten Potsdamer Bürgerhäuser oftmals auch sehr unzureichende Wohnbedingungen. In Potsdam wurde das Dach durch eine Attika verdeckt, während es beim Palazzo Barberini in Rom direkt über dem Hauptgesims ansetzt und noch über Aufbauten verfügt. Schließlich wurde bei der Potsdamer Nachschöpfung auf eine architektonische Gestaltung der Rückseite verzichtet, die beim Vorbild als malerische asymmetrische Gartenfront ausgebildet ist. Die Nennung des römischen Vorbilds erfolgte nicht immer korrekt. Friedrich Nicolai beschreibt 1786 das „Schulzische und Dieckowsche Haus, eine Nachahmung des Palazzo Borghese zu Rom“, wobei er mit der namentlichen Erwähnung der Bewohner zugleich einen frühen Eigentümerwechsel dokumentiert. Manger wiederholt bei der Beschreibung des Baus die Angaben Nicolais. Erst bei der Abhandlung des benachbarten Hauses Humboldtstraße 4 erscheint in Mangers Baugeschichte die Bezeichnung „Palast Barberini“. Die straßenseitigen Seitenflügel wurden seitdem wiederholt mit dem Palazzo Borghese in Verbindung gebracht. Allerdings schreibt Andreas Ludwig Krüger bereits 1779, dass Unger nach dem Vorbild des Palazzo Barberini gezeichnet habe und die seitlichen Flügel „dazu komponirt“ seien, so dass der namengebende Palazzo als einziges Vorbild erscheint. Die Architektur der Seitenflügel und insbesondere die Anordnung der Zwischengeschosse orientieren sich allerdings stark am Palazzo Borghese, so dass auch eine Kompilation beider römischer Bauten vorliegen könnte. Der Palast Barberini lehnte sich in seiner Gestaltung zwar eng an ein knapp 150 Jahre zuvor entstandenes römisches Vorbild an, fügte sich aber dennoch in die Potsdamer Bürgerhausarchitektur und das nach italienischen Vorlagen gestaltete Ensemble des Alten Marktes ein. Das kann zum einen mit der eher klassizistischen Grundhaltung des römischen Palazzo, die auf spektakuläre Schwünge und dramatische Kontraste verzichtet, zum anderen mit der nahezu ausschließlich tektonischen statt dekorativen Gliederung des Baukörpers erklärt werden. Zerstörung und Abriss Beim westalliierten Luftangriff auf Potsdam am 14. April 1945 und den folgenden Artilleriegefechten mit der Roten Armee wurde der Palast Barberini schwer beschädigt und brannte aus. Ein von verschiedenen Seiten geforderter Wiederaufbau erfolgte aufgrund der schweren Schäden nicht; die Ruine wurde am 24. März 1948 zusammen mit dem Palasthotel gesprengt. Der unausgeführte Wiederaufbauplan für Potsdam von 1952 zeigt auf den freigeräumten Grundstücken des Palastes Barberini und der ebenfalls zerstörten Nachbarhäuser einen „Skulpturenhain“, der wohl zur Aufstellung der von den kriegszerstörten Häusern stammenden Bildwerke bestimmt war. Während der DDR-Zeit diente die Fläche trotz verschiedener Pläne zum Bau kultureller Einrichtungen wie Theater oder Stadthalle als Grünanlage und Parkplatz. An der Havel entstand eine Uferpromenade. Von 1994 bis 2006 befand sich auf dem Grundstück des Palastes Barberini die Interimsspielstätte des Hans-Otto-Theaters. Rekonstruktion Im Zusammenhang mit der Neugestaltung des alten Potsdamer Stadtzentrums und der Neuerrichtung des Stadtschlosses als Sitz des Brandenburger Landtages wurde auch die ehemalige Humboldtstraße wieder bebaut und der Alte Markt nach Süden geschlossen. Der Palast Barberini war hierbei als „Leitbau“ zur am Original orientierten Wiederherstellung vorgesehen, auch wenn sich in unmittelbarer Nachbarschaft mit Rathaus, Knobelsdorffhaus und St.-Nikolai-Kirche maßstabsbildende Originalsubstanz erhalten hat. Mit dem Beschluss des brandenburgischen Landtags von 2005, der einem Bürgerentscheid folgte, wurde die Wiedererrichtung des Potsdamer Stadtschlosses am Alten Markt entschieden und zugleich die öffentliche Debatte um die „Wiedergewinnung“ der historischen Mitte Potsdams angestoßen. In Workshops unter der Beteiligung von Fachleuten und Bürgerinitiativen wurde das Integrierte Leitbautenkonzept Potsdamer Mitte entwickelt und am 1. September 2010 von den Stadtverordneten als Vorgabe für den Bieterwettbewerb für den Verkauf städtischer Grundstücke an Havelufer und Alter Fahrt beschlossen. Den Zuschlag für den Palast Barberini erhielt der Berliner Unternehmer Abris Lelbach, der mit der Hasso-Plattner-Förderstiftung als Partnerin mit dem Leitbau auf dem Grundstück Humboldtstraße 5/6 ein Museum für die Kunstsammlung Hasso Plattners errichtet. Als Architekt des Museumsgebäudes in der Gestalt des rekonstruierten Palast Barberini zeichnet Thomas Albrecht aus dem Büro Hilmer & Sattler und Albrecht verantwortlich. Das Leitbautenkonzept schrieb die Rekonstruktion der Platzfassaden und der Hoffassade des Mittelbaus sowie die Einhaltung der ursprünglichen Kubatur des Gebäudes vor. Die wiederherzustellenden Fassaden wurden unter Einsatz traditioneller Handwerkstechniken gefertigt. Die Elbsandsteine für Säulen und Fassadenschmuck stammen wie schon beim Ursprungsbau aus Sachsen (Posta) und Böhmen (Königgrätz). Eine weitere handwerkliche Besonderheit ist die Herstellung der Säulen und Decken in der Eingangshalle aus Rabitzputz, bei dem mit Formlehren der Gipsputz über einem Traggeflecht zu Flächen und Ornamenten ausgezogen wird. Am 17. April 2015 wurde für das neue Gebäude Richtfest gefeiert. Im November 2015 war der Rohbau einschließlich der Fassade fertig; die Fertigstellung des Innenausbaus wurde 2016 abgeschlossen. Nutzung 19. und 20. Jahrhundert Ab 1845 wurde der Palast Barberini im Auftrag König Friedrich Wilhelms IV. durchgreifend umgebaut. Der König verfolgte bereits seit 1843 Pläne, das Havelufer durch die Umgestaltung der unansehnlichen Gebäuderückseiten in seine Verschönerungspläne für Potsdam einzubeziehen. Er kaufte zu diesem Zweck das Haus allerdings nicht selbst, sondern unterstützte die ebenfalls am Erwerb interessierten Potsdamer Maurermeister Christian Heinrich Zech (1798–1858) und Adolph Wilhelm Hecker (1805–1870) mit 80.000 Talern. Sie erstanden das Gebäude für 27.300 Taler und nahmen mit dem übrigen Geld die umfangreichen Umbauten vor. Dabei verpflichteten sich die Eigentümer, dem „Kunst- und Wissenschaftlichen Verein“ Räume im umgestalteten Vorderhaus unentgeltlich auf „ewige Zeiten“ zur Nutzung zu überlassen. Die von Ludwig Persius 1844 ausgearbeiteten Pläne, die vom König mehrfach geändert wurden, genehmigte Friedrich Wilhelm IV. am 1. Januar 1845 zur Ausführung. Die ehemals geteilten Gebäude hinter der Palastfassade wurden zusammengelegt, eine von Treppen flankierte repräsentative Durchfahrt zum Hof geschaffen, je ein Saal mit Nebenräumen im zweiten und dritten Geschoss angelegt und die beiden rückwärtigen Seitenflügel zur Wohnnutzung angebaut. Nach Persius’ plötzlichem Tod 1845 übernahm zunächst Friedrich August Stüler die Aufsicht über den Bau. Ab 1847 war der zum Hofbaurat ernannte Ludwig Ferdinand Hesse für die noch ausstehende Gestaltung der reich dekorierten Innenräume verantwortlich. 1851 wurden die Räumlichkeiten den Potsdamer Vereinen zur Nutzung übergeben. Zur Anlage eines vom König gewünschten Promenadenwegs am Havelufer kam es nicht, da die Eigentümer der benachbarten Grundstücke hohe Preisforderungen stellten. Ein von Friedrich Wilhelm IV. erdachter Abschluss des zum Fluss hin offenen Hofes durch eine Arkadenhalle unterblieb ebenso aus finanziellen Gründen, auch wenn der König die Kostenübernahme für den Bau auch zu einem späteren Zeitpunkt garantierte. Für die Eigentümer wurde die Investition in den Aus- und Umbau des Palastes Barberini allerdings zum Verlustgeschäft, denn sie beantragten beim König wiederholt Unterstützungsgelder „zur Deckung des mehrverwandten Capitals“. 1877, 1880 und 1891 fanden Eigentümerwechsel statt. 1912 kaufte die Stadt Potsdam das Gebäude und richtete 1916 Büroflächen für die Stadtverwaltung darin ein. In den 1930er Jahren wurde der rechte Seitenflügel als Jugendherberge genutzt; ab 1938 diente auch der linke Flügel diesem Zweck. 21. Jahrhundert Seit seiner Rekonstruktion im Jahre 2017 beherbergt das Haus das Museum Barberini. Neben wechselnden Sonderausstellungen mit dem Schwerpunkt Impressionismus stellt dieses dauerhaft eine Sammlung von Kunst der Deutschen Demokratischen Republik und Kunst nach 1989 aus. Die gemeinnützige Organisation Stadtbild Deutschland verlieh dem Wiederaufbau des Palastes Barberini als Kunstgalerie den Titel „Gebäude des Jahres 2016“. Literatur Astrid Fick: Potsdam – Berlin – Bayreuth. Carl Philipp Christian von Gontard (1731–1791) und seine bürgerlichen Wohnhäuser, Immediatbauten und Stadtpalais. Imhof, Petersberg 2000, ISBN 3-932526-42-2. Heinrich Ludwig Manger: Heinrich Ludewig Manger’s Baugeschichte von Potsdam, besonders unter der Regierung König Friedrichs des Zweiten. Zweiter Band. Berlin und Stettin 1789; . Reprint Leipzig 1987. Friedrich Mielke: Das Bürgerhaus in Potsdam. Tübingen 1972, ISBN 3-8030-0017-3 und ISBN 3-8030-0016-5. Friedrich Mielke: Potsdamer Baukunst. Berlin 1998, ISBN 3-549-05668-0. Ludwig Persius – Architekt des Königs, Baukunst unter Friedrich Wilhelm IV. Hrsg. von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam 2003, ISBN 978-3-7954-1586-0. Andreas Kitschke (Hrsg.): Ludwig Ferdinand Hesse (1795–1876). Hofarchitekt unter drei preußischen Königen. 1. Auflage. Deutscher Kunstverlag, München 2007, ISBN 978-3-422-06611-3. Karin Carmen Jung: Potsdam. Am Neuen Markt. Ereignisgeschichte, Städtebau, Architektur. Gebrüder Mann, Berlin 1999, ISBN 3-7861-2307-1. Weblinks Museum Barberini Webseite zum Entwicklungskonzept Potsdamer Mitte mit Havelufer und Alter Fahrt Umfangreicher Artikel zur Baugeschichte des Potsdamer Palastes Barberini Foto des Palastes Barberini, Wasserseite von 1934. museum-digital: brandenburg: Zeichnungen und Fotos des Palastes Barberini, Wasserseite 1936 Einzelnachweise Wohngebäude in Potsdam Abgegangenes Bauwerk in Brandenburg Palast Barberini Palast Barberini Barberini Erbaut in den 1770er Jahren Zerstört in den 1940er Jahren Zerstört im Zweiten Weltkrieg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20Tr%E2%80%99ondek%20Hwech%E2%80%99in%20First%20Nation
Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation
Die Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation, einer der kanadischen First Nations der Athabasken im Territorium Yukon, reicht ihrer eigenen Anschauung nach mehr als zehn Jahrtausende zurück. Sie betrachten sich seit unvordenklichen Zeiten als Teil des Landes entlang des Yukon (Chu Kon’ Dëk) und Klondike Rivers (Trʼondëk). Da traditionell die Angehörigen dieser indianischen Gruppe im Gebiet rund um Dawson lebten und leben, wurden sie früher auch Dawson Indian Band genannt. Sie sind zumeist Nachfahren der größten Lokalgruppe der südlichsten regionalen Band der Han (Hän Hwëch'in) („Volk, das am Fluss – dem Yukon River – lebt“) zur Zeit des Klondike-Goldrausches und wurden daher oftmals auch nach dem einflussreichsten Häuptling Isaac als Chief Isaac People, Isaac’s Band bezeichnet. Zusammen mit einer allerdings kleinen Gruppe im Alaska Native Village namens Native Eagle Village nahe der Stadt Eagle (Tthee T’äwdlenn) im Osten Alaskas sprechen sie gemeinsam die Sprache Häɬ goɬan bzw. Han. 1995 wählte die First Nation den heutigen Namen als offizielle Bezeichnung; er leitet sich vom Autonym Tr’ondek Hwech’in bzw. Tr’ondëk Hwëch’in („Volk entlang des Klondike River“) her, das sich von der Bezeichnung für den Klondike River als Trʼondëk (abgl. von Tro – „Schlagsteine, zur Befestigung der Stecken der Lachswehre“ und Ndëk – „Fluss“) sowie von Hwech’in / Hwëch’in („Volk“; wörtlich: „Bewohner einer Gegend“) ableiten lässt. Heute identifizieren sie sich jedoch nach ihrem einst bedeutenden Hauptort Tr’ochëk („Mündung des Klondike River“, an der gegenüberliegenden nördlichen Flussseite befindet sich Dawson) als „Volk an der Mündung des Klondike River“. Dem rauen Klima des kanadischen Nordwestens passten sich die Indianer im Rahmen einer halb-nomadischen Lebensweise an, die auf festen Winterdörfern mit Vorratswirtschaft und Wanderzyklen entsprechend den Jagd- und Sammelressourcen basierte. Der Fischfang, vor allem auf Lachse, und die Jagd auf Karibus lieferten den überwiegenden Teil der Lebensmittel, aber auch der Kleidung und einiger Werkzeuge. Teile dieser Werkzeuge, wie Obsidian, aber auch des Schmucks, wie bestimmte Muschelarten, wurden schon früh über ein Netz von weitläufigen Tausch-, Geschenk- und Handelskontakten aus Alaska, dem Norden British Columbias, von Vancouver Island und aus den Nordwest-Territorien beschafft, ebenso wie Kupfer. Pfeil und Bogen lösten den Atlatl wohl erst ab etwa 600 ab. Europäische Händler, die nach 1800 mit dem ausgedehnten Netz von Pfaden, Kontakten und Gütern in Berührung kamen, wurden mehrere Jahrzehnte lang in dieses Netz integriert, wenn auch zunehmend der über die Weltmächte, allen voran Russland und Großbritannien, später die USA, vermittelte Welthandel mit seinen weiträumigen Interessen dominierte. Spätestens 1847 traten die Han erstmals in direkten Kontakt mit Briten. 1874 forderten sie eine amerikanische Handelsgesellschaft auf, einen Posten in ihrer Nähe zu errichten. Dabei konkurrierte die britische Hudson’s Bay Company zunächst mit russischen Pelzhändlern und ab 1867, nachdem die USA Alaska erworben hatten, mit amerikanischen Gesellschaften, vor allem der Alaska Commercial Company. Als besonders folgenreich erwies sich jedoch weniger der Handel als die mangelnde Abwehrkraft der Han gegen die von Europäern eingeschleppten Krankheiten, wie Pocken, Masern und Tuberkulose – ein Phänomen, das die meisten Indianer betraf. Neben Pelzhändlern sickerten zunehmend Goldsucher in die Region ein, was die Lebensbedingungen in dem abgelegenen Gebiet weiter veränderte. Der Klondike-Goldrausch brachte ab 1896 eine so massive Zuwanderung, dass die Han zur kleinen Minderheit von wenigen hundert Menschen wurden, denen bis zu 100.000 Zuwanderer gegenüberstanden. Dazu kam die Entwicklung einer städtischen Gesellschaft und die Umsiedlung nach Moosehide, einige Kilometer von Dawson entfernt, wo der Stamm zwischen 1897 und etwa 1960 lebte. Herausragender Führer in dieser Phase war Chief Isaac, der 1932 starb. Er wehrte sich gegen die Zerstörung der für die traditionelle Lebensweise unverzichtbaren natürlichen Ressourcen, vor allem gegen das Abschlachten der Karibuherden und die Abholzung der Wälder. In Moosehide entstand ein Stammesrat und das traditionelle Häuptlingstum wurde durch gewählte Häuptlinge abgelöst. Die Rohstoff-Ökonomie des Yukon bot den Han nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten, zumal diese mit der Weltwirtschaftskrise einbrach. So herrschte lange der traditionelle Lebensstil vor, der erst mit dem starken Rückgang des Pelzmarkts um 1950 zunehmend aufgegeben werden musste. Zudem war der Anteil der nichtindianischen Bevölkerung nach dem Goldrausch stark rückläufig. Verstärkt wurde die Isolierung der indianischen Gruppen im Territorium durch eine ausgeprägte Politik der Segregation, aber auch durch Vernachlässigung bis weit in die 1960er Jahre. Seitdem gelang es den First Nations nicht nur, politische Rechte, wie das Wahlrecht auf Bundesebene (1960) zu erhalten, sondern im Yukon gelang es den Tr’ondek Hwech’in wie anderen Stämmen auch, die Rückgabe ihrer traditionellen Gebiete, mit stark abgestuften Rechten, durchzusetzen (1998). Zudem hat sich die First Nation 1998 eine Verfassung gegeben und tritt seither nach innen mit gesetzgeberischen Rechten auf. Sprache und Kultur werden extensiv gepflegt und der externen Öffentlichkeit bekannt gemacht, nachdem die kanadische Regierung mehrere Jahrzehnte lang versucht hatte, sie auszulöschen. Sie sind inzwischen bedeutende Elemente des regionalen Tourismus geworden. Frühgeschichte Wichtigster archäologischer Fundplatz ist Tr’ochëk, eine Insel, die heute zu den nationalen historischen Stätten Kanadas gehört, und die direkt gegenüber von Dawson liegt. Früheste Lebensgrundlage waren die Karibuherden, vor allem die Porcupine- und die Forty-Mile-Herde, die zweimal pro Jahr durch das Gebiet um Dawson zogen. Erstere umfasst heute über 100.000 Tiere, letztere wird für die Zeit um 1900 auf 600.000 Tiere geschätzt. 2007 wurde die Herde auf 110.000 bis 112.000 Tiere geschätzt, bis 2010 stieg ihre Zahl auf 169.000. Dazu kamen Elche, Schafe, Murmeltiere und Alaska-Pfeifhasen sowie Vögel und Fische, vor allem Lachse aus den großen Flüssen des Gebiets, dem Yukon und dem Klondike – letzterer Name leitet sich vom Han-Wort für Schlagstein, im Englischen Hammerstone ab. Die Lachse, vor allem Chinook (Königslachs) und später im Jahr Chum (Ketalachs), zogen zum Laichen den Yukon und seine Nebenflüsse aufwärts und boten ab Ende Juni Gelegenheit zum gemeinschaftlichen Fang. Schon früh wurden die Fische auf Holzgestellen getrocknet und so für den überaus kalten Winter konserviert. Die frühesten gesicherten Funde im Bereich des Yukon stellen die drei Bluefish-Höhlen dar, deren Fundbestand mindestens 12.000 Jahre zurückreicht. In Moosehide und im Bereich des späteren Dawson lassen sich rund 8.000 Jahre alte menschliche Spuren nachweisen. Dabei handelt es sich um Steinabschläge, die sich in rund 50 cm Tiefe fanden. Die älteste Spur ist jedoch ein Stück eines Karibugeweihs, das etwa 11.000 Jahre alt ist, und das an einem Nebenfluss des Klondike gefunden wurde, dem Hunker Creek. In dieser frühen Phase war die Region noch weitgehend unbewaldet. Um 5000 v. Chr. wurden die bis dahin verbreiteten massiven Werkzeuge durch Kompositwerkzeuge ersetzt, bei denen Knochen, Geweih und sehr kleine Klingen, sogenannte Microblades, zu Werkzeugen verbunden wurden. Die ältesten Spuren in Moosehide konnten auf 3600 v. Chr. datiert werden, möglicherweise auch auf 4500 v. Chr. Zudem wurde dort Obsidian gefunden, eine Art vulkanischen Glases, das bereits auf einen weiträumigen Handel hindeutet, denn es kommt in der Region nicht vor, sondern nur im Südwesten des Yukon und im Norden British Columbias, am Mount Edziza. Darüber hinaus wurden lanzettartige Speerspitzen gefunden, Bruchstücke von Säugetierknochen, dazu ein Stein, der wahrscheinlich als Netzsenker beim Fischfang diente. Um 3000 bis 2500 v. Chr. wurden die Microblades von seitwärts eingekerbten Speerspitzen, sowie einer breiten Palette von Kratzern ersetzt. Als Jagdwaffe wurde der Atlatl von Eskimos übernommen. Die jährlichen Laichzüge der Lachse förderten saisonale Wanderungen zwischen den entsprechenden Fangplätzen. Diese Phase wird als Northern Archaic tradition bezeichnet. Funde aus der Zeit um 600 n. Chr. weisen erstmals auf den Gebrauch von Pfeil und Bogen hin. Die partiell steinernen Waffen und Werkzeuge waren nicht die einzige erkennbare technologische Neuerung, sondern es kamen metallurgische Techniken hinzu. Diese basierten auf dem einsetzenden Handel mit Kupfer, einem Metall, das aus dem Südwesten, genauer vom Copper und vom White River kam. Im Gebiet des White River, nahe der Grenze zwischen Alaska und Yukon, ereigneten sich um 100 und erneut um 800 n. Chr. zwei der größten Vulkaneruptionen Nordamerikas. Sie löschten wohl das Leben auf einer Fläche von rund 340.000 km² im Südosten Alaskas und im südlichen Yukon weitgehend aus. Das unbewohnbare Gebiet dürfte den äußersten Norden, und damit auch die Vorfahren der Han, von Kontakten nach Süden abgeschnitten haben. Diesen Katastrophen folgte die als Late Prehistoric (späte Vorgeschichte) bezeichnete Phase, in der eine langsame Neubesiedlung zu verzeichnen ist. Kupfer wurde zu verschiedenen Werkzeugen, wie Ahlen und Projektilspitzen verarbeitet, aber auch zu Schmuck. Dentalia-Muscheln (Gehäuse von Kahnfüßern) und Obsidian, aus dem Werkzeuge und Projektilspitzen gefertigt wurden, kamen zu den Tr’ondek Hwech’in. Sie boten dafür Birkenrinde, aus der Körbe und wasserdichte Gefäße hergestellt wurden, roten Ocker zum Färben und getrockneten Lachs. Dieser Handel dürfte jedoch nur partiell auf Tauschhandel basiert haben, sondern vielfach auf Gabentausch, der der Respektsbezeugung und der Sicherung des Status diente. Dazu boten Zusammenkünfte und Feierlichkeiten, wie der Potlatch, Gelegenheit. Dem Austausch diente ein ausgedehntes Netz von Pfaden und Flussstrecken. Obwohl zahlreiche Fundstellen in den Bächen bekannt waren, war Gold ohne Bedeutung. Vor den ersten Europäern Um 1800 lebten sechs Sprachgruppen im Yukon, von denen fünf zu den Athabasken zählten, eine zu den Tlingit. Kulturell nahestehende Gruppen trafen einander regelmäßig, vor allem beim Fischfang im Frühjahr und im Sommer. Diese größeren Gruppen zerfielen in Familiengruppen, sobald das Nahrungsangebot sich zum Herbst hin verringerte. Die kalte Jahreszeit verbrachte man in eigenen Winterdörfern. Die meisten Indianer lebten in Flusstälern oder an Seen, nur zur Jagd ging man in die höher gelegenen Gebiete. Dabei beherrschten nicht alle jede Jagdtechnik. Die Han nutzten etwa ausgesprochen aufwändige Fischnetze und -fallen. Die langsame Regenerationsfähigkeit der Natur und die Verstreutheit der Lebensgrundlagen in einem riesigen Gebiet, erzwangen einen sorgsamen Umgang mit Ressourcen sowie weiträumige Wanderbewegungen. Dennoch brachte jahrtausendelange Erfahrung ein relativ gesichertes Leben hervor, das in scharfem Kontrast zu der großen Unsicherheit der Europäer, deren hohen Verlusten und ihrer Abneigung gegen ein Leben im Norden stand, eine Haltung, die für die Tr’ondek Hwech’in schwer nachvollziehbar war. Eine Art von Führungsgruppe entstand unter diesen Bedingungen nur schwer, und ihr Fortbestand hing von Erfolg und Geschicklichkeit Einzelner ab. Formal standen Frauen außerhalb der Rangordnung, doch waren sie als Lehrerinnen, Geschichtenerzählerinnen und Sammlerinnen von großem Einfluss. Daneben hatten Schamanen, die die Europäer oft als „Medizinmänner“ oder „Zauberer“ bezeichneten, die sich durch vertiefte Kenntnis der Natur und ihrer Kräfte und Geister hervortaten, erheblichen Einfluss, und sie betätigten sich als Heiler. Auch waren sie für die Kontaktaufnahme mit spirituellen Mächten zuständig. Sie halfen darüber hinaus beim Auffinden von Jagdbeute oder versuchten das Wetter zu beeinflussen. Regionale und lokale Gruppen Innerhalb der Großgruppen unterscheidet man regional bands, wie die Han, local bands und task groups, Gruppen also, die sich zu einem temporären Zweck zusammenfanden. Die regionale Gruppe kam nur zu großen Versammlungen wie einem Potlatch zusammen, oder an Orte, die über ausreichend Ressourcen verfügten, um eine größere Gruppe zu ernähren. Darüber hinaus war die regionale Gruppe durch Verwandtschaft und gemeinsame Sprache sowie ein traditionelles Territorium verbunden. Die regionale Gruppe der Tr’ondek waren die Han. Die local band, wie hier die Tr’ondek Hwech’in, hatte innerhalb des Großgebiets ein traditionelles Gebiet mit bestimmten Nutzungsrechten. Jede dieser Gruppen hatte ein Winterlager, hinzu kam ein traditioneller Wanderzyklus, der sie an die wichtigsten Jagd- und Sammelplätze führte. Dabei überschnitten sich die traditionellen Territorien in Abhängigkeit von der Jahreszeit, den Nutzungsrechten und sogar den einzelnen Nutzungsberechtigten. Dabei kam es auch zu Spaltungen der eng verwandten Familienstrukturen. Gelegentlich fanden sich mehrere lokale Gruppen oder einfach durch Freundschaft verbundene Männer zur Jagd oder zum Fischfang zusammen. Die regionale Gruppe der Han setzte sich aus lokalen Gruppen zusammen, die um 1900 als David’s und Charley’s band im heutigen Alaska bekannt waren, sowie der Gruppe am Klondike. Nur letztere ist als Tr’ondek Hwech’in anzusprechen. Unklar ist, ob eine vierte Band bestand, die um Nuklako (Jutl’à’ K’ät), dort, wo heute Dawson steht, ihren Kern hatte, oder ob es sich um einen Platz der Klondike-Gruppe handelte. Charley’s band lebte am weitesten im Norden, an der Mündung des Kandik River in den Yukon; dieser ist als Charley Creek bekannt, nicht zu verwechseln mit dem nahe gelegenen Charley River. Auf der gegenüber liegenden Seite, beim Biederman Camp, befand sich ein zweites Dorf, möglicherweise ein drittes zehn Meilen Yukon-abwärts am Charley River. Dort entstand Independence, ein kurzlebiger Goldrausch-Ort. Die Leute vom Charley River zogen möglicherweise zwischen 1900 und 1910 nach Fort Yukon. Charley Village wurde 1914 durch eine Überschwemmung zerstört. Der Häuptling brachte viele der Bewohner nach Eagle Village. Unklar ist, ob es möglicherweise zwei Chiefs gleichen Namens gab. Einer von ihnen wurde jedenfalls 1871 vom anglikanischen Missionar Robert McDonald erwähnt, den der Häuptling freundlich empfing. 1910 lebten im Charley Creek Indian Village 25 Menschen, davon 17 Han, die anderen gehörten zu drei benachbarten Gwich'in-Stämmen. 1911 waren es nur noch 10 bis 12, 1912 waren es sogar nur noch 7. Die meisten waren wahrscheinlich einer Grippeepidemie zum Opfer gefallen. Eine Überschwemmung zerstörte 1914 das Dorf, die wenigen Bewohner zogen nach Circle City. David’s band, die um 1890 rund 65 bis 70 Menschen umfasste, überwinterte regelmäßig am Mission Creek und am Seventymile River. Ihr Jagdgebiet reichte mindestens bis zum Comet Creek und zum Eureka Creek sowie zum American Creek. In den 1880er Jahren starben die meisten von ihnen an Pocken, die Überlebenden zogen nach Fortymile. Zu einem ihrer Lager gehörte Eagle, wo sich sechs Häuser befanden. Der unterhalb des Dorfes befindliche Handelsplatz Belle Isle war zu dieser Zeit bereits aufgegeben. Zweieinhalb Meilen unterhalb von Eagle befand sich ein weiteres Dorf mit acht Häusern, das ebenfalls aufgegeben wurde. Chief David starb spätestens 1903, als ihm zum Gedenken ein Potlatch gegeben wurde. Als Häuptling folgte sein Sohn Peter. Die größte local band war die am Klondike, doch dehnte sie ihre Jagdzüge nie über den All Gold Creek, einen Nebenfluss des Flat Creek, rund 50 km nördlich von Dawson aus, weil sie die Mahoney fürchtete. Mit ihnen lagen sie seit langem im Krieg. Die Tr’ondek fuhren mit Kanus, bevor der Winter kam, flussabwärts zum Coal Creek oder Tatondiak River, oder aber zum Nation River. Den Winter verbrachten sie in den Ogilvie Mountains. Kurz vor Ende des Winters zogen sie Richtung Klondike, bauten Elchhautboote und fingen an der Flussmündung Lachse. Handel, Tausch, Geschenk Die Tr’ondek waren Teil eines ausgedehnten Handelsnetzes. Dabei brachten die zu den Tlingit gehörenden Chilkat begehrte Güter von der Küste über zwei schwierig zu überquerende Pässe ins Hinterland. So kamen Robbenfett, das butterartige Öl des Kerzenfischs (Eulachon), Dentalia-Muscheln, Kisten aus dem Holz des Riesenlebensbaums, Heilpflanzen, aber auch europäische Waren wie Messer, Pfannen und Glasperlen, die für den Schmuck der dominierenden Schicht in großem Umfang gebraucht wurden, zu den Tutchone im südlichen Yukon. Diese lieferten dafür Pelze, Karibuleder oder Kupfer, dazu Haare von Schneeziegen, Sehnen und Farben. Die Han, die nördlich von ihnen lebten, tauschten diese Güter wiederum gegen andere Pelze und Roten Ocker ein, einen Farbstoff; hinzu kamen Birkenrinde und Lachs. Die so erworbenen Güter tauschten sie wiederum bei den im Norden lebenden Gwich'in ein, die ihrerseits wieder mit den Eskimos in Kontakt standen. Den Handelsbeziehungen kamen eheliche Bindungen zustatten, die den kulturellen und sprachlichen Einfluss der Tlingit weit in den Yukon ausdehnten. Handel mit Europäern, Epidemien (ab 1789) Sowohl die nördlichen, als auch die südlichen Gruppen traten schon Ende des 18. Jahrhunderts in Kontakt mit Europäern. Alexander Mackenzie war 1789 mit den Gwich'in in Kontakt getreten, 1806 entstand dort Fort Good Hope. Glasperlen setzten sich in der Region als Tauschgut und als Wertmaßstab schnell durch. Die Gwich'in setzten gegen den Widerstand von Eskimos, die das Fort mit 500 Mann angriffen, ein Handelsmonopol durch, das zwischen etwa 1826 und 1850 bestand. Im Westen war die Situation von stärkerer Konkurrenz geprägt, und die Ureinwohner leisteten stärkeren Widerstand. In Alaska erschienen erstmals 1741 Russen, 1763 töteten Unangan rund 200 Bewohner von Unalaska, Umnak und Unimak Island, woraufhin russische Rachezüge ihrerseits 200 Menschenleben forderten; weitere Kämpfe folgten. 1784 kam es zu schweren Gefechten auf Kodiak zwischen Russen und Tlingit, 1804 zur Schlacht von Sitka; die Tlingit verließen die Insel bis 1819. Trotz militärischer Überlegenheit konnten die Russen ihr Pelzhandelsmonopol nur teilweise durchsetzen, die Tlingit setzten sich vielfach erfolgreich zur Wehr. Die Briten versuchten ihrerseits den Russen in Wrangell Konkurrenz zu machen, und sie pachteten 1838 das südöstliche Festland von den Russen. Die Spanier, die gleichfalls versuchten, in der Region Ansprüche durchzusetzen, zogen sich 1819 mit dem Adams-Onís-Vertrag zurück. 1839 entstand am unteren Yukon ein erster russischer Handelsposten namens Nulato, 1842 führte die Expedition von Lawrenti Sagoskin den Yukon aufwärts. Für die Stämme außerhalb des unmittelbaren Machtbereichs der russischen und der britischen Handelsgesellschaften war die Ankunft der europäischen Händler aus Russland und Großbritannien kein umwälzendes Ereignis. Sie gelangten erst 1846 und 1847 mit der Gründung zweier Handelsposten in ihre unmittelbare Nähe und fügten sich lange in das weit entwickelte Handelssystem ein. Zudem brachten sie nur wenige neue Waren in die Region. Der erste umwälzende Faktor waren demnach eher Krankheiten, gegen die eine nur geringe oder gar keine Immunität bestand. Dabei ist die Höhe der Bevölkerungsverluste kaum zu ermessen. In seiner Publikation zur Bevölkerung der Ureinwohner nahm James Mooney 1928 an, dass im Yukon-Tal rund 4.000 Indianer gelebt haben, nach Alfred Kroeber könnten es rund 4.700 gewesen sein. Diese Schätzungen sind jedoch äußerst unsicher. So hat man seit den 1960er Jahren 7.000 bis 9.000 angenommen. 1895 gab es hingegen höchstens noch 2.600, wenn diese Zahl vielleicht auch nur gut geraten war. Besonders schwierig bleibt also die Frage, ob die Bevölkerung ähnlich stark durch Epidemien eingebrochen ist, wie weiter im Süden und an der Küste ab 1775 oder (vor) 1787 in Sitka. Bekannt ist, dass 1835 bis 1839 eine Pockenepidemie in Alaska und am Lynn Canal wütete. 1847 berichtet der Missionar Alexander H. Murray von hohen Sterblichkeitsraten, insbesondere unter den Frauen; ähnlich Robert Campbell 1851. Murray schätzte, dass 230 Han-Männer um Fort Youcon handelten, womit sie die größte Gruppe waren. Falls diese recht hohe Zahl stimmt, muss mit einer Gesamtgröße von über 800 Angehörigen allein dieser Gruppe gerechnet werden. 1865 brachten Bootsmannschaften der Hudson’s Bay Company eine schwere Scharlach-Epidemie an den Yukon. James McDougall schätzte, dass die Hälfte der Indianer um Fort Youcon starb. Dabei förderten zwei Dinge die Ausbreitung: Die Infizierten hatten, bei einer Inkubationszeit von einer bis zweieinhalb Wochen im Fall der Pocken, genügend Zeit in den Schutz ihrer Verwandten zu fliehen, oder sie vermuteten Zauber durch einen anderen Stamm, und begannen dementsprechend Rachezüge. Beides führte zu zahlreichen Neuinfektionen, gegen die die Schamanen kein Mittel hatten. 1865 klagte die Hudson’s Bay Company (HBC) erneut, die Frauen seien besonders betroffen, und einige der besten und für das Fort wichtigsten Proviantjäger seien verstorben. Zahlreiche andere Orte, an denen sich derart unbekannte Epidemien ausbreiteten, zeigen, dass Bevölkerungseinbrüche um zwei Drittel nichts Ungewöhnliches waren. Dazu verhinderte frühzeitiger Tod die Weitergabe kultureller Elemente und Fertigkeiten, brachte die dünne Führungsschicht in Legitimitätsprobleme und gefährdete das Vertrauen in ihre spirituelle Welt. Bei den ersten Begegnungen zwischen Briten und Han war deren Kultur also schon stark verändert, die Bevölkerungszahl in unbekanntem Ausmaß rückläufig. Streit um Handelsmonopole: Briten, Russen, Indianer (ab 1806) Russische Händler kamen spätestens 1839/42 an den unteren Yukon, britische an den Mackenzie schon um 1806. Zwischenhändler brachten schon Jahrzehnte vor Ankunft der ersten Europäer russische und britische Waren in die Region, wobei die Tlingit diesen Handel im Westen dominierten, die Gwich'in im Nordosten. Begehrt waren Gewehre und Glasperlen, die überwiegend gegen Pelze getauscht wurden. Die HBC sah sich aufgrund fallender Preise für Biberpelze jedoch gezwungen, verstärkt auf seltenere und teurere Pelze zu setzen. Dies veranlasste die Pelzhändler, weiter nordwärts vorzudringen. John Bell eröffnete daher einen Posten am Peel River, das spätere Fort McPherson. Doch hatten die dortigen Gwich'in, die ihre neue Position als Zwischenhändler nutzen wollten, kein Interesse, die Briten weiter westwärts ziehen zu lassen. Sie übertrieben die Transportprobleme und führten sogar einige Händler in die Irre oder ließen sie im Stich. Bell engagierte daher 1845 indianische Pfadfinder von außerhalb, die erfolgreicher waren. Den Gwich'in gelang es nicht, den Verlust ihrer vorteilhaften Position auf Dauer zu verhindern, wenn sie die HBC auch mehr als fünf Jahre aufhalten konnten. 1846 entstand der kleine Handelsposten Lapierre’s House am Westhang der Richardson Mountains, 1847 entstand Fort Youcon rund 5 km oberhalb der Mündung des Porcupine in den Yukon. Nun profitierten die dortigen Indianer vom Pelzhandel und arbeiteten gegen Provision und europäische Waren, sowie das daraus resultierende Ansehen. Parallel dazu setzte die HBC von Süden an, indem Robert Campbell 1838/40 Handelsposten am Dease und am Frances Lake sowie am oberen Pelly River errichtete. Je mehr er sich jedoch dem Yukon näherte, desto deutlicher stieß er auf das hoch entwickelte Handelssystem der Chilkat-Tlingit, so dass seine Verbindungsleute 1843, angeblich aus Angst vor „Wilden“, zurückkehrten. Angehörige der Southern Tutchone hatten die Briten verschreckt, als sie ihnen von angeblichen Kannibalen berichtet hatten. Dennoch eröffnete Campbell 1848 einen Posten am Zusammenfluss von Pelly und Yukon. 1849 stoppten jedoch dreißig Tlingit seine Händler. Unter diesen Umständen gelang es ihm während seiner fünf Jahre im 1848 gegründeten Fort Selkirk nicht, Gewinne zu machen, nahm jedoch Kontakt mit den Han auf, durch deren Gebiet er bis nach Fort Youcon den Strom abwärtsfuhr. Am 19. August 1852 plünderten und zerstörten die Chilkat jedoch den Posten auf einer Insel im Pelly River. Campbell hatte schon früh erkannt, dass Kenntnis von Terrain, Gebräuchen und Sprachen den Chilkat entscheidende Vorteile gaben. Hinzu kam, dass die HBC auf den Liard River angewiesen war, der schwer zu befahren war, und zudem die Preisstrukturen seitens der HBC-Zentrale vorgegeben wurden. Diese hingen wiederum vom Mackenzie-Gebiet im Osten ab, während die Chilkat den Preisen des Pazifikraums folgten. Im Yukon stießen also zwei Handelskreise aufeinander, deren westlicher auf den Pazifik und damit auf China ausgerichtet war, während der östliche viel stärker von den Märkten in Europa abhing. Die HBC musste den südlichen Yukon zugunsten von Fort Youcon im heutigen Alaska aufgeben. Hinzu kam eine weitere Fehleinschätzung. Die HBC glaubte, den Handelskontakt mit führenden Männern, so genannten trading chiefs (Handelshäuptlingen), aufnehmen zu müssen. Dabei schätzten die Briten aber die andersartigen inneren Strukturen falsch ein. Die Indianer wählten zwar einen trading chief, doch sie waren nicht dauerhaft an seine Weisungen gebunden, und sie brachten ihre Pelze je nach Angebot an günstigere Orte. Zudem verlangte die HBC, dass Waren nicht mehr auf Kredit vergeben werden durften, ein weiteres Missverständnis. Die Indianer betrachteten Tauschhandel nicht nur als Warenaustausch, sondern auch als eine Art Geschenkverkehr, bei dem Ansehen und Ehre wichtige Kriterien sind. Dabei wurden die Gaben nicht gleichzeitig, sondern in zeitlichem Abstand ausgetauscht. Die Indianer zogen die Konsequenz und konnten in Fort Youcon durchsetzen, dass weiterhin auf Kredit gehandelt wurde. Dabei spielten sie geschickt die HBC und die Russisch-Amerikanische Kompagnie gegeneinander aus, denn die Briten fürchteten zu Recht eine geplante Expansion der Russen stromaufwärts. Als ein russischer Agent erschien, zog Strachan Jones mehrere hundert Meilen den Yukon abwärts, um die dortigen Indianer zu überreden, in Fort Youcon zu handeln. In den folgenden Jahren sandte die HBC Händler flussabwärts, und die Youcon-Indianer verloren ihr Handelsmonopol. Diese nutzten ihrerseits Interessengegensätze zwischen dem Mackenzie-Distrikt, wo die Briten inzwischen ein unumstrittenes Handelsmonopol genossen, und Fort Youcon, indem sie drohten, diese oder jene Region zu versorgen – ein Vorteil ihrer nomadischen Lebensweise. Auch verbanden sie sich und verweigerten Fleischlieferungen, von denen das Überleben der kleinen Handelsposten abhing, um bessere Konditionen durchzusetzen. Ein Monopol war damit im Yukon nicht durchsetzbar. Als 1867 die Amerikaner Alaska kauften und feststellten, dass Fort Youcon auf ihrem Gebiet lag, musste die HBC 1869 das Fort räumen, und die Handelsnetze veränderten sich drastisch. Erste direkte Kontakte zwischen Han und Europäern (ab 1847) Die ökonomisch vergleichsweise flexiblen Tr’ondek hielten andere Stämme von ihren Handelsorten wie Forty Mile fern, wie etwa die Copper Indians im White-River-Distrikt. Ähnlich agierten die Tlingit, die die Copper Indians von Haines fernhielten. Daher fiel noch den ersten Besuchern der 1873 gegründeten kanadischen Polizeitruppe für den Nordwesten, der North West Mounted Police auf, dass diese Indianer vergleichsweise rückständig wirkten, alte Gewehre besaßen usw. Ähnliches galt bis zum Goldrausch für die Kaska im Südosten und die östlichen Tutchone. Als erstmals Europäer in das Gebiet der Tr’ondek kamen, war ihr Häuptling Gäh St’ät oder „Rabbit skin hat“ (Kaninchenfellhut), den die Neuankömmlinge „Catsah“ nannten. Die ersten Europäer stellten fest, dass neben traditionellen Handels-, Tausch- und Verschenkgütern wie Birkenrinde, Roter Ocker, Felle oder Lachs, auch schon Tee, Tabak, Glasperlen oder metallene Kessel bekannt waren. Der erste bekannte Kontakt zwischen Weißen und Han fand am 5. April 1847 statt. Der Händler der HBC Alexander Hunter Murray berichtet über ein Zusammentreffen in LaPierre’s House am oberen Porcupine. Ihr Führer war demnach ein junger Chief, der 20 Marderfelle mitbrachte, die er gegen ein Gewehr eintauschen wollte. Murray nannte sie „Gens de fou“. Sie führten halbgetrocknete Gänsezungen, Karibuhäute und Pelze mit sich. Drei von ihnen hatten bereits Weiße gesehen, wohl Russen, mit denen sie angeblich in Nulato in Alaska gehandelt hatten. Im Gegensatz zu den „Rat Indians“ – gemeint sind wohl die Gwich'in die Bisamratten jagten – freuten sie sich über das geplante Fort Yukon, das näher an ihrem Gebiet lag. Anfang August 1847 besuchte erstmals eine größere Gruppe das Fort. Murray war allerdings von Gwich'in gewarnt worden, dass die Han wütend auf die Briten seien, da diese glaubten, der Tod eines ihrer Häuptlinge stehe mit der Ankunft der Briten in Zusammenhang. Als die rund 25 Kanus anlegten, geschah dies in vollkommener Stille, ohne Gesang also, wie es bei den anderen Athabasken sonst üblich war. Die Ankömmlinge wirkten auf Murray besonders „wild“, da sie lange Haare trugen und ihre Hemden mit Perlen und Messing schmückten. Sie brachten Pfeifen aus Zinn und Blech mit, die sie bei Russen eingetauscht hatten. An Tauschwaren führten sie wenig mit sich, nur einige Bärenfelle, Fleisch und hundert Gänse, die sie unterwegs mit dem Bogen erlegt hatten. Am zweiten Tag drohten einige, dass sie im Falle schlechter Behandlung das Fort zerstören würden, wie es bereits bei den Russen geschehen sei – wofür es keine Belege gibt. Vor allem aber verlangten sie Waren auf Kredit, was Murray ablehnte. Bis 1852 durchquerten mindestens siebenmal Angestellte der Hudson’s Bay Company das Gebiet der Han, darunter waren auch die Männer Murrays, die den Yukon abwärts nach Fort Youcon fuhren, und der Dolmetscher Antoine Hoole, der 1851 den Fluss befuhr. Grenzziehung von 1867, neue Konkurrenz im Pelzhandel, Handelsforts Fort Yukon blieb trotz dieser anfänglichen Schwierigkeiten bis 1869 der Haupthandelsposten für die Han. Mit dem Kauf Alaskas und der Einrichtung einer Grenze zu Alaska wurde der Stamm jedoch 1867 geteilt, so dass die Dörfer der Han formal durch eine Grenze getrennt wurden. Aus Alaska kam auch der spätere Häuptling Isaac, der dem Wolf Clan entstammte und um 1859 geboren worden war. Er heiratete die Häuptlingstochter Eliza Harper vom Crow Clan, dem zweiten Clan des Stammes. Nur zwischen diesen Clans durfte geheiratet werden, nicht innerhalb der Clans. Das Paar dürfte etwa 200 Menschen geführt haben. Bereits 1873 gründete Moses Mercier, der aus Fort Youcon hatte abziehen müssen, einen ersten kleinen Handelsposten namens Belle Isle am linken Ufer des Yukon, in der Nähe des späteren Eagle, und damit im Gebiet der Han. Ende August 1874 gründete Leroy Napoleon McQuesten, besser als Jack McQuesten bekannt, einen zweiten Handelsposten namens Fort Reliance, rund 10 km unterhalb der Mündung des Klondike, den er als „Trundeck River“ kannte. Zusammen mit Frank Barnfield errichtete er eine Hütte, wobei die beiden Männer Indianer zum Fällen und Tragen der Bäume engagierten. Andere jagten für sie. McQuesten blieb als einziger mehrere Jahre, insgesamt zwölf, in dem Posten, dessen Grundfläche rund 30 mal 20 Fuß bemaß. An seinem Handelsposten trafen sich Han, Upper Tanana und Northern Tutchone. Die ansässigen Indianer bezeichnete er als „Klondike Han“. Einige Zeit lebten er und seine Partner vom Handel und erwarben Pelze für die Alaska Commercial Company, in deren Auftrag McQuesten handelte. McQuesten führte zudem die Yukon, das erste Dampfboot auf dem Yukon River. Von Westen setzte die Alaska Commercial Company, die 1867 für 350.000 Dollar das Handelsmonopol der abziehenden russischen Konkurrenz gekauft hatte, bis 1874 ein weitgehendes Handelsmonopol auf dem unteren Yukon durch. Doch konkurrierten unabhängige Pelzhändler mit ihr. Viele indianische Gruppen nutzten die Konkurrenzsituation und wandten sich den Amerikanern zu. Die Briten räumten den Händlern um Rampart House nun ohne weiteres Handel auf Kredit ein. Sie engagierten noch mehr Pfadfinder, Jäger, Fischer und Dolmetscher, verlängerten die Verträge von drei auf sechs Monate, konnten aber nicht mehr wie früher 300 km flussabwärts bis nach Nuklukayet fahren. Die amerikanische Konkurrenz ging wesentlich aggressiver vor und offerierte bessere Preise, suchte entferntere Gruppen gezielt auf, bot sogar britische Waren an und machte die Indianer zu selbstständigen Partnern. Zudem brachten sie ein rund 17 m langes Dampfboot auf den Yukon, womit sie die Warentransporte erheblich verbilligten und beschleunigten. Mit dem Erwerb Alaskas durch die USA (1867) und dem erzwungenen Abzug der Briten aus Fort Youcon am 9. August 1869, das westlich der vereinbarten Grenze am 141. Längengrad lag, änderte sich die Situation insofern, als sich bald verschiedene Kompanien Konkurrenz machten. Häuptling Catsah (Gah ts'at) hatte auf die Gründung von Fort Reliance gedrängt. 1877 oder 1878 musste der Posten jedoch geräumt werden, da es – nach amerikanischen Quellen nach einem Tabakdiebstahl – zu Feindseligkeiten kam. 1877 kam es zudem zu einem Zwischenfall nach der Räumung des Forts. In den verlassenen Räumen befanden sich Überreste von Fett, das zur Bekämpfung von Mäusen mit Arsenik vermischt worden war. Drei Frauen vergifteten sich damit, eine von ihnen, eine 16-jährige Blinde, starb daran. McQuesten und der Häuptling einigten sich auf Kompensationen, die Mutter akzeptierte einen Hund. McQuesten eröffnete den Posten bereits 1878 wieder, und die Han leisteten Kompensationen für den Tabak. 1880 entstand eine Konkurrenzgründung im Han-Gebiet durch die Western Fur and Trading Company rund 130 km flussabwärts bei David’s Village nahe dem heutigen Eagle. Moses Mercier musste diesen nicht profitablen Posten jedoch 1881 bereits wieder aufgeben. 1882 gründete er, nun für die Alaska Commercial Company, in derselben Gegend den Posten Belle Isle. Sein ehemaliger Arbeitgeber eröffnete daraufhin den aufgegebenen Posten neu, und die beiden Gesellschaften konkurrierten nun aufs schärfste. Schon 1883 endete diese für die Han vorteilhafte Situation, als die Alaska Commercial Company ihren Rivalen übernahm. Der Monopolist erhöhte nun die Preise der eigenen Waren, senkte die Pelzpreise und begrenzte die Kreditvergabe. Die Amerikaner setzten zudem Dampfboote ein, wie die Yukon der Alaskan Commercial Company (ACC) oder ab 1879 die 25 m lange St Michael der Western Trading and Fur Company, was die Warenmengen weiter erhöhte. 1887 kam die New Racket hinzu, die von einer Goldsuchergruppe gebaut worden war, die die ACC jedoch aufgekauft hatte. Nun kamen einerseits Massengüter wie Mehl und – was die HBC ablehnte – Repetiergewehre und Segeltuch für Zelte in das Gebiet, aber auch exotische Waren, wie chinesische Teetassen. Damit wurde die Mittlerposition der Han für solche Waren gestärkt. Ab 1889 kam die über 40 m lange Arctic hinzu, nach Einsetzen des Klondike-Goldrauschs kamen sogar über 70 m lange Schiffe hinzu, die an die Manövrierfähigkeiten auf dem unberechenbaren Fluss höchste Anforderungen stellten. Als weiterer Faktor kamen in den 1880er Jahren Walfangboote nach Herschel Island, weit im Norden vor der Küste der Beaufortsee. Sie brachten Winchester-Repetiergewehre, deren Verkauf Amerikaner und Briten gleichermaßen verweigerten, und Alkohol. Goldfunde Schon 1872 war es im Cassiar-Distrikt zu einem kurzen Goldrausch gekommen, 1885 entdeckte man Gold am Stewart River. Schon Campbell wusste von Gold bei Fort Selkirk und Reverend Robert McDonald, der 1862 bis 1863 in Fort Yukon stationiert war, hatte Gold gefunden, wohl am Birch Creek. George Holt sandte als erster Gold aus Alaska nach außerhalb. Manche Pelzhändler wechselten in das neue, profitablere Gewerbe. Doch hierbei waren die Hürden höher, denn die Prospektoren lehnten oftmals die indianische Arbeit ab. Die Technik des Goldwaschens – andere Vorkommen hätten höheren Kapital- und Arbeitseinsatz sowie entsprechende Maschinen erfordert – bedurfte kaum bezahlter Arbeit, sondern wurde von den Prospektoren selbst durchgeführt (placer mining). Zudem waren diesmal die Europäer und Amerikaner extrem flexibel, denn immer neue Gerüchte von Goldfunden trieben die Männer und wenigen Frauen von Fundort zu Fundort. 1886 kam es zu einem ersten größeren Goldfund am Fortymile River (Ch’ëdäh Dëk) und mehrere hundert Männer zogen hierher, wo bisher gefischt wurde, und wo eine Durchgangsstelle für Karibus die Jagd erleichterte. Die Tr’ondek Hwech’in versorgten den neuen Ort Forty Mile mit Lebensmitteln sowie mit den überlebensnotwendigen Pelzen. Sie erhielten dafür in ihren Augen kunstvolle Glasperlen, Metallgeräte und Alkohol. Ihr Führer war inzwischen Chief Isaac, dessen traditioneller Name nicht mehr bekannt ist, und der der Schwiegersohn von Gäh St’ät war. McQuesten gab nun Fort Reliance auf (1886) und baute einen neuen Posten an der Mündung des Stewart River. 1894 entstand 60 Meilen oberhalb von Fort Reliance an der Mündung des Sixtymile Creek ein neuer Posten, der nach William Ogilvie benannt wurde, der als Historiker des Goldrauschs im Yukon gilt. Auf amerikanischem Gebiet entstand Circle City nach Goldfunden am Birch Creek (1893/94). 1895 brachten Goldfunde am American Creek das Dorf Eagle City hervor, wo sich zeitweise an die tausend Goldgräber aufhielten. Dort entstand 1899 Fort Egbert zur Überwachung der Grenze. Schon vor dem großen Goldrausch schätzt man die Zahl der Goldsucher im Yukon auf tausend bis zweitausend, unruhige Männer, die unkontrolliert durch das Gebiet der Tr’ondek zogen. Manche Tr’ondek arbeiteten als Träger, als Packer für die Boote, oder beim Waschen des Goldes mit, doch erwarben nur wenige Indianer Claims. Offenbar genügte ihnen die geringe Aussicht auf weit entfernt liegenden Lohn nicht als Motiv, um die ungesunde und langwierige Arbeit auf sich zu nehmen. Zudem hatten sie keine Pläne, ihre Heimat zu verlassen, und Gold war dort von schnell sinkendem Wert. Die erfolgreichen Goldsucher von außerhalb hingegen wollten das Gebiet so schnell wie möglich wieder verlassen und mit ihrem Ertrag ein komfortables Leben in den südlichen Städten führen. Der Lohn für die Träger von Dawson nach Forty Mile variierte zwischen Sommer und Winter, denn in der kalten Jahreszeit erlaubten Hundeteams größere und schnellere Transporte. Sie erhielten allerdings nur ein Drittel des Lohns. In den Minen verdienten Indianer zwischen 4 und 8 Dollar am Tag, Weiße zwischen 6 und 10, jedoch konnten sie Lohnforderungen angesichts des unterschwelligen Rassismus nur schwer durchsetzen. Dennoch meinte der für sie zuständige Bischof William Carpenter Bompas, die Indianer würden reich durch die Arbeit in den Minen, und durch die Versorgung der Prospektoren und ihrer Schlittenhunde mit Fleisch und Fisch. Einige Prospektoren kauften die Blockhütten von Indianern für rund 100 bis 200 Dollar. Schon jetzt machte sich eine erhebliche Inflation bemerkbar, ein Phänomen, das die Indianer nicht kannten. Daher waren ihre Hausverkäufe zu einem ungünstigen Zeitpunkt erfolgt. Mission, anglikanische Steuerung der interkulturellen Kontakte (ab 1862) 1862 kam als erster Missionar William West Kirkby nach Fort Youcon und blieb für einige Tage, 1863 veranlasste er einen Medizinmann und vier junge Männer, die er für die Mission vorgesehen hatte, mit ihm einige Texte zu lesen. Im Norden, am Porcupine, missionierte 1862 Robert McDonald, ein Halbindianer aus dem Red River District. 1864 erschien der spätere Bischof Bompas im Norden. Er wurde 1876 Bischof von Athabasca. 1890 übernahm er das Bistum Selkirk, aus dem später Yukon wurde, das wiederum aus der Aufteilung des Mackenzie-Bistums hervorgegangen war. 1887 kam neben William Ogilvie und Bernard Moore der Erzdiakon Robert McDonald in die Region. Im selben Jahr gründete der anglikanische Missionar J. W. Ellington die Missionsstation Buxton Mission auf Mission Island oberhalb von Forty Mile, doch musste Ellington die Mission zwei Jahre später aus Gesundheitsgründen aufgeben. 1891 besuchte Bischof William Carpenter Bompas die Region; er kehrte im nächsten Jahr mit seiner Frau Charlotte Selina zurück. Abgesehen von einem Jahr (1899–1900), wo er in Moosehide lebte, blieb er bis 1901 in Fortymile (Buxton). Bompas glaubte, die Han, „dieses niedrigste aller Völker“, vor Alkoholkonsum und sexuellen Kontakten zu den ganz überwiegend männlichen Pelzhändlern und Goldsuchern sowie vor allen schlechten Einflüssen schützen zu müssen. Diese veranstalteten nach Abschluss eines Handels Feste, bei denen es zu Trinkfeiern und in deren Verlauf zu sexuellen Kontakten mit Frauen der Indianer kam. Da dies immer wieder an denselben Orten vorkam und sie erkannten, dass dies weiße Männer anzog, begannen die Han, ein Tanzhaus auf Mission Island zu bauen. Bischof Bompas kaufte ihnen den begonnenen Bau ab und ließ daraus eine Kirche bauen. Die HBC förderte hingegen diese Art von Kontakten, zumindest für die niederen Ränge, um die meist jungen Männer durch die Ehe mit einer Indianerin länger im Land zu halten. Den höheren Rängen riet sie ausdrücklich ab. So hatte schon Alexander Hunter Murray seine nichtindianische Frau 1847 mit nach Fort Youcon gebracht. Robert Campbell wurde von Governor George Simpson ausdrücklich davor gewarnt, sein Leben durch eine indianische Frau zu verkomplizieren. Bischof Bompas sorgte für eine Schule und die ab 1895 beginnende Präsenz der 19 Männer der North West Mounted Police unter Charles Constantine. Bei Fortymile entstand das nach ihm benannte Fort Constantine, auf Mission Island lebte die Station neu auf. Eines seiner Hauptziele war die Trennung der Rassen. Bompas setzte sich für ein striktes Alkoholverbot ein, da es während der kurzen Aufenthalte von Goldsuchern und Han in seinen Augen zu häufig zu Trinkfeiern kam. Da die Europäer die Indianer nur bei solchen Gelegenheiten zu Gesicht bekamen, glaubten diese, die Indianer verhielten sich immer unmäßig, und erließen folglich ein generelles Verbot. Die Polizeitruppe verhängte Bußgelder von bis zu über 100 Dollar gegen Alkoholhändler, die ihr Produkt an Indianer verkauften. Jedoch brachten gerade diese Eindämmungsversuche Schwarzbrenner, Schmuggler, Pelzhändler, Goldsucher und Indianer zusammen und förderten ungewollt den Alkoholmissbrauch. Außerdem hatten Missionare und Polizisten, in Erwartung steigender Gewaltbereitschaft und puritanischer Furcht vor sexuellen Kontakten, Angst vor Feiern dieser Art, während sie für die weißen Männer oftmals ein Mittel zur Aufnahme sexueller Kontakte zu den Han-Frauen darstellten. Dies wiederum dürfte mit hohen kulturellen Hürden, vor allem dem Mangel an sprachlicher Kommunikation und Unkenntnis zusammenhängen, sicherlich auch mit der geringen Zahl an Frauen und den entsprechend seltenen Kontaktmöglichkeiten. Diese Kontakte waren ganz überwiegend kurzlebig, zumal die meisten Weißen fürchteten, als „Squaw men“ beschimpft zu werden. Die Kinder aus solchen Beziehungen blieben bei den Han, meist den Müttern, selten bei den Vätern. Klondike-Goldrausch ab 1896, Chief Isaac, Moosehide Wirtschaftliche und politische Einordnung In Kanada setzten globale Engpässe in der Goldversorgung umfangreiche Suchunternehmungen in Gang, die im Abstand von wenigen Jahren ab etwa 1858 immer wieder fündig wurden. Die ersten Goldfunde lösten in diesem Umfeld eine gewaltige Massenbewegung in das extrem dünn besiedelte und schwer erreichbare Gebiet am Yukon aus. Dies war für Kanada von hoher politischer Brisanz, zumal der überwiegende Teil der Goldsucher aus den USA stammte. 1867 erwarben die USA zudem Alaska von Russland. Die Goldsucher brachten nun nicht nur die Indianer in die Minderheit, sondern auch die Briten, die 1867 Kanada gegründet hatten, um die Expansion der USA nach Norden zu bremsen. 1898 erhob Kanada das Gebiet zu einem eigenen Territorium und entsandte eine kleine Polizeitruppe. Ein Teil der Goldgräber kam über Alaska, das den überwiegenden Teil des pazifischen Küstensaums beherrschte, und dessen Häfen einen leichteren Zugang zum Klondike boten, als die in Kanada. Eine Kontrolle der langen Grenze entlang des 141. Längengrads war praktisch nicht möglich, und den Goldsuchern im Yukongebiet war es weder klar noch wichtig, ob sie sich gerade auf dem Territorium der USA oder dem Kanadas befanden. In den USA war es nach der Panik von 1893 und der von 1896 zu schweren wirtschaftlichen Erschütterungen gekommen. Als die Portland am 17. Juli 1897 in Seattle anlegte und die ersten erfolgreichen Goldsucher mitbrachte, forderten die rund 5.000 Anwesenden die Passagiere durch Zurufe auf, ihr Gold zu zeigen. Diese präsentierten es der jubelnden Menge. In der „Klondike-Ausgabe“ berichtete der Seattle Post-Intelligencer unter der Schlagzeile Gold! Gold! Gold! Gold! und Sixty-Eight Rich Men on the Steamer Portland (Achtundsechzig reiche Männer auf dem Dampfer Portland) von Gold im Wert von 700.000 Dollar. Chief Isaac und Moosehide 1894 lebten rund tausend Goldsucher im Yukon. Doch mit dem Klondike-Goldrausch ab 1896 kamen über 100.000 Weiße in die Region. Unmittelbar auf der gegenüberliegenden nördlichen Flussseite des Tr’ondek-Dorfes Tr’ochëk entstand Dawson, die mit Abstand größte Goldgräberstadt mit zeitweise über 40.000 Einwohnern. Bereits 1901 stellten die Indianer nur noch etwas mehr als 10 % der Bevölkerung des Territoriums Yukon. Bis zum Goldrausch war Tr'ochëk das Sommerlager von Häuptling Isaac, dem Führer der Tr’ondek Hwech’in. Er stammte aus einem Dorf in Alaska, das seit 1867 zu den USA gehörte. Er wuchs in Eagle Village und im Gebiet um Forty Mile auf. 1892 traf er Bischof William Bompas und ließ sich taufen. Er nahm zwar häufig an Gottesdiensten der Anglikanischen Kirche teil, doch hielt er zugleich an seinen Traditionen fest. So reiste er häufig zu Potlatches nach Fort Selkirk, Forty Mile und Eagle, wie 1915 beim Tod von Häuptling Jackson bei der Selkirk First Nation. Von Bischof Bompas erbte er eine Uhr, wofür er seinem Nachfolger das steinerne Jagdmesser seines Großvaters als Gegengeschenk überreichte. 1897 fand jedoch ein grundlegender Umbruch statt. So berichtet der anglikanische Missionar Frederick Flewelling, dass er am 29. Mai 1897 in das bis dahin ruhige Tr'ochëk zurückgekehrt war, nachdem er eine Winterreise nach Forty Mile absolviert hatte. „Fünf- oder sechshundert Männer sind allein in diesem Frühjahr hierher gekommen, und ihre Zelte sind überall verstreut.“ Spekulanten hatten vielen Han ihr Land abgekauft, so dass sie nicht wussten, wo sie im Winter bleiben sollten. Flewelling kaufte daher einen 40-Acre-Trakt zwei Meilen flussabwärts und schlug vor, die Han dort unterzubringen und eine Mission zu gründen. Aus den Erinnerungen der Han-Ältesten geht jedoch hervor, dass sie und ihr Häuptling Isaac ihr Schicksal sehr wohl selbst in die Hand nahmen und die Fremden willkommen hießen, auch wenn ihre Gier nach Gold unverständlich blieb. Isaac beobachtete, wie die Weißen das Gold um sich warfen, wunderte sich, dass sie nur deshalb so zahlreich kamen, und meinte, es gebe zu viel davon. Er fürchtete die negativen Folgen des Kontakts und machte selbst den Vorschlag zur Umsiedlung nach Moosehide. Bevölkerungseinbruch Wie schon zuvor, spielten eingeschleppte Krankheiten eine überaus zerstörerische Rolle. Die Zahl der Indianer im Territorium fiel zwischen 1901 und 1911 um mehr als die Hälfte von 3.322 auf 1.489. Dabei gerieten die Han gleichfalls in Bedrängnis. Das unruhige Dawson mit seinen ausschwärmenden Goldsuchern vertrieb das Wild, zudem verbrauchten die Weißen das wenige Holz der Region als Bau- und Feuerholz, die zahlreichen Flöße und Boote zerstörten ihre Fischreusen. Die Luft war voller Rauch, weil die Goldsucher das Unterholz niederbrannten und die angekohlten Stämme schlugen. Darüber hinaus wurden die Tr’ondek von Krankheiten wie Tuberkulose befallen, gegen die sie eine nur geringe Resistenz aufwiesen. Häuptling Isaac fürchtete zudem die Verrohung der Sitten sowie zunehmende Abhängigkeit. Es gelang ihm dennoch, einen fragilen Frieden aufrechtzuerhalten. Er lernte Englisch und hielt sogar Vorträge. Seine persönliche Autorität manifestierte sich jeden Morgen darin, dass er als erster sein Haus verlassen durfte, das Dorf mit lauter Stimme weckte und daraufhin verkündete, wo zu jagen war oder wohin der Stamm ziehen sollte. Zu Weihnachten 1902 kam jeder Dorfbewohner vor das Haus des Häuptlings und tauschte mit ihm Geschenke aus. Moosehide und Dawson (ab 1896) Um Konflikte zu vermeiden, begannen die Indianer ab Herbst 1896 mit Vertretern von Kirche und Regierung zu verhandeln, also mit Bischof William Bompas und Inspector Charles Constantine. Die Han zogen zunächst von Tr’ochëk in die Mounted Police reserve auf der anderen Flussseite, doch war auch dies zu nah an Dawson. Im Frühjahr 1897 zogen sie einige Kilometer flussabwärts nach Moosehide. Wichtig war, dass es frisches Wasser aus einem Bach gab, Holz zur Verfügung stand, Pfade bestanden, die den Zugang zu den Jagdgebieten ermöglichten und dass von hier aus gut Lachs gefangen werden konnte. Gleichzeitig konnten sie Fleisch an die Goldsucher verkaufen, aber auch Arbeit auf den Schaufelraddampfern, in Holzbetrieben oder im Hafen finden. Chief Isaac übergab sicherheitshalber viele Kultgegenstände, vor allem aber Lieder und Geschichten an die Verwandten in Alaska, zu denen er weiterhin enge Beziehungen pflegte. So feierte er 1907 ein Potlatch in Eagle mit Chief Alex. Twelve Mile oder Tthedëk entstand ebenfalls im Zuge des Klondike-Goldrauschs, als einige der Familien nicht mit nach Moosehide ziehen wollten. Die mindestens zehn Familien unter Führung von Charlie Adams und seiner Frau hatten engere Beziehungen zu den Gruppen in Alaska, als zu denen um Dawson, das 30 km oberhalb des Ortes lag. Doch diese Siedlung musste aufgegeben werden, 1957 zerstörte eine Überschwemmung die verbliebenen Häuser. Im Frühjahr 1898 kamen, nachdem Zeitungen die Nachricht weltweit bekannt gemacht hatten, zehntausende von Goldsuchern, Stampeders genannt, nach Dawson. Im Mai wurde Tr’ochëk von Neuankömmlingen mit Beschlag belegt, und Lousetown entstand, auch Klondike City genannt. Dort siedelten sich zahlreiche Prostituierte an. Archäologen fanden allein am steilen Abhang der Insel 72 Hausplattformen der dortigen Blockhütten. Diese wurden mit massiven Steinblöcken befestigt. Andere Neusiedler bauten einfache Zelte, die von Hölzern gehalten wurden, und die nur wenige Spuren hinterließen. Müll und Abwässer wanderten den Hügel abwärts in den Fluss. Am 27. März 1900 richtete die Regierung ein Reservat in Moosehide ein. Doch war die Ernährungslage dort in diesem Jahr so angespannt, dass der Inspector der North West Mounted Police Z. T. Wood mit Mehl, Reis und Tee aushalf, um die 10 bis 12 am schwersten Betroffenen zu unterstützen. Chief Isaac unterhielt weiterhin gute Kontakte in die Stadt. Seine Frau, Eliza Harper, verband eine enge Freundschaft mit Klondike Kate (Kathleen Rockwell), einer während des Goldrauschs bekannten Tänzerin, die einen der Goldgräber namens Johnny Matson heiratete und bis zu ihrem Tod 1957 in Bend in Oregon lebte. Sie schrieben sich bis zu ihrem Tod zahlreiche Briefe und Kate sandte ihrer Freundin Kleider. Kate schrieb dabei an „Mrs Chief Isaac“. Eliza, die 1960 im Alter von 87 Jahren starb, brachte 13 Kinder zur Welt, von denen aber nur 4 erwachsen wurden – eine Sterblichkeitsrate, die nicht ungewöhnlich war. Ihre Kinder waren Patricia Lindgren, Angela Lopaschuck, Charlie und Fred Isaac, die für die mündliche Überlieferung und im Falle der Söhne für die politisch-religiöse Selbstorganisation des Stammes wichtige Rollen spielten. 1906 starb Isaacs ältester Sohn Edward an Tuberkulose. Ab 1913 besuchte sein achtjähriger Sohn Fred zusammen mit sieben anderen Moosehide-Kindern als erster die Schule in Carcross. Diese Schule, die Choutla School, war zwei Jahre zuvor eröffnet worden. Sie bestand bis Anfang der 1960er Jahre, brannte allerdings 1939 ab, daher duften die Kinder in Moosehide von 1948 bis 1957 zu Hause unterrichtet werden. 1920 entstand ein Haus für Kinder aus „Mischehen“, das St Paul’s Hostel (bis 1952). 1901 besuchte Chief Isaac zusammen mit seinem Bruder Walter Benjamin und dem Medizinmann Little Paul seinen Freund Jack McQuesten, der lange ebenfalls Gold im Yukon gesucht hatte. Dazu reisten die drei auf dem Dampfboot Sarah auf dem Yukon nach St. Michael, dann weiter nach Seattle, San Francisco und Berkeley in Kalifornien. Sie waren Gäste der Alaska Commercial Company und besichtigten die Goldgräberstädte entlang der Route. Zwischen 1904 und 1919 sicherte sich der Häuptling vier Claims, nicht um Gold zu suchen, sondern um die Siedlung um Moosehide zu sichern. 1905 fürchtete der Yukon Territorial Council, dass anhaltende Trockenheit die Goldgewinnung unmöglich machen würde. So beauftragte er den Regenmacher Charlie Hatfield für ein Honorar von 10.000 Dollar Regen zu machen. Als nur wenig Regen fiel, bot Chief Isaac an, für nur 5.000 Dollar vier Medizinmänner zu beauftragen, Hatfield zu zeigen, wie man Regen macht. Reservatsgrenzen, Auseinandersetzungen Am 15. Dezember 1911 sagte Chief Isaac in einem Interview in den Dawson Daily News: „All Klondike belong my people… Long time all mine. Hills all mine, caribou all mine, moose alle mine, rabbits all mine, gold all mine. White men come and take all my gold. Take millions, take more hundreds fifty million, and blow 'em in Seattle. Now Moosehide Injun want Christmas. Game is gone. White man kill all moose and caribou near Dawson… Injun everywhere have own hunting grounds. Moosehides hunt up Klondike, up Sixtymile, up Twentymile, but game is all gone. White man kill all.“ Er beharrte damit darauf, dass das Klondike-Gebiet seit Langem seinem Volk gehöre, alle Hügel, Karibus, Elche, Kaninchen und das Gold. Doch die weißen Männer hätten all sein Gold genommen, im Wert von 150 Millionen Dollar, und sie hätten es in Seattle verprasst. Jetzt seien die Indianer Christen, das Wild sei verschwunden, der Weiße Mann habe alle Elche und Karibus um Dawson getötet, und auch in Isaacs Gebieten seien die Tiere verschwunden. Der weiße Mann habe sie alle getötet. Auch brachte er zum Ausdruck, dass das Goldschürfen akzeptiert werde, das Abschlachten der Lebensgrundlage hingegen nicht. Die Ressourcen schwanden und die Jagd erforderte einen immer größeren Aufwand und längere Abwesenheit. Zugleich verbrauchten Dampfboote und Brennöfen die Wälder um Dawson, so dass Isaac versuchte, ein Waldgebiet unter Schutz zu stellen, aus dem sein Stamm seinen Bedarf decken konnte. So fragte er 1907 über den Missionar Benjamin Totty bei der Regierung wegen eines Waldgebiets am Moosehide Creek an. Ende der 1920er Jahre war jedoch das Reservat zugunsten von Holzfällern verkleinert worden, da man glaubte, dieses Holz sei von geringem Nutzen für die Han. Kirche Als Missionar arbeitete bis 1926 Benjamin Totty, den Bompas angeworben hatte, in Moosehide. 1908 entstand in Erinnerung an Bompas die St Barnabas Church. Jonathon Wood, ein Indianer, arbeitete als Katechet. Die Kirche initiierte den Moosehide Men’s Club und die Senior Women’s Auxiliary. 1932 entstand die vermutlich einzige indigene Anglican Young People’s Organization in Kanada. Diese Einrichtungen dienten vor allem der Überwachung des Lebenswandels und der Sauberkeit der Siedlung durch seine eigenen Mitglieder. Polizeiaufgaben Weitergehende Befugnisse erhielt der von der Polizei eingesetzte Constable. Um 1911 stellte die Mounted Police einen der Stammesangehörigen als Constable ein. Diese Constables, der erste überlieferte Name ist Henry Harper, wurden für genau spezifizierte Aufgaben eingestellt. So wurde 1912 ein Constable vereidigt, dessen Aufgabe darin bestand, die Bewohner von Moosehide wegen einer Masernepidemie davon abzuhalten, Dawson zu besuchen. Auch Chief Isaac war mehrfach Constable, weitere Namen sind jedoch nicht überliefert, außer dem von Sam Smith. Er war ein älter Gwich'in von Fort McPherson, der bis zu seinem Tod im Jahr 1925 in Moosehide lebte. Wahrscheinlich erhielten die Constables Anweisungen vom Rat und von den Älteren. Die Special Constables sollten in Moosehide für Ruhe sorgen, was ihnen laut einem Bericht der Polizei auch gelang. Erster Dorfrat, Tod Isaacs (1921–1932) Im März 1921 wählten die Leute von Moosehide einen ersten Rat. Den Vorsitz des siebenköpfigen Gremiums übernahm Esau Harper, Chief Isaac wurde nur zweiter Vorsitzender. James Woods wurde Sekretär, Sam Smith wurde Inside Guard, David Robert war als Wächter für die Kinder zuständig. Tom Young und David Taylor betätigten sich als Hauswächter. James Thompson war Dorfinspektor north-end und Peter Thompson south-end. Seine Aufgabe sah der Rat darin, das Dorf sauber zu halten, sich um Kranke und Alte zu kümmern, die Schulpflicht durchzusetzen, das Verhältnis von Männern und Frauen zu überwachen und Bußgelder zu verhängen, auch wegen Alkoholmissbrauchs. In seiner ersten Sitzung verbot der Rat jungen Mädchen, mit Weißen zu gehen, und verbot Nichtindianern den Zutritt zum Reservat. Kinder sollten zur Schule gehen und um 9 Uhr abends im Bett sein. Alle Indianer sollten eine Stunde zuvor Dawson verlassen haben, Frauen, die allein unterwegs waren, sogar um 7 Uhr – es sei denn, sie waren in Begleitung einer verheirateten Frau. Männer durften nur in Begleitung eines Kameraden in der Stadt übernachten. Männer waren verantwortlich für das Herbeischaffen von Holz und Wasser für ihre Familien, zudem war das Weiterreichen von Kautabak – wohl als Präventionsmaßnahme – verboten. Darüber hinaus wurden Hunde im Haus verboten. Weiße durften nur noch in Geschäften nach Moosehide kommen. Diese tiefreichenden Eingriffe stießen jedoch auf Widerstand, so dass das Gremium zunehmend versuchte, statt auf Strafen auf Überzeugung zu setzen. Auch reduzierte es drastisch die Eingriffe in innerfamiliäre Vorgänge. Insgesamt betrachtete der Indianeragent Hawskley den Rat von Moosehide als Experiment, wehrte sich aber gegen Vorschläge aus Ottawa, dieser Institution Dauerhaftigkeit zu verleihen. Isaac führte den Stamm bis zu seinem Tod am 9. April 1932 und wurde ein Ehrenmitglied des Yukon Order of Pioneers. Er hielt zahlreiche Vorträge, wie etwa zum Victoria Day, der in den Metropolen mit großem Aufwand gefeiert wurde, oder zum Discovery Day. Isaac war in der Gesellschaft Dawsons ein häufig geladener Gast, obwohl er immer wieder daran erinnerte, dass die Gäste auf seinem Land waren, und dass sie das Wild abschlachteten. Er forderte sie sogar auf, auf die Jagd und den Fischfang zu verzichten, so wie die Tr’ondek auf die Goldsuche verzichteten. Er starb am 9. April 1932 im Alter von 73 Jahren an einer Grippe. Sein Leichnam wurde auf einem Wagen von zwei Pferden über das Eis nach Moosehide gezogen; an der Beerdigung nahmen alle Indianer der Umgebung teil und viele Bewohner Dawsons. Nachfolge (1932 bis etwa 1960) Seine beiden Brüder Johnathon Wood und Walter Benjamin waren Priester. Johnathon diente an der St. Barnabas Church in Moosehide und starb am 6. Januar 1938 als ältester Bewohner, Walter Benjamin diente an der Episcopal Church Mission im alaskanischen Eagle Village. Im Dezember 1935 traf sich der Rat mit dem Indianeragenten G. Binning, um über eine mögliche Absetzung von Isaacs Nachfolger, Chief Charlie Isaac zu beraten. Doch trug man dem Häuptling, der offenbar zu häufig abwesend war, das Amt erneut an. Im Januar 1936 wurde er jedoch abgesetzt und durch Chief John Jonas ersetzt. Charlie Isaac diente von 1939 bis 1945 auf verschiedenen Kriegsschauplätzen in der kanadischen Armee und war in Vancouver und in Victoria stationiert. Er starb am 25. Februar 1975. Sieben Jahre zuvor war sein Bruder Fred verstorben. Seine beiden Schwestern Princess Patricia, die früh erblindete, und Angela lebten bis 1991 und 1993. Sie waren wichtige Quellen der mündlichen Überlieferung. James oder Jimmie Wood, ein Absolvent der Choutla School in Carcross, übernahm das Häuptlingsamt um 1940. Er wurde ein anglikanischer Katechist, Hilfslehrer in Moosehide und diente während des Krieges in einer lokalen Patrouille; danach unterstützte er ein Hausbauprogramm. Nach zehn Jahren der Krankheit starb der Häuptling 1956 an Tuberkulose. Zweiter Häuptling war Happy Jack Lesky. Dem Häuptling folgte abermals Chief Jonas, doch war er bereits 78 Jahre alt. Er war der letzte der so genannten „Moosehide Chiefs“. 1961 lebten nur noch sieben Familien in Moosehide, davon vier Han-, zwei Peel-River-Gwich'in und eine gemischter Herkunft. Eagle, die Han in Alaska Ähnlich tiefgreifend waren die Veränderungen bei den Verwandten in Alaska. Im Mai 1898 erwarben 28 Amerikaner einen Trakt am Mission Creek. Binnen weniger Monate stieg die Zahl der Bewohner auf 1.700, über 500 Blockhütten entstanden. 1899 entstand Fort Egbert zur Überwachung des Gebiets und der Grenze. Nur aus mündlichen Quellen geht hervor, dass die Armee den Han nicht mehr erlaubte, in ihrem Gebiet zu leben. Demnach überredete Chief Philip, dessen Haus voller Decken der Hudson’s Bay Company und voll der begehrten Perlen war, seinen Stamm, drei Meilen weiter zu ziehen, dorthin wo seine Hütte stand. Ihre Begräbnisstätten ließen sie zurück. Im Sommer 1898 hatte der erste episkopalistische Bischof von Alaska Peter Trimble Rowe bereits einen Platz für eine Kirche vorgesehen, doch im nächsten Jahr war Eagle City von der Armee besetzt. Auch waren dort Katholiken und Presbyterianer aktiv, so dass er beschloss, seine Aktivitäten auf Eagle Village zu konzentrieren, wohin die Han gegangen waren. 1905 bis 1906 entstand die St. Paul’s Mission, 1925 wurde der Indianer Walter Benjamin zum Laienprediger ernannt. Er unterstützte zudem bis 1946 den örtlichen Missionar. George Burgess, der von 1909 bis 1920 im Dorf als Missionar lebte, versuchte, ähnlich wie in Moosehide, den Einfluss der Weißen, vor allem der Soldaten aus Fort Egbert, fernzuhalten. So beendete er die Tanzveranstaltungen. Jeder Mann ab 12 Jahren musste einer Temperenzler-Gesellschaft angehören – gegen eine Aufnahmegebühr von einem Dollar und 25 Cent pro Monat Mitgliedsbeitrag, und gegen das Versprechen, ein Jahr keinen Alkohol anzurühren. Im Gegensatz zu Moosehide bzw. Dawson konnten die Han keinen Alkohol in Eagle City erwerben. Bereits 1902 entstand eine Tagesschule für die Han-Kinder in Eagle City, 1905 eröffnete die Episcopal Church eine Tagesschule in Eagle Village. Die Lehrerin setzte mit dem Stock den ausschließlichen Gebrauch der englischen Sprache durch. Zugleich war der Gesundheitszustand schlecht, Tuberkulose, Lungen- und Verdauungskrankheiten waren weit verbreitet. „Es gab keine Medizin“, wie sich später einer der Älteren erinnerte. Wie viele Kinder an diesen Krankheiten starben, ist nicht ermittelt worden, das nächste Krankenhaus war in Fort Youcon bzw. in Dawson. Vordringen der Geldwirtschaft Die Geldwirtschaft erreichte das Gebiet um Dawson und entlang der Anreisewege fast schlagartig, doch löste sie den Tauschhandel und den auf dem Austausch von Gaben basierenden Gütertausch nur unter Widerständen ab. Die Indianer versorgten Forty Mile ab 1886 mit Nahrungsmitteln und Pelzen. Sie erhielten dafür Glasperlen, Metallgeräte und Alkohol, offenbar seltener Geld. Die Chilkoot, die lange vor dem Goldrausch einen der Pässe kontrollierten, verdienten als Erste Geld. Sie arbeiteten als Träger. Die Männer trugen bis zu 200 Pfund, auch Frauen und Halbwüchsige beteiligten sich, und schleppten bis zu 75 Pfund. Doch die Indianer horteten den Lohn, den sie in Form von Gold- und Silbermünzen erhielten, so dass ständig zu wenig Geld in Umlauf war. Dabei verdienten auch die Frauen gut, denn sie verkauften zusätzlich Hüte, Handschuhe und Mukluks. Doch je mehr Männer ohne Claims sich im Yukon sammelten, desto niedriger wurden die Löhne. Im Frühjahr 1894 wurden Inspector Constantine und Sergeant Brown von der Regierung in den Yukon geschickt, um für die Eintreibung von Gebühren und Abgaben zu sorgen. Zu dieser Zeit und auch während des eigentlichen Klondike-Goldrauschs zirkulierte Geld vor allem zwischen den Händlern und den Goldsuchern. Je mehr Goldsucher wieder ohne Erfolg abzogen, desto mehr fielen die Preise der liegen gebliebenen Ausrüstungen. Viele verdingten sich als Lohngräber oder boten den Claim-Inhabern andere Dienstleistungen an. Joseph Ladue errichtete im August 1896 am Zusammenfluss von Klondike und Yukon eine Sägemühle, dazu ein Warenhaus und einen Saloon. Von 1898 bis 1899 entwickelte sich eine erste Gewerbestruktur in Dawson. Am Yukon erstreckte sich der Handelsbezirk mit Läden und Lagern. Von deren Waren hingen alle Bewohner vollständig ab, insbesondere während der sechs Monate, in denen die Stadt nicht per Schiff erreicht werden konnte, und damit weder Waren noch Geld aus- und einströmten. Wer keinen Claim bekam oder aus sonstigen Gründen nicht nach Gold suchte, wurde Cheechako genannt. Einige von ihnen schufen einen Luxusmarkt, etwa für aufwändige Hausfassaden, aber auch für Musikinstrumente, teure Stoffe oder Schmuck. Mit dem Nachzug von Frauen und Familien verminderte sich der anfangs sehr hohe Bedarf an Wäschereien, ähnliches galt für die Prostitution. Im Mai 1899 mussten die Frauen jedoch den Kernbezirk verlassen, und sie erhielten einen abgelegeneren Bezirk zwischen der Fourth und der Fifth Avenue. 1901 wurden sie noch weiter abgedrängt und mussten nach Klondike City, auch Lousetown (Läusestadt) genannt, umziehen, dort wo bis 1896 die Tr’ondek Hwech’in gewohnt hatten. Doch der Boom war kurzlebig und endete spätestens 1906 mit dem Abriss der Residenz des Commissioners. Die Regierung sah keine große Zukunft mehr für Dawson. Die Tr’ondek Hwech’in, die sowohl an der Phase der Konkurrenz zwischen Tlingit und Hudson’s Bay Company im Pelzhandel, als auch an der kurzlebigen Phase des von Amerikanern dominierten Freihandels partizipiert hatten, konnten zunächst – zumindest einige von ihnen – als Träger, Schlittenhundeführer, Jäger, Fischer oder Packer Geld verdienen. Jedoch saßen sie in der frühen Phase zwischen den Monopolgebieten am Mackenzie, um Fort Youcon und dem der Chilkat im Südwesten. Nun brach der Goldrausch mitten in ihrem Gebiet herein. Dabei fanden sie saisonale Arbeit an verschiedenen Orten, was ihrer bisherigen Lebensweise sehr entgegenkam. Die neuen Waren und Produkte erforderten allerdings, verstärkt durch steigende Preise, einen höheren Anteil der durch Geld honorierten Arbeit und einen niedrigeren Anteil der reinen Subsistenzarbeit. Solange nicht Massen an konkurrierenden Arbeitskräften eintrafen, fanden die Tr’ondek einen Zugang zum kapitalistischen Arbeitsmarkt. Die Gier nach Gold, aber vor allem Massen an Zuwanderern zerstörten dieses Gleichgewicht. Waren 1896 noch vier von fünf Bewohnern des Yukon Indianer gewesen, so war es 1901 nur noch einer von neun. Dabei kostete der Ausbau der Verkehrswege, vor allem der Eisenbahnbau, die Indianer viele Arbeitsplätze als Träger. Außerdem erhöhte die Anordnung der Regierung, jeder Prospektor müsse seine Ausrüstung selbst mitbringen zwar den Anteil an Lohnarbeit für das Tragen, reduzierte aber die Lebensmittelversorgung gegen Provision. Zudem gingen viele der Prospektoren, die die Goldsuche aufgegeben hatten, nun selbst auf die Jagd und machten den Indianern auf dem Provisionsmarkt Konkurrenz. Hunde waren begehrt, und so zogen manche nordwärts und erwarben Schlittenhunde, die sie in Dawson teurer verkauften. Die zahlreichen Dampfer boten einfache Arbeiten, aber auch die Holzproduktion, einige, wie die Dawson Boys, zugewanderte Gwich'in aus dem Norden, arbeiteten auf Dampfern, etwa als Lotsen oder Handlanger, aber auch als Schreiner, Bootsmechaniker oder lizenzierte Händler, Frauen arbeiteten in Wäschereien oder als Köchinnen in den Camps. Meist zogen die Männer während des Sommers, ähnlich wie früher zur Jagd, an die neuen Einkunftsstätten und nahmen danach ihre zyklischen Wanderungen und ihren winterlichen Lebensstil wieder auf, so dass eine gemischte Ökonomie auf der Grundlage der alten Ökonomie entstand. Frauen belieferten den entstehenden Markt mit Kleidung, aber auch Schlitten und Schneeschuhe wurden nachgefragt. Zwar besuchten einige Indianerinnen die Häuser der Goldsucher in Forty Mile, und auch in Dawson kam dies vor, doch die weiße Konkurrenz war auch auf dem Sektor der Prostitution übermächtig. Dies stand in Gegensatz zu den Erfahrungen an anderen Orten, an denen Goldsucher sich zusammengefunden hatten. Bischof Bompas setzte durch, dass Wohlfahrtsleistungen an minderbemittelte Indianer ausgegeben wurden, wovon jedoch nur Gruppen am Bennett-Dawson-Korridor entlang der Polizeistationen profitierten. Je stärker jedoch die Industrialisierung der Goldgewinnung zunahm, desto kleiner wurde der Markt für nicht ausgebildete Arbeitskräfte, ein Markt, der zunehmend bessere Ausbildung verlangte. Diese fehlte den Indianern jedoch, und es bestand kaum Zugang zu technischer Ausbildung. Hinzu kam das Fortdauern vorindustrieller Mentalität und Lebensweise. Der Klondike-Goldrausch trennte die Ökonomie in zwei Sphären, in die der Gewinnung, Verarbeitung und des Abtransports von Rohstoffen und in die von Jagd, Fallenstellerei, Fischfang und Sammeln. Die Überschneidungen in diesen Bereichen hatten sich, nachdem sie anfänglich sehr stark gewesen waren, wieder stark reduziert. Ökonomisches Abseits, Weltwirtschaftskrise, Alaska Highway (etwa 1905 bis 1960) Die Tr’ondek standen nach 1905 weitgehend abseits der regionalen ökonomischen Entwicklung. Diese wurde von großen Rohstoffunternehmen dominiert, die die Kultfigur des Goldsuchers nicht mehr brauchten. Die drei wichtigsten fanden sich 1929 in der Yukon Consolidated Gold Corporation zusammen. Eine rapide fallende Zahl von Prospektoren durchsuchte das Territorium, doch große Funde wurden selten. Stattdessen eröffneten Kupferminen bei Whitehorse, Silberminen bei Mayo und Keno. Manche Indianer, wie Sam Smith und Big Lake Jim betätigten sich als Prospektoren und wurden bei Little Atlin fündig. Die wachsende Schiffsflotte auf den Flüssen, die vor allem dem Transport von Rohstoffen diente, bot die Möglichkeit, entlang der Flüsse Brennholz zu verkaufen. Um Dawson bot auch nach wie vor die Jagd Einkommensmöglichkeiten. 1904 brauchte die Stadt etwa 2.300 Karibus und 600 Elche bei allerdings nur noch 9.000 Einwohnern. Wie in vielen Branchen, so wurden Indianer auch im Yukon durch Gesetzesänderungen, auf die sie wenig Einfluss hatten, verdrängt. 1923 verdrängte sie ein solches Gesetz aus einer kleinen Branche, der der Jagdführer, die vor allem im Süden und Osten von Bedeutung war. Indianer durften nur noch als Hilfsführer und Lagerhelfer arbeiten, nicht mehr als chief guides. Allerdings gab es 1941 erst drei chief guides, und erst in den 1950er Jahren wuchs dieser Bereich deutlich an. Die ältere Branche der Pelzindustrie erlebte im Yukon, im Gegensatz zu Kanada insgesamt, eine gewisse Wiederbelebung. Bestanden 1921 nur 27 Handelsposten von 18 verschiedenen Unternehmen oder Personen, so waren es 1930, auf dem Höhepunkt, 46 Posten von 30 Unternehmern, davon gehörten allein 11 Taylor und Drury. Dabei schwankte der Marktwert zwischen 23.000 (1933) und über 600.000 Dollar (1944–1946) als Jahresertrag extrem stark. Viele Jäger verschuldeten sich übermäßig. Die Regierung des Territoriums versuchte 1923 bis 1929 durch eine Gebühr von 100 Dollar Nicht-Yukoner von der Jagd auszuschließen, doch im Norden wurden damit die außerhalb des Yukon lebenden Gwich'in behindert, wobei die Vuntut Gwitchin wiederum davon profitierten, die die einzige Gruppe der Gwich'in im Yukon waren. Die Weltwirtschaftskrise traf die Tr’ondek dadurch, dass die wenigen Arbeitsplätze auf den Schaufelraddampfern, die den Yukon und seine Nebenflüsse befuhren, nun durch Weiße besetzt wurden. Zudem trieb die massenhafte Arbeitslosigkeit viele von ihnen in die Jagd, so dass sie den Indianern noch mehr Konkurrenz machten, und zugleich der Pelzmarkt einbrach. In den 1940er Jahren gingen die Wildbestände so stark zurück, dass die Jagd um Dawson verboten wurde. Ähnlich wie im Schiffsverkehr sah es auf den Docks und in der Holzindustrie aus. Darüber hinaus schlossen die letzten Goldminen, viele Weiße verließen das Territorium. Nur noch rund 2.700 Nicht-Indianer lebten im Territorium. Viele Tr’ondek meldeten sich zur Armee, so auch zwölf Männer aus Eagle Village. Andere gingen in den südlichen Yukon, um ab 1942 beim Bau des Alaska Highway mitzuarbeiten, den die USA in Erwartung einer japanischen Invasion bauten. Mehr als 30.000 Arbeiter, meist aus den USA, waren dort beschäftigt. Auch das Canol-Pipelineprojekt bot zahlreiche neue Stellen. 1942 entstand sogar ein Mangel an Arbeitskräften in den Minen, da viele zum Straßenbau gingen. Die Minenunternehmen engagierten daher Indianer, mussten aber feststellen, dass diese im Herbst ihre Arbeitsplätze verließen, um zur gewohnten und lebensnotwendigen Jagd zu gehen. Außerdem fürchteten sie, sich mit den aus dem Süden eingeschleppten Krankheiten zu infizieren, Epidemien, die nach wie vor ganze Orte auslöschten, wie etwa Champagne am Alaska Highway, das heute fast eine Geisterstadt ist. 1947 und 1948 brach der Pelzmarkt in den USA und damit bei den westlichen Han zusammen, das Gleiche galt für die kanadischen Märkte. Erst 1950 wurden in Yukon die so genannten trap lines, die in British Columbia bereits 1926 eingeführt worden waren, verteilt. Sie sollten bestimmte Gebiete nur noch für die Jagd entsprechender Stämme reservieren, um weiße Konkurrenz fernzuhalten. Doch das Gegenteil geschah. Gebühren, vor allem aber die Vererbung der Anrechte über die männliche Linie, statt wie traditionell über die weibliche, führten zu Streitigkeiten und letztlich zu einem Vordringen nichtindianischer Pelztierjagd. Dies machte die Indianer wiederum von der kanadischen Wohlfahrt abhängig, die während des Krieges stark gefördert worden war und die ab etwa 1955 auch die Indianer des Yukon erreichte. Unterbeschäftigung und Abhängigkeit schufen ein zunehmendes Alkoholproblem. Ähnlich wie im Yukon verstärkte der Straßenbau, hier des 1953 bis 1955 entstandenen Taylor Highway, die Zufuhr auch in Eagle. 1964 beschloss Eagle Village per Abstimmung die Abschaffung des Verkaufs, ein Beschluss, der bis heute gültig ist. Die Bevölkerung ging dennoch weiter zurück. Hatte der Ort 1966 noch 64 Einwohner, so waren es 1997 nur noch 24, im Jahr 2000 wieder 30 bzw. 68 als Census-designated place. 1957 schloss die Schule in Moosehide, was auch die letzten Bewohner veranlasste, nach Dawson zu gehen. Reverend Martin verließ als letzter dauerhafter Bewohner 1962 Moosehide. In Dawson besaßen die Tr’ondek jedoch keinerlei Schutz durch ein Reservat, sondern siedelten sich familienweise an. Die Stadt war indes so stark geschrumpft, dass nur geringe Polizeikräfte verblieben. Waren 1904 noch 96 Männer der North West Mounted Police in Dawson, so waren es 1910 nur noch 33, 1925 nur noch 15, 1945 gar 3. Die Regierung unterstützte den Hausbau, schuf aber durch die nahe beieinander stehenden Häuser ein eigenes indianisches Quartier in der Stadt. Segregation, Vernachlässigung (etwa 1905 bis 1942) Insgesamt erreichte die anglikanische Kirche zusammen mit der Polizeitruppe eine Phase relativ stabiler Segregation ab etwa 1905, die bis 1942 andauerte. Sie war ohne die Entwicklung stereotyper Bilder des Indianers und der Vorstellungen von „Wildheit“ und allgemein Minderwertigkeit in der weißen Gesellschaft des Korridors zwischen Dawson, Mayo und Whitehorse jedoch nicht vorstellbar. So wehrte man sich in Dawson 1925 heftig gegen eine Schule für Kinder aus gemischten Beziehungen. Andererseits verlor jede indianische Frau, die einen Weißen heiratete, ihren Status als Indianerin (vgl. Indian Act). Dabei stieg der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern erheblich. Hatte er von 1900 bis 1925 noch bei 4 Jahren gelegen, so stieg er 1925 bis 1950 auf rund 12 Jahre, die weißen Männer, die Indianerinnen heirateten, waren sogar 16 Jahre älter. Dabei verfügte man über kein legales Mittel, um Indianer aus den Städten fernzuhalten, wie 1913 der Indianeragent von Whitehorse mit Bedauern feststellte, außer dem „bluff“. Sie mussten Dawson im Sommer ab 19 Uhr, im Winter ab 17 Uhr verlassen. Strafen durften gegen die Leute aus Moosehide verhängt werden, wenn sie die Sperrstunde verletzten, wenn sie tranken oder einfach, wenn sie zu freundlich zu weißen Bewohnern waren. Ab 1929 mussten Indianer Dawson um 20 Uhr verlassen, 1933 brauchten sie zum Aufenthalt in der Stadt eine Sondererlaubnis. Diese erhielten sie üblicherweise, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorwiesen. Ob, wie in Mayo 1947, eine laute Glocke die Sperrstunde verkündete, ist unklar. Einen Sonderfall stellten die Frauen von Missionaren dar, die in der Stadt bleiben durften, denn der langjährige Missionar Toddy war mit einer Indianerin verheiratet, die ihn wegen eines Ohrenleidens pflegen sollte. Neben den eigentlichen Missionsschulen und den in ganz Kanada für die Ureinwohner eingerichteten Schulen besuchten bis 1949 nur Kinder in Teslin eine integrierte Schule. Dabei kam der Widerstand gegen die Aufnahme indianischer Schüler inzwischen weder aus der Verwaltung noch aus der Lehrerschaft, sondern aus den Kreisen der Eltern. Ende der 1940er Jahre zogen viele Moosehider nach Dawson, doch überredete der zuständige Indianeragent sie zurückzukehren, da er Ausbrüche von Tuberkulose fürchtete. Die völlige Vernachlässigung medizinischer Versorgung, die Segregation und die Armut hatten in der Tat dazu geführt, dass die Tuberkulose sich ausbreitete. Schon 1907 war es zudem bei einer Diphtheriewelle zu 7 Toten in Moosehide gekommen. Diese Krankheiten traten immer wieder auf, und so rechnete man bis 1941 mit 18 bis 37 (registrierten) Sterbefällen pro Jahr im Yukon. 1942 schnellte diese Zahl auf 64 in die Höhe, als der Alaska Highway ausgebaut wurde. Die medizinische Versorgung der Indianer wurde zwar von den wenigen Hospitälern übernommen, doch wurden sie, wie in Mayo, in einem Zelt hinter dem Gebäude versorgt. Das von der Treadgold Mining Company gegründete Institut verweigerte ihre Aufnahme. In Dawson weigerten sich weiße Mütter, den Raum mit Indianerinnen zu teilen. Die medizinische Versorgung basierte auf einem Entlohnungssystem der Ärzte, bei dem das Department of Indian Affairs einsprang, wenn die Patienten nicht zahlungsfähig waren. Dazu stellte es vier Ärzte, die 1914 auf der Basis eines festen Honorars durch zwei Ärzte in Dawson und Whitehorse ersetzt wurden. J. O. Lachapelle erhielt, wie sein Kollege in Whitehorse, 1.200 Dollar im Jahr, statt, wie bisher, zwei Dollar pro Patient. Bei der umfassenden Segregation und Vernachlässigung stagnierte die Zahl der Indianer im Yukon bei hohem Krankheitsstand und hoher Kindersterblichkeit von 1911 bis 1951 bei rund 1.300 bis 1.600. 1901 hatte ihre Zahl noch bei 3.322 gelegen, 1961 waren es erst wieder 2.207, 1971 2.580. Zugleich wurde ihre Lebensgrundlage durch Überjagung der Karibuherden verstärkt bedroht. So umfasste die Forty Mile Herd 1920 rund 568.000 Tiere, doch bereits 1953 existierten nur noch 50.000 Tiere. Bis 1973 schrumpfte die Herde durch weitere Überjagung auf 6.500 Exemplare zusammen. Heute umfasst die Herde wieder 39.000 Tiere; sie soll auf 50 bis 100.000 vergrößert werden. Seit einigen Jahren taucht sie auch wieder bei Dawson auf. Landansprüche und Selbstregierung, kulturelle Wiederbelebung (seit etwa 1950) In den 1950er Jahren begannen die Tr’ondëk das verlassene Tr'ochëk wieder zu besiedeln, nachdem Dawson stark entvölkert war, so stark, dass die Hauptstadt Yukons nach Whitehorse verlegt wurde. Wenige Jahre zuvor hatten sich Familien aus Fort Selkirk dort angesiedelt. Die Familien der Johnsons, der Blanchards, der Baums, der Isaacs zogen Anfang der 1950er Jahre wieder nach Tr'ochëk, wo sie teils traditionell, teils von Lohnarbeit außerhalb des Dorfs lebten. In den 1960er Jahren war Fred Isaac einer der wenigen, die noch in Moosehide wohnten. Erst 1960 erhielten die Indianer Kanadas das Wahlrecht, 1961 nahmen die Yukoner Indianer erstmals an einer Wahl im Territorium teil. 1969 wurde Percy Henry zum Häuptling gewählt (bis 1984). In den 1970er Jahren entwickelten die wenigen noch lebenden Han-Sprecher zusammen mit Linguisten wie John Ritter eine Schrift, die ihre Sprache möglichst genau wiedergeben konnte. Damit erhielt der geplante Sprachunterricht eine wichtige Stütze. Zudem wurden Erinnerungsbräuche wie das Moosehide Gathering, eine aus weitem Umkreis beschickte Versammlung, die alle zwei Jahre stattfindet, initiiert, und alte, wie die Erste Jagd, wiederbelebt. Im Dezember 1973 wurde Premierminister Pierre Trudeau das Manifest der Landforderungen Together today, for our children tomorrow überreicht. 1975 sprachen sich die Älteren des Stammes dafür aus, Tr’ochëk als integralen Bestandteil ihrer Landforderungen zu betrachten, doch 1977 setzten sich dort Goldsucher fest. Noch 1991 wurden diese Tätigkeiten illegal fortgesetzt, wobei dortige Artefakte zerstört wurden. Audrey McLaughlin, Angehörige des Yukoner Parlaments, forderte die Regierung auf, diese Tätigkeiten sofort zu untersagen. Auf Percy Henry folgte 1984 erstmals eine Frau als Chief, Peggy Kormendy. Ein Jahr zuvor war in Eagle bereits Joanne Beck zum Häuptling gewählt worden. Der Stamm nahm 1991 Verhandlungen mit dem Territorium um seine Landansprüche auf, 1992 bezog die Regierung Tr’ochëk in die Verhandlungen ein. 1993 unterzeichneten vier Stämme ein Agreement in principle, doch die Verhandlungen der Tr’ondek stagnierten. Im Juli 1995 beschloss der Stamm, seinen Namen von Dawson First Nation offiziell in Tr’ondëk Hwëch’in First Nation zu ändern. 1997 kaufte die Regierung Kanadas alle Claims im Bereich von Tr’ochëk für eine Million Dollar auf, und es kam zu einem Abkommensentwurf. Am 30. August 1996 brannte das nach Chief Isaac benannte Stammesbüro an der Front Street ab. Der Vertrag von 1998 Am 16. Juli 1998 kam es, mit 72 % Zustimmung, beim Moosehide Gathering zum Vertragsabschluss. Der Vertrag trat am 15. September in Kraft. Er umfasst 531 Seiten, hinzu kommt ein Anhang B mit zahlreichen Karten. Der Stamm erhielt 2598,52 km² Siedlungsland, dazu 1553,99 km² Land der Kategorie A, wo ausschließliche Jagdrechte, aber auch Anspruch auf die Landoberfläche und die darunter liegende Schicht besteht, dazu 1044,52 km² Land der Kategorie B, wo die Tr’ondek nur Anspruch auf die Bodenoberfläche (also nicht auf Bodenschätze), dazu gemeinsames Jagdrecht mit anderen besitzen. Im gesamten traditionellen Gebiet behalten Stammesangehörige ihr Jagdrecht. Bei Entwicklungsprojekten, z. B. der Gewinnung von Bodenschätzen, wird der Stamm beteiligt, auch in Form von Arbeitsplätzen. Dazu erhält der Stamm 48 Millionen Dollar, von denen allerdings 17 aus verschiedenen Gründen zurückgezahlt werden müssen. Dazu kommt der Zugang und eine 50-prozentige Repräsentation in allen zuständigen Gremien inklusive der dazugehörigen Einnahmen und Honorare, meist vertreten durch den Council for Yukon First Nations. Schließlich sollte für alle Zeit der Tombstone Territorial Park unter Schutz stehen, die Tr’ondek auch hier hälftig beteiligt sein. So entstand ein Schutzgebiet von 2.100 km² zu dem ein Teil der Mackenzie Mountains Ecoregion, die Ogilvie Mountains und die Blackstone Uplands gehören. Des Weiteren wurden drei historische Stätten (Historic Sites) eingerichtet: Forty Mile, Fort Cudahy und Fort Constantine. Der Stamm und das Territorium haben gemeinsame Besitzrechte und beschicken den Verwaltungsrat mit je der Hälfte der Mitglieder. Der Vertrag sieht unter ähnlichen Bedingungen auch vor, eine Caribou Habitat Study Area einzurichten, in der festgestellt werden soll, ob die größte Karibu-Herde Nordamerikas, die beinahe ausgerottet worden war, wiederhergestellt werden kann. 2002 wurde Tr'ochëk als National Historic Site of Canada ausgewiesen. Die Tr'ochëk Heritage Site bietet entsprechende ökonomische Möglichkeiten der Nutzung, vor allem aber der kulturellen Repräsentation. Im zuständigen Gremium stellen die Tr’ondek 60 % der Mitglieder. Parks Canada und YTG Heritage stellen seit 2002, als die Stätte zur nationalen historischen Stätte erhoben wurde, die übrigen Mitglieder. Sie bieten Unterstützung in archäologischen und historischen Fragen und bei der Abfassung einer Geschichte des Ortes. Die örtliche Robert Service School hat eine archäologische Abteilung und bietet Schülern und Studenten archäologische Lehrgänge. Auch auf die Han in Alaska übte der Vertrag eine starke Wirkung aus, denn jeder, der nachweislich einen Han-Vorfahren hat, kann dem Vertrag beitreten. Einer der Unterhändler, Joe Joseph aus Dawson, reiste bereits ab Sommer 1997 nach Alaska und trug Antragsteller in eine Liste ein. Entsprechend einem US-Gesetz, dem Native American Graves Protection and Repatriation Act (NAGPRA) von 1990 forderte Karma Ulvi aus Eagle Village die Rückgabe von Artefakten, die sich im University of Alaska Museum in Fairbanks befinden. Ähnliche Aufstellungen entstanden in Dawson. Verfassung, weitergehende Verträge Am 22. August 1998 gab sich der Stamm eine Verfassung. Neun der elf Mitglieder-Stämme des Council of Yukon First Nations (CYFN) haben inzwischen Verträge über Landansprüche und Selbstregierung abschließen können. Die meisten staatlichen Aufgaben liegen seitdem in ihrer Hand, wozu vor allem Gesetzgebung, Exekutive und ein eigenes Steuersystem gehören. 1997 ging Tr'ochëk wieder in das Eigentum des Stammes über. Bereits in diesem Jahr begann eine Grabungskampagne, bei der die Jugendlichen des Stammes eine wichtige Rolle spielten und zugleich ihre traditionelle Kultur zu verstehen lernten. Dort entstand ein Lehrpfad und eine Schutzhütte, 2002 wurde die Insel zur nationalen historischen Stätte erhoben, 2011 wurde die entsprechende Beschilderung vorgenommen. Zusammen mit der First Nation of Nacho Nyak Dun schlossen sie einen Vertrag mit Yukon Energy zur Versorgung Dawsons mit Strom über die 232 km lange Mayo Dawson Power Line. Aktuelle Situation 2002 entstand, bedingt durch Mangel an Bauland, ein neuer Land Claim (C-4) bei Dawson. In dieser neuen, so genannten subdivision entstanden in Zusammenarbeit des Stammes mit der Canada Mortgage and Housing Corporation, einer 1946 gegründeten staatlichen Organisation zur Förderung des Hausbaus, zunächst sechs Häuser, 2003 entstanden weitere sechs. Diese Häuser mussten den schwierigen Bedingungen auf Permafrostboden genügen. Zudem wohnen die Tr’ondek Hwech’in meist in Großfamilien, bei denen die Älteren (Elders) einen integralen Bestandteil bilden. Darüber hinaus sollten die hierzu entwickelten Konzepte des HealthyHousing dafür Sorge tragen, dass Energieeffizienz und gesundes Raumklima berücksichtigt wurden. Um den sich verändernden Familien angepasst werden zu können, wurde zusätzlich das FlexHousing-Konzept entwickelt. Dies betrifft sowohl die Zahl der Zugänge, als auch die Raumaufteilung, aber auch die Möglichkeit, Anbauten zu schaffen, die zentral beheizt und belüftet werden können, sowie Barrierefreiheit. Dabei knüpft man an bekannte Bautechniken und Materialien an, die in der Umgebung verfügbar sind, denn die extrem kurze Bauphase im Sommer erfordert eine besonders strenge Zeitplanung. Da nach Recherchen und Rückgabeverhandlungen nun ein Teil der Artefakte nach Dawson zurückgekehrt ist, wird die Kultur der Han auch für Touristen zunehmend sichtbar. Neben dem Kulturzentrum versucht man, auch die anderen Orte einzubeziehen. So existiert seit 2001 die River of Culture tour, die von Han Natural Products, einem Ableger von Chief Isaac, betrieben wird. Das Schiff Luk Cho (King Salmon) fährt von Dawson über Tr'ochëk nach Moosehide Island. 2008 wurde Eddie Taylor für drei Jahre zum Häuptling gewählt. Die bis 2020 für die Indianer Kanadas zuständige, bis 2015 Department of Indian Affairs and Northern Development genannte Einrichtung Indigenous and Northern Affairs Canada, zählte im August 2009 genau 692, im Dezember 2011 genau 716 Menschen zum Stamm. Die vom Stamm selbst geführte Liste umfasste am 5. Mai 2008 hingegen 1.048 Mitglieder, von denen 338 in Dawson lebten, 218 in anderen Orten Yukons, 492 außerhalb, davon 65 außerhalb Kanadas. Im Mai 2020 zählte die staatliche Institution, die aufgelöst und als Crown-Indigenous Relations and Northern Affairs Canada eingerichtet werden soll, 874 Stammesangehörige. Von diesen lebten 683 außerhalb der Reservate, knapp 200 auf Kronland und nur noch drei Männer im Reservat. Bis Juni 2020 hatte die Corona-Pandemie die Indigenen im Yukon noch nicht erreicht. Moosehide Gathering, Versammlung zur Erinnerung an die Umsiedlung Alle zwei Jahre findet das Moosehide Gathering statt, das ein halbes Jahrhundert der Umsiedlung in Erinnerung behalten will. Solche Versammlungen wurden seit langem abgehalten, um die weit verstreuten Gruppen zusammenzubringen. Dort wurden politische Streitigkeiten geschlichtet, geheiratet, man traf sich mit Angehörigen anderer First Nations, etwa um zu handeln, rituelle Feste, wie das Potlatch wurden begangen. Mit der Missionierung traten neben die Feiern anlässlich der Lachswanderungen auch Ostern und Weihnachten als Termine in den Vordergrund. Nach Moosehide kamen dann Leute aus Forty Mile und Eagle, aus Tetlin, aber auch Gwich'in vom Peel und Blackstone River, Nördliche Tutchone und Tanana. Dabei hatten vor allem die Häuptlinge, wie Isaac, Gegenbesuche zu machen, wie bei der Ernennung eines Nachfolgers für einen verstorbenen Häuptling. Im Gegensatz zu British Columbia, wo ab 1885 der Potlatch verboten war, kam es in Yukon zu keinen Verhaftungen, jedoch durch Anwesenheit der Polizei zur Überwachung, durch die Missionare zur Umwandlung in einfache Feierlichkeiten. Erst in den 1970er Jahren kam es zu einer Wiederbelebung der traditionellen Potlatchfeiern. So kam es 1993 zu einem ersten Moosehide Gathering, es folgte ein zweites 1994. Seitdem findet die Feier alle zwei Jahre statt. Hunderte von Besuchern aus Alaska, Yukon und den Nordwest-Territorien besuchen die viertägige Feier. 1998 wurde entsprechend die Annahme des Landnutzungsvertrags gefeiert, dabei wurden Geschenke verteilt, die die Erinnerung wach halten und die Zeugen persönlich verpflichten. Zugleich erhalten die jüngeren Stammesmitglieder Gelegenheit, die Reichweite ihrer Kultur kennen zu lernen, indem sie sie ausüben. Rückkehr von Kulturgütern und -wissen aus Alaska Die Lieder, die Chief Isaac an die in Eagle in Alaska lebenden Verwandten übergeben hatte, sind inzwischen wieder in den Besitz des Stammes zurückgekehrt. Damit wird wieder das Erlernen der Sprache gefördert. Kulturzentrum in Dawson (seit 1998) Zudem konnte im Monat der Vertragsunterzeichnung, also im Juli 1998, das Dänojà Zho Cultural Centre (auch Long time ago house) eröffnet werden. Es entstand durch Mittel, die der Stamm anlässlich der 100-Jahr-Feier des Klondike-Goldrauschs erhielt. 1999 erhielt das Zentrum die Lieutenant Governor of British Columbia’s Medal in Architecture für seine Architektur. Das Haus ist das einzige, das in Dawson, das als nationale historische Stätte eigentlich keine neueren Bauten als die der Goldgräberzeit gestattet, moderne Architektur mit Elementen der viel älteren Kultur der Tr’ondek Hwech’in verbindet. Black City, Jagdgebiet und Siedlung (bis 1927) Das Jagdgebiet der Blackstone Uplands teilten sich die Tr’ondek mit zwei Gwich'in-Stämmen, den Tukudh-Gwich'in vom oberen Porcupine River und den Teetl'it-Gwich'in vom oberen Peel River. Die Uplands waren durch den Seela-Pass mit dem Yukon und über den Chandindu mit dem Twelvemile River verbunden. Black City, gelegentlich auch Blackstone Village genannt, war eine der dortigen Siedlungen mit rund 40 bis 50 Einwohnern am Westufer des East Blackstone River, unweit des Dempster Highway. Die Siedlung lag nahe an einem Wanderpfad zweier Karibuherden, die in den Uplands überwinterten. Andere Orte waren Calico Town, Ts'ok giitlin und Cache Creek. Viele Gwich'in, die Dawson zweimal pro Jahr über einen Pfad durch das Chandindu Valley auf Hundeschlitten oder Traghunden mit Fleisch versorgten, blieben in Moosehide, manche auch in der Umgebung von Dawson. In Moosehide fanden um Weihnachten entsprechende Empfangsfeierlichkeiten statt, und Familien wurden gegründet, wie die Martins, Henrys und Semples, die in Moosehide blieben. Manche brachten auch unbekannte Krankheiten, wie die Grippe mit, und eine unbekannte Zahl von ihnen wurde vom Diakon Richard Martin beigesetzt. Das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Black City war um 1927 jedoch wieder verlassen, seine Bewohner waren nach Moosehide, Old Crow oder Fort McPherson gegangen. Um 1938 erfolgte wohl der letzte Jagd- und Handelszug der Gwich'in durch das Gebiet. Sie kamen vom Hungry Lake, Doll Creek oder den Burning Mountains. Heute ist das Gebiet von Black City im Rahmen des Tombstone-Parks geschützt, archäologische Projekte dienen der Erforschung, aber auch der stärkeren Anbindung der Jüngeren an die Region. 1989 begannen Grabungen in Black City und im Umland. Das Management der Stätte liegt ausschließlich bei den Tr’ondek Hwech’in, Jagd und Fischfang werden bis heute praktiziert. Zerstörung und Wiederaufbau von Eagle (seit 2009) Im Mai 2009 wurde Eagle von der schwersten überlieferten Überschwemmung getroffen und von umhertreibenden Eisblöcken weitgehend zerstört. Unter den 25 zerstörten Häusern befand sich das Eagle Customs House von 1900. Auch Eagle Village wurde völlig zerstört, dazu gehört als historisches Gebäude die Kirche. Präsident Obama rief den Notstand aus. In Eagle City hielten sich während des Sommers permanent mindestens 60 freiwillige Helfer auf, bis August entstanden 13 neue Häuser. In Eagle Village bauten vor allem der Mennonite Disaster Service, Samaritan’s Purse und das Eagle Rebuilding Construction Team. Quellen Neben archäologischen Funden und mündlicher Überlieferung stellen die Berichte der Hudson’s Bay Company die frühesten Quellen dar. Zu den ältesten Journalen zählen die Berichte Murrays, die 1847 einsetzen (Murray 1910). Murray war zwar Augenzeuge, doch dürften die Verständigungsmöglichkeiten eher begrenzt gewesen sein. Von gewisser Bedeutung sind die Berichte von William Hardisty und Strachan Jones, wenn sie auch sehr knapp sind. Frederick Schwattka, der in militärischem Auftrag berichtete, liefert uns für die Zeit vor 1900 ausführlichere Darstellungen zur Kultur der Han, wenn er auch nicht über Dolmetscher verfügte, ebenso wie der Journalist Tappan Adney, der kurze Zeit bei ihnen lebte (1897–1898) und in Harper’s New Monthly Magazine (1900) und in Outing (1902) darüber berichtete. Auch der Arzt Ferdinand Schmitter, der etwa 1906 in Fort Egbert stationiert war, kannte die Han aus eigener Anschauung. Er interessierte sich vor allem für die Medizinmänner, jedoch ist nicht immer klar, ob er die Dinge selbst beobachtet hat, oder ob er sie aus anderen Quellen bezog. Bis etwa 1930 gibt es keine weiteren Untersuchungen oder Darstellungen. 1932 befragte der Anthropologe Osgood, der allerdings zu dieser Zeit über die Gwich'in forschte, einige Han in Eagle, vor allem Walter Benjamin, dessen Mutter die Schwester von Chief Isaac war, und den um 1850 geborenen Jonathan Wood. Richard Slobodin arbeitete bei den Han 1963. Er befragte vor allem Han aus Dawson, unter ihnen Charlie Isaac, Simon und Mary McLeod. Insgesamt ist die dünne Quellenlage für die Zeit bis in die 1970er Jahre von geringem Interesse an der Kultur, wenig wissenschaftlicher Ausrichtung, die, wenn sie auftrat, sich auf die benachbarten Stämme richtete, und einer schlechten sprachlichen Verständigung geprägt. Literatur Zwei weitgehend ethnologische, entgegen dem Titel nur zu einem geringen Teil historische Arbeiten stammen aus den USA, eine ist im Yukon entstanden. Hinzu kommen Arbeiten im Auftrag des Stammes und der Heritage Resources Unit in Whitehorse zur Archäologie, sowie zum Hausbau. Als richtungweisende historische Arbeit für die Zeit von 1840 bis 1973, partiell bis 1990 gilt der Beitrag von Ken S. Coates. Chief Isaac, Trondek Heritage (PDF; 588 kB). Chris Clarke und K'änächá Group, Sharon Moore (Hrsg.): Tr'ëhuhch'in näwtr'udäh'¸a = finding our way home, Tr'ondëk Hwëch'in Publ., Dawson City, ca. 2009, ISBN 978-0-9688868-3-0. Ken S. Coates: Best Left as Indians. Native-White Relations in the Yukon Territory, 1840–1973, McGill-Queen’s University Press, Montreal / Kingston 1991, Paperback 1993. Helene Dobrowolsky: Hammerstones: A History of the Tr’ondek Hwech’in, Tr’ondek Hwech’in Han Nation, 2003. Helene Dobrowolsky: Tr'ondëk Hwëch'in (First Nation) Yukon Territory. Forty Mile Historic Site: bibliography: archival sources for Forty Mile, Fort Constantine and Fort Cudahy Historic Site / zusammengestellt für Tr'ondëk Hwëch'in, Whitehorse: Yukon Government, Heritage Resources Unit 2002. Thomas J. Hammer, Christian D. Thomas: Archaeology at Forty Mile/C'hëdä Dëk, Yukon Tourism and Culture, Whitehorse 2006. Innovative Buildings. Homes for the Tr'ondëk Hwëch'in Hän. FlexHousingTM in Dawson City. Craig Mishler, William E. Simeone: Han, People of the River. Hän Hwëch'in: An Ethnography and Ethnohistory, University of Alaska Press, 2004. ISBN 1-889963-41-0 Cornelius Osgood: The Han Indians. A Compilation of Ethnographic & Historical Data on the Alaska-Yukon Boundary Area, Yale University Publications in Anthropology, 1971 – Osgood versucht die Kultur der Han um 1850, also zum Zeitpunkt der ersten direkten Kontakte mit Europäern, darzustellen. Adney Tappan: The Klondike Stampede, University of British Columbia, 1994. ISBN 978-0-7748-0490-5 Siehe auch Geschichte der First Nations Liste der in Kanada anerkannten Indianerstämme Schenkökonomie Weblinks Website der Tr’ondëk Hwëch’in First Nation Tr'ondëk Hwëch'in Heritage Sites Chief Isaac's People of the River – Website mit dem Schwerpunkt Chief Isaac MacBride Museum of Yukon History Anmerkungen Trondek Hwechin First Nation, Geschichte Trondek Hwechin First Nation
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https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCste%20der%20Nofretete
Büste der Nofretete
Die Büste der Nofretete, auch als Kopf der Nofretete oder nur als (die) Nofretete bezeichnet, zählt zu den bekanntesten Kunstschätzen des Alten Ägypten und gilt als Meisterwerk der Bildhauerkunst der Amarna-Zeit. Sie wurde in der Regierungszeit des Königs (Pharaos) Echnaton zur Zeit der 18. Dynastie (Neues Reich) zwischen 1353 und 1336 v. Chr. gefertigt. Die Büste der Königin Nofretete wurde am 6. Dezember 1912 bei Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft unter Leitung von Ludwig Borchardt in Tell el-Amarna in Haus P 47,2, der Werkstatt des Oberbildhauers Thutmosis, entdeckt. Sie wurde im Januar 1913 im Rahmen der Fundteilung mit Genehmigung der ägyptischen Altertümerverwaltung nach Deutschland gebracht. 1920 ging die Büste der Nofretete durch eine Schenkung von James Simon mit weiteren Objekten, die Dauerleihgabe an die Ägyptische Abteilung der königlich preußischen Kunstsammlungen waren, an den preußischen Staat. Zu einer öffentlichen Präsentation im für die ägyptische Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin errichteten Museum auf der Berliner Museumsinsel kam es aber erst 1924. Heute ist sie im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und befindet sich unter der Inventarnummer 21300 als Hauptattraktion im Ägyptischen Museum Berlin, das seit dem 16. Oktober 2009 wieder im Neuen Museum (Nordflügel, Nordkuppelsaal) auf der Berliner Museumsinsel untergebracht ist. Weil Ägypten zur Zeit der Ausgrabungen ein britisches Protektorat war und somit die Büste unter Bedingungen der Besatzer, nicht der Ägypter, nach Deutschland kam, wird argumentiert, dass die Büste koloniale Raubkunst sei. Ägyptische Behörden verlangen seit 1924 regelmäßig eine Rückgabe. Zum Wert der Büste der Nofretete gibt es verschiedene Angaben. Eine Versicherung schätzte sie 2009 auf 390 Millionen US-Dollar (300 Millionen Euro), während andererseits ihr Wert auch mit 400 Millionen Euro (circa 520 Millionen US-Dollar) angegeben wurde. Entdeckung und Historie Vorgeschichte Die Geschichte von Tell el-Amarna als Ausgrabungsstätte beginnt mit dem Jesuitenpater Claude Sicard, der im November 1714 Kopien der Grenzstelen der antiken Stadt Achet-Aton anfertigte. Ihm folgte die Expedition von Napoléon Bonaparte, die die „Reste einer antiken Stadt“ vorfand. Nach weiteren Forschungen und Entdeckungen durch John Gardner Wilkinson (1824), Karl Richard Lepsius (1842/1845), Flinders Petrie (1891/92), Norman de Garis Davies (1901) und Besuchen von James Henry Breasted (1895) folgte 1907 Ludwig Borchardt. Frankreich und England hatten bereits seit mehreren Jahren Forschungsinstitute in Ägypten. Und so forderte die Deutsche Akademie der Wissenschaften auch eine regelmäßige Beteiligung deutscher Forscher in Ägypten. Allerdings fehlten hierfür die politische, die diplomatische und die finanzielle Unterstützung. Kaiser Wilhelm II. missfiel der wissenschaftliche Vorsprung, den die beiden Länder als Kolonialmächte auf diesem Gebiet in Ägypten hatten: Auch in deutschen Museen, insbesondere in Berlin, sollten sich zukünftig historische Objekte finden, nicht nur im Louvre in Paris oder British Museum in London. 1899 schließlich wurde die Stelle eines wissenschaftlichen Attachés am Kaiserlichen Generalkonsulat in Kairo geschaffen. Der Auftrag des Amtsinhabers war, die Berliner Akademie der Wissenschaften über alle wichtigen Ereignisse aus dem Bereich der Ägyptologie zu unterrichten. Dieser Posten wurde mit dem Architekten und Ägyptologen Ludwig Borchardt besetzt und 1907 in eine Direktorenstelle des neu gegründeten Kaiserlichen Instituts für Ägyptische Altertumskunde, der Vorgängerinstitution des heutigen Archäologischen Instituts Kairo (DAIK), umgewandelt. Nach der Bestandsaufnahme einer preußischen Expedition 1842 unter Leitung von Karl Richard Lepsius erfolgte die erste Begehung des Areals von Tell el-Amarna durch Borchardt 1907. Südlich der Tempelruinen lagen Wohnhäuser und Werkstätten, die den Forschern vielversprechend erschienen. Ludwig Borchardt konnte den Berliner Baumwollhändler James Simon als Finanzier der folgenden Grabungskampagnen gewinnen, der auch die Ausgrabungen Borchardts bei den Pyramiden von Abusir finanziert hatte. Von Januar bis April 1911 begann die erste große Grabungskampagne der Deutschen Orient-Gesellschaft unter Borchardt in Amarna, für die Simon am 29. August die Grabungskonzession erhielt. Zwar lag die Durchführung der Grabung bei der Deutschen Orient-Gesellschaft, doch ein Vertrag mit Simon sah vor, dass er für die Finanzierung mit 30.000 Mark jährlich aufkam und alle Funde des deutschen Anteils der Kampagne in seinen Besitz übergingen. Fundgeschichte und Fundteilung Während der dritten Grabungskampagne 1912/1913 (November 1912 bis März 1913) der Deutschen Orient-Gesellschaft in Tell el-Amarna wurde in den Überresten eines aus Lehmziegeln errichteten Hauses im Planquadrat P 47,2 in Raum 19 die Büste der Nofretete im Atelier des Bildhauers Thutmosis gefunden. Die Fundlage ließ darauf schließen, dass die Büste auf einem hölzernen Wandbrett gestanden haben musste, durch dessen Zerfall sie auf den Boden gefallen war. Sie blieb dennoch weitestgehend unversehrt und der sich darüber anhäufende Schutt konservierte die Büste. Das Fundstück wird in der Fundliste unter der Nummer 748 mit der Kurzbeschreibung „bemalte Büste der Königin“ geführt. Borchardt vermerkte hierzu in seinem Tagebuch: Im selben Raum fand man eine lebensgroße, ebenfalls bemalte und aus Kalkstein bestehende Büste von König Echnaton (Fundstück Nr. 1300), die jedoch zerschlagen war. Im Gegensatz zur Büste der Königin Nofretete war hier ersichtlich, dass die Schäden nicht durch ein Herunterfallen entstanden sein konnten. Zur Zeit von Borchardts Arbeiten in Tell el-Amarna stand Ägypten unter britischer Besatzung und der damalige ägyptische Antikendienst (Service d’Antiquités Égyptiennes, auch Département d’Antiquités), das heutige Supreme Council of Antiquities, unter französischer Leitung. Die Fundteilung dieser Grabungskampagne fand am 20. Januar 1913 gemäß den damals geltenden Bestimmungen „zu gleichen Teilen“ (à moitié exacte) für Ägypten und das die Ausgrabung durchführende Land statt. Borchardt hatte die beiden Teile zusammengestellt, was bis zum Jahr 1914 das Vorrecht des Ausgräbers war. Gaston Maspero, der Direktor des Antikendienstes, beauftragte seinen Mitarbeiter Gustave Lefebvre mit der Regelung der Fundteilung. Der eine Teil enthielt die Büste der Nofretete, der andere, den Lefebvre schließlich für das Ägyptische Museum in Kairo auswählte, den sogenannten Klappaltar von Kairo, ein farbiges Altarbild, das das Königspaar Echnaton und Nofretete mit dreien seiner Kinder zeigt. Laut Borchardt besaß das Museum in Kairo bisher kein Altarbild, wünschte sich jedoch ein solches Fundstück, was ausschlaggebend für seine Zuordnung der Objekte war. Die Gründe für Lefebvres Entscheidung, den Teil des Fundes mit der „bunten Königin“ Borchardt zuzusprechen und das Altarbild für Ägypten zu wählen, sind unbekannt. Der Ägyptologe Rolf Krauss äußerte die Vermutung, dass Borchardt Lefebvre überzeugen konnte, die Fundteile wegen einer genaueren Untersuchung nicht auseinanderzureißen. Der ehemalige Direktor des Ägyptischen Museums Berlin, Dietrich Wildung, hingegen vertritt die Meinung, dass Ägyptologen damals „eher Texten im Gegensatz zu Büsten einen höheren wissenschaftlichen Stellenwert einräumten“. Borchardt schrieb im Jahr 1918 über Lefebvre, dass diesem die Fundteilung gemäß den Bestimmungen zum einen zu hart erschienen war, er andererseits aber auch eher auf Inschriften und Papyri spezialisiert gewesen sei und deswegen den Wert der Büste nicht erkannt habe. Borchardt berichtete weiter, dass das Ergebnis wohl auch auf seine Geschicklichkeit bei der Verhandlung über die Funde eine Rolle gespielt habe. Kritiker wie Hawass beschreiben diese Situation jedoch als ein Täuschungsmanöver, um den Wert der Büste zu verschleiern, weil sie nur als einfaches Gipsmodell deklariert wurde. 1914 wurde Pierre Lacau Nachfolger von Maspero und führte eine verschärfte Regelung bei der Fundteilung ein: Danach sollten alle einzigartigen Stücke Ägypten zugesprochen werden. Stationen der Büste 1913 erhielt James Simon die Ausfuhrgenehmigung für die Büste von Ägypten nach Deutschland. Sie wurde nach Berlin gebracht und zunächst in Simons Villa im Ortsteil Berlin-Tiergarten, am heutigen Standort der Landesvertretung Baden-Württemberg, aufgestellt. Hier betrachtete sie auch Kaiser Wilhelm II. mehrfach. Borchardt vertrat seit der Fundteilung sehr hartnäckig die Meinung, dass die Büste nicht der Öffentlichkeit präsentiert werden dürfte. Am 11. Juli 1920 wandelte Simon die Dauerleihgabe der Objekte aus der Amarna-Grabung an die Ägyptische Abteilung der königlich preußischen Kunstsammlungen in eine Schenkung an den Freistaat Preußen um. Die Büste wurde allerdings entgegen Borchardts ausdrücklichem Wunsch erstmals 1924 im Rahmen der Berliner Tell el-Amarna-Ausstellung auf der Berliner Museumsinsel gezeigt. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Büste im September 1939 zunächst in einer Kiste mit der Nummer 28 im Tresor der Reichsbank am Gendarmenmarkt aufbewahrt und 1941 in den Flakbunker am Zoo gebracht. Im März 1945 erfolgte die Evakuierung der Kunst- und Kulturgüter aus dem Flakbunker in den Stollen des Salzbergwerkes Merkers in Thüringen. Nach der Besetzung von Merkers durch die US-Streitkräfte am 4. April 1945 wurden die Gegenstände 13 Tage später in die Reichsbank nach Frankfurt gebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die US-Amerikaner in Wiesbaden eine Kunstsammelstelle eingerichtet, den sogenannten Central Collecting Point. Die Büste der Nofretete gelangte so in einer Kiste mit der Beschriftung Die bunte Königin von Frankfurt nach Wiesbaden. Der Leiter der Kunstschutz-Offiziere, Walter Farmer, verhinderte eine Ausführung der Büste in die Vereinigten Staaten. Am 12. Mai 1946 wurde auf Initiative von Farmer im Landesmuseum Wiesbaden eine Ausstellung von Berliner Kunstobjekten organisiert, unter denen sich die Büste der Nofretete befand. Der Spiegel berichtete im Januar 1947, dass über 200.000 Besucher die Ausstellung gesehen hatten. 1948 wurde das gesamte Berliner Kunstdepot zur treuhänderischen Verwaltung der Hessischen Landesregierung übergeben. Die Büste war bis 1956 insgesamt zehn Jahre lang in Wiesbaden zu sehen. Am 22. Juni 1956 erfolgte der Rücktransport der Büste nach West-Berlin, wo sie zunächst in der Gemäldegalerie des Museums in Dahlem ausgestellt wurde. Elf Jahre später wurde die Büste der Königin ins neue West-Berliner Ägyptische Museum im Östlichen Stülerbau in Charlottenburg überführt, wo sie ab der Eröffnung am 10. Oktober 1967 Teil der Ausstellung war. Abgesehen von der ersten CT-Untersuchung, die 1992 im Klinikum Charlottenburg der FU Berlin nahe dem Museum durchgeführt wurde, verblieb sie dort mit der ägyptischen Sammlung bis zum 28. Februar 2005. Danach war die Büste der Nofretete kurzzeitig Teil der Ausstellung Hieroglyphen um Nofretete im Kulturforum Berlin, bevor sie am 13. August 2005 vorübergehend im Alten Museum erneut auf der Museumsinsel zu sehen war. Mit der Wiedereröffnung des Neuen Museums kehrte die Büste der Nofretete am 16. Oktober 2009 an ihren ursprünglichen Standort auf die Museumsinsel zurück. Königin Nofretete Nofretetes Herkunft ist unbekannt und die Auffassungen hierüber veränderten sich im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder mit der unterschiedlichen Fundlage und Auswertung der Funde. Aufgrund ihres Namens Neferet iiti (Nofretete), der mit „Die Schöne ist gekommen“ übersetzt wird, wurde unter anderem angenommen, Nofretete sei nicht-ägyptischer Abstammung gewesen. Zeitweilig wurde sie deshalb auch mit der hurritischen Prinzessin Taduhepa, einer Tochter des Königs Tušratta, gleichgesetzt. Die meisten Historiker nehmen jedoch an, dass Nofretete die Tochter von Eje, dem vermutlichen Bruder von Königin Teje, und dessen erster Frau war und demzufolge ebenfalls aus Achmim stammte. Da Ejes zweite Frau, Tij, in altägyptischen Inschriften als Amme der Königin bezeichnet wird, ist sie als leibliche Mutter der Nofretete auszuschließen; sie war ihre Stiefmutter. Als ein weiteres Indiz für ihre ägyptische Herkunft wird eine inschriftlich erwähnte Schwester namens Mudnedjemet (auch als Mutbeneret / Mutbelet gelesen) gesehen, die einen hohen Rang am Königshof innehatte und als spätere Gemahlin von König (Pharao) Haremhab gilt. Nofretete war die Große königliche Gemahlin von König Echnaton, der den Gott Aton in Form der Sonnenscheibe zum einzigen Gott für die ägyptische Königsfamilie erhob und 17 Jahre lang regierte. Sie hatten sechs Töchter: Meritaton, Maketaton, Anchesenpaaton, Neferneferuaton, Neferneferure und Setepenre. Ihr Name wurde ab Echnatons 5. Regierungsjahr zusammen mit dem Beinamen „Schön sind die Schönheiten des Aton“ (Nefer neferu Aton) in einer Kartusche geschrieben. Wissenschaftler der flämischen Katholischen Universität Löwen in Belgien entdeckten am Jahresanfang 2012 in einem Steinbruch nahe Achet-Aton eine Inschrift, die sowohl Nofretete als auch Echnaton in dessen 16. Regierungsjahr („Jahr 16, 3. Monat, Tag 15“) nennt. Der Steinbruch Deir Abu Hinnis diente zu Echnatons Regierungszeit als Hauptlieferort von Material für seine neue Hauptstadt Achet-Aton. Die fünf Zeilen in hieratischer Schrift nennen die Namen Echnatons und bezeichnen Nofretete, deren Name in einer Kartusche geschrieben ist, in der dritten Zeile: „Große königliche Gemahlin, Geliebte, Herrin der Beiden Länder, Neferneferuaton Nefertiti.“ Damit entzieht diese Entdeckung allen bisherigen Hypothesen und Spekulationen die Grundlage über den Verbleib der Königin nach dem 12. beziehungsweise 14. Regierungsjahr Echnatons. Über die Umstände von Nofretetes Tod und ihr Sterbealter ist nichts bekannt. Büste Die Kalksteinbüste trägt keine hieroglyphischen Inschriften. Sie konnte jedoch aufgrund der charakteristischen Krone, die Ludwig Borchardt selbst als „Perücke“ bezeichnete, im Vergleich mit anderen Darstellungen als Porträt der Königin Nofretete identifiziert werden. Die Plastik stammt aus der Regierungszeit Echnatons und ist damit der Zeit der 18. Dynastie (Neues Reich) zuzuordnen. Innerhalb der Amarna-Zeit wird die Entstehung der Büste aufgrund ihrer Gestaltung der sogenannten „späten Amarna-Phase“, also den letzten Regierungsjahren Echnatons, zugeschrieben. Datierung Trotz zeitlicher Zuordnung ist eine zuverlässige Datierung und Altersbestimmung, beispielsweise mittels C-14-Analyse nicht möglich, da die Büste kein beziehungsweise kaum organisches Material aufweist. Allgemein wird heute für die Herstellung der Büste 1340 v. Chr. angegeben, wobei die Angaben im Laufe der Jahre aufgrund der unterschiedlichen Daten zur Ägyptischen Chronologie differierten. Die verwendeten Farben enthalten zwar organisches Bindemittel, doch mit dem geringen Mischungsverhältnis von 100:1 zu wenig Anteile, um durch eine Untersuchung ein eindeutiges Ergebnis zu erhalten. Eine Möglichkeit wäre, die winzigen Strohanteile, die sich im Bereich der Krone befinden, für eine Analyse zu verwenden, wobei die Materialentnahme minimal sein müsste. Stefan Simon, Materialwissenschaftler des Rathgen-Labors der Staatlichen Museen Berlin, zog als Datierungsmöglichkeit in Betracht, das linke Auge einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, um festzustellen, ob sich dort Wachsreste befinden. Andererseits berichtete Der Spiegel bereits 1997, dass der Ägyptologe Rolf Krauss bei Recherchearbeiten im Magazin des Ägyptischen Museums Berlin auf eine alte Wachsprobe gestoßen war, die der Büste vermutlich um das Jahr 1920 von Friedrich Rathgen an der rechten Pupille entnommen worden war, wobei die Büste beschädigt worden war. So sei eine C-14-Analyse möglich gewesen, die zum damaligen Untersuchungszeitpunkt (1997) ein Alter der Büste von 3347 Jahren ergab. Verarbeitung und Material Während Ludwig Borchardt in seinem Tagebuch noch eine Höhe von 47 cm vermerkte, wird die Höhe der Büste heute mit 50 cm angegeben. Die Plastik wiegt rund 20 kg und besteht aus einem mit einer bemalten Stuckschicht überzogenen Kalkstein. Die Iris des rechten Auges ist eine Einlegearbeit aus Bergkristall mit einer fein eingeritzten Pupille, die mit schwarzer Farbe unterlegt und mit Bienenwachs befestigt ist. Das Weiß der Augen bildet der verwendete Kalkstein selbst. Die Pupille des linken Auges fehlt und es gibt keine Hinweise an der Büste, dass sie jemals eingesetzt war oder eingesetzt werden sollte. Ludwig Borchardt ließ eine chemische Analyse der verwendeten Farben durchführen und veröffentlichte die Ergebnisse der Untersuchung 1924 in Porträt der Königin Nofretete. Als Bestandteile wurden festgestellt: Blau: farbiges Glaspulver (Fritte) mit Anteilen von Kupferoxid Hautfarbe: feiner Kalkspatpuder mit Anteilen von rotem Kalk (Eisenoxid) Gelb: Auripigment (Arsen(III)-sulfid) Grün: farbiges Glaspulver mit Anteilen von Kupfer- und Eisenoxid Schwarz: Kohle, mit Wachs als Bindemittel Weiß: Kalk (Calciumcarbonat) Die Bemalung erfolgte erst nach Abschluss der Oberflächenmodellierung der Gipsauflagen. Aus Mikroskopaufnahmen geht hervor, dass die fünf verschiedenen Farbschichten nacheinander aufgetragen worden waren: blau-weiß, weiß, gelb, blau und schließlich rot. Porträt der Königin Nofretete trägt die für sie auf zahlreichen Darstellungen typische blaue Krone, auch oft als „Helmkrone“ bezeichnet, mit goldenem Stirnband, um die horizontal ein farbiges Band (Diademreif) geschlungen ist, auf der Rückseite mittig zusammenläuft und dort scheinbar von einer Einlage aus Karneol gehalten wird, der von zwei Papyrusdolden umgeben ist. Die hier verwendeten Farben (Gelb, Rot, Blau, Grün) stellen einen Diademreif aus Gold und Edelsteinen dar, wie er sich beispielsweise im Grabschatz des Tutanchamun fand. Über der Stirn befand sich die königliche Uräusschlange, die selbst im Detail nicht mehr erhalten ist, sondern deren ehemalige Existenz nur durch die vergoldeten Überreste an der blauen Krone in ihrer Form nachvollzogen werden kann. Im Nacken verläuft vom Kronenansatz her ein rotes Band, das auf dem oberen Rücken auf dem breiten, polychromen Halskragen (Wesech) aufliegt. Solche im Nacken liegenden Bänder sind ein typisches Attribut in der Kunst nach Echnatons Regierungsantritt. Im Vergleich zu anderen altägyptischen Büsten fehlen die Schultern. Die Büste ist nur bis zum Ansatz der Schlüsselbeine ausgearbeitet. Ludwig Borchardt beschreibt seinen ersten Eindruck von der Büste in seinem Grabungstagebuch mit der Notiz: Das Porträt der Königin zeigt ebenmäßige Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen, langem und faltenfreiem Hals und sehr schmalen Konturen. Beide Gesichtshälften sind symmetrisch. Der Teint ist rosa-bräunlich und wirkt frisch. Das vollständige Makeup des Gesichts, die Augenbrauen, die mit Kajal umrandeten Lider, die nicht zu vollen Lippen mit einem bräunlichen Rotton lassen das Abbild wie gerade geschminkt erscheinen. In seiner Einzelgestaltung entspricht das Porträt nicht nur dem Schönheitsideal der heutigen Zeit, sondern sie verleiht dem Bildnis der Königin eine ausgeprägte Individualität und Persönlichkeit. Joyce Tyldesley beschreibt die Büste zusammenfassend: [Thutmosis] … verlieh ihr eine universelle Schönheit, die über alle Grenzen von Rasse und Zeit hinweg ihre Wirkung entfaltet. Wirkung und Faszination der Büste Die Wirkung beziehungsweise Faszination, die die Büste auf den Betrachter ausübt, ist verschiedenen Aspekten zuzuschreiben: dem fast perfekten Erhaltungszustand mit seinen leuchtenden Farben und dem lebendigen Blick des rechten Auges. Die Detailarbeit der Pupille aus Bergkristall ist auch bei dem Statuenpaar von Prinz Rahotep und dessen Gemahlin Nofret aus der 4. Dynastie (Altes Reich) zu finden, für die dieses weltberühmt ist. Die Effekte der Gesamtbearbeitung bewirken eine lebensechte Darstellung und sprechen den Betrachter trotz idealisierender Züge direkt an. Ein weiterer Punkt ist, dass die Büste sowohl einen passiven als auch aktiven Aspekt in sich vereint: Der Kopf und ihr Genick scheinen durch die schwere Krone nach unten gedrückt zu werden, der Hals ist nach vorne gerichtet. Die Anspannung, dem entgegenzuwirken und das Gleichgewicht zu halten, wird durch die hervorgehobene lange Nackenmuskulatur betont. Besonders deutlich wird dies am Hinterkopf unterhalb des Kronenansatzes, am Übergang von Genick zu Kopf. Die Ägyptologin Julia Samson hielt den Augenblick des Betrachters 1985 mit den Worten fest: Fehlendes linkes Auge Die Büste der Nofretete hatte die Bildhauerwerkstatt des Thutmosis nie verlassen. Nach Auffinden der Büste wurde sowohl der umliegende Schutt als auch der bereits weggebrachte durchsucht. Kleine Bruchstücke der Ohren wurden beim Durchsieben gefunden, die Einlage für das Auge fand sich jedoch nicht. Borchardt schrieb hierzu in seinem Grabungstagebuch: „Erst viel später sah ich, dass es nie vorhanden war.“ Er ergänzte später, dass keine Spuren von Bindemittel in der leeren Augenhöhle nachweisbar wären, die auf ein eingesetztes Auge hingedeutet hätten. Zudem seien keine Spuren von Bearbeitung erkennbar gewesen. Die Meinungen zum fehlenden linken Auge der Büste sind sehr unterschiedlich. In der Regel wird beschrieben, das linke Auge der Büste sei vermutlich nie eingesetzt worden und sollte den Arbeitsprozess am Objekt demonstrieren und somit als Modell dienen. Zum einen heißt es, die leere Augenhöhle weise keine Spuren für eine ursprüngliche Anbringung mithilfe eines Haftmittels oder eine Bearbeitung auf, wonach die Einlage bereits bei der Fertigung der Büste gefehlt haben muss. Dorothea Arnold spricht sich dafür aus, anzunehmen, dass das linke Auge nie vorhanden war, solange mikroskopische Untersuchungen keinen Nachweis auf irgendeine Bearbeitung bringen. Nicholas Reeves hingegen sagt, frühere Aufnahmen zeigten in der linken, leeren Augenhöhle sichtbare Spuren des gleichen Farbkörpers wie im rechten. Nach Rolf Krauss war deshalb das Auge vorhanden, später jedoch herausgefallen. Auch Zahi Hawass zufolge wurde die Büste mit beiden Augen gefertigt und das linke später zerstört. Joyce Tyldesley hält es für unwahrscheinlich, dass „ein einzelnes Auge heraus gerissen wurde, um das Andenken der toten Königin zu attackieren“. Stefan Simon führte aus, dass bisher noch keine Untersuchungen erfolgt seien, durch die sich feststellen ließe, ob sich in der linken Augenhöhle Wachsreste als Bindemittel befinden. Eine Probeentnahme für weitere Analysen hält er aufgrund des Wertes der Büste für unwahrscheinlich. Ergänzend nannte er die leichte Beschädigung unterhalb des Auges, die auf das Heraustrennen der zuvor vorhandenen Pupille aus Bergkristall hindeuten könne. Es fanden sich außerdem im linken Auge blaue Farbspuren, die auch im rechten vorhanden sind. Dass die Fertigstellung ursprünglich beabsichtigt war, die Büste dann aber ohne linkes Auge unvollendet blieb, könnte daran liegen, dass die Königin starb oder die Stadt Achet-Aton plötzlich verlassen wurde. Es wird aber auch vermutet, dass bewusst kein linkes Auge eingesetzt wurde, weil das Werk nicht für die Aufstellung im königlichen Palast oder einem Tempel angefertigt worden sei, sondern in seiner meisterlichen Verarbeitung als Bildhauervorlage für weitere Büsten von Nofretete gedient haben mag. Hermann A. Schlögl zufolge war es spezifisch für sogenannte „Werkstattmuster“, dass sie unvollständig ausgeführt waren, um es dem Bildhauer zu ermöglichen, „durch die noch nicht fertigen Details oder durch die noch erkennbaren Vorzeichnungen den Herstellungsweg leichter verfolgen zu können.“ Das unvollendete linke Auge diente somit als Vorlage für die Herausarbeitung von Feinheiten der Bildhauerarbeiten am Auge. Da Nofretete in den zeitgenössischen Aufzeichnungen nach dem Jahr 12 beziehungsweise dem Jahr 13 in der Regierungszeit Echnatons nicht mehr erwähnt wird, wurde einige Zeit in Betracht gezogen, sie sei in „Ungnade“ gefallen, was sich auf die Bearbeitung des Porträts ausgewirkt habe. Auch die Möglichkeit einer Augenerkrankung der Königin wurde vermutet. Eine 2012 entdeckte hieratische Inschrift im Steinbruch von Deir Abū Ḥinnis hingegen nennt ein „Jahr 16, 3. Monat, Tag 15“ in der Regierungszeit Echnatons. Im Vergleich zu anderen Porträts oder Reliefdarstellungen der Königin ist die Büste der Nofretete das bisher einzige Objekt, dem das linke Auge fehlt. In Romanen um Nofretete und Echnaton oder in populärwissenschaftlicher Literatur wurde das Fehlen des linken Auges ebenfalls aufgegriffen. So folgt Philipp Vandenberg in seinem Buch Nofretete von 1975 der Vermutung der Ägyptologen dieser Zeit, dass das Porträt der Königin unvollendet blieb. Seiner Mutmaßung nach habe der Bildhauer Thutmosis das Bildnis aus verschmähter Liebe nicht vollendet, um die Königin zu bestrafen. Christian Jacq lässt in seinem Roman Nofretetes Tochter die Große königliche Gemahlin Echnatons erblinden, bevor sie stirbt. Untersuchungen Die erste Untersuchung der Büste führte in den 1920er Jahren Friedrich Rathgen durch. Die Ergebnisse veröffentlichte Ludwig Borchardt 1924. Der Bildhauer Richard Jenner untersuchte die Büste 1925 während seiner Restaurierungsarbeiten. Weitere Analysen und Vermessungen folgten 1950, 1969 und 1982. 1986 wurde das von Borchardt veröffentlichte Ergebnis zur Gipsauflage korrigiert. Die neuere chemische Untersuchung ergab, dass es sich um eine sogenannte Gips-Anhydrit-Mischung (Stuck) handelte, die auch an anderen Objekten aus der Amarna-Zeit festgestellt wurde. 1989 wies der Ägyptologe Rolf Krauss nach, dass die Büste präzise nach den Vorgaben eines Rastersystems gearbeitet worden war. Der Maßstab beträgt 26 Fingerbreiten von jeweils 1,875 cm und ergibt die Gesamthöhe von knapp 50 cm. Die Büste wurde bisher zwei Mal mittels Computertomographie (CT) untersucht (1992 und 2006), um die Herstellungstechnik und den Erhaltungs- beziehungsweise Schadenszustand zerstörungsfrei zu ermitteln. Bereits 1990 wurde der Porträtkopf der Königin Teje (ÄMP 21834) auf diese Weise einer genauen Analyse unterzogen. Er zählt als das zweite Hauptkunstwerk der ägyptischen Kunst im Ägyptischen Museum Berlin. Aufgrund einiger Abplatzungen der dünnen Gipsschicht auf der linken Seite der blauen Krone und den sichtbaren Stuckschichten an den Schultern war bekannt, dass der Kern der Büste aus Kalkstein besteht und mit Gips überzogen und bearbeitet war. Rudolf Anthes erwähnte das bereits 1961 in The Head of Queen Nofretete. Die Untersuchungen wurden 1992 in der Röntgenologischen Abteilung des Klinikums Charlottenburg der FU Berlin durchgeführt und ergaben ein exaktes Bild dieser Bearbeitungen. Es wurde festgestellt, dass die Unebenheiten und Mängel des Kalksteinkerns mit den Feinarbeiten durch den darübergearbeiteten Stuck ausgeglichen wurden. So sind die Schultern im Kalksteinmaterial nicht auf gleicher Höhe und der Nacken länger und dünner. Auch die blaue Krone war ursprünglich straffer als in dem Abbild der jetzigen Büste. Die Horizontalbilder in Augenhöhe ermöglichten zudem eine Dichtemessung des Materials hinter dem Bergkristall des rechten Auges. Die festgestellte Dichte entsprach dem von menschlichem Fettgewebe und ließ vermuten, dass es Wachs ist. Die erheblichen Korrekturen des Kalksteinkerns durch die Stuckbearbeitungen ließen außerdem den Schluss zu, dass es sich bei der Büste um ein Bildhauermodell handelt. Vergleichsweise fanden sich bei Skulpturen oder Statuen in Gräbern oder Tempeln keine derartig massiven Nacharbeiten mit dem Material Gips. Aufgrund der technischen Fortschritte wurde die Büste der Nofretete deshalb 14 Jahre später nochmals in Zusammenarbeit von National Geographic und Siemens Medical Solutions unter Leitung von Alexander Huppertz, dem Leiter des Imaging Science Instituts (ISI) der Berliner Charité, und Aufsicht von Dietrich Wildung erneut mittels CT gescannt. Die 2006 durchgeführte Untersuchung ermöglichte es, die Strukturen des Kalksteinkerns der Büste deutlicher zu erkennen, und stellte diese sehr viel detaillierter dar als die erste Untersuchung 1992. Dietrich Wildung beurteilte die Untersuchungen der Büste: So zeigte der Kern der Büste „einen dürren langen Hals und schiefe Schultern“. Es gab etliche Nacharbeiten durch aufgetragenen Gips, teilweise mit einer Dicke von bis zu 4 cm. Einerseits wurden so Korrekturen des gemeißelten Kalksteins vorgenommen, andererseits wurden durch den aufgetragenen Gips in der letzten Schicht in der Wangenpartie unterhalb der Augen nachträglich sehr feine Falten eingearbeitet. Wildung bezeichnete es als „einen typischen Prozess im Bildhaueratelier“. Diese nachträglichen Feinarbeiten am Gips zeugen von einer sorgfältigen Bearbeitung des Gesichts der Königin. Um das Bildnis der Nofretete besser zur Geltung zu bringen, wurde die Büste der Nofretete bei der neuen Präsentation im Alten Museum anders ausgeleuchtet als bisher. Sie erschien jetzt nicht mehr als das „hübsche Mädchen“, sondern als reife, ältere Frau. Bei Vergleichen der Analysen der CT-Aufnahmen von 1992 und 2006 und weiteren Auswertungen der Bilddaten kamen Mitarbeiter der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung jedoch zu einem anderen Ergebnis: Es gebe kein zweites Gesicht der Nofretete, ein solches existiere nur virtuell. Alexander Huppertz wies die Vorwürfe zu der von ihm durchgeführten Untersuchung und den Ergebnissen als haltlos zurück: „Dass das ursprüngliche Gesicht exakt so aussieht wie auf seinem 3-D-Scan, will er nicht beschwören. Aber ich bin überzeugt, dass es das Gesicht gegeben hat.“ Erhaltungszustand Die Büste ist bis auf wenige Beschädigungen, wie die fehlende Uräusschlange auf der Vorderseite der Krone über der Stirn, Teile beider Ohren oder eine größere oberflächliche Ausplatzung der Gipsschicht auf der linken Seite der Krone und leichten Bruchkanten an der linken Schulter, sehr gut erhalten. Kleine Bruchstücke der Ohren konnten durch Restaurierungsarbeiten 1925 wieder angefügt werden. Wie auch die Pupille des linken Auges wurde die abgeplatzte Uräusschlange nicht im Schutt gefunden. Die Bemalung ist im Originalzustand und wurde bisher keiner Restaurierung unterzogen. Die Kalksteinbüste war in den Jahren seit ihrer Entdeckung durch ihre verschiedenen Stationen immer wieder unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Ihre Aufenthaltsorte waren von Erschütterungen, Temperaturschwankungen und Feuchtigkeit geprägt. Der Ägyptologe Barry Kemp leitet seit 1977 das Amarna Project und vermerkte 2007 zu den einzelnen Stationen der Büste, „es sei ein Wunder, dass sie als intakte, wunderschöne Statue erhalten geblieben ist“. Die Untersuchung aus dem Jahr 2006 ergab außerdem eine schlechte Anbindung der verwendeten Materialien (Kalkstein und Stuck) miteinander. Durch diese Inhomogenität sei die Büste nicht nur anfällig für Vibrationen, Berührungen oder Erschütterungen, sondern mache auch eine Sanierung unmöglich. Laut Materialwissenschaftler Stefan Simon ist aber auch der Zustand der Malschicht in besorgniserregendem Zustand. Unterschiedliche Studien zeigen die Farbverluste der Büste nach 1913 und nach 2005, wobei die Farbverluste nach dem Entdeckungsjahr am stärksten waren. Die Bemalung der Büste habe zudem im Rahmen der Kunstaktion für die Biennale in Venedig ebenfalls Schäden erlitten. Um in Zukunft weitere Verluste der aufgetragenen Farben zu vermeiden, erhielt die Büste einen neuen Unterbau aus Edelstahl als Sekundärmontage, durch den sie berührungsfrei bewegt werden kann. Als weiterer Schutz zur Erhaltung der Farbpigmente ist seit Februar 2010 das Fotografieren der Büste untersagt, da das Porträt der Königin trotz Verbotsschildern immer wieder mit Blitzlicht fotografiert worden war. Büste und Amarna-Kunst Obwohl alle Fundstücke im Areal des Grabungskomplexes P 47 einmalig in ihrer Ausarbeitung sind, ist die Büste der Nofretete aus dem Atelier des Bildhauers Thutmosis innerhalb dieser Gruppe und von allen zehn dort gefundenen Köpfen der Nofretete die herausragendste Arbeit: Sie ist das einzige bemalte und fein ausgearbeitete Porträt und zählt als Meisterwerk der altägyptischen Kunst. Die Kalksteinbüste hebt sich in ihrer Ausführung nicht nur von Darstellungen aller ägyptischen Epochen ab, sondern auch von allen anderen Porträts, Reliefs, Statuen oder Standfiguren aus der Amarna-Zeit. Im Gegensatz zu den in den Anfängen der Amarna-Kunst überzogen und teilweise grotesk oder hässlich wirkenden Darstellungen des Königs, der Königin und der Kinder ist die lebensgroße Büste der Nofretete in ihren Proportionen symmetrisch und wirkt vom Ausdruck her weicher. Die Form der Büste ist für eine altägyptische Plastik sehr ungewöhnlich, denn in der Regel wurde der Kopf einer Person einzeln gearbeitet, um ihn später mit einem Körper aus anderem Material zusammenzufügen. An dieser Büste weisen keinerlei Spuren, wie beispielsweise sogenannte „Zapfen“ zum Zusammenstecken, darauf hin, dass sie jemals für eine Kompositstatue der Königin gedacht war. Im Vergleich zu anderen plastischen Darstellungen der Königin ist diese Ausarbeitung einzigartig. Dorothea Arnold unterscheidet insgesamt fünf Darstellungstypen unter den Porträts der Königin: The Definite Image – Das „Idealbildnis“ (Berlin Nrn. 21300 und 21352) The Ruler – die „Herrscherin“ (Ägyptisches Museum Kairo, JE 45547) The Beauty – die „Schönheit“ (Berlin, Nr. 21220) Nefertiti in Advanced Age – die „Ältere“ (Berlin, Nr. 21263) und The Monument – das „Denkmal“ (Berlin, Nr. 21358). Die Büste der Nofretete (Nr. 21300) zählt zu den Idealbildnissen. Auch andere Ägyptologen sehen in der Berliner Büste ein idealisierendes Abbild der Nofretete. Rolf Krauss bezeichnet die Berliner Büste als „ganz und gar konstruiert“ und vermerkt: „Kein menschliches Gesicht hat solche mathematisch exakt festgelegten Proportionen. Nofretetes Kopf ist ein Idealbild.“ Er stellte anhand eines Rasters fest, dass die Basismaße der Büste etwa einen Finger breit (1,875 cm) betragen. Dies sind die kleinsten verwendeten Maße in Längsausrichtung im Alten Ägypten. Im Vergleich hierzu wiesen die zuvor verwendeten Maßeinheiten im Zeichenraster eine Größe von etwa vier Fingern breit auf, einer Handfläche (7,5 cm) entsprechend. Unter Kunsthistorikern wurde die perfekte Symmetrie der Büste immer wieder betont. So liegen das Kinn der Königin, der Mund, die Nase und die auf ihrem Haupt thronende Uräusschlange ohne jegliche Abweichung in einer vertikalen Achse des Gesichts. Diese Exaktheit betrifft jedoch nur das Gesicht des Königinnenporträts. Die Ausarbeitungen der Krone auf beiden Seiten stimmen in der Symmetrie ebenso wenig überein wie die beiden Schulteransätze. Die linke Seite der Krone ist beispielsweise etwas breiter als die rechte und die rechte Schulter etwas weiter gearbeitet als die linke. Die Symmetrie des Gesichts wird besonders bei spiegelverkehrter Betrachtung deutlich, da beide Seiten völlig gleich erscheinen. Die Königinnenbüste hat damit innerhalb der Amarna-Kunst eine Schlüsselposition, da sie sich von allen bisherigen Darstellungen durch ein strenges „numerisches“ System abhebt. „Sie stellt unzweifelhaft den Prototyp eines neuen Gesichts der Königin in seiner reinsten Form dar.“ Trotz zahlreicher Darstellungen der Königin in Form von Reliefs, Porträtköpfen oder Statuen ist das wahre Aussehen von Nofretete unbekannt. Ausleihe- und Rückgabeforderungen Nach der ersten Ausstellung 1924 Die erste Rückgabeforderung Ägyptens erfolgte nach der ersten öffentlichen Ausstellung der Büste im Jahr 1924 im Neuen Museum in Berlin. Pierre Lacau, Nachfolger von Gaston Maspero im Amt des Direktors des ägyptischen Antikendienstes (Service d’Antiquités Égyptiennes) und des Ägyptischen Museum Kairos verlangte die Büste sofort zurück. Die ägyptische Regierung schloss sich seiner Forderung an. Lacau zweifelte die rechtmäßige Fundteilung zu gleichen Teilen nicht an, nannte aber für die Rückgabeforderung „moralische“ Gründe. Im darauffolgenden Jahr erhielt Borchardt keine Grabungslizenz in Ägypten. Der Schriftführer der Deutschen Orient-Gesellschaft, Bruno Güterbock, der am Tag der Fundteilung in Amarna zugegen war, berichtete am 12. August 1924 einem Kollegen in einem Privatbrief mit dem Vermerk „streng vertraulich!“, mit welcher Taktik es dem Ausgräber Borchardt gelungen war, „die Büste für uns zu retten“. Güterbock urteilt, dass „auftauchende Zweifel an dem rechtmäßigen Erwerb“ allein Borchardt „verschuldet“ habe. Kurz zuvor war die Figur erstmals in Berlin der Weltöffentlichkeit präsentiert worden. 1929 besuchte Pierre Lacau Berlin, und der damalige Direktor des Ägyptischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin, Heinrich Schäfer, war bereit, die Büste an Ägypten zurückzugeben. James Simon, der die Büste 1920 zusammen mit anderen Fundstücken aus Amarna den Berliner Museen geschenkt hatte, erklärte sich damit einverstanden und Ägypten unterbreitete ein Angebot: eine Statue des Ranefer (Altes Reich) und eine Sitzstatue des Amenophis, Sohn des Hapu (Neues Reich) im Austausch für die Büste der Nofretete. Borchardt bestand jedoch darauf, dass die Sammlung aus Forschungsgründen nicht auseinandergerissen werden solle. Das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung stimmte zu dieser Zeit einer Rückgabe im Austausch zu. Die öffentliche Meinung war jedoch, dass die Büste der Nofretete in Berlin bleiben solle. 1930 entschied sich das Ministerium unter der Leitung von Adolf Grimme gegen einen Austausch. Zeit des Nationalsozialismus Zum Jahrestag des Regierungsantritts von König Fu'ād I. plante 1933 der preußische Ministerpräsident Hermann Göring die Rückgabe der Büste, was anscheinend aus propagandistischen Gründen auch von Joseph Goebbels unterstützt wurde. Adolf Hitler hingegen erklärte die Büste der Nofretete im selben Jahr in einer Rede zur Ikone: „Ich werde den Kopf der Königin niemals aufgeben. Es ist ein Meisterwerk, ein Juwel, ein wahrer Schatz.“ Der Reichskanzler plante ihr zu Ehren in der neugestalteten und in Germania umbenannten Stadt Berlin ein neues großes Museum zu errichten, das einen kompletten Saal nur für die Büste vorsah, und untersagte die Rückgabe. Anfang 1945 wurde die Büste zusammen mit anderen Kunstschätzen der Berliner Museen in den Schachtanlagen des Werra-Fulda-Kalireviers in der Nähe thüringischen Ortschaft Merkers deponiert, wo sie im April von amerikanischen Truppen der 3. US-Armee als Teil des sogenannten Reichsbank-Goldschatzes sichergestellt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 kam es zu einem innerdeutschen Konflikt um die Besitzansprüche der Büste. Die Vertreter der sowjetischen Besatzungszone gaben an, die während des Krieges verlagerten Altbestände der Staatlichen Museen würden ihnen unrechtmäßig vorenthalten. Die Forderung nach einer Rückkehr von Kunst- und Kulturgütern an die Vorkriegsstandorte erfolgte nach dem sogenannten Provenienzprinzip. Die Vertreter der westlichen Zone hingegen beriefen sich auf die bundesdeutsche Rechtslage und verweigerten die Ausfuhr der Büste und aller anderen in West-Berlin befindlichen Objekte der Staatlichen Museen in die östliche Zone. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges meldeten auch verschiedene amerikanische Museen ihr Interesse an den deutschen Kunstschätzen an. Das Metropolitan Museum of Art in New York war an der Büste der Nofretete interessiert, deren Ausfuhr in die Vereinigten Staaten vom Kunstschutzoffizier Walter I. Farmer verhindert wurde. Nach der Ausstellung der Büste der Nofretete mit anderen Kunstgegenständen im Landesmuseum Wiesbaden im Jahr 1946 erhob Ägypten abermals Ansprüche auf das Porträt der Königin. Es war geplant, dass die Büste ihren endgültigen Platz im Ägyptischen Museum von Kairo erhalten solle. Es folgten Verhandlungen zwischen ägyptischen und amerikanischen Gesandten. Das Ergebnis der Untersuchung durch die amerikanische Militärregierung war, dass die Büste nicht zu den von den Nationalsozialisten entwendeten Kunstgegenständen zählte und im Jahr 1913 „ordnungsgemäß“ nach Berlin gebracht worden war. Die Presse verkündete 1947, dass die Büste der ägyptischen Königin in Deutschland bleibt. In den vergangenen Jahren, insbesondere ab den 2000er Jahren, wurde die Büste der Nofretete von unterschiedlicher Seite mehrfach als Leihgabe an Ägypten zurückgefordert. Außer dem ehemaligen Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung (Supreme Council of Antiquities), Zahi Hawass, bat 2006 auch die Direktorin des Ägyptischen Museums in Kairo, Wafaa el-Saddik, um eine Ausleihe. Der ägyptische Botschafter, Mohamed Al-Orabi, nannte die Büste der Nofretete zur Eröffnungsfeier des Ägyptischen Museums im Alten Museum noch „Ständige Vertreterin Ägyptens in Deutschland“, forderte aber 2008 ebenfalls eine Ausleihe an Ägypten und die Einrichtung einer „Ägyptisch-Deutschen Kommission zur Transportfähigkeit der Nofretete“. Zahi Hawass äußerte 2007 die Bitte, die Büste für eine Ausstellung für drei Monate zur Eröffnung des neuen Ägyptischen Museums bei den Pyramiden auszuleihen. In diesem Zusammenhang verwies der damalige Museumsdirektor Dietrich Wildung darauf, dass Deutschland die Gründung eines Museums für „Europäische Kunst“ im ägyptischen Alexandria plane, das ein Dank der europäischen Länder an Ägypten sei. Im Jahr 2007 fand die Kampagne „Nofretete geht auf Reisen“ statt. Die CulturCooperation e. V. forderte die Bundesregierung in einem Brief an den Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, auf, die Büste an Ägypten auszuleihen. Die mögliche Ausleihe der Büste stieß im Deutschen Bundestag auf Ablehnung. So erklärte der Kulturausschuss des Bundestages am 26. April 2007 in Berlin, der Umgang mit der Kalksteinbüste müsse aus konservatorischen und restauratorischen Gründen äußerst sorgsam sein. Am 9. Mai 2007 erging von der Bundestagsabgeordneten Evrim Baba eine Kleine Anfrage mit dem Titel „Koloniale Raubkunst“ und im August desselben Jahres unter dem Titel „Nofretete geht auf Reisen“. Auf die erste Anfrage folgten seitens der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Antworten und Richtigstellungen zu den in der Kampagne getroffenen Aussagen. Allerdings gab es in den letzten Jahren seitens Hawass auch vermehrt direkte Rückgabeforderungen der Büste, da Ägypten damals über den Wert der Büste getäuscht worden sei und sie das Land deshalb illegal verlassen habe. In Ägypten sei dazu eine Kommission zur Überprüfung des Sachverhaltes und der damaligen Papiere eingesetzt worden. Zur Eröffnung des Neuen Museums in Berlin im Oktober 2009 erklärte Zahi Hawass öffentlich: Zum Besuch der neuen Direktorin des Ägyptischen Museums Berlin, Friederike Seyfried, bei Zahi Hawass in Kairo, wies die Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Dezember 2009 darauf hin, dass es sich dabei nicht um Verhandlungen zur Büste der Nofretete handele. Es habe auch nie ein offizielles Gesuchen seitens des Ägyptischen Staates zur Rückgabe gegeben. Ob die Plastik für eine zeitlich befristete Ausstellung zur Verfügung gestellt würde, wird noch geprüft. Als ausschlaggebend werden für eine Ausleihe allein die Ergebnisse der konservatorischen Untersuchungen zur Transportfähigkeit der Büste gesehen. Gegenwart Im März 2010 gab Seyfried bekannt, dass nach Prüfung aller Unterlagen an der Fundteilung keinerlei Zweifel bestehen und diese nach den damaligen Bestimmungen erfolgte. Am 24. Januar 2011 forderte Zahi Hawass in einem Brief an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz erneut die Rückgabe der Büste. Hawass betonte zudem, dass Premierminister Ahmed Nazif und Kulturminister Farouk Hosny die Forderung „ausdrücklich“ unterstützten. Hauptargument für die Rückgabe ist weiter die falsche Deklaration durch Borchardt als wertlose Gipsarbeit. Diese Forderung wurde jedoch von Kulturstaatsminister Bernd Neumann zurückgewiesen. Zum 100. Jahrestag des Fundes der Büste erklärte Hermann Parzinger im Dezember 2012, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dass er eine Rückgabe an Ägypten nach wie vor ausschließt: „Nofretete ist Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Eine Rückgabe einfach so aus Großmut halte ich grundsätzlich für nicht vertretbar.“ Der Historiker Jürgen Zimmerer argumentiert, dass die Büste nach Ägypten gehört: Kopien und Fälschungsverdacht Kopien der Büste Von der Büste der Nofretete existieren zahlreiche Duplikate. Im Jahr 1925 nahm Richard Jenner Restaurierungsarbeiten an den Ohren und Resten der Uräusschlange der Kalksteinbüste vor und begann mit der Fertigung einer ersten Kopie. In der Gipsformerei, der ältesten Einrichtung der Staatlichen Museen Berlin, werden seit 1819 Replikate in Form von Gips-Abgüssen verschiedenster bedeutender Museumsstücke aus Berlin oder europäischen Museen hergestellt, darunter die Büste der Nofretete. Als Material wird hochwertiger Alabaster-Gips verwendet. Die Fertigung von Replikaten der Büste der Nofretete erfolgt anhand einer Mutterkopie und die Replikate entsprechen einer Umsetzung in Originalgröße. Ende der 1960er Jahre wurde das Formmodell, das Tina Haim-Wentscher hergestellt hatte, durch eines auf photogrammetrischer Basis erstellten ersetzt. Dieses Modell war jedoch ungenau und musste durch den Restaurator Joachim Lüdcke nachbearbeitet werden, um eine geeignete Form für die Herstellung der Replikate zu erhalten. So wurde 2005 beispielsweise der Umzug der Büste von Charlottenburg auf die Museumsinsel in das Alte Museum und die Präsentation am neuen Standort aus Sicherheitsgründen mit Kopien der Büste „geprobt“. 2011 wurde die Büste der Nofretete mit einem 3D-Scanner vermessen, wodurch eine Nachbildung der Plastik auf hundertstel Millimeter genau möglich ist. Die Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin fertigte auf dieser Basis eine Sonderedition der Büste, die auf 100 Exemplare limitiert war. Nach der Schenkung aller aus Amarna stammenden Fundstücke an den preußischen Staat ersetzte James Simon die Originalbüste in seinem Haus durch eine Kopie. Diese befindet sich heute vermutlich im Besitz der Nachfahren Simons. Die Faszination für das Porträt der Königin veranlasste auch Kaiser Wilhelm II. dazu, sich eine Kopie anfertigen zu lassen. Allerdings ließ er diesem Stück ein zweites Auge einsetzen. Der Kaiser nahm die Büste 1918 sogar mit ins Exil nach Doorn in die Niederlande. Dieses Replikat befindet sich auch heute noch in Haus Doorn, dem Exilsitz Kaiser Wilhelm II. Die kaiserliche Nachbildung war 2010 in der Sonderschau „Geschichte und Abenteuer der Archäologie“ im Ruhr Museum in Essen zu sehen, sowie 2011 in der Sonderausstellung „Sisi en Wilhelm II. – Keizers op Corfu“ im Rijksmuseum van Oudheden in Leiden. Hitler soll ebenfalls eine oder sogar mehrere exakte Kopien der Büste in Auftrag gegeben haben. Es hieß, sie sei angefertigt worden, um die Ägypter zu täuschen, und Hitler habe das Original für seine private Sammlung haben wollen. Das ZDF griff die These um die Existenz einer Kopie Hitlers in einer Dokumentation 2007 auf: Auf Befehl eines Majors sei die Büste der Nofretete vom Berliner Zoo-Bunker ausgelagert worden. Sie habe sich in einer Kiste mit der Nummer 28 befunden, als sie Berlin verließ, soll aber in einer Kiste mit der Nummer 34 in Merkers eingetroffen sein. Daher wäre fraglich, ob die Büste der Königin im Berliner Museum echt ist. Die Schilderung ist jedoch widersprüchlich, da sich die Behauptung des Majors einerseits nicht mit den Protokollen deckt, denen zufolge die Büste zu diesem Zeitpunkt bereits in das Salzbergwerk nach Thüringen transportiert worden war. Zudem sei es Hitler selbst gewesen, der den Befehl für die Bergung der Kunstschätze gab. Die B.Z. veröffentlichte im Januar 2008 einen Bericht, demzufolge der Modehersteller Shangri-La im Besitz dieser Kopie sei, die aus „Hitlers Privatmuseum“ gerettet worden sei. Sie weise am Sockel einen Stempel mit der Beschriftung AH 537 auf. Es könne sich auch durchaus um das Original handeln, demzufolge sich im Berliner Museum eine Kopie befände. Dietrich Wildung widersprach mit der Feststellung, dass aufgrund der CT-Untersuchung keine Zweifel an der Originalität der Büste im Ägyptischen Museum Berlin bestünden und es sich nicht um eine Kopie handele. Fälschungsverdacht Zu Beginn der 1980er Jahre kam das Gerücht auf, Ludwig Borchardt habe die Büste der Königin fälschen lassen, eingegraben und dann am 6. Dezember 1912 wieder ausgegraben, um eine angekündigte Besuchergruppe, unter ihnen der sächsische Prinz Johann Georg, mit dem Fund zu beeindrucken. Zu den Gerüchten dieser Zeit nahm Rolf Krauss Stellung: „Bei geeigneter Interpretation der Fakten passt diese Hypothese sowohl zu Borchardts dringendem Wunsch, die Büste bei der Fundteilung zugesprochen zu bekommen, als auch zu seinem anschließenden Versuch, sie der Öffentlichkeit vorzuenthalten.“ Das Grabungsteam habe zwar auch Farbpigmente gefunden und es sei möglich, diese alten Werkstoffe erneut zu verarbeiten, allerdings habe die 1987/1988 erstmals gezielte Untersuchung ergeben, dass für die Büste eine sogenannte Kalk-Gips-Anhydrit-Mischung verwendet worden sei. Diese Mischung sei zur Zeit der Grabung noch nicht bekannt gewesen und ohne eine chemische Analyse sei es auch nicht möglich, das Material zu fälschen. Eine kunst-archäologische Beurteilung hält er zu dieser Zeit für schwierig, da nicht alle Amarnafunde publiziert wurden und zudem auch der Publikationsstand zur Büste der Nofretete unvollständig ist. 2009 äußerte er hingegen zu dem Sachverhalt, Borchardt habe die Büste zurückgehalten, „dass es ein Leichtes gewesen wäre in der Zwischenzeit einen Steinmetz mit einem Falsifikat zu beauftragen“. Im März 2009 veröffentlichte der Schweizer Kunsthistoriker Henri Stierlin die These, die Büste der Nofretete sei erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Sie wäre im Auftrag Ludwig Borchardts ohne eine Fälschungsabsicht angefertigt worden, der an der Büste eine Halskette präsentieren wollte, die bei den Grabungsarbeiten in Ägypten gefunden worden war. Auch an der Büste selbst, so Stierlin, fänden sich Hinweise, dass es sich nicht um ein 3400 Jahre altes ägyptisches Artefakt handelt: Der Umstand, dass seitens der Ägyptologie angenommen wird, die Büste hätte absichtlich kein linkes Auge erhalten, wäre doch eine Beleidigung für die alten Ägypter gewesen, die geglaubt hätten, Statuen seien reale Personen. Auch verweist Stierlin darauf, dass die Schultern der Büste vertikal abgeschnitten seien, die alten Ägypter die Schultern bei Statuen aber immer horizontal angesetzt hätten. Unabhängig von Henri Stierlin beschäftigte sich auch der Schriftsteller Erdoğan Ercivan mit archäologischen Fälschungen und zweifelt die Echtheit der Büste der Nofretete ebenfalls an. Ihm zufolge stand Ludwig Borchardts Frau für die Büste Modell, was erklären würde, dass Borchardt die Büste „unter Verschluss“ halten wollte. Der ehemalige Direktor des Ägyptischen Museums in Berlin, Dietrich Wildung, wies die These Stierlins als „zweifellos nicht richtig“ zurück und teilte mit, dass an der Büste keinerlei Spuren von modernen Stoffen festgestellt wurden. Eine so perfekte Fälschung wäre zu dieser Zeit nicht möglich gewesen. Bereits nach der ersten CT-Untersuchung 1992 hatte Wildung als beiläufiges Ergebnis genannt: „Der komplizierte Aufbau der Büste aus einem Steinkern mit Gipsergänzungen verbannt die Gerüchte über eine moderne Herstellung der Nofretete-Büste ins Reich der Phantasie.“ Auch André Wiese, Kurator am Antikenmuseum Basel, bezeichnete in einem Interview „den Fälschungsvorwurf als schlichten Unfug“ und die Vorwürfe „für völlig haltlos und nicht glaubhaft“. Die Büste war mehrfach untersucht worden und sowohl alle Analysen und Röntgenuntersuchungen als auch die Fundumstände deuten auf die Echtheit der Büste hin. Die Farbpigmente seien zweifelsfrei als antik festgestellt worden, wobei es sich bei Gips und Stein um „alte“ Materialien handle, bei denen eine Altersangabe nicht möglich sei. Als ausschlaggebenden Punkt sieht Wiese jedoch den Umstand, dass nach der Nofretete-Büste eine fast identische von Echnaton gefunden wurde. Um die Büste der Nofretete zu fälschen, hätte diese Büste Echnatons bekannt gewesen sein müssen. Eine vergleichbare Büste Echnatons befindet sich im Louvre in Paris. Zahi Hawass widerspricht Henri Stierlins These ebenfalls: Stierlin sei kein Historiker und dessen Behauptung, die Büste sei eine Fälschung, sei reine Fantasie. Zu den vertikal abgeschnittenen Schultern merkt er an, dass Echnaton in seiner Regierungszeit eine neue Kunstform eingeführt hatte. Die Büste sei mit zwei Augen gefertigt worden, wobei das linke später zerstört worden war. Auf Stierlins Argumentation, Borchardt habe gewusst, dass es sich um eine Fälschung handelte, entgegnete Hawass, dass der Bericht zur Entdeckung dafür überraschend detailliert gewesen sei. Stefan Simon, Materialwissenschaftler des zu den Staatlichen Museen Berlin gehörenden Rathgen-Forschungslabors, nahm zu dieser Fälschungsfrage ausgiebig Stellung. Er bemerkte abschließend, wie bereits Rolf Krauss, dass das für die Büste verwendete Material ein sogenannter Amarna-Mix sei, eine Gips-Anhydrit-Mischung mit Anteilen von Kalkstein, die 1912 noch nicht bekannt war. Eine Fälschung sei ohne diese Kenntnis unmöglich gewesen. Der Ägyptologe Marc Gabolde führt mehrere Gründe dafür an, dass die Büste keine Fälschung sein kann: Borcherts Mangel an Zeit für eine Fälschung, die Tatsache, dass nur ein erfinderischer Bildhauer zur damaligen Zeit aufgrund des Fehlens dreidimensionaler Darstellungen die Form der Kopfbedeckung erahnen können hätte, und insbesondere die von Blumen inspirierte Halskette, die fast identisch ist mit der bei Tutanchamun erst neun Jahre später aufgefundenen Halskette. Kulturelle Bedeutung Seit ihrer ersten Ausstellung im Jahr 1924 ist die Büste der Nofretete fester Bestandteil der Berliner Museumskultur und zieht seitdem zahlreiche Besucher an. Als ausschlaggebend für das damals rapide steigende Interesse an der Büste und am Alten Ägypten wird nicht nur die Ausstrahlung der Büste selbst, sondern auch das Auffinden des nahezu unberührten Grabes (KV62) des Tutanchamun durch Howard Carter im Jahr 1922 gesehen, das in den Folgejahren nach seiner Entdeckung zu einer weltweiten Ägyptomanie führte. Unter allen bisher gefundenen altägyptischen Kunstgegenständen ist die Büste der Nofretete in ihrer Form vielleicht mit der Goldmaske des Tutanchamun vergleichbar. Die als Medienikone geltende Büste zierte zahlreiche Titelseiten von Zeitungen und Illustrierten und avancierte so zum Covergirl. Für Frauen war das Porträt Anfang der 1920er Jahre stilprägend, die das Make-up der Königin kopierten. Die Presse bezeichnet „Nofretete“ auch häufig als die bekannteste oder schönste „Berlinerin“. Das Motiv Nofretete Die Büste der Königin findet sich auch heutzutage weltweit als sehr beliebtes Motiv für Schmuck, Kalender, Schreibblöcke, Postkarten und Replikaten aus Kunstguss in kitschiger oder künstlerischer Verarbeitung und als Originaldarstellung wieder. Kunstdrucke oder gemalte Papyri zeigen die Büste der Nofretete jedoch oftmals auch mit zwei intakten Augen. Zwischen Juli 1988 und Januar 1989 wurde in Deutschland eine Briefmarke zu 70 und 20 Pfennig herausgegeben, die die Büste der Nofretete zeigt. Mit dem Erstausgabetag 2. Januar 2013 brachte die Deutsche Post AG erneut ein Sonderpostwertzeichen (Wert 0,58 €) mit der Büste der Nofretete heraus. Häufig ist das Bild der Büste der Nofretete auch als Werbeträger zu finden. So wählten Bündnis 90/Die Grünen 1999 im Berliner Wahlkampf die Büste als Plakatmotiv mit dem Spruch „starke Frauen für Berlin“. Die Büste selbst wurde im Jahr 2003 im Rahmen einer Kunstaktion für kurze Zeit auf den Bronzetorso einer nackten Frau gesetzt, der als Kunstwerk für die Biennale in Venedig von den beiden ungarischen Künstlern András Gálik und Bálint Havas geschaffen worden war. In der Aktion, die am 15. Juni 2003 erstmals auf der Biennale zu sehen war, versuchten die Künstler, „das 3000 Jahre alte Schönheitsideal mit einem modernen Frauenkörper zu verbinden“. Daraufhin gab es seitens Ägyptens große Proteste und Empörung, einerseits wegen des Umgangs mit der wertvollen Kalksteinbüste, andererseits wegen der Zurschaustellung auf einem nackten Frauenkörper. Nefertiti Hack Der Datensatz eines 3D-Scans der Büste ist frei zugänglich im Netz verfügbar. Da diese Daten aus einem Datenleak stammen, befindet sich das Herunterladen nach wie vor in einer rechtlichen Grauzone, das Benutzen der Daten wird jedoch als unbedenklich eingeschätzt. The Other Nefertiti war ein digitaler Kunstraub, der sich Ende 2015 im Nordkuppelsaal des Neuen Museums, Berlin ereignete. Die Büste der Nofretete wurde trotz der hohen Sicherheitsstandards, die auch jegliches Erzeugen von Bildnissen untersagten, unbemerkt digital abgeformt. Der mit diesen 3D-Scans erzeugte Datensatz wurde wenig später unter Public Domain veröffentlicht. Später bekannten sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Künstler Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles zu der Tat. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz unternahm bis jetzt keine rechtlichen Schritte. Mittlerweile ist auch der Datensatz eines vom Museum durchgeführten 3D-Scans unter einer CC-BY-NC-SA-Lizenz verfügbar. Siehe auch Liste ägyptischer Kunstobjekte Literatur Ägyptisches Museum Berlin. Hartmann, Berlin 1967, S. 71, Nr. 767. Rudolf Anthes: The Head of Queen Nofretete. Ehemals Staatliche Museen Berlin. = Nofret Ete. 3rd edition, Gebr. Mann, Berlin 1961 (englisch). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Final%20Fantasy%20XII
Final Fantasy XII
Final Fantasy XII (, Fainaru Fantajī Tuerubu; kurz: FFXII oder FF12) ist ein Computer-Rollenspiel und der zwölfte Haupttitel der Final-Fantasy-Serie. Das Spiel wurde vom japanischen Unternehmen Square Enix exklusiv für die Spielkonsole PlayStation 2 (kurz: PS2) entwickelt und im März 2006 in Japan veröffentlicht. In Nordamerika kam der Titel im Oktober desselben Jahres auf den Markt; die Veröffentlichung in Europa erfolgte im Februar 2007, wobei in Deutschland das Medienunternehmen Koch Media für den Vertrieb zuständig war. Unter dem Titel Final Fantasy XII: The Zodiac Age wurde eine überarbeitete HD-Version im Juli 2017 für die PlayStation 4 und im Februar 2018 für Windows veröffentlicht; im April 2019 folgten Versionen für die Nintendo Switch und die Xbox One. Das Spiel, dessen Entwicklung etwa fünf Jahre dauerte, führte einige Neuerungen in die Serie ein. So finden in diesem Teil Kämpfe nicht mehr in einem eigenen Kampfbildschirm und in Echtzeit statt; die Kamera, die eine dreidimensionale Ansicht des Spielgeschehens zeigt, ist in alle Richtungen drehbar. Die Handlung findet in einer fiktiven Region namens Ivalice in einer nicht weiter genannten Fantasywelt statt. Sie schildert aus Sicht des Protagonisten, des Waisenjungen Vaan, die politischen und kriegerischen Verwicklungen, in die das kleine Königreich Dalmasca und dessen Thronerbin, Prinzessin Ashe, vor dem Hintergrund eines bereits lange Zeit andauernden Krieges zwischen zwei Großmächten geraten. Final Fantasy XII wurde von der Kritik durchweg positiv aufgenommen, wobei vor allem die Grafik und die detaillierte Darstellung der Spielwelt gelobt wurden. Das Spiel erhielt einige Preise und Auszeichnungen, für weitere war es nominiert. Auch wirtschaftlich war es mit über fünf Millionen verkauften Exemplaren für Square Enix ein Erfolg. Mit dem Echtzeit-Strategiespiel Final Fantasy XII: Revenant Wings erschien ein direkter Nachfolger für die Handheld-Konsole Nintendo DS. Spielprinzip Final Fantasy XII ist ein Rollenspiel, das bedeutet, der Spieler steuert eine Gruppe von Figuren, die vor dem Hintergrund einer erdachten Spielwelt Kämpfe bestreiten und dabei eine komplexe Geschichte erleben. Wesentliches Element ist die Entwicklung der Charaktere: Nach jedem Kampf erhalten die beteiligten Gruppenmitglieder Erfahrungspunkte, die zu einem Aufstieg der Stufe führen und so eine Verbesserung von Statuswerten wie maximale Treffer- und Magiepunkte, Angriffs- und Abwehrstärke bewirken. Ein weiterer Bestandteil der Charakterentwicklung besteht darin, Waffen, Rüstungen und Accessoires der Spielfiguren immer wieder durch bessere Versionen zu ersetzen. Perspektive, Steuerung und Spielwelt Der Spieler steuert eine seiner Figuren, den Gruppenführer, mit einem Analog-Stick des Gamepads durch eine in zahlreiche Abschnitte unterteilte Spielwelt. Dabei zeigt die Kamera die Figur von hinten in der Third-Person-Perspektive und kann mit dem anderen Analogstick frei rotiert werden. Oben rechts auf dem Spielbildschirm ist stets eine kleine Karte eingeblendet, die die nähere Umgebung der Figuren zeigt. Während eines Kampfes wird neben den Anzeigen mit den aktuellen Treffer- und Magiepunkten der Spielfiguren ein Kampfmenü eingeblendet, aus dem der Spieler Befehle auswählen kann. Wie bei vielen Rollenspielen stellen einige Abschnitte Städte oder Siedlungen dar, in denen der Spieler bei Händlern für Spielwährung einkaufen oder mit Nicht-Spieler-Charakteren sprechen kann. Hier befinden sich keine Gegner und es finden keine Kämpfe statt. In Städten steuert der Spieler stets die Figur des Protagonisten Vaan, außerhalb kann der Gruppenführer aber jederzeit – auch während eines Kampfes – beliebig gewechselt werden, die anderen Figuren bleiben dabei stets in der Nähe des Gruppenführers. Außerhalb von Städten besteht die Spielwelt häufig aus weitläufigen Landschaften wie Wüsten, Wiesen oder Stränden. Manche Spielabschnitte fungieren als sogenannter Dungeon. In diesen oft labyrinthartig angelegten Gebieten, wie etwa Verliesen, Tempeln und dem Inneren eines Luftschiffes, besteht das Spielziel darin, sich zu einem Endgegner vorzukämpfen und diesen zu besiegen. Mitunter müssen hier auch kleine Rätsel gelöst werden, um den nächsten Abschnitt erreichen zu können. Alle Gebiete sind in unterschiedlich große Teilabschnitte unterteilt; wenn der Gruppenführer die Grenze zwischen zwei Teilabschnitten überschreitet, kommt es zu einem kurzen Ladevorgang. An sogenannten Speicherkristallen kann der Spieler seinen Spielstand auf einer Memory Card abspeichern. Zwischen bereits bekannten Gebieten bestehen verschiedene Schnellreisemöglichkeiten, zum Beispiel Teleporterkristalle, Luftschifflinien oder ein Ritt auf Chocobos genannten, straußenähnlichen gelben Laufvögeln, die ein bekanntes wiederkehrendes Element der Final-Fantasy-Reihe sind. Kampf In Gegensatz zu den vorherigen Teilen der Spieleserie finden Kämpfe nicht als Zufallskämpfe und nicht in einem eigenen Kampfbildschirm statt. Stattdessen sieht der Spieler die Gegner bereits von Weitem in den Spielabschnitten umherwandern und der Kampf beginnt übergangslos, wenn sich eine Figur aus der Gruppe des Spielers einem Gegner bis auf einen bestimmten Abstand genähert hat. Das Kampfgeschehen wird durch Visierlinien, dünne bogenförmige Linien zwischen den Figuren, verdeutlicht, deren Farbe die Art der gewählten Aktion symbolisiert. Der Spieler kann nun aus einem Kampfmenü Aktionen wie physische oder magische Angriffe oder das Benutzen von Heilungsgegenständen und -zaubern auswählen. Die Befehle werden dabei nicht rundenbasiert wie etwa in Final Fantasy X, sondern in Echtzeit ausgeführt; der Spieler kann allerdings entscheiden, ob das Kampfgeschehen pausiert werden soll, während er einen Befehl auswählt. Eine Besonderheit dieses Serienteils ist es, dass während eines Kampfes beispielsweise auch die Ausrüstung angepasst und die am Kampf beteiligten Figuren gegen andere ausgewechselt werden können. Die einzige Einschränkung ist hierbei, dass eine von einem Gegner bereits anvisierte Figur nicht aus dem Kampf genommen werden kann. Von den insgesamt sechs spielbaren Figuren können maximal drei aktiv an einem Kampf teilnehmen. Abhängig von der Handlung kommt mitunter eine als Gast bezeichnete vierte mitkämpfende Figur hinzu, die computergesteuert und ohne Einflussmöglichkeit des Spielers agiert. Ein wichtiges Element des Kampfsystems in Final Fantasy XII ist das sogenannte Gambitsystem, mit dem der Spieler vor oder während eines Kampfes festlegen kann, in welchen Situationen eine Spielfigur bestimmte Aktionen automatisch ausführen soll. Ein Gambit ist dabei eine Kombination aus einem Ziel, das mit einer Bedingung gekoppelt sein kann, und dem auszuführenden Befehl. Beispiele für einzelne Gambits sind „Gegner im Blickfeld“ kombiniert mit „Angriff“ oder „Sich selbst, wenn die Trefferpunkte kleiner als 30 % sind“ kombiniert mit der Verwendung eines Heilungszaubers. Jeder Spielfigur können bis zu zwölf Gambits zugeordnet werden, die dann jeweils – ähnlich wie die Anweisungen bei einem Computerprogramm – automatisch von oben nach unten abgearbeitet werden. Im Idealfall können auf diese Weise auch längere Kämpfe ohne weiteres Zutun des Spielers bestritten werden. Allerdings können die Gambits einer Figur auch jederzeit abgeschaltet werden, sodass sie nur noch auf direkte Befehle des Spielers reagiert. Ein weiteres Taktikelement sind die sogenannten Esper, mächtige dämonenartige Wesen, die im Kampf herbeigerufen werden können und dann für eine gewisse Zeitspanne an der Seite einer Spielfigur mitkämpfen. Solche Beschwörungszauber sind – unter wechselnden Bezeichnungen – ein bekanntes wiederkehrendes Element der Final-Fantasy-Reihe. In Final Fantasy XII können den Esper keine direkten Befehle erteilt werden, sondern sie kämpfen gemäß ihrer voreingestellten und nicht änderbaren Gambits. Wie die sogenannten Mysth Teks – besonders starke Spezialangriffe, die durch schnelles Tastendrücken zu Ketten kombiniert werden können – verbrauchen Esperbeschwörungen je nach Stärke ein Drittel, zwei Drittel oder alle Magiepunkte einer Spielfigur. Charakterentwicklung Nach dem Kampf erhalten die beteiligten Spielfiguren Erfahrungspunkte, die zu einem Stufenaufstieg und dadurch zu einer Verbesserung der Statuswerte führen. Eine Änderung gegenüber früheren Teilen der Spielreihe besteht darin, dass Gegner im Allgemeinen kein Geld hinterlassen, sondern Gegenstände (siehe Loot), die in Läden verkauft werden können, um Spielwährung zu erhalten. Damit können dann bessere Waffen, Rüstungen und Fähigkeiten erworben und dadurch die Charaktere weiter gestärkt werden. Bessere Ausrüstungsgegenstände können auch als Belohnungen für die Erfüllung von Nebenaufgaben erhalten werden, die der Spieler als Aufträge, sogenannte Quests, in Dialogen mit Nichtspielercharakteren gestellt bekommt. Obwohl es ein Standardelement vieler Rollenspiele ist, stellt das umfangreiche Quest-System in Final Fantasy XII eine Neuerung innerhalb der Spielreihe dar. Ausrüstungsgegenstände können auch durch das Öffnen von in der Spielwelt verstreuten Schatzkisten gefunden werden. Im Gegensatz zu der Vorgängern wird allerdings das Auftauchen und der Inhalt dieser Truhen stark durch das Zufallsprinzip bestimmt. Ein weiteres gegenüber den Vorgängern neues Element der Charakterentwicklung ist ein als Lizenzsystem bezeichnetes Konzept. Nachdem ein Gegner besiegt ist, hinterlässt dieser einen oder mehrere Lizenzpunkte, die auf einem speziellen Spielbrett, dem Lizenzbrett, ausgegeben werden können. In dieser großen, schachbrettartigen Anordnung von Lizenzfeldern können Lizenzen erworben werden, wobei stets nur Felder zur Verfügung stehen, die an ein bereits aufgedecktes Feld grenzen. Eine Spielfigur kann erworbene Ausrüstungsgegenstände oder Fähigkeiten erst dann verwenden, wenn auf diese Weise auch die entsprechende Lizenz dafür freigeschaltet wurde. Das Lizenzbrett ist für alle Figuren dasselbe, allerdings beginnen sie auf unterschiedlichen Startfeldern. Handlung Hintergrundwelt Die Handlung von Final Fantasy XII findet in der Region Ivalice statt, die sich über drei Kontinente einer fiktiven Welt erstreckt und entsprechend unterschiedliche Klima- und Vegetationszonen umfasst. Politisch wird Ivalice durch zwei Großmächte beherrscht, Rozarria im Westen und Archadia im Osten, die sich bereits lange Zeit miteinander im Kriegszustand befinden. Insbesondere Archadia betreibt unter dem Haus Solidor eine relativ aggressive Expansionspolitik und greift zu Beginn des Spiels die beiden kleinen Königreiche Nabradia und Dalmasca an, die als Pufferstaaten zwischen den beiden Imperien liegen. Die Bevölkerung von Ivalice besteht zum Großteil aus Menschen, im Spiel auch Hume genannt, allerdings existieren in der Spielwelt auch zahlreiche nichtmenschliche Rassen. Einen relativ großen Anteil an der Gesamtbevölkerung haben beispielsweise die echsenartigen Bangaa und die schweineartigen Seek. Fran, die einzige der sechs spielbaren Hauptfiguren, die kein Mensch ist, gehört einer humanoiden Rasse namens Viera an, deren Hauptmerkmal lange hasenartige Ohren sind. Ein wichtiges Konzept in der Spielwelt ist das sogenannte Mysth, ein normalerweise unsichtbarer, in höheren Konzentrationen jedoch als farbiger Nebel erscheinender fiktiver Stoff, der die Quelle für die in Ivalice weit verbreiteten magischen Fähigkeiten ist. Mysth sammelt sich in einem speziellen Gestein, dem Maginit, das unter anderem als Antriebstoff für Luftschiffe dient. Diese stellen die wichtigste Transportmöglichkeit für Personen und Waren in Ivalice dar; allerdings ist auch Luftpiraterie weit verbreitet. Zentral für die Handlung sind zudem spezielle, als natürliche Nethizite bezeichnete Maginitsteine, von denen zu Spielbeginn nur drei auf der ganzen Welt existieren. In ihnen ist so viel Mysth-Energie gespeichert, dass sie mächtige Waffen darstellen, die in der Lage sind, ganze Städte zu zerstören. Geschichte In Rabanastre, der Hauptstadt des kleinen Königreichs Dalmasca, findet die Hochzeit von Prinzessin Ashelia B’nargin Dalmasca, genannt Ashe, Tochter von König Raminas von Dalmasca, und Prinz Rasler aus dem befreundeten Nachbarreich Nabradia statt. Die Feierlichkeiten werden jedoch kurz darauf von der Nachricht unterbrochen, dass die Großmacht Archadia Nabradia überfallen hat und annektieren will. Nachdem Prinz Rasler in der entscheidenden Schlacht gefallen ist, unterwerfen die archadischen Truppen nicht nur Nabradia, sondern auch Dalmasca. Bei der Unterzeichnung des Kapitulationsvertrages durch König Raminas sind auch der junge dalmascanische Soldat Reks und sein Hauptmann Basch von Ronsenburg anwesend, um Raminas zu schützen. Doch kurz darauf findet Reks seinen König tot vor, ermordet – so hat es für ihn den Anschein – in einem Staatsstreich durch Hauptmann Basch, der schließlich auch Reks ersticht, um einen Zeugen zu beseitigen. Der mit Raminas befreundete Marquis Halim Ondore verkündet, dass Basch wegen Hochverrats hingerichtet worden sei und dass sich Prinzessin Ashe aus Trauer über den Verlust ihres Ehemanns und ihres Vaters das Leben genommen habe. Dalmasca muss bedingungslos kapitulieren. Zwei Jahre später: Vayne Solidor, Sohn von Kaiser Gramis von Archadia, trifft in Rabanastre ein, um in einer offiziellen Zeremonie das Amt als Konsul von Dalmasca anzutreten. Mit einer charismatischen Rede gelingt es ihm, die Bewohner, die ihm zuvor blanken Hass entgegenbrachten, zu einem großen Teil umzustimmen; allerdings nicht bei dem Straßenjungen Vaan und dessen Freundin Penelo, eine der zahlreichen Kriegswaisen in Rabanastre. Vaan, der mit dem Tod seines Bruders Reks seinen letzten Familienangehörigen verloren hat, schlägt sich nun mit Taschendiebstählen durch und träumt davon, ein Luftpirat mit einem eigenen Schiff zu sein. Obwohl Penelo ihn davon abbringen will, führt Vaan seinen Plan aus, die Nacht der Feierlichkeiten auszunutzen, um sich in den Palast von Rabanastre einzuschleichen und dort Schätze für das dalmascanische Volk zurückzustehlen. Tatsächlich gelingt es ihm, in der Schatzkammer einen wertvollen Edelstein zu entwenden; er wird dort aber von dem Luftpiraten Balthier und dessen Partnerin Fran überrascht, die ebenfalls das Juwel stehlen wollten. Bevor sie sich einigen können, geraten die drei in einen Aufstand dalmascanischer Widerstandskämpfer, der jedoch von imperialen Einheiten niedergeschlagen wird. Auf ihrer Flucht durch die Kanalisation begegnen sie der jungen Anführerin des Widerstands, die sich Amalia nennt, werden jedoch bald darauf von archadischen Truppen gestellt und getrennt von Amalia in ein Verlies verbracht. Dort treffen sie auf Basch, der aus politischem Kalkül doch nicht hingerichtet wurde. Auf der Flucht aus dem Verlies gelingt es Basch, den alle für einen Mörder und Landesverräter halten, nach und nach, die anderen zu überzeugen, dass er unschuldig ist: Nicht er, sondern sein Zwillingsbruder Gabranth, der in der archadischen Führung das hohe Amt eines Richters bekleidet, hat damals König Raminas und Vaans Bruder Reks getötet. Zurück in Rabanastre findet Vaan heraus, dass inzwischen Penelo von Kopfgeldjägern, die hinter Balthier her sind, entführt worden ist. Die Gruppe reist deshalb mit Balthiers Luftschiff, der Strahl, in die schwebende Stadt Bhujerba, wo sich zurzeit auch Vertreter Archadias wegen wirtschaftlichen und politischen Verhandlungen mit der neutralen Stadt befinden. Bhujerbas Oberhaupt, Marquis Ondore, der zum Schein mit dem archadischen Imperium zusammenarbeitet, in Wirklichkeit aber den Widerstand unterstützt, ermöglicht es den Gefährten auf ein archadisches Schlachtschiff, die Leviathan, zu gelangen. Dort treffen sie wieder mit Penelo, die ihren Entführern entkommen ist, und mit Amalia zusammen. Es stellt sich heraus, dass Amalia in Wirklichkeit Prinzessin Ashe ist, deren Suizid nur vorgetäuscht war und die in den vergangenen zwei Jahren den dalmascanischen Widerstand organisiert hat. Sie hat jedoch keinen Beweis ihrer königlichen Abstammung und benötigt für eine Krönung ein Insigne. Traditionell ist das der sogenannte Abend-Splitter, der Stein – ein Nethizit –, den Vaan gestohlen und die ganze Zeit bei sich getragen hat, der ihm aber jetzt auf der Leviathan vom imperialen Richter Ghis abgenommen und nach Archadia verbracht wird. Nach dem Sieg über Ghis kann die Gruppe aus dem Luftschiff fliehen. Ashe bricht zunächst alleine auf, um in der Grabstätte eines legendären Vorfahren den Morgen-Splitter, ebenfalls ein Nethizit, der ihre Abstammung beweisen würde, an sich zu bringen. Nach einigen Verwicklungen verliert der Morgen-Splitter in einer gewaltigen Explosion, bei der die Leviathan zerstört und Richter Ghis getötet wird, jedoch seine innewohnende Mysth-Energie. Inzwischen versuchen nicht nur Marquis Ondore, sondern auch Larsa Solidor, Vayne Solidors erst zwölfjähriger Bruder, der jedoch im Gegensatz zu diesem einen weiteren Krieg unbedingt verhindern will, eine friedliche Lösung der Konflikte in Ivalice zu erreichen. Mit großem diplomatischen und politischen Geschick gelingt es ihm beinahe, eine Einigung herbeizuführen, bei der der bereits lange andauernde Krieg zwischen Archadia und der anderen Großmacht in Ivalice, Rozarria, beendet und dafür im Gegenzug Ashe zur Königin von Dalmasca gekrönt würde. Diese Hoffnung wird jedoch zunichtegemacht, als Vayne seinen Vater, Kaiser Gramis, vergiftet, den Mord wie ein Komplott des archadischen Senats aussehen lässt und auf diese Weise politisch und militärisch freie Hand bekommt. Ashe sucht das Kirchenoberhaupt Gran Kiltias Anastasis auf, um ihr Recht auf den Thron legitimieren zu lassen. Von ihm erhält sie Zugang zu dem legendären Schwert der Könige, das Nethizit zerstören kann. Die Gruppe begibt sich damit auf die Reise in die archadische Hauptstadt Archadis, wo sie mit dem Wissenschaftler Doktor Cid konfrontiert wird, der für die Waffen- und Luftschiffproduktion in Archadia zuständig ist und sich als Balthiers Vater herausstellt. Cid ist nahezu besessen von der Nethizit-Forschung und steht unter dem Einfluss von Venat, einem der fast gottgleichen Wesen namens Occuria. Es kommt zum Kampf mit Cid, aber der Wissenschaftler kann fliehen. In der antiken Stadt Giruvegan offenbaren sich die Occuria auch Ashe und überreichen ihr das Schwert des Paktes. Mit diesem soll sie Nethizite aus dem sogenannten Sonnen-Gespinst schneiden, der Quelle alles natürlichen Nethizits. Auf dem gefahrvollen Weg zum Sonnen-Gespinst steht Ashe vor der Entscheidung, ob sie den Occuria folgen und mit den mächtigen Nethiziten Rache am archadischen Imperium nehmen soll – oder mit dem Schwert der Könige das Sonnen-Gespinst und damit alles Nethizit auf der Welt zerstören soll. Dort angekommen wählt sie Letzteres; die Gruppe wird jedoch von Doktor Cid überrascht, der zwar den Kampf verliert und daraufhin stirbt, aber zuvor noch so viel Mysth-Energie aus dem Sonnen-Gespinst freisetzen kann, dass sein großes Projekt, die Luftfeste Bahamut, ein gewaltiges neuartiges Schlachtschiff, einsatzbereit wird. Die entscheidende Schlacht zwischen den Widerstandsgruppen unter Führung von Marquis Ondore und dem archadischen Imperium findet im Luftraum über Rabanastre statt, wo Vayne die Bahamut in Stellung bringt. Ashe und ihren Freunden gelingt es jedoch, mit der Strahl das Schlachtschiff zu infiltrieren. Basch überzeugt dort seinen Bruder Gabranth schließlich doch noch, sich dem Widerstand anzuschließen. Die Gruppe kann bis zu Vayne vordringen und ihn zusammen mit dem göttlichen Venat, unter dessen Einfluss Vayne nach Doktor Cids Tod gestanden hat, in einem Endkampf besiegen und töten. Gabranth stirbt in den Armen von Basch, Ashe erklärt den Krieg für beendet und Larsa übernimmt die Führung der archadischen Truppen. Als die Gruppe aus der durch eine Explosion beschädigten Bahamut flieht, bleiben Balthier und Fran zurück und können in letzter Sekunde verhindern, dass das Schlachtschiff auf die Stadt stürzt. Ein Jahr später steht die Krönung von Ashe zur Königin von Dalmasca kurz bevor. Larsa setzt sich zusammen mit Basch, der Gabranths Stelle als Richter eingenommen hat, weiter für den Friedensprozess im kriegszerrütteten Ivalice ein. Balthier und Fran, die nach dem Absturz für tot gehalten wurden, leben noch, wie sich herausstellt, als die beiden ihr Luftschiff Strahl von Vaan und Penelo „stehlen“. Entwicklung Überblick Die Entwicklung von Final Fantasy XII begann 2001 unter der Leitung der japanischen Videospieldesigner und -produzenten Yasumi Matsuno und Hiroyuki Itō. Matsuno hatte bereits bei der Entwicklung des Action-Rollenspiels Vagrant Story (2000) und zuvor bei dem Taktik-Rollenspiel Final Fantasy Tactics (1997) die leitende Rolle eines Directors inne. In beiden Spielen wird wie in Final Fantasy XII das von Matsuno entworfene Ivalice als Hintergrundwelt verwendet. Itō war bereits bei einigen Spielen aus der Final-Fantasy-Reihe leitender Entwickler des Kampfsystems und war Director von Final Fantasy IX (2000). Matsuno musste während der Entwicklungsphase seine Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen einschränken. An seine Stelle trat Mitte 2005 Hiroshi Minagawa, der zuvor bereits als Art Director mit Matsuno bei der Entwicklung von Vagrant Story zusammengearbeitet hatte. Executive Producer des Spiels war Akitoshi Kawazu, der unter anderem als Director oder leitender Entwickler der – zu einem großen Teil nicht in Europa veröffentlichten – SaGa-Rollenspielreihe von Square/Square Enix mit den Teilreihen Final Fantasy Legend, Romancing SaGa und SaGa Frontier bekannt ist. Der geplante Veröffentlichungstermin des Spiels musste mehrfach nach hinten verschoben werden, sodass die gesamte Entwicklungszeit etwa fünf Jahre in Anspruch nahm. Im Jahr 2004 waren in der Abteilung bei Square Enix, die für die Entwicklung von Final Fantasy XII zuständig war, etwa 100 Personen angestellt. Design-Entscheidungen In einer rückblickenden Analyse erklärte einer der Entwickler, dass aufgrund der hohen Ansprüche in Bezug auf Innovation, Qualität und Umfang, die an Final-Fantasy-Spiele gestellt würden, diese zwangsläufig eine lange Entwicklungsphase haben. Das berge allerdings die Gefahr, dass ein Spiel bei seiner Veröffentlichung bereits technisch veraltet sei. Um dies zu verhindern, lege man den Schwerpunkt auf die künstlerische Gestaltung. Etwa 70 Prozent aller Ressourcen widme das Team diesem Aspekt, während auf die Entwicklung des Spielprinzips und auf die Technik nur 20 bzw. 10 Prozent entfielen. Für das Design der Spielwelt ließ sich das Entwicklerteam von einer Mixtur mittelalterlicher Regionen des Mittelmeerraums inspirieren, was sich nicht nur in der Architektur der Gebäude zeige, sondern auch in einem vielsprachigen Völkergemisch – im Spiel als Fantasy-Rassen dargestellt – und den damit zusammenhängenden rassistischen Vorurteilen. Ein Teil des Teams aus der Grafik- und Design-Abteilung reiste beispielsweise in die Türkei, um dort Inspirationen zu erhalten. Weitere Einflussquellen waren der arabische und der indische Kulturkreis; so werden in einer Stadt in der Spielwelt einige Wörter aus der altindischen Sprache Sanskrit verwendet. In einigen Besprechungen des Spiels wurden Vergleiche zwischen der Spielwelt von Final Fantasy XII und dem Star-Wars-Universum gezogen. Ein Entwickler betonte jedoch, dass Star Wars keinen großen Einfluss auf das Design hatte. Ursprünglich planten die Entwickler die Figur Basch, einen Mann mittleren Alters wie die Hauptfigur in Vagrant Story, als Protagonisten des Spiels einzusetzen. Aufgrund des gesamten Szenarios und der Demografie der Zielgruppe entschied sich das Team mit Vaan jedoch für einen jungen, androgynen Hauptcharakter um (vgl. auch Bishōnen). In einem Interview erklärte der Charakterdesigner Akihiko Yoshida, dass Vaans Figur bis zum Einsatz des Motion Capturings und der Synchronisation sogar noch effeminiertere Züge hatte. Beim Aussehen der sechs Hauptfiguren achteten die Designer darauf, dass sich diese von den Nichtspielercharakteren und untereinander einfach optisch unterscheiden lassen. Da der Spieler seine Figuren meist von hinten sieht, begann Yoshida bei diesen im Gegensatz zu den übrigen Figuren mit dem Entwurf der Rückansicht. Auf die Frage, warum die Figuren so spärlich bekleidet seien, antwortete Yoshida in einem Interview, dass in Dalmasca ein heißes Klima vorherrsche und deshalb mehr Haut zu sehen sei. Technik Für die Umsetzung des Spielprinzips war laut Programming Supervisor Taku Murata von Anfang an als wichtigste Innovation der nahtlose Übergang in das Kampfsystem vorgesehen. Dabei sei jedoch darauf geachtet worden, Spieler, die an das alte befehlsbasierte System gewöhnt seien oder mit actionlastigen Spielen nicht gut zurechtkämen, nicht zu verprellen. Bei der technischen Realisierung wurden neben kommerzieller Standardsoftware wie Maya, Softimage oder Photoshop auch zahlreiche eigens für das Spiel entwickelte Dienstprogramme (Tools) eingesetzt. Unter anderem waren das Tools für das dynamische Hinzufügen von Texturen und für die Darstellung von 2D-Material in Partikeleffekten, ein Partikeleditor für Effekte wie Magie oder Staub sowie ein Programm zur Kompression der Bewegung der Charaktere. Die wichtigste Errungenschaft sei dabei gewesen, Spielinhalte schon während der Entwicklung auf der PS2 darstellen zu können. Laut Director Minagawa habe dennoch der Übergang zum nahtlosen Kampfsystem das Team vor zahlreiche Probleme gestellt und dadurch den Entwicklungsprozess deutlich verlängert. Dabei seien Einschränkungen durch die begrenzte Leistungsfähigkeit der PS2 häufig eine große Hürde gewesen. Musik Den größten Teil der Musik in Final Fantasy XII schrieb der japanische Videospielkomponist Hitoshi Sakimoto, der unter anderem bereits den Soundtrack zu Vagrant Story komponiert hatte; einige weitere Musikstücke steuerten Masaharu Iwata und Hayato Matsuo bei. Das einzige Gesangsstück im Spiel, Kiss Me Good-Bye, wurde von Nobuo Uematsu, dem Komponisten der Musik aller vorhergehenden Teile der Final-Fantasy-Hauptreihe, geschrieben. Die Sängerin dieser Pop-Ballade, die die Schlussszenen des Spiels untermalt, ist die japanisch- und italienischstämmige Singer-Songwriterin Angela Aki. Ein als „Mini-Sinfonie“ bezeichnetes etwa neunminütiges Stück mit dem Titel Symphonic Poem “Hope”, das die Credits des Spiels unterlegt, wurde zusammen mit Yuji Toriyama von dem Komponisten und Violinisten Taro Hakase geschrieben, arrangiert und gespielt. Der vollständige Soundtrack wurde unter dem Titel Final Fantasy XII Original Soundtrack Ende Mai 2006 veröffentlicht. Er umfasst 100 Stücke auf vier CDs mit einer Gesamtspieldauer von 4:54:34. Eine Kompilation mit dem Titel Selections from Final Fantasy XII Original Soundtrack mit 31 ausgewählten Stücken kam Ende Oktober desselben Jahres zusammen mit der Veröffentlichung des Spiels in Nordamerika heraus. Im November 2012 veröffentlichte Square Enix das Album Piano Collections Final Fantasy XII, das 13 Tracks aus dem Spiel als Klavierstücke enthält, arrangiert und eingespielt von Casey Ormond. Lokalisierung und Synchronisation Von der technischen Seite wurde bei der Lokalisierung für die Veröffentlichung außerhalb Japans eine zusätzliche Grafikdarstellung im 16:9-Bildschirmformat hinzugefügt. Außerdem fügten die Entwickler einige Szenen, die in Japan aus „politischen Gründen“ und, um dort eine Jugendschutzeinstufung „ohne Alterseinschränkung“ zu erreichen, aus dem Spiel entfernt wurden, in der lokalisierten Fassung wieder ein. Hierbei handelt es sich beispielsweise um eine Szene, in der ein gefesseltes junges Mädchen von seinen Entführern bedroht wird. Als Produzent und leitender Übersetzer für die englischsprachige Version des Spiels fungierte der amerikanische Übersetzer und Autor Alexander O. Smith. Typisch für Smiths Stil ist der Einsatz von formeller Sprache bis hin zu Archaismen bei einigen Figuren, was dazu führte, dass der Sprachstil in Final Fantasy XII in einigen Publikationen als „shakespearesch“ beschrieben wurde. Bei der sprachlichen Charakterisierung der Figuren wurden unterschiedliche englische Dialekte oder beispielsweise Englisch mit indischem oder italienischem Akzent verwendet. Für die einer nichtmenschlichen Fantasy-Rasse angehörige Hauptfigur Fran wurde ein isländischer Akzent gewählt; die Antagonisten des „bösen Imperiums“ sprechen wie in den Star-Wars-Filmen Britisches Englisch. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die spielbaren Hauptfiguren und deren japanische beziehungsweise englische Synchronsprecher. Insgesamt waren an der englischen Synchronisation 37 Sprecher, teilweise in mehr als einer Rolle, beteiligt, darunter zum Beispiel Nolan North, Phil LaMarr und Michael E. Rodgers. Für die umfangreichen Synchronarbeiten wurde wie bereits in Final Fantasy X das ADR-Verfahren eingesetzt. Veröffentlichung Ankündigungen und Termine Ende Juli 2005 gab Square Enix den endgültigen Termin für die Veröffentlichung von Final Fantasy XII in Japan bekannt, die am 16. März 2006 erfolgte. Der Termin für die Markteinführung in Nordamerika am 31. Oktober 2006 wurde Ende Juni desselben Jahres bekannt gegeben. In den meisten europäischen Ländern erschien das Spiel am 23. Februar 2007, also fast ein Jahr nach der Erstveröffentlichung. In Deutschland war das Medienunternehmen Koch Media für Veröffentlichung und Vertrieb zuständig. Vermarktung In Japan erschien Final Fantasy XII auch als Bundle zusammen mit einer schwarzen Play-Station-2-Konsole, auf der ein Symbol aus dem Spiel eingeprägt war, in einer speziellen Design-Verpackung. Zudem wurde ein Album mit dem Titel The Best of Final Fantasy XII mit elf Musikstücken aus dem Spiel am Tag vor der Veröffentlichung nur für diesen einen Tag zum Download bei iTunes freigeschaltet. Als weitere Werbeaktion zur Markteinführung in Japan bot der japanische Getränkehersteller Suntory ein spezielles Kräuter-Erfrischungsgetränk mit dem Namen Final Fantasy XII Potion in blauen Designer-Flaschen zum Verkauf an. „Potion“, das englische Wort für „Zaubertrank“, ist die im Spiel verwendete Bezeichnung für einen Standardheiltrank. Im November 2005 wurde für den nordamerikanischen Markt eine spielbare Demo-Version von Final Fantasy XII veröffentlicht, die dem Rollenspiel Dragon Quest VIII: Journey of the Cursed King beilag. Vor der US-Veröffentlichung veranstaltete Square Enix einen Cosplay-Wettbewerb, bei dem die Teilnehmer Fotos von sich verkleidet als Figuren aus dem Spiel einsenden und eine Reise nach New York zum sogenannten Final Fantasy XII Gamer’s Day, einer großen Werbeveranstaltung zum Verkaufsstart, gewinnen konnten. Ein ähnlicher Wettbewerb fand vor der Europa-Veröffentlichung statt. Zur Veröffentlichung in Nordamerika kam neben der Standardversion des Spiels auch eine Collector’s Edition auf den Markt. Diese Sammlerausgabe enthält in einer speziellen Verpackung neben dem Originalspiel eine weitere PS2-Disk mit Entwicklerinterviews, Trailern, Artwork und einer Dokumentation zur Geschichte der Final-Fantasy-Reihe. Anfang 2007 brachte Square Enix Action-Figuren der Spielcharaktere Vaan, Ashe, Balthier und Richter Gabranth heraus. Verkaufserfolg Innerhalb einer Woche nach der Veröffentlichung in Japan konnten dort mehr als 1,76 Millionen Exemplare des Spiels verkauft werden, etwa genauso viele wie beim Verkaufsstart von Final Fantasy X. Das Erscheinen von Final Fantasy XII führte in Japan zudem zu einer Verdreifachung der Absatzzahlen von PS2-Konsolen. In einem im Mai 2006 veröffentlichten Finanzbericht führte Square Enix die im vergangenen Geschäftsjahr erzielte Gewinnsteigerung von 14 Prozent auch auf den Verkaufserfolg des Spiels zurück. In Nordamerika konnten in der Veröffentlichungswoche ca. 1,5 Millionen Exemplare abgesetzt werden, was laut Square Enix dort einen Verkaufsrekord für das Unternehmen darstellte. Insgesamt wurden nach Angaben von Square Enix bis Ende März 2007 mehr als 5,2 Millionen Einheiten an die Händler ausgeliefert. Der Titel belegte damit den vierten Platz der im Jahr 2006 meistverkauften PS2-Spiele. Die Website VG Chartz schätzt die Anzahl der bisher (Stand Februar 2015) weltweit verkauften Exemplare auf 5,95 Millionen. Final Fantasy XII International Zodiac Job System Bei Computerspielen, die zuerst in Japan nur in japanischer Sprache veröffentlicht werden, wird häufig die englischsprachige Lokalisierung später als sogenannte International Version dort wieder aufgelegt. Dabei werden mitunter weitere Zusatzinhalte in das Spiel aufgenommen. Auch Final Fantasy XII wurde am 9. August 2007 unter dem Titel Final Fantasy XII International Zodiac Job System mit zahlreichen Neuerungen in Japan wiederveröffentlicht. Neben der englischen Synchronisation mit japanischen Untertiteln und dem zusätzlichen 16:9-Bildformat ist die größte Änderung am Spielprinzip in dieser Version, dass nicht nur ein einziges Lizenzbrett zur Entwicklung der Charaktere verwendet wird, sondern dass der Spieler die Auswahl unter zwölf verschiedenen Lizenzbrettern hat, die er den Figuren zuordnen kann. Auf diese Weise kann er seine Charaktere spezialisieren und ihnen verschiedene Rollen („Jobs“) wie beispielsweise „Ritter“, „Schwarzmagier“ oder „Bogenschütze“ zuteilen. Außerdem können in der International Version den mit der Spielergruppe mitkämpfenden Gästen Befehle erteilt werden und es ist möglich, auf Tastendruck die Geschwindigkeit, mit der das Spielgeschehen abläuft, zu verdoppeln. Im Juli 2017 veröffentlichte Sony Interactive Entertainment eine überarbeitete HD-Version von Final Fantasy XII International Zodiac Job System unter dem Titel Final Fantasy XII: The Zodiac Age für die PlayStation 4 und im Februar 2018 für Windows. Ende April 2019 erschien der Titel erstmals für Xbox One und Nintendo Switch. Rezeption Kritiken Metawertungen Final Fantasy XII wurde von der Kritik fast durchweg positiv bis sehr positiv beurteilt: Laut Metacritic, einer Website für Medienbewertungen, erzielt das Spiel 92 %, bei GameRankings, einem anderen Aggregator-Dienst, beträgt der Wertungsschnitt 90,77 %. Es ist der erste Teil der Final-Fantasy-Reihe und zugleich das erste PS2-Spiel, das von der renommierten japanischen Fachzeitschrift Famitsu die Höchstwertung 40 von 40 Punkten erhielt. In den vier Einzelbewertungen, die zu diesem Gesamtergebnis führten, lobten die Rezensenten besonders die Grafik, das Szenario sowie das Spielsystem und hoben die erfrischenden Neuerungen hervor, die das Spiel in die Serie einbringe. Bewertungen in Magazinen Jeremy Dunham vom Onlinemagazin IGN lobte vor allem die Präsentation, die mit sehr kurzen Ladezeiten eine gigantische, voll realisierte Spielwelt zur Verfügung stelle und zudem eine der besten Handlungen aller Spiele dieses Jahres erzähle. Das Spielprinzip mit Gambit-System und Lizenzbrett zusammen mit der Gegner-KI biete sowohl Spaß als auch Herausforderungen. Die Grafik sei in jedem Sinne eine technische Bestleistung auf der PS2. Außerdem lobte Dunham die Leistung der Synchronsprecher. Zu ähnlichen Beurteilungen kam auch Jens Bischoff vom deutschen Computerspielmagazin 4Players. Er betonte zudem die große spielerische Freiheit durch die Abkehr vom traditionellen Kampfsystem der Reihe mit Zufallsgegnern und rundenbasierten Kämpfen in einem abgetrennten Kampfbildschirm hin zu einer Struktur, die auf dem Rollenspiel Star Wars: Knights of the Old Republic aufbaue. Allerdings könnten die Freiheiten im Kampfsystem und bei der Charakterentwicklung auch zu Brüchen in der Spielbalance führen. Die Handlung halte zwar die meiste Zeit ein solides Spannungsniveau, könne aber nicht mit echten Höhepunkten aufwarten. Das Charakterdesign schwanke zwischen hervorragend (Figur des Balthier) und belanglos (Penelo). Shane Bettenhausen lobte im Onlinemagazin 1Up.com vor allem das Design und die grafische Darstellung der Spielwelt, die dem Spieler ein Gefühl für realistische Größenverhältnisse vermittle wie noch kein Einzelspielertitel der Reihe zuvor, er sprach allerdings auch einige negative Punkte an. Die Handlung verliere sich zwar nicht allzu sehr in verwirrende Einzelheiten und sei zunächst – obwohl voller politischer Intrigen – überraschend leicht zu verfolgen, falle aber gegen Ende etwas auseinander. Die Charaktere seien recht banal, sodass es kaum gelinge, einen echten Protagonisten auszumachen. Formal sei das Vaan, aber alles drehe sich um Ashe – leider, so Bettenhausen, seien beide nicht sonderlich interessante Figuren, wodurch es der Geschichte an emotionaler Durchschlagskraft mangele. Das Kampfsystem wirke zunächst flach und repetitiv, gewinne aber vor allem durch das einfallsreich wirkende Gambit-System an Tiefe. Es sei zwar „cool“, die Gruppe „vorprogrammiert“ alleine Kämpfe bestreiten zu lassen, allerdings gebe dies auch viel von der Strategie und der Herausforderung früherer Final-Fantasy-Teile preis. Noch deutlicher bei der Beurteilung des Gambit-Systems wurde Fabian Walden vom deutschsprachigen Ableger des Onlinemagazins Eurogamer, der es für eine schlechte Wahl der Entwickler hielt, Interaktivität aus den Kämpfen herauszunehmen. Gerade bei diesem Spiel, bei dem der Spieler abwechselnd fünf oder zehn Minuten lang zu seinem Ziel oder durch einen Dungeon laufe und fünf Minuten lange Zwischensequenzen, die die Handlung weitererzählen, anschaue, gebe es kaum noch einen Unterschied zu einem „langen, langen Film“, wenn auch noch das Kämpfen nahezu von alleine ablaufe. Dennoch kam Walden insgesamt zu einer guten Bewertung des Spiels, denn die Spielwelt mit ihren großen und „erstaunlich belebten“ Städten, den düsteren, „manchmal furchteinflößenden“ Dungeons und den weiten Außenwelten sei beeindruckend. Außerdem hielt er die erzählte Geschichte, auch wenn es ihr etwas an Spannung und Dramaturgie fehle, für interessanter als bei den meisten anderen Rollenspielen. Bernd Fetsch von Stern.de, der feststellte, dass man die Handlung von Final Fantasy XII als „japanische Version von ‚Star Wars‘“ bezeichnen könne, hielt das Spiel für einen würdigen Abschluss für die „alternde PS2“. Er empfand zwar das Lizenzsystem als umständlich und bemängelte, dass sieben Jahre nach der Veröffentlichung der PS2 die Entwickler das Grafikproblem des Kantenflimmerns immer noch nicht ganz im Griff hätten; alle kleinen Kritikpunkte seien jedoch im Grunde nur Makulatur, denn das Gesamtbild stimme. Das Spiel biete „für viele, viele Stunden Unterhaltung und eine Geschichte, die den Spannungsbogen über all die Zeit aufrecht erhalten kann – nicht zuletzt wegen seiner Figuren, die alles andere als eindimensional sind.“ Soundtrack In einer Besprechung des Soundtracks stellte Ben Schweitzer auf der Website RPGFan fest, dass sich Sakimotos Stil in Final Fantasy XII deutlich von seinen früheren Arbeiten unterscheide. Ein Grundelement zum Verständnis des Soundscapes im Spiel seien die Stimmungswechsel innerhalb einzelner Stücke. Es gebe drei Schlüsselthemen im Soundtrack – neben dem Hauptthema das Thema des Imperiums und das Thema der Freiheitskämpfer – und alle drei erscheinen bereits im Eröffnungsstück Opening Movie, das Schweitzer als „spektakulär“ empfand. Uematsus einzigen Beitrag, das Lied Kiss Me Good-Bye, bezeichnete er als einen soliden Song, den er beispielsweise gegenüber dem Lied Eyes on Me aus Final Fantasy VIII vorziehe. Der Text sei „nicht schlecht“, auch wenn er denselben Typ klischeehafter Liebeslied-Lyrik mit Abschiedsthematik enthalte. Insgesamt bewertete Schweitzer den Soundtrack als „exzellent mit einigen Vorbehalten“. Es sei allerdings schwer zu beantworten, ob es sich dabei im Vergleich zu Uematsus Werk noch um „echte Final-Fantasy-Musik“ handele. Patrick Gann urteilte ebenfalls bei RPGFan deutlich kritischer über den Soundtrack. Der Rezensent hatte nach den Arbeiten Sakimotos für die Spiele Final Fantasy Tactics und Vagrant Story hohe Erwartungen, die für ihn jedoch in großen Teilen nicht erfüllt wurden. Er drückte seine gemischten Gefühle angesichts dieses zwar großen, bombastischen Werkes aus, dem es jedoch an Substanz fehle. Viele Stücke seien „abschweifend“ (‘rambling’) und wirkten auf ihn wie einige der eher weniger genießbaren Kompositionen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Angela Akis Kiss me Good-Bye bezeichnete Gann als eine schöne Ballade, die im starken Kontrast zu Sakimotos Arbeit stehe; Hakases Symphonic Poem “Hope” sei eine zwar kurze, aber viele Facetten zeigende und einprägsame Ode. Auszeichnungen und Nominierungen Final Fantasy XII erhielt zahlreiche Auszeichnungen von Spielezeitschriften und Onlinemagazinen, für weitere Preise war das Spiel nominiert. Die Zeitschrift Edge verlieh ihm den Preis als Spiel des Jahres, von IGN und von GameSpy erhielt es die Auszeichnung als PS2-Spiel des Jahres. Bei den Japan Game Awards 2006 konnte das Spiel in der Game of the Year Division den Grand Award und einen Award for Excellence gewinnen. In der Begründung für diese Wahl hieß es, das Spiel präsentiere die beste Grafik innerhalb seiner Reihe und zeige spektakuläre Blicke auf seine Welt. Es biete zudem eine außergewöhnlich vollständige Form eines Rollenspiels in Hinblick auf die erzählte Geschichte und die Musik. Bei den Interactive Achievement Awards, den Spike Video Game Awards und den Satellite Awards war Final Fantasy XII als Rollenspiel des Jahres nominiert, bei allen drei Verleihungen konnte jedoch schließlich The Elder Scrolls IV: Oblivion von Bethesda Softworks diesen Preis für sich gewinnen. Final Fantasy XII war außerdem bei den British Academy Video Games Awards 2007 in den Kategorien Original Score und Story and Character, bei den Game Developers Choice Awards für Character Design und Visual Arts und bei den Interactive Achievement Awards als Outstanding Achievement in Art Direction nominiert. Der Soundtrack erhielt zudem Nominierungen bei den British Academy Video Games Awards und den Spike Video Game Awards. Nachfolger Ende April 2007 veröffentlichte Square Enix in Japan mit Final Fantasy XII: Revenant Wings einen direkten Nachfolger von Final Fantasy XII für die Handheld-Konsole Nintendo DS. Das Spiel, das in Europa im Februar 2008 auf den Markt kam, ist aber kein Rollenspiel, sondern lässt sich in das Genre der Echtzeit-Strategiespiele einordnen; allerdings wurden in Revenant Wings auch Spielelemente aus Final Fantasy XII wie Gambits und Esperbeschwörungen übernommen. Die Handlung findet ein Jahr nach den Ereignissen von Final Fantasy XII statt. Vaan konnte sich seinen Traum, Luftpirat zu werden, erfüllen und besitzt nun ein Luftschiff. Zusammen mit seiner Freundin Penelo als Steuerfrau besucht er zu Beginn des Spiels Balthier und Fran, und die Vier gehen gemeinsam auf Schatzsuche. Final Fantasy XII: Revenant Wings wurde von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen: Bei Metacritic erzielt das Spiel die Wertung 81 %. Ein weiterer Ableger, ein Actionspiel mit dem Arbeitstitel Fortress, wurde von dem schwedischen Studio Grin für Square Enix entwickelt, jedoch wurde das Projekt 2009 fallen gelassen. Das Studio musste daraufhin Konkurs anmelden. Mit Final Fantasy XIII veröffentlichte Square Enix den nächsten Haupttitel der Rollenspielreihe im Dezember 2009 in Japan und im März 2010 in Europa für die Spielkonsolen PlayStation 3 und Xbox 360. Wie für die Final-Fantasy-Serie üblich hat das Spiel eine vom Vorgänger völlig unabhängige Handlung vor einer anderen Hintergrundwelt. Auch das Kampf- und das Charakterentwicklungssystem unterscheiden sich deutlich von Final Fantasy XII. Literatur Final Fantasy XII – Das offizielle Buch. Piggyback, 2007, ISBN 978-1-903511-64-0. Weblinks Offizielle Website bei Square Enix Final Fantasy XII im Final Fantasy Almanach Einzelnachweise Computerspiel 2006 PlayStation-2-Spiel Computer-Rollenspiel 12 PlayStation-4-Spiel Windows-Spiel Fantasy-Computerspiel Science-Fiction-Computerspiel Nintendo-Switch-Spiel Xbox-One-Spiel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sudetendeutsches%20Freikorps
Sudetendeutsches Freikorps
Das Sudetendeutsche Freikorps (SFK), auch Freikorps Henlein oder Sudetendeutsche Legion, war eine aus sudetendeutschen Männern gebildete paramilitärische Einheit zur Zeit des Nationalsozialismus unter dem Kommando von Konrad Henlein, dem Führer der Sudetendeutschen Partei (SdP). Adolf Hitler ordnete die Bildung des Freikorps am 17. September 1938 – auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise – an. Das Generalkommando wurde im Schloss Fantaisie bei Bayreuth angesiedelt. Die Angehörigen des SFK verübten ab dem 19. September 1938, ausgehend vom Deutschen Reich, bewaffnete Überfälle auf tschechoslowakische Einrichtungen im Sudetenland, um die Tschechoslowakei zu destabilisieren. Offiziell sollte das SFK die Sudetendeutschen vor angeblichen tschechischen Übergriffen schützen. Dem SFK gehörten bis zu 40.000 „Freischärler“ an. Infolge des Münchner Abkommens wurde am 1. Oktober 1938 das Sudetenland dem Deutschen Reich angegliedert. Die Existenz des SFK war damit gegenstandslos. Formell wurde das SFK am 9. Oktober 1938 aufgelöst, viele der Freikorps-Mitglieder wurden dabei in die SS übernommen. Insgesamt führten SFK-Trupps mehr als 200 Terroraktionen durch, töteten dabei über 100 Menschen und entführten etwa 2000 Opfer ins Deutsche Reich. Die „Freischärler“ zerstörten zahlreiche staatliche Einrichtungen in der Tschechoslowakei durch Sprengung oder Brandstiftung und erbeuteten Waffen, Munition sowie Fahrzeuge. Bei den Terroraktionen des SFK kamen durch Gegenwehr mehr als 50 der Freikorps-Kämpfer ums Leben. Die Angehörigen des SFK waren aufgrund der überhasteten Aufstellung mehrheitlich schlecht ausgerüstet und mangelhaft ausgebildet. Sie agierten teils undiszipliniert. Die oft unkoordinierten Terroraktionen des SFK hatten nur geringen militärischen, jedoch hohen politischen Wert. Sie dienten Hitlers Plan, die Tschechoslowakei zu destabilisieren und schließlich zu zerschlagen. Vorgeschichte Nach dem Ersten Weltkrieg lebten im neu entstandenen Vielvölkerstaat Tschechoslowakei knapp drei Millionen Sudetendeutsche. Insgesamt stellte die deutschsprachige Bevölkerung knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Tschechoslowakei. Seit der Gründung des tschechoslowakischen Staates gab es insbesondere im Sudetenland Strömungen und Organisationen, die eine Autonomie oder den Anschluss der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich beziehungsweise Österreich forderten. Auf politischer Ebene waren dies die Deutsche Nationalpartei (DNP) und die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP). Diese im Sudetenland zunehmend einflussreichen Parteien wurden am 4. Oktober 1933 offiziell verboten. Die DNSAP hatte sich bereits am 3. Oktober 1933 aufgrund des drohenden Parteienverbotes selbst aufgelöst. Hintergrund dieser Parteienverbote war der Vorwurf staatsfeindlicher Tätigkeit. Als neue Sammlungsbewegung der Autonomiebefürworter unter den Sudetendeutschen wurde am 1. Oktober 1933 die Sudetendeutsche Heimatfront (SHF) gegründet, die sich am 2. Mai 1935 in Sudetendeutsche Partei (SdP) umbenannte. Bei den Parlamentswahlen am 19. Mai 1935 wurde die SdP mit 44 von 300 Mandaten stärkste Partei im Parlament der Tschechoslowakei und konnte mehr als zwei Drittel der sudetendeutschen Stimmen für sich gewinnen. Parteivorsitzender war von Beginn an Konrad Henlein, der spätere Führer des SFK. Henlein prägte als Vorsitzender des sudetendeutschen Turnerbundes ab Beginn der 1930er Jahre die Entwicklung dieser Organisation zu einem völkisch-national orientierten Verband. Parteipolitisch nicht vorbelastet, schien Henlein als Integrationsfigur der deutsch-national gesinnten Sudetendeutschen jedoch ideal für den Aufbau einer neuen politischen Sammlungsbewegung. Bis Anfang 1938 war die Politik der SdP in Bezug auf Autonomie oder Anschluss der Sudetengebiete jedoch nicht eindeutig. Die zunehmende Radikalisierung und Hinwendung vieler Sudetendeutscher zur SdP war in einer großen Enttäuschung über die Situation im Sudetenland begründet. Bereits nach Gründung der Tschechoslowakei war es zu sudetendeutschen Demonstrationen für eine Autonomie der Sudetengebiete gekommen, die von tschechischen Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst wurden. In den 1920er Jahren stieg infolge der tschechischen Assimilierungspolitik der Anteil der tschechischen Staatsbediensteten in Relation zum tschechischen Bevölkerungsanteil im Sudetenland sprunghaft an. Der Grund hierfür lag im 1926 erlassenen Sprachengesetz, welches die Beherrschung der tschechischen Sprache innerhalb von sechs Monaten für Staatsbedienstete vorschrieb. Jene Staatsbediensteten, die dieser Maßgabe nicht nachgekommen waren, wurden entlassen. Auch insgesamt nahm der Anteil der tschechischen Bevölkerung im Sudetenland stetig zu. Zudem wirkte sich die Weltwirtschaftskrise von 1929 besonders stark auf die sudetendeutschen Gebiete aus. Der Anteil der Arbeitslosen an der sudetendeutschen Bevölkerung war doppelt so hoch wie an der tschechischen Bevölkerung. Bald nach dem „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich am 12. März 1938 lösten sich in der Tschechoslowakei die bürgerlichen Parteien Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei und der Bund der Landwirte selbst auf. Deren Mitglieder schlossen sich danach größtenteils der SdP an. Ab diesem Zeitpunkt standen im Wesentlichen nur noch die sudetendeutsche Sozialdemokratie sowie die Kommunisten in Opposition zur SdP. Auf Einladung Hitlers trafen am 28. März 1938 Henlein und sein Stellvertreter Karl Hermann Frank mit dem Reichskanzler zu einer Unterredung zusammen. Als gemeinsame Zielvorgabe wurde vereinbart, von der Tschechoslowakei die Autonomie der Sudetengebiete sowie Wiedergutmachungen für wirtschaftliche Verluste zu fordern. Dabei sollten in den Verhandlungen mit tschechoslowakischen Regierungsvertretern unannehmbare Forderungen seitens der SdP gestellt werden. Diese Forderungen wurden am 24. April 1938 durch das Karlsbader Programm auf dem Parteitag der SdP den Parteifunktionären verkündet. Hitler aktualisierte am 30. Mai 1938 unter dem Decknamen Grün sein Vorhaben, die Tschechoslowakei militärisch zu zerschlagen. Diese Anordnung sollte durch einen Propagandakrieg flankiert werden. Als Maßnahmen wurden die Unterstützung nationaler Minderheiten in der Tschechoslowakei, die Einflussnahme auf neutrale Staaten im Sinne der deutschen Sudetenpolitik sowie die Zermürbung der Widerstandskraft der Tschechoslowakei festgelegt. Die SdP ordnete sich als „Fünfte Kolonne“ des Deutschen Reiches ab dem Frühjahr 1938 immer weiter den Vorgaben des Falls Grün unter und trug so maßgeblich zur Verschärfung der Sudetenkrise bei. So wurde beispielsweise noch im Mai 1938 der Freiwillige deutsche Schutzdienst (FS) im Sudetenland gebildet, der aus dem Ordnungsdienst der SdP hervorgegangen war. Die Angehörigen dieser strukturell an die Sturmabteilung (SA) im Deutschen Reich angelehnten milizartigen Organisation waren hauptsächlich als Hilfspolizisten tätig. Angehörige des FS wurden teils auch konspirativ für die Durchführung von Sabotage- und Terrorakten gegen tschechoslowakische Einrichtungen ausgebildet. Die Hoffnung der tschechoslowakischen Regierung unter Präsident Edvard Beneš auf alliierte Unterstützung erfüllte sich nicht. Ab Sommer 1938 schalteten sich die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs auf diplomatischer Ebene verstärkt in die Sudetenkrise ein. Zudem wurde unter Lord Runciman am 3. August 1938 eine Delegation in die Tschechoslowakei entsandt, die sich während eines mehrwöchigen Aufenthaltes ein Gesamtbild von der Krisenlage verschaffen sollte. Mehrere bilaterale Konsultationen zwischen Frankreich und Großbritannien hatten schließlich nicht die Zusicherung militärischer Unterstützung zur Folge. Anders als erwartet ließen Frankreich und Großbritannien ein gewisses Verständnis für die sudetendeutschen Forderungen durchblicken. Der britische Premierminister Neville Chamberlain traf noch im September 1938 zweimal mit Hitler im Deutschen Reich zusammen, um den drohenden Krieg zu verhindern. Hitler beharrte bei diesen Treffen jedoch auf den Gebietsabtretungen der Tschechoslowakei und kündigte bei Nichterfüllung dieser Forderungen einen Krieg an. Zuspitzung der Sudetenkrise (10. bis 15. September) Anfang September 1938 spitzte sich die Sudetenkrise zu. Am Reichsparteitag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), der vom 5. bis zum 12. September in Nürnberg stattfand, nahm auch die Führung der SdP teil. Am 12. September äußerte Hitler in seiner Abschlussrede: „Die Deutschen in der Tschechoslowakei sind weder wehrlos, noch sind sie verlassen. Das möge man zur Kenntnis nehmen.“ Bereits am 10. September hatten im Sudetenland verbliebene SdP-Funktionäre vom stellvertretenden Vorsitzenden der SdP Karl Hermann Frank Instruktionen erhalten, gewaltsame Zusammenstöße von sudetendeutschen Demonstranten mit tschechoslowakischen Ordnungskräften zu organisieren. Ab dem 10. September war es dann in vielen sudetendeutschen Städten zu gewaltsamen Aktionen des FS im Schutz aufputschender antitschechischer Kundgebungen gekommen. Tausende sudetendeutsche Demonstranten hatten vehement die Autonomie ihrer Heimat gefordert. Hitlers Abschlussrede auf dem Reichsparteitag am 12. September wurde im deutschen Rundfunk übertragen und war auch im Sudetenland zu empfangen. Daraufhin eskalierte die Lage. Bewaffnete Angehörige des FS unternahmen Terror- und Sabotageaktionen gegen tschechoslowakische Einrichtungen, wie Polizeistationen, Zollämter und Kasernen. Ziel dieser meist unkoordinierten Aktionen war die gewaltsame Aneignung von Waffen, die Machtübernahme im Sudetenland sowie insgesamt die Destabilisierung des tschechoslowakischen Staates. Im besonders betroffenen Westböhmen rief die tschechoslowakische Regierung daraufhin am 13. September das Standrecht aus. Tschechoslowakische Sicherheitskräfte gingen schließlich gegen die teils bewaffneten Aufständischen erfolgreich vor. Der inszenierte Volksaufstand wurde von der sudetendeutschen Bevölkerung jedoch nicht umfänglich unterstützt. Zudem traten sudetendeutsche Antifaschisten, hauptsächlich Sozialdemokraten und Kommunisten, in die Auseinandersetzungen mit den FS-Angehörigen ein. Insbesondere die aus sudetendeutschen Sozialdemokraten bestehende paramilitärische Republikanische Wehr leistete gegen die Angriffe des FS Widerstand. Bis zum 17. September ebbten die Massendemonstrationen ab. Der FS verübte jedoch weiter Sabotageakte auf tschechoslowakische Einrichtungen. Insgesamt starben bei den Auseinandersetzungen 27 Menschen, darunter elf Sudetendeutsche. Dies war seitens der SdP-Führung durchaus eingeplant, um den Druck auf die Regierung der Tschechoslowakei zu verstärken. Aus Furcht vor Übergriffen flohen ab diesem Zeitpunkt tausende Tschechen, Juden und sudetendeutsche Antifaschisten aus dem Sudetenland nach Zentralböhmen. Am 13. September kehrte die Führung der SdP in das Sudetenland zurück. Aufgrund der dortigen chaotischen Zustände war die SdP-Führung jedoch nicht mehr in der Lage, organisiert zu arbeiten. Frank stellte noch am Abend des 13. September ein Ultimatum an die tschechoslowakische Regierung, in welchem der Rückzug der tschechoslowakischen Sicherheitskräfte aus dem Krisengebiet und die Rückgabe der Polizeigewalt an die sudetendeutschen Bürgermeister gefordert wurde. Da das Ultimatum nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wurde am 14. September die Parteizentrale der SdP in Prag aufgelöst und damit die Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung eingestellt. Über Asch setzte sich die Führung der SdP schließlich in das Deutsche Reich ab. Henlein gab am 15. September über den deutschen Rundfunk die Parole „Wir wollen heim ins Reich!“ aus. In dieser Rundfunkansprache forderte er die Auflösung des tschechoslowakischen Staates, wobei er auf den angeblichen „unversöhnlichen Vernichtungswillen“ der Tschechen gegenüber den Sudetendeutschen verwies. Daraufhin wurde in der Tschechoslowakei am 15. September zunächst der FS und einen Tag darauf die SdP verboten. Tausende Sudetendeutsche, insbesondere Angehörige des FS und SdP-Funktionäre, flohen ab Mitte September über die Grenze ins Deutsche Reich. Die Gründe lagen teils in dem verhängten Standrecht sowie in der Einberufung Sudetendeutscher zur tschechoslowakischen Armee. Die Flüchtlinge wurden nahe der Grenze zur Tschechoslowakei in Sammellagern untergebracht und durch SA sowie die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) betreut. Bildung des SFK (16. bis 18. September 1938) Am 16. September 1938 suchte der stellvertretende Vorsitzende der SdP Karl Hermann Frank erfolgreich bei Adolf Hitler um die Genehmigung zur Aufstellung eines Sudetendeutschen Freikorps nach. Hitler befahl noch am Vormittag des 17. September die Bildung des SFK unter der Leitung Konrad Henleins. Frank wurde unter Henlein stellvertretender Kommandant des Freikorps. Am selben Tag wurden das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und das Oberkommando des Heeres (OKH) über die Aufstellung des SFK per Fernschreiben informiert. Oberstleutnant Friedrich Köchling wurde daraufhin zum Verbindungsoffizier des OKW zum SFK als dessen militärischer Berater ernannt. Köchling erhielt zwar noch am Abend des 17. September nach einer persönlichen Unterredung mit Hitler weitreichende Vollmachten. Die Vorgaben seiner Vorgesetzten, die sudetendeutschen wehrfähigen Männer der Wehrmacht zu unterstellen, konnte Köchling jedoch nicht durchsetzen. Unmittelbar nach dem Beschluss der Bildung des SFK wandte sich Henlein am 17. September über den deutschen Rundfunk an die Sudetendeutschen und forderte die Zerschlagung der Tschechoslowakei sowie die Sudetendeutschen zum Waffengang auf. Das Sudetendeutsche Freikorps wurde nach seinem Führer auch Freikorps Henlein beziehungsweise Sudetendeutsche Legion genannt. Bereits am 17. September bezog der Stab des SFK in Schloss Donndorf bei Bayreuth sein Hauptquartier. Die Öffentlichkeit wurde darüber im Unklaren gelassen, da per Rundfunk und Presse suggeriert wurde, dass die Spitze der SdP-Politiker vom sudetendeutschen Asch aus agieren würde. Neben Köchling als Verbindungsoffizier des OKW waren dem Stab des SFK noch Verbindungsoffiziere der SA, SS und des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) beigestellt worden für den direkten Austausch zwischen dem Stab des SFK und ihrer jeweiligen Führung. Zudem stand auch der Leiter der OKW-Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, in ständigem Kontakt mit Henlein. Hitler persönlich gab in einem Fernschreiben vom 18. September an das OKH den Zweck des SFK bekannt: „Schutz der Sudetendeutschen und Aufrechterhaltung weiterer Unruhen und Zusammenstöße“. Das SFK sollte in Abstimmung mit dem OKW konspirativ in kleinen Stoßtrupps vom Deutschen Reich aus im Sudetenland durch Terrorakte für dauernde Unruhe sorgen. Die Angehörigen des SFK sollten nach „landsmännischen Gesichtspunkten“ in ihren Heimatbezirken eingesetzt werden, wo sie über Ortskenntnisse verfügten. Des Weiteren gab Hitler die Anweisung, das SFK unverzüglich im Deutschen Reich aufzustellen und ausschließlich mit österreichischen Waffen auszustatten. Ergänzend gab Köchling später an, dass die Organisationsstruktur des SFK in Anlehnung an den Aufbau der SA erfolgen sollte. Ausschließlich sudetendeutsche Männer im wehrfähigen Alter durften für das SFK geworben werden, der Eintritt Reichsdeutscher ins SFK war untersagt. Dennoch waren auch Angehörige der SA und des NSKK als Reichsdeutsche im SFK tätig, da sie für Leitungspositionen bei den SFK-Kommandos benötigt wurden. Die „Freischärler“ blieben Staatsbürger der Tschechoslowakei, um legal wieder in das Sudetenland einreisen zu können. Viele von ihnen gehörten vor ihrer Flucht dem FS an oder waren zuvor Reservisten beziehungsweise Wehrpflichtige der tschechoslowakischen Armee. Am 18. September wurde von Henlein das „Kommando des Sudetendeutschen Freikorps Nr. 1“ herausgegeben: Aufstellung und Struktur des SFK (18. bis 20. September 1938) Anwärter sollten sich in den Flüchtlingsunterkünften zum Eintritt in das SFK melden. Die Freiwilligen wurden über die Leitungen der Flüchtlingsunterkünfte der Zentralsammelstelle der SA zugeteilt. Nach der Aufnahme der Freiwilligen in das Freikorps wurden diese auf Adolf Hitler vereidigt und begingen damit als tschechoslowakische Staatsbürger Landesverrat. Die Ausstattung, Verpflegung und Unterbringung der „Freischärler“ sollte durch die SA im Grenzgebiet zum Sudetenland organisiert werden. Bezüglich der Bekleidung wurde Folgendes angeordnet: Ausgerüstet wurde das Freikorps mit Karabinern, Maschinenpistolen, Maschinengewehren, Handgranaten und Pistolen größeren Kalibers. Anfangs verfügte das gesamte Freikorps über 7780 Karabiner, 62 Maschinengewehre sowie 1050 Handgranaten. Knapp die Hälfte der „Freischärler“ war aufgrund des Waffenmangels bis zur Auflösung des SFK nicht mit Waffen ausgestattet. Obwohl das Freikorps unter dem alleinigen Kommando Henleins stand, beriet die Wehrmacht die SFK-Führung in operativen Fragen und regelte die Bewaffnung der Freikorpsverbände. Die Finanzierung des SFK wurde größtenteils durch die Wehrmacht gewährleistet, teils aber auch durch die SS, die Volksdeutsche Mittelstelle und andere Organisationen der NSDAP. Ab dem 18. September wurde entlang der deutsch-tschechischen Grenze in Schlesien, Sachsen, Bayern und Österreich jeweils eine Gruppe des SFK aufgestellt, die direkt dem Stab Henleins unterstanden. Ende September wurden die Gruppen in Schlesien und Österreich nochmals aufgeteilt, so dass später insgesamt sechs Gruppen bestanden. Jede Gruppe umfasste mindestens fünf Bataillone. Jedes Bataillon bestand aus mindestens vier Kompanien, die Kompanien setzten sich wiederum aus 150 bis 300 Männern zusammen. Jede Kompanie bestand aus drei bis fünf Zügen. Jeder Zug umfasste wiederum drei bis fünf Scharen, wobei jeder Schar zehn bis fünfzehn Männer angehörten. Die Kompanien befanden sich in den nahen deutschen Grenzregionen zum Sudetenland, die Bataillonsstäbe in weiter von der deutsch-tschechoslowakischen Grenze entfernten Städten. Jede Gruppe verfügte über einen eigenen Stab. Neben dem Kommandanten, unterstützt durch einen Adjutanten, gehörten zum Führungspersonal einer Gruppe noch jeweils ein Stabschef, Organisationsführer, Ordonnanzführer, Standesführer, Verwaltungsführer und ein Hauptarzt. Auch in den Gruppenstäben befand sich jeweils ein Verbindungsoffizier der Wehrmacht. Am 18. September gehörten dem SFK zwischen 10.000 und 15.000 Männer an. In den ersten Tagen des Bestehens des SFK meldeten sich Tausende Freiwillige zum SFK, so dass Henlein bereits am 19. September befahl, das SFK auf 40.000 Personen zu begrenzen. Laut einer Meldung des SFK vom 22. September sollte diese Anzahl auf Anordnung Hitlers auf 80.000 erhöht werden. Zu diesem Zeitpunkt gehörten dem SFK jedoch erst etwa 26.000 Personen an. Insbesondere nach dem 23. September, dem Zeitpunkt der Generalmobilmachung der tschechoslowakischen Armee, erhielt das SFK wieder erheblichen Zulauf. Am 1. Oktober umfasste das SFK 34.500 oder nach anderen Angaben 40.884 Männer. Dem SFK war ab dem 19. September auch ein Sudetendeutsches Fliegerkorps angegliedert, das sich in Alt-Lönnewitz befand. Der Personalbestand belief sich auf zwei Piloten und 42 Männer Bodenpersonal. Zusätzlich befanden sich noch 28 Piloten in vorbereitenden Maßnahmen. Nachrichtendienst des SFK Das SFK verfügte auch über einen Nachrichtendienst mit Dienstsitz in Selb, der von Richard Lammel geleitet wurde. Der Nachrichtendienst des SFK hatte zum einen die Aufgabe, Terror- und Sabotageakte des SFK zu koordinieren und auszuwerten. Andererseits sollte der Nachrichtendienst des SFK mit den Nachrichtendiensten des Deutschen Reiches kooperieren, um seine Erkenntnisse bei einem potentiellen deutschen Angriff auf die Tschechoslowakei in die militärischen Planungen mit einfließen zu lassen. Lammels Befehl am 19. September zur Einrichtung des Nachrichtendienstes des SFK lautete folgendermaßen: Bei jeder Gruppe des SFK wurden auf Befehl Henleins vom 20. September Nachrichtenstellen geschaffen, die durch Nachrichtenoffiziere geleitet werden sollten. Die Nachrichtenstellen waren für die Beobachtung und Auskundschaftung der militärischen und politischen Lage im Sudetenland sowie dem tschechischen Gebiet und die Weitergabe relevanter Informationen an den Kommandanturstab des SFK verantwortlich. Aktivitäten des SFK (19. September bis 1. Oktober 1938) Einzelne Trupps des SFK sickerten in der Nacht auf den 19. September über die Grenze in das Sudetenland ein und verübten unter anderem in Asch einen Anschlag auf die Finanzwache. Ab dem 19. September waren alle Gruppen des SFK einsatzbereit. Von diesem Zeitpunkt an infiltrierten Angehörige des SFK jede Nacht entlang der gesamten deutsch-tschechoslowakischen Grenze das Sudetenland. Die SFK-Kommandos umfassten in der Regel aufgrund der ungenügenden Bewaffnung nur einige Dutzend Männer; an einigen Grenzabschnitten waren jedoch Trupps von bis zu 300 „Freischärlern“ im Einsatz. Mit zunehmender Intensität verübten sie Brandanschläge und Überfälle auf Polizei-, Grenz- und Zollstationen sowie weitere staatliche Einrichtungen. Die SFK-Trupps beschossen auch tschechoslowakische Grenz- und Polizeipatrouillen. Die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte konnten einige Angriffe abwehren, teils kam es zu heftigen Kampfhandlungen mit Todesopfern auf beiden Seiten. Die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte wurden bei den Kampfhandlungen durch sudetendeutsche Antifaschisten unterstützt. Insbesondere die Republikanische Wehr schützte in den Einheiten der SOS (Stráž obrany státu – Wache zum Schutz des Staates) die tschechische Staatsgrenze. Das OKH lehnte die Massivität der unkoordinierten SFK-Aktionen ab, da sich die „Freischärler“ nicht an gemeinsame Absprachen hielten und teils sogar den Aufmarsch der Wehrmacht an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze behinderten. Erfolgreich intervenierten OKW und OKH daraufhin bei Hitler, der am 20. September eine Reduzierung der SFK-Aktionen anordnete. Lediglich Trupps von einem Dutzend Männern sollten nun gegen genau definierte Ziele vorgehen. Zudem waren die Aktivitäten des SFK nicht mehr geheim zu halten und stießen international teils auf Ablehnung. Dennoch intervenierten Frankreich und Großbritannien bei der tschechoslowakischen Regierung zugunsten des Deutschen Reiches. Auf sich allein gestellt nahm die tschechoslowakische Regierung schließlich am 21. September die Londoner Empfehlungen an, die eine Abtretung der sudetendeutschen Gebiete ohne eine Volksabstimmung an das Deutsche Reich vorsahen. Von dieser neuen Situation wurden die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte und Beamte überrumpelt. In mehreren sudetendeutschen Städten und Ortschaften erlangten Mitglieder der SdP und des FS wieder die Kontrolle über staatliche Einrichtungen und Funktionen. Das tschechoslowakische Militär zog sich aus Gebieten, die ins Deutsche Reich hineinragten, auf eine militärstrategisch günstigere Verteidigungslinie zurück. Es gelang dem FS mit Unterstützung des SFK so, am 22. September unter anderem im Ascher Gebietszipfel die tschechische Polizei zu entwaffnen. Dieser Vorgang wiederholte sich danach in Eger und Franzensbad. Dort und auch andernorts wurden gefangene Polizisten sowie verhaftete tschechische und sudetendeutsche Antifaschisten in das Deutsche Reich verbracht. Trotz der Annahme der Londoner Empfehlungen durch die tschechoslowakische Regierung setzte das SFK auch ab dem 21. September seine Terroraktionen fort. Insbesondere im geräumten Ascher Zipfel und in Schluckenau konnten sich Freischärler ab dem 22. September durchgehend festsetzen. Bis zum 23. September steigerten sich die Terroraktionen des SFK im Sudetenland. In Warnsdorf konnten Angehörige des SFK beispielsweise 18 Millionen Kronen aus der Staatsbank entwenden und in Eisenstein einen Zug ins Deutsche Reich umleiten. Aufgrund von erheblichen Protesten in der Tschechoslowakei gegen die Annahme des Londoner Abkommens kam es am 22. September zum Regierungswechsel. Die neue tschechoslowakische Regierung befahl am 23. September die Generalmobilmachung. Bis zum 28. September waren 1.250.000 Soldaten der tschechoslowakischen Armee im Einsatz. Nach Bekanntgabe der Generalmobilmachung entzogen sich Tausende Sudetendeutsche nach einem Rundfunkaufruf Henleins der Wehrpflicht und flüchteten in der Nacht zum 24. September mit Unterstützung des SFK über die Grenze ins Deutsche Reich. Dort traten sie größtenteils dem SFK bei und verstärkten es erheblich. Das tschechoslowakische Militär rückte umgehend in das Sudetenland ein. Teils wurden die SFK-Kommandos bereits unmittelbar nach Überschreiten der Grenze konsequent angegriffen. Einer gut ausgebildeten und schwer bewaffneten Armee war das SFK aufgrund seiner mangelhaften Ausbildung und Bewaffnung jedoch nicht gewachsen. Ab dem 24. September änderte sich daher die Strategie des SFK. Statt der Durchführung von Sabotage- und Terrorakten verlegte das SFK nun den Schwerpunkt seiner Aktivität auf bewaffnete Aufklärungsunternehmen im Auftrag der Wehrmacht. In geringerem Umfang setzte das SFK dennoch seine Terroraktionen und Überfälle bis zum 1. Oktober fort. Am 25. September rückte die tschechische Armee aus militärstrategischen Erwägungen aus dem Bezirk Jauernig ab. Angehörige des SFK besetzten daraufhin dieses Gebiet. Unterstützung erhielten sie dabei von SS-Totenkopfverbänden, die am gleichen Tag das SFK im Ascher Zipfel verstärkten. Dort konnte ein Vorstoß der tschechoslowakischen Armee am 25. September erfolgreich abgewehrt werden. Dem OKW unterstand ab dem 24. September die alleinige Befehlsgebung im Grenzgebiet zum Sudetenland. Grenzübertritte mussten ab dem 28. September dem örtlichen Führer der Grenzwacht gemeldet und geplante Unternehmungen mit ihm abgesprochen werden. Zudem ordnete das OKW am 30. September an, das SFK nach einem Einmarsch der deutschen Truppen in das Sudetenland der Wehrmacht zu unterstellen. Auf Intervention der SS nahm Hitler noch am Abend des 30. September den Befehl des OKW zurück und unterstellte das SFK dem Reichsführer SS Heinrich Himmler. Hintergrund für diese Befehlsabänderung war der Plan, dass SFK-Angehörige im Sudetenland polizeiliche Aufgaben wahrnehmen sollten. Am 1. Oktober 1938 trat das zwischenzeitlich ausgehandelte Münchner Abkommen in Kraft, das eine Angliederung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich festschrieb. Damit wurde die Existenz des SFK gegenstandslos. Köchling bilanzierte später 164 „gelungene“ und 75 „erfolglose“ Aktionen des SFK. Durch SFK-Verbände wurden 110 Menschen getötet, 50 verwundet und 2029 nach Deutschland entführt. In Altenfurt waren am 17. Oktober beispielsweise 142 Tschechoslowaken interniert, darunter 56 Polizisten, 52 Zollbeamte, 16 Gendarme und 18 Militärangehörige. Die Verluste des SFK betrugen 52 gefallene, 65 verwundete und 19 vermisste Personen. Zudem wurden neben Munition und Fahrzeugen auch 341 Gewehre, 61 Pistolen und 24 Maschinengewehre erbeutet. Viele tschechische Einrichtungen waren vorwiegend durch Brandstiftung oder Sprengung zerstört worden. Auflösung des SFK (1. bis 9. Oktober 1938) Die Wehrmacht rückte zwischen dem 1. Oktober und 10. Oktober in Etappen kampflos in das Sudetenland ein. Im Gefolge der Wehrmacht gelangten auch SFK-Verbände in das Sudetenland, denen zunächst keine nennenswerten Funktionen mehr übertragen wurden. Am 2. Oktober fand zwar noch ein Sondierungsgespräch zwischen dem Stabschef des SFK Pfrogner und dem Polizeigeneral Kurt Daluege über die weitere Verwendung von ehemaligen „Freischärlern“ statt, das jedoch keine nennenswerten Ergebnisse erbrachte. Eigenmächtige Festnahmen, Plünderungen, Konfiszierungen und Hausdurchsuchungen waren den Angehörigen des SFK nun auf Befehl Henleins verboten. Diese Anweisung musste jedoch am 4. Oktober auch aufgrund von in- und ausländischen Beschwerden wiederholt werden, da es im Sudetenland vielerorts zu eigenmächtigen Handlungen und pogromartigen Ausschreitungen seitens der „Freischärler“ kam. Politische Gegner sowie Juden, darunter sowohl Tschechen als auch Sudetendeutsche, waren ab dem 1. Oktober von „Freischärlern“, SdP-Anhängern und Angehörigen des FS terrorisiert worden. Erst die Wehrmacht konnte weitere Ausschreitungen unterbinden. Im Gefolge der Wehrmacht gelangten aber auch Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei ins Sudetenland um die Festnahme von Gegnern des NS-Regimes organisiert vorzunehmen. Ungefähr 2000 sudetendeutsche Antifaschisten, hauptsächlich Sozialdemokraten und Kommunisten, wurden verhaftet und in das KZ Dachau eingewiesen. Das tschechische Innenministerium gab mit Stand vom 3. Dezember 1938 an, dass insgesamt 151.997 Tschechen, Juden und sudetendeutsche Gegner des NS-Regimes aus dem Sudetenland ins Landesinnere der Tschechoslowakei flüchteten. Die Wehrmacht stellte schließlich die Unterstützung für das SFK ein. Die SS konnte die Versorgung der Freikorpsangehörigen daraufhin nur ungenügend sicherstellen. So zerfiel in den ersten Oktobertagen das SFK allmählich und viele „Freischärler“ setzten sich in ihre Heimatorte ab. Durch einen Aufruf Henleins wurde das SFK am 9. Oktober 1938 offiziell aufgelöst. Später erhielten ehemalige Angehörige des SFK noch die Medaille zur Erinnerung an den 1. Oktober 1938. Nach dem formellen Ende des SFK stand noch aus, die Schulden und Schäden auszugleichen, die durch SFK-Angehörige verursacht worden waren. Die Versorgung der „Freischärler“ erfolgte durch örtliche Händler, die im Glauben, später durch das Reichsleistungsgesetz der Wehrmacht entschädigt zu werden, in Vorleistung traten. Bei der Abwicklungsstelle in Reichenberg konnten entsprechende Schadensersatzansprüche gestellt werden. Die Außenstände wurden jedoch nie beglichen. Angehörige des SFK erhielten für körperliche Schäden eine Wiedergutmachung. Jenen, die zwischen dem 20. und 30. September bei ihrem Einsatz körperliche Schäden erlitten hatten, standen gemäß dem Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz Entschädigungen zu. Diese Regelung galt auch für Hinterbliebene von gefallenen „Freischärlern“. Eingliederung ehemaliger Angehöriger des SFK in den nationalsozialistischen Machtapparat Bereits als sich das SFK in der Auflösung befand, warb die SS insbesondere hochrangige SFK-Angehörige für ihre Organisation. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit der SA, welche die SFK-Angehörigen ebenfalls für sich gewinnen wollte. Gottlob Berger äußerte später, dass er aus dem SFK geeignete „Freischärler“ für die SS beziehungsweise die SS-Verfügungstruppe auswählen sollte. Viele der ehemaligen Freikorpsangehörigen traten nach der Angliederung des Sudetengebietes der NSDAP, SA, SS und anderen nationalsozialistischen Organisationen bei. Mitgliedern der Führung des SFK wurden nach Eintritt in die SA und SS hohe Ränge verliehen. Nach der Sudetendeutschen Ergänzungswahl zum nationalsozialistischen Reichstag vom 4. Dezember 1938 wurden ehemals führende Angehörige des SFK Mitglieder des Reichstags. Unter ihnen befanden sich Henlein, Frank, Pfrogner, Lammel, Köllner, Brandner, Bürger und May. Henlein wurde nach Auflösung des SFK ehrenhalber Gruppenführer bei der SS und erreichte in dieser Organisation im Juni 1943 den Rang eines Obergruppenführers. In Reichenberg amtierte Henlein von Ende Oktober 1938 bis Kriegsende als Reichskommissar und Gauleiter für das Sudetenland. Am 10. Mai 1945 beging Henlein Suizid in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Frank wurde im November 1938 als SS-Brigadeführer Mitglied der SS. In dieser Organisation erreichte er später den Rang eines Obergruppenführers. Ende Oktober 1938 wurde er stellvertretender Gauleiter für das Sudetenland unter Henlein. Diese Funktion übte er bis zum 15. März 1939 aus. Frank war von Mitte März 1939 bis zum Sommer 1943 Staatssekretär beim Reichsprotektor Böhmen und Mähren. Danach wechselte er bis Kriegsende als Staatsminister im Rang eines Reichsministers für Böhmen und Mähren in das Kabinett Hitler. Von April 1939 bis zum Kriegsende war Frank zudem in Personalunion Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) Böhmen und Mähren. Frank wurde schließlich einflussreichster NS-Funktionär im Protektorat Böhmen und Mähren. Nach Kriegsende begab sich Frank bei Pilsen in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Von dort wurde er an die Tschechoslowakei ausliefert, in Prag zum Tode verurteilt und am 22. Mai 1946 gehängt. Lammel, ehemaliger Leiter des Nachrichtendienstes des SFK, wurde Ende Januar 1939 zum SS-Standartenführer befördert. Er wurde nach Auflösung des SFK Gaustabsamtsleiter unter Henlein. Der ehemalige SFK-Führer der Gruppe Bayrische Ostmark Brandner wurde im Rang eines Oberführers Mitglied der SS. In dieser Funktion führte er den SS-Abschnitt XXXVII (Reichenberg). In der SS stieg er 1943 bis zum SS-Brigadeführer auf. Später wurde Brandner Stellvertreter des HSSPF Kroatien Konstantin Kammerhofer und war zeitgleich als Polizeigebietsführer in Kroatien eingesetzt. Brandner starb am 29. Dezember 1944 an den Folgen eines Kopfschusses nach einem Partisanenüberfall. Drei weitere Kommandeure der SFK wurden Mitglied der SA. Bürger baute als SA-Standartenführers die SA-Brigade Nord-Mähren-Schlesien auf. Zudem wurde er Adjutant von Gauleiter Henlein. Ab 1939 war Bürger Gauorganisationsleiter und ab 1940 im Sudetenland NSDAP-Kreisleiter. Köllner erreichte in der SA den Rang eines Brigadeführers, wurde Gauorganisationsleiter und war ab Ende März 1939 als Nachfolger Franks unter Henlein stellvertretender Gauleiter des Sudetenlandes. Diese Funktion bekleidete Köllner bis Anfang März 1940. May wurde als Gruppenführer in die SA aufgenommen und mit dem Aufbau der SA-Gruppe Sudetenland beauftragt. Pfrogner, ehemaliger Stabschef des SFK, führte den Aufbaustab des Reichsarbeitsdienstes (RAD) im Sudetenland und erreichte dort den Rang eines Generalarbeitsführers. Wertungen und Wirkungen Die nach dem gescheiterten Aufstandsversuch Mitte September 1938 erfolgte Flucht hochrangiger SdP-Funktionäre ins Deutsche Reich war unter den Sudetendeutschen kein Geheimnis. Durch die reichsdeutsche Propaganda wurde hingegen wissentlich die Falschmeldung verbreitet, dass die SdP-Führung vom sudetendeutschen Asch aus agieren würde. Die dadurch verunsicherte Anhängerschaft der SdP fühlte sich von ihrer Führung und der zunächst tatenlosen Wehrmacht im Stich gelassen. Mancherorts konnte sogar die sudetendeutsche Sozialdemokratie wieder an Einfluss gewinnen. Mit der Bildung des SFK beabsichtigte die Führung der SdP das Vertrauen der sudetendeutschen Bevölkerung zurückzuerhalten. Hitler beabsichtigte durch die Unruhe stiftenden Aktivitäten des SFK die Tschechoslowakei zu destabilisieren und als Staat durch das Eingreifen der Wehrmacht zu zerschlagen. Der Fall Grün sah den Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei für den Oktober 1938 vor. Zudem erhoffte sich Hitler, durch die Terroraktionen des SFK eine bessere Ausgangslage bei den internationalen Verhandlungen zu erhalten. Aufgrund dieser Motivationslage entstand das SFK, wobei sich die SdP-Führung den Vorgaben Hitlers unterordnete. Die Aktionen des SFK waren „primär politisch-terroristischer, nicht militärischer Natur“. Die Motivation vieler Sudetendeutscher, dem SFK beizutreten, lag jedoch im Schutz sudetendeutscher Interessen. Diese Einstellung wurde schon durch die Bezeichnung Sudetendeutsches Freikorps bedient, die nach außen als eigenständige Truppe zur Verteidigung sudetendeutscher Interessen wirken sollte. Die Terroraktionen des SFK nach dem Londoner Abkommen, welches die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete ans Deutsche Reich festschrieb, dienten einzig dem Ziel, die umbenannte Tschecho-Slowakei als Staat insgesamt zu zerschlagen. Nach dem Londoner Abkommen war das Münchener Abkommen ein weiterer Schritt hin zu diesem Ziel. Mit der Annexion Tschechiens durch das Deutsche Reich am 15. März 1939 und der Verselbstständigung der Slowakei war die Weisung Grün umgesetzt. „Das ziemlich klägliche Ende des Freikorps, verglichen mit dem Pathos des Aufrufs zur Sudetendeutschen Notwehr an seinem Anfang (17. 9.), symbolisiert die an der Geschichte des Freikorps ablesbare Degradierung sudetendeutscher Interessen und Schicksale zu Stör- und Unruhemitteln der Krisenpolitik Hitlers“, so das Fazit Martin Broszats. Die tschechische Exilregierung verlautbarte in einer Note vom 28. Februar 1944, dass sie sich seit dem 19. September 1938 mit dem Deutschen Reich im Kriegszustand befinde. An jenem 19. September begannen die Terroraktion des SFK im Sudetenland. Sie waren auch Ausfluss von Henleins „Heim ins Reich“-Ansprache vom 15. September, in der er äußerte, dass die Sudetendeutschen nicht mehr mit den Tschechen in einem Staat leben könnten. In einer weiteren Rede zwei Tage später forderte Henlein die Zerschlagung der Tschechoslowakei und den Eintritt der Sudetendeutschen in das SFK. Die Vertreibung von Sudetendeutschen aus ihrer Heimat nach Ende des Zweiten Weltkrieges war auch eine Spätfolge der terroristischen Aktivitäten. Nach dem „Runderlaß des Ministeriums des Inneren der tschechoslowakischen Republik vom 24. August 1945 über die Regelung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft nach dem Dekret vom 2. August 1945“ gehörten auch ehemalige Angehörige des SFK zu jenen Personen, welchen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft automatisch aberkannt wurde. Zudem mussten sich, neben Angehörigen von NS-Organisationen und Kriegsverbrechern, auch ehemalige „Freischärler“ aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum SFK vor tschechoslowakischen Sondergerichten verantworten. Neben Haftstrafen konnte der Verlust der Bürgerrechte und auch Zwangsarbeit angeordnet werden. In besonders schwerwiegenden Fällen erfolgten auch Todesurteile. Beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher war auch das SFK Verhandlungsgegenstand. Trotz der mittlerweile passablen Quellenlage bleiben das SFK und dessen terroristische Aktivitäten in der „Geschichtsschreibung der Sudetendeutschen Landsmannschaft“ teils unerwähnt oder werden heruntergespielt. Literatur Rudolf Absolon: Die Wehrmacht im Dritten Reich. Aufbau, Gliederung, Recht, Verwaltung. Band IV: 8. Februar 1938 bis 31. August 1939. Oldenbourg, München 1998, ISBN 3-486-41739-8. Zdeněk Beneš, Václav Kural (Hrsg.): Geschichte verstehen – Die Entwicklung der deutsch – tschechischen Beziehungen in den böhmischen Ländern 1848–1948. gallery, Prag 2002, ISBN 80-86010-66-X; . Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-56520-6 (2. überarbeitete und erweiterte Auflage: Oldenbourg, München 2005, ISBN 3-486-56731-4). Martin Broszat: Das Sudetendeutsche Freikorps. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 9. Jahrgang, Heft 1, 1961, S. 30–49; ifz-muenchen.de (PDF; 1 MB) Ralf Gebel: „Heim ins Reich!“ Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945) (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Band 83). Oldenbourg, München 1999, ISBN 3-486-56391-2 (2. Auflage: Oldenbourg, München 2000, ISBN 3-486-56468-4 ). Emil Hruška: . In: Deutsch-Tschechische Nachrichten. Dossier Nr. 2, München 2003. Andreas Luh: Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Band 62). Oldenbourg, München 1988, ISBN 3-486-54431-4 (; 2. Auflage: Oldenbourg, München 2006, ISBN 3-486-58135-X). Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945. Oldenbourg, München 2006, ISBN 3-486-57980-0 (). Werner Röhr: Der «Fall Grün» und das Sudetendeutsche Freikorps. In: Hans-Henning Hahn (Hrsg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte – Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2007, ISBN 978-3-631-55372-5, S. 241–256; bohemistik.de (PDF; 134 kB) Werner Röhr: September 1938: die Sudetendeutsche Partei und ihr Freikorps (= Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung. Beiheft 7). Edition Organon, Berlin 2008, ISBN 978-3-931034-06-1. Heiner Timmermann u. a. (Hrsg.): Die Benes-Dekrete. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Expo%2067
Expo 67
Die Expo 67 – offizieller Titel: franz.: Exposition universelle et internationale Montréal 1967, engl.: Universal and International Exhibition Montreal – war die in der kanadischen Stadt Montreal stattfindende Weltausstellung. Sie dauerte vom 28. April bis zum 29. Oktober 1967; das Ausstellungsgelände befand sich auf einer Halbinsel und zwei Inseln im Sankt-Lorenz-Strom. Das Motto der Ausstellung lautete „Der Mensch und seine Welt“ (franz.: „Terre des Hommes“, engl.: „Man and his World“). Die Expo 67 war gleichzeitig die Hauptfeierlichkeit im Rahmen der Hundertjahrfeier Canadian Centennial. Ursprünglich hätte die Ausstellung in Moskau stattfinden sollen, um den 50. Jahrestag der Russischen Revolution zu begehen. Die Sowjetunion beschloss jedoch, die Weltausstellung nicht abzuhalten, und so wurde im November 1962 durch das Bureau International des Expositions entschieden, die Messe in Kanada stattfinden zu lassen. Obwohl die Expo 67 mit mehr als 50,3 Millionen Besuchern und 365 Hektar Ausstellungsfläche die größte auf dem amerikanischen Kontinent war und mit 62 teilnehmenden Nationen einen neuen Rekord aufstellte, erwirtschaftete sie einen Verlust von über 210 Millionen kanadischen Dollar. Die Weltausstellung in Montreal zeigte zumeist Leichtbaukonstruktionen und wies mit neuen architektonischen Raumstrukturen, neuartigen Verkehrskonzepten und Weltraumfahrtvisionen einen technologischen Weg zur Bewältigung von Zukunftsproblemen. Als Leitgedanke galt nach wie vor, dass der Mensch die Natur beherrschen könne. Berühmt gewordene Hinterlassenschaften der Ausstellung sind die geodätische Kugel Biosphère des US-amerikanischen Architekten Richard Buckminster Fuller sowie der Wohnbaukomplex Habitat 67 des israelischen Architekten Mosche Safdie. Geschichte Hintergründe Die Idee, 1967 eine Weltausstellung in Kanada abzuhalten, geht auf das Jahr 1956 zurück. Der damalige Sprecher des kanadischen Senats, Mark Robert Drouin, präsentierte sie am 25. August 1958 an der Expo 58 in Brüssel erstmals einer breiten Öffentlichkeit. Die Messe in Kanada sollte auch eine Plattform für die Feier zum hundertjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit der Kanadischen Konföderation sein. Die ursprünglich angedachte Idee, die Weltausstellung in Toronto durchzuführen, verursachte politischen Widerstand. Allerdings unterstützte Montreals Bürgermeister Sarto Fournier den Vorschlag und reichte dem Bureau International des Expositions (BIE) eine Kandidatur ein. Im Rahmen der BIE-Konferenz am 5. Mai 1960 in Paris wurde Moskau nach fünf Wahldurchgängen als Austragungsort auserkoren. Moskau setzte sich dabei gegen die Kandidaten Österreich und Kanada durch. Im April 1962 verwarf die Sowjetunion ihre Pläne für eine Weltausstellung in Moskau und zog ihre Kandidatur zurück. Als Gründe dafür wurden sowohl finanzielle Zwänge als auch aufkommende ideologische Bedenken angegeben, dass eine derartige Veranstaltung westliche Vorstellung und Bräuche ins Land bringen könnte. Daraufhin versuchte Montreals Bürgermeister Jean Drapeau mit neuer Lobbyarbeit, die Messe nach Kanada zu holen. Am 13. November 1962 entschied sich das BIE schließlich doch für Kanada. Planungsphase Nach der offiziellen Nominierung begann die Suche nach einem geeigneten Veranstaltungsort. Zunächst zog man den Park auf dem Mont Royal nördlich des Stadtzentrums in Betracht. Es war Drapeaus Idee, im Sankt-Lorenz-Strom mittels Landgewinnung die Île Sainte-Hélène zu vergrößern. Die Wahl verhinderte Grundstücksspekulationen und überwand den Widerstand der Nachbargemeinden Montreals. Am 22. März 1963 einigten sich schließlich die Montrealer Stadtregierung, die Regierung der Provinz Québec und das Weltausstellungskomitee offiziell auf den Bebauungsplan der Inseln. Der Mackay Pier als Teil des Hafens stand ebenfalls für die Ausstellung zur Verfügung. Im Jahr 1963 traten eine Reihe von Mitgliedern des Organisationskomitees zurück. Einer der Gründe dafür war die Prognose eines Computerprogramms, welches berechnet hatte, dass die Planungen nicht rechtzeitig fertiggestellt werden würden. Ein weiterer Grund war auch der Regierungswechsel vom konservativen John Diefenbaker zum liberalen Lester Pearson, der zur Neubesetzung des Organisationsstabs führte. Der Diplomat Pierre Dupuy trat daraufhin das Amt des Generalkommissars an. Seine Hauptaufgabe bestand darin, möglichst viele Nationen zur Teilnahme an der Expo 67 zu bewegen. In den Jahren 1964/65 verbrachte er dafür die meiste Zeit im Ausland und bereiste für das Vorhaben 125 Länder. Bis Mitte 1965 sagten 52 Staaten ihr Kommen zur Weltausstellung zu. Dupuys Stellvertreter und Vizepräsident des Komitees war der Geschäftsmann und Ingenieur Robert Fletcher Shaw. Im Mai 1963 traf sich eine Gruppe von prominenten kanadischen Denkern, darunter Alan Jarvis, der Direktor der National Gallery of Canada, die Schriftsteller Hugh MacLennan und Gabrielle Roy sowie der Geophysiker John Tuzo Wilson, für drei Tage in Montebello. Das Motto „Man and his World“ geht auf das autobiografische Werk von Antoine de Saint-Exupéry mit dem französischen Originaltitel Terre des Hommes (deutsch: Wind, Sand und Sterne) zurück. Roy begründete die Entscheidung für den Titel damit, dass Saint-Exupéry in seinem Buch Ausdrücke über Träume, Ängste und Hoffnungen gefunden habe, die sich auch auf die Gesellschaft in allen Bereichen des Lebens anwenden lassen. Diese Leitidee sollte auch die Expo 67 tragen. Die Organisatoren beschlossen, die Expo 67 in 17 thematische Bereiche aufzuteilen: Du Pont Auditorium of Canada: die philosophischen und wissenschaftlichen Inhalte der thematischen Ausstellungen wurden in einem 372 Sitze fassenden Auditorium präsentiert und herausgestellt Habitat 67 Labyrinth der Mensch und seine Gesundheit der Mensch und die Gemeinschaft der Mensch als Entdecker: stellte die Menschheit, die Erde und den Weltraum, das Leben, die Ozeane und die Polarregion dar der Mensch als Erschaffer: zeigte Kunstausstellungen, zeitgenössische Bildhauerkunst, Industriedesign und Fotografie der Mensch als Produzent: ging auf die Ressourcen der Menschheit ein sowie die Kontrolle des Menschen über die Technik und den Fortschritt allgemein der Mensch als Anbieter Am 10. Dezember 1964 stellte Bürgermeister Drapeau offiziell ein Turmbauprojekt für die Expo 67 vor. Dieses sah einen 325 Meter hohen Turm an der Ostseite der Île Sainte-Hélène vor und sollte als gemeinsames Projekt der Städte Paris und Montreal an den 325. Jahrestag der Gründung Montreals gedenken. Der leicht geneigte Turmbau war mit 20 Millionen Dollar veranschlagt. Aufgrund mangelnder finanzieller Mittel scheiterte dieses Vorhaben und wurde bereits im Folgejahr aufgegeben. Der Turm des Olympiastadions von Montreal ähnelt stark dem damaligen Entwurf. Logo und Titelsongs Das Logo der Expo 67 schuf Julien Hébert. Seine Grundfigur bestand aus zwei stilisierten Menschen mit ausgestreckten Armen. Acht dieser kreisförmig angeordneten Figuren bildeten das Logo der Weltausstellung und symbolisierten Freundschaft. Der im Schrifttyp Optima in Kleinschreibung gehaltene offizielle Schriftzug expo 67 war auf allen Dokumenten und Souvenirs wie auch auf Postern, Eintrittskarten und ähnlichem aufgedruckt. Das offizielle Lied mit dem Titel „Hey Friend, Say Friend“ bzw. „Un Jour, Un Jour“ komponierte der Frankokanadier Stéphane Venne. Das Lied wurde aus einem international angelegten Wettbewerb von über 2200 Beiträgen aus 35 Ländern ausgewählt. Beschwerden über die Tauglichkeit des Liedes gab es zwar nicht, jedoch setzte sich in der Bevölkerung der Song „Ca-na-da“ des Trompeters Bobby Gimby durch. Das auch als „The Centennial Song“ (franz.: „Une chanson du centenaire“) bekannte Lied wird von den meisten Kanadiern am stärksten mit der Expo 67 assoziiert und verkaufte sich über 500.000 Mal. Auch die Pavillons von Kanada („Something to Sing About“) und der Provinz Ontario („A Place to Stand, A Place to Grow“) hatten ihr eigenes Titellied. Bau Die Bauarbeiten zur Weltausstellung in Montreal begannen am 13. August 1963 mit dem offiziellen Spatenstich durch Premierminister Lester Pearson. Chefarchitekt des Bauvorhabens war Édouard Fiset. In einer ersten Phase wurde die Île Sainte-Hélène mit 25 Millionen Tonnen Erde erweitert, um damit die Ausgrabungsarbeiten für eine eigene U-Bahn-Linie der Metro Montreal zu ermöglichen. Neben der Erweiterung der bestehenden Insel galt der Hauptteil der Arbeiten in der Erstellung der künstlichen Insel Île Notre-Dame. Durch diese Maßnahme konnten 120 Hektar Neuland gewonnen werden. Vor den Bauarbeiten zur Expo war die Île Sainte-Hélène flächenmäßig nur halb so groß und die Île Notre-Dame ein Wattgebiet. Der dritte Teil des Geländes, der Mackay Pier am Hafen, befand sich zu Beginn der Bauarbeiten noch nicht im Eigentum der Weltausstellungsgesellschaft. Am 20. Juni 1964 übertrug die Stadt Montreal dieses Landstück an die Gesellschaft, so dass die notwendigen Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen durchgeführt werden konnten. Die Halbinsel wurde in Cité du Havre umbenannt. Hier errichtete man neben einem Expo-Theater, einem Stadion und Verwaltungsgebäuden auch die Wohnanlage Habitat 67. Die Wohneinheiten bestanden aus vorgefertigten Betonboxen in Form eines Quaders mit den Maßen 5 × 11 × 3 Meter. Ursprünglich sollten 1350 dieser Teile für rund 1000 Wohneinheiten entstehen. Aus Kostengründen entschied man sich dazu, nur 354 Raumelemente mit 158 Wohneinheiten zu bauen. Mit der Übergabe der Halbinsel blieben 1042 Tage bis zur Eröffnung der Weltausstellung. Zusammen mit der Erweiterung der Insel wurde in den Jahren 1964 bis 1965 die 690 Meter lange Balkenbrücke Pont de la Concorde über den Sankt-Lorenz-Strom gefertigt. Der als 5,7 Kilometer langes Teilstück der Montrealer U-Bahn für 18 Millionen Dollar ergänzte Expo Express und ein Bootssteg verursachen mehr Kosten als der Bau des Sankt-Lorenz-Seewegs. Damit überstieg das Budget der Expo 67 massiv die ursprünglichen Planungen. Während Andrew Kniewasser, der Ausstellungsdirektor der Expo, im Herbst 1963 das Vorhaben auf 167 Millionen Dollar bezifferte, blähte es sich bis 1967 auf 431,9 Millionen Dollar auf. Sowohl der Plan als auch die Finanzierung der Ausstellungen konnten am 23. Dezember 1963 in Pearsons Bundeskabinett nur knapp verabschiedet werden. An der Finanzierung des Projektes waren zu 50 % der Bund, zu 37,5 % die Provinz Québec und zu 12,5 % die Stadt Montreal beteiligt. Trotz aller Schwierigkeiten war mit Ausnahme des Wohnkomplexes Habitat zum Eröffnungstag am 28. April 1967 alles rechtzeitig fertiggestellt. Für die Expo 67 wurden insgesamt 847 Pavillons und Gebäude gebaut sowie 27 Brücken errichtet. Hinzu kamen 83 Kilometer Straßen und Wege, 37 Kilometer Wasserstraßen, 161 Kilometer Gas-, Wasser und Elektrizitätsleitungen, 88.495 Kilometer Telefonleitungen, 24.484 Parkplätze, 14.950 Bäume, 4330 Abfalleimer und 6150 Laternen. Eröffnung, Durchführung und Schluss Die Eröffnungszeremonie fand am Donnerstagnachmittag, den 27. April 1967, statt. Die Feier, welche nur geladenen Gästen vorbehalten war, wurde auf dem Place des Nations abgehalten. Roland Michener, der als Generalgouverneur von Kanada die Schirmherrschaft der Veranstaltung übernahm, eröffnete die Feier, nachdem Premierminister Pearson die Expo-Flamme entzündet hatte. An den Feierlichkeiten nahmen über 7000 Gäste teil, darunter über 1000 Medienvertreter und 53 Staatsoberhäupter. Mittels NTSC wurde das Ereignis in Farbe und über Satellit live übertragen. Über 700 Millionen Menschen verfolgten weltweit als Hörer oder Zuschauer das Fest. Die Flugstaffel Golden Centennaires schloss die offizielle Eröffnungsfeier im Zuge der Hundertjahrfeier Kanadas mit einem Überflug über das Expo-Gelände und dem Hafen ab. Sie zeigte im Verlauf der Messe insgesamt 103 Shows. Die Staffel umfasste Avro 504, Canadair CF-104 und CF-101 Voodoo. Für die Öffentlichkeit wurde die Expo offiziell am Freitagmorgen, den 28. April 1967 um 09:30 Uhr, eröffnet. Dazu wurden bereits um 08:30 Uhr die Wartenden bis zum Place d’Accueil vorgelassen. Im Gegensatz zu den erwarteten 200.000 Menschen verzeichnete die Expo am Eröffnungstag etwa 310.000 bis 350.000 Besucher. Al Carter, ein 41-jähriger Jazzmusiker aus Chicago, kaufte das Ticket mit der Nummer 00001. Da er damit symbolisch als erster Besucher der Messe galt, erhielt er eine goldene Uhr als Geschenk. Bereits in den ersten drei Tagen verzeichnete die Messe über eine Million Besucher. Den besucherstärksten Tag hatte die Expo am 30. April mit 569.500 Menschen. Die Eintrittspreise lagen für ein Tageskarte bei einem Erwachsenen bei 2,50 Dollar, für Kinder bei 1,25 Dollar; eine Wochenkarte kostete 12 Dollar (ermäßigt 10 Dollar), für Kinder 6 Dollar. Eine Saisonkarte für die gesamte Dauer der Ausstellung lag bei 35 Dollar (ermäßigt 30 Dollar), für Kinder 17 Dollar. Die Saisonkarte wurde in der Art eines Reisepasses als kleines Büchlein ausgegeben, der das Sammeln von individuell gestalteten Stempeln der einzelnen nationalen Pavillons ermöglichte. Am Eröffnungstag sorgten die Uniformen der britischen Messehostessen für erhebliche Kommentare. Bestandteil ihrer Uniformen war der erst in den 1960er Jahren durch die Modedesignerin Mary Quant geschaffene Minirock. Bis zur Mitte des Sommers zogen fast alle anderen Pavillons nach und passten die Mode ihrer Hostessen diesem Trend an. Ein herausragendes Merkmal der Ausstellung war das umfangreiche kulturelle Programm. Es gab ebenso Galerien wie auch Opern-, Ballett-, Theater- und Orchesteraufführungen und viele andere kulturelle Ereignisse. Das musikalische Spektrum reichte von Jazz-Gruppen bis Pop-Musikern. Neben den nationalen Pavillons konzentrierten sich die Shows und Konzerte vor allem auf den Place des Arts, das Expo-Theater, den Place des Nations, den Bereich von La Ronde und den Automotive-Stadion. Während das Expo-Gelände um 22 Uhr schloss, gab es im La Ronde Veranstaltungen, die bis 2:30 Uhr morgens andauerten. Darüber hinaus sendete die Ed Sullivan Show am 7. und 21. Mai live von der Expo 67. Ed Sullivan begrüßte dort u. a. das Gesangstrio The Supremes, die Schauspielerin und Schlagersängerin Petula Clark sowie die australische Gruppe The Seekers als seine Gäste in der Show. Zu den bekanntesten Besuchern der Expo zählen: Königin Elisabeth II., Lyndon B. Johnson, Grace Kelly, Jacqueline Kennedy, Robert F. Kennedy, Haile Selassie, Charles de Gaulle, Bing Crosby, Harry Belafonte, Maurice Chevalier, Maharishi Mahesh Yogi und Marlene Dietrich. Musiker wie Thelonious Monk, Grateful Dead, Tiny Tim und Jefferson Airplane unterhielten die Besucher. Die Expo schloss ihre Tore am Sonntagabend, den 29. Oktober 1967. An diesem Schlusstag besuchten 221.554 Menschen die Ausstellung. Um 14 Uhr begann Generalkommissar Pierre Dupuy mit der Ehrung der teilnehmenden Nationen und Organisationen. Teil der Schlusszeremonie war das Einholen der Flaggen. Sie wurden in umgekehrter Reihenfolge eingeholt, wie sie am Eröffnungstag gehisst worden waren: Kanadas Flagge zuerst, Nigerias Flagge zuletzt. Nachdem Premierminister Pearson die Expo-Flamme gelöscht hatte, schloss Generalgouverneur Michener die Veranstaltung auf dem Place des Nations mit den Worten: Alle Fahrgeschäfte und der Minirail wurden um 15:30 Uhr abgestellt. Das Expo-Gelände schloss um 16:00 Uhr seine Tore und der Montreal Expo Express verließ um diese Zeit das Gelände in Richtung Place d’Accueil. Mit einem einstündigen Feuerwerk ging die Weltausstellung zu Ende. In den sechs Monaten verzeichnete die Expo insgesamt 50.306.648 Besucher. Setzt man die Besucherzahl ins Verhältnis zur Bevölkerung des Gastgeberlandes, das im Austragungsjahr 20.378.000 Einwohner betrug, ergibt sich ein bisher unerreichter Pro-Kopf-Rekord. Begleiterscheinungen und Probleme Wenige Tage vor der Eröffnung der Weltausstellung besuchte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle Montreal. Die Reise, die vordergründig mit der Expo zusammenhing, nutze er zur Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung Québecs von Kanada (→ Stille Revolution und Unabhängigkeitsbewegung in Québec). In einer umstrittenen Rede vom Balkon des Montrealer Rathauses am 24. Juli wandte er sich an die Bevölkerung, hielt eine Plädoyer für die „Freiheit“ der Provinz Québec und schloss seine Rede mit den berühmt gewordenen Worten: „Vive Montréal! Vive le Québec! Vive le Québec libre! Vive, vive… Vive le Canada français! Et vive la France!“. Die Weltausstellung in Montreal fiel in eine Zeit internationaler, teilweise auch bewaffneter, Konflikte, die entsprechende Demonstrationen nach sich zogen. In Kanada und im Speziellen in der Provinz Québec gab es in den 1960er Jahren ebenfalls politische Brandherde und Zerwürfnisse wie die Stille Revolution oder die wachsende Unabhängigkeitsbewegung. Vor diesem Hintergrund drohten Terroristen der Front de libération du Québec damit, die Weltausstellung zu stören. Es kam jedoch zu keinen Zwischenfällen. Am Eröffnungstag belagerten Gegner des Vietnamkriegs die Expo. Ihre Demonstrationen konzentrierten sich gegen den Besuch des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson. Befürchtungen, dass der kubanische Pavillon durch Anti-Castro-Kräfte bedroht werden könnte, bewahrheiteten sich nicht. Im September drohte ein 30 Tage dauernder Streik die Expo in massive Schwierigkeiten zu bringen. Bis Ende Juli gingen Schätzungen noch davon aus, dass die Besucherzahl die 60-Millionen-Marke überschreiten würde. Der Streik zog die Umsatz- und Besucherzahlen deutlich nach unten. Ein weiteres Problem waren die Unterkünfte für die Gäste. Die für diesen Zweck eigens gegründete Gesellschaft Logexpo leitete die Gäste in Unterkünfte im Gebiet von Montreal. Dazu bediente man sich nicht nur konventionellen Hotels und Motels, sondern auch privater Unterbringer. Einige der Gäste erhielten inakzeptable Unterkünfte zu überteuerten Konditionen. Nachdem sich das Management der Logexpo weigerte, das Problem anzugehen, übernahm die Provinz Québec die Verantwortung. Bereits in der Planungsphase stellte sich heraus, dass die Expo keinen Gewinn abwerfen würde. Durch die sehr guten Besucherzahlen und damit höheren Einnahmen wurden sogar weniger Schulden gemacht als ursprünglich erwartet. Bund, Provinz und Stadt trugen das Defizit zu unterschiedlichen Teilen. Einnahmen in Höhe von 221.239.872 Dollar standen Ausgaben in Höhe von 431.904.683 Dollar gegenüber, was einem Schuldenstand von 210.664.811 entsprach. Beschreibung Gelände Die Expo 67 fand auf der Halbinsel Cité du Havre, früher als Mackay Pier bezeichnet, und den im Sankt-Lorenz-Strom gelegenen Inseln Sainte-Hélène und Notre-Dame statt. Das 365 Hektar große Gelände befindet sich in der Nähe des Montrealer Hafens und der Altstadt, womit es zentral gelegen ist. Beide Inseln sind sowohl untereinander als auch mit beiden Uferteilen Montreals über Brücken verbunden. Vom Parc de la Cité du Havre führt die Pont de la Concorde (engl.: Concordia Bridge) zur Südspitze der Île Sainte-Hélène, die am 21. Oktober 1965 eingeweiht wurde. Die 690 Meter lange Balkenbrücke ermöglichte der Expo 67 den schnellsten Zugang zum Haupteingang am Place d’accueil. Am östlichen Ufer der Insel ändert die Brücke ihre Richtung um rund 30 Grad in südöstliche Richtung und verbindet als Pont des Îles damit auch die zweite Insel Notre-Dame. Von der Avenue De Lorimer zweigt eine weitere Hauptstraße ab, die als Pont Jacques-Cartier den Sankt-Lorenz-Strom, der an dieser Stelle 1700 Meter breit ist, überführt und die Innenstadt Montreals ebenfalls mit der der Île Sainte-Hélène verbindet. Die 2,7 Kilometer lange Stahlfachwerkbrücke, die auch über Île Notre-Dame verläuft, verbindet damit als einzige Bauwerk über das Expogelände beide Uferseiten des Sankt-Lorenz-Stroms miteinander. Sie besteht bereits seit Anfang der 1930er Jahre und ist Teil des innerstädtischen Highway 134. Freizeitpark La Ronde Der Freizeitpark La Ronde im nördlichen Teil der Île Sainte-Hélène war ein eigener Unterhaltungsbereich mit Fahrgeschäften auf rund 54 Hektar. Er war täglich von 9:30 Uhr bis 2:30 Uhr geöffnet und lockte insgesamt 22,5 Millionen Besucher an. Die Erbauer des Freizeitanlage holten sich weltweit Anregungen von anderen Vergnügungsparks und erhielten sogar persönliche Beratung von Walt Disney. Der Freizeitpark bot viele klassische Fahrgeschäfte wie Karusselle und Autoscooter an. Dem Besucher war es möglich, mit Hilfe einer der Seilbahnlinien das Gelände von oben zu besichtigen. Daneben gab es einen knapp 100 Meter hohen Aussichtsturm La Spirale; er war das höchste Bauwerk der Weltausstellung in Montreal. Der bis heute erhaltene schlanke Turm besitzt in einer Höhe von 73 Metern eine Aussichtsplattform, zu der man mittels eines an der Außenseite des Turmschafts entlangfahrenden Aufzuges gelangt. Am Fuße des Turms befand sich die Revuetheater Garden of Stars mit 1500 Sitzplätzen. Zentrum der Anlage bildete Le Village, das im typischen alten Stil ein historisches, frankokanadisches Dorf nachbildete. Ein im Dorf befindlicher Platz wurde für verschiedene Tanzaufführungen verwendet und bot Cafés und Diskotheken. Handwerker aus ganz Québec präsentierten ihr Kunsthandwerk und boten es in den Boutiquen im Dorf zum Verkauf an. Der Delphinsee, ein künstlich angelegter See mit den Maßen 300 × 200 × 12 Meter war Schauplatz für Freiluftattraktionen wie Wasserski oder Präzisionsfahrten mit Booten. Am Ufer des Sees befand sich das Aquarium Alcan Pavilion. Es beherbergte 23 Fischbehälter, ein Wasserzirkus und ein Amphitheater, in dem Delfinshows dargeboten wurden. Das Youth Pavilion war ein von 33 kanadischen Jugendorganisationen gestalteter Pavillon, der verschiedene Darbietungen zur Kunst und Kultur von Jugendlichen präsentierte. Der Pavillon befand sich in der Nähe zur Expo-Express-Haltestelle. La Ronde verfügte über eine eigene Marina, die Platz für bis zu 250 Yachten hatte. Um das halbmondförmige Becken gab es eine zweistufige Promenade an denen sich Geschäfte, Restaurants und Boots-Dienstleister wie Wartungs- und Reparaturwerkstätten gruppierten. Um möglichst vielen Bootsbesitzern den Besuch der Expo über den Wasserweg zu ermöglichen war die Liegezeit auf acht Tage begrenzt. Der sogenannte Gyrotron war ein monumentales, pyramidenförmiges Bauwerk und dominierte baulich das Gelände von La Ronde. Die vom englischen Designer Sean Kenny in Zusammenarbeit mit George Djurkovic und Boyd Auger gestaltete Pyramide beherbergte mehrere Fahrgeschäfte. Das spektakulärste und größte davon hieß ebenfalls Gyrotron und beförderte den Besucher auf mehreren Stockwerken durch eine künstlich geschaffene Kulisse. Bis zu vier Personen wurden dabei pro Waggon mit zügigem Tempo durch eine Welt von Monstern und Vulkanausbrüchen gefahren. Das Carrefour International beherbergte Restaurant- und Barbereich mit kleinen Geschäften, nationale Restaurants der Länder Schweiz, Tschechoslowakei, Niederlande und Deutschland. Filme Als eine der Attraktionen der Expo 67 galten sogenannte Multi-Leinwand-Filme. In dieser speziellen Technik wurde das Filmgeschehen auf mehrere Leinwände verteilt gezeigt. Fast alle Pavillons zeigten Kurzfilme oder vertonte Bildschauen. Der kanadische Pavillon zeigte den 22-minütigen Film Canada 67, der von einer kanadischen Telefongesellschaft in Auftrag gegeben worden war. Der Film wurde in einem speziellen 360-Grad-Kino auf neun Leinwänden bis zu 1500 Zuschauern gezeigt. Zwölf synchronisierte Tonkanäle umhüllten das Publikum klangtechnisch. Der Film wurde mit einer etwa 200 Kilogramm schweren Spezialkamera in den Walt Disney Studios aufgenommen. Die Zuschauer konnten nur knapp die Hälfte des gezeigten Films sehen, waren aber gleichsam durch diesen atmosphärisch „umgeben“. Der Film war eine Kamerareise vom Osten bis zum Westen Kanadas und zeigte die Fortbewegung zu Land, zu Wasser und in der Luft. In einer Szene flog man beispielsweise über die Niagarafälle hinweg. Am Ende des patriotisch angehauchten Filmes wurden Szenen der Calgary Stampede mit der Nationalhymne O Canada untermalt. Ein weiterer sehr beachteter Filme war In the Labyrinth (franz. Dans le labyrinthe) des kanadischen Filmemachers Roman Kroitor, dem Mitentwickler des Kinosystems IMAX. Der 21 Minuten dauernde Film im Verfahren des Split Screen wurde in einem eigens dafür erbauten mehrstöckigen Kino aufgeführt. Der Inhalt war die moderne Adaption des mythologischen Helden, der den menschenfressenden Minotauros in der Mitte eines Labyrinths finden und töten will. Das Filmtheater bestand aus fünf Stockwerken mit Balkonen, in welches sich die Zuschauer begaben und von dort auf eine 15 Meter hohe, über alle Stockwerke angebrachte Leinwand schauen konnten. Gleichzeitig konnte man sich über die Balkonbrüstung beugen und den auf dem Boden des Theaters projizierten Teil des Filmes anschauen. Die Handlungen auf beiden Leinwänden ergänzten sich. Beispielsweise begann der Film mit einem im Krankenhaus geborenen Säugling, der auf der horizontalen Leinwand gezeigt wurde. Der an der Geburt beteiligte Arzt wurde auf der vertikalen Leinwand gezeigt. Der Film zeigt die Entwicklung dieses neugeborenen Menschen in verschiedenen Stadien, der verschiedene Höhen und Tiefen durchlebt. Der Film wurde 1979 in einer Ein-Leinwand-Variante neu aufgelegt. Der im tschechoslowakischen Pavillon gezeigte Film Kinoautomat: One Man and His House von Radúz Činčera war der weltweit erste interaktive Film und ein so großer Erfolg, dass Produzenten aus der ganzen Welt den „Kinoautomaten“ kaufen wollten. Der auf Englisch synchronisierte, 63 minütige Film basiert auf schwarzem Humor, begann mit einer Vorausblende und handelt inhaltlich von dem Filmhelden Petr Novák (gespielt von Miroslav Horníček), der sich zusehends in unglückliche Situationen manövriert. Jeder der 127 Kinositzplätze war mit einem grünen und einem roten Knopf ausgestattet. Während der Filmhandlung hatten die Zuschauer die Möglichkeit, an bestimmten Sequenzen eine Wahl zum Handlungsablauf zu treffen. Bauten, Pavillons und Exponate An der Expo 67 wurden 107 Pavillons präsentiert, die von den teilnehmenden Ländern und Gesellschaften das Motto „Der Mensch und seine Welt“ verkörperten. Davon dienten 51 Pavillons der nationalen Präsentation, in 25 Pavillons stellten Firmen aus und 17 waren der Themenpräsentation vorbehalten. Sechs weitere Pavillons waren Kanada vorbehalten, fünf den Vereinigten Staaten und drei für internationale Organisationen und die Städte Wien und Paris. Der mit 13 Millionen Personen meistbesuchte Pavillon war derjenige der Sowjetunion. An zweiter Stelle wurde mit 11 Millionen Besuchern der Pavillon des Gastgeberlandes Kanada besucht, danach folgte mit 9 Millionen derjenige der USA, Frankreich mit 8,5 Millionen und Tschechoslowakei mit 8 Millionen. Das bauliche Wahrzeichen der Weltausstellung war die 21 Meter hohe und 65 Tonnen schwere Skulptur Man von Alexander Calder auf der Île Sainte-Hélène. Folgende Staaten nahmen mit einem Pavillon an der Expo 67 teil: Die meisten der 62 teilnehmenden Nationen hatten ihre eigenen Pavillons. Einige Länder wie die skandinavischen und afrikanischen präsentierten sich jedoch in gemeinschaftlich genutzten Bauten. Daneben hatten die kanadischen Provinzen Ontario, Québec, die Atlantikprovinzen und die westlichen Provinzen ihre eigenen Pavillons, ebenso wie die Indianer in Kanada. Darüber hinaus hatten einige Wirtschaftsunternehmen und die kanadische Industrie der Papier- und Pulpeproduktion eigene Pavillons. Letzte präsentierte sich auf der Île Notre-Dame mit einem Pavillon, der einen stilisierten Wald darstellte. Die in unterschiedlichen Grüntönen bis zu acht Stockwerke hohen spitz zulaufenden quadratischen Pyramiden boten Raum für vier Ausstellungen. Architektonisch folgten die Pavillons der Expo 67 dem baulichen Trend zumeist stützenlose Innenräume mit Hilfe leichten Raumtragwerken zu überdachen. Für den Pavillon Mensch und die Gemeinschaft entwarfen beispielsweise die Architekten Erikson & Massey sechseckige, übereinander gestapelte Balkenkränzen, die sich nach oben parabelförmig verjüngten. Dadurch entstanden Zwischenräume, die mit Lattenrosten und Plastiksegmenten bedeckt wurden. Die Weltausstellung wurde jedoch auch von Firmen als Podium für ihre Produktpräsentation verwendet. Beispielsweise stellte der italienische Autohersteller Alfa Romeo die Konzeptstudie von zwei weißen Sportcoupés aus. Das Fahrzeug ging im etwas veränderten Design in den 1970er Jahren als Alfa Romeo Montreal – benannt nach Ausstellungsort der Expo 67 – in Serie. Man the producer In der Mitte der Île Notre-Dame befand sich einer der größten Pavillons zum Themenschwerpunkt „Man the producer“ (deutsch: „Die Menschheit als Produzent“). Der Pavillon bestand aus mehreren unterschiedlich ausgeprägten, teilweise ineinander verschachtelten Pyramidenkörpern. Inhalt der sich darin befindlichen Ausstellung war das Verhältnis der Menschheit zur Natur und ihren Ressourcen. Eine audiovisuelle Präsentation im ersten Teil zeigte verschiedene Elemente in ihrer natürlichen Umgebung sowie die Gewinnung und Nutzung dieser Elemente und welchen Einfluss die Erzeugung von Energie auf unser Leben hat. Der zweite Teil konzentrierte sich auf den technologischen Fortschritt und zeigte u. a. die Automation und ihre Auswirkung für die Produktion und die Menschheit. Auch ältere technische Erfindungen wurden Revue passiert. Der dritte und letzte Teil der Ausstellung zeigte, wie die Menschheit die neue Technologie positiv nutzen konnte und stellte gleichzeitig die Frage, ob eine Kontrolle der Menschheit über den Nutzwert bestehen könne. Sowjetischer Pavillon Der Pavillon der Sowjetunion, ebenfalls auf der Île Notre-Dame gelegen, fiel durch sein hochgezogenes, konvexes Dach und die gläsernen Wände auf. Er stand dem Pavillon der USA am Ufer der Île Sainte-Hélène genau gegenüber und wurde von Michail W. Possochin entworfen, dem damaligen Chefarchitekten Moskaus von 1961 bis 1980. Der 60 Millionen DM teure Bau wurde bei einer italienischen Baufirma in Auftrag gegeben und nach Ende der Expo nach Moskau versetzt. 1967 war der 50. Jahrestag der Russischen Revolution 1917, an die am Eingang des Pavillons eine große Leninbüste erinnerte. Die Ausstellung im Inneren beschränkte sich auf die jüngere Geschichte des Landes, die Lebensweise, die Landwirtschaft und die wichtigsten Industriezweige. Die friedliche Nutzung der Atomenergie, die in den 1960er Jahren noch sehr viel unkritischer betrachtet worden war, nahm im Pavillon einen Ehrenplatz ein. Der Wettlauf ins All nahm ebenfalls eine wichtige Rolle in der Selbstdarstellung des Landes ein. Den Besuchern wurden Nachbildungen des Raumschiffs Wostok 1, mit dem Juri Gagarin den ersten Flug in den Weltraum absolvierte, und anderen Satelliten präsentiert. Ein Kino brachte den Besuchern die verschiedenen Landesteile filmisch näher. Auch wurden folkloristische Tänze und Lieder aufgeführt. Der sowjetische Pavillon war der bestbesuchte und beherbergte mit 1100 Sitzplätzen ebenfalls das größte Restaurant auf der Weltausstellung. US-amerikanischer Pavillon Der Pavillon der Vereinigten Staaten war eine geodätische Kugel, deren Tragstruktur aus in Dreiecken angeordneten Stäben aus Stahl noch erhalten ist. Die Hülle aus transparentem Acryl verbrannte während eines bei Renovierungsarbeiten 1976 ausgebrochenen Feuers. Die heute Biosphère genannte Kugel war ein Entwurf des Architekten Richard Buckminster Fuller.Die 600 Tonnen schwere Konstruktion aus Acryl misst 76,2 Meter im Durchmesser. Da sie auf einem Kleinkreis ruht, ist ihre Höhe mit 62,8 Meter etwas niedriger. Ihr Volumen beträgt 189'724 Kubikmeter. Die Kugeloberfläche besteht aus Dreiecken mit 2,4 Meter Kantenlänge. Das Bauwerk gilt wegen seiner Vorbildfunktion als Architekturikone. Seine Baukosten betrugen 9,3 Millionen Dollar. Während der Expo fuhr eine Einschienenbahn durch das Bauwerk. Es beherbergte mit 37 Metern die damals längste Rolltreppe der Welt. Die unmittelbar am Westufer der Île Sainte-Hélène gelegene Biosphère lag durch den Le-Moyne-Kanal getrennt genau gegenüber dem sowjetischen Pavillon. Die für damalige Verhältnisse sehr gewagte Architektur avancierte schnell zum Symbol der Expo 67. Der Pavillon zeigte viele Aspekte der Kunst und Unterhaltung, insbesondere Werke aus der Pop Art und Op-Art. Daneben zeigten die USA ihre Geschichte von der Besiedlung bis zu modernen Errungenschaften. Deutscher Pavillon Der deutsche Pavillon wurde von Frei Otto in Zusammenarbeit mit Rolf Gutbrod gestaltet und war gleichzeitig sein erstes Großprojekt. Die Außenanlagen plante Heinrich Raderschall. Die riesige Zeltkonstruktion ähnelt der ebenfalls von Otto entworfenen Überdachung des Olympiastadions München. Sie wurde von acht Masten als weißes Kunststoffnetz an 31 Ankerpunkten gehalten. Das Zelt war 130 Meter lang, 105 Meter breit und bedeckte eine Fläche von 8000 Quadratmetern. Die Masten ragten zwischen 14 und 38 Meter in die Höhe. Ein umlaufendes Seil begrenzte am Rand die Dachfläche an den 31 Ankerpunkten. Otto plante darüber hinaus eine Gartenterrasse, die jedoch nicht verwirklicht wurde. Der vielbeachtete Pavillon der Deutschen, dessen verantwortlicher Ingenieur Fritz Leonhardt war, erhielt den nach Auguste Perret benannten internationalen Architekturpreis Prix Perret. Der Pavillon wurde der Stadt Montreal von der Bundesregierung überlassen, jedoch einige Jahre später wieder abgebaut. Der Pavillon präsentierte die deutsche Ingenieurskunst sowie die wissenschaftlichen Beiträge. Eine Ausstellung hatte die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges zum Thema. Neben einer Replik der Gutenberg-Bibel demonstrierte die Ausstellung die Auswirkungen der Revolutionierung der Drucktechnik auf die Welt des Schreibens und der Kommunikation des Menschen. Schautafeln gingen auf den bedeutenden Chemiker und Physiker Otto Hahn ein, der für die Entdeckung der Kernspaltung 1944 den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte. Von Philipp Harth wurde die Bronzeplastik Wolf-Chimäre, eine Leihgabe der Hamburger Kunsthalle, gezeigt. Darüber hinaus gab es im deutschen Pavillon zahlreiche musikalische Aufführungen. Kanadischer Pavillon Der Hauptbau des kanadischen Pavillons bestand in seiner Grundform aus einer auf der Spitze stehenden quadratischen Pyramide, die viele andere Bauten auf der Expo überragte. Der Name des vom Architekten Rod Robbie geschaffenen Bauwerks Katimavik kommt aus dem Inuktitut und bedeutet „Treffpunkt“. Dem Namen entsprechend zeigte dieser Hauptpavillon übergreifende Themen über den Menschen und seine Welt. Die quadratische Grundfläche konnte von den Besuchern als Aussichtsplattform genutzt werden. Ein besonderes Merkmal des Pavillons war der stilisierte Baum mit 1500 herbstlich gefärbten Blättern, die aus Fotografien von Kanada zusammengesetzt wurden. Die kanadischen Pavillons standen in der südlichen Spitze der Île Notre-Dame auf gut 30.000 Quadratmetern und zeigten über 125 verschiedene Ausstellungen, die das Leben in Kanada darstellten. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich die Pavillons der kanadischen Provinzen. Eine der größeren Ausstellungen, Wachstum Kanadas, präsentierte in einem Drehtheater mit einem Fassungsvermögen von über 1000 Menschen eine halbstündige Vorführung. Das Theater war in sechs Segmente unterteilt, eines davon war für den Ein- und Ausstieg, die restlichen fünf Segmente zeigten die jeweiligen thematischen Abschnitte des Wachstums von Kanada. Ein 500 Zuschauer fassendes Theater des Arts Center zeigte täglich folkloristische Tanzvorführungen. Dort traten ebenfalls klassische und populäre Künstler auf. Im Gelände befand sich ebenfalls ein 1200 Besucher fassendes Amphitheater. Schweizer Pavillon Der Schweizer Pavillon, eine Stahlkonstruktion geplant von Werner Gantenbein, befand sich im nördlichen Teil der Île Sainte-Hélène in der Nähe zur U-Bahn- und Expo-Express-Haltestelle. Er bestand aus mehreren unregelmäßigen, ineinander verschachtelten Quadern. Das Erdgeschoss war komplett verglast, das obere Stockwerk mit rotem Zedernholz verkleidet. Im Erdgeschoss zeigten sechs große, von Gérard Miedinger und Celestino Piatti gestaltete Zylinder – Rotovision genannt –, die Schweiz in einem audiovisuellen Schauspiel. Rolltreppen verbanden beide Stockwerke des klimatisierten Gebäudes. Im Obergeschoss wurde in einem 460 Zuschauer fassenden Vorführraum ein 20 Minuten dauernder Film von Ernst A. Heiniger gezeigt, der die neuen Techniken illustrierte. Im industriellen Bereich präsentierte die Schweiz verschiedene Formen der Energiegewinnung, die Uhrenindustrie, die chemisch-pharmazeutische Industrien sowie die Textil- und Bekleidungsindustrie. Als besondere Attraktion konnte im Schweizer Pavillon eine Cäsium-Atomuhr angeschaut werden. Akzentuiert wurde der Bau durch eine Vielzahl von Metallplastiken Schweizer Künstler, namentlich Alberto Giacometti, Zoltán Kemény, Walter Linck, Max Bill, Robert Müller, Jean Tinguely und Bernhard Luginbühl. Weitere Pavillons Der von Jean Faugeron entworfene französische Pavillon auf der Île Notre-Dame, ein noch immer erhaltenes Bauwerk, ist eine massive Stahl-Beton-Konstruktion, die von Glas- und Aluminiumelementen als Sonnenschutz umrahmt wird. Das Gebäude mit skulpturalen Charakter besteht aus acht Ebenen, bietet 19.800 Quadratmeter Ausstellungsfläche und ist 30,5 Meter hoch. Die französischen Beiträge hatten das Thema Tradition und Erfindungsgeist. In der Nähe des französischen und des deutschen Pavillons und auch auf der Île Notre-Dame befand sich der Pavillon Großbritanniens an einer der Stationen des Expo Express. Er wurde von einem fensterlosen, weißen, rund 61 Meter hohen Turm dominiert, der auf seiner abgeschrägten Spitze einen dreidimensional geformten Union Jack trug. In diesem an eine Kathedrale erinnernden Bauwerk wurden in der dunklen Atmosphäre aufgezeichnete Musik dargeboten. Die Exponate des Pavillons stellten die Entwicklung des Landes, beginnend mit der vorrömischen Zeit, dar. Riesige Banner erinnerten an Persönlichkeiten aus der Geschichte des Landes auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und der Politik. Transportsysteme Zugang zur Expo 67 Der Zugang zum östlich der Innenstadt gelegenen Messegelände der Weltausstellung war sowohl zu Fuß über Brücken als auch mit dem Individualverkehr und öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Île Sainte-Hélène möglich. Darüber hinaus bestand auch ein Hubschrauber-Shuttleservice. Der Expo Express (franz.: l’express Expo) war ein 5,7 Kilometer langes, ausschließlich oberirdisch verlaufendes Bahnsystem, das eigens für die Expo 67 für 18 Millionen Dollar erbaut worden war. Die Bahn verkehrte im Fünfminutentakt und konnte etwa 1000 Personen stündlich befördern. Die Flotte bestand aus sechs Zügen zu je acht Waggons und war an die Montrealer U-Bahn angeschlossen, die zuvor im Oktober 1966 eingeweiht worden war. Das aerodynamische Design der U-Bahn-Triebwagen war für damalige Verhältnisse futuristisch. Nach der Expo wurden die Züge an die Metro Montreal verkauft und verkehrten zunächst auf einer verkürzten Linie, bis ihr Dienst 1972 vollständig aufgegeben wurde. Der Expo Express war gleichzeitig das erste vollautomatische U-Bahnsystem Nordamerikas. Dieser Umstand wurde allerdings nicht breit publiziert, da man befürchtete, die Öffentlichkeit würde einen automatisierten Zug nicht annehmen. Aus diesem Grund fuhr in jedem Zug ein Schaffner mit, der allerdings lediglich die Türen an den Haltepunkten öffnete und schloss. Neben dem Expobus war auch die Fahrt mit einem Luftkissenfahrzeug (Hovercraft) zum Messegelände möglich. Am 3. August 1967 ereignete sich ein Unfall mit einem der Boote, der einen Brückenpfeiler streifte. Die anschließende Panik führte zu vier verletzten Personen. Eine Möglichkeit, die Landschaft der Expo auf dem Wasserweg zu erkunden, boten die Ausflugsdampfer Vaporatto, die vor allem auf den Kanälen und dem kleinen See der Île Notre-Dame verkehrten. Außerdem dienten diese Schiffe auch als Fährverbindung zwischen dem deutschen Pavillon und L’Anse du Pêcheur. Fortbewegung innerhalb des Expogeländes Das Gelände war durch ein Wege- und Straßennetz für Fußgänger zwar gut erschlossen aber mit 83 Kilometern sehr weitläufig. Daher wurden mehrere Verkehrssysteme aus Fahrrad-Taxis und diversen Bahnen eingerichtet. Ein grafisches Leitsystem vereinfachte die Orientierung auf dem Gelände. Neben dem Expo Express war die Einschienenbahn Minirail von Willy Habegger das an Fahrgästen gemessen zweitgrößte Transportsystem. Sie beförderte allerdings die Besucher nur innerhalb des Weltausstellungsgeländes und diente auch mehr der Vergnügungs- und Aussichtsfahrt denn der reinen Personenbeförderung. Die Bahn war eine Sattelbahn, bei der der Fahrbalken auf Stelzen mehrere Meter über das Gelände und teilweise über die Wasserflächen verlief. Die Hauptroute und längste Linie („Blaue Linie“) der Minirail verband beide Inseln miteinander. Eine kürzere Linie („Gelbe Linie“) fuhr auf dem Gelände des Freizeitparks La Ronde. Mit der Seilbahn namens Sky Ride konnte man sich von der Haltestelle La Ronde des Expo Expresses über den Delfinsee in den Bereich Village des Freizeitgeländes bringen lassen. Die kleine Parkeisenbahn La Balade war eine weitere Fortbewegungsmöglichkeit auf den Inseln. Die Bahn stammt von der Torontoer Messe Canadian National Exhibition. Mit Hilfe des sogenannten Pedicab, einer von Studenten betriebenen Fahrradrikscha mit zwei Sitzplätzen, konnten man sich über das Gelände fahren lassen. Nachwirkungen und Rezeption Hinterlassenschaften und Nachnutzung Die meisten Bauwerke und Pavillons wurden nach Ende der Weltausstellung abgerissen oder an andere Stellen überführt. Übrig blieben der ehemalige US-Pavillon Biosphère und die Wohnbausiedlung Habitat 67. Während Renovierungsarbeiten im Mai 1976 brannte das Biosphère aus und blieb bis 1990 geschlossen. Dadurch weist die Oberfläche des Kugelbauwerks nicht mehr die ursprünglichen Acrylglassegmente auf, sondern besteht nur noch aus dem Stahlgerippe. Seit 1995 dient das Biosphère als Ökomuseum und stellt das Ökosystem der Großen Seen und des Sankt-Lorenz-Stroms dar. Der französische Pavillon beherbergt das Casino de Montréal mit 3200 Spielautomaten und über 120 Spieltischen. Es ist das größte Kasino in Kanada und gehört auch weltweit zu den zehn größten. Ebenfalls erhalten ist das Eröffnungsgelände Place des Nations mit seinen Tribünen. Ende der 1970er Jahre war das ehemalige Expogelände Kulisse für die Science-Fiction-Fernsehserie Kampfstern Galactica. In der Folge Greetings from Earth (Erstausstrahlung: 25. Februar 1979) sah man eine Reihe der übrig gebliebenen Bauwerke der Weltausstellung, die als Schauplatz für die zerstörte, ehemalige Hauptstadt Paradeen dienten. Die Größe der Bauwerke und das völlige Fehlen jeglicher Besiedlung erwies sich als brauchbarer Drehort. Außerdem wirkten auch ein Jahrzehnt nach Ende der Expo die Bauten futuristisch. Auch für die Serie Buck Rogers wurden einige Einstellungen auf dem Expogelände gedreht. Teile des Geländes der Expo 67 wurde auch für die Olympischen Sommerspiele 1976 als Regattabecken für die Ruder- und Kanuwettbewerbe und der Gartenbauausstellung Floralies Internationales 1980 verwendet. Auf der Île Notre-Dame befindet sich der Circuit Gilles-Villeneuve, eine Automobilrennstrecke, auf der seit 1978 der Große Preis von Kanada der Formel 1 durchgeführt wird. Die Inseln Sainte-Hélène und Notre-Dame bilden zusammen den Parc Jean-Drapeau. Der frühere Parc des Îles wurde zu Ehren des früheren Bürgermeisters von Montreal Jean Drapeau im Jahr 2000, ein Jahr nach seinem Tod, nach ihm benannt. Der Freizeitpark La Ronde im Norden der Île Sainte-Hélène blieb auch nach der Weltausstellung erhalten. Der von der Kette Six Flags betriebene Vergnügungspark ist mit 41 Fahrgeschäften, neun Achterbahnen (darunter die Stahlachterbahn Goliath) und drei Wildwasserbahnen nach Canada’s Wonderland gegenwärtig der zweitgrößte Vergnügungspark Kanadas. Original von der Expo 67 sind allerdings nur noch wenige, meist kleinere Fahrgeschäfte für Kinder erhalten geblieben. Darüber hinaus ist der Aussichtsturm La Spirale und die Einschienenbahn Minirail aus dieser Zeit erhalten. Der zur Zeit der Expo weiß angemalte Turm wurde später rot-weiß umbemalt. Ebenfalls erhalten ist das Revuetheater Garden of Stars, dessen Inneneinrichtung noch weitestgehend aus der Zeit der Expo ist. Seit 1985 wird jährlich im Sommer auf dem Gelände der internationale Feuerwerkswettbewerb L’International des Feux Loto-Québec (engl.: Montreal Fireworks Festival) veranstaltet. Dazu zeigen über einen Zeitraum von mehreren Wochen verschiedene nationale Teams eine 30-minütige Feuerwerkshow, die am Ende ausgezeichnet werden. Bilanz Der Charakter von Weltausstellungen hat sich im 20. Jahrhundert stark gewandelt. In den ersten Jahrzehnten waren sie weniger international, dafür universeller und futuristischer. Bis zum Zweiten Weltkrieg dienten diese Veranstaltungen auch oft der Demonstration von diktatorischer oder kommerzieller Macht. Dafür war oftmals Glanz und Begeisterung spürbar. Die Expos und Weltausstellungen wurden im Lauf der letzten Jahrzehnte immer themenzentrierter. Die Expo 67 von Montreal war eine der letzten großen Weltausstellungen, der allerdings trotzdem ein Wandel anzumerken war. Ihr Schwerpunkt war einerseits weit weniger auf kommerzielle Präsenz, sondern mehr auf internationale Vielfalt ausgerichtet. Sie warf anderseits aber auch interessante Fragen wie „Hat der Mensch noch die Kontrolle über die von ihm geschaffene Technologie?“ auf. Moshe Safdies Apartment-Komplex Habitat 67 ist auch als Fragestellung zu verstehen, ob solche Bauwerke eine moderne, effiziente urbane Alternative zu den Einfamilienhäusern in den Vororten bieten könnten. Die Expo bot im Gegensatz zu früheren Veranstaltungen mehr Animationen und Filme als Exponate. Sie war auch die letzte Weltausstellung, an der die Rivalität der beiden Supermächte USA und Sowjetunion durch sich gegenseitig überbietende Pavillons und Darbietungen derart zur Schau gestellt wurde. Der Autor Pierre Berton beschrieb die Expo 67 als Erfolg in der Zusammenarbeit zwischen dem anglophonen und frankophonen Teil Kanadas – dem Flair der Provinz Québec und dem Pragmatismus der Anglokanadier. Allerdings merkte Berton gleichzeitig an, dass dies eine zu starke Vereinfachung der nationalen Stereotype sei. Die Expo hätte dennoch für kurze Zeit eine Brücke zwischen den „zwei Einsamkeiten“ (engl.: „Two Solitudes“) geschaffen. Die Expo 67 hatte nicht nur einen enormen Einfluss auf die Architektur, sondern auch auf die Städteplanung und das Design von Bauwerken im Speziellen. Diese architektonische Vielfalt fußte auf der konzeptionell festgesetzten Gestaltungsfreiheit der einzelnen Pavillons. Es brauchte lediglich eine Beziehung zum frei interpretierbaren Motto „Der Mensch und seine Welt“ zu bestehen. Daher gelten viele der kreativen Bauwerke, die im Zuge der Weltausstellung errichtet wurden, sowohl baulich als auch technologisch als Innovation. Sie blieben auch nach der Veranstaltung erhalten und einige davon werden bis heute genutzt. Andere, wie die Kunst- und Architekturhistorikerin Sibyl Moholy-Nagy, äußerten sich kritischer. Sie schrieb dazu: Auch Fullers geodätische Kugel Biosphère bezeichnete sie als kolossale und überholte Seifenblase, deren triviale Formgebung nichts anderes als amerikanischen „Propagandaalarm“ böte. Dafür lobte man allgemein das den japanischen Metabolisten nachempfundene Wohnungsprojekt Habitat 67 als „visuell beeindruckendes Ausstellungsobjekt“, welches den „Besuchern Möglichkeiten des Planens, Entwerfens und Bauens von Wohnungen“ vorführe. Dass die Bauweise unter anderem aufgrund der hohen Baukosten unökonomisch ist, schmälere nicht den Anspruch, Experimente vorzuführen. Allerdings sei ein Hauptfehler des Konzepts die fehlende Privatsphäre; die vielen Dachterrassen hätten selbst Wohn- und Schlafzimmerfenster zu nah aneinander gerückt. Trotzdem avancierte das anfangs ungeliebte und daher in seiner Größe deutlich reduzierte Bauprojekt zu einer beliebten Wohnanlage. Der starke Besucheransturm der Weltausstellung in Montreal war auch der Tatsache geschuldet, dass sie parallel über die gesamte Ausstellungszeit eine reichhaltige Palette an arrivierten kulturellen Beiträgen präsentierte. Über 20.000 Veranstaltungen boten Theater-, Konzert- und auch Musicalvorführungen. Allein diese Beiträge lockten insgesamt 16,5 Millionen Besucher an. Die Expo 67 kostete zwar viermal so viel wie die Expo 58 in Brüssel, trug allerdings zur Verbesserung der Infrastruktur bei und zahlte sich langfristig für Montreal aus. Die Weltausstellung legte Trends für zukünftige architektonische Raumstrukturen und innovativen Verkehrskonzepten vor. Darüber hinaus formulierte sie technologische Visionen für die Bewältigung der künftigen Zivilisationsprobleme. Nationale Würdigung Die Expo 67 verdeutlichte die optimistische Einstellung vieler in Kanada in den damaligen Zeit und war gleichzeitig eine Vorahnung auf die kommenden sozialen Umwälzungen. Sie hinterließ bei allen Teilnehmern einen Eindruck, auch wenn sie wichtige aufkommende Fragen der indigenen Identität und der Zukunft von Quebec in Kanada hervorhob. Da mit der Ausstellung auch das Centennial der Kanadischen Konföderation gefeiert wurde, erklärte der zuständige Minister der kanadische Bundesregierung die Expo 67 am 27. Februar 2018 zu einem „nationalen historischen Ereignis“. Literatur Deutschsprachig Joachim Kleinmanns: Der deutsche Pavillon der Expo 67 in Montreal. Ein Schlüsselwerk deutscher Nachkriegsarchitektur. Dom publishers, 2020, ISBN 978-3-86922-751-1. Winfried Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen. Campus-Verlag, 1999, ISBN 3-593-36273-2. Erik Mattie: Weltausstellungen. Belser, 1998, ISBN 3-7630-2358-5. Andrew Garn (Hrsg.), Paola Antonelli, Udo Kultermann, Stephen Van Dyk: Weltausstellungen 1933–2005: Architektur Design Graphik. Deutsche Verlags-Anstalt, 2008, ISBN 978-3-421-03696-4, S. 152–173. Sibyl Moholy-Nagy: Expo '67. In: Bauwelt. Band 58, Nr. 28–29, 1967, S. 687–696. (Digitalisat) Englischsprachig Gabrielle Roy, Guy Robert: Terres des Hommes/Man and His World. Canadian Corporation for the 1967 World Exhibition, Ottawa. Pierre Berton: 1967: The Last Good Year. Doubleday Canada, Toronto 1997, ISBN 0-385-25662-0. Official Expo 1967 Guide Book. MacLean-Hunter Publishing Co., Toronto 1967. Bill Cotter: Montreal’s Expo 67. Arcadia Pub, 2016, ISBN 978-1-4671-1635-0. Weblinks Allgemeine/enzyklopädische Darstellung Expo 67. Bureau International des Expositions. (englisch) Offizielle Seite zu Expo 67 der Stadt Montreal zum 40-jährigen Jubiläum (franz.) Expo 67 – Montreal World’s Fair (engl.) Seite zur Expo 67 (franz., engl.) Bild-, Ton- und Filmmaterial, Archive Expo67.museum - Digitalisierte historische Sammlung von Dokumenten zur Expo 67 Archivmaterial der Library and Archives Canada zur Expo 67 Film über die Expo 67 aus der Filmothek des Bundesarchivs – Umfangreiche Fotosammlung zur Expo 67 – Offizielle Postkarten zur Expo 67 1967: Expo 67 dazzles at night on opening day in den CBC Digital Archives Einzelnachweise Messe in Kanada Veranstaltung 1967 1967 Veranstaltung in Montreal
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bristol%20400
Bristol 400
Der Bristol 400 ist ein Oberklassefahrzeug, mit dem der britische Flugzeughersteller Bristol Aeroplane Company nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die Automobilproduktion einstieg. Das Fahrzeug war in technischer und stilistischer Hinsicht eng mit verschiedenen Vorkriegssportwagen von BMW verwandt. Der 400 bildete die konstruktive Grundlage für viele spätere Bristol-Modelle. Auch nachdem die Automobilsparte 1959 unter dem Namen Bristol Cars ihre Selbstständigkeit erlangt hatte, wurden wesentliche Elemente des 400 weiterverwendet. Das Fahrgestell etwa fand sich in modifizierter Form noch in dem bis 2011 produzierten Bristol Blenheim. Wie viele Exemplare des 400 hergestellt wurden, ist nicht bekannt. Der Bristol 400 ist heute ein gesuchter Klassiker. Hintergrund Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah die bis dahin von Rüstungsaufträgen abhängige Bristol Aeroplane Company – ähnlich wie Saab in Schweden – im Automobilbau ein neues, an den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft ausgerichtetes Betätigungsfeld. Bereits in den letzten Kriegsjahren entwickelten Bristol-Ingenieure zwei unterschiedliche Prototypen, von denen der zweite – der Typ 2EX – 1946 nahezu Serienreife erreichte. Diese sehr aufwendigen Projekte fanden ihr Ende, als Bristol im Laufe des Jahres 1945 die Anteilsmehrheit an dem britischen Sportwagenhersteller Frazer Nash übernahm. Frazer Nash hatte seit 1934 einzelne BMW-Modelle wie den 320 und den 326 in Großbritannien als Frazer-Nash-BMW vermarktet. Unmittelbar nach Kriegsende übernahm Frazer Nash „eine große Menge“ an Konstruktionszeichnungen für die BMW-Modelle 326, 327 und 328. Im Herbst desselben Jahres gelang es Harold John „H. J.“ Aldington, dem Inhaber von Frazer Nash, zudem, den in britischer Kriegsgefangenschaft befindlichen BMW-Ingenieur Fritz Fiedler für eine Zusammenarbeit mit seinem Unternehmen zu gewinnen. Unter welchen konkreten Umständen die Übernahme der Konstruktionspläne erfolgte – etwa im Rahmen von Reparationsleistungen oder gegen Erbringung finanzieller Gegenleistungen durch Frazer Nash –, ist bis heute nicht geklärt. Angesichts der neuen Beziehung zu Frazer Nash stellte Bristol im Juni 1945 die Entwicklung eines eigenen Autos ein und konzentrierte sich auf die Übernahme und die Anpassung der BMW-Konstruktionen. Diese Entscheidung ermöglichte den schnellen und kostengünstigen Aufbau der eigenen Automobilsparte, führte andererseits aber dazu, dass Bristol statt einer Neuentwicklung künftig eine Vorkriegskonstruktion verwenden würde. Anfänglich war geplant, ein in größerer Serie hergestelltes Tourenwagenmodell unter der Bezeichnung „Frazer-Nash-Bristol“ anzubieten, während Frazer Nash einen davon abgeleiteten Sportwagen unter dem eigenen Markennamen, d. h. ohne den Zusatz Bristol, verkaufen sollte. Im April 1947 allerdings trennten sich Bristol und Frazer Nash. Bristol setzte den Bau des nun „Bristol 400“ genannten Fahrzeugs in eigener Verantwortung fort; Frazer Nash hingegen baute eigenständige Sportwagen, die zumeist Motoren von Bristol verwendeten. Technik und Entwicklungsgeschichte des Bristol 400 Rahmen und Fahrwerk Der Aufbau des Bristol 400 ruhte auf einem Stahlrahmen mit Längsträgern und Quertraversen, dem zeitgenössische Berichte eine außergewöhnliche Festigkeit attestierten. Das Chassis, das sich im Bereich des Vorderwagens verjüngte, wurde zu einem Markenzeichen aller späteren Bristol-Modelle. Die Vorderräder waren unabhängig aufgehängt, hinten verwendete Bristol eine Starrachse, die mit Drehstabfedern und selbst konstruierten Stoßdämpfern versehen war. Motor Der Motor des Bristol 400 entsprach im Wesentlichen einer BMW-Konstruktion aus den späten 1930er Jahren. Grundlage war der für den BMW 328 entwickelte Reihensechszylindermotor. Zu dessen Besonderheiten gehörten halbkugelförmige Brennräume mit V-förmig hängenden Ventilen, die über Stößel, Stoßstangen und Kipphebel von der unten liegenden Nockenwelle gesteuert wurden. Die Auslassventile wurden über eine zusätzliche Stoßstange quer über den Zylinderkopf und einen zweiten Kipphebel betätigt. Außergewöhnlich waren ferner die steil abfallenden Einlasskanäle (die Vergaser saßen in der Mitte über dem Motor), was unter anderem die Lastwechselreaktionen positiv beeinflusste. Bristol übernahm diese konstruktiven Eigenheiten für den Motor des 400. Der Bristol-Motor war allerdings nicht nach metrischen Maßen konstruiert, sondern in Zoll-Werten. Nach Darstellung des Bristol Owners Clubs verwendete Bristol zudem höherwertige Materialien und legte generell höhere Qualitätsstandards an als BMW. Der Ottomotor hatte einen Hubraum von 1971 cm³. Im Laufe der Jahre bot Bristol für den Typ 400 vier Leistungsstufen an: Anfänglich waren die Typen 85 (mit 55 kW, entspricht 75 PS) und 85A erhältlich; Letzterer hatte drei SU-Vergaser und leistete 59 kW (80 PS bei 4500/min). Ab März 1948 lieferte Bristol wahlweise eine 62 kW (85 PS) starke Version (Typ 85C), die mit drei Solex-Vergasern ausgestattet war. Die leistungsstärkste Ausführung war der Typ 85C mit 66 kW (90 PS). Die Höchstgeschwindigkeit mit dem 85A-Motor wurde mit 94 Meilen pro Stunde (ca. 150 km/h) angegeben. Bristol überarbeitete den Motor in den folgenden 15 Jahren mehrfach, unter anderem wurde 1959 der Hubraum für den Einsatz im Bristol 406 auf 2,2 Liter vergrößert (Typ 110). Karosserie Werksseitig wurde der Bristol 400 als zweitüriges Coupé („Saloon“) angeboten. Der Aufbau war von Dudley Hobbs entworfen worden, einem langjährigen Mitarbeiter der Bristol Aeroplane Company, der fast alle künftigen Serienmodelle der Marke bis zum Britannia (1982) gestalten sollte. Hobbs orientierte sich bei der Gestaltung der Karosserie an einem Aufbau, den Peter Schimanowski 1938 für den BMW 327 entworfen hatte und der im folgenden Jahr von dem Darmstädter Karosseriewerk Autenrieth verwirklicht wurde. Die Form des Bristol 400 war etwas anders als das Autenrieth-Design, folgte aber weitgehend dieser Vorlage. Die Motorhaube war geringfügig höher als bei Schimanowskis Entwurf; vor allem aber war die Dachlinie im Bereich der Rücksitze eigenständig: Sie war gegenüber dem BMW-Design erhöht, um größeren Personen mehr Kopffreiheit zu geben. Andererseits übernahm Hobbs den nierenförmigen Kühlergrill der BMW-Vorlage und machte damit die Verwandtschaft des 400 mit den thüringischen Vorkriegskonstruktionen auch äußerlich deutlich. Die Karosserie wurde – anders als bei allen folgenden Bristol-Modellen – in Gemischtbauweise hergestellt: auf einem Holzgerippe waren die Karosseriebleche aus Stahl mit Nägeln befestigt; lediglich die Türen sowie die Motorhaube und die Kofferraumklappe waren aus Aluminium. Dieser Aufbau ruhte auf dem Doppelrohrrahmen. Bei der Konstruktion der Karosserie erhielt Bristol Unterstützung von dem britischen Spezialbetrieb The Abbey Panel & Sheet Metal Co., der auch mindestens einen Prototyp aufbaute. Außer dem Coupé baute Bristol 1946 auch zwei Prototypen eines zweitürigen Cabriolets mit der BMW-327-Karosserie. Pläne für eine Serienfertigung dieser Version wurden bereits im Oktober 1946 aufgegeben. Abgesehen von der Standardkarosserie entstanden auf Kundenwunsch diverse Sonderaufbauten, die unterschiedliche britische und kontinentaleuropäische Karosseriebauunternehmen herstellten. Serien 1 und 2 Der Bristol 400 wurde in seiner ursprünglichen Form vom Frühjahr 1947 bis zum März 1948 produziert. Anlässlich des Genfer Auto-Salons 1948 präsentierte Bristol eine überarbeitete Version, die heute inoffiziell als Series 2 bezeichnet wird. Äußerlich unterschied sich die zweite von der ersten Serie durch gerade verlaufende vordere Stoßstangen, die die früheren, geschwungenen Einheiten ersetzten, sowie ein Reserverad, das in den Kofferraumdeckel eingelassen war, um den Gepäckraum zu vergrößern. Zudem gab es größere Scheinwerfer, die mit einer gewölbten Streuscheibe versehen waren. Nahezu zeitgleich mit der Einführung der zweiten Serie war auch der stärkere Motor vom Typ 85C wahlweise lieferbar. Eigenproduktion Eine Besonderheit des 400 war, dass Bristol mit Ausnahme der Elektrik (Lucas), der Kupplung und der Bremsen (Lockheed) praktisch jedes Bauteil selbst fertigte. Was in der Literatur gelegentlich für Spott sorgte war aus Bristols Sicht ein Beitrag zur Qualitätssicherung. Zeitgenössische Presseberichte bestätigen das hohe Qualitätsniveau des Autos. Bristol = BMW? In der Fachliteratur wird wiederholt die Frage diskutiert, ob der Bristol 400 mehr ist als ein abgewandelter BMW. Einige Autoren beschreiben den Bristol 400 als „eine ausgewogene Mischung erprobter BMW-Konzepte“, andere weisen darauf hin, dass er konstruktive und gestalterische Elemente der BMW-Modelle 326, 327 und 328 miteinander verband. Die Verwandtschaft des Bristol 400 mit BMW-Konstruktionen war äußerlich ohne Weiteres erkennbar. Auffälligstes Merkmal war der BMW-typische nierenförmige Kühlergrill, den Bristol für sein neues Modell unverändert übernahm. Auch die Nomenklatur belegte die Beziehungen zum deutschen Hersteller: Indem Bristol sein erstes eigenes Automodell „400“ nannte, machte das Unternehmen deutlich, dass es den Wagen als Fortsetzung bzw. Nachfolger von BMWs Vorkriegsmodellen sah, die bis zum BMW 335 von 1939 alle eine mit einer 3 beginnende dreistellige Zahl als Modellbezeichnung trugen. Werksseitig wurde dem regelmäßig entgegengetreten. Bristol war bemüht, den 400 als eigenständiges Modell erscheinen zu lassen. Tony Crook, in den frühen 1950er Jahren größter Bristol-Händler und ab 1973 alleiniger Inhaber des Unternehmens, behauptete in späteren Jahren, der Bristol 400 sei gänzlich anders („totally different“) gewesen als die BMW 326/327/328: Er sei geräumiger gewesen, versehen mit den neuesten technischen Standards, gebaut nach den Maßstäben der Luftfahrt und vollständig geräuschisoliert. Insgesamt sei es schade gewesen, dass Bristol für diesen Wagen die BMW-Niere an der Wagenfront unverändert übernommen habe. Auch die zeitgenössische Automobilpresse besprach die Beziehung zu BMW entweder gar nicht oder nur zurückhaltend. Marktpositionierung Der Bristol 400 war ein Automobil der Oberklasse. Das Werk legte Wert darauf, dass nur ausgewählte Materialien verarbeitet wurden und die handwerkliche Herstellung mit höchster Sorgfalt erfolgte. Das spiegelte sich auch in seinem Preis wider. Der Verkaufspreis betrug im ersten Jahr seiner Produktion 1.525 £ zuzüglich Steuern (2.375 £ brutto), was einem Gegenwert von nahezu sieben Ford Anglia aus britischer Herstellung entsprach. Ein Jaguar Mark IV kostete zur gleichen Zeit 1.263 £, ein Bentley mit Standardkarosserie 4.038 £. In der Schweiz, dem wichtigsten kontinentaleuropäischen Exportmarkt Bristols, kostete ein 400 Ende 1947 33.000 Schweizer Franken. Er war dort damit um 50 % teurer als ein Jaguar 3,5 Liter. Serienproduktion Im Herbst 1946 entstanden die ersten Prototypen des Bristol 400: zwei Exemplare des geschlossenen Modells Saloon, daneben zwei Prototypen des offenen Drophead. Die Fahrzeuge wurden in den darauf folgenden Monaten eingehend getestet; Werksfahrer unternahmen mehrere Langstreckenfahrten durch Europa. Die meisten von ihnen hatten Italien zum Ziel: Bereits zu dieser Zeit stellte Bristol Kontakte zu dem Mailänder Karosseriehersteller Touring her, der den Nachfolger des 400 einkleiden sollte. Die Serienproduktion des Bristol 400 wurde im Frühjahr 1947 aufgenommen, ab März 1948 war eine überarbeitete Version (Series 2) erhältlich. Der 400 blieb bis 1950 im Programm. Seine Produktion überschnitt sich damit für mehr als ein Jahr mit der seines Nachfolgers, des Bristol 401, der eine überarbeitete Version des 400 darstellte und eine eigenständige Karosserie trug. Die Produktionszahlen des Bristol 400 sind unklar. Das Werk machte hierzu – wie bei allen späteren Modellen auch – keine Angaben. In der Fachliteratur finden sich diverse Schätzungen, die stark voneinander abweichen. Einige Quellen gehen davon aus, dass insgesamt etwa 450 Exemplare hergestellt wurden. Andere geben 474 Exemplare bzw. 700 Exemplare an, wieder andere halten schließlich eine Produktion von bis zu 1000 Fahrzeugen für möglich. Tony Crook erklärte 1996, dass keiner der bis dahin in der Literatur genannten Werte zutreffend sei. Der erste, 1946 gebaute Bristol 400 befindet sich noch im Jahr 2012 im Besitz von Tony Crook. Sonderaufbauten Mehrere unabhängige Karosseriebauunternehmen stellten bis 1951 eigenständige Aufbauten für das 400-Chassis her. Sie gingen zumeist auf individuelle Kundenaufträge zurück, in seltenen Fällen auch auf Aufträge von Bristol-Händlern oder -Importeuren. Der Bristol 400 Farina Die bekannteste Sonderausführung des Bristol 400 ist eine zweisitzige Cabriolet-Version mit einer Karosserie des italienischen Designers Farina. Für den Cabriolet-Aufbau verstärkte Bristol das Chassis des 400, indem an mehreren Stellen zusätzliche Stahlplatten eingeschweißt wurden; zugleich wurde der Tank, der sich in der Serienversion über der Hinterachse befand, in den Kofferraum verlegt, um Platz für das Verdeck zu schaffen. Die Karosserie des Cabriolets war eigenständig. Farina gestaltete eine Semi-Pontonform mit Kotflügeln, die in die Türen übergingen. An der Frontpartie waren Doppelscheinwerfer installiert. Insgesamt erinnerte die Gestaltung des Autos an das bereits 1939 realisierte Alfa Romeo 6C 2500 SS Cabriolet. Das erste Farina-Cabriolet entstand 1947 im Auftrag von H.J. Aldington auf der Grundlage des ersten serienmäßig hergestellten 400-Chassis. Zeitgenössischen Pressemitteilungen zufolge plante Bristol anfänglich, das Farina-Cabriolet in Kleinserie herzustellen. Ob es tatsächlich dazu kam und wie viele Exemplare entstanden, ist unklar. Während in den 1990er Jahren das 1947 hergestellte Farina-Cabriolet vielfach als Einzelstück angesehen oder die Produktion von lediglich zwei Fahrzeugen angenommen wurde, legen jüngere Untersuchungen die Vermutung nahe, dass Farina im Laufe der Jahre mindestens vier Fahrzeuge auf 400er Chassis aufbaute. Vier weitere, sehr ähnlich aussehende Cabriolets entstanden zudem auf der Basis des Bristol 401. Saloon von Touring In der zweiten Hälfte des Jahres 1947 entwarf die Mailänder Carrozzeria Touring eine Fließhecklimousine mit betont aerodynamischen Linien, die auf dem Chassis Nr. 129 der Baureihe 400 beruhte. Der Wagen war ein Vorläufer des späteren Bristol 401 und sah ihm weitgehend ähnlich. Allerdings gab es Unterschiede, vor allem an der Frontpartie. Der Prototyp hatte einen schmalen, hoch stehenden Kühlergrill in Form zweier „Nieren“, die die Stoßstange in der Mitte der Wagenfront durchbrachen. Bei den Serienmodellen des 401 hingegen war die vordere Stoßstange nicht unterbrochen; die Nieren fielen hier niedriger aus. Auch im Arrangement der Leuchteinheiten wich der 401 vom ersten Prototyp ab. Station Wagon von F. J. Hyde 1950 oder 1951 entstanden auf dem Fahrgestell des Bristol 400 zwei viertürige Kombiwagen mit Holzverkleidung im Fahrgastbereich. Beide Fahrzeuge wurden bei dem britischen Wohnwagenhersteller F.J. Hyde in Hereford aufgebaut. Die Wagenfront entsprach bis zur B-Säule dem serienmäßigen 400; die Fahrzeuge erfuhren allerdings Veränderungen am Heck und im Innenraum. Die Dachkonstruktion war neu. Insgesamt konnte das Fahrzeug neun Personen transportieren. Der Auftrag für das erste Fahrzeug kam von einem Schlachter aus Hereford, der den umgebauten 400 zeitweise als Lieferwagen nutzte. Das Fahrzeug befindet sich seit 2003 bei einem britischen Sammler, der es restauriert. Zwei Jahre später stellte Hyde im Auftrag eines anderen Kunden einen weiteren, stilistisch identischen Station Wagon her. Cabriolet von Langenthal Das Schweizer Karosseriewerk Carrosserie Langenthal AG gestaltete 1948 auf Kundenwunsch ein Cabriolet mit Pontonkarosserie. Das Fahrzeug wurde auf dem Genfer Auto-Salon 1948 ausgestellt. Die Frontpartie ähnelte dem Farina-Aufbau; über den Hinterrädern wies der Wagen aber eine deutliche Wölbung auf. Langenthals Cabriolet blieb ein Einzelstück. Belgisches Einzelstück Der Bristol Owners Club sowie eine Markenbiografie berichten von einem Cabriolet mit Bristol-400-Technik, das eine in Belgien entworfene und gebaute Karosserie hatte und auf dem Brüsseler Autosalon 1950 ausgestellt wurde. Besonderes Merkmal war eine große einteilige Motorhaube, die die Kotflügel mit umfasste. Der Entwurf wird P.D. Haveloose zugeschrieben. Wer Hersteller der Karosserie war, ist unklar. Mehrere Quellen spekulieren über eine Urheberschaft des belgischen Karosserieherstellers Van den Plas. Dagegen spricht, dass das Unternehmen bereits 1935 den Betrieb eingestellt hatte. RGS Automobile Components RGS Automobile Components bot in den frühen 1950er-Jahren eine eigenständig gestaltete Kunststoffkarosserie für das Bristol-400-Chassis an. Der Aufbau folgte dem Pontonstil, hatte eine weit zurückgesetzte Fahrgastzelle und ein rundlich abfallendes Dach. Mindestens ein Exemplar wurde 1954 komplettiert. Coupés von Zagato Anthony Crook Motors Ltd., seinerzeit der größte Bristol-Händler Großbritanniens, ließ 1960 von Zagato einige gebrauchte Bristol-400-Chassis mit einer Karosserie im Stil des 406 Zagato neu einkleiden. Der Bristol Owners Club geht davon aus, dass „mindestens drei“, möglicherweise auch sechs dieser Fahrzeuge hergestellt wurden. Der Bristol 400 im Rennsport Zwischen 1949 und 1953 traten mehrere Privatfahrer mit einem Bristol 400 zu britischen und internationalen Rennsportveranstaltungen an. Vier Jahre in Folge wurde jeweils mindestens ein Bristol 400 zur Rallye Monte Carlo gemeldet. Das beste Ergebnis erreichten die tschechischen Fahrer Zdeněk Treybal und František Dobrý, die die Rallye 1949 als Gesamtdritte beendeten. Im März 1949 nahmen Harold John Aldington und Giovanni Lurani an der auf Sizilien abgehaltenen Targa Florio teil. Sie gingen mit einem weitgehend serienmäßigen Wagen ins Rennen und kamen als Zweite in der Klasse der Tourenwagen ins Ziel. In der Gesamtwertung belegten sie nach einer Fahrzeit von 14:55:41,0 Stunden den elften Endrang. Einen Monat später nahmen beide Fahrer mit dem gleichen Wagen an der Mille Miglia 1949 teil, die sie als Gesamt-Dreizehnte beendeten. 1949 fuhr Aldington bei der Rallye Alpine den ersten Bristol 400, der mit einer Farina-Karosserie ausgestattet war. Er wurde Neunter in der Gesamtwertung. Lurani steuerte den Wagen im Juli 1949 bei der Coppa d'Oro delle Dolomiti an die 21. Stelle der Gesamtwertung. Tony Crook und zahlreiche andere Privatfahrer bestritten mit ihren Bristol 400 bis 1953 eine Reihe von Clubrennen in Großbritannien, aber auch lokale Veranstaltungen in Frankreich und Italien. Unter anderem erreichte Francis Samuelson 1953 beim Großen Preis von Rouen für Sportwagen den 11. Rang. Querverbindungen: Komponenten des Bristol 400 in anderen Automobilen Unterschiedliche Komponenten des Bristol 400 wurden in den folgenden Jahren von anderen Automobilen verwendet. Bristol Cars Das gilt zunächst für die späteren Modelle Bristols. Bis hin zum Blenheim (1993–2011) nutzten mit Ausnahme des Fighter (ab 2004) alle Bristols das auf die BMW-Konstruktion zurückgehende Chassis, das im Laufe der Jahrzehnte nur geringfügig weiterentwickelt wurde. Abgesehen vom Bristol 404 und dem darauf basierenden Arnolt-Bristol behielten sie jeweils den ursprünglichen Radstand bei. Erst für den – letztlich nicht realisierten – Nachfolger des Blenheim, der Mitte der 1990er Jahre unter dem Projektnamen Bucaneer entwickelt wurde, erwog Bristol eine weitgehende Modifikation des Chassis. Auch der Motor wurde über mehrere Jahrzehnte verwendet. Er trieb bis zum 406 alle Serienfahrzeuge der Marke an. Darüber hinaus fand er beim Rennsportwagen Bristol 450 – dort mit bis zu 155 PS – Verwendung, mit dem das Werk mehrere Klassensiege bei Langstreckenrennen wie dem 24-Stunden-Rennen von Le Mans erzielte. Andere Hersteller Neben Bristol nutzten auch andere Automobilhersteller den Reihensechszylindermotor aus Filton. Zu ihnen gehörten Frazer Nash und AC Cars aus Thames Ditton, die ihre Modelle Ace und Greyhound wahlweise mit den Bristol-Motoren auslieferten. Alternativ war das Coupé Greyhound mit einem AC-Triebwerk oder mit einem 2,6 Liter großen Sechszylindermotor des Ford Zephyr verfügbar; Beobachter waren sich allerdings einig, dass allein der drehfreudige Bristol-Motor in der Lage war, den Greyhound zu „annähernd sportlichen Leistungen“ zu bringen. Motorsport Schließlich fand der Bristol-Motor auch im Motorsport Verwendung. Einige Modelle der Rennwagenhersteller Cooper, Lister und Lotus wurden mit dem Sechszylindermotor ausgestattet. Die erfolgreichste Konstruktion war der Cooper T20, der von einer 130 PS starken Version des Bristol-Motors angetrieben wurde. Er war nach dem Reglement der Formel 2 konstruiert. Mit ihm nahm das britische Unternehmen an der Fahrerweltmeisterschaft 1952 teil. Coopers Fahrer Mike Hawthorn schloss die Saison als Fünfter ab. Marktlage heute Der Bristol 400 ist heute, fast 70 Jahre nach seiner Produktionseinstellung, ein gesuchter Klassiker. Das Interesse ist allerdings auf den britischen Inseln größer als in Kontinentaleuropa, wo die Marke Bristol vergleichsweise wenig bekannt ist. Auf dem britischen Markt belaufen sich die Preise für einen exzellenten Bristol 400 auf etwa 60.000 £ (ca. 75.000 Euro). Für den deutschen Markt wurde im April 2011 ein Preis von 70.000 Euro für einen Bristol 400 in „gepflegtem Zustand“ notiert. Trivia In der Togolesischen Republik wurde 1984 auf einer 1-Franc-Briefmarke ein Bristol 400 abgebildet. Technische Daten Literatur Monografien zur Marke Christopher Balfour: Bristol Cars. A very British story. 2009 (Haynes Publishing) ISBN 978-1-84425-407-1 Martin Buckley: Souls of discretion. Bristol has been in business for 50 years. In: Classic and Sports Car, Heft 5/1994. R.M. Clarke: Bristol Cars: 132 Contemporary Articles Drawn from International Motoring Journals. Brooklands 2001, ISBN 1-85520-563-7 (englisch) L. J. K. Setright: A private car. Palawan Press, London 1998, ISBN 0-9523009-6-6 (2 Bände, engl.) L. J. K. Setright: Bristol Cars and Engines. Motor Racing Publications, Croydon 1974, ISBN 0-900549-22-X (englisch) Martin Buckley: Souls of discretion. Bristol has been in business for 50 years. In: Classic and Sports Car. Heft 5/1996, Haymarket Magazines, , S. 116 ff. (Markengeschichte zum 50. Jubiläum von Bristol Cars) Simon Taylor: Soul Survivors. In: Classic and Sports Car. Heft 8/2006, Haymarket Magazines, , S. 132 ff. (Porträt der Marke anlässlich des 60-jährigen Bestehens) Ein deutsch-englischer Klassiker. Die Geschichte der Marke Bristol. In: Classic Cars Spezial – Englische Oldtimer. Juni/Juli/August 1994, S. 6 ff. Zeitgenössische Presseberichte zum Bristol 400 The Bristol 400. In: Motor vom 6. November 1946 Bristol Enterprise. Eingehende Vorstellung des Werks und des Automobils. In: Autocar vom 9. Januar 1948 Anglo-Italian Accord: Vorstellung des Bristol 400 Pininfarina. In: Autocar vom 5. Dezember 1947 Rückblickende Beiträge zum Bristol 400 Chris (Christopher) Balfour: Bristol Sixes. In: Classic and Sports Car, Heft 10/1990 David Lillywhite, Halwart Schrader: Klassische Automobile. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-613-02552-3 Dieter Günter: Man lebt nur zweimal. Modellgeschichte des Bristol 400 und des 401, in: Oldtimer Markt, Heft 9/1996, S. 228 ff. Frank Oleski und Hartmut Lehbrink: Seriensportwagen. 1983/1993 (Könemann), ISBN 3-89508-000-4 Thomas Wirth: Fly & Drive. Restaurierung eines Bristol 400. In: Motor Klassik, Heft 10/2004, S. 130 ff. Weblinks Der Bristol 400 auf der Website des „Bristol Owners Club“ – umfassende Darstellung (englisch, abgerufen am 9. August 2010) Der Bristol 400 auf der Website von „oldtimer-tv“ (abgerufen am 9. August 2010) Der Bristol 400 auf der Website von conceptcarz (englisch, abgerufen am 9. August 2010) Übersicht über die Rennsportergebnisse des Bristol 400 auf der Internetseite www.racingsportscars.com (nicht vollständig, abgerufen am 10. Mai 2012) Einzelnachweise 400 Fahrzeug der Oberklasse Coupé
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kapweihe
Kapweihe
Die Kapweihe (Circus maurus), früher auch Mohrenweihe genannt, ist ein Greifvogel aus der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). Charakteristisch für diese mittelgroße Weihe ist die bei Männchen und Weibchen einheitliche, schwarz-weiße Gefiederzeichnung. Die Brutgebiete der Kapweihe beschränken sich auf die südlichen zwei Drittel Südafrikas, Lesotho, den äußersten Süden Botswanas und Namibias sowie eine kleinere Exklave an der nördlichen namibischen Küste. Sie bewohnt sowohl trockenes, baumarmes Fynbos-Hochland als auch weiträumige Feuchtgebiete. Die Kapweihe macht vor allem auf kleine Mäuseartige und Wachteln Jagd, die sie im weihentypischen Gaukelflug fängt. Sie brütet in der Regel von August bis Dezember in einem Bodennest. Die 1828 von Coenraad Jacob Temminck erstbeschriebene Kapweihe steht innerhalb der Weihen einer Reihe von Trockenlandarten nahe und ist wahrscheinlich die Schwesterart der südamerikanischen Grauweihe (Circus cinereus). BirdLife International stuft den 1000 bis 1500 Individuen umfassenden Bestand als „gefährdet“ (vulnerable) ein. Vor allem der Rückgang von geeigneten Habitaten durch die Intensivierung der Landwirtschaft trägt dabei zur Gefährdung der Art bei. Merkmale Körperbau und Farbgebung Im Vergleich mit anderen Arten der Gattung ist die Kapweihe verhältnismäßig kompakt gebaut. Die Flügel sind relativ kurz, der Schwanz hingegen eher lang; insgesamt rangiert sie größenmäßig im Mittelfeld der Weihenarten. Hinsichtlich der Größe gibt es bei der Kapweihe einen stark ausgeprägten umgekehrten Geschlechtsdimorphismus, das heißt, weibliche Tiere werden größer und schwerer als männliche. Weibchen wiegen 514–600 g und erreichen eine Flügellänge von 360–380 mm, eine Spannweite von 105–110 cm sowie eine Schwanzlänge von 235–268 mm. Die Gesamtkörperlänge weiblicher Kapweihen liegt zwischen 44 und 48 cm. Männchen sind um etwa 7 % kleiner und wiegen 350–470 g; ihre Flügellänge liegt zwischen 331 und 347 mm. Die Schwanzlänge beträgt 230–265 mm, wobei sie meist eher im unteren Ende dieses Bereichs liegt. Der Tarsometatarsus wird bei beiden Geschlechtern 63–73 mm lang. Das Gefieder ist bei adulten Weibchen wie Männchen gleich gefärbt: Die Körperoberseite – Kopf, Rücken, Oberarmdecken – ist schwarzbraun; die Grundfarbe der oberen Armschwingen, Handschwingen und Handdecken ist ein schmutziges Grau. Die Handdecken zeigen eine schwarze Bänderung und am unteren Flügelrand verläuft ein schwarzer Randstreif, der zu den Handschwingen hin breiter wird. Der weiße Bürzel kontrastiert stark mit dem dunklen Rest der Oberseite; der Schwanz ist breit schwarz auf schmutziggrauem Grund gebändert. Die Körperunterseite mit Kehle, Brust, Bauch und Unterarmdecken ist ebenfalls schwarzbraun gehalten, lediglich am Unterleib und den Hosen zeigen sich von Nahem helle Federsäume. Unterarm- und -handschwingen sind an der Basis weiß gefärbt. Die Armschwingen zeigen eine dünne Bänderung, die nach außen hin schwächer wird, am unteren Rand der Armschwingen verläuft ein weiteres breites schwarzes Band. Die Handdecken sind auf weißem Grund breit schwarz gebändert. Die Spitzen der äußeren Handschwingen sind dunkelgrau gefärbt und werden nach außen hin immer dunkler, sodass die äußersten Spitzen schwarz erscheinen. Die Steuerfedern sind auf weißem Grund breit schwarz gebändert. Beine, Wachshaut und Augenring sind gelblich-orange, die Schnabelspitze ist schwarz. Juvenile Kapweihen besitzen ein davon deutlich abweichendes Gefieder. Die Grundfarbe von Kopf und Körperoberseite ist ein dunkles Braun, das auf dem Rücken und den Oberflügeldecken von hellen, sandfarbenen Federsäumen durchwirkt wird. Der Gesichtsschleier zeichnet sich bei Jungtieren deutlich ab, weil er durch die weißliche Kehle, den hell sandfarbenen Nacken und weiße Überaugenstreifen umschlossen wird. Die Oberarmschwingen sind einheitlich dunkelbraun. Die oberen Handschwingen sind an der Basis graubraun gefärbt und sehr undeutlich und dünn dunkelbraun gebändert. Der juvenile Bürzel ist weiß, die Steuerfedern sind oberseitig auf graubraunem Grund breit dunkel gebändert. Über die sandfarbene Unterseite – Decken, Bauch, Brust und Hosen – ziehen sich auf der Brust dichte, über Flanken und Unterflügeldecken vereinzelte dunkle Sprenkel. Die Unterseite der Schwungfedern ist auf grauem Grund dunkel gebändert; lediglich die Basis der Handschwingen ist weiß. Die Steuerfedern sind dunkelbraun-weiß gebändert, den Abschluss bildet eine dunkle Terminalbinde. Die Brust- und Kopffedern werden am Ende des ersten Lebensjahres wohl zuerst gemausert, wodurch eine Übergangsform zum adulten Kleid mit hellem Bauch, schwarzer Brust und schwarzem Kopf entsteht. Beine, Wachshaut und Augenring sind dunkler gelb als bei adulten Tieren. Flugbild Kapweihen erscheinen im Feld als kleine bis mittelgroße Greifvögel, die meist im gaukelnden Gleitflug mit zum V gewinkelten Flügeln in ein bis zwei Metern Höhe über dichter Vegetation fliegen. Sie wirken gedrungener als die meisten anderen Weihen, vor allem durch die relativ kurzen und gerundeten Flügel. Der verhältnismäßig lange Schwanz erscheint dadurch noch etwas länger; insgesamt beträgt die Flügelspannweite etwa das 2,2-Fache der Gesamtlänge. Die Flügelschläge sind etwas kräftiger und schneller als bei anderen Weihen. Lautäußerungen In ihren Rufen ähnelt die Kapweihe anderen Vertretern der Gattung. Der Alarmruf besteht aus einem schnellen, ratternden tschack tschack tschack tschack. Während der Balzflüge machen sich Männchen mit einem hohen pwiiiieeep akustisch bemerkbar. Der Bettelruf des brütenden Weibchens, ein sanftes psju psju psju psju, ist die am häufigsten zu vernehmende Lautäußerung während der Brutzeit. Abseits des Nests ist die Art für gewöhnlich akustisch unauffällig und gibt keine Laute von sich. Verbreitung und Wanderungen Die Brutgebiete der Kapweihe liegen hauptsächlich in Südafrika und konzentrieren sich südlich der 17,5-°C-Isotherme. Sie reichen vom Kap der Guten Hoffnung, wo der Schwerpunkt der Brutpopulation liegt, über Lesotho bis etwa 26° S. Die Brutgebiete umfassen darüber hinaus den äußersten Süden Botswanas und den südwestlichsten Teil Namibias. Eine kleinere Exklave mit einer Brutpopulation von fünf Paaren befindet sich an der namibischen Nordküste im Flussdelta des Uniab. Die Verbreitungsgrenzen im Norden und Nordwesten bilden die Wüsten und Trockensteppen des südlichen Afrikas. Die Kapweihe ist eine der wenigen Vogelarten, die im Gebiet der Kapflora endemisch sind. Mit einer Größe von rund 1.060.000 km² hat die Kapweihe das kleinste Verbreitungsgebiet aller Festlandweihen. Kapweihen sind keine typischen Standvögel, obgleich viele Individuen, etwa die nordnamibische Population, das ganze Jahr über in den Brutgebieten bleiben. Viele Brutvögel aus Westkap wandern im Winter ins östliche Südafrika bis in den Freistaat und KwaZulu-Natal oder nordwärts in die Grenzregion zu Botswana und die südlichen zwei Drittel Namibias ab. Dort herrschen im Winter höhere Temperaturen und ein niederschlagsärmeres Klima als in der Kapregion. Das Ausmaß der Wanderungsbewegungen ist nicht erforscht, im Winter kumulieren aber regelmäßig die Sichtungen in Botswana und Namibia, während die Bestandsdichte in der Kapregion offenbar stark abnimmt. Teile der Populationen verharren aber auch im Winter in den Brutgebieten, in denen in dieser Zeit eine geschlossene Schneedecke besteht. Die längste bekannte Strecke, die eine Kapweihe zurücklegte, beträgt 203 km vom südwestlichen Westkap nach Vanrhynsdorp. Lebensraum Weiträumige, mit niedriger Vegetation spärlich bedeckte Landschaften bilden das Habitat der Kapweihe. Vor allem niederschlagsarme Hochebenen und Küstengebiete mit nur vereinzeltem Baumbewuchs wie die Fynbos- und Renosterveld-Landschaften der Kapregion werden von ihr besiedelt. Das Spektrum der Habitatformen umfasst aber auch Halbwüsten wie die Karoo, Dünenvegetation, Grasland, Weizenfelder oder andere großflächige Formen des Ackerbaus. Seltener und vor allem in Namibia ist die Kapweihe dagegen in Feuchtgebieten, vor allem Flussauen, anzutreffen. Wie auch die sympatrische Froschweihe (C. ranivorus) ist sie stark an die Vorkommen von Lamellenzahnratten (Otomys) und Afrikanischen Striemen-Grasmäusen (Rhabdomys) gebunden. Das Verbreitungsgebiet von Otomys irroratus deckt sich mit Ausnahme von Simbabwe stark mit dem der Kapweihe. Die vertikale Verbreitung der Art reicht bis auf 3000 m, in der Regel ist sie aber unterhalb von 2000 m anzutreffen. Lebensweise Ernährung Die Zusammensetzung der Nahrung unterscheidet sich bei Kapweihen offenbar je nach Habitat. In Küstengebieten dominieren Kleinsäugetiere unter den Beutetieren, während sie sich im montanen Landesinneren etwa mit Vögeln die Waage halten. Feldbeobachtungen im südafrikanischen Overberg-Distrikt fanden an der Küste unter den Beutetieren 86 % Säugetiere, 6 % Vögel und 8 % Reptilien. Im Landesinneren überwogen hingegen Vögel mit 52 % leicht gegenüber Säugetieren mit 48 %, Reptilien fanden sich nicht in der Nahrung. Diese Zahlen umfassen allerdings nur jene Beutestücke, die über die Distanz hinweg identifiziert werden konnten, oftmals war nur eine grobe Einordnung oder gar keine Einordnung möglich. Vergleichsdaten, etwa aus Gewöllanalysen, liegen nicht vor. Die erbeuteten Säugetiere sind wohl hauptsächlich Afrikanische Striemengrasmäuse (Rhabdomys) und Lamellenzahnratten (Otomys), während es sich bei den Vögeln in der Regel wahrscheinlich um Wachteln (Coturnix coturnix) handelt. Andere Studien fanden auch Insekten (Heuschrecken, Raupen, Käfer), Amphibien, Nestlinge, Vogeleier und Aas unter der Nahrung der Kapweihe. Vögel werden bis zu einem Gewicht von 350 g geschlagen. Wie alle rezenten Arten der Gattung jagt die Kapweihe für gewöhnlich aus dem Flug. Dabei fliegt sie mit wenigen Flügelschlägen, leicht hochgewinkelten Flügeln und wiegenden Körperschwenken in niedriger Höhe über der Vegetation und richtet den Blick auf den Boden unter ihr. Dieser Gaukelflug ist relativ energieeffizient, weil dabei auch Windströmungen genutzt werden und nur wenig Kraft für Flügelschläge aufgewendet werden muss. Dies ermöglicht es der Kapweihe, weite Strecken zurückzulegen und große Flächen zu durchkämmen. Beutetiere ortet sie wahrscheinlich nicht nur rein visuell, sondern auch akustisch, was durch ihren Gesichtsschleier erleichtert wird. Hat sie ein Beutetier ausgemacht, stellt sie die Flügel steil auf, wodurch sie jäh herabsinkt und auf die Beute zustürzt, um sie am Boden zu greifen. Seltener nutzt die Kapweihe Sitzwarten oder fängt Vögel aus dem Flug. Gejagt wird nicht nur im Fynbos, im Renosterveld und in Feuchtgebieten, sondern auch in landwirtschaftlichen Nutzflächen wie Weiden oder Kornfeldern. Territorialverhalten und Siedlungsdichte Die Siedlungsdichte von Kapweihe variiert stark, wie eine Studie aus Südafrika zeigt. Während etwa in Koeberg Abstände von lediglich 100–290 m zwischen einzelnen, nahe beieinander liegenden Nestern festgestellt wurden, betrugen die Abstände am Rand der Langebaan-Lagune mindestens 120 m und in Koue Bokkeveld mindestens 2 km. Im West Coast National Park beträgt die Siedlungsdichte etwa ein Paar pro km². In Einzelfällen kann es auch zu hohen Dichten kommen, bei denen zwischen drei oder vier Nestern nur etwa 50 m Abstand liegen. Fortpflanzung und Brut Die Brutsaison beginnt für die Kapweihe etwa um Ende Juli beziehungsweise Anfang August. Während dieser Zeit sind auch bei dieser Art die für Weihen typischen Balzflüge zu beobachten. Dabei steigt zunächst das Männchen kreisend und mit übertrieben kraftvollen Flügelschlägen in große Höhe über dem potentiellen Nistplatz am Boden auf. Anschließend verfällt es in einen auf und ab pendelnden Flug, bei dem es auf dem Gipfel jeder Pendelbewegung laute Rufe ausstößt. Zusätzlich vollführt es Fassrollen und andere akrobatische Flugmanöver. Stößt das Weibchen hinzu, sinkt das Männchen in tiefere Höhen ab und vollführt dort eine Reihe weiterer Flugfiguren, die aber weiträumiger sind als die zuvor gezeigten Auf- und Abschwünge. Anschließend lässt es sich auf dem potentiellen Nistplatz nieder. Wahrscheinlich ebenfalls der Paarbindung dient das Heranschaffen von Futter für das Weibchen, dem die Beutestücke in der Luft übergeben werden. Dabei wirft das Männchen die Beute senkrecht in die Luft, das Weibchen legt sich im Flug auf den Rücken und nutzt das Trägheitsmoment des Beutestückes, um es aus der Luft zu greifen. Die Paarung findet auf dem Boden statt, in einigen wenigen Fällen wurde Polygynie beobachtet. Das Nest wird von Weibchen und Männchen in Arbeitsteilung gebaut. Das Männchen trägt Nistmaterial – Gräser, Seggen oder dürre Äste – heran, das vom Weibchen zu einem runden oder ovalen Bodennest von 35 bis 45 cm Durchmesser und etwa 5 cm Tiefe verarbeitet wird. Als Nistplatz werden meist trockene Stellen gewählt, die durch die umstehende Vegetation gut versteckt sind. Oft befinden sie sich in der Nähe von Wasserläufen oder am Rand von Feuchtgebieten; seltener wird in Feuchtbiotopen selbst gebrütet. Zumeist wird das Nest in letzteren leicht erhöht gebaut. Das Weibchen legt 2–5 Eier – in Küstengegenden meist mehr als im Hochland (∅ 3,6 in Küstengegenden und 3,4 im Hochland) – die anschließend 34 bis 35 Tage lang bebrütet werden. Während dieser Zeit versorgt das Männchen das Weibchen. Dabei legt es vor allem im Hochland oft Strecken von mehreren Kilometern zurück, um Futter heranzuschaffen. Besonders kritisch wird dies, sobald die Küken schlüpfen, da damit der Nahrungsbedarf sprunghaft steigt und das Weibchen erst allmählich wieder selbst zu jagen beginnt. Hinzu kommt eine starke Gefährdung durch Nesträuber in bergigen Gegenden. Der Bruterfolg ist im Hochland dementsprechend geringer als in Küstengegenden, in denen das Nahrungsangebot besser ist: In letzteren liegt er bei 70 %, in montanen Lagen hingegen nur bei 42 %. Auch die Überlebensrate der Küken liegt mit 89 % an der Küste höher als im Hochland mit 83 %. Nach 35–41 Tagen verlassen die Jungvögel das Nest. Systematik Die Kapweihe wurde 1828 von Coenraad Jacob Temminck in seiner mit Guillaume Michel Jérôme Meiffren de Laugier, Baron von Chartrouse verfassten als „Falco maurus“ erstbeschrieben. Temmincks Erstbeschreibung basierte auf einem Individuum, das vom Kap der Guten Hoffnung an das Nationaal Natuurhistorisch Museum geschickt wurde. Das Artepitheton maurus bedeutet im Lateinischen „schwarz“ und bezieht sich auf die dunkle Färbung der Vögel. Innerhalb der Weihen (Circus) gehört die Kapweihe zu einer Gruppe von Steppen- und Trockenlandbewohnern. Der Ornithologe Ebel Nieboer betrachtete sie als einen ursprünglichen Vertreter dieser sogenannten „Steppenweihen“, die die Schwesterklade der anderen Arten bildete. Eine Analyse des Cytochrom-b-Gens von 14 Weihenarten durch Michael Wink und Robert Simmons kam zu dem Ergebnis, dass die Kapweihe eine eher abgeleitete Art im Steppenweihenkomplex ist und der südamerikanischen Grauweihe (C. cinereus) als Schwesterart gegenübersteht. Das evolutionäre Alter der Art schätzen Wink und Simmons auf rund 2,8 Millionen Jahre. Ihre gemeinsame Schwesterklade wird demnach von der Steppenweihe (C. macrourus) gebildet. Bestand und Gefährdung Der Bestand der Kapweihe wird auf 1.000 bis 1.500 Individuen geschätzt. Die Zahl der Altvögel dürfte jedoch unter 1.000 Individuen liegen. Während vermutet wird, dass die Art noch in den 1920ern und 1930ern äußerst selten war und ihren Bestand seitdem vergrößert hat, ist der Bestand in den letzten Jahrzehnten leicht zurückgegangen. Dies liegt vor allem an der Umwandlung von Fynbos- und Renosterveld-Biotopen in landwirtschaftliche Nutzflächen, die den Vögeln kein ausreichendes Bruthabitat bieten. Dieser Wandel fand vor allem im südafrikanischen Tiefland statt, sodass die Kapweihe heute in die Küsten- und Bergregionen ausweicht. Gerade in letzteren sind die Brutbedingungen jedoch oft suboptimal und der Bruterfolg vergleichsweise gering. Anders als die Froschweihe (C. ranivorus) ist die Kapweihe kaum auf Feuchtgebiete angewiesen. Durch die Globale Erwärmung wird aber erwartet, dass es in Südafrika tendenziell feuchter wird und geeignete Bruthabitate dadurch zurückgehen. Für die letzten Jahre wird der Populationstrend zwar als stabil angesehen, BirdLife International stuft die Kapweihe aufgrund ihres geringen Bestandes jedoch weiterhin als vulnerable („gefährdet“) ein. Quellen Literatur BirdLife South Africa: Avian Demography Unit, Johannesburg 1997. ISBN 0-620-20729-9. (Volltext; PDF; 213 kB) Leslie Brown, Emil K. Urban, Kenneth B. Newman: Academic Press, 1988, ISBN 0-12-137301-0. Odette Curtis, Andrew Jenkins, Robert Simmons: The Black Harrier. Work in Progress. In: 6 (5), 2001. S. 30–39. (Volltext; PDF; 689 kB) Odette Curtis, Robert Simmons, Andrew Jenkins: In: Bird Conservation International 14 (4), 2004. , S. 233–245. James Ferguson-Lees, David A. Christie: Houghton Mifflin Harcourt, 2001, ISBN 0-618-12762-3. Julia Jenkins, Robert E. Simmons, Odette Curtis, Marion Atyeo, Domatillo Raimondo, Andrew R. Jenkins: In: , 2012. , S. 1–12. Ebel Nieboer: Universität von Amsterdam, Amsterdam 1973. Austin Roberts (Hrsg.): , Kapstadt 2005. ISBN 0-620-34053-3. Robert E. Simmons: Oxford University Press, 2000. ISBN 0-19-854964-4. Coenraad Jacob Temminck, Meiffren Laugier de Chartrouse: F. G. Levrault und Legras Imbert, Straßburg und Amsterdam 1828. . (Volltext) Weblinks Circus maurus auf www.globalraptors.org „Circus maurus“ (Black harrier). Biodiversity Explorer, www.biodiversityexplorer.org. Factsheet auf BirdLife International Einzelnachweise Weihen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptzollamt%20%28M%C3%BCnchen%29
Hauptzollamt (München)
Das ehemalige Hauptzollamt München ist ein Gebäudekomplex aus dem Jahr 1912 an der Landsberger Straße 122–132 im Münchner Stadtteil Schwanthalerhöhe. Von der Eröffnung bis 2004 war darin das Hauptzollamt München I untergebracht, seither wird es von einzelnen Abteilungen der Bundeszollverwaltung genutzt. Die Bauten wurden in einer Mischung aus spätem Jugendstil und Reformarchitektur errichtet. Sie gelten als Beispiel der „monumentalen Bauweise der Prinzregentenzeit“ und „repräsentieren nach außen die Größe und Eigenständigkeit des bayerischen Königreiches“. Markant ist das massive, 180 m lange ehemalige Lagerhaus mit einer gläsernen Kuppel. Ihre Spitze ist 45 m hoch und wirkt „wie ein Kristall“, der aus der Mitte des Gebäudes herauswächst. Durch seine Lage neben der Donnersbergerbrücke zwischen der Landsberger Straße und den Bahngleisen ist das Gebäude sehr präsent im Stadtbild und kann sowohl vom Mittleren Ring auf der Donnersbergerbrücke wie von allen in den Hauptbahnhof München einfahrenden oder ihn verlassenden Zügen aus gesehen werden. Geschichte Bereits seit 1807 gab es in Bayern eine moderne Finanzverwaltung mit einer General-Zoll- und Maut-Direktion. 1819 wurde im Rahmen der Neuorganisation der königlichen Behörden unter der Verfassung des Königreichs Bayern von 1818 unter Maximilian von Montgelas eine dreigliedrige Struktur aus Direktion, Hauptzollämtern und nachgeordneten Zollämtern I. und II. Klasse eingerichtet. 1874 wurde das Hauptzollamt München in einen Bau von Friedrich Bürklein an der Bayerstraße nahe dem Münchner Hauptbahnhof verlegt und 1880 wurde die Zoll- und Mautdirektion in die neue Königliche Generaldirektion für Zölle und indirekte Steuern integriert, womit den Hauptzollämtern auch Steuerämter und Steuerstellen nachgeordnet waren. Seit 1901 gab es zwei Hauptzollämter in München, als ein weiteres in Haidhausen am Bahnhof München Ost mit Zuständigkeiten im Osten Münchens bis zum damaligen Landgericht Schwaben eröffnet wurde. Durch einen Aufschwung des Fernhandels und besonders ein neues Zollgesetz von 1906 genügte das Hauptzollamt I nicht mehr dem Bedarf. Waren 1900 noch 24.000 Kolli trockene und 3560 Kolli flüssige Güter eingetroffen und verzollt worden, stieg der Umsatz bis 1911 auf 48.000 Kolli trockene und 7000 Kolli flüssige Waren. Eine Erweiterung auf dem Grundstück war nicht möglich. Daher gab die Regierung 1908 einen Neubau für das Hauptzollamt München I in Auftrag. Dafür wurde das Grundstück des bisherigen forstärialischen Holzhofs der königlich bayerischen Forstverwaltung weiter westlich an der Landsberger Straße ausgewählt, die die Verlängerung der Bayerstraße stadtauswärts darstellt. Um den Zugang zum Grundstück zu ermöglichen, mussten neun Privathäuser entlang der Landsberger Straße aufgekauft und abgerissen werden. Weil auch die bis dahin zusammen mit der königlichen Generaldirektion für Zölle und indirekte Steuern im Alten Hof untergebrachte Technische Prüfungs- und Lehranstalt der Zollverwaltung dort ausziehen musste, sollte sie in den Neubau integriert werden. Da der neue Standort am Rand der Stadt lag, wurden Dienstwohnungen vorgesehen. Entwurf und Bau Entworfen wurde der Bau vom königlichen Regierungs- und Bauassessor Hugo Kaiser. Zusammen mit drei anderen Beamten der Bauverwaltung unternahm er eine Studienreise zu modernen Zollbauten, dem Hamburger Freihafen und diversen Industriebauten, die als Vorbilder in Frage kamen. Die anschließend erstellten Pläne sahen einen großzügigen Entwurf vor, der real geschätzte Platzbedarf wurde als Reserve für die Zukunft um ein Drittel erhöht und ging so in die Anforderungen für den Bau ein. Der Entwurf und ein Modell wurden 1908 von Prinzregent Luitpold genehmigt. Von 1909 bis 1912 wurde der Gebäudekomplex errichtet, wobei Kaiser die Bauleitung innehatte und der königliche Ministerialrat Gustav Freiherr von Schacky auf Königsfeld aus dem Finanzministerium die Bauoberleitung wahrnahm. Am 1. Juli 1912 wurde das neue Hauptzollamt durch Prinz Ludwig in Vertretung seines schon 91-jährigen Vaters eingeweiht. Der bisherige Standort wurde von den Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen übernommen. Lagerhalle und Verwaltungsgebäude waren in Eisenbeton-Skelettbauweise errichtet und zählten damit zu den ersten Eisenbetonbauten dieser Größe in Europa. Mit den Bauarbeiten wurden die führenden Unternehmen der Zeit aus ganz Süddeutschland beauftragt. Die Eisenbetonkonstruktionen wurden von den Münchner Bauunternehmungen Gebr. Rank und Heilmann & Littmann ausgeführt, die Schmiedeeisenarbeiten kamen von F. F. Kustermann. Die Heizungsanlage stammte von den Eisenwerken Kaiserslautern, Kräne lieferten die Nürnberger Maschinenfabrik Wilhelm Spaeth und das Würzburger Unternehmen Georg Noell & Co., die Rohrpostanlage wurde von Alois Zettler erstellt, weitere technische Installationen stammten von den Siemens-Schuckertwerken. Die Kosten für das Hauptzollamt betrugen 1.760.000 Mark für das Grundstück und 8.170.500 Mark für die Bauten. Letzteres schließt allerdings die Baukosten von 485.000 Mark für die Zollanlagen am Bahnhof München Süd ein, die für die Verzollung von Obst und Gemüse auf dem Gelände der Großmarkthalle München errichtet wurden. Außerdem waren die Kosten für Grundstück und Bebauung des neuen Forsthofs in Haidhausen enthalten. Nutzung In den ersten Jahren des Hauptzollamtes wurden die Lagerflächen bei weitem nicht ausgenutzt, so dass Teile an Münchner Unternehmen vermietet wurden. Während des Ersten Weltkriegs dienten große Teile der Lagerhalle, die Schalter- und die Revisionshallen als Hilfslazarett. 1919 wurde ein Hauptzollamt München III eröffnet, das wieder im Bürkleinbau an der Bayerstraße untergebracht war. Das Hauptzollamt München I war nur noch für die Verzollung in München ohne den Ostbahnhof zuständig, während alle nachgeordneten Zollämter, Zollinspektionen, Steuerämter und Steuerstellen zwischen den beiden anderen Hauptzollämtern aufgeteilt wurden. Im Zweiten Weltkrieg nutzte die Wehrmacht rund ein Viertel der Lagerflächen als Depot. Bei Luftangriffen wurde das Gebäude teilweise durch Sprengbomben beschädigt und in der Nacht vor dem Eintreffen der US-Armee durch die Münchner Bevölkerung geplündert. Die Amerikaner nutzten nach Ende des Krieges rund zwei Drittel der Lagerhalle als PX-Depot und bauten sie ihren Zwecken entsprechend um. Dabei gingen viele der künstlerischen und baulichen Details verloren. Im Rest der Halle und in den Verwaltungsbauten arbeitete weiterhin der Zoll. 1963 ging das Eigentum am Gebäude vom Freistaat Bayern auf die Bundesfinanzverwaltung über, 1969 gab die US-Army ihre Nutzung auf und die gesamte Anlage unterstand wieder deutscher Verwaltung. Seit 1976 steht das Hauptzollamt unter Denkmalschutz. Das Finanzbauamt München I unternahm ab 1977 eine abschnittsweise Renovierung und Rekonstruktion für rund 28 Mio. D-Mark, die großteils zum 75-jährigen Jubiläum des Gebäudes 1987 abgeschlossen waren. Zwischen 1994 und 2002 wurden die ehemals drei Hauptzollämter in München (West, Mitte und Flughafen) fusioniert, bis zum Jahr 2007 zogen die Dienststellenleitung und die meisten Abteilungen nach und nach in den Dienstsitz Sophienstraße am Alten Botanischen Garten um. Auch die Zollabfertigung in der Landsberger Straße endete, nachdem zuletzt nur noch Postsendungen bearbeitet wurden. Die freigewordenen Räume wurden von der Zollfahndung, der Kontrolleinheit Verkehrswege sowie 2004 von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit übernommen, weshalb aus Sicherheitsgründen kein öffentlicher Zugang zum Gebäude mehr besteht. Das Hauptzollamt war auch Drehort für Fernsehproduktionen und Veranstaltungsort: Christian Dior stellte seine Herbst-/Winter-Kollektion 1999 in der Schalterhalle vor, das Tanzstudio der ZDF-Weihnachtsserie Anna wurde im Revisionssaal eingerichtet, zwei Folgen von Die Verbrechen des Professor Capellari und eine von Siska wurden maßgeblich im Gebäude gedreht. Auch für die Miniserie Der Wunschbaum wurde das Hauptzollamt genutzt. Im Hauptzollamt wurden bis 1998 sowohl der Bestand an so genannter Deutscher Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus als auch Raubkunst verwahrt. Der Oberfinanzdirektion München unterstanden Kunstwerke unter der Verwaltung des Bundes, die von staatlichen Sammlungen während des Dritten Reichs angekauft oder rechtswidrig aus ganz Europa zusammengeführt worden waren und nach dem Krieg von den Amerikanern im Central Collecting Point erfasst wurden. Der fünfte Stock des Lagerhauses ist heute an das Deutsche Museum vermietet, das dort Teile seines Depots ausgelagert hat. Seit 2015 hat auch das Landesamt für Denkmalpflege sein Depot für archäologische Funde im Hauptzollamt. Das Gebäude der zolltechnischen Prüfungs- und Lehranstalt wurde von 2011 bis 2014 generalsaniert, nachdem die Labore der Prüfanstalt in einen Neubau in der Nähe des Münchner Flughafens gezogen sind. Anschließend wurden in den Büros Zolldienststellen und die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben angesiedelt. Die angegliederten Wohnhäuser werden durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben vermietet, bevorzugt an Bundesbeamte. Bauten Das Hauptzollamt gehört zu den Großprojekten der Prinzregentenzeit zwischen 1886 und 1912. Die großen Staatsbauten der Zeit, die „Bayerns Eigenständigkeit“ und „das Beharren auf Reservatsrechten“ gegenüber den anderen Ländern im seit 1871 geeinten Deutschen Reich veranschaulichen sollten, prägen bis heute das Erscheinungsbild der Stadt. Sie sind durch einen hohen Qualitätsanspruch gekennzeichnet und tragen maßgeblich dazu bei, dass die Kulturstadt München neben Kunst, Musik, Theater, Literatur und Wissenschaft auch in der Architektur zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den „Höhepunkt der nationalen und europäischen Bedeutung“ Münchens erreichte. Das rund 35.000 m² große, annähernd rechteckige Grundstück wurde mit 14.000 m² Grundfläche zu etwa 40 % überbaut. Der Gebäudekomplex umfasst den Verwaltungsbau im Kern des Geländes, das im Norden rechtwinklig anschließende und nach Westen verlaufende 180 m lange Lagergebäude, die im Osten abgesetzte Zolltechnische Prüfungs- und Lehranstalt sowie im Süden an der Landsberger Straße drei Wohnblöcke für Angestellte. Er ist als vielflügelige Anlage mit gestuften Bauten unterschiedlicher Höhe mit mehreren Höfen und Grünflächen angelegt, die Straßenfassade ist durch Torbögen und Mauern geschlossen, so dass die Anlage „Züge einer autarken Arbeits- und Wohnfestung gewinnt“. Die Errichtung der Anlage in einer einheitlichen Planung erlaubte die optimale Anpassung der Bauten an die Zollabläufe und die Trennung der Warenströme durch die Anordnung der Gebäude um mehrere Höfe. Die Münchner Neuesten Nachrichten kamen am Tag nach der Eröffnung zum Schluss: Der ganze Baukomplex, „von außen gefällig, von innen zweckmäßig und mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet, ist eine neue Zierde für München und zeigt, wie Geschmack und Brauchbarkeit, wie Komfort und technische Vollkommenheit auch bei Staatsbauten Hand in Hand gehen können. Und wenn auch kein Kaufmann gerne Zoll zahlt, fast glaube ich, daß er wenigstens den Neubau an der Landsberger Straße lieb gewinnen und gerne besuchen wird.“ Architektur Der Verwaltungsbau, das eigentliche Zollamt, ist in Nord-Süd-Richtung orientiert und weist eine Schaufassade mit konvex ausgebautem Giebel und Uhrenturm auf. Es ist gegenüber der Landsberger Straße zurückgesetzt und sein Eingangsbereich wird durch einen Ehrenhof erschlossen, der durch die Prüfanstalt im Osten und den Seitenflügel eines der Wohngebäude gebildet und eingerahmt wird. Die Schauseite des Gebäudes wird durch einen quergestellten Bürotrakt gebildet, hinter dem die zentrale Schalterhalle liegt. Sie ist 35 m lang, 14,5 m breit und reicht mit 14 m Höhe über drei Stockwerke. Sie wird durch ein Tonnengewölbe mit gewaltigen Rahmenbindern aus Eisenbeton geprägt. Die Deckenflächen sind mit kassettenförmigem Stuck verziert. Parallel zur Schalterhalle liegt der niedrigere untere Revisionssaal, dazwischen befindet sich ein Lichthof, der bis zum Untergeschoss reicht und über eine Rampe den Zugang für Fahrzeuge zu den Kellern darstellt. Hinter dem Verwaltungsbau, quer dazu an den Eisenbahngleisen, liegt der Lagertrakt. Er hat vier Hauptgeschosse und einschließlich Dach und Kellern insgesamt neun Etagen mit zusammen rund 30.000 m² Lagerfläche. Das Erdgeschoss diente zur Zollabfertigung, die Obergeschosse wurden als Zollfreilager verwendet. Für besondere Warengattungen standen eigene Lagerräume zur Verfügung: Feuergefährliche Güter hatten eine eigene kleine Halle im Hof, Kraftfahrzeuge wurden in einem geschlossenen Unterstand verwahrt, für übelriechende Waren gab es gesonderte Lagerflächen am Ende der Halle und eine überdachte, aber ansonsten weitgehend offene Veranda. Fette und Öle, sowie Schaumwein wurden im Kellergeschoss gelagert. Außerdem standen Räume für die Fleischbeschau durch einen Tierarzt zur Verfügung. Im östlichen Drittel unterbricht die Kuppel des 45 m hohen Lichtschachts das massive Satteldach. Sie überragt den First des Lagerhauses um 18 m und besteht aus einem „langgestreckten Zehneck, das kuppelförmig auf zwei Firstpunkte zuläuft.“ Ihre Rippen mit drei Umgängen gelten als „Prototyp des Eisenbetonfachwerks“. Zum Wetterschutz ist der Beton mit Kupfer verkleidet, das eine Patina angesetzt hat, die bei der Renovierung sorgfältig restauriert wurde. Der durch alle Etagen geführte Lichtschacht war früher zu den Lagerflächen offen. Nach den Umbauten wurden in den Lagerhaus-Etagen überwiegend Büros eingerichtet, der Lichtschacht wurde zu diesen hin weitgehend geschlossen. Die östlich des Ehrenhofs liegende Technische Prüfungs- und Lehranstalt der Zollverwaltung wies Büro- und Geschäftsräume sowie mehrere Labors auf, daneben einen zentralen Hörsaal mit modernen Diaprojektoren und eine umfangreiche Sammlung an Warenmustern. An Laboratorien gab es eines für amtliche Untersuchungen im Allgemeinen und zu Studienzwecken, ein weiteres besonders für Bier- und Weinuntersuchungen, ein Übungslaboratorium für die Abhaltung praktischer Anleitungen der Kursteilnehmer in der Ausführung chemischer Untersuchungen, ein Zimmer für die Präzisionswaagen, ein Mikroskopierzimmer und einen Raum für Brennversuche im Keller. Außerdem waren in diesem Gebäude drei Dienstwohnungen eingerichtet. Die viergeschossigen Wohntrakte an der Landsberger Straße enthielten 47 Wohnungen für Mitarbeiter des Zollamtes. Sie waren je nach Dienstrang gestaffelt zwischen sieben Zimmern für den Amtsleiter, Vier- bis Fünf-Zimmerwohnungen für Zollinspektoren und Drei-Zimmerwohnungen für sonstige Beamte, Aufseher und Maschinisten. Alle Wohnungen hatten Küchen mit Gasherden und Zentralheizung und waren daher auch für die einfachen Mitarbeiter von erstklassigem Standard. Die gehobenen Wohnungen verfügten über eigene Bäder und Elektrizität. Der Hof zwischen den Wohngebäuden war begrünt und mit einem Kinderspielplatz ausgestattet. Zum Gesamteindruck des Komplexes tragen die unterschiedlichen Gebäudehöhen und die vielfach gegliederten Dachlandschaften mit Gauben und Zwerchhäusern bei. Die Versuchsanstalt und die Wohnhäuser weisen Walmdächer auf, der Verwaltungstrakt und das Lagerhaus ein Satteldach. Die Grundrisse und Bauformen sind der Reformarchitektur zuzuordnen, die Fassaden aller Bauten sind, gemäß dem späten Jugendstil, durch plastischen Bildschmuck aus Muschelkalk und gestocktem Beton bereichert. Während die der Bahn zugewandte Seite eher nüchtern wirkt, so „ist das Erscheinungsbild auf den anderen Seiten einladend und vielgestaltig“ und sind die Verwaltungs- und Lehrbereiche „repräsentativ“ gehalten. Gebäudetechnik Die Ausstattung der Behörde nutzte alle Techniken der Zeit: Im Inneren gab es Luftbefeuchtungsanlagen, sowie Luftentstaubungsfilter und eine Einrichtung zur Frischluftzuführung. Das kontrollierte Klima in den Lagerräumen war besonders wichtig, weil über München die gesamte Tabakeinfuhr aus Griechenland in das Deutsche Reich abgewickelt wurde. Die Lagerhalle hatte einen direkten Gleisanschluss mit Seilzug zum Verschieben von Wagen, so dass per Eisenbahn ankommende Waren im Inneren des Zollamtes entladen werden konnten. Laufkräne mit einer Tragkraft zwischen 4 und 25 Tonnen und vier Lastenaufzüge mit je 1,5 Tonnen zulässiger Beladung sorgten für den Transport der Güter. Zur Staubvermeidung wurde die Abluft aus den Untersuchungsräumen gefiltert, und die anschließenden Büros wurden konstant unter leichtem Überdruck gehalten. Verpackungen und Abfälle konnten aus den beiden Revisionssälen durch Schächte direkt in luftdichte Abfallbehälter geworfen werden. Im Keller waren Waschräume für Mitarbeiter eingerichtet. Im Zollhof stand ein Brunnenbecken als Pferdetränke zur Verfügung. Für die elektrische Ausstattung besaß das Zollamt einen eigenen Transformator, der den Strom vom E-Werk des Hauptbahnhofs auf die benötigten Werte umwandelte. Die beiden Abfertigungshöfe konnten mit Bogenlampen beleuchtet werden. Alle Gebäude hatten Zentralheizung oder einen Fernwärmeanschluss, es gab eine Haustelefonanlage, eine elektrische Uhrenanlage, die zentral vom Büro des Behördenleiters gesteuert wurde, und ein Rohrpostsystem. Künstlerische Ausstattung Die Bildhauerarbeiten an den Fassaden und im Inneren des Verwaltungsgebäudes stammten von Georg Albertshofer und Julius Seidler sowie eine Portalplastik von Wilhelm Riedisser. Das Vestibül und die Schalterhalle erhielten geschmiedete Ziergitter, geschnitzte Treppengeländerstützen und Schalterfronten aus poliertem Muschelkalk. Andere Bereiche waren mit Wanddekorationen in Schablonenmalerei verziert, die mit Palmettenfriesen, Perlschnüren und Kassetten die Wände gliederten. Große Teil der Ausstattung sind erhalten. Viele Türen und Geländer sind original, im Treppenhaus des Verwaltungstraktes sind eine Plastik und mehrere Kapitelle erhalten, das Direktionsbüro weist die ursprüngliche Holzvertäfelung und Möblierung auf. In der Schalterhalle mussten vor der Restaurierung zwischen 1977 und 1987 erst Deckenrisse durch Kriegseinflüsse fachgerecht saniert werden, bevor die zwischenzeitlich mit Putz verschlossenen Kassetten in den Gurtbögen freigelegt und die Stuckprofile und die Schablonenmalerei nach Farbresten und Fotos rekonstruiert werden konnten. Die originale Front einer Stirnwand aus Muschelkalk-Platten und -Säulen konnte unter Putzschichten gefunden und freigelegt werden. Ziergitter waren zum Teil nicht erhalten und mussten nach Fotos neu geschmiedet werden. Die ehemaligen Holzeinbauten in den Sockelzonen waren verloren gegangen und für eine Rekonstruktion standen keine Mittel zur Verfügung. Daher wurden sie durch einen gemalten Sockel mit Kammzugmuster und einem Schablonenfries darüber ersetzt, wie er ursprünglich in den benachbarten Fluren existierte. Im dem oberen Revisionssaal zugehörigen Büro wurde die Schablonenmalerei nach Funden von Farbresten unter späterer Übermalung und Fotos aus der Bauzeit durch den Kirchenmaler Peter Hippelein rekonstruiert. Nach Rücksprache mit dem Landesamt für Denkmalpflege wurde der Eindruck der zwischenzeitlich verschlossenen Verglasung des Lichtschachts durch aufgemalte Glasbausteine angedeutet. Eine Reihe von Kassettenfüllungen in intensiven, frischen Farbtönen vermittelt wieder den ursprünglichen Charakter eines „gehobenen Bureaus“. Im Vestibül sind Stuck und ein Deckenfresko erhalten. Es zeigt die Patrona Bavariae umgeben von Putten, die mit ihren Aktivitäten Handel und damit die Grundlage des Zolls symbolisieren. Die Verkleidungen von Wänden und Säulen aus Muschelkalk waren jedoch bis auf einen kleinen Teil verloren. Sie wurden im Rahmen der Renovierung durch einen den Kalkplatten ähnlichen Anstrich ersetzt. Literatur o. V.: Die Zollneubauten in München. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, Jahrgang 1912, Ausgabe 83 vom 12. Oktober 1912 und Ausgabe 84 vom 16. Oktober 1912 o. V.: Die Zollanlagen an der Landsberger Straße in München. In: Der Industriebau, 5. Jahrgang, Ausgabe 7 (15. Juli 1914), Seiten 151–172 Wolfgang Läpke: Das Hauptzollamt an der Landsberger Straße. In: Monika Müller-Rieger (Hrsg.): Westend – Von der Sendlinger Haid' zum Münchner Stadtteil. Buchendorfer Verlag, 1995, ISBN 3-927984-29-9, Seiten 111–123 Bernd Raschert: Instandsetzung des Hauptzollamts München-West. Artikelserie in Die Mappe – Deutsche Malerzeitschrift, Callway Verlag, Ausgaben 7–9, 1987 Siglinde Franke-Fuchs: 100 Jahre Zoll-Dienstgebäude Landsberger Straße 124, München. Hauptzollamt München, 2012 Weblinks Einzelnachweise Baudenkmal in der Schwanthalerhöhe Erbaut in den 1910er Jahren Zollbauwerk Bauwerk der Reformarchitektur in München Bauwerk des Jugendstils in München Bauwerk in der Schwanthalerhöhe Landsberger Straße (München)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Keltische%20Religion
Keltische Religion
Als keltische Religion wird von der Keltologie die Summe der Institutionen, Riten oder Zeremonien zu bestimmten, den Göttern oder den Verstorbenen gewidmeten Anlässen bezeichnet, die bei den Kelten vor der Christianisierung bestanden. Die Gesamtheit der religiösen und mythischen Erzählungen der Kelten wird hingegen im Artikel keltische Mythologie zusammengefasst. Da die unter dem Begriff Kelten erfassten Völker keine einheitliche Kultur und Politik ausgebildet hatten, sind weder Religion noch Mythologie der Kelten eine geschlossene Einheit. Die religiöse Praxis der Kelten umfasst insgesamt den heiligen Ort, die heilige Zeit, die kultischen und magischen Verrichtungen – Opfer, Gebet und Mantik (Weissagung) –, den Kopfkult, das Sterben und das Totengedenken, das Kultpersonal und die diesem Brauchtum zugrundeliegenden Vorstellungen. Sie ist durch Berichte antiker Autoren und vor allem durch die große Zahl von archäologischen Funden etwas besser belegt als die keltische Götterwelt und die keltische Mythologie. Da jedoch aus Fundstücken und wesentlich später verfassten Texten Glaubensinhalte und dazugehörende Rituale nur unsicher bis gar nicht erschlossen werden können, ist die keltische Religion ebenfalls nur unvollständig rekonstruierbar. Grundlagen und Quellensuche Da es keine schriftlichen Aufzeichnungen aus der keltischen Frühgeschichte gibt, beschränkt sich das Wissen über die Religion dieser Völker auf die mittelalterlichen Aufzeichnungen inselkeltischer Mythen und Sagen, auf Berichte antiker griechischer und römischer Autoren sowie auf die Schlüsse, die aus archäologischen Funden gezogen werden können. Eine Ursache dieser „Schriftverweigerung“ des Kultpersonales wird in der Bestimmung gesehen, dass die Weitergabe besonders des mythischen Wissens ausschließlich mündlich vom Lehrer an seine Adepten erfolgen durfte. Von der profanen Bevölkerung wurde dies nicht so streng eingehalten (siehe auch Oghamschrift). Bei den inselkeltischen Tradierungen (Überlieferungen) ist zu berücksichtigen, dass sie wesentlich später und schon unter dem Einfluss der bereits erfolgten Christianisierung verfasst wurden – die Autoren waren überwiegend christliche Mönche. Die antiken Autoren verwendeten häufig die gängigen Vorurteile ihrer Zeit gegen die Barbarenvölker und kamen dadurch zu einem verzerrten Bild der keltischen Religion. Korrigierend sind oft die Ergebnisse der Archäologie, die nach den Artefakten ein nüchterneres Bild der keltischen Kultur zu geben vermögen. Helmut Birkhan nennt folgende nach ihrer wissenschaftlichen Verlässlichkeit sortierte Quellen für die Erforschung der keltischen Religion: Indigene (von den Kelten verfasste) lateinische oder gallische Texte (Weihesteine, Fluchtafeln) Antike Autoren (Poseidonios, Gaius Iulius Caesar, Marcus Tullius Cicero, Diodor, Strabon, Publius Cornelius Tacitus, Marcus Annaeus Lucanus und andere) Archäologische Funde in Form indigener Bilder (Darstellungen ohne oder mit ganz knappen begleitenden Inschriften) Andere archäologische Funde (aus Gräbern, Kultorten wie Hainen und Quellen) Etymologien und andere sprachwissenschaftliche Argumente Indogermanische Parallelen (Sprache, Dichtform, Religion) Inselkeltische literarische Quellen (walisische und irische Sagenkreise) Späteres Brauchtum, vor allem bei den Inselkelten sowie in der Bretagne (volkstümliches Brauchtum, das auf alte Mythen zurückzuführen ist) Neuzeitliche Erzähltradition (z. B. Märchen) ebenfalls meist bei den Inselkelten und in der Bretagne Heiliger Ort und Kultbildnis Schon in vorkeltischer Zeit waren Höhlen, Felsspalten, Gewässer und andere markante Landschaftspunkte bevorzugte Opferplätze. Wie Funde beweisen, wurden diese Plätze kontinuierlich von den Kelten weiter benutzt, wie das Heidentor bei Egesheim (Landkreis Tuttlingen). Die einer wesentlichen Epoche der Keltenzeit den Namen gebende Fundstätte bei La Tène wird nach neueren Forschungsergebnissen als Kult- und Opferstätte gesehen, ebenso der See Llyn Cerrig Bach auf der britischen Insel Anglesey für die Zeit vom 2. bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. Bei Lucanus ist eine ausführliche Schilderung eines Heiligen Haines bei Massilia (Marseille) mit Altären, rohbehauenen Götterbildern und von Blutopfern besprengten Bäumen zu lesen. Die moderne Forschung sieht darin das klassische literarische Klischee für den archaischen Charakter der keltischen Gebräuche. In späterer Zeit wurden viele der Opferplätze in baulich ausgestaltete Kultstätten umgewandelt. Die keltische Bezeichnung für einen abgegrenzten Sakralbezirk, später für ein architektonisches Heiligtum, war vermutlich nemeton, mit dem griechischen νέμος (Waldung), dem lateinischen nemus (Gehölz) und dem altsächsischen nimid verwandt. Die Begrenzung erfolgte in vorrömischer Zeit durch Wall, Graben und Palisadenzäune, was von den antiken Autoren zwar nicht erwähnt wird, sich durch Ausgrabungen von Viereckschanzen jedoch nachweisen lässt. Ob der keltische Kultbezirk als Wohnort eines Gottes gesehen wurde, wie bei den griechischen und römischen Tempeln, ist nicht feststellbar. Dass dies nur Opferplätze gewesen seien, wird durch die Archäologie eher bestätigt. Eine spätere Nutzung keltischer Sakralbauten als christliche Kirchen ist umstritten und hat nach dem heutigen Wissensstand nur wenige Belege. Der nicht genau lokalisierbare Versammlungsort der Galaterstämme in Kleinasien, drunémeton (Δρυνέμετον), dürfte ebenfalls ein Kultplatz gewesen sein, da er von Druiden betreut wurde. Die in den mittelalterlichen Erzählungen genannten Kultbildnisse sind eher ohne religionsgeschichtlichen Wert, da sie die christlichen Vorstellungen einer auf Bilderverehrung (Idolatrie) fixierten heidnischen Religion verdeutlichen wollen. Die Archäologie fand Skulpturen aus der späten Hallstatt- und frühen Latènezeit, deren Vorbilder über die Etrusker aus dem Mittelmeerraum kamen. Beispiele sind der so genannte Krieger von Hirschlanden und der Fürst vom Glauberg (beide um 500 v. Chr.), bei denen es sich allerdings kaum um Sakralstatuen, sondern eher um Ahnenkult handeln dürfte. Die Statuenbruchstücke aus Entremont und Roquepertuse (siehe Keltischer Kopfkult), Mšecké Žehrovice (Böhmen) und aus der Viereckschanze bei Fellbach-Schmiden stammen ebenfalls aus Kultbezirken. Auch die Reliefdarstellungen auf dem Kessel von Gundestrup werden als anthropomorphe (menschengestaltige) Gottheiten angesehen. In Irland wurden kaum Kultbildnisse gefunden, die mit Sicherheit der vorchristlichen Zeit zuzuordnen wären. Die Sheela-na-Gig-Steinskulpturen, Frauenfiguren, die aggressiv ihre Vulva zur Schau stellen, werden als apotropäisch (Dämonen und Unheil abwehrend) gedeutet. Auch ihr Auftreten wird nur bedingt mit der vorchristlichen Zeit in Verbindung gebracht, da ihre Ursprünge in der mittelalterlichen französisch-spanischen Grenzregion angenommen werden. Eine wichtige Rolle bei Kult und Zeremonien hat der Kessel zu erfüllen (→ siehe Hauptartikel Keltischer Kesselkult). Heilige Zeit Nach Birkhan sind zwei Kalender- und Festsysteme im Celticum zu unterscheiden: ein (möglicherweise druidischer) Mond-Sonnen-Kalender, der durch Fragmente aus Gallien belegt ist, und der eher bäuerliche Jahreskreis, gegliedert in die vier großen Feste Imbolg, Beltane, Lughnasadh und Samhain. Schon in Caesars De bello Gallico (VI, 18) wird auf eine Eigenheit des keltischen Kalendersystems hingewiesen: Das ist heute noch an dem walisischen Wort wythnos (Woche, eigentlich acht Nächte) sowie dem englischen fortnight (14 Tage, eigentlich 14 Nächte) zu erkennen. In den modernen Begriffen Weihnachten, Halloween (= hallow even) und Sonnabend ist ebenfalls dieses System zu erkennen. Ein für die Forschung besonders ergiebiger Kalenderfund war der von Coligny (Département Ain) im November 1897. Neun weitere Fragmente stammen aus Funden bei Villards-d’Héria (Département Jura). Jedoch nennt der Kalender von Coligny keine religiösen Feste und keine Götternamen; die in einigen Monatsnamen dennoch vermuteten sind eher zweifelhaft. Der irische Jahreskreis mit den vier oben genannten Festen ist im Unterschied zum Mond-Sonnen-Kalender aus Coligny auf der Grundlage des Sonnenjahres aufgebaut. Der Jahresbeginn und gleichzeitig der Beginn des Winterhalbjahres wird traditionell mit Samhain (anderthalb Monate nach der Herbst-Tagundnachtgleiche) angenommen. Es folgt Imbolg (anderthalb Monate nach der Wintersonnenwende) der Frühlingsbeginn, Beltane (anderthalb Monate nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche) markiert den Sommerhalbjahresbeginn und Lughnasadh (anderthalb Monate nach der Sommersonnenwende) den Herbstbeginn. Daraus ist der direkte Bezug zum bäuerlichen Jahreskreis erkennbar, der gleichzeitig in diesen Festen Fixpunkte des religiösen Brauchtumes fand und in adaptierter Form, an das Christentum angepasst, heute noch findet. Zu Samhain waren die Síd (Elfenhügel) offen und die Menschen konnten mit den Bewohnern der Anderswelt in Verbindung treten – eine neuzeitliche Entsprechung findet dies im Halloweenfest. Zu Imbolg fanden Fruchtbarkeitsrituale statt – das Fest wird noch heute als Tag der heiligen Brigid (Lá ʼle Bríde) begangen. Zu Beltane wurden die Herdfeuer gelöscht und dann mit Stahl und Stein wieder entzündet – auch jetzt gibt es noch ähnliche Feuer-Zeremonien (siehe Osterfeuer). Zu Lughnasadh wurde des Gottes Lugh und seiner an diesem Tage verstorbenen Ziehmutter Tailtiu gedacht und mit den Wesen aus der Anderen Welt an den Gräbern Verstorbener Kontakt aufgenommen – von den Christen wurde das Fest Lammas (angloirisch) benannt. Kulthandlungen Gebete und Zaubersprüche Über den Wortlaut von Gebeten und die dabei eingenommene Körperhaltung kann mangels Berichten aus der vorchristlichen Zeit keine fundierte Aussage getroffen werden. Die altirischen (guidid) und kymrischen (gweddio) Wörter für „beten“ stammen bereits aus dem christlichen Kontext. Das Gallische uediíumi (zu finden in einer Inschrift aus Larzac uediíumi Maponom, „ich …(?) den Maponos“) dürfte mit kymrisch gŵydd („Gegenwart“) oder irisch fíad („Gesicht“) verwandt sein. Das irische adraid („anbeten“) ist bereits ein Lehnwort vom lateinischen adoro. Die oft bezeugte Haltung mit zum Himmel gereckten Armen muss nicht unbedingt eine Gebetshaltung sein, sie wird beispielsweise von Amergin bei seiner Beschwörung gegen die Túatha Dé Danann und von den Druiden der Insel Anglesey beim Verfluchen der landenden Römer berichtet. Auch ist auf festlandskeltischen Darstellungen oft die Gottheit selbst in dieser Haltung abgebildet (wie der angebliche „Cernunnos“ aus dem Valcamonica und eine Figur auf dem Kessel von Gundestrup). Inwieweit die mehrfach belegten Zaubersprüche mit Gebeten gleichzusetzen sind, ist in Fachkreisen strittig. Beispiele dafür sind Amergins oben genannter Spruch; weiters Fíth-fáth (schottisch-gälisch), féth-fíada (irisch, „Zaubernebel“), ein Zauber zur Verwandlung (in Tiere) und zum Unsichtbar-Machen schließlich Glám dícenn (irisch, „improvisierter Schrei“), anghlod (kymrisch), rituelle Verwünschung, die denjenigen, gegen den sie verwendet wird, geistig und körperlich schädigt. Schwer einzuordnen ist geis, MZ gessi (oder geasa), irisch auch airmert, airmit, von ar-bert, das „Darauftragen“, kymrisch cynnedyf, ein oder mehrere Gebote und Verbote für Einzelpersonen, soziale Gruppen und Volksstämme, im Gegensatz zur rationalen Rechtssatzung, ähnlich einem Tabu. Ähnlich einer Verfluchung wird ein geis häufig von einer zauberkundigen Person einer anderen, meist zu deren Ungunsten, auferlegt. Die ursprünglich eng mit dem Gebet verbundene Funktion des Gutuater wird im Abschnitt Kultpersonal/Druiden näher erläutert. Mantik Die Mantik (Wahrsagung, Zukunftsdeutung) ist in allen alten Religionen ein wesentliches Element gewesen. Der Versuch, den Willen der Götter für die Zukunft herauszufinden, war die treibende Kraft dafür. Erst das Christentum mit seiner strikten Ablehnung heidnischer Bräuche beendete dies. Da sich die mittelalterlichen schriftlichen Aufzeichnungen bereits daran hielten, sind die wenigen entsprechenden Passagen unter diesem Gesichtspunkt zu werten. Opferschau Die Opferschau lässt sich aus archäologischen Funden von Menschen und Tieren naturgemäß nicht von den Opferzeremonien sauber trennen, da es praktisch unmöglich ist, an den Knochenresten mantische Praktiken nachzuweisen. Hier sind die antiken Autoren nahezu die einzige Quelle. Diodor zitiert eine Mitteilung des Poseidonios: Pompeius Trogus und Marcus Iunianus Iustinus berichten ausführlich über die Tätigkeit der Opferschauer, Tacitus schreibt von Menschenopfern zum Zweck der Wahrsagung bei den britannischen Kelten. Auch hier sind Opferschauen an Tieren bei den klassischen Autoren kaum vermerkt, da ihnen diese, im Gegensatz zu denen an Menschen, aus der eigenen Religionspraxis zu vertraut waren und deshalb nicht berichtenswert schienen. In den inselkeltischen Sagen wird nirgendwo direkt über Mantik-Opfer berichtet. Zeichendeutung Die Zeichendeutung, wie das Weissagen aus dem Vogelflug, astronomischen Beobachtungen und anderen außergewöhnlichen Erscheinungen, wird von den antiken Autoren mehrfach erwähnt. Besonders die Deutung des Vogelfluges ist im Zusammenhang mit der Keltenwanderung nach Osten und Süden (Pannonien, Balkan, Italien) bei Diodor, Iustinus und Titus Livius ein immer wieder erwähnter Brauch. Cicero berichtet über seinen Klienten, den Galaterkönig Deiotaros, er habe nichts unternommen, ohne vorher den Vogelflug beobachten zu lassen, und er habe schon begonnene Reisen abgebrochen, wenn es ungünstige Zeichen gab. Strabon erzählt, in einem Hafen an der Atlantikküste habe es ein weitberühmtes Raben-Orakel gegeben, und der Pseudo-Plutarch erwähnt ebenfalls Raben als glückverheißendes Zeichen bei der Gründung von Lugudunum (Lyon). Die hohe Kenntnis der keltischen Druiden in der Sternkunde wird von allen antiken Autoren erwähnt, nur für Irland scheint dies eher nicht gegolten zu haben. Polybios (5,78,1) berichtet über eine Mondfinsternis während des Krieges zwischen den Königen Attalos I. und Achaios, worauf die keltischen Söldner den Weitermarsch verweigert hätten. Nekromantie und Traumdeutung Nekromantie (Totenbeschwörung) und Traumdeutung werden in einigen Hinweisen bezeugt, so bei Nikandros aus Kolophon über den keltischen Brauch, an Gräbern zu nächtigen und von den Verstorbenen Zukunftsdeutungen zu erlangen. In den inselkeltischen Sagen berichten wieder auferstandene Heroen, wie Fergus mac Róich in der Táin Bó Cuailnge (der „Rinderraub von Cooley“), oder mehrere Helden in Acallam na Senórach (der „Erzählung der Alten“) – hier handelt es sich jedoch nicht um Weissagungen, sondern um Berichte von mythischen „Zeitzeugen“ – über ihre Erlebnisse. Eine Traumoffenbarung wird durch Iustinus nach Pompeius Trogus tradiert: Der Keltenfürst Catumarandus habe die Belagerung Massilias (Marseille) wegen eines Traumes abgebrochen, in dem ihm eine Göttin erschienen sei und vor der Fortführung gewarnt habe. Von den Inselkelten ist im Tecosca Cormaic („Die Lehren Cormacs“) und im Togail Bruidne Da Derga („Die Zerstörung der Halle Da Dergas“) das Traumorakel mit Hilfe von rituellen Speisen und daraufhin folgendem Tiefschlaf überliefert. Auch in der Satire Breuddwyd Rhonabwy („Rhonabwys Traum“) wird der Held im Schlafe aus einer schmutzigen Herberge an den Königshof von Artus versetzt, wo er einen Blick in die Zukunft macht. Die Dichter (filid) hatten bei ihrer Ausbildung verschiedene Wahrsagepraktiken zu lernen, darunter imbas forosna, teinm laída und díchetal do chennaib („das umfassende Wissen, das aufhellt“, „Eröffnung durch ein Lied“ und „improvisierte Anrufung“), die zum Teil mit Traumdeutung in Verbindung zu bringen sind. Imbas forosna, kymrisch awenydd, ist eine Weissagung durch Tieropferung, Fleischgenuss und Schlaf. Ähnlich sind das teinm laída und das díchetal do chennaib, beide allerdings ohne Tieropfer. Totenbrauchtum Das keltische Grabbrauchtum zeigt eine deutliche Kontinuität bei der Benutzung vorhandener Nekropolen; so sind Stätten der Urnenfelderkultur und der darauf folgenden, älteren Hallstattkultur von den frühkeltischen Vertretern der Späthallstattkultur ohne Unterbrechung weiter benutzt worden. In der Nekropole von Pîtres-La Remise (Normandie) reicht dieser Zeitraum von der Spätlatènezeit bis in die Spätantike, im Archäologiepark Belginum bei Wederath im Hunsrück vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. Die Riten bei Begräbnissen sind aus den archäologischen Funden nur schwer herauszulesen. Zerschlagene Tongefäße (Weinamphoren), Waffen und Gegenstände des täglichen Lebens als Grabbeigaben, sowie Hinweise auf Konservierung des Leichnams (ähnlich der Einbalsamierung von Kopftrophäen) deuten auf ein Zeremoniale bei der Grablegung hin. Eine offenbar beliebte Kostbarkeit als Beigabe war die Fischsauce garum aus der keltiberischen Provinz Baetica, die auch im Grab einer hochgestellten Trevererin („Dame von Goeblange-Nospelt“, Luxemburg) vorgefunden wurde. Bei Caesar (de bello Gallico VI,19,4.) ist über Feuerbestattung und Totenfolge zu lesen: Diese Form der Leichenbestattung mit Totenfolge der Angehörigen durch Feuer wird auch bei Poseidonios und Diodor von Sizilien beschrieben. Die Totenfolge gab es nach archäologischen Funden auch manchmal bei Erdbegräbnissen. In der inselkeltischen Sage werden ebenfalls Leichenfeiern beschrieben, so beispielsweise im Zweiten Zweig des Mabinogi, wo in Branwen ferch Llŷr („Branwen, die Tochter Llŷrs“) erzählt wird: Religionsgeschichtlich ist bei Zitaten aus dem inselkeltischen Sagenschatz zu bedenken, dass die Autoren einerseits heidnische Riten unterdrückt, andrerseits christliches Brauchtum in die Vergangenheit rückprojiziert haben. So wird nach einem mittelirischen Text der Táin Bó Cuailnge („Der Rinderraub von Cooley“) der Krieger Etarcomol feierlich begraben und an seinem Grab ein Stein mit Oghamschrift aufgestellt. Die häufig erwähnten Totenklagen sind als gesichert anzunehmen, denn sie wurden bis in die Neuzeit hinein von kirchlichen Stellen verurteilt. Opfer Opferhandlungen, also Mensch-, Tier- oder Sachopfer, waren ein wesentlicher Teil der Kulthandlungen. Allerdings wird er von den klassischen Autoren sehr allgemein beschrieben und die inselkeltischen mittelalterlichen Überlieferungen berichten kaum darüber. Einigermaßen gesichert sind nach dem Anlass der Opferzeremonien Bitt- und Dankopfer, Sühneopfer, Bauopfer und die schon erwähnte Totenfolge zu unterscheiden. Materiell sind die Opferhandlungen nach der Form der Opfergaben zu unterscheiden: Menschen, Tiere oder Sachwerte. Menschenopfer Die Menschenopfer nehmen in den ethnographischen Berichten der Griechen und Römer den größten Raum ein, was jedoch kein Beweis für deren unverhältnismäßig hohen Anteil an den Opfern insgesamt ist, sondern lediglich das Interesse der Autoren an einem barbarischen Brauch widerspiegelt, den sie selbst einst pflegten. Von Sopatros von Paphos (4./3. Jahrhundert v. Chr.) über Poseidonios bis zu Cicero und Caesar sind dazu Äußerungen aufzufinden. Caesar schreibt dazu im bellum Gallicum (VI,16,1–5.): Er erwähnt auch an dieser Stelle den Brauch des Wicker man, bei dem ein aus Ruten geflochtenes riesiges Standbild (immani magnitudine simulacra) mit Menschen gefüllt und angezündet werde. Dieser fragwürdige Bericht geht möglicherweise auf eine Stelle bei Poseidonios zurück, die auch von Strabon (IV, 4,5) und Diodor (V, 32) zitiert wird. In den Berner Lukan-Scholien werden für die Götter Teutates, Esus und Taranis verschiedene Opferriten beschrieben. Die Opferung durch Versenken in einem Moor war offenbar sowohl auf dem Festland als auch im inselkeltischen Bereich gebräuchlich. Als Beispiele dafür könnten der Lindow-Mann aus England und der Old-Croghan-Mann aus Irland stehen, die beide deutliche Tötungsspuren zeigen, wenn auch hier eine saubere Trennung zwischen Opferung oder Hinrichtung schwerfällt. Auf die Opferung des Königs wird beim Sakralkönigtum eingegangen. Tieropfer Tieropfer werden aus dem oben genannten Grund eher selten erwähnt, da sie in dieser Zeit einen selbstverständlichen Brauch darstellten, der den antiken Autoren deshalb kaum der Erwähnung wert schien. Hier sind die archäologischen Funde aus der Latènezeit (5.–1. Jahrhundert v. Chr.) eine ergiebigere Quelle. Die Kelten opferten hauptsächlich Haustiere, vor allem Rinder, Schafe, Schweine, Hunde und Pferde. Viele davon wurden nach der Opferung rituell verzehrt. Eine Einteilung, welche Tiere wann, auf welche Weise und wem geopfert wurden, beruht meist auf Spekulation, es sind sowohl im Zeithorizont der Grabungen als auch regional gewisse vor sich gehende Veränderungen feststellbar. So wurden im Heiligtum von Gournay-sur-Aronde anfangs meist Schafe und Schweine, später Schafe, Rinder und Hunde geopfert. Sachopfer Die Sachopfer sind wiederum ausführlicher dokumentiert, bei Caesar ist folgender Absatz zu finden (de bello Gallico VI,17,3–5.): Bei Sueton ist zu lesen, dass Caesar diese Opferanhäufungen gezielt plündern ließ und dadurch in Italien eine Goldschwemme hervorrief. Den Heilgottheiten wurden oft Miniaturplastiken der kranken Körperteile aus Terrakotta oder Wachs geopfert – ein Brauch, der bis heute noch an christlichen Wallfahrtsorten anzutreffen ist. Die Opfergaben wurden meist durch Zerschlagen, Zerbrechen oder Verbiegen für eine profane Verwendung unbrauchbar gemacht. Dass dabei Metallgegenstände, wie Waffen (in La Tène, Llyn Cerrig Bach und aus Gewässern in Süd-Britannien) sowie die oft goldenen Torques (Halsringe), den Großteil der gefundenen Artefakte ausmachen, ist auf das langsamere Verrotten im Vergleich zu Tuch, Wachs und Lebensmittel zurückzuführen. Gregor von Tours nennt bei seiner Beschreibung einer Opferzeremonie gerade diese letztgenannten als besonders häufige Donationen. Kopfkult Die Schädelfaszination der Kelten, auch Schädelkult oder Schädelmystik genannt, ist einerseits auf religiöse Beweggründe zurückzuführen: Der Kopf steht als pars pro toto für den Menschen, der besiegt wurde oder den es zu ehren gilt; deshalb die Aufbewahrung an Kultorten wie Entremont oder Roquepertuse. Andererseits ist die Kopfjagd in der Schlacht ein Beweis für die Kampfkraft des Kriegers, wie Diodor beschreibt: Die inselkeltischen Mythen behandeln dieses Thema ausführlich und geben der Enthauptung des Feindes und der Präparierung seines Schädels als Trophäe breiten Raum. Oft wird nur das Gehirn präpariert und aufbewahrt, wie in der Sage Cath Étair („Die Schlacht von Étar“) über den Kopf von Mes Gegra erzählt wird. Der siegreiche Held Conall Cernach befiehlt seinem Wagenlenker: In allen diesen Fällen ist eine apotropäische Handlung, die Unheil abwenden und den Geist des Toten bannen soll, als zusätzliche Absicht des Aufbewahrers oder Stifters anzunehmen. Auch der Kopf des walisischen Königs Bran der Gesegnete, der nach dem Mabinogion in Irland getötet und enthauptet wird, erfüllt einen ähnlichen Zweck: Seine Gefährten bestatten ihn im „Weißen Berg“ (Gwynvryn), wahrscheinlich dem ältesten Teil des Tower of London, mit dem Blick nach Osten, damit Britannien vor Feinden vom Festland geschützt werde. Kultpersonal Die Vorstellung eines differenzierten Kultpersonals bei den Kelten ist zwar durch antike Autoren reichlich belegt, aber die archäologischen Funde dazu sind dürftiger und mehr als indirekte Hinweise zu sehen. Damit ist gemeint, dass die aufgefundenen großen Kultstätten ein entsprechendes Kultpersonal benötigt haben müssen. Strabon nennt die drei Stände der Kultoffizianten: Die drei Klassen werden latinisiert druides (Druiden), vātes (Seher) und bardi (Dichter, Barden) genannt. Im vorchristlichen Irland sind die entsprechenden Bezeichnungen druïd, fáithi und baird, in Wales (kymrische Sprache) dryw oder derwydd, dewin und bard oder awenydd. Druiden Diogenes Laertios (vermutlich 3. Jh. n. Chr.) berichtet in seinem Werk Über Leben und Lehren berühmter Philosophen (altgriechisch: φιλοσόφων βίων καὶ δογμάτων συναγωγή) von der Theorie, die Philosophie habe bei den Barbaren ihren Anfang genommen. Er erwähnt die Magier der Perser, die Chaldäer der Babylonier und Assyrer, die Gymnosophisten der Inder und die Druiden der Kelten. Nach Pseudo-Aristoteles und Sotion von Alexandria wären die Druiden und ihre Funktion schon seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bekannt gewesen. Diodor von Sizilien nennt sie hochverehrte Theologen und Philosophen: In vier gallischen Weiheinschriften aus Le Puy-en-Velay (Département Haute-Loire), Autun und Mâcon (beide Département Saône-et-Loire) trägt der oberste Druide Galliens den Titel Gutuater („Vater des Anrufes“). Dieser Name leitet sich ab von der Indogermanischen Wortwurzel *ĝhu-, gutu-, air. guth („Stimme“) sowie -ater, -athir („Vater“, vom lateinischen pater mit keltischem p-Verlust). Seine ursprüngliche Aufgabe war vermutlich die Anrufung des zum Opfer herbeizurufenden Gottes. Bei Caesar (de bello Gallico, VIII,38,3.) wird diese Bezeichnung für den Anstifter des Krieges gegen die Römer im Zusammenhang mit seiner Hinrichtung genannt, möglicherweise meinte er damit dessen Eigennamen. In den irischen Sagen wird überliefert, dass ein Krieger in der Königshalle erst sprechen durfte, wenn vor ihm der König und vor diesem drei Druiden das Wort ergriffen hatten. Sualtam, der Vater Cú Chulainns, missachtet in einer für Ulster sehr gefährlichen Situation diese Vorschrift (geis), um seine Landsleute zu warnen, und soll deswegen sofort hingerichtet werden. Auf seiner Flucht davor kommt er durch einen Sturz zu Tode. Die Druiden hatten ihr weibliches Pendant in den Druidinnen, die seit dem keltischen Altertum durch Überlieferungen bezeugt sind und besonders in der römischen Kaiserzeit (unter den Bezeichnungen dryadae und druidas) vor allem als Seherinnen genannt werden. Ihre Hauptaufgabe dürfte stets die Mantik gewesen sein. Prophezeiungen solcher Druidinnen für die römischen Kaiser Severus Alexander, Diokletian und Aurelian sind im Sammelwerk Scriptores historiae Augustae tradiert, das angeblich von sechs sonst nicht bekannten römischen Autoren geschrieben wurde. Vates Die Vates („Seher“) sind Wahrsager, die ähnlich den Druiden eine Ausbildung mit ausschließlich mündlicher Weitergabe des tradierten Wissens zu durchlaufen hatten. Ihre Aufgaben überschnitten sich mit denen der Druiden und Barden, wobei sie nach Auskunft antiker Autoren eine Mittelstellung innehatten. Filid Die Filid („Dichter“ oder „Barden“) sind die dritte Gruppe des Kultpersonals, auch bei ihnen gibt es eine Aufgabenteilung mit den Druiden und Vates, vor allem nach Beseitigung des Druidentums durch die christlichen Mönche und Priester. Wie die Druiden oder Vates konnten sie den künftigen Herrscher durch Mantik erkennen, sie besaßen umfassendes Wissen, Heilkraft und magische Fähigkeiten, wie die Kraft der Verfluchung (altirisch glám dícenn). In der irischen Sage Immacallam in dá Thuarad („Die Unterredung der beiden Weisen“) wird ein Wettstreit zweier filid vor dem König um den Titel des obersten Dichters Irlands (ollam) beschrieben. Das Buch Auraicept na nÉces („Leitfaden für den gelehrten Dichter“) ist eine Sammlung von Regeln für Grammatik und Metrik, die ein fili zu beherrschen hatte. Sakralkönigtum Die keltische Gesellschaft war streng hierarchisch geordnet. Daher nimmt die Forschung eine religiöse Grundlage dieses Systems an. Nach einigen Keltologen gab es ursprünglich ein Priesterkönigtum, das sich später in weltliche (König) und geistliche (Druide) Herrscher teilte. In Gallien war zu Caesars Zeit das Königtum bei den keltischen Stämmen großteils durch das Regierungssystem des Vergobret (gewählter Amtsinhaber) ersetzt worden, deshalb ist das vermutlich ursprüngliche Sakralkönigtum (Gottkönig) vor allem in den irischen Sagen überliefert. Da dieses Sakralkönigtum der Angelpunkt der sozialen Ordnung des Stammes war, sah man den König als dessen Personifizierung an und ein Makel in der Amtsführung oder an seiner Person galt als verantwortlich für jedes Unheil, das sein Herrschaftsgebiet betraf. Darum war die „Gerechtigkeit des Königs“ (fír flathemon) unabdingbar. Der Sakralkönig erhielt in Irland seine Legitimation durch eine mythische Weissagung der filid, die ihn als neuen Herrscher prophezeite (tarb-feis, der „Stierschlaf“, das Erkennen des neuen Königs durch einen Traum in Trance.). Weitere Kennzeichen waren der Schrei des Steines von Fál (Lia Fáil) und das Auseinanderweichen der beiden Steine blocc und bluigne in Tara. Ein wesentlicher Punkt seiner Amtseinführung war auch die „Heilige Hochzeit“ (griechisch ιερός γάμος, Hieròs gámos; altirisch banais rígi). Diese Zeremonie symbolisierte die Einsetzung eines Königs durch seine Hochzeit mit einer meist lokalen Göttin oder mit der Personifikation des Landes. In Tara wurde deshalb bei der Neueinsetzung eines Königs das feis temhra („Hochzeitsfest von Tara“, von indogerm. *h2ṷes- „beiwohnen, beischlafen“), auch banais rígi („Hochzeitsfest des Königs“) genannt, feierlich begangen. Dies konnte eine symbolische Zeremonie, die Verbindung mit der Priesterin der Landesgöttin, mit einer realen Königin, aber angeblich auch mit einem weiblichen Tier sein; erst danach wurde der König als solcher anerkannt. Cormac mac Airt war durch seine Verbindung mit Medb, die hier als Herrschaftsgöttin Irlands gesehen wird, ausersehen, Hochkönig zu sein. Giraldus Cambrensis schreibt 1185 in seiner Topographia Hibernica über eine Königsinauguration in Nordirland: Giraldus wähnte die Iren allerdings auf einer sehr niedrigen Zivilisationsstufe, ein „Volk, das von den Tieren und wie die Tiere lebt“ (gens ex bestiis solum et bestialiter vivens), so dass diese Schilderung heute als Ausdruck seiner Verachtung für „Barbaren“ gesehen und eher bezweifelt wird. Eine Rekonstruktion der „Heiligen Hochzeit“ aus den erhaltenen Mythen ist im Hinblick auf die Vermischung heidnischer, christlicher und klassischer Traditionen mit großer Vorsicht zu sehen. Nach Jan de Vries war die gewaltsame Tötung des Sakralkönigs am Ende seiner Herrschaft eine Opfergabe für das Gedeihen des Landes. Bei Athenaios (Deipnosophistai VI, 40) wird Polybios zitiert, der von einer rituellen Tötung eines keltischen Herrschers berichtet, dem am Ende einer Feier zeremoniell die Kehle durchgeschnitten wird. Rezeption im Neopaganismus Die lückenhafte Quellenlage der keltischen Religion begünstigt eine spekulative und fantasievolle Interpretation im Neopaganismus (Neuheidentum) und seinen Versionen Keltischer Neopaganismus, Neuzeitliches Druidentum, dem anti-patriarchalischen Wicca-Kult und anderen. Auch Autoren wie James Macpherson („Ossian“), Iolo Morganwg („Barddas“) und in neuerer Zeit Robert Graves („Die weiße Göttin“) oder Ingeborg Clarus („Keltische Mythen“) haben durch ihre Werke dazu beigetragen. Eine den oben genannten Kapiteln entsprechende Einteilung kann auch zum Teil in den neopaganen Theorien gefunden werden. Heilige Orte Mangels erhaltener spektakulärer keltischer Sakralbauten werden besonders Objekte der jungsteinzeitlichen Megalithkultur als Orte für neopagane, vor allem neudruidische Zeremonien verwendet (Dolmen, Menhire, Steinkreise wie Stonehenge oder Avebury) sowie Naturdenkmäler wie die Externsteine im Teutoburger Wald. Heilige Zeit Aus den rudimentär belegten vier Hauptfesten „Samhain“, „Imbolg“, „Beltane“ und „Lughnasadh“ sowie Interpretationen des „Kalenders von Coligny“ entwickelte sich das esoterische System des Keltischen Jahreskreises, des Keltischen Baumhoroskopes und des Baumkalenders. Mantik Das „Coelbren“ von Iolo Morganwg sowie das „Druiden-Tarot“ dienen neben anderen Praktiken der Weissagung. Opfer Ein neudruidisches Menschenopfer brachte 1893 William Price aus Llantrisant, der sich gemeinsam mit seinem kleinen Sohn Iesu Crist in selbst erfundenen Druidenkostümen verbrannte. 1992 versuchte der österreichische Neudruide Stephan D., der einem Kreis um den Melker „Druiden Raborne“ angehörte, seinen 8 Monate alten Sohn auf einem „Opferstein“ im Waldviertel (Niederösterreich) durch Messerstiche zu opfern (Tageszeitung Kurier vom 11. November 1992). Bilder von William Price in seinem „Druidengewand“ sowie des „Opfersteines“ vom Waldviertel und des damaligen gerichtlichen Lokalaugenscheins sind im Werk „Kelten – Bilder ihrer Kultur“ zu sehen. Kultpersonal Die Druiden sind im neopaganen Neudruidentum ein wichtiger Faktor als Träger des Zeremoniales und der Mantik. Einen anderen Weg beschreitet die International Grand Lodge of Druidism, die nichts mit den religiösen Aufgaben der keltischen Druiden zu tun hat. Siehe auch Liste keltischer Götter und Sagengestalten Liste der Gottheiten in den Asterix-Comics Keltomanie Literatur Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997, ISBN 3-7001-2609-3. Helmut Birkhan: Nachantike Keltenrezeption. Praesens Verlag, Wien 2009, ISBN 978-3-7069-0541-1. Hans-Ulrich Cain, Sabine Rieckhoff (Hrsg.), Fromm – Fremd – Barbarisch. Die Religion der Kelten. Katalog der Sonderausstellung vom 14. April bis 15. Juni 2002, Leipzig. Zabern, Mainz 2002. ISBN 978-3-8053-2899-9 Ray Dunning: Die Kelten. In: Arthur Cotterell: Mythologie – Götter, Helden, Mythen. Parragon, Bath 2004, ISBN 1-4054-2108-8. Andreas Hofeneder, Patrizia de Bernardo Stempel (Hrsg.): Keltische Theonymie, Kulte, interpretatio. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2013, ISBN 978-3-7001-7369-4. Bernhard Maier: Lexikon der keltischen Religion und Kultur (= Kröners Taschenausgabe. Band 466). Kröner, Stuttgart 1994, ISBN 3-520-46601-5. Bernhard Maier: Die Religion der Kelten. Götter – Mythen – Weltbild. Verlag C.H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-48234-1. Wolfgang Meid: Keltische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Zeitschrift für celtische Philologie (ZcP), Vol. 53, Nr. 1, April 2003. Proinsias Mac Cana, Joseph F. Nagy: Celtic Religion. An Overview – History of Study. In: Lindsay Jones (Hrsg.): Encyclopedia of Religion. 2. Auflage. 2005, ISBN 0-02-865736-5, Band 3, S. 1487–1501 Jan de Vries: Keltische Religion. Ed. Amalia, 2006, ISBN 978-3-905581-20-1 (Nachdruck der Ausgabe 1961) Weblinks Einzelnachweise Kult Historische Religion Polytheistische Religion
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https://de.wikipedia.org/wiki/Calumet%20City
Calumet City
Calumet City [] ist eine Stadt im Cook County im Nordosten des amerikanischen Bundesstaates Illinois. Die Stadt grenzt im Osten an den Bundesstaat Indiana; im Norden liegt in fünf Kilometer Entfernung die Küste des Lake Michigan. Das Zentrum von Chicago, zu dessen Metropolregion Calumet City gehört, befindet sich 30 Kilometer nordwestlich der Stadt, die komplett von besiedeltem Gebiet umgeben ist. 2020 hatte Calumet City 36.033 Einwohner. Die erste Besiedlung des Stadtgebiets durch deutsch- und polnischstämmige Einwanderer fand ab Mitte des 19. Jahrhunderts statt. 1893 wurde der so entstehende Ort unter dem Namen West Hammond offiziell gegründet. In der Zeit der Prohibition wurde die Stadt – begünstigt durch ihre Lage an der Bundesstaatsgrenze – zum Zentrum von Alkoholschmuggel und -konsum, Glücksspiel und Prostitution. 1923 wurde die Stadt in Calumet City umbenannt, um das Image als Sin City („Sündenstadt“) abzuschütteln. Abseits des ausgedehnten Rotlichtviertels behielt sie den Charakter einer Arbeiterstadt, deren Bewohner in den umliegenden Stahlwerken und Raffinerien arbeiteten. Mit dem Niedergang dieser Industrien kam es seit den 1970er Jahren zu einer erheblichen Veränderung in der Zusammensetzung der vormals fast ausschließlich weißen Bevölkerung, deren Anteil bis 2010 auf 13 % sank, während der Anteil der schwarzen Bevölkerung auf 70 % stieg. Geografie Lage und Topografie Die Ostgrenze von Calumet City wird durch die schnurgerade, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Bundesstaatsgrenze zwischen Illinois und Indiana gebildet, die an dieser Stelle gleichzeitig Stadtgrenze zu Hammond ist. Weiter im Uhrzeigersinn sind die Nachbarorte im Süden Lansing, dann im Südwesten und Westen South Holland, im Nordwesten Dolton und ganz im Norden Chicago. Nordöstliche Nachbargemeinde ist Burnham, das wiederum an Hammond anschließt. Die südliche Stadtgrenze zu Lansing wird größtenteils durch den Little Calumet River gebildet und ist dadurch unregelmäßig geformt. Der Little Calumet fließt Richtung Westen in den Cal-Sag Channel und ist an der Stadtgrenze um die zehn Meter breit. Wie bei allen Flüssen und Kanälen der Gegend treten ob des geringen Gefälles und der Schleusen keine hohen Fließgeschwindigkeiten auf. Die Belastung der Fließgewässer durch die Umwelt ist teils sehr hoch. An der nordöstlichen Grenze zu Chicago fließt der hier etwa 150 Meter breite Calumet River mit einer Fluss-Schlaufe über das Gebiet von Calumet City. Das nördlich des Flusses von Fluss-Schlaufe und Bishop Ford Freeway eingeschlossene Gebiet gehört bis zur Höhe der 138th Street zu Calumet City und wird als Deponie für Industrieabfälle und Hausmüll benutzt. Betreiber des CWM CID landfill ist Chemical Waste Management Inc. (CWM), die Deponiegesellschaft ist Calumet Industrial Development Corp. (CID). Die Deponie liegt teils auf dem Gebiet von Calumet City, teils auf dem Gebiet von Chicago. Etwa 600 Meter nördlich der Stadtgrenze wird der Calumet River durch den T.J.-O'Brien-Damm abgetrennt, der das Wassersystem des Lake Michigan bei Sturm und Überschwemmungen vor kontaminierten Abflüssen aus dem Calumet-River-System schützen soll. Der Damm ist mit einer Schleuse der Dimension 305 × 33 m ausgestattet und erlaubt das Passieren von Schubverbänden mit bis zu 14 Leichtern. Die nordöstliche Grenze zu Burnham bildet teilweise der Grand Calumet River, hier keine acht Meter breit. Die westliche Stadtgrenze zu Dolton verläuft am Bishop Ford Freeway (Interstate 94), weiter südlich ist der Verlauf der westlichen Stadtgrenze zu South Holland durch den Einschnitt der Sand Ridge Prairie Nature Reserve unregelmäßiger. Das geschützte Präriegebiet ist ein Teil der Cook County Forest Preserve. Das Naturgebiet ist ungefähr 1,5 × 1,5 km groß und bildet zusammen mit dem östlich gelegenen Friedhof Holy Cross Cemetery und dem anschließenden Calumet Park und Wentworth Woods einen Grüngürtel durch das Stadtgebiet. Geologie Der tiefe Untergrund von Calumet City wird vorwiegend von präkambrischen und paläozoischen Gesteinen des Kambriums bis Silurs gebildet. Die etwa 1000 m mächtigen paläozoischen Gesteine bestehen vorwiegend aus Karbonatgesteinen (Kalkstein und Dolomit) sowie im oberen Bereich aus oberkarbonischen Schiefern. Eine entscheidende Überprägung der Morphologie erfuhr die Gegend im Quartär. Mehrere Gletschervorstöße hinterließen im Stadtgebiet mächtige Sedimentablagerungen im Bereich von Grund- und Endmoränen. Die jüngsten Ablagerungen stellen die glazio- lakustrinen Sedimente der Chicago Lake Plain dar, die den nordöstlichen Teil des Upper Illinois River Basin („Oberes Illinois Flussbecken“) bilden. Die quartären Ablagerungen werden überwiegend durch Bändertone, Schluffe und Sande aufgebaut, in die einzelnen Kiesbänke und Lokalmoränen eingelagert sind. Diese Sedimente bilden einen Teil eines wichtigen Grundwasserreservoirs, das den Großraum Chicago mit Trinkwasser versorgt. Klima Die Stadt liegt in der kontinental-warmgemäßigten Klimazone (Köppen-Klassifikation Dfa), die durch kühle Winter und warme Sommer geprägt ist. Im Sommer fällt mehr Niederschlag als im Winter, wobei die Nähe des Lake Michigan das Klima mit Luftfeuchte und Winden prägt. Die durchschnittliche Tageshöchsttemperatur beträgt im Sommer 27 bis 28 Grad Celsius, im Winter liegt die durchschnittliche Tagestiefsttemperatur bei −7 bis −10 Grad Celsius. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt im Mittel 967 Millimeter. Geschichte Vorgeschichte und Besiedlung des heutigen Stadtgebiets bis 1893 Im Gebiet des heutigen Calumet City wurden Pfeilspitzen und andere auf die Zeit vor der europäischen Besiedlung datierte Spuren gefunden, die auf eine mindestens zeitweilige Gegenwart von Indianern schließen lassen. Beim Sand Ridge Nature Center an der heutigen Paxton Avenue befand sich eine indianische „chipping station“; dort wurden mittels Schlagtechniken steinerne Pfeilspitzen hergestellt. Das Gebiet ist ein natürlicher Durchgangspunkt für Fußwege zur südlichen Umgehung des Lake Michigan, da die High Tolleston Shoreline hier verläuft. Nordöstlich dieser Linie zum Lake Michigan hin ist das Gebiet durch Dünen, Sümpfe und Bodenwellen, die in rechtem Winkel zum Seeufer verlaufen, nur schwer passierbar. Der historische Fußweg verläuft nahe der High Tolleston Shoreline und entspricht in etwa der heutigen Michigan City Road. Im Gebiet des Calumet River, der die Stadt durchfließt und ihr den Namen gab, lebten vor der Ankunft der Europäer die Miami, die Anfang des 19. Jahrhunderts von den Potawatomi verdrängt wurden, die ihrerseits von den Weißen aus ihren Siedlungsgebieten im östlichen Michigan verdrängt worden waren. Auch Ottawa kamen in das Gebiet. Die ersten europäischen Siedler auf dem heutigen Stadtgebiet waren Deutsche: Hans und Louise Schrum aus Hamburg siedelten 1863 im Süden des heutigen Stadtgebiets direkt an der Grenze zu Indiana und richteten dort ihre Farm ein. Weitere deutsche Einwanderer folgten, die entstehende Siedlung wurde nach der Siedlerfamilie Schrumville genannt. Auf ihrem Farmgelände betrieb die Familie Schrum später eine Molkerei (Calumet Dairy) und einen Betrieb zur Herstellung von sauren Gurken (Schrum Pickle Works), welcher bis 1973 bestand. Die Calumet City Historical Society hat das Blockhaus der Familie bewahrt, es wurde aber von seinem ursprünglichen Standpunkt versetzt. 1868 wurde östlich der Farm der Schrums – im bald darauf nach den Unternehmensgründern Hammond benannten Ort im Nachbarstaat Indiana – der Schlachthof G. H. Hammond Meat Packing Plant gegründet. Die Arbeitsmöglichkeiten im Schlachthof zogen viele deutsche Einwanderer an. Manche dieser Arbeiter ließen sich westlich der Illinois-Indiana-Grenze nieder. Ihre Siedlung wurde West Hammond, Illinois genannt. Ab Ende der 1880er Jahre kamen einige polnische Einwanderer in das Gebiet und ließen sich nahe der High Tolleston Shoreline nieder, heute die Gegend um die Pulaski Road. Im September 1890 kaufte ein Investoren-Syndikat unter Führung von Oliver Brooks unweit des Hammond-Schlachthofs 1,3 Mio. m² Land, um darauf eine Siedlung zu entwickeln und die Einzelgrundstücke gewinnbringend zu veräußern. Die Investition kostete das Syndikat 200.000 USD inklusive Planungs-, Rodungs- und Teilungs-Kosten, das entspricht 0,15 USD/m², heute ungefähr  USD/m². Im Januar 1891 war das Land in 36 Blöcke mit jeweils 48 Hausgrundstücken eingeteilt; insgesamt 1728 Grundstücke. Im Vergleich zu den seinerzeit nur 8000 Einwohnern von Hammond war das eine beachtliche Zahl und die bis dato größte Immobilienentwicklung in Chicago und Umgebung. Die Grundstücke wurden bewusst an polnischstämmige Einwanderer vermarktet. Um die Ansiedlung zu befördern, wurde ein polnischer Makler mit dem Vertrieb beauftragt und die Errichtung einer polnischen Kirche organisiert. Die erste Messe wurde dort 1892 gehalten. Der Ort hieß Sobieski Park, nach dem polnischen Feldherrn und Nationalhelden Sobieski. 1900 waren in der Neubausiedlung 234 polnische Familien ansässig, insgesamt etwa 1400 Personen. Die ältesten beiden Kirchen im heutigen Calumet City spiegeln die deutsch-polnische Zusammensetzung der ersten Siedler wider: Die deutsche Gemeinde baute 1888 die lutheranische Kirche St. John und die polnische Gemeinde folgte 1891/1892 mit der katholischen Kirche St. Andrew. Von der Stadtgründung bis zum City-Status (1893–1911) 1893 hatten die drei Siedlungskerne Schrumville, West Hammond und Sobieski Park zusammen 500 Einwohner, dabei überwog die Zahl der Deutschstämmigen. Im selben Jahr erfolgte nach Zustimmung der Einwohner der Zusammenschluss des Gebiets als Village unter dem Namen West Hammond. 1898 eröffnete die erste Post. 1900 zählte West Hammond bereits 3000 Einwohner. Im Oktober 1901 brannte die G.H. Hammond Meat Packing Plant in Hammond komplett aus. Zu dem Zeitpunkt lag dort die jährliche Verarbeitungskapazität bei mehr als 300.000 Stück Rind, auf einer Betriebsfläche von 120.000 m² arbeiteten vor dem Feuer mehr als 2000 Menschen. Der Fleischmagnat J. Ogden Armour erwarb daraufhin die Hammond-Holding, nachdem ein Anti-Trust-Gericht diesen Zusammenschluss jedoch verbot, schloss Ogden Armour den Schlachthof in Hammond komplett und konsolidierte den Betrieb in Chicago. Viele der 2000 Schlachthofarbeiter, die so ihren Arbeitsplatz verloren, lebten in West Hammond. Ein Teil von ihnen fand Beschäftigung in der Stärke-Fabrik Stein, Hirsh & Co, in der Druckerei von Bernard Burczyk sowie in der Brauerei West Hammond Brewing Company. 1907 wurde erstmals ein Mann polnischer Abstammung zum Bürgermeister („village president“) gewählt. 1910 unternahm Village-Präsident John Hessler den ersten Versuch, West Hammond den Status einer City zu geben. Neben der Möglichkeit der einfacheren Angliederung von umliegenden Gebieten und den daraus resultierenden Steuereinnahmen sprachen dafür aus Sicht der nicht-polnischen Politiker und Geschäftsleute vor allem die Unterschiede in der politischen Organisation zwischen Village und City. Die polnische Bevölkerung in West Hammond hatte inzwischen die klare Mehrheit. In einem Village würde nur ein Gemeinderat gewählt werden, der nach dem Mehrheitswahlrecht allein von Polen dominiert sein würde. In einer City würde es hingegen mehrere Wards geben, die je einen lokal gewählten Alderman in den Stadtrat entsenden würden. Die North Side von West Hammond war weiterhin deutsch dominiert; in einer City würden zumindest die nördlichen Wards für eine fortdauernde politische Machtbeteiligung der Deutschen und auch Iren sorgen. Zur Umwandlung in eine City wurde eine Abstimmung abgehalten, die zur Überraschung aller Beobachter nicht im Sinne von Hessler und dessen Unterstützern Samuel Markam und Tom Finneran ausging. Der City-Status wurde „durch ein Mädchen vereitelt“ („Thwarted by a Girl“), wie die Schlagzeile lautete. Das „Mädchen“ war die 24-jährige Virginia Brooks, Tochter und Erbin von Oliver Brooks, dem Immobilienentwickler von Sobieski Park. Nach dem Tod ihres Vaters war sie mit ihrer Mutter nach West Hammond gezogen, wo sie eine ganze Reihe von dessen noch nicht verkauften Grundstücken besaß. Für diese sollte sie eine Spezialsteuer in Höhe von 20.000 USD an den Ort zahlen, heute ungefähr  USD. Dort begann sie eine Kampagne gegen die City-Abstimmung, die aus ihrer Sicht zu noch höheren Steuern führen würde. Geschickt verkoppelte sie damit die Themen von Korruption und Ineffizienz in der Stadtverwaltung. In der Abstimmung 1910 gab es 161 Stimmen für den City-Status und 181 dagegen. Das machte Brooks – vor Einführung des Frauenwahlrechts in den USA und Illinois – zu einer regionalen Berühmtheit, die von den Zeitungen als „Joan of Arc of West Hammond“ gefeiert wurde. Brooks kämpfte publizitätsträchtig gegen Prostitution, unhygienische Verhältnisse, Alkohol und weitere „Sünden“, hielt darüber Vorträge und schrieb Bücher. 1911 wurde die Grenze von 5000 Einwohnern überschritten, und West Hammond erhielt nach einer vierten Abstimmung am 27. Dezember 1911 beginnend 1912 den Status einer City. West Hammond bis zur Umbenennung (1912–1924) 1920 hatte West Hammond 7492 Einwohner, die polnischstämmigen Bewohner bildeten nun klar die Mehrheit vor den Deutschen; Einwohner irischer Abstammung bildeten die drittstärkste Bevölkerungsgruppe. Die Prohibition, die landesweit Anfang 1920 in Kraft trat, wurde in Indiana schon 1916 eingeführt. In Illinois und damit West Hammond, das durch Straßen und Zugverkehr leicht erreichbar direkt hinter der Bundesstaatsgrenze lag, galt das Alkoholverbot noch nicht. West Hammond entwickelte sich schnell zum beliebten Ort, um dem Alkoholgenuss weiter zu frönen und zog Besucher aus dem gesamten Nordwesten des „trockenen“ Indiana an. Die Hauptstraße des Ortes, State Street, bekam den Beinamen „The Strip“ und die ganze Stadt wurde bald „Sin City“ genannt. Nachdem vier Jahre später die Prohibition auch in Illinois galt, entwickelte sich West Hammond auf dieser Basis zum Zentrum des Alkoholschmuggels und anderer illegaler Aktivitäten, die größtenteils von der Mafia aus Chicago kontrolliert wurden, also dem Chicago Outfit. Zuerst waren es verschiedene kleine Gangstergruppen aus Chicago Heights, dann initiierte Al Capone 1923 einen „gang war“ und ließ diese Konkurrenten durch Mord ausschalten. Al Capone, der eine persönliche Fluchtwohnung in der Stadt unterhalten haben soll, ließ eine Reihe seiner Gangster in West Hammond wohnen, so dass die Bier-Lkw des Syndikats bis zu den Abnahmepunkten begleitet wurden. 1923 stimmten die Bürger in einer Abstimmung der Umbenennung ihrer Stadt in Calumet City zu; hauptsächlich um dem am Namen West Hammond haftenden Stigma zu entkommen. Die Umbenennung trat 1924 in Kraft. Am Charakter des Nachtlebens der Stadt änderte sich nichts Wesentliches. Die Namensgebung erfolgte in Anlehnung an den Little Calumet River sowie den Grand Calumet River. „Calumet“ ist ein ursprünglich franko-kanadisches Wort für die indianische Friedenspfeife. Calumet City als weiße Arbeiterstadt mit Vergnügungsviertel (1924–1974) 1930 befanden sich in Calumet City mehr als hundert lizenzierte und offiziell alkoholfreie Bars („soft drink parlors“), in denen regelmäßig Alkohol verkauft wurde. Dazu kamen viele illegale Bars und Kneipen („speakeasy“), deren Anzahl jedes Mal stieg, wenn in einer Kampagne eine Anzahl lizenzierter Bars wegen Verstößen gegen die Prohibitionsgesetze geschlossen wurden. Mit dem Ende der Prohibition 1933 veränderte sich die Art der Bars auf dem Strip, nicht jedoch die Kontrolle durch das organisierte Verbrechen. Nachdem der Verkauf von Bier und Branntwein wieder legal war, waren keine exorbitanten Profite mehr durch Schmuggel und Vertriebskontrolle zu erzielen. Die Mafia verlegte ihre Aktivitäten in Calumet City auf Striptease, Prostitution und illegales Glücksspiel. Während der Depression und besonders im Wirtschaftsboom der fieberhaften Aufrüstung Anfang der 1940er Jahre blieb Calumet City das „Sündenparadies“ für die Arbeiter der umliegenden Stahlwerke, Rüstungsbetriebe und Schlachthöfe. 1941 zählte das Life Magazine in einem sensationslüsternen Porträt 308 Bars und Nachtklubs in Calumet City, was mit einer Bar pro 46 Einwohnern die höchste Quote in den USA sei. Wer in Calumet City ausging, der „beginnt um 22:00 an der State Line Avenue, und trinkt sich dann Richtung Westen weiter, immer im Zickzack von Club zu Club, gibt in jedem Club 50 Cent bis $1 aus, glotzt dabei ein halbes Dutzend Striptease-Girls an, und ist dann um 05:00 Uhr früh fertig, übernächtigt und pleite“. Die Fotos zur Story machte im Dezember 1940 Robert Capa, der dem nächtlichen Treiben erkennbar Sympathie entgegenbrachte. Der schnelle Wechsel von Club zu Club („club hopping“) war so verbreitet, dass die meisten Gäste auf den Fotos noch nicht einmal ihre Wintermäntel ablegten. Eine der bekanntesten Adressen des „Strip“ war der Owl Club an der Ecke von Douglas und Plummer Avenue, der von Tony Accardo und seinen Partnern vom Chicago Outfit als nicht-lizenziertes Kasino betrieben wurde, komplett mit eigens geprägten Chips. Accardo gab von 1940 bis 1955 persönliche Einnahmen von $1,1 Mio. allein aus dem Owl Club an. Während Anfang der 1960er Jahre das illegale Glücksspiel aus Chicago weitgehend verdrängt war, hielt es sich in Cicero und Calumet City, da an diesen Orten die Strafverfolgungsbehörden im Vergleich zu Chicago „schwach, unerfahren und leicht korrumpierbar“ waren. Bekannte Striptease-Clubs waren der 21 Club, Play House und Show Club. Hier traten auch bekannte Tänzerinnen wie Gypsy Rose Lee oder Tura Satana mit einem gewissen künstlerischen Anspruch auf, was in Verbindung mit Bühnenunterhaltung als „burlesque“ oder „exotic dancing“ angekündigt wurde. In den 1940er Jahren wurde in den Clubs von Calumet City Live-Musik gespielt, dort traten als Headliner u. a. Louis Armstrong, Dizzy Gillespie, Tommy Dorsey und Eartha Kitt auf. Gespielt wurde primär Jazz und Swing. Musiker aus Chicago kamen manchmal am späten Abend – nach dem Ende ihrer Downtown-Shows – nach Calumet City, um noch etwas dazuzuverdienen: in den Striptease-Clubs lief bis 5 Uhr morgens Live-Musik. Sun Ra und Von Freeman spielten häufig hier. Noch in der Nachkriegszeit war es per Jim-Crow-Gesetzen Schwarzen verboten, weiße Frauen nackt zu sehen. Sun Ra musste deshalb 1951 in Striptease-Lokalen von „Sin City“ mit seiner schwarzen Band hinter einem Vorhang spielen. 1963 öffnete Elizabeth E. Tocci in Calumet City den Club 307, eine Bar für lesbische und schwule Menschen und die erste offen lesbische Bar überhaupt in Chicagoland. Lost & Found auf der Northside öffnete erst zwei Jahre später. Chicago war vor Stonewall (1969) und bis in die 1970er Jahre hinein kein guter Ort für offen schwul und lesbisch lebende Menschen. Zwar waren in Illinois als einem der ersten Bundesstaaten private, gleichgeschlechtliche, sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen in gegenseitigem Einvernehmen 1961 dekriminalisiert worden, doch war „öffentliches obszönes Verhalten“ („public lewd behavior“) und Cross-Dressing („wearing clothing of the opposite sex with the intent to conceal his or her sex“) in Chicago per Gemeindeverordnung unter Strafe gestellt. Mittels dieser Verordnungen kriminalisierte das Chicago Police Department noch 1974 öffentlich gelebte Homosexualität. Tausende von schwulen und lesbischen Menschen wurden in Razzien festgenommen; Frauen in lesbischen Bars galten als „Cross-Dresser“, wenn sie Hosen mit Reißverschluss vorn statt seitlich oder hinten trugen; wurden verhaftet und von der Polizei „zum Beweis“ mit entblößten Geschlechtsteilen fotografiert. Jeweils zu Wahlkampfzeiten wurden schwule und lesbische Bars in Chicago unter Druck gesetzt; das galt in Calumet City nicht. 1971 startete Tocci in Calumet City an der 155th Street Ecke Wentworth Avenue mit ähnlichem Konzept The Patch, die sie als offen lesbische Barbesitzerin bis 1998 selbst betrieb. Elizabeth E. Tocci (1935–2010) wurde sechs Jahre vor ihrem Tod in die Chicago Gay and Lesbian Hall of Fame aufgenommen. 1972 ließ der neugewählte Bürgermeister Stefaniak als Teil seines Wahlprogramms eine Reihe von Bars auf dem Strip schließen, darunter auch schwule Bars. Doch wenige Monate später eröffneten an deren Stelle neue Bars. Die Autoren eines Ratgebers für schwule und lesbische Jugendliche fassten die Bedeutung von Calumet City für schwule und lesbische Menschen in Chicago so zusammen: 1972 machte eine Schülerin den Vorschlag, einen großen Wasserturm aus Beton mit einem Smiley zu bemalen. 1973 wurde der Turm hellgelb bemalt, mit je einem Smiley-Gesicht am Wasserbehälter in Richtung Westen und Osten. Nachdem die Chicago Bridge and Iron Company einen weiteren Wasserturm errichtete, erhielt auch dieser die Smiley-Bemalung, diesmal mit einer Fliege am „Hals“, um den zweiten Wasserturm als „männlich“ zu kennzeichnen. Die beiden Wassertürme wurden nun „Mr. und Ms. Smiley“ genannt und entwickelten sich zum Maskottchen der Stadt. Von November 1973 bis März 1975 befand sich die USA in einer Rezession, zu deren Auslöser der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und die Ölkrise gehörten. Zu diesem Zeitpunkt war die arbeitende Bevölkerung von Calumet City ganz überwiegend in der Stahlindustrie beschäftigt, wo es infolge von jahrzehntelanger gewerkschaftlicher Organisation gut bezahlte Arbeit auch für ungelernte Arbeiter gab. Die wichtigsten Arbeitgeber für Calumet City waren Wisconsin Steel und die South Works von US Steel an der Mündung des Calumet River. In den South Works allein waren Ende der 1960er Jahre 20.000 Menschen beschäftigt. Ab 1973 begann US Steel mit der Verkleinerung der Belegschaft, die bis 1980 auf 10.000 reduziert wurde. „Section 8“ und der Wandel der Bevölkerungszusammensetzung (1975–1992) 1975 wurde in Illinois ein Wohngeld-Gesetz zur Unterstützung von Menschen mit geringem Einkommen eingeführt, das vor allem den schwarzen Bewohnern von Slums und sozialen Brennpunkten zugutekommen sollte. Daneben sollte das Gesetz die faktische Segregation vermindern. Das Gesetz und die Fördergelder werden nach dem entsprechenden Abschnitt im United States Code meist kurz „Section 8“ genannt. Kernstück des Programmes ist seit den 1980er Jahren nicht mehr die Errichtung von großen Wohnanlagen für Menschen mit geringem Einkommen, sondern die soziale Mischung, welche durch ein Gutscheinprogramm erreicht werden sollte. Das hatte in Chicago wie andernorts den Effekt, dass Gutscheinempfänger aus sozialen Brennpunkten in der Innenstadt in umliegende Vororte mit geringen Mieten zogen und sich dort erneut konzentrierten. In Chicago lebten 1992 bereits 65 Prozent aller Empfänger der Section-8-Gutscheine in nur 14 südlichen Vororten: Blue Island, Calumet City, Chicago Heights, Dolton, Ford Heights, Harvey, Lynwood, Markham, Matteson, Park Forest, Richton Park, Riverdale, Robbins und Sauk Village. Da die Mehrzahl der Gutscheinempfänger und 90 Prozent der Familien, die Gutscheine empfingen, schwarz waren, änderte sich so auch die Zusammensetzung der Bewohner von Calumet City. Die Stahlfabrik von Wisconsin Steel, die 1977 im Zeichen der Stahlkrise von International Harvester an Envirodyne verkauft, wurde am 28. März 1980 nach Schichtende abrupt geschlossen. 3000 Arbeiter verloren ihren gutbezahlten Arbeitsplatz, daran änderten auch Streiks nichts. Diesem symbolischen Tag folgten ähnliche Ereignisse, die das Gebiet endgültig zu einem Teil des Rust Belt machten. Bis Mitte der 1980er Jahre war die Stahlindustrie der Chicago-Southeast Side nur noch ein Schatten ihrer früheren Stärke. Am 10. April 1992 wurden auch die South Works von US Steel nach einem langen Niedergang komplett geschlossen. 1989 kam Richard M. Daley in das Amt des Bürgermeisters von Chicago. Teil seines politischen Vorhabens war es, die South Side von Chicago und andere soziale Brennpunkte der Stadt, die von schwarzen Ghettos in sozialen Wohnungsbauten („the projects“) geprägt waren, zu verändern. Durch den Abriss von besonders in Verruf geratenen Wohnprojekten durch den „Plan for Transformation“ der Chicago Housing Authority und durch die Gentrifizierung wurden so Teile der schwarzen Wohnbevölkerung aus der Innenstadt verdrängt. Zwischen 2000 und 2009 fiel so die schwarze Bevölkerung in Chicago um elf Prozent. Die verdrängte schwarze Bevölkerung verließ die Metropolregion Chicago zu Teilen ganz und zog ansonsten primär in ältere Suburbs von Chicago, die dem südlichen Innenring von Vorstädten angehören, um. Das betraf neben Calumet City vor allem Matteson, Lansing, Park Forest und Richton Park. Der Anteil der schwarzen Bevölkerung in Calumet City stieg von 6 Prozent 1980 auf 54 Prozent 2000 und auf 71 Prozent 2010. Gleichzeitig fiel das durchschnittliche Haushaltseinkommen. De facto wurden die Ziele von „Section 8“ nur teilweise erreicht. Zwar ist die Wohn- und Lebensqualität selbst in sozial schwachen Vororten wie Calumet City immer noch besser, als sie in Hochhaus-„Ghettos“ wie dem inzwischen abgerissenen Cabrini-Green je war. Jedoch hat die Umverteilung von sozial schwachen Schwarzen nicht zu einer Durchmischung geführt, sondern die Segregation nur in einer neuen geografischen Konstellation fortgesetzt. Dazu kamen Probleme wie die Zunahme von Verbrechen, vor allem Drogen- und Gangkriminalität, eine abnehmende Qualität des Schulsystems und ein Rückgang der Steuerbasis der Gemeinde. Zusammen führten diese Probleme dazu, dass die ehemals polnisch-, italienisch und irischstämmige Wohnbevölkerung Calumet City zu großen Teilen verlassen hat. Dieser selbstverstärkende Prozess („white flight“) hat die weiße Bevölkerung von Calumet City bis 2010 zu einer Minderheit gemacht. Vom Ende des „Strip“ bis heute (seit 1993) 1993 wurde der damals 30-jährige Jerry Genova zum Bürgermeister gewählt. Eines seiner Wahlversprechen war es, das Rotlichtviertel um State Street „zu säubern“. Dazu erklärte die Stadt 1995 fünf Blöcke der State Street und der parallel verlaufenden Plummer Avenue bis zur Burnham Bridge sowie vier Blöcke der Stateline Road, welche die Grenze zu Indiana bildet, bis hinunter zur Pulaski Road zu abbruchreifen Elendsgebieten. Die Besitzer mussten ihre Grundstücke am „Sin Strip“ an die Stadt verkaufen, Rechtsgrundlage war das Enteignungsgesetz des Bundesstaates Illinois („law of eminent domain“), wobei als öffentlicher Nutzen die Sicherheit und Ordnung vorgebracht wurde. In dem Gebiet gab es bereits eine Reihe von leerstehenden Grundstücken und vernachlässigten Häusern, in denen Obdachlose Unterkunft suchten und Drogenhandel stattfand. Die von der Stadt zu leistenden Entschädigungszahlungen an die Besitzer stammten aus einer zweckgebundenen Anleihe über 15 Millionen, die über Steuerzahlungen von dort neu anzusiedelnden Gewerbebetrieben und Zuwachs an Grundstückswert rückgezahlt werden sollte. Dazu wurde das Gebiet zum TIF-Gebiet (TIF = Tax Increment Financing) erklärt. Die Kriminalitätsrate in Calumet City lag 2008 bei 84 Verbrechen je 1000 Einwohnern pro Jahr. Für diese Statistik zählten dabei nur die der Polizei gemeldeten Tötungsdelikte, Sexualverbrechen mit Gewaltanwendung, schwere Körperverletzung, Einbruch, Raub, schwerer Diebstahl und Autodiebstahl sowie Brandstiftung. Die Kriminalitätsrate von Calumet City war damit 2008 die höchste aller Städte und Gemeinden im Gebiet von Nordwest-Indiana und den südlichen Vororten Chicagos. Diese „Spitzenstellung“ hat die Stadt allerdings nicht bei den reinen Gewaltverbrechen inne, sie beruht primär auf Eigentumsdelikten. Während die Kriminalitätsrate in Calumet City seit Ende der 1990er Jahre stagnierte bzw. leicht fiel, hat sich die Art der Gewaltverbrechen gewandelt: in der Vergangenheit überwogen häusliche Gewalt und Raub, heute werden die Tötungsdelikte vor allem im Zusammenhang mit Gangs begangen. Diese Art der Gewalt ist sichtbarer und trägt insofern zum schlechten Image von Calumet City, Chicago Heights, East Chicago, Gary und Hammond bei. Politik und Verwaltung Calumet City ist heute in sieben Wahlbezirke („wards“) eingeteilt. Die Grenze zu Indiana bilden im Osten der Stadt von Norden nach Süden der erste, fünfte und sechste Ward. Im Norden der Stadt liegen neben dem ersten noch der zweite und dritte Ward. Der siebte Ward liegt im Süden und enthält auch das Stadtzentrum, während der vierte Ward im Osten liegt. Bürgermeister Vor der Umwandlung in eine City trugen die Bürgermeister den Titel „village president“, danach „mayor“. Bürgermeister der Stadt waren u. a.: 1893–1907: John Hessler; erster Bürgermeister nach Gründung von West Hammond 1907–1909: Jacob Czaszewicz; erster Bürgermeister polnischer Herkunft 1909–1911: John Hessler 1912–1914: Konstantine Woczszynski 1915–1925: Paul M. Kamradt; Großvater mütterlicherseits von Robert Stefaniak 1925–1935: John W. Jaranowski (Republicans); Schwiegervater von Stanley E. Bejger. 1935–1941: William F. Zick (Democrats) 1941–1945: John W. Jaranowski (Republicans) 1945–1953: Frank L. Kaminski 1954–1960: Stanley E. Bejger 1961–1972: Joseph W. Nowak; brachte 1966 die Mall River Oaks in die Stadt und versuchte mit der Ernennung von Casimir Linkiewicz zum Polizeichef das Rotlichtviertel zurückzudrängen. Musste das Bürgermeisteramt niederlegen, weil er 1970 wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt wurde, die er als Anwalt für seinen Mandanten, eine Sparkasse, gegenüber der Federal Savings and Loan Insurance Corporation (heute FDIC) begangen hatte. 1972–1993: Robert Stefaniak (Democrats); trat nach fünf Amtsperioden von je vier Jahren nicht wieder zur Wahl an. 1988 wurde Robert Stefaniak durch Alderman Greg Skubisz vorgeworfen, über Jahre lukrative Aufträge der Stadt ohne Ausschreibung an seinen Bruder Thomas Stefaniak bzw. an den demokratischen Bundesstaats-Abgeordneten Frank Giglio vergeben zu haben. 1993–2003: Jerry Genova (Democrats); beendete durch Zwangsverkauf und Abriss das Rotlichtviertel um State Street, wurde 2001 der Korruption schuldig befunden und im Folgejahr zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seit 2003: Michelle Qualkinbush (Democrats); nach erfolgreicher Anfechtung der Wahl von Greg Skubisz 2003. Kongress- und Präsidentenwahlen Calumet City gehört dem 2. Kongresswahlbezirk von Illinois an, der sich fest in der Hand der Demokratischen Partei befindet. In diesem Kongresswahlbezirk ist seit 1951 kein republikanischer Kongressabgeordneter mehr gewählt worden. Seit 1995 wird der Bezirk, und damit Calumet City, durch Jesse Jackson, Jr. im Repräsentantenhaus vertreten. Jackson erhielt bei der Kongresswahl 2008 in Calumet City gut 97 % der Stimmen. Zum selben Wahltermin entfielen in Calumet City gut 91 % der Stimmen zur Präsidentschaftswahl auf Barack Obama. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Calumet City war seit seiner Gründung eine Arbeiterstadt, besaß jedoch selbst zu keinem Zeitpunkt große Standorte des produzierenden Gewerbes. Stattdessen wohnten hier Arbeiter polnischer, deutscher, italienischer und irischer Abstammung, die in den Schlachthöfen Hammonds und Chicagos oder in den Stahlwerken am Ufer des Lake Michigan arbeiteten. Mit dem industriellen Niedergang seit den 1980er Jahren nahm diese Beschäftigung ab. Die Einwohner von Calumet City, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, sind heute im Einzelhandel, Hotel- und Gastgewerbe, der örtlichen Verwaltung sowie im Gesundheitswesen beschäftigt. Die größten Arbeitgeber der Stadt sind die zwei Kaufhäuser Marshall Field und J. C. Penney, beide „anchor stores“ in der River Oaks Mall. Das Durchschnittseinkommen pro Einwohner lag 2009 bei 20.339 USD, das ist fast 30 % weniger als das Durchschnittseinkommen in Illinois. 1966 wurde an der U.S. Route 6 das River Oaks Shopping Center eröffnet. Die Investitionssumme belief sich auf 35 Mio. USD, anfangs gab es 80 Läden in der Mall. Anfang der 1990er Jahre wurde die Mall renoviert, wobei das innere Gelände überdacht wurde. Heute wird das River Oaks Center von Simon Property betrieben. Verkehr Die Stadt ist von großen Interstate-Highways umgeben: Im Westen und Süden führt die I-94 vorbei, im Osten ist es die I-90. Calumet City wird von fünf Pace-Buslinien bedient, die meisten davon halten zumindest an der River Oaks Mall. Mit diesen Bussen ist die METRA zu erreichen, entweder die South Shore Line (Station Hegewisch) oder die Main Line (Station Harvey). Die Fahrtzeit mit Bus und METRA von Calumet City (River Oaks Drive / Wentworth Avenue) bis zur METRA-Endstation Millennium Station beträgt ungefähr eine Stunde. An der nördlichen Stadtgrenze liegen die Umgehungsbahnen der Indiana Harbor Belt Railroad (IHB) und der Baltimore and Ohio Chicago Terminal (heute CSX). Die Strecken dienen unter anderem dem Transport von flüssigem Eisen von und zu den Eisenwerken von ArcelorMittal. Der Rangierbahnhof Calumet Yard an der Strecke der IHB wurde aufgelassen. In Calumet City wird eine Dispatcherzentrale für die Strecken der CSX und der IHB betrieben. Durch das Stadtgebiet im Südwesten führte die in den 1860er Jahren errichtete und inzwischen stillgelegte Hauptstrecke der Pennsylvania Railroad vom Abzweig Maynard in nordwestliche Richtung nach Dolton und weiter zur Chicago Union Station. Nach Norden vom Abzweig Bernice zum Abzweig Calumet Park verlief quer durch die Stadt die in den 1880er Jahren errichtete Strecke der South Chicago and Southern Railroad (später Pennsylvania Railroad). Vom Bereich Calumet Park (Louisville Junction) nach Südosten und dann nach Osten führte ab den 1900er Jahren eine heute stillgelegte Strecke der Chesapeake and Ohio Railway. Medien Calumet City besitzt keine eigene Tageszeitung mehr. Wichtigste Lokalzeitung ist die Hammond-Ausgabe der Times of Northwest Indiana (früher Lake County Times), meist NWI Times oder nur „The Times“ abgekürzt. Auch die beiden großen Tageszeitungen aus Chicago, Chicago Tribune und Chicago Sun-Times, besitzen Ausgaben für die Region. Die Calumet City Times war eine Lokalzeitung mit Mantelseiten von der Lake County Times. Der Verlag stellte diese Lokalzeitung 1933 infolge der Depression ein. Zeitungen aus Hammond dominierten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre den Medienmarkt von Calumet City und den umgebenden Orten, da Hammond das wichtigste Einkaufszentrum der Region war; mit der Bahn leichter zu erreichen als Chicago. Entsprechend platzierten die Einzelhändler ihre Anzeigenbudgets in Hammond und echte Lokalzeitungen konnten außerhalb ökonomisch nicht bestehen. Durch Fernsehwerbung, die zunehmende Motorisierung und das Aufkommen von Malls und landesweiten Ladenketten verschwand diese Dominanz dann. Über Kabel sind regionale Fernsehstationen aus Chicago zu empfangen, die zu den großen Networks wie NBC, ABC und FOX gehören und deren Mantelprogramme ausstrahlen. Über UKW sind ungefähr dreißig regionale wie überregionale Radiostationen verschiedener Genres zu empfangen. In Calumet City selbst gibt es weder Fernsehstationen noch Radiosender. Eine nicht-kommerzielle Alternative bietet das NPR-Network mit den Stationen WBEW aus Chesterton bzw. WBEZ aus Chicago. Bildung Das Stadtgebiet wird von den vier Grundschulbezirken Calumet City (S.D. 155), Dolton (S.D. 149), Hoover-Schrum Memorial (S.D. 157) und Lincoln Elementary (S.D. 156) abgedeckt. In diesen Grundschulbezirken sind für Stadtbewohner sechs staatliche Grundschulen und vier staatliche Mittelschulen zuständig. Für Calumet City sind zwei staatliche Highschools zuständig. Die Thornton Fractional North Highschool befindet sich in Calumet City selbst, während die Thornwood High School im angrenzenden South Holland liegt. Die Einzugsgebiete der beiden Highschools sind durch die Torrence Avenue voneinander abgegrenzt: östlich davon bis zur Bundesstaatsgrenze ist die Thornton Fractional North zuständig, westlich davon die Thornwood High. Die Thornton Fractional North wurde 1926 gegründet und hat über 1700 Schüler in vier Klassenstufen. Die Leistungen der Schüler in Lesen und in Mathematik in den staatlichen Schulen des Schulbezirks Thornton Fractional lagen 2009 deutlich unter den Mindestanforderungen. 2007 wurden außerhalb des Schulgeländes binnen einer Woche zwei Schüler der Thornton Fractional North Highschool durch Gangmitglieder erschossen. Die Adresse einer Familie bestimmt eindeutig, an welche Grundschule, Mittelschule und Highschool die Kinder gehen; eine Wahlmöglichkeit besteht innerhalb des öffentlichen Schulsektors nicht. Neben den staatlichen Schulen gibt es private Schulen bis zum Highschool-Abschluss, die teils unabhängig vom Wohnort gewählt werden können, aber Schulgeld in erheblicher Höhe kosten. In Calumet City selbst gibt es zwei katholische Privatschulen, die bis zum Junior High-Abschluss (8. Klasse) führen. Private Highschools gibt es nur in angrenzenden Städten mit höherem Durchschnittseinkommen. 84 % der Stadtbewohner älter als 25 Jahre hatten 2009 einen Highschool-Abschluss erreicht, das entspricht knapp dem Durchschnitt von Illinois. Die einzige Hochschule auf dem Stadtgebiet ist eine von landesweit 17 Niederlassungen des Westwood College, ein mit Gewinnabsicht betriebenes Privat-College. Diese bietet ausschließlich berufsvorbereitende Abschlüsse an. 2012 wurde das Westwood College vom Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Illinois wegen Betrugs verklagt. Das College biete einen Studiengang „Criminal Justice“ an und vermarkte diesen als Ausbildungsgang zur Erlangung einer Anstellung bei der Polizei. Da aber das Westwood College von der Illinois State Police nicht akkreditiert ist, hätten Studenten nach Erlangung des Diploms außer Tuition-Schulden von mehreren zehntausend Dollar wenig vorzuweisen. 2009 hatten 15 % der Stadtbewohner einen Bachelor-Abschluss oder höher, das ist knapp die Hälfte des Anteils der Bewohner von Illinois, die im selben Jahr einen solchen Hochschulabschluss vorzuweisen hatten. Persönlichkeiten, die vor Ort gewirkt haben Virginia Brooks (1886–1929), Frauenrechtlerin und Autorin James V. Buckley (1894–1954), Politiker DJ Rashad (1979–2014), DJ, Musiker und Musikproduzent Literatur Joseph C. Bigott: From cottage to bungalow: houses and the working class in metropolitan Chicago, 1869–1929. University of Chicago Press, Chicago 2001, ISBN 0-226-04875-6. (Basierend auf Bigotts Dissertation mit dem Titel „With Security and Comfort for All“: Working-Class Home Ownership and Democratic Ideals in the Calumet Region, 1869–1929 (University of Delaware 1993), die sich noch eingehender mit Hammond und Calumet City befasst.) Robert D. Lewis: Chicago made: factory networks in the industrial metropolis. University of Chicago Press, Chicago 2008, ISBN 0-226-47701-0. Cynthia L. Ogorek: Along the Calumet River. Arcadia Publishing, Charleston SC 2004, ISBN 0-7385-3344-0. (Ogorek ist Regionalhistorikerin der Calumet-Region) Kenneth J. Schoon: Calumet beginnings: ancient shorelines and settlements at the south end of Lake Michigan. Indiana University Press, Bloomington 2003, ISBN 0-253-34218-X. Weblinks Offizielle Website von Calumet City Eintrag zu Calumet City, IL in der Encyclopedia of Chicago der Chicago Historical Society Sin Strip of Calumet City auf der Website der NWI Times – Geschichten, Fotos und Videos über das Rotlichtviertel Statistiken zu Calumet City auf city-data.org Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn%20Freiburg%20im%20Breisgau
Straßenbahn Freiburg im Breisgau
Die Straßenbahn Freiburg im Breisgau, auch als Stadtbahn oder ehemals umgangssprachlich als Hoobl (alemannisch für Hobel) bezeichnet, ist das Straßenbahn-System der Stadt Freiburg im Breisgau in Baden-Württemberg. Es besteht seit 1901, war von Beginn an elektrifiziert und wird heute von fünf Linien im regelmäßigen Taktverkehr sowie der Oldtimerlinie 7 befahren. Der Ausbau des Streckennetzes seit 1980 gilt als Beispiel für die Renaissance der Straßenbahn in Deutschland. 2022 standen für den regulären Linienbetrieb 73 Gelenktriebwagen zur Verfügung, davon zwei hochflurige sowie 36 partiell und 36 durchgehend niederflurige. Ausführendes Verkehrsunternehmen ist die Freiburger Verkehrs AG (VAG), die auch die Schauinslandbahn sowie den Freiburger Stadtbusverkehr betreibt. Fast das gesamte Streckennetz liegt auf Freiburger Stadtgebiet, lediglich einige Meter der Wendeschleife Gundelfinger Straße befinden sich auf der Gemarkung der nördlichen Nachbargemeinde Gundelfingen. Insgesamt bedient die Straßenbahn 20 der 28 Freiburger Stadtteile. Geschichte Vorgeschichte Nachdem Freiburg ab 1845 über die Rheintalbahn an das Eisenbahnnetz angeschlossen war, gab es mit der 1887 eröffneten Höllentalbahn erstmals auch eine innerstädtische Verkehrsverbindung zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bahnhof Wiehre. Ab 1891 sorgten dann Pferdeomnibusse zweier verschiedener Privatunternehmer für die Feinerschließung innerhalb der Stadt. Die Pferdeomnibusse verkehrten auf den drei Linien Lorettostraße–Rennweg, Waldsee–Hauptbahnhof und Siegesdenkmal–Bohrer und wurden schließlich, außer zwischen Günterstal und Bohrer, von der Straßenbahn abgelöst. Bereits am 8. Mai 1899 fällte der Bürgerausschuss den Entschluss zum Bau eines Elektrizitätswerks im Stühlinger. Gründe waren das steigende „Licht- und Kräftebedürfnis“ der Albert-Ludwigs-Universität und die geplante Einrichtung der Städtischen Straßenbahn. Eine 1899 durchgeführte Umfrage der Stadtverwaltung ergab zudem einen Strombedarf für mehr als 20.000 Glühlampen in der Stadt. Der damals amtierende Oberbürgermeister Otto Winterer sorgte maßgeblich für die schnelle Umsetzung des Straßenbahnkonzepts. Die Konzession für den Betrieb der Bahn sicherte sich die am 1. Oktober 1899 gegründete „Direktion des Elektrizitätswerkes und der Straßenbahn“, so der Name des VAG-Vorgängerunternehmens. Diese beauftragte im Frühjahr 1900 die Aktiengesellschaft Siemens & Halske in Berlin, die „elektrische Zentralanstalt für Gewinnung von Licht und Kraft“ und die Straßenbahn zu bauen. Weil das Angebot an Wasserkraft in der Umgebung zu gering war, entschied man sich zur Stromerzeugung mittels einer Dampfkraftanlage. Die Planer der Straßenbahn sahen die Freiburger Bächle in der Altstadt als problematisch an, da befürchtet wurde, dass die Wagen im Falle einer Entgleisung in die Bächle stürzen könnten. Zudem musste gewährleistet sein, dass die Einstiege auf der Bächleseite verschlossen blieben. Am Ende wurde der eingeholte Rat eines Oberingenieurs der damaligen Straßenbahn Hamburg, der „die Führung des Gleises am Bach entlang … unter keinen Umständen empfehlen“ konnte und für eine Abdeckung der Bachläufe plädierte, ignoriert, um die offenen Bächle als Wahrzeichen Freiburgs zu erhalten. Nicht im Bauauftrag enthalten waren Umbau und Wiederherstellung der Straßen nach der Verlegung der Gleise sowie die Errichtung des Depots in der Urachstraße. Diese Arbeiten übernahmen die Stadt und das städtische Hochbauamt. Gleichzeitig mit der Straßenbahn erhielt Freiburg eine elektrische Straßenbeleuchtung, gespeist vom selben Elektrizitätswerk. Dieses existiert bis in die Gegenwart und befindet sich – abseits des Straßenbahnnetzes – an der Ferdinand-Weiß-Straße. Von dort aus führte eine unterirdische Speiseleitung zur Ecke Bertoldstraße und Wilhelmstraße und eine weitere zum Platz vor der Johanneskirche. Inbetriebnahme Am Freitag, dem 30. August 1901, fand die erste Probefahrt statt, die Aufnahme des Regelbetriebs erfolgte im Herbst. Ab dem 14. Oktober 1901 verkehrten zunächst die beiden Linien A und D, bevor ab dem 2. Dezember gleichen Jahres die Linien B und C das anfangs rund neun Kilometer lange Netz mit zusammen 34 Haltestellen komplettierten. Letztere beide Strecken konnten dabei erst in Betrieb gehen, nachdem der Umbau des Schwabentors abgeschlossen war. Für die zweigleisige Straßenbahntrasse erhielt dieses damals, wie zuvor das Martinstor, einen Anbau mit einer zweiten Durchfahrt. Anfangs dienten die Linienbezeichnungen jedoch nur internen Zwecken und waren nicht an den Straßenbahnwagen angeschrieben. Freiburg erhielt damals das vierte Straßenbahnsystem im Großherzogtum Baden. Anders als die etwas älteren Netze in Heidelberg, Karlsruhe und Mannheim, die alle drei wenige Monate vor Eröffnung des Freiburger Betriebs elektrifiziert wurden, fuhr die Straßenbahn im Breisgau von Beginn an elektrisch und verwendete Lyrastromabnehmer, während andernorts noch vielfach Rollenstromabnehmer üblich waren. Das Elektrizitätswerk begann am 1. Oktober 1901 mit der regelmäßigen Erzeugung von Gleichstrom. Im ersten Jahr flossen 61 Prozent der 177.000 Kilowattstunden in die Straßenbahn. Diese war noch bis 1933, als sie eine eigene Direktion erhielt, mit dem Elektrizitätswerk vereint. Anfangs ergab sich folgende Betriebssituation: Die Linien A und D führten dabei gemeinsam durch die Habsburger Straße, die Kaiser-Joseph-Straße und die Günterstalstraße, während der von der Linie D allein bediente Überlandabschnitt auf ganzer Länge der Schauinslandstraße folgte. Die Linien B und C folgten beide der Bismarckallee, der Bertoldstraße, der Salzstraße, der Straße Oberlinden und dem Schwabentorring bis zu dessen südlichem Ende. Von dort aus führte die Linie B alleine weiter durch die Hildastraße und die Urachstraße, während die Linie C der Schwarzwaldstraße in östliche Richtung folgte. Für Zugkreuzungen standen auf der eingleisigen Ost-West-Strecke sieben Ausweichen zur Verfügung. In der morgendlichen Hauptverkehrszeit waren bis zu 18 Triebwagen gleichzeitig im Einsatz, neun weitere standen als Reserve zur Verfügung. In der Innenstadt ergab sich durch die Überlagerung der Linien A und D entsprechend ein dichteres Angebot. So gab es auf dem einzigen doppelspurigen Abschnitt des Netzes zwischen Rennweg, heute Hauptstraße, und Lorettostraße bis zu 16 Fahrten in der Stunde. Auf der Überlandstrecke Lorettostraße–Günterstal, die ursprünglich straßenbündig trassiert war, befand sich die einzige Zwischen-Ausweiche an der Wonnhalde. Als einzige Linie wurde diejenige nach Güntersthal – so die damalige Schreibweise – von Beginn an mit Beiwagen betrieben. Dafür gab es an den beiden Endstellen Rennweg und Günterstal je ein Umsetzgleis. Für den starken Ausflugsverkehr in der Saison standen vier offene Sommerwagen zur Verfügung. Den Abschnitt Hauptbahnhof–Schwabentorbrücke bedienten zwölf Wagen stündlich. Aufgrund der ebenfalls eingleisigen Infrastruktur fuhren die Wagen der beiden Linien B und C jedoch immer kurz hintereinander im Sichtabstand, das heißt, es bestand Folgezugbetrieb. Eine betriebliche Besonderheit der Anfangsjahre war die niveaugleiche Kreuzung der Überlandstrecke nach Günterstal mit der – damals noch nicht elektrifizierten – Höllentalbahn. Diese befand sich auf der Günterstalstraße, wenige Meter südlich der Lorettostraße beziehungsweise der Urachstraße. Bereits 1902 konnte die Straßenbahn über drei Millionen Fahrgäste verzeichnen, die Pferdeomnibuslinien hatten in ihrem letzten ganzen Betriebsjahr 1900 hingegen lediglich 50.000 Fahrgäste befördert. Im selben Jahr wurden die Linien B und C vom bisherigen Endpunkt Hauptbahnhof um circa 200 Meter in nordwestliche Richtung bis zur Lehener Straße verlängert. In Fahrtrichtung Lehener Straße waren die Wagen weiterhin mit Hauptbahnhof beschildert, obwohl sie fortan eine Station weiter fuhren. Dies sollte Ortsfremden die Orientierung erleichtern. Innerhalb der Innenstadt führte die Gesellschaft 1902 einen einheitlichen Tarif von zehn Pfennig ein. Dieser berechtigte zum einmaligen Umsteigen an den Knotenpunkten Bertoldsbrunnen (umgangssprachlich weiterhin als Fischbrunnen bezeichnet), Schwabentorbrücke oder Lorettostraße. Auch für die Strecke von Günterstal zur Lorettostraße betrug das Entgelt zehn Pfennig. Für Fahrten, die über die Lorettostraße hinausgingen, waren 20 Pfennig zu entrichten. Die Fahrgäste wurden dazu aufgefordert, das abgezählte Geld bereitzuhalten und beim Einstieg an den Schaffner abzugeben. Erste Ausbauten und Verlängerungen Der 15-Minuten-Takt nach Günterstal erwies sich für die hohe Nachfrage auf dieser Strecke als nicht ausreichend, weshalb die Gesellschaft schon 1903 für die Verdichtung auf einen Zehn-Minuten-Takt zwei zusätzliche Ausweichen beim Waldhüterhaus in der Schauinslandstraße 1 und beim Günterstäler Kreuz einrichtete. Zur weiteren Kapazitätssteigerung auf dieser Route gingen außerdem im gleichen Jahr drei weitere Sommeranhänger in Betrieb. Rasch folgten zudem erste Verlängerungen, so zu Beginn des Sommerfahrplans 1905 von der Station Alter Messplatz, damals noch Bleicheweg genannt, zur Schleife an der heutigen Stadthalle – der ersten Freiburger Wendeschleife überhaupt. Die dortige Endstelle hieß seinerzeit Waldsee, benannt nach dem naheliegenden Gewässer im Naherholungsgebiet Möslepark. Die gleichnamige Siedlung entstand hingegen erst später. Im Folgejahr konnte der zweigleisige Ausbau der gesamten Linien B und C mit Ausnahme des kurzen eingleisigen Abschnitts zwischen Bleicheweg und Waldsee fertiggestellt werden. 1908 gingen schließlich die beiden Neubaustrecken Hauptstraße – Okenstraße und Lehener Straße – Güterbahnhof in Betrieb. Letztere führte über die Breisacher Straße und Hugstetter Straße bis zum Hohenzollernplatz (heute Friedrich-Ebert-Platz). Die Trasse folgte dem Verlauf der Heiliggeiststraße und der Friedhofstraße bis zur damaligen Endhaltestelle Güterbahnhof an der Ecke Waldkircher Straße/Eichstätter Straße. Die Strecke war für einen Betrieb im Fünf-Minuten-Takt von Beginn an durchgehend zweigleisig ausgeführt. Weitere Strecken und neue Linienbezeichnungen ab 1909 Anlässlich der Inbetriebnahme einer Neubaustrecke vom Siegesdenkmal via Friedrichring, Friedrichstraße und Hauptbahnhof in den Stühlinger und der damit verbundenen Einführung einer fünften Linie stellte die Gesellschaft die Linienbezeichnungen 1909 auf arabische Ziffern um. Die neue Linie 5 verkehrte im Zehn-Minuten-Takt und nutzte dabei die seit 1886 bestehende Blaue Brücke zur Überquerung der Bahngleise. Im Stühlinger befuhr sie die zweite Wendeschleife des Netzes, eine Blockumfahrung rund um die Herz-Jesu-Kirche. Es folgten weitere Neubaustrecken in die Stadtteile Haslach, Herdern und Zähringen sowie eine kurze Verlängerung in der Wiehre: 1910: Lorettostraße – Goethestraße und, nach Fertigstellung der neuen Eisenbahnunterführung Komturbrücke, Rossgässle (heute Okenstraße) – Reutebachgasse 1913: Stühlinger Kirchplatz (heute Eschholzstraße) – Scherrerplatz 1914: Siegesdenkmal – Immentalstraße Zähringen gehörte erst seit 1906 zu Freiburg, der Straßenbahnanschluss war Teil des Vertrags zur Eingemeindung. Die Herderner Strecke machte die Einführung einer sechsten Linie erforderlich. Darüber hinaus waren vier weitere Strecken bereits im Planungsstadium, konnten jedoch auf Grund des Ersten Weltkriegs nicht mehr realisiert werden. Projektiert waren eine Stichstrecke von der Johanneskirche zur Reiterstraße, eine Verbindung zwischen Stühlinger Kirchplatz und Hohenzollernplatz über die Eschholzstraße sowie Anbindungen der Stadtteile Betzenhausen und Mooswald. Zudem war eine Überlandstrecke von Günterstal über Horben und den Schauinsland bis nach Todtnau vorgesehen. Dort sollte die Strecke an die ebenfalls meterspurige Bahnstrecke nach Zell im Wiesental angeschlossen werden. Die Planer erhofften sich so eine schnelle Verbindung in den touristisch attraktiven Südschwarzwald. Erster Weltkrieg Im Ersten Weltkrieg wurde ein Großteil des Personals zum Heeresdienst eingezogen. Vom Fahrpersonal, das ursprünglich aus 133 Beschäftigten bestand, blieben nur noch acht Personen. Das führte dazu, dass ab 1915 erstmals Frauen im Schaffnerdienst beschäftigt wurden. Nach Ausbruch des Krieges wurde die Straßenbahn für den Transport von Verwundeten in die zahlreichen – über das gesamte Stadtgebiet verteilten – Lazarette benötigt. Dazu wurde eine neue Gleisverbindung vom Zollhallenplatz durch die Neunlindenstraße und die Rampenstraße zum abseits gelegenen militärischen Teil des Güterbahnhofs gebaut. Die für den Verwundetentransport bestimmten Straßenbahnzüge warteten an der dortigen Laderampe auf die Ankunft von Lazarettzügen. Triebwagen und Beiwagen konnten dabei auf quer eingelegten Brettern je zwölf auf Tragen liegende Schwerverwundete befördern. Für den Lazarettverkehr adaptierte die Gesellschaft die Beiwagen 103–106. Insgesamt konnten so 20.779 verletzte Soldaten transportiert werden. Das Gleis durch die Neunlindenstraße diente nach dem Ersten Weltkrieg – in verkürzter Form – noch viele Jahre lang zur Anbindung des ehemaligen Gleislagers an der Kaiserstuhlstraße. Eine weitere Verbindung zwischen Straßenbahn und Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen entstand 1917 im zivilen Teil des Güterbahnhofs. Dieses Gleis führte von der damaligen Endstelle aus, die sich an der Einmündung der Eichstetter Straße in die Waldkircher Straße befand, in den Güterbahnhof, um ein direktes Umladen zu ermöglichen. Hierfür beschaffte die Gesellschaft zehn Güterloren und baute die drei offenen Sommerbeiwagen 102–104 nochmals um. Die Verbindung existierte noch bis Anfang der 1980er Jahre, als über dieses – teilweise vierschienige – Gleis die Triebwagen des Typs GT8K nach Freiburg angeliefert wurden. Außerdem forcierte die Gesellschaft in jenen Jahren den zweigleisigen Ausbau der Bestandsstrecken. So ging auf der Günterstaler Strecke bereits Ende 1913 das zweite Gleis zwischen Wonnhalde und Wiesenweg in Betrieb, im Herbst 1917 folgte der Abschnitt von der Silberbachstraße bis zur Wonnhalde. Während des Krieges ereignete sich unmittelbar nach einem Luftangriff an der Niveaukreuzung mit der Höllentalbahn ein schwerer Unfall. Am 12. Oktober 1916 gegen 21:30 Uhr übersah der Fahrer eines stadteinwärts fahrenden Straßenbahnwagens bei Dunkelheit die geschlossene Schranke und kollidierte mit einem bergwärts fahrenden Eisenbahnzug. Der Triebwagen mit der Betriebsnummer 32 und das Schrankenwärterhäuschen wurden dabei zertrümmert, der Straßenbahnfahrer schwer, der Schaffner und der einzige Fahrgast leicht verletzt. Zwischenkriegszeit und erste Streckeneinstellungen 1919 verband die Gesellschaft die beiden Radiallinien 5 (Siegesdenkmal – Scherrerplatz) und 6 (Siegesdenkmal – Immentalstraße) zur neuen Durchmesserlinie 5 vom Scherrerplatz zur Immentalstraße. Schon ab 1921 existierten wieder sechs Linien, als die Endstelle der Linie 3 von der Goethestraße zur heutigen Haltestelle Musikhochschule verlegt und ausgleichend dafür eine neue Linie 6 von der Schwabentorbrücke zur Goethestraße eingeführt wurde. Im selben Jahr wurde zudem die Farbcodierung der Linien eingeführt, um den Fahrgästen die Orientierung zu erleichtern. Durch die Inflation von 1923 sanken die täglichen Fahrgastzahlen von 40.000 im Jahre 1919 auf unter 3000 im Jahre 1923. Gleichzeitig stieg der Preis für eine Einzelfahrt von vormals 15 Pfennigen auf 100 Milliarden Reichsmark an. Somit wurde die Straßenbahn zunehmend unattraktiv und eine Einstellung des gesamten Betriebs stand unmittelbar bevor. Die Linie 6 wurde am 16. Oktober 1916 eingestellt und die Takte der anderen Linien ausgedünnt. Die Lage verbesserte sich erst mit der Einführung der Rentenmark im November 1923. Am 22. Dezember 1924 wurde der Betrieb der Linie 6 zwischen Schwabentorbrücke und Goethestraße wieder aufgenommen. 1925 ging die Erweiterung in den 1914 eingemeindeten Stadtteil Littenweiler in Betrieb. Diese sollte bereits im Jahr der Eingemeindung eröffnet werden und war einer der Gründe für die Gemeinde gewesen, ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Sie hatte sich jedoch kriegsbedingt um elf Jahre verzögert. Zeitweise war dabei eine alternative Streckenführung durch die südlicher verlaufende Waldseestraße in Erwägung gezogen worden. Damit hätte die Strecke zwar bis in den Ortskern von Littenweiler geführt, jedoch wäre direkt im Anschluss an die Schleife bei der Stadthalle eine weitere Kreuzung mit der Höllentalbahn notwendig geworden. Von der Verlängerung nach Littenweiler profitierte zudem die erst nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Gartenstadt Waldsee. Sie schloss die Siedlungslücke zwischen der Wiehre und Littenweiler und verfügte somit von Beginn an über eine Verkehrsverbindung mit der Freiburger Innenstadt. Im selben Jahr wurde die erste Kraftomnibuslinie Freiburgs vom Hohenzollernplatz nach Betzenhausen eingerichtet. 1928 nahm die Gesellschaft mit dem Lückenschluss Rennweg – Komturplatz, an der der gleichzeitig eröffnete zweite Betriebshof lag, die für längere Zeit letzte Neubaustrecke in Betrieb. Im Gegenzug entfiel die Bedienung der kurzen Stichstrecke zwischen der heutigen Haltestelle Rennweg und dem Güterbahnhof, womit erstmals auf einer Strecke der Personenverkehr aufgegeben wurde. Nach Eröffnung der Schauinslandbahn am 17. Juli 1930 beantragte die Direktion der Straßenbahn am 23. Januar 1931 schließlich den zweigleisigen Ausbau zwischen dem Wiesenweg und dem Günterstäler Tor, um den Zubringerdienst zur Talstation zu verbessern. Die Gesellschaft plante außerdem eine vier Kilometer lange Neubaustrecke zur Anbindung der Bergbahn an das Straßenbahnnetz. Am Endpunkt Talstation war eine Wendeschleife vor dem Stationsgebäude vorgesehen. Dabei sollten die Beiwagen in Günterstal abgehängt werden und die Triebwagen solo bis zur Talstation verkehren. Die hohen Kosten für die Wagenhalle in Günterstal und die fünf zusätzlich benötigten Triebwagen führten zum Entschluss, diese Verbindung ersatzweise mit einer Omnibuslinie zu betreiben. Ebenfalls 1931 erfolgte die erste Gesamtstilllegung eines Abschnitts, als die Strecke zur Goethestraße außer Betrieb ging und die Linie 6 fortan nur noch den kurzen Abschnitt zwischen der Schwabentorbrücke und dem Bahnhof Wiehre bediente. Der Abschnitt Bahnhof Wiehre – Lorettostraße blieb als Betriebsstrecke zum Depot weiterhin erhalten. Ab 1933 erhielten Angehörige der SA und der SS sowie Mitglieder der Hitlerjugend eine tarifliche Ermäßigung durch einen Einheitspreis von zehn Reichspfennigen für jede beliebige Strecke. Juden war fortan die Benutzung der öffentlichen Straßenbahn untersagt. Eine Betriebserleichterung für die Straßenbahn bedeutete die zum 8. November 1934 erfolgte Verlegung der Höllentalbahn in südliche Richtung. Infolgedessen entfiel die niveaugleiche Kreuzung, die Eisenbahn unterquert die Günterstaler Strecke seitdem auf Höhe der Haltestelle Holbeinstraße im Sternwaldtunnel. Nicht zuletzt deshalb konnte die Straßenbahngesellschaft anschließend mit dem Lückenschluss zwischen Lorettostraße und Silberbachstraße den zweigleisigen Ausbau der Günterstaler Strecke vollenden. Die Neutrassierung der Eisenbahn wirkte sich auch auf das Straßenbahnnetz aus. Weil die Wiehre damals einen neuen Bahnhof an der Türkenlouisstraße erhielt, entfiel die direkte Umsteigemöglichkeit zwischen der Höllentalbahn und der Linie 6, die deshalb am Tag nach der Verlegung zum vorerst letzten Mal verkehrte. Von 1938 bis 1943 verdoppelte sich das jährliche Fahrgastaufkommen auf mehr als zehn Millionen Fahrgäste, da der motorisierte Individualverkehr infolge der Rohölkrise fast vollständig zum Erliegen kam. Dennoch konnten keine neuen Fahrzeuge beschafft werden. Um den Fahrplan weiterhin einhalten zu können, mussten in den Jahren 1942 und 1943 43 der ursprünglich 101 Haltestellen aufgelassen werden. Die Gesellschaft reaktivierte mit den vorhandenen Wagen nach sechs Jahren Betriebspause die Linie 6, die von 1940 bis 1943 und schließlich wieder ab 1946 erneut zwischen der Schwabentorbrücke und der Lorettostraße pendelte. Die Schleife an der heutigen Stadthalle wurde schon ab 1938/39 planmäßig nicht mehr bedient, weil die Wagen der Verstärkerlinie 3 fortan bis zur Haltestelle Römerhof fuhren. Der Stadtrat beschloss 1943 die Einführung des Oberleitungsbusses als drittes städtisches Verkehrsmittel, nachdem der Dieseltreibstoff für den Betrieb der Kraftomnibusse zunehmend knapper wurde. Zunächst sollten die damaligen Omnibuslinien B (Johanneskirche – Haslach Englerplatz) und C (Johanneskirche – St. Georgen) und optional in einer zweiten Ausbaustufe das gesamte Straßenbahnnetz umgestellt werden. Der Baubeginn erfolgte mit dem Setzen des ersten Oberleitungsmastes am 1. August 1944. Infolge des Krieges kam es zu Lieferschwierigkeiten beim Oberleitungsmaterial und den bestellten Fahrzeugen. Nach Kriegsende wurde der Bau nicht wieder aufgenommen. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit Beim Luftangriff auf Freiburg am 27. November 1944 wurden mehrere Fahrzeuge sowie die Hälfte des Oberleitungsnetzes zerstört. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich noch etwa 30 Fahrzeuge im Abendverkehr. Zerstört wurde unter anderem der Triebwagen 1 auf dem Gelände des Gleislagers, Wagen 7 durch Detonationen im Betriebshof Nord sowie die beiden Garnituren aus Wagen 53 und dem Beiwagen 110 vor dem Stadttheater und Wagen 44 mit dem Beiwagen 107 auf der Bismarckallee. Weitere 26 Fahrzeuge wurden durch Bombentreffer schwer beschädigt. Vom 15. April 1945 an ruhte schließlich der gesamte Straßenbahnverkehr, da die elektrischen Überlandleitungen durch den Krieg zerstört worden waren. Schon am 26. Mai 1945 konnte der Betrieb auf den Strecken Holzmarkt – Günterstal und Oberlinden – Littenweiler wieder aufgenommen werden, nachdem die Gleise und die Oberleitung auf diesen nur leicht beschädigten Streckenabschnitten instand gesetzt wurden. Nach der Errichtung einer Behelfsbrücke für die Rheintalbahn am Komturplatz konnte ab dem 4. Oktober 1945 wieder die Gesamtstrecke Zähringen–Günterstal von den Linien 1 und 2 befahren werden. Die Linie 5 war durch einen Bombentreffer der Blauen Brücke noch bis 1948 unterbrochen; ab dem 1. September 1946 wurde ein Pendelverkehr eingerichtet. Die Wiederaufbaupläne enthielten verschiedene Varianten bezüglich der Straßenbahn. Letztendlich wurde entschieden, die ursprünglichen Trassierungen beizubehalten, um die Erreichbarkeit und Bedeutung des Stadtzentrums zu bewahren. Einer Umstellung auf einen Oberleitungsbusbetrieb standen die Planer nach dem gescheiterten Anlauf während des Zweiten Weltkriegs stets kritisch gegenüber: 1950 verlor die Verbindung Schwabentorbrücke – Lorettostraße endgültig ihren Linienverkehr, blieb aber als Betriebsstrecke zum Depot noch bis 1959 erhalten. Durch den damit verbundenen Entfall der Linie 6 gab es wieder nur fünf Linien. Die Linie 5 erfuhr zwar 1951 in Herdern noch eine rund 300 Meter lange Verlängerung von der Immentalstraße zur Kirche St. Urban, eine zeitweise diskutierte weitere Verlängerung durch die Richard-Wagner-Straße und die Hinterkirchstraße bis Zähringen konnte hingegen nicht mehr realisiert werden. Bis 1959 wurden zusätzliche Verstärkerfahrten nach Abendvorstellungen des Stadttheaters angeboten, die so genannten „Theaterwagen“. Sie verkehrten von der hierfür dreigleisig ausgebauten Haltestelle in der Bertoldstraße unter anderem in die Wiehre, nach Zähringen und nach Günterstal. Einrichtungsbetrieb und Stilllegung der Linie 5 Der Mangel an Schaffnern und der Wunsch, Personal einzusparen, führten 1959 zur Inbetriebnahme der sogenannten Sputnik-Gelenkwagen, die nach dem 1957 gestarteten ersten Erdsatelliten benannt wurden. Sie hatten das gleiche Fassungsvermögen wie ein zweiachsiger Triebwagen samt Beiwagen, konnten aber im Fahrgastflussverfahren (von hinten nach vorn) von nur einem Schaffner abgefertigt werden. Sie waren zudem die ersten Freiburger Einrichtungsfahrzeuge, konnten daher aber mangels weiterer Wendemöglichkeiten bis 1983 nur auf der Linie 4 eingesetzt werden. Eigens für sie war im gleichen Jahr an der Endstelle Bahnhof Littenweiler ein provisorisches Gleisdreieck errichtet worden. An der anderen Endstelle Komturplatz nutzten sie die schon seit 1954 bestehende Wendeschleife. Eine weitere Neuerung der frühen 1950er Jahre waren die aus einem Triebwagen und zwei Beiwagen bestehenden Dreiwagenzüge. Ende 1961 gab die Gesellschaft die Linie 5 aus „wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Gründen“ ganz auf und ersetzte sie durch die damalige Omnibuslinie H. Begründet wurde die Stilllegung unter anderem mit der schlechten Einführung in den Verkehrsraum. Ein Umbau zu einer leistungsfähigeren Strecke mit eigenem Bahnkörper sei deswegen nicht möglich gewesen. Zudem konnten moderne Triebwagen auf der kurvigen Strecke nicht eingesetzt werden. Es verkehrten damit – wie in der Anfangszeit – nur noch vier Linien. Um sich den umständlichen Rangierbetrieb am Wendedreieck der Linie 4 zu ersparen, nahm die VAG 1962 in Littenweiler eine Wendeschleife in Betrieb. Diese lag fortan aus Platzgründen an der Laßbergstraße, womit der Bahnhof Littenweiler seinen Straßenbahnanschluss verlor. Im Stadtteil Brühl, am anderen Linienende, ging am 20. Dezember 1962 eine neue Häuserblockschleife durch die Offenburger Straße und die Hornusstraße in Betrieb, die bis heute im Uhrzeigersinn befahren wird. Die alte Schleife auf dem Komturplatz hatte sich aufgrund der beengten Situation dort zunehmend als Verkehrshindernis erwiesen. Durch die Verkürzung in Littenweiler war das Streckennetz innerhalb weniger Jahre um fast 30 Prozent geschrumpft, von 19,7 Kilometern im Jahre 1945 auf 14,2 Kilometer im Juli 1962. 1966 beschaffte die Städtische Straßenbahn ihre ersten schaffnerlosen Triebwagen, für den Fahrgast am Aufkleber mit dem roten „S“ auf weißem Grund erkennbar. Die Beiwagen sowie die meisten älteren Triebwagen mussten aufgrund ihrer manuell zu bedienenden Türen aus Sicherheitsgründen jedoch weiterhin personalbesetzt fahren. Dennoch wurden zudem einzelne vor 1966 beschaffte Triebwagen für den Einmannbetrieb adaptiert. Fahrpreiskämpfe, Stilllegungsdiskussion und weitere Rationalisierung Für bundesweites Aufsehen sorgten 1968 die sogenannten Freiburger Fahrpreiskämpfe. Damals protestierten etwa 2000 Personen gegen Fahrpreiserhöhungen, besetzten den Bertoldsbrunnen und legten damit den gesamten Straßenbahnverkehr am 1. und 2. Februar lahm. Der Widerstand blieb jedoch erfolglos. Während viele andere Städte die Stilllegung der Straßenbahn diskutierten, tendierte Freiburg ab Ende der 1960er Jahre zum Beibehalt und zur Modernisierung des Betriebs. 1969 kam es wegen der überdurchschnittlichen Stadtentwicklung im Westen zur Verabschiedung eines ersten Generalverkehrsplans. Die Neubaugebiete bildeten den entscheidenden Ansatz, Erhalt und Ausbau des innerstädtischen Schienenverkehrs zu fördern. Im Hinblick auf den weiteren Ausbau ging 1971 eine erste Kleinserie moderner achtachsiger Gelenkwagen des Herstellers Duewag in Betrieb. Sie konnten ebenfalls im Einmannbetrieb gefahren werden und genau so viele Fahrgäste befördern, wie die personalintensiven Dreiwagenzüge beziehungsweise die Gespanne aus vierachsigem Triebwagen und zweiachsigem Beiwagen. Die Gelenkwagen waren Sonderkonstruktionen für die engen Freiburger Radien mit einem vierachsigen Mittelwagen und aufgesattelten Endwagen mit jeweils einem Drehgestell. Dennoch wurde im selben Jahr eine Rationalisierungskommission einberufen, die erneut eine vollständige Umstellung auf Busbetrieb prüfen sollte. Der Gemeinderat bestätigte schließlich 1972 mit großer Mehrheit den Generalverkehrsplan von 1969. Besonders für die westlichen Stadtteile wurde eine Anbindung an die Straßenbahn weiterhin als sinnvoller empfunden. Eine stadtplanerische Besonderheit stellte die Einführung der Fußgängerzone in der Kaiser-Joseph-Straße im November 1972 dar, bei der erstmals – entgegen dem damaligen Trend – anstelle der Straßenbahn nur der motorisierte Individualverkehr aus der Altstadt verbannt wurde. Fortan wurde weiter in die Modernisierung und Beschleunigung des Bestandsnetzes investiert. Im Zuge der Errichtung des Innenstadtrings wurde 1974 zwischen dem Schwabentor und der Schwabentorbrücke eine eingleisige Parallelstrecke über den Greifeneggring in Betrieb genommen. Gleichzeitig wurde die Bestandsstrecke über den Schwabentorring auf ein Gleis zurückgebaut. Der Grund für diese Maßnahme war die verhältnismäßig geringe Breite des Schwabentorrings, die nicht genug Platz für einen eigenen Gleiskörper und zwei Fahrspuren für den Individualverkehr geboten hätte. Durch die Neutrassierung entstand außerdem eine zusätzliche Wendemöglichkeit, die sogenannte Schwabentorschleife. Dank einer Verbindungskurve zwischen alter und neuer Trasse können aus Richtung Littenweiler kommende Wagen bei Störungen in der Innenstadt seitdem schon vor dem Schwabentor umkehren. Am 17. März 1978 erfolgte schließlich der erste Spatenstich für die (fast) nach Stadtbahn-Standards mit vom Straßenverkehr unabhängigem Bahnkörper ausgebaute Strecke nach Landwasser durch den damals amtierenden Oberbürgermeister Eugen Keidel und Staatssekretär Rolf Böhme. Anfang der 1980er Jahre erhielten die ersten Bestandsstrecken einen eigenen Gleiskörper, so beispielsweise der damals stark sanierungsbedürftige Streckenabschnitt Komturplatz–Zähringen. 1981 beendete die nächste Serie moderner Gelenkwagen den Beiwagenbetrieb und damit die Schaffnerära. Stadtbahnzeitalter und „Umweltabonnement“ ab 1983/1984 Am 9. Dezember 1983 begann mit der Eröffnung der Neubaustrecke zur Paduaallee das Stadtbahnzeitalter. Kernstück dieser sogenannten Westerweiterung ist dabei die Stühlingerbrücke, auch Stadtbahnbrücke genannt, über die Gleise der Rheintalbahn und der Höllentalbahn. Auf ihr befindet sich seitdem die neue Haltestelle Hauptbahnhof, die einen direkten Zugang zu den Bahnsteigen der Eisenbahn ermöglicht. Im gleichen Jahr erhöhte die VAG die Spannung von zuvor 600 Volt auf die bei Stadtbahnsystemen üblichen 750 Volt Gleichstrom. Anlässlich der Einführung einer fünften Linie kam es zu einer größeren Liniennetzumstellung, außerdem änderten sich damals die individuellen Kennfarben der einzelnen Routen. Diese waren jetzt auf den Rollbandanzeigen der Fahrzeuge sichtbar. Die Linie 1 löste fortan die Linie 4 als Hauptlinie ab, mit der neu eingeführten Ringlinie 3 gab es außerdem eine zweite Linie, auf der Einrichtungsfahrzeuge eingesetzt werden konnten. Da diese jedoch in den Hauptverkehrszeiten bis zur Stumpfendstelle Reutebachgasse verkehrte, konnten nördlich der Hornusstraße nur in einer Fahrtrichtung Fahrgäste mitgenommen werden. Etwa zeitgleich begann eine deutschlandweite Debatte über die Einführung einer preisgünstigen und übertragbaren „Umweltschutz-Monatskarte“ nach Basler Vorbild, wo eine solche ab dem 1. März 1984 angeboten und rasch auch in anderen Schweizer Städten wie Bern und Zürich übernommen wurde. Den damit verbundenen Preissenkungen standen Fahrgastzuwächse gegenüber, die trotzdem Einnahmeverbesserungen für die Unternehmen mit sich brachten. Vielen deutschen Verkehrsunternehmen, auch der VAG, passte dieser Erfolg mit seiner hohen Publizität nicht ins Konzept. Unterstützt wurden sie dabei vom damaligen VÖV, den kommunalen Spitzenverbänden und weiten Teilen der Fachwissenschaft, die häufig und mehrfach vor der Einführung dieser Abos warnten: Am 24. Juli 1984 beschloss der Gemeinderat – als „geistiger Vater“ gilt Heinrich Breit, Gemeinderat der Grünen – trotz ablehnender Haltung der VAG die deutschlandweit erstmalige Einführung dieser ersten „Umweltschutz-Monatskarte“, die im Oktober 1984 erstmals angeboten wird. Zeitgleich wurden die Preise um bis zu 30 Prozent gesenkt und der Preis des übertragbaren Umweltabos auf 38 D-Mark beziehungsweise ermäßigt 32 D-Mark monatlich festgelegt (die nicht übertragbare Monatskarte kostete damals 51 D-Mark und sollte ursprünglich 1985 auf 57 D-Mark erhöht werden). Dieser Schritt – die Einführung einer preisgünstigen und übertragbaren Monatskarte – führte zu einem Anstieg der Fahrgastzahlen noch 1984 um zwölf Prozent, im Folgejahr um 23 Prozent, das heißt um fast fünf Millionen auf 33,8 Millionen Fahrgäste im Jahr 1985. Entgegen allen Voraussagen verbuchte die VAG trotz der erheblichen Preissenkung Mehreinnahmen von 250.000 D-Mark allein 1985. Innerhalb von nur vier Jahren stieg die Zahl der verkauften Umwelt-Abos von 60.500 auf 309.000. Diese Einführung erwies sich als bahnbrechend für die deutschen Verkehrsunternehmen: Zudem wurde 1985 zusammen mit den Landkreisen Emmendingen und Breisgau-Hochschwarzwald die Verkehrsgemeinschaft Freiburg (VGF) gegründet, die ein weiteres Prinzip der damaligen Politik, die Zersplitterung in immer mehr Fahrscheinarten und immer mehr Verkehrszonen „kippte“ – anstatt drei Tarifzonen bildete zum Beispiel die Stadt Freiburg nur eine einzige. Dabei war die VGF, die rein unternehmensbezogen agierte, eine Vorläuferin des 1994 gestarteten Regio-Verkehrsverbunds Freiburg (RVF), der wiederum nach den inzwischen üblichen Modellen für Verkehrsverbünde gegründet wurde. Der Fahrgastanstieg von fast einem Viertel der beförderten Personen binnen weniger Monate konnte zwar zunächst durch die vorhandenen Fahrzeugkapazitäten relativ gut bewältigt werden, jedoch mussten auf Grund der drastisch wachsenden (und von der VAG auch so nie vermuteten) Fahrgastzuwächse 1985 kurzfristig zehn gebrauchte GT4-Straßenbahnwagen von den Stuttgarter Straßenbahnen übernommen werden, die dort durch die Umstellung auf normalspurigen Stadtbahnbetrieb überflüssig geworden waren. Sie waren deshalb die ersten und in der Geschichte des Unternehmens bislang einzigen Gebrauchtwagen, die angeschafft wurden. Neuartig hierbei war für Freiburg der Einsatz in Mehrfachtraktion bzw. die Unterteilung in führenden und geführten Triebwagen. Die umgangssprachlich Spätzlehobel genannten Fahrzeuge, die in Freiburg stets in ihrer alten gelb-weißen Stuttgarter Lackierung verkehrten, konnten erst 1990 durch Neubauwagen ersetzt werden. Die zum 1. September 1991 eingeführte Regio-Umweltkarte sorgte selbst und vorher über ihre Zwischenstufen für immer weitere, zum Teil sprunghafte Fahrgastzuwächse: Daher setzte die VAG die damals bereits veralteten Sputnik-Wagen von 1959 noch bis 1993 ein. Die Regio-Umweltkarte hatte dabei über die Zwischenstufe einer Anschlusskarte zur eigenen Monatskarte in den Landkreisen für 15 D-Mark und 1987 der Umwelt-Punktekarte, die ebenfalls zu einer Verbilligung der Fahrpreise um rund 25 Prozent führte bereits weitere verkehrs- und umweltpolitische Diskussionen in der Bundesrepublik angestoßen. 1985 vollendete die VAG das Projekt Stadtbahn Landwasser mit der 1,8 Kilometer langen Verlängerung vom bisherigen Endpunkt Paduaallee über die Elsässer Straße bis zum Moosweiher. Im Jahr darauf ersetzte eine Neubaustrecke vom Friedrich-Ebert-Platz durch die Hohenzollernstraße, die Breisacher Straße und die Fehrenbachallee bis zum Technischen Rathaus die alte Trasse über die Hugstetter Straße und den Bahnhofsvorplatz. So konnten die Linien 3 und 4 über die Stühlingerbrücke geführt werden. Beginn des Niederflurzeitalters ab 1990 Mit der Auslieferung der ersten Triebwagen der Baureihe GT8N konnte die VAG ihren Fahrgästen ab 1990 – als dritter Straßenbahnbetrieb Deutschlands nach Würzburg und Bremen – einen niederflurigen Einstieg anbieten. Die in jenen Jahren rasche Weiterentwicklung der Niederflurtechnik spiegelte sich dabei in den Freiburger Fahrzeugbeschaffungen wider. Hatten die ersten Fahrzeuge nur einen Niederfluranteil von sieben Prozent und damit nur einen Tiefeinstieg bei insgesamt fünf Einstiegen, bot die zweite Niederflurgeneration von 1994 bereits einen Niederfluranteil von 48 Prozent und einen barrierefreien Zugang an drei von vier Einstiegen. Seit 1999 werden schließlich nur noch durchgehend niederflurige Wagen beschafft. Parallel zu den Investitionen in den Fahrzeugpark stattete die VAG fast alle älteren Haltestellen im Netz mit 24 Zentimeter hohen Bahnsteigen aus. Im März 1994 ging die drei Kilometer lange Verlängerung der 1983 errichteten Stichstrecke Runzmattenweg – Bissierstraße über Weingarten in das Gewerbegebiet Haid in Betrieb. Die Trasse führt parallel zur Berliner Allee und überquert dabei die B 31a und die Dreisam. In Weingarten verläuft die Strecke auf begrüntem Gleiskörper westlich der Straße Binzengrün und biegt daraufhin in die Opfinger Straße ein. Im weiteren Verlauf quert die Trasse die Besançonallee und erreicht den Betriebshof West. Die Strecke verläuft ab hier auf eigenem Bahnkörper westlich der Besançonallee bis zur Munzinger Straße. Somit erhielt der Betriebshof West erstmals eine Schienenanbindung. Die Betriebshöfe in der Komturstraße und der Urachstraße verloren dadurch ihre Bedeutung. Der Betriebshof Nord wurde 2007 abgerissen, während der Betriebshof Süd inzwischen den Museumsbestand beherbergt. Der Anschluss an den neuen Stadtteil Rieselfeld erfolgte im Jahr 1997. Auf diesem 1,3 Kilometer langen Abschnitt verläuft die Strecke auf einem Rasengleis in Mittellage der Rieselfeldallee und bedient die drei Haltestellen Geschwister-Scholl-Platz, Maria-von-Rudloff-Platz und Bollerstaudenstraße. Die Wendeschleife Rieselfeld führt um ein Wohngebäude, den sogenannten „Tram-Turm“, herum. Am 3. Juni 2002 führte die VAG eine Entlastungslinie 8 von der Munzinger Straße zur Stadthalle im 15-Minuten-Takt ein, diese wurde nach knapp zwei Monaten am 27. Juli 2002 wieder eingestellt. Der Stadtteil Haslach wurde nach 40 Jahren ohne Straßenbahnanbindung mit der im Oktober 2002 erfolgten Eröffnung des ersten Bauabschnittes zwischen Am Lindenwäldle und Pressehaus als Linie 7 wieder an das Streckennetz angebunden. Die Strecke schließt an die Weingartener Strecke an und verläuft in Nordlage der Opfinger Straße bis zur Überquerung der Güterumgehungsbahn, folgt daraufhin dem Verlauf der Carl-Kistner-Straße und bedient in der Ortsmitte Haslachs die Haltestellen Haslach Bad, Scherrerplatz und Dorfbrunnen. Strittig war die Trassenführung im weiteren Verlauf zwischen Pressehaus und Innenstadt. Obwohl sich bei einem Bürgerentscheid 1997 die Mehrheit für die Trasse über die Kronenstraße zum Stadttheater aussprach, entschied sich der Gemeinderat für die Variante über die Basler Straße zur Johanneskirche. 2004 erfolgte schließlich die Inbetriebnahme der Gesamtstrecke zwischen Am Lindenwäldle und Johanneskirche als Linie 5. Die Kosten für dieses Projekt betrugen etwa 30 Millionen Euro. Später wurde entschieden, auch die erstgenannte Strecke im Rahmen der „Stadtbahn Rotteckring“ zu realisieren. Auch der auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne ab 1998 neu entstandene Stadtteil Vauban erhielt 2006 nach dreijähriger Bauzeit seinen Anschluss an die Straßenbahn. Die Kosten beliefen sich auf 18 Millionen Euro statt der ursprünglich veranschlagten 30 Millionen Euro. Die 2,5 Kilometer lange Strecke zweigt an der Haltestelle Heinrich-von-Stephan-Straße von der Haslacher Strecke in die Merzhauser Straße ab und verläuft größtenteils auf begrüntem Bahnkörper durch die Merzhauser Straße. Am Paula-Modersohn-Platz biegt die Trasse in die Vaubanallee ein und verläuft überwiegend in Nordlage bis zur Endhaltestelle Innsbrucker Straße. Ausbauprogramm „Stadtbahn 2020“ und Nachtverkehr Zwischen Februar 2009 und November 2010 wurde der Streckenabschnitt durch die Habsburger Straße vollständig saniert. Die Straßenbahn erhielt in weiten Teilen einen eigenen, begrünten Bahnkörper. Zudem wurden die drei Haltestellen Tennenbacher Straße, Hauptstraße und Okenstraße barrierefrei umgebaut. Der Streckenabschnitt zwischen Maria-Hilf-Kirche und Musikhochschule entlang der Schwarzwaldstraße wurde 2011 modernisiert. Am 15. März 2014 wurde der 1,8 Kilometer lange Streckenabschnitt von der Reutebachgasse durch die Ortsmitte Zähringens bis zur Gundelfinger Straße nach dreijähriger Bauzeit eröffnet. Teil dieses Projektes war zudem der Neubau der Haltestelle Reutebachgasse etwa 50 Meter weiter nördlich. Die Trasse folgt dem Verlauf der Zähringer Straße, unterquert die Güterumgehungsbahn und verläuft auf eigenem Bahnkörper westlich der Gundelfinger Straße bis zum südlichen Ortsrand der Nachbargemeinde Gundelfingen. Ein Teil der dortigen Wendeschleife liegt auf Gundelfinger Gemarkung, somit verlässt die Freiburger Straßenbahn erstmals den Stadtkreis Freiburg. Die Kosten für dieses Bauvorhaben betrugen 24,5 Millionen Euro. Von Anfang Juni bis Ende Oktober 2014 wurden die Gleise am Knotenpunkt Bertoldsbrunnen erneuert, nachdem es dort vermehrt zu Weichenbrüchen gekommen war. Während der Großbaustelle mussten sämtliche Linien am Rande der Innenstadt (Siegesdenkmal, Stadttheater, Holzmarkt und Schwabentorschleife) umsetzen. Eine betriebliche Besonderheit in dieser Zeit war die mit GT8N bediente Linie 1 Ost, da hierfür – aufgrund der fehlenden Gleisverbindung zum Depot – ein provisorischer Betriebshof an der Mösleschleife eingerichtet werden musste. Zum Fahrplanwechsel am 14. Dezember 2014 wurde im Rahmen eines im März desselben Jahres durch den Stadtrat beschlossenen Konzeptes zur Verminderung von Lärm in der Innenstadt erstmals ein durchgängiger Straßenbahn-Nachtverkehr im 30-Minuten-Takt in den Nächten vor Samstagen, Sonntagen und vor ausgewählten Feiertagen eingeführt. Davon ausgenommen blieben lediglich die Abschnitte Johanneskirche – Günterstal und Technisches Rathaus – Hornusstraße. Das Angebot kostet pro Jahr rund 550.0000 Euro und wird laut VAG „sehr gut“ angenommen. Zählungen im November 2014 ergaben eine hohe vierstellige Zahl an Fahrgästen pro Nacht. Mit der Teilinbetriebnahme der – am 14. Juni 2013 begonnenen – Stadtbahn Messe bis zur Station Technische Fakultät am 11. Dezember 2015 wurde mit der Linie 4 eine fünfte Linie eingeführt. Die 1,5 Kilometer lange Strecke zweigt über ein Gleisdreieck nördlich der Robert-Koch-Straße vom Bestandsnetz ab und führt über die Breisacher Straße und die Berliner Allee bis zur provisorischen Stumpfendstelle unmittelbar nördlich der Unterführung der Bahnstrecke Freiburg–Colmar und des S-Bahn-Haltepunkts Freiburg Messe/Universität. Ab dem 15. Januar 2015 wurde eine zweite Nord-Süd-Strecke über Kronenstraße, Kronenbrücke, Werthmannstraße, Platz der Alten Synagoge, Rotteckring und Friedrichring bis zum Siegesdenkmal gebaut. Mit der sogenannten Westerweiterung der Innenstadt verbunden waren neben der Straßenbahntrasse auch eine neue Fußgängerzone und umfangreiche städtebauliche Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung. Die 2,4 Kilometer lange Trasse wird voraussichtlich 55 Millionen Euro kosten. Die Vorarbeiten begannen bereits Mitte 2013. Für die neue Strecke musste die Kronenbrücke abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Am Knotenpunkt Siegesdenkmal wurde 2017 die bisherige Haltestelle in Insellage aufgegeben und durch eine neue am nördlichen Rand der Fußgängerzone ersetzt, die einen Einsatz der 42 Meter langen Combino und Urbos ermöglicht. Die Bahnsteige der vorherigen Haltestelle waren hierfür zu kurz. Für die Baumaßnahmen mussten die Linien 2 und 4 von 6. März 2017 bis 9. Dezember 2017 zwischen Bertoldsbrunnen und Siegesdenkmal unterbrochen werden, für diese Zeit wurde eine provisorische Ersatzhaltestelle am südlichen Ende der Habsburger Straße eingerichtet. Zum Fahrplanwechsel 2019 wurde die Haltestelle Siegesdenkmal nach dem neu benannten Platz in Europaplatz umbenannt. Am 10. Februar 2019 fuhr erstmals eine Bahn über die neue Strecke und ab 11. begann die VAG mit Schulungen ihrer Stadtbahnfahrer. Sie wurde offiziell am 16. März 2019 in Betrieb genommen. Die Ende 2015 eröffnete Strecke zur Technischen Fakultät wurde seit Mai 2019 um circa einen Kilometer bis zur Kreuzung Madisonallee/Hermann-Mitsch-Straße verlängert. Dort entstand eine Wendeschleife mit P+R-Platz. In ursprünglichen Plänen war eine Trassierung über die Emmy-Noether-Straße und parallel zu den Messehallen mit einer damit verbundenen doppelten Querung der Madisonallee vorgesehen. Da diese Streckenführung laut Eisenbahn-Bundesamt jedoch eine Unter- bzw. Überführung oder eine Beschrankung benötigt hätte, verläuft die neue Strecke am westlichen Rand der Madisonallee auf eigenem Bahnkörper. Ein weiterer Vorteil ist die bessere Erschließung des neuen Fußballstadions des SC Freiburg am Standort Wolfswinkel. Dazu wurde auf der westlichen Seite eine Bedarfshaltestelle mit zehn Weichen eingerichtet. Die VAG rechnet damit, dass an Heimspieltagen etwa 12.400 Stadionbesucher die Straßenbahn zur An- und Abreise nutzen werden. Vor dem ersten Spiel des SC-Freiburg im Europa-Park-Stadion wurde auch die Haltestelle, die bisher nur Stadion hieß, im September 2021 so benannt. Der unmittelbar an die Streckenführung anschließende Flugplatz Freiburg stellte eine besondere Herausforderung an die Planung dar. Im Bereich des An- und Abflugs auf die Runway 16/34 verläuft die Straßenbahn daher in einem leichten Einschnitt und die Oberleitung wurde in geringerer Höhe als üblich befestigt. Diese rund 320 Meter lange Beton-Stützwand wie auch das Aufsichtsgebäude an der Stadionhaltestelle wurde im Auftrag der VAG vom Freiburger Graffiti-Künstler Tom Brane mit Freiburg-Motiven künstlerisch gestaltet. Um das Risiko für wartende Fahrgäste an der Haltestelle Europa-Park Stadion zu minimieren, ist der gesamte Flugverkehr bei Betriebsrichtung 34 sowie Landungen bei Betriebsrichtung 16 im Zeitraum der Abreise der Stadionbesucher, das heißt jeweils eine Stunde nach Spielende, untersagt. Die neue Streckenführung führte zu einer erheblichen Verzögerung, auch aufgrund der Covid-19-Pandemie, der ursprünglich für 2016 geplanten Eröffnung, die nun zum Fahrplanwechsel am 13. Dezember 2020 erfolgte. Bis Inbetriebnahme des Europa-Park Stadions wurden zu den Heimspielen des SC Freiburg im Dreisamstadion zusätzlich zu den regulären Zügen auf der Linie 1 Verstärkerkurse zwischen Bissierstraße und Littenweiler eingesetzt. Diese sogenannten Eilzüge waren statt mit einer Liniennummer mit einem Fußballsymbol gekennzeichnet. Sie verkehrten auf dem Hinweg zwischen Bertoldsbrunnen und Römerhof, von wo aus die Spielstätte in fünf Minuten zu Fuß erreichbar war, ohne Halt. Nach Spielschluss fuhren die ersten fünf Bahnen ohne Halt bis Oberlinden. Da die Gleise in der Salzstraße zwischen Bertoldsbrunnen und Schwabentor aus dem Jahre 1978 stammten, mussten sie erneuert werden. Die Arbeiten begannen im April 2021 und waren bis 15. August 2021 abgeschlossen. Im September 2020 wurde mit den Bauarbeiten zur Verlegung der Linie 2 von der Komturstraße in die Waldkircher Straße begonnen. Die Strecke durch die Komturstraße wurde am 10. April 2022 nach 95 Jahren stillgelegt. Die neue Trasse durch die Waldkircher Straße wurde am 14. Juni 2023 pünktlich und im Kostenrahmen geblieben eröffnet. Betrieb Übersicht Die fünf Straßenbahnlinien, die allesamt Durchmesserlinien sind, bedienen zusammen 78 Haltestellen. Der mittlere Haltestellenabstand betrug dabei 2012 456 Meter. Mit der Haltestelle Stadthalle (früher Messplatz genannt) in der Mösleschleife, die jedoch abgesehen von der Oldtimerlinie 7 nicht planmäßig bedient wird, sowie der nur bei Betriebsstörungen in der Innenstadt genutzten Haltestelle Schwabentorschleife existieren insgesamt 75 Stationen. Die Straßenbahn verkehrt montags bis freitags zwischen 4:40 Uhr und 1:00 Uhr, am Wochenende durchgehend. Die Linie 2 fährt am Wochenende nur zwischen 5:00 und 0:30. Die Streckenlänge beträgt 35,7 Kilometer, die kumulierte Linienlänge 42,6 Kilometer. Anfang 2019 waren etwa 430 Straßenbahnfahrer bei der VAG beschäftigt. Die VAG betrieb 2014 insgesamt 24 Unterwerke mit einer installierten Trafo-Gesamtleistung von 33,75 Megavoltampere (MVA). Die Einrichtungswagen der Typen GT8K und GT8N können auf den Linien 2 und 5 nicht eingesetzt werden, weil nicht an allen Endhaltestellen Wendeschleifen zur Verfügung stehen. Die Triebwagen der Typen Combino und Urbos können auf der Linie 2 nicht eingesetzt werden, da sie nicht für die Strecke nach Günterstal zugelassen sind. Die GT8Z kommen auf der Linie 1 in der Regel nicht zum Einsatz, weil ihre Kapazität für diese aufkommensstärkste Linie des Netzes zu gering ist. Da die Haltestelle Europa-Park Stadion nur auf einer Seite Bahnsteige hat, wird sie im Regelbetrieb von der Linie 4 nur in Richtung Zähringen angefahren. Abends von 21:00 Uhr bis 22:16 Uhr treffen sich zu den Minuten 01, 16, 31 und 46 die Linien 1, 2, 3, und 4 in beiden Richtungen zu einem Rundumanschluss am Bertoldsbrunnen, anschließend dann bis Betriebsschluss im 30-Minuten-Takt zu den Minuten 01 und 31. Auf den Linien 1, 3, 4 und 5 wird ein Nachtverkehr im 30-Minuten-Takt (ab Bertoldsbrunnen 1:00 Uhr bis 4:30 Uhr) in den Nächten auf Samstag, Sonntag und vor ausgewählten Feiertagen angeboten. Günterstal und andere inner- und außerstädtische Ziele sind per Taxi bzw. Bus an das Nachtnetz angeschlossen. Die Ein- und Ausrückfahrten vom und zum Betriebshof West sind mit einem roten Schrägstrich statt einer Liniennummer gekennzeichnet. Eine Freiburger Besonderheit sind dabei die langen Rückwärtsfahrten der Einrichtungswagen beim Ein- und Ausrücken, diese erfolgen ohne Fahrgäste und mit Hilfe des Heckführerstands. Dieses Verfahren ist auf den Abschnitten VAG-Zentrum – Runzmattenweg (Linie 1) und Heinrich-von-Stephan-Straße – Vauban, Innsbrucker Straße (Linie 3) anzutreffen. Mit Ausnahme der Haltestellen Bertoldsbrunnen, Oberlinden und Klosterplatz verfügen alle Stationen über Bahnsteige und ermöglichen damit einen barrierefreien Zustieg in die Niederflurfahrzeuge. Die Kursnummern werden nicht nach Linien (zum Beispiel Linie 3, Kurs 1), sondern aus einem dreistelligen Zahlenbereich vergeben. Ursprünglich handelte es sich um einen zweistelligen Bereich. Abgesehen von den Endhaltestellen sind alle Stationen der Freiburger Straßenbahn Bedarfshalte. Sonderverkehr zum Europa-Park-Stadion Bei Heimspielen des SC Freiburg im Europa-Park Stadion verkehren ab drei Stunden vor Spielbeginn zusätzlich zur regulären Linie 4 drei Sonderlinien. Diese verkehren vor dem Spiel auf den Strecken Bertoldsbrunnen-Hauptbahnhof-Europa Park Stadion, Bissierstraße-Europa Park Stadion und Paduaallee-Europa Park Stadion. Nach Spielende starten die drei Sonderlinien von der Dreifach-Haltestelle Europa-Park Stadion und fahren als Eilzug ohne Zwischenhalt bis Rathaus im Stühlinger Tarif Das gesamte Netz befindet sich in der Tarifzone A des RVF, das heißt für eine Fahrt mit der Straßenbahn gilt immer die Preisstufe 1. Die Fahrradmitnahme ist in der Straßenbahn zu keiner Tageszeit erlaubt. Traditionell ist an Eröffnungstagen neuer Strecken die Beförderung im VAG-Netz kostenlos. In allen Wagen und an bedeutenden Haltestellen stehen Fahrkartenautomaten zur Verfügung. Der Erwerb von Fahrkarten beim Fahrer ist seit Anfang 2016 nicht mehr möglich. Entwicklung der Fahrgastzahlen * = Die Fahrgastzahlen der Jahre 1984, 1985 und 2000 beinhalten auch Busse und Schienenersatzverkehre, da für diese Jahre keine explizite Statistiken vorliegen. Streckenchronik Die nachfolgende Tabelle zeigt alle Eröffnungen (weiß hinterlegt) und Streckenstilllegungen (grau hinterlegt) im Personenverkehr, temporäre Einstellungen sind nicht berücksichtigt. Linienchronik Die Linien erhielten zunächst Buchstaben, ehe diese 1909 auf arabische Ziffern umgestellt wurden. Jede Linie besaß eigene Zielschilder, die sich farblich von den anderen unterschieden. Die offizielle Einführung von Linienfarben erfolgte im Sommerfahrplan 1921. Diese wurden jedoch nicht zu allen Zeiten an den Fahrzeugen angezeigt, sondern dienten teilweise nur der betriebsinternen Unterscheidung oder waren nur auf Netzplänen aufgeführt. Als Besonderheit führte die VAG mit der Liniennetzreform des Jahres 1983, als sich die Farben der Linien änderten, farbige Rollbandanzeigen für die Liniennummer ein. Dies war darüber hinaus in Deutschland nur in wenigen weiteren Städten anzutreffen. Tagesverkehr 1) = nur im Berufsverkehr 2) = Bombardierung Freiburgs am 27. November 1944. 3) = Nur an den ersten Samstagen in den Monaten von Mai bis September und betrieben durch die Freunde der Freiburger Straßenbahn e. V. (FdFS). 4) = Das Zielschild war diagonal geteilt. Oben links weiß und unten rechts rot. Nachtverkehr Der Nachtverkehr „Safer Traffic“, welcher ab 1996 mit Bussen angeboten wurde, wird seit dem 14. Dezember 2014 zu großen Teilen mit der Straßenbahn abgewickelt. Probleme Schon gut ein halbes Jahr nach Inbetriebnahme bzw. Erneuerung (März 2014) der Gleise in Zähringen bis zur Gundelfinger Straße mussten die Schienen in den Kurven verstärkt werden, im Sommer 2015 waren sie erneut übermäßig abgefahren. Zu der Zeit verkehrten dort nur Bahnen des Typs GT8Z. Nachdem 2015 ein lautes Quietschen der Bahnen in der Kurve am Bertoldsbrunnen auffiel, wurde die VAG 2017 und 2018 von Anwohnern deswegen und weil die Klimaanlagen zu laut seien angezeigt. Im April 2019 wurde bekannt, dass die VAG die Ursache für Quietschen und übermäßigen Verschleiß von Schienen und Rädern gefunden hat. Bei dem Typ GT8Z waren Verschraubungen zu locker. Außerdem rüstet sie seit 2018 die Schmiervorrichtungen und -mittel auf allen Bahnen um. Nach zweieinhalb Jahren Betrieb musste Ende 2019 in der Gleiskreuzung am Stadttheater ein Schienenstück wegen eines Längsrisses ausgetauscht werden. Fahrzeuge Aktuell eingesetzte Fahrzeuge GT8K 1981 wurde nach guten Erfahrungen mit den 1971 ausgelieferten GT8 Geamatic zur Inbetriebnahme der Strecke nach Landwasser eine weitere Serie mit zehn Fahrzeugen, die die Betriebsnummern 205–214 erhielten, beschafft. Die hochflurigen Einrichtungswagen wurden in den neuen Freiburger Hausfarben Rot/Weiß ausgeliefert und besitzen zwei Front-Scheinwerfer. Die Sitze sind im Innenraum quer im Schema 2+1 angeordnet. Anstelle des mechanischen Stufenfahrtreglers früherer Fahrzeuge erhielt die zweite Serie erstmals eine Gleichstromstellersteuerung, die über einen Sollwertgeber bedient wird. Sie ermöglicht ein weitgehend ruckfreies Beschleunigen und Abbremsen. Im Vergleich zur ersten Serie, die Scherenstromabnehmer besaß, erhielt die zweite Serie Einholmstromabnehmer. Ab 2006 beschränkten sich die Einsätze in der Regel auf die morgendliche Hauptverkehrszeit oder als Verstärker zu Fußballspielen des SC Freiburg. Wagen 205 wurde als historischer Triebwagen in den Bestand der Freunde der Freiburger Straßenbahn aufgenommen, Wagen 207 wurde 2007 verschrottet und die Wagen 208 und 209 wurden 2008 an die Straßenbahn Ulm verkauft, wo sie unter der neuen Nummer 17 zu einem Zweirichtungs-Schleifwagen zusammengefügt wurden. Von 2012 bis 2017 waren die Wagen 206 und 210–214 wegen Fahrzeugengpässen durch die Sanierung des Typs GT8Z wieder verstärkt im Einsatz. Hierfür wurde der jahrelang abgestellte Wagen 206 reaktiviert und erhielt als erstes Fahrzeug eine LED-Anzeige, bei den restlichen Fahrzeugen wurde diese Technik im März 2013 nachgerüstet. In Hinblick auf die Auslieferung der zweiten Urbos-Serie wurde Wagen 206 Anfang 2017 ausgemustert. Der Vorderteil des Wagens steht im neuen Gewerbegebiet von Bad Krozingen. Die verbliebenen beiden GT8K (212 und 214) werden montags bis freitags auf den Linien 1, 3 und 4 eingesetzt. Aufgrund ihrer anstehenden Ausmusterung wurden sie bislang auch nicht mit WLAN ausgerüstet. Einen will die VAG als eiserne Reserve behalten, die anderen vier sollen entweder verschrottet werden oder gegen Schrottwert für andere Zwecke verkauft werden. Fahren dürfen sie jedenfalls nicht mehr, so steht es in den Richtlinien zur Förderung der neuen Urbos-Wagen. GT8N 1990 lieferte Duewag eine weitere Serie mit elf weiterentwickelten GT8 zu einem Stückpreis von je 2,75 Millionen D-Mark. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern besitzen die GT8N 221–231 ein Niederflur-Mittelteil, das einen barrierefreien Einstieg ermöglicht. Zunächst wurden die GT8N vor allem auf der Linie 1 eingesetzt, wo sie die kurzfristig aus Stuttgart beschafften GT4 ablösten. Im Gegensatz zu den GT8K wurden die GT8N wieder mit Scherenstromabnehmern ausgestattet. 2001 erhielten alle Wagen eine Matrixanzeige. Die Fahrzeuge wurden zudem vom Unternehmen Cegelec aus Tschechien modernisiert, dabei wurde die veraltete Thyristor-Technik durch die relativ neue IGBT-Technik (insulated-gate bipolar transistor) ersetzt, die eine Weiterentwicklung des Thyristors darstellt. Ziel dieser Maßnahme war es, die Nutzungsdauer der Fahrzeuge zu verlängern, Wartungskosten und Stromverbrauch zu reduzieren und die Verfügbarkeit von Ersatzteilen zu verbessern. Die Modernisierung wurde 2011 abgeschlossen. Die GT8N werden werktags auf den Einrichtungslinien 1, 3 und 4 eingesetzt. Der bei einem Auffahrunfall im Dezember 2018 schwer beschädigte Wagen 223 wurde bereits ausgemustert, mit der Ausmusterung der übrigen soll perspektivisch ab 2024 begonnen werden. GT8Z Anfang der 1990er Jahre sah man sich in Freiburg nach modernen Niederflurwagen um. Deswegen lag es nahe, 1994 zur Inbetriebnahme der Strecke nach Haid bei Duewag eine Serie von 26 GT8Z (241–266) mit einem Niederfluranteil von 48 Prozent zu bestellen. Der Anschaffungspreis betrug je vier Millionen D-Mark. Gleichzeitig mit der Auslieferung wurden die letzten verbliebenen GT4 ausgemustert. Die Zweirichtungswagen können auf allen Linien flexibel eingesetzt werden. Auf der Linie 2 wird wegen der kurzen Endhaltestelle in Günterstal ausschließlich dieser Typ eingesetzt, während Einsätze auf der Linie 1 wegen der geringeren Kapazität selten sind. Nach zwanzig Betriebsjahren wurden zunehmend Rostschäden festgestellt. Deswegen wurden die GT8Z von 2012 bis 2021 grundlegend modernisiert. Diese Modernisierung umfasste eine Erneuerung des Wagenkastens und einen Austausch der Transistoren im Siemens-Prüfcenter Wegberg-Wildenrath, eine Erneuerung der Elektronik durch Cegelec, ein neues Lackierungsschema in rot-weiß-schwarz und ein angepasstes Innendesign mit neuen Sitzpolstern. Der Wagen 243 brach bei einem schweren Unfall am 2. Februar 2023 auseinander und wird daher höchstwahrscheinlich verschrottet. Combino Basic Durch die Eröffnung der Strecken ins Rieselfeld und nach Haslach stieg der Fahrzeugbedarf weiter an. Deswegen wurde eine Serie mit neun Fahrzeugen beim Duewag-Nachfolgeunternehmen Siemens bestellt. Die ersten siebenteiligen Zweirichtungswagen wurden 1999 ausgeliefert. Auf Grund gravierender Konstruktionsmängel mussten 2004 sämtliche Combinos aus dem Verkehr gezogen werden. Zuvor war das Lösen von einigen Schraubverbindungen festgestellt worden, was die Betriebssicherheit erheblich einschränkte. Grund für diese Probleme, die ein weltweites Ausmaß annahmen, war eine falsche Berechnung der Wagenkästen, irrtümlich wurden die Werte für Hochflurfahrzeuge angenommen. Wagen 272 wurde in diesem Zusammenhang künstlich gealtert, um mehr Erkenntnisse über die Festigkeit der Wagenkästen zu erlangen. Nach diesen Versuchen war dieser Wagen nicht mehr zu gebrauchen und schied aus dem Fahrbetrieb aus. Die Sanierung der Combinos zog sich noch bis 2007 hin. Combino Advanced Die Combino Advanced wurden von Siemens auf eigene Rechnung gebaut und der VAG zunächst kostenlos zur Verfügung gestellt. Bei dieser 2004 und 2006 ausgelieferten Serie mit den Betriebsnummern 281–290 wurden die Wagenkästen von Anfang an verstärkt, um ähnliche Probleme wie beim Combino Basic zu vermeiden. Ursprünglich waren nur neun Fahrzeuge vorgesehen, Wagen 290 wurde als Ersatz für den verschrotteten Combino 272 geliefert. Die siebenteiligen Zweirichtungswagen unterscheiden sich von ihren Vorgängern durch eine rundere Kopfform. Zudem ist der gesamte Fahrgastraum klimatisiert, bei den Combino Basic nur die Fahrerkabine. Urbos Am 4. Februar 2013 erhielt das spanische Unternehmen CAF unter vier Bewerbern den Zuschlag für zwölf rund 42 Meter lange siebenteilige Zweirichtungswagen des Typs Urbos 100 mit je vier Drehgestellen. Der Kaufpreis lag bei 36 Millionen Euro. Der erste Wagen mit der späteren Nummer 302 traf am 17. März 2015 ein. Fünf weitere Wagen der ersten Serie mit den Nummern 301 und 303 bis 306 wurden bis Sommer 2015 ausgeliefert. Nach Erprobungs- und Schulungsfahrten begann am 22. Juli 2015 der reguläre Einsatz. Die neuen Fahrzeuge fahren auf den Linien 1, 3, 4 und 5. Die Auslieferung der zweiten Serie mit den Nummern 307 bis 312 war zwischen Februar und Juli 2017. Ab Sommer 2017 waren zwölf Urbos (301–312) im Fahrgastbetrieb. Am 6. Juni 2018 unterzeichneten VAG und CAF einen Vertrag über die Lieferung von fünf weiteren Fahrzeugen dieses Typs, die die letzten hochflurigen GT8K ersetzen sollen. Das erste Fahrzeug mit der Nummer 313 wurde im November 2020 ausgeliefert. Wegen einiger Modifikationen folgt zunächst ein aufwändiger Prozess für die Serienzulassung, daher sind die Urbos der dritten Lieferserie erst seit April 2021 im Fahrgastbetrieb. Sie sind serienmäßig mit einer Schienenkopfkonditionierungsanlage ausgestattet, die den Gleisverschleiß mindern soll. Das Land Baden-Württemberg bezuschusst den Kauf mit einer Million pro Wagen. Im Mai 2021 unterzeichnete die VAG einen Vertrag über die Lieferung von weiteren acht Fahrzeugen, die ab Herbst 2023 ausgeliefert werden und die GT8N ersetzen sollen. Bei Unfällen wurden die Wagen 309, 302, 310 und 311 stark beschädigt und mussten anschließend in Spanien wieder in Stand gesetzt werden. Übersicht Ehemalige Fahrzeuge und Museumsfahrzeuge Triebwagen Folgende Triebwagen wurden für die Straßenbahn beschafft, die aktuell nicht mehr im regulären Linienverkehr eingesetzt werden. Bis 1959 beschaffte die Gesellschaft ausschließlich Zweiachser beziehungsweise kurze vierachsige Maximumtriebwagen, ab diesem Jahr dann nur noch Gelenkwagen. Großraumwagen waren hingegen in Freiburg nie im Einsatz. Alle bisher ausgemusterten Fahrzeuge waren hochflurig. Die noch erhaltenen Wagen werden teilweise auf der vom Freunde der Freiburger Straßenbahn e. V. (FdFS) betriebenen Oldtimerlinie 7 eingesetzt. Die pendelt in den Monaten Mai bis September an jedem ersten Samstag eines Monats im Halbstundentakt zwischen Paduaallee und der Stadthalle, hält an allen Zwischenstationen und kann kostenlos benutzt werden. Die historischen Fahrzeuge sind im ehemaligen Betriebshof Süd an der Urachstraße stationiert. Beiwagen Arbeitswagen Ursprünglich besaßen die Arbeitswagen 200er Nummern. Seit 1971 werden sie mit 400er Nummern bezeichnet, da die GT8 damals die 200er Nummern erhielten. Noch eingesetzte Fahrzeuge sind grau hinterlegt: Lackierungen und Werbung Die allgemeine Lackierung für Fahrzeuge der Städtischen Straßenbahn wurde 1901 auf hellgelb mit braunen Seitenplatten aus Teakholz festgelegt. Fahrzeugreklame wurde strikt abgelehnt, da ansonsten „die Eleganz der Straßenbahn“ ganz erheblich leiden würde. Zu einer Auflockerung des Werbeverbots kam es erst in Folge der Wirtschaftskrise im Juli 1919. Seitdem wurde versuchsweise Geschäftsreklame im Innenraum gebilligt. 1921 schloss die Stadt einen dreijährigen Pachtvertrag mit der Berliner „Verkehrs-Propaganda GmbH“. Auf Grund heftiger Kritik der Bürger und der Direktion der Straßenbahn, die Werbung an den Außenflächen als „gesprenkelte und getigerte Ungetüme“ bezeichneten, übernahm die Stadt ab 1925 wieder die Zuständigkeit und beschloss 1927 ein Konzept für die Straßenbahnreklame. Dieses sah vor, dass städtische Betriebe die Möglichkeit erhalten sollten, im Wageninneren für ihr Unternehmen zu werben, die Außenflächen sollten als Kompromiss in der ursprünglichen Lackierung belassen werden. Deshalb entstand ab 1930 eine weitere Form der Fahrzeugreklame. Unternehmen konnten ausgemusterte Wagen mieten, um diese vollständig mit Werbetafeln zu verkleiden und in deren Auftrag ohne Fahrgäste durch die Stadt fahren zu lassen. Erster Kunde einer solchen Reklamestraßenbahn war der Zirkus Sarrasani. Die Nationalsozialisten nutzen diese Reklame zu Propagandazwecken und beschrifteten den Triebwagen 13 mit dem Slogan „Wir fahren gen England!“. Oberbürgermeister Wolfgang Hoffmann führte 1949 die Werbung auf seitlich angebrachten Dachschildern ein und kündigte an, mit dem Erlös jährlich einen weiteren Omnibus zu finanzieren. Die Farbgestaltung wurde auf braune Schrift mit elfenbeinfarbenem Grundton festgelegt. Dachschilder wurden fortan auf allen Fahrzeuggenerationen bis zu den GT8N angebracht und sind somit bis heute als Werbeplattform anzutreffen. 1964 wurden die vollständigen Vermarktungsrechte für Werbung an die Schiffmann & Co GmbH, eine Schwesterfirma der Werbezentrale Lloyd, die bereits seit 1953 die Dachschilder verpachtet hatte, übertragen. Mit diesem Schritt wurde erstmals Reklame an der Rumpffläche zugelassen. Mit den 1981 beschafften GT8K führte die Gesellschaft außerdem eine neue rot-weiße Farbgebung ein, die das cremefarbene Design mit grünen Zierstreifen ablöste. Die neue Lackierung orientierte sich zum einen an den Farben des Freiburger Stadtwappens, zum anderen an den Stadtbahnbetrieben jener Zeit, wo sie damals insbesondere im Rhein-Ruhr-Gebiet, aber auch in Frankfurt und Nürnberg anzutreffen war. Nach und nach wurden die älteren Fahrzeuge umlackiert. Am 26. März 1994 wurden zur Inbetriebnahme der Strecke zur Munzinger Straße die ersten Fahrzeuge mit Ganzreklame und teilweise beklebten Fensterflächen ausgestattet. Bis zu 25 % der Fensterfläche ist erlaubt. So weit sie keine Ganzwerbung tragen, sind die Combinos überwiegend rot lackiert. Bei den Combino Basic verlaufen zwischen den Führerkabinen weiße Streifen über und unter den Fenstern, bei den Combino Advanced ist das Fensterband schwarz abgesetzt, mit einem weißen Streifen darüber und weißen Türen. 2011 wurde GT8N 225 umlackiert, um diesem Fahrzeug ein moderneres Erscheinungsbild zu geben. Charakteristisch für das neue Design sind der lichtgraue Grundton und der rote „VAG-Schweif“. Der Wagen blieb ein Einzelstück und die Lackierung wurde für eine Ganzreklame inzwischen wieder teilweise entfernt. Im Zuge der GT8Z-Sanierung erhielten seit Oktober 2013 mehrere Wagen dieses Typs eine neue Lackierung, die an die Lackierung der Urbos anlehnt. Die Grundfarben rot und weiß wurden beibehalten und durch schwarze Streifen ergänzt. Inneneinrichtung Die erste Serie zweiachsiger Triebwagen von 1901 konnte insgesamt 31 Fahrgäste aufnehmen. Im Wageninnenraum befanden sich zwei hölzerne Längsbänke, die zusammen 16 Personen Platz boten. Die großen Seitenfenster konnten bei Bedarf mit Vorhängen verdunkelt werden. Die Beleuchtung und Handschlaufen für stehende Passagiere wurden an der Fahrzeugdecke angebracht. 1903 wurden drei passende Beiwagen in Betrieb genommen, die ebenfalls über längs angeordnete Holzsitze verfügten. Im Gegensatz zu den bisherigen Fahrzeugen war eine Umwandlung in einen offenen Salonwagen möglich. Hierfür konnten die mit Bronze umrahmten Spiegelglasscheiben vollständig in die Brüstung versenkt werde. Die nächste, 1907 gelieferte, Beiwagengeneration mit den Wagennummern 38–40 erhielt Quersitze mit Lederüberzügen im 2+1-Schema. Zudem wurden die neuen Anhänger erstmals mit umlegbaren Lehnen und einer Sprungfederpolsterung ausgestattet. Die Verbandswagen, die Gelenkwagen des Typs Sputnik und die GT4 in Zweirichtungsausführung erhielten Sitze aus dem kostengünstigen Holzwerkstoff Durofol. Im Gegensatz dazu waren die gebraucht aus Stuttgart übernommenen Wagen mit Kunstledersitzen ausgestattet. Die Bestuhlung in den 1959 beschafften Sputniks war erstmals reihenweise in Fahrtrichtung angeordnet. Die klappbaren Sitze auf der Innenseite sollten zudem den Zugang zum Nebenplatz erleichtern. Die ersten beiden GT8-Serien erhielten Sitze aus Kunststoff, während die seit 1990 beschafften Fahrzeuge mit einer Stoffpolsterung ausgestattet sind. Diese umfasst bei den GT8N nur die Sitzfläche, während bei neueren Fahrzeugen auch die Rückenflächen gepolstert sind. Depots West (VAG-Zentrum) Der Betriebshof West an der Besançonallee wurde in den 1970er Jahren errichtet. Zunächst diente das 100.000 Quadratmeter große Gelände ausschließlich als Depot für Busse, war jedoch von Anfang an für eine spätere Übernahme des gesamten Straßenbahnfuhrparks ausgelegt. Mit der Eröffnung der Strecke Bissierstraße–Haid 1994 erhielt der Betriebshof West einen Anschluss an das Schienennetz. Heute befinden sich auf dem Gelände neben großen Abstellhallen für Busse und Straßenbahnwagen sämtliche Werkstätten und die Verwaltung der VAG. Die Abstellhallen, die bislang Platz für gut 50 Fahrzeuge boten, wurden 2015 um weitere 17 Stellplätze erweitert, um zusätzliche Kapazitäten für die Urbos zu schaffen. Süd (Urachstraße/Lorettostraße) Der Betriebshof Süd im Stadtteil Wiehre besteht seit 1901 und war bis 1994 eines von zwei regulären Depots der Freiburger Straßenbahn. Er liegt an der Urachstraße, unweit der Haltestelle Lorettostraße. Die Errichtung dieses Depots war nicht im Bauauftrag für die Straßenbahn enthalten, sondern wurde vom städtischen Hochbauamt übernommen. Die Jugendstilgebäude wurden 1907/1908 um ein Hinterhaus und einen Zwischenbau erweitert. Zudem wurde die Wagenhalle, die anfangs für 35 Fahrzeuge ausgelegt war, zeitgleich um eine weitere Abstellhalle ergänzt, sodass nach diesem Umbau 77 Fahrzeuge stationiert werden konnten. Nach der Eröffnung der zweiten Wagenhalle des Betriebshof Nord verblieben lediglich fünf Kurswagen und die Omnibusse auf dem Gelände. Mit dem Anschluss des neuen Betriebshofs West an das Schienennetz 1994 verlor das Depot die letzten verbliebenen Fahrzeuge des regulären Linienverkehrs. Zurzeit sind im westlichen und älteren Teil des Depots die historischen Fahrzeuge der Freunde der Freiburger Straßenbahn untergebracht, die östliche Halle dient der Feuerwehr. Nord (Komturstraße) Bedingt durch eine stetige Erweiterung des Fuhrparks aufgrund der Ausbaumaßnahmen stieß der Betriebshof Süd in den 1920er Jahren an seine Kapazitätsgrenzen. Deswegen wurde 1928 zeitgleich mit der Eröffnung des Streckenabschnitts Rennweg–Komturplatz ein neues Depot an der Komturstraße in Betrieb genommen. Die fünfgleisige Halle bot 30 zweiachsigen Fahrzeugen Platz. Fortan wurde ein Großteil der neuen Fahrzeuge in den Betriebshof Nord angeliefert, da dieses Depot im Vergleich zum Betriebshof Süd wesentlich besser an das Straßen- und Schienennetz angeschlossen war; auch die Stichstrecke zum Güterbahnhof befand sich in unmittelbarer Nähe. Zudem war er mit seiner zweiseitigen Zufahrt – anders als das Depot Urachstraße – für die Unterbringung von Einrichtungsfahrzeugen geeignet. Am 15. April 1950 wurde die zweite Abstellhalle in Betrieb genommen, die 48 weitere Zweiachser aufnehmen konnte. Nach der Eröffnung des Betriebshofs West verlor der Betriebshof Nord an Bedeutung. Bis 2006 wurden in den Abstellhallen noch einige als Reserve dienende GT8K untergebracht, ehe das Gebäude 2007 abgerissen wurde, um eine Wohnbebauung des Geländes zu ermöglichen. Gleislager (Kaiserstuhlstraße) Anfang der 1920er Jahre ging in der Kaiserstuhlstraße im Güterbahnhofareal ein Gleislager in Betrieb. Dieses wurde mit dem im Zweiten Weltkrieg für Lazaretttransporte errichteten Gleis durch die Neunlindenstraße an das Streckennetz angebunden. Die Gesellschaft stationierte auf dem Gelände die Arbeitsfahrzeuge und unterhielt einen Verschrottungsplatz, an dem ausgemusterte Wagen zerlegt wurden. In den 1980er Jahren wurde das Lager stillgelegt und die Gleisverbindungen zurückgebaut. Planungen Planungen bis 2030 Am 7. Mai 2020 legten die Stadtverwaltung und die VAG einen Zehnjahresplan zum weiteren Ausbau vor, über den der Gemeinderat am 27. Mai 2020 entschied. Als Argumente dafür werden die gewünschte Mobilitätswende zum Erreichen der Klimaschutzziele, die weiter stark wachsende Stadt mit gestiegenen Verkehrsbedürfnissen und deutlich umfangreichere Förderungsmöglichkeiten durch den Bund, der bis zu 95 Prozent der Kosten übernehmen würde, genannt. Die Kosten der einzelnen Projekte werden zusammen auf etwa 75-80 Millionen Euro geschätzt. Laßbergstraße – Kappler Knoten (2025–2028) Geplant ist, die Linie 1 von der jetzigen Endhaltestelle Laßbergstraße über den Bahnhof Littenweiler und eine beim Bau des Kappler Tunnels freigehaltenen Trasse parallel zur Höllentalbahn bis zum Kappeler Knoten zu verlängern. Die Strecke sollte ursprünglich 2005 eröffnet werden, wurde aber nicht in die Beschlüsse zum Stadtbahnausbau in den 2010er Jahren aufgenommen. Da durch den Bau des Stadttunnels im Zuge der B 31/A 860 für mehrere Jahre erhebliche Verkehrseinschränkungen im motorisierten Individualverkehr zu erwarten sind, könnte der Verlängerung eine erhebliche Bedeutung zukommen. Der Baubeginn ist für Ende 2025/Anfang 2026 vorgesehen und soll dann zwei Jahre dauern. Im Jahr 2020 war der Baubeginn noch für 2024 vorgesehen und wurde mehrmals in kleinen Schritten nach hinten verschoben. Es sollen drei neue Haltestellen entstehen. Neben der Haltestelle am Bahnhof Littenweiler und der Endhaltestelle am Kappler Knoten ist eine weitere Haltestelle auf Höhe der Römerstraße vorgesehen. Für die Haltestellen am Kappler Knoten und auf Höhe der Römerstraße sind Übergänge über die Gleise der Höllentalbahn geplant, um die Wohngebiete südlich der Bahnlinie anzuschließen. Durch den Einsatz von Zweirichtungsfahrzeugen kann auf Wendeschleifen verzichtet werden. Die bisherige Haltestelle Laßbergstraße an der Wendeschleife soll auf die Hansjakobstraße verlegt, das Areal der Wendeschleife anderweitig bebaut werden. Nach bisheriger Planung ist an der Endhaltestelle ein zweistöckiges Parkhaus mit bis zu 500 Stellplätzen vorgesehen. Für die Neuplanung stimmte die Verbandsversammlung des Zweckverbands Regio-Nahverkehr Freiburg (ZRF) Ende 2021 zu, 600.000 Euro und damit 60 Prozent der Kosten zu übernehmen. In einer Kalkulation im Jahr 2012 wurden die Gesamtkosten für dieses Projekt auf 15,4 Millionen Euro geschätzt, 2019 auf 22 Millionen Euro. Dietenbach (2025–2027) Der zukünftige Stadtteil Dietenbach soll ebenfalls an die Straßenbahn angeschlossen werden. Geplant ist, die bisher an der Bollerstaudenstraße im Rieselfeld endende Strecke um drei Haltestellen verlängern. Eine Haltestelle soll an der geplanten Schule am Übergang zwischen Dietenbach und Rieselfeld entstehen, eine weitere in der Ortsmitte Dietenbachs. Nach einem Abknicken nach Westen soll an der Straße Am Tiergehege die neue Endhaltestelle entstehen. Der geplante Realisierungszeitraum ist zwischen 2025 und 2027. Durch eine Umplanung des Baugebiets Im Zinklern in Lehen wäre zudem ein Ringschluss von der Ortsmitte Dietenbachs bis zur Paduaallee möglich, eine entsprechende Trasse soll freigehalten werden. Die Kosten für zwei größere Brücken über die A 860 (heute B 31a) und die Dreisam würden sich auf etwa 30-35 Millionen Euro belaufen. Fahnenbergplatz – Robert-Koch-Straße (2028–2030) Der zweite Bauabschnitt der Stadtbahn Messe soll den Fahnenbergplatz über Friedrichstraße, die Nordseite des Hauptbahnhofs und die Breisacher Straße mit der Robert-Koch-Straße verbinden. Damit würde insbesondere der am stärksten betroffene Streckenabschnitt über die Stühlingerbrücke entlastet werden. Die Stühlingerbrücke soll 2029 saniert werden, eine vorherige Fertigstellung wird als wünschenswert, aber schwer realisierbar erachtet. Die Querung des Hauptbahnhofs ist vermutlich aufwendig, sodass auch eine Untertunnelung dieses Abschnitts mit einer unterirdischen Haltestelle Hauptbahnhof Nord vorgeschlagen wurde. Eine Machbarkeitsstudie soll 2023 in Auftrag gegeben werden. St. Georgen St. Georgen ist mit über 10.000 Einwohnern Freiburgs größter Stadtteil ohne Straßenbahnanschluss. Ursprünglich war geplant, die Strecke von der Munzinger Straße bis St. Georgen Kirche weiterzuführen. Eine solche Verlängerung wird auch heute immer wieder gefordert, ist jedoch nicht im Maßnahmenplan bis 2020 enthalten. Die Planungen im Verkehrsentwicklungsplan 2020 sehen für die Anbindung zwei Ausbaustufen vor. In der ersten Ausbaustufe soll die Strecke von der Munzinger Straße über St. Georgen Kirche bis zur Wendeschleife Langgasse verlängert werden. Für die zweite Ausbaustufe gibt es fünf Trassenvarianten: Trasse 1 (FNP-Trasse): St. Georgen Kirche – Obergasse – Andreas-Hofer-Straße – Vauban Trasse 2 (FNP-Trasse): St. Georgen Kirche – Hartkirchweg – Hüttweg – Vauban Trasse 3: St. Georgen Kirche – Hartkirchweg – Cardinalweg – Andreas-Hofer-Straße – Vauban Trasse 4: St. Georgen Kirche – Hartkirchweg – Am Mettweg – Guildfordallee – Pressehaus Trasse 5 (Stichstrecke): St. Georgen Kirche – Cardinalweg Eine neue Machbarkeitsstudie wurde auf Ende 2023 verschoben. Die Realisierung ist aufgrund der engen Straßenverhältnisse kompliziert. Gundelfingen Die Strecke nach Gundelfingen ist Teil des Projekts „Stadtbahn in die nördlichen Freiburger Stadtteile und nach Gundelfingen“. Die Trasse mit vier Haltestellen soll über die Alte Bundesstraße und die Waldstraße bis zur Badischen Hauptbahn verlaufen. In früheren Planungen wurde überlegt, den Bahnhof Gundelfingen um einige 100 Meter nach Norden zu verlegen, um die Straßenbahn mit der S-Bahn zu verknüpfen. Stattdessen soll eine fußläufige Verbindung von der Endhaltestelle der Straßenbahn zum Bahnhof Gundelfingen entstehen. Zukünftiges Linienkonzept Im Verkehrsentwicklungsplan 2007 wurde folgendes Liniennetz nach Eröffnung aller mittelfristig geplanten Strecken vorgeschlagen: 1 = nicht im ursprünglichen Plan enthalten, da die Planung des neuen Stadtteils Dietenbach erst deutlich nach Veröffentlichung des VEP begann. Weitere Planungen Langfristig sind zusätzlich folgende Neubaustrecken denkbar: Berliner Allee (Bissierstraße – Elsässer Straße) Merzhausen (Paula-Modersohn-Platz – Hexentalstraße) Hochdorf (Messe Freiburg – Hochdorf oder Moosweiher – Hochdorf) In älteren Planungen wurde auch noch über folgende Neubaustrecken nachgedacht: Elsässer Straße (Berliner Allee – Diakoniekrankenhaus) Denzlingen (Gundelfingen – Denzlingen) Umkirch (Bollerstaudenstraße – Mundenhof – Umkirch) Besonderheiten Die Freiburger Straßenbahn durchquert zwei historische Stadttore und ein Torhaus. Beim Schwabentor stand zwar Ende des 19. Jahrhunderts ein Abriss zur Diskussion, letztendlich entschied man sich jedoch zu einer Verbreiterung und Aufstockung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses wieder in den Ursprungszustand zurückversetzt. Darüber hinaus existieren im deutschsprachigen Raum nur noch zwei weitere solche Tordurchfahrten, hierbei handelt es sich um das Nauener Tor bei der Straßenbahn Potsdam und den Käfigturm bei der Straßenbahn Bern. Ab 1967, als die Straßenbahn Lörrach ihren Betrieb beendete, war die Überlandstrecke nach Günterstal die südlichste Straßenbahnstrecke Deutschlands. Dies galt bis 2014, als die Straßenbahn Basel nach Weil am Rhein verlängert wurde. Die Stühlingerbrücke („Stadtbahnbrücke“) ist die steilste Strecke der Straßenbahn Freiburg. Aus diesem Grund wurden die GT8 mit Allachsantrieb ausgestattet. Literatur Dietmar Gemander, Thomas Hettinger: Die Freiburger Straßenbahn. Die Zeit vor der Stadtbahn., EK-Verlag, Freiburg im Breisgau 2006, ISBN 3-88255-845-8. Mobile Stadt – Die Geschichte der Straßenbahn in Freiburg. Freiburger Verkehrs AG, Freiburg im Breisgau 2001, ISBN 3-00-008339-1. Wolfdieter Batsch: Die Freiburger Stadtbahn: ein Jahrhundertwerk kurz vor seiner Verwirklichung. Freiburger Stadthefte, Band 24, Rombach, Freiburg im Breisgau 1977. Norman Kampmann, Christian Wolf: Die Freiburger Straßenbahn heute. Mit der Freiburger Verkehrs AG durch die Breisgaumetropole., EK-Verlag, Freiburg im Breisgau 2012, ISBN 3-88255-499-1. Joachim Scheck, Daniel Charhouli: STRABA: Freiburg auf Gleisen entdecken, Promo-Verlag, Freiburg im Breisgau 2014, ISBN 978-3-923288-78-6. Weblinks Offizielle Seite der VAG Freunde der Freiburger Straßenbahn Wagenparkliste der Straßenbahn bei tram-info.de Ausbauplanungen auf der offiziellen Seite der Stadt Freiburg Bilderseite zur Straßenbahn in Freiburg auf public-transport.net Einzelnachweise Freiburg im Breisgau Verkehr (Freiburg im Breisgau) Freiburg
8390833
https://de.wikipedia.org/wiki/Schlachterladen%20in%20Sch%C3%A4ftlarn%20an%20der%20Isar
Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar
Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar ist ein Gemälde des deutschen Malers Lovis Corinth von 1897. Das Bild zeigt eine Szene aus dem Laden eines Schlachthauses in Schäftlarn nahe München. Es befindet sich im Besitz der Kunsthalle Bremen. Das Bild gehört zu einer Reihe von Genrebildern Corinths zum Thema Schlachthäuser und Fleischerläden, die in seinem Gesamtwerk mehrfach auftauchen. Diese Schlachter- und Fleischbilder Corinths werden von verschiedenen Kunsthistorikern sehr häufig als Verarbeitung von Kindheitserinnerungen als Sohn eines Gerbers interpretiert oder mit den Aktbildern des Künstlers verglichen und in Beziehung gesetzt. Bildbeschreibung Bei dem Bild Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar handelt es sich um ein Ölgemälde auf Leinwand. Es ist 69 Zentimeter hoch, 87 Zentimeter breit und am oberen rechten Bildrand mit schwarzer Farbe zweizeilig signiert mit dem Namen des Malers und der Jahreszahl . Das Bild zeigt eine Szene in einem Schlachterladen. Ein lächelnder junger Mann steht in einem Raum mit einer Schale mit Fleischstücken im Vordergrund vor einem Tresen mit einer daran hängenden Fleischwaage. Auf dem Tresen und an der Wand sind mehrere geschlachtete Schweine aufgehängt und auf dem Tresen liegen weitere Fleischteile und Tierköpfe. Den Hintergrund bildet das in Grün- und Brauntönen gehaltene Innere der Schlachterei, das von einem Fenster mit dahinter vorhandenem Blattwerk aus dem Hintergrund beleuchtet wird. Das Bild wird durch zwei Gewölbejoche in zwei gleiche Hälften geteilt. Die an der Wand hängenden Schlachttiere und die Fleischstücke auf dem Tresen und in der Schale des jungen Mannes leuchten, als würden sie von einer weiteren Lichtquelle im Vordergrund angestrahlt. Die dunkle Farbgebung des Hintergrunds kontrastiert nach der Interpretation von Horst Uhr dabei stark mit der hellen Vielfarbigkeit der Fleischstücke auf dem Tresen und an der Wand, die zudem eine fettige Textur durch den Glanz der Farbe erhalten. Die Zweiteilung des Bildes durch die Gewölbe hält das Bild optisch im Zusammenspiel mit den roten Fleischstücken und dem Gestell im Gleichgewicht. Lucia Klee-Beck betont die „strenge Komposition des Gemäldes“ mit dem zentral platzierten Tisch, der das Blickfeld symmetrisch aufteilt in einen Bereich mit Rückwand, an der ganze Tierkörper hängen, und einem vorderen Bereich der Theke mit vorgeschnittenen Fleischstücken. Die perspektivische Verkürzung wird verstärkt durch die Staffelung der Stücke nach ihrer von rechts nach links abnehmenden Größe zum Fenster hin. Hans-Jürgen Imiela beschrieb das Bild als Blick in einen niedrig gewölbten Raum, in dem die ausgeweideten Tiere sowie die Rumpfteile auf dem Tresen bis in den vorderen Bildbereich reichen, wo der dort stehende und heraussehende Junge einen Trog mit Fleischstücken hält. Er unterstreicht vor allem die Beleuchtung durch das im Hintergrund liegende Fenster, die einen deutlichen und das Bild besonders betonenden Gegenlichteffekt zur Folge hat. Entstehung und Einordnung in das Werk Corinths Zeitliche Einordnung Lovis Corinth malte das Bild Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar 1897 zum Ende seines Studiums in München. Corinth verbrachte, nachdem er sich in Königsberg und in München in der Malerei ausbilden lassen hatte, zwischen 1884 und 1887 fast drei Jahre an der Académie Julian in Paris, wo er vor allem durch die neoklassizistischen Werke von Jean-Auguste-Dominique Ingres sowie durch den Impressionismus und Pointillismus der zeitgenössischen französischen Kunst beeinflusst wurde. Seine Lehrer während dieser Zeit waren William Adolphe Bouguereau und Joseph Nicolas Robert-Fleury. Während seiner Zeit in Paris nahm Corinth aktiv an der Kunstszene teil; er besuchte den Salon de Paris, die Pariser Galerien und auch die Museen wie das Louvre. 1887 kehrte Corinth nach München zurück, inspiriert von dem im Kunstsalon Georges Petit ausgestellten Werk Die Wilderer von Wilhelm Leibl. Im Jahr 1896 entstand in München mit dem Selbstporträt mit Skelett eines der bekanntesten Werke Corinths und mit weiteren Bildern aus dieser Zeit etablierte sich Corinth sowohl in der lokalen Kunstszene in München wie auch national. Einen Fokus setzte Corinth zu dieser Zeit auf Aktszenen in historischen Kontexten. So entstanden im gleichen Jahr wie der Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar auch Bilder wie Die Versuchung des heiligen Antonius, Susanna und die beiden Alten sowie Die Hexen, daneben auch Porträts wie das Porträt des Malers Otto Eckmann. Seinen größten Erfolg dieser Zeit erreichte Corinth mit seiner 1900 gemalten Salome, einem Aktgemälde in einer historischen Szenerie, das auf die literarische Vorlage von Oscar Wilde aufbaut und das Salome, Tochter der Herodias, mit dem abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers zeigt. Da dieses Bild nicht in der Münchener Secession ausgestellt werden sollte, gab Corinth es an Walter Leistikow in Berlin, der das Bild für die Ausstellung der Berliner Secession annahm. Aufgrund des großen Erfolges des Bildes wechselte Corinth kurz darauf seinen Wohnsitz und zog nach Berlin. Inhaltliche Einordnung – Fleisch Der Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar gehört zu den bekanntesten Genrebildern Corinths, die das Thema des Schlachtens aufgreifen. Insgesamt benutzte er dieses Thema in 14 Gemälden, darüber hinaus in zahlreichen Skizzen und Grafiken wie etwa in Geschlachtetes Schwein von 1906, das sich im Museum of Modern Art in New York City befindet. Die Darstellung, das Sujet, von Schlachthausszenen und Fleischdarstellungen reicht zurück bis in die Anfänge der Malerei, die etwa durch Jagdszenen in Höhlenmalereien gekennzeichnet sind. Die frühesten überlieferten Darstellungen von Haustierschlachtungen stammen aus dem Alten Ägypten, beispielsweise in Form von Reliefdarstellungen in der Mastaba des Ti, die auf etwa 2400 v. Chr. während der 5. Dynastie des Alten Reiches datiert wird. Auch in späteren Kulturen wurde das Thema regelmäßig aufgegriffen, etwa in der Griechischen Vasenmalerei oder in Reliefs des Römischen Reichs bis in die Moderne. In der Malerei des Barock und Rokoko wurde das Thema vor allem in der italienischen und niederländischen Kunst bereits lang vor Corinth aufgegriffen und dargestellt. So malten etwa der niederländische Maler Pieter Aertsen und der italienische Künstler Annibale Carracci im 16. Jahrhundert mehrere Bilder, auf denen in einem Fleischerladen Fleischstücke und Tierhälften dargeboten werden. Auch Rembrandt van Rijn griff das Thema auf und malte unter anderen das bekannte Bild Geschlachteter Ochse von 1655, das im Louvre in Paris zu sehen ist. Dieses Bild inspirierte auch Corinth, dem es von seinem Aufenthalt in Paris bekannt war und der sich damit in Rembrandts kunsthistorische Traditionslinie einreihte. Auch Corinths Zeitgenossen griffen das Thema auf, darunter der Franzose François Bonvin mit seinem Das Schwein (Hof des Schlachters) (1874), Max Liebermann mit seinem Schlächterladen in Dordrecht (1877) und Max Slevogt mit Geschlachtetes Schwein (1906). Corinth setzte sich aufgrund seiner Kindheit jedoch deutlich intensiver und länger mit dem Fleischerhandwerk auseinander. Nach Gert von der Osten brachte Corinth seine Viehstücke und Metzgerszenen vor 1890 zur Vollendung. Bereits 1892 malte er mit den drei Bildern Schlachterei, Kühe im Stall und einer ersten Version des Geschlachteter Ochse eine erste Serie von Schlachthausszenen. 1893 folgte mit Im Schlachthaus sein erstes bekannteres Gemälde, das ebenso wie das im gleichen Jahr gemalte Schlachthausszene eine Tierschlachtung in einem düster beleuchteten Kellerraum darstellt. Auf diesem weiden fünf Metzger ein geschlachtetes Tier aus und häuten es. Vier der Personen arbeiten mit Werkzeugen am Tierkörper, während einer der Männer hinter einer mit Innereien gefüllten Schüssel steht und seine Ärmel hochkrempelt. Dieses Bild „gibt in gekonnter Manier die Stimmung beim Enthäuten eines geschlachteten Ochsen wieder“. Nach Andrea Bärnreuther „zelebriert [das Bild] das Drama des Antagonismus von Fleisch und Tod“. Nach ihrer Betrachtung findet hier ein „Kampf an zwei Fronten“ statt, die sich zum einen durch die Gruppe der Metzgergesellen an dem Tier, die sich von vorne rechts in das Bild und das Tier vorarbeiten, und zum anderen durch den Fleischhauer hinten links hinter dem Tier ergeben. Sie beschreibt dabei die gegenläufigen Bewegungen dieser beiden Szenen, die sich im Licht ergeben. Das Licht, einfallend durch ein Fenster im Hintergrund, strahlt nach ihrer Darstellung „vom entweichenden Leben“ selbst aus und „vereint Opfer und Täter in einer gemeinsamen Handlung“. Der Tierkörper bildet das Zentrum des Bildes und der Handlung, und durch die blutigen, „glitschigen“, Lachen auf dem Boden der Schlachterei entsteht eine „schwüle Atmosphäre, die weit mehr als den Augensinn anspricht“. Friedrich Gross beschreibt den Raum als „höhlenartigen Kellerraum“, in dem „das durch das Laub gebrochene, hellgrüne Licht des vergitterten Fensters“ das „Gefängnisartige der Szene“ betont, während die wilden, formvernichtenden Pinselhiebe die Gewalttätigkeit des Schlachtens hervorheben und sich die weißen und roten Pinselzüge unterschiedslos über den Kadaver und die Schlächter, über das Fleisch und die Haut sowie sogar über die Wände ausbreiten. Till Schoofs betonte den Unterschied dieses Bildes zu anderen Bildern der Zeit: „Der energische breite Pinselduktus und der skizzenhafte Charakter des Bildes unterscheiden sich von Corinths zeitgleichen akademischen Bildern und müssen in einem beinahe fieberhaften Bewegungsablauf entstanden sein.“ Das 1896 gemalte Geschlachtete Kälber zeigt wiederum nur die aufgehängten Kadaver geschlachteter Tiere im Schlachthaus. Der Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar greift die Schlachterszene auf eine andere Weise auf und zeigt „die typische Stimmung in einem Metzgerladen der Jahrhundertwende“. Alfred Rohde bezeichnete das Bild 1941 als Glanzleistung in der Fortsetzung des Themas der Schlachthäuser. und nach Georg Biermann wird es 1913 als „malerisch ungemein feines, koloristisch in feinen weiß-roten Tönen stark vertieftes Bild“ beschrieben. Hier steht allerdings nicht das Schlachten und Zerteilen selbst im Vordergrund, stattdessen wird ein freundlich wirkender Schlachtergeselle vor die geschlachteten Tiere gestellt, der dem Betrachter das frische Fleisch anbietet. Nach Lucia Klee-Beck versuchte Corinth in dem Bild zudem „das vorindustrielle Selbstverständnis solcher Einrichtungen und das handwerkliche Selbstbewusstsein ihrer Betreiber subtil“ zu veranschaulichen. Nach Bärnreuther ist in diesem Bild die Erregung der Schlachtung, die 1893 Im Schlachthaus eine zentrale Rolle spielt, „einem beruhigten, am geschlachteten Fleisch sich weidenden Anschauen gewichen“. Horst Uhr sieht das Bild in einer kontrollierteren strukturellen Logik mit weniger aggressivem Charakter, während Zimmermann auf das „rot eingefärbte Lächeln“ des Jungen hinweist. Anders als die Schlächterladen in Dordrecht von Max Liebermann aus dem Jahr 1877 werden die Fleischstücke allerdings weniger steril mit stärkerer Darstellungskraft dargestellt. Von der Osten beschrieb diesen Schlachtergesellen als „großartigste Fleischerdarstellung“: Friedrich Gross beschrieb die Szene im Schlachterladen dagegen freundlich mit im Sonnenlicht leuchtender Ware und einem lachenden Schlachterjungen, der eine Schale mit saftigen Fleischstücken gleichsam feilbietend vor sich hält. Wie bereits 1892 kombinierte Corinth das Bild aus dem Schlachthaus mit einem Bild aus den Viehställen, in diesem Fall mit Stallinneres, das ebenfalls 1897 entstand. Auch nach den 1890er Jahren malte Corinth mehrfach Bilder mit Darstellungen aus Schlachtereien oder Fleischteile. 1905 entstand eine weitere und bekanntere Version des Geschlachteter Ochse, die nach Zimmermann das opulenteste Gemälde der Schlachthausbilder darstellt. Wie beim Vorbild Rembrandts ist bildfüllend ein an den Hinterbeinen aufgehängter und ausgeweideter, kopfloser Ochse dargestellt. Diesem wurde das Fell bis zur Hälfte abgezogen, das so das rot leuchtende Fleisch mit dem deutlich weiß und perlmuttfarben dargestellten Fett umrandet. Der Schlachter sowie ein weiterer Körper sind unscheinbar im Hintergrund dargestellt. 1906 malte Corinth in Fleischerladen mehrere an der Wand aufgehängte Schweinehälften und 1913 stellte er in einem ebenfalls als Fleischerladen benannten Bild die an der Wand hängenden Fleischteile als „amorphe Fleischbrocken“ dar. Um 1925, dem Todesjahr Corinths, griff der weißrussische Maler Chaim Soutine in Paris das Thema der Schlachthausszenen erneut auf und stellte diese in expressionistischer Weise mit roten und gelben Tieren und blauen „Tötungsapparaturen“ dar. Ein weiterer Künstler, der sich dem Thema widmete, war Norbert Tadeusz, der 1983 einen aufgehängten Rindern malte und in einer Studie zu seinem großformatigen Vorhölle – Abnahme einem geschlachteten Tierkörper die Gestalt einer Frau gab. Auch in seinem Volto Santo haben die aufgehängten Tiere eine menschliche Gestalt. Deutung und Rezeption Die Deutungen für den Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar beziehen sich auf verschiedene Aspekte, die von mehreren Kritikern auf den gesamten Komplex der Schlachthausbilder Corinths beziehen. Der Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar steht dabei in der Regel gemeinsam mit Im Schlachthaus von 1893 und Geschlachteter Ochse von 1905 als zentrales Werk dieses Typs im Mittelpunkt der Betrachtung. Als wesentliche Aspekte der Deutung werden die Verarbeitung von Kindheitserinnerungen, die Faszination am Akt des Schlachtens selbst sowie die Sinnlichkeit des Fleisches und damit auch die Übertragene „Fleischeslust“ genannt. Verarbeitung von Kindheitserinnerungen Gert von der Osten sieht sie in seinem Buch über Corinth 1955 als Befreiung von den Jugenderinnerungen, „die ihn zugleich fasziniert und bedrängt haben mögen.“ Lovis Corinth hatte als Sohn eines Gerbers bereits in seiner Kindheit mit geschlachteten Tieren zu tun, deren Felle sein Vater verarbeitete. Er schilderte diese Erinnerungen in seinen autobiografischen Schriften in vielfältiger Weise, etwa bei der Beschreibung der „Fleischer, welche ihre frisch abgezogenen Felle verhandeln wollten“ und die zu „bestimmten Seiten ins Haus [kamen]: Kühe und fette Schweine mußten dran glauben“. Später, während seines Studiums der Malerei an der Kunstakademie Königsberg, bekam er über einen Schwager, der als Metzger arbeitete, die Gelegenheit, in einem Schlachthof zu zeichnen und zu malen. Er beschrieb dies ausführlich in seinen Autobiografien sowie vor allem in den Legenden aus dem Künstlerleben, in denen er sich selbst in der Gestalt des Malers Heinrich darstellte. Vor allem in diesem Werk beschrieb Corinth ausführlich die Szenerie des Schlachthauses und die Schlachtung eines Ochsen, bei der „Heinrich“ anwesend war und wo er diese malen konnte: Jill Lloyd betrachtete 1996 die Verarbeitung dieser Kindheitserinnerungen sowie die Themenwahl der Schlachthausbilder und anderer Motive als mögliche Verarbeitung eines Kindheitstraumas und vergleicht Corinth damit mit Edvard Munch. Nach ihrer Ansicht sind die Schlachthausszenen „beseelt von einer außergewöhnlichen Dramatik und Energie, so als stimulierten der Geruch und der Anblick des Blutes, das an den von der Decke hängenden, riesigen Kadavern hinabströmt, eine urwüchsige und beinahe sexuelle Erregung“ und werden besonders durch die Intensität der Kindheitserinnerungen belebt. Michael F. Zimmermann betrachtet die Schilderungen Corinths dagegen als „autobiographischen Mythos“, eben als „Legende“, in dem der Autor Corinth dem Leser sein Leben ganz nahe bringt und es zugleich entrückt. Demnach ist „der Gegensatz von Metzgerei und Atelier, bluttriefendem Fleisch und sinnlicher Haut“ die Darstellung der Pole, zwischen denen Corinth in seinem Werk seine Bilderzählung ausspannt und dabei die Dargestellten nah an die Bildfläche rückt und so durch ihre drastische körperliche Präsenz dem Betrachter keinen Raum für eine distanzierte Betrachtung gibt. Auch Frédéric Bussmann betont in seiner Beschreibung des Geschlachteter Ochse, dass Corinth es „zwar Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend gewesen sein [mögen], die ihn an diesem Thema reizten“, er aber „nicht traumatisierende Erinnerungen malerisch auf[arbeitete]“, sondern vielmehr „dem Reiz des Fleisches“ erlegen war. Dies reflektiert Schoofs auch auf die Darstellung in den Legenden aus dem Künstlerleben. Der Akt des Schlachtens und die Lust am Fleisch Imiela betrachtete das Bild Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar als Auslotung von Grenzposition. Durch die Gegenlichtdarstellung des Raumes wird nach seiner Betrachtung die „tierische und menschliche Existenz“ „in erschreckender Weise“ verwandelt und der Junge und die an den Wänden hängenden Fleischteile „erhalten die gleiche Dingqualität“. Nach seiner Ansicht hat Corinth niemals wieder „eine solche Grenzverwischung vorgenommen“. Er stellt zudem zur Diskussion, ob die hinter dem Jungen im Hintergrund hängende Waage auf diesen Balanceakt anspielt und damit das Bild mit einem Todesverweise, einem Vanitas-Motiv ausstattet, wie er sehr deutlich in Corinths Selbstporträt mit Skelett vorhanden war. Der Vanitas-Gedanke kontrastiert laut Lucia Blee-Beck mit der durch die komplementären roten und grünen Farbtönen hervorgerufenen gelösten Stimmung. Nach von der Osten war „das Töten und vernichtet sein“ sowie das „fahlweiße Fett und das gestorbene Lebensrot der aufgebrochenen Tiere“ für Corinth zu dieser Zeit „vor allem ein Fest“. Friedrich Gross bezieht diese Faszination am Thema des Schlachtens auf die „grundsätzliche zerstörerische Aneignung durch den Menschen“ und einer „raubtierhaften Lust und dem Grauen vor der Zerstückelung des Lebendigen“ Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe ging einen Schritt weiter und übertrug im Vorwort zum Ausstellungskatalog der Berliner Secession von 1918 den Akt des Schlachtens direkt auf die Malerei Corinths: Diese Faszination für den Akt des Schlachtens und der Lust an der Darstellung des Fleisches wird auch von weiteren Kunsthistorikern beschrieben. Im Fall des Geschlachteter Ochse schrieb Bussmann von der „Ausarbeitung des sinnlichen Fleisches“ und beschreibt weiter: „Mit schwungvollen Strichen malt Corinth den Kadaver, umkreist die Fleischmassen und streichelt sie fast zärtlich mit seinem Pinsel.“ Sinnlichkeit der Schlachthausszenen und Beziehung zu den Aktgemälden Nach Gross sind die Schlachthausszenen durch eine starke freizügige Sinnlichkeit geprägt, die besonders stark bei der Schlachthausszene von Im Schlachthaus 1893 zu Tage tritt, und mit anderen Werken Corinths, vor allem den Aktbildern und den Historien, in Beziehung zu setzen ist. Der Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar ist dagegen weniger dramatisch, nicht jedoch weniger sinnlich dargestellt. Nach seiner Deutung suggeriert das Bild „einfaches Leben, Überfluß, lustvolles Genießen, obwohl auch hier stumpfe Grautöne und dunkle Farben die freizügige Sinnlichkeit einschränken.“ Die überwiegende Mehrheit der Autoren, die das künstlerische Werk Corinths beschreiben, stellt die Schlachter- und Fleischbilder aufgrund dieser Aspekte in einen direkten Zusammenhang mit den Aktbildern, für die Corinth sehr bekannt war und ist. Beiden Gruppen wird eine Sinnlichkeit zugeschrieben, die diese Motive verbindet. Corinth wurde in diesem Aspekt vor allem mit den Barockmalern Peter Paul Rubens und Jacob Jordaens verglichen. Jill Lloyd stellt die toten Tierkörper, die „durch die Virtuosität und Sinnlichkeit von Corinths Farbe gleichsam zum Leben erweckt werden“, in direkte Beziehung zu den Frauen in den Aktgemälden, da beide Motive von Corinth „atmend nah“ und nicht als Stillleben behandelt werden. Sie führt diese „befremdliche und in gewisser Weise morbide Assoziation“ vor allem auf „die magnetische Anziehungskraft, die die Farben und Texturen des Fleisches auf die Augen des Künstlers ausübten“ zurück. Nach Zimmermann besteht im Werk Corinths ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Darstellung von Schlachthausszenen und dem Interesse an der Darstellung nackter Körper und des Inkarnats, der Hautfarbe der Abgebildeten, mit dem darunter liegenden Fleisch. Er stellt die Darstellungen vor allem in einen Zusammenhang zur Innocentia von 1890 und anderen „Werken, in denen Corinth einen oder mehrere weibliche Akte zusammenführt, von denen sich einige die Brüste halten und so die Weichheit des Fleisches fast tastbar machen.“ Weitere Bilder, die er in diesem Zusammenhang aufzählt sind Die Hexen (1897), Der Harem (1904) und Die Waffen des Mars (1910). Auch Aktbilder außerhalb von Historiendarstellungen werden in Beziehung zu den Schlachtbildern gesetzt, so etwa das 1908 und damit parallel zu Geschlachteter Ochse entstandene Gemälde Die Nacktheit, in dem Corinth seine Frau Charlotte Berend-Corinth gemeinsam mit ihrem zweifach gemalten Sohn Thomas darstellte. Die Farbgebung des Körpers seiner Frau vergleicht Zimmermann direkt mit dem Geschlachteter Ochse: „Die Haut ist immer wieder von Rot wie von überbordener Vitalität durchglüht, die Schwellungen jedoch schillern wie perlmuttern in Weiß. Näher hätte man in der Aktmalerei den Tönen des Ochsen nicht kommen können.“ Für die Behandlung des Sujets Fleisch und die Beziehung zwischen Corinths Fleischdarstellungen und Aktgemälden kommt Zimmermann auf die folgende Schlussfolgerung: Ausstellungen und Provenienz Das Bild Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar wurde 1897 von Corinth am Ende seiner Studienzeit in München gemalt. Das Bild befand sich in Besitz des Berliner Kunsthändlers und Sammlers Ernst Zaeslein, von dem es 1913 die Kunsthalle Bremen erwarb (Inv. Nr. 347 – 1913/3). Der damalige Direktor Gustav Pauli baute, ebenso wie Hugo von Tschudi in der Nationalgalerie in Berlin, eine Sammlung zeitgenössischer Kunst auf und erwarb Gemälde von Paula Modersohn-Becker sowie von französischen und deutschen Impressionisten. Zu den Anschaffungen zählen Camille im grünen Kleid von Claude Monet, Zacharie Astruc von Édouard Manet und Gemälde von Gustave Courbet, Pierre-Auguste Renoir, Camille Pissarro, Max Liebermann und Max Slevogt. 1911 löste der Ankauf des Mohnfeldes von Van Gogh den Bremer Künstlerstreit unter Malern und Museumsleuten in Deutschland aus. Zu den Anschaffungen gehörten auch einige Bilder von Lovis Corinth. Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar hängt in der Dauerausstellung der Kunsthalle Bremen und wurde darüber hinaus vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen gezeigt. Nach dem Werkverzeichnis von Charlotte Berend-Corinth war es Bestandteil einer Ausstellung im Landesmuseum Hannover 1950 und im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen 1955. 1958 wurde das Bild anlässlich des 100. Geburtstags von Lovis Corinth in der Nationalgalerie in Berlin, der Kunsthalle Bremen und beim Kunstverein Hannover ausgestellt. 1960 war es in der Neuen Galerie der Stadt Linz zu sehen und 1975 erstmals in den Vereinigten Staaten in der Gallery of Modern Art in New York City. 1975 folgte eine Ausstellung in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München und 1976 in der Kunsthalle Köln. Im Rahmen der Ausstellung „German Masters of the Nineteenth Century“ zeigte das Metropolitan Museum of Art 1981 das Bild erneut in New York. Weitere Ausstellungen erfolgten 1985/1986 im Museum Folkwang in Essen, 1992 im Kunstforum Wien und 1992/1993 im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover. 2010 war das Bild zudem in der Ausstellung „Augenschmaus – Vom Essen im Stillleben“ im Bank Austria Kunstforum in Wien zu sehen und 2021 bis 2022 wurde es im Rahmen der Ausstellung „Lovis Corinth – Das Leben ein Fest! / Life, a celebration!“ im Schloss Belvedere in Wien und in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums in Saarbrücken gezeigt. Belege Literatur Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar, 1897 In: Charlotte Berend-Corinth: Lovis Corinth: Die Gemälde. Neu bearbeitet von Béatrice Hernad. Bruckmann Verlag, München 1992; BC 147, S. 75. ISBN 3-7654-2566-4. Friedrich Gross: Die Sinnlichkeit in der Malerei Corinths. In: Zdenek Felix (Hrsg.): Lovis Corinth 1858–1925. Publikation zur Ausstellung im Folkwang Museum Essen (10. November 1985 – 12. Januar 1986) und in der Kunsthalle der Hypno-Kulturstiftung München (24. Januar – 30. März 1986), DuMont Buchverlag, Köln 1985; S. 39–55. ISBN 3-7701-1803-0. Schlachterladen in Schaftlarn an der Isar Schlachterladen in Schaftlarn an der Isar Kunsthalle Bremen Kunst (München) Arbeit in der Bildenden Kunst Schäftlarn Essen und Trinken (Bildende Kunst)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Metal%20%28Kultur%29
Metal (Kultur)
Als Metal, Metal-Szene, -Kultur, -Community oder -Gemeinschaft wird eine um den gleichnamigen Musikstil entstandene Szene bezeichnet. Aus der anfänglich jugendkulturellen Gemeinschaft entwickelte sich in der Geschichte des Metals als Musik und Szene in den späten 1980er-Jahren ein altersunabhängiges heterogenes soziales Netzwerk, dessen gemeinsame Bezugspunkte die Metal-Musik, die häufig den Urstil überhöhend als Heavy Metal benannt wird, und ihre fortwährend weiterentwickelten Substilrichtungen darstellen. Die sich entlang der Beschäftigung mit der Musik konstituierende Metal-Szene gilt als eine Gemeinschaft, die sich über szeneinterne und Metal-spezifische Symbole, Modeelemente, Medien und Treffpunkte definiert und identifiziert. So ist die Beschäftigung mit der Musik der zentrale Aspekt der Vergemeinschaftung der Szene. Weitere vergemeinschaftende und damit identitätsstiftende Bezüge zu Themen wie Kunst, Weltanschauung oder Mode sind zumeist mit Verweisen auf Musik, Tonträger, Veranstaltungen, Liedtexte oder Interpreten versehen. Zu den stereotypen modischen Erkennungszeichen, die so kommunikativ Gemeinsamkeit in der Gruppe erzeugen, gehören mit Bandnamen oder Albummotiven bedruckte Kleidungsstücke, insbesondere T-Shirts. Solche Band-Shirts sowie weitere Erkennungszeichen wie enge schwarze Lederkleidung, lange Haare, auf Aspekte des Metals verweisende Tätowierungen oder Kutten, mit Band- und Alben-Aufnähern versehene Jeanswesten sind zwar in der Szene verbreitet, jedoch nicht bei jedem Anhänger der Metal-Kultur anzutreffen. Als bedeutsamster Aspekt der Akzeptanz innerhalb der Metal-Gemeinschaft gilt die individuell zugeschriebene Authentizität der soziokulturellen Identität als Szene-Anhänger. Die Authentizität des Einzelnen wird innerhalb der Szene am kulturellen Kapital, in Form von Wissen, Aktivität und Teilhabe in und um die Szene und die sie konstituierende Musik bemessen. Neben der Beschäftigung mit der Musik selbst und modischen Faktoren werden Aspekte der Freizeitgestaltung, wie das Besuchen von Konzerten und Festivals, in der Frage der Authentizität berücksichtigt. Des Weiteren dienen Glaubwürdigkeit und Kongruenz der präsentierten Identität der Verortung innerhalb der Szene. Dieser Anspruch an die Authentizität bedingt eine fortwährende Skepsis der Szene gegenüber internen Neuerungen, insbesondere in der Musik, die dennoch häufig binnen kurzer Zeit von der Szene assimiliert werden. Als weitere die Gemeinschaft bestimmende Wertvorstellungen, die stets auf das Verhältnis des Individuums zur Szene und zur Musik bezogen werden, gelten abstrakte Ideale wie Freiheit, Hingabe und Gemeinschaft. Eine Differenzierung innerhalb der Szene ist zumeist über unterschiedliche musikalische Strömungen mit eigenen Veranstaltungen, Diskotheken, Medien und Modeelementen auszumachen. In Teilbereichen werden weitere Differenzierungen über weltanschauliche Aspekte, welche sich insbesondere an den Liedtexten der Interpreten orientieren, vorgenommen. Manche dieser unterschiedlichen kulturellen Strömungen stehen einander unvereinbar gegenüber und grenzen sich ausdrücklich voneinander ab. Neben der Musik bieten konkrete inhaltliche Komplexe, welche sich in vielen Subströmungen wiederholen und zum inhaltlichen Szenekanon gezählt werden, als Themen der Metal-Szene zusätzliche Anknüpfungspunkte untereinander. So finden häufig Auseinandersetzungen mit der Figur des Teufels, literarischen Gattungen wie Fantasy, Science-Fiction und Horror, der nordischen Mythologie oder als negativ wahrgenommenen Emotionen wie Hass und Wut oder Angst, Grauen und Trauer statt. Einen eigenständigen Themenkomplex nimmt die Musik sowie das soziale Gut der Szene ein. Mit der Darstellung der Szene und Musik einher gehen idealisierte Beschreibungen von Partys, Sex und Drogen. Zentraler Gemeinschaftsaspekt Als zentraler Gemeinschaftsaspekt der Szene, auf welchen sich alle Szenegänger hin ausgerichtet haben und der allen Anhängern gemein ist, gilt die Neigung zum musikalischen Spektrum des Metals. An diesem Narrativ orientieren sich die habitualisierten Gemeinsamkeiten der Szenegänger in Auftreten, Einstellung, Präferenzen und Handlungsweise. Die Metal-Gemeinschaft wird, an diesem persönlichen Interessenschwerpunkt orientiert, freiwillig durch den Einzelnen betreten. Die weitere Akkulturation, die Übernahme von Idealen, Themen und Vergemeinschaftungspraktiken der Szene steht derweil in stetiger Wechselwirkung zwischen dem Individuum, der Szene und der Musik. Dies kennzeichnet so die dauerhafte Identifikation des Einzelnen mit der Szene und die fortdauernde Akkulturation über das Medium der Musik. Dem Pädagogen Christoph Lücker zufolge stellt der Metal die Basis und den Rahmen „für eine kollektive Selbststilisierung der Szenegänger hinsichtlich alltäglicher Handlungsweisen, Attitüden, spezieller Wissensbestände über Symboliken, Kleidungsstile und Accessoires“ dar. Von weiteren Autoren wird das Genre als szenegenerierend, die Szene konstituierend und innerhalb der Szene identitätsstiftend betitelt. Sozialstruktur Die Szene wird in kultur- und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen als großes internationales und vermehrt männlich geprägtes Netzwerk mit ausgeprägter Altersdurchmischung sowie einem erhöhten Bildungsniveau umschrieben. Was die Szene vereine, so die Volkskundlerin Bettina Roccor, sei die „Liebe zur Musik. Was sie trennt, sind Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, sozialer Hintergrund und politische Überzeugung.“ Entsprechend gilt die Metal-Szene als globale Erscheinung, die „weltweit auf den gleichen Vorrat an inhaltlichen, visuellen und musikalischen Komponenten zurückgreift“, sich dabei jedoch nicht auf ein Milieu begrenzen lasse. Der Erziehungswissenschaftler Werner Helsper mutmaßte bereits 1997, die Metal-Kultur sei in ihrer Entwicklung den „generellen Trends“ der 1980er- und 1990er-Jahre gefolgt. Die in der britischen und amerikanischen Arbeiterschaft entstandene Jugendkultur lasse sich nach einer „immer schnelleren Umschlagsgeschwindigkeit jugendlicher Kulturen, einer stärkeren medialen Durchdringung jugendlicher Stile, einer stärkeren Vermischung und milieuspezifischen Entbindung von Jugendkulturen und schließlich einer inneren Pluralisierung in einzelnen jugendkulturellen Stilen selbst“ keinem einzelnen Milieu mehr zuordnen. Insbesondere Analogien und Zuschreibungen hinsichtlich eines Zusammenhangs der sozialen Klasse und der Szene gelten seit dieser Zeit als hinfällig. Das häufig bemühte Stereotyp, Metal werde ausschließlich oder vornehmlich von weißen männlichen Jugendlichen der unteren sozialen Schichten rezipiert, wird so als mittlerweile widerlegt angesehen. Lediglich der Ursprung der Gemeinschaft wird in diesem Milieu verortet. Diese höchstens bis in die späten 1980er-Jahre geltenden Zuschreibungen hinsichtlich des soziokulturellen Hintergrunds wurden mit der Entwicklung der Szene zunehmend negiert. So konstatiert der Theologe Sebastian Berndt, dass die These von der weißen Arbeiterjugend als „widerlegt gelten“ müsse. Internationalität Roccor ging 1998 noch davon aus, dass die Verbreitung der Szene an den Grad der Industrialisierung gebunden sei. Der Erziehungswissenschaftler André Epp beschrieb Metal 2011 hingegen als „globales Phänomen, das zuerst in Großbritannien aufkam, sich über die USA, Europa und die restliche Welt verbreitete, aber […] die Länder der so genannten dritten Welt bzw. Schwellenländer ebenso durchdringt wie die ehemaligen Staaten des Ostblocks und auch vor der arabischen und islamischen Welt keinen Halt macht.“ So könnten keine „religiösen, ethischen, politischen oder nationalistischen Klassifikationen“ die globale Ausbreitung der Szene begrenzen. Populäre Szeneausprägungen in Asien und Südamerika widersprechen dem Klischee einer vornehmlich weißen Subkultur. Einer oft angenommenen sozialen Homogenität der Szene, „die es im Heavy Metal spätestens seit Ende der 80er-Jahre […] nicht mehr gibt bzw. nicht mehr geben kann“, steht damit ein international heterogenes Geflecht aus regionalen Teilszenen und lokalen Peergroups gegenüber. Auf nationaler und kontinentaler Ebene wurden bis zum Jahr 2011 große Szenen in Europa, Japan, Brasilien, Russland, Australien und Nordamerika verortet. Kleinere nationale Szenen wurden hinzukommend in der MENA-Region, in Indonesien, Indien und Südamerika benannt. Die Medienwissenschaftler Rolf F. Nohr und Herbert Schwaab kommen über diese internationale Verbreitung der Szene zum Rückschluss, dass der Versuch, „Metal zu einem weißen, anglo-amerikanisch-europäischen Industrieprojekt zu erklären, […] die Innovationskraft und den Erfolg von beispielsweise Sepultura [ignoriert], […] zudem noch die enorme Kraft und Verbreitung von lokalen und regionalen Bands und Communitys quasi überall auf der Welt“ übersieht. Mit unterschiedlichen Formen des Folk Metal und des Pagan Metal prägten diverse zumeist europäische Kulturräume eigene Ausprägungen der Metal-Szene, die sich musikalisch auf regionale Besonderheiten berufen. Den Industrienationen wird jedoch eine Vorreiterrolle in der Ausprägung nationaler Szenen zugesprochen. Szenegröße Exakte Zahlen zur Größe einer nationalen oder internationalen Szene existieren nicht. In der wissenschaftlichen Literatur zur Metal-Kultur wird auf Annäherungs- und Schätzwerte verzichtet. Lücker geht davon aus, dass aufgrund der Dynamik, der Pluralisierung und der Größe der Szene keine annähernd exakten Zahlen benannt werden können. Diese Einschätzung begründet sich in der freien Zugänglichkeit, der informellen Struktur und der Unschärfe von Szenen als juvenile Gemeinschaften. Aus diesen Eigenschaften resultierend können keine klaren Grenzen und daher keine Einschätzungen über eine Szene-Größe benannt werden. Einschätzungen können sich solchen Größenwerten höchstens vage annähern. Als Indikatoren für einen vagen Eindruck der Größe der Metal-Kultur können jedoch bestätigte Zahlen zu ihren Medien und Veranstaltungen herangezogen werden. Das deutsche Wacken Open Air zählte, als größtes Metal-Festival Deutschlands, 2010 etwa 75.000 zahlende Besucher. Das Summer Breeze zählte etwa 30.000, das With Full Force etwa 25.000 und das Bang Your Head 22.000 Besucher. Die Besucherzahlen haben sich in den nachfolgenden Jahren zum Teil vergrößert. Das französische Hellfest verzeichnet bis zu 110.000, das österreichische Nova Rock und das belgische Graspop Metal Meeting verzeichnen circa 50.000 Besucher. Die auflagenstärksten deutschsprachigen Metal-Magazine verfügen über eine monatliche Auflage von etwa 64.000 (Metal Hammer), 47.000 (Deaf Forever), 38.000 (Rock Hard) und 14.500 (Legacy) Exemplare. Das britische Kerrang! hat eine monatliche Auflage von 18.000, das amerikanische Magazin Revolver gar von 150.000 Exemplaren. Das deutschsprachige Online-Magazin Metal.de wird monatlich von 147.000 Besuchern aufgerufen. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 1997 hörten 12 % der deutschen Jugendlichen „sehr gerne“ Metal. Einer weiteren Studie zufolge verorteten sich im gleichen Jahr 3,1 % der deutschen Jugendlichen selbst als Teil der Metal-Szene. Im Jahr 2007 gaben 16,1 % der österreichischen Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren an, dass Metal ihr Lieblings-Musikgenre sei. Altersstruktur Eine von Roccor über Anzeigen im Magazin Rock Hard gestaltete Befragung aus dem Jahr 1998 wies auf einen Szeneeinstieg im frühen Jugendalter, zwischen 10 und 14 Jahren, hin. Die 121 befragten Metal-Anhänger waren zu einem Großteil zwischen 16 und 26 Jahre alt. Dabei legten die Befragten Wert auf eine altersunabhängige Zugehörigkeit zur Szene und ihrer Musik. Im Jahr 2007 war mit 80 % der überwiegende Teil der Rock-Hard-Leser in einem Alter zwischen 18 und 39 Jahren. Die meisten der vom Sachbuchautor Roland Hesse während Konzerten, Festivals und Metalmärkten bis zum Jahr 2013 befragten Personen waren mit 84 Personen in der Alterskolonne von 20 bis 29 Jahren auszumachen. Dem schloss sich mit 51 Befragten die Altersgruppe von 30 bis 39 Jahren an. In der Konsequenz solcher Befragungen verweisen die Autoren darauf, dass die Metal-Szene nicht als ausschließliche Jugendkultur betrachtet werden könne. Der Einstieg in die Szene erfolge Autoren Roccor, Lücker oder Nohr und Schwaab zufolge zwar meist im Jugendalter, dabei sei eine langfristige über die Phase der Jugend hinausgehende Zugehörigkeit zur Metal-Szene üblich. Entsprechend sei die Begegnung von Jugendlichen und älteren Erwachsenen auf Konzerten und Festivals gängig. Geschlechterverhältnis Die im Jahr 2007 erhobenen Daten der Rock-Hard-Leser ergaben eine mit 91 % überwiegend männliche Leserschaft. Hesse befragte im Verlauf des Jahres 2012 auf mehreren Veranstaltungen unterschiedliche Konzertbesucher. In dieser Befragung wurde erneut eine deutlich stärker ausgeprägte männliche Fankultur benannt. Unter 209 befragten Personen fanden sich lediglich 29 Frauen. In Substilströmungen wie dem Gothic Metal, dem Symphonic Metal und dem Metalcore relativiert sich der andernorts quantitativ als gering eingeschätzte Frauenanteil etwas. Frauen greifen, gegenüber den vermehrt männlichen Anhängern des Power, Thrash, Death und Progressive Metals innerhalb der Metal-Szene, eher auf angrenzende Medien zurück, darunter – je nach bevorzugter Musik – Printmedien des Alternatives oder der Schwarzen Szene. Dadurch erfassen Erhebungen, die sich an den meisten Szene-Medien und an für Frauen eher unattraktiven Death-, Power- oder Thrash-Metal-Konzerten orientieren, den Frauenanteil nur begrenzt. Frauen wurden in der Metal-Szene lange Zeit marginalisiert und als „exotische Randerscheinung“ separiert. Insbesondere beurteilte die Metal-Presse Frauen als Musikerinnen besonders kritisch. Infolge sei es immer wieder zu Abgrenzungstendenzen unter weiblichen Fans gekommen, die Frauen Trueness als Musikerin oder Fan zuschrieben oder sie als sexuell angezogene Groupies und Mitläuferinnen abwerteten. Der gleichen Langzeitstudie über die Heavy-Metal-Szene der 1980er-Jahre zufolge gab ein Viertel der befragten, engeren weiblichen Fans, die sich im Sinne eines Geusenworts selbst als Groupies bezeichneten, an, während dieser Zeit sexuell missbraucht oder vergewaltigt worden zu sein. Die Darstellung und Wahrnehmung von Musikerinnen hat sich jedoch mit der anhaltenden Ausbreitung der Szene, der Zunahme von Musikerinnen sowie einer zunehmenden Liberalisierung in der westlichen Gesellschaft relativiert. Lücker geht davon aus, dass sich in Berichterstattungen zu Gruppen mit Musikerinnen der Hinweis auf das Geschlecht seit den 1980er- und frühen 1990er-Jahren weitestgehend relativiert habe. Mit dem Symphonic Metal entstand Mitte der 1990er-Jahre gar ein weiträumig akzeptierter Substil, der als von Frontfrauen dominiert gilt. Bildungsniveau Seit 1998 weisen Studien auf ein gehobenes Bildungsniveau unter westlichen Hörern und Fans des Metals hin. Globale Studien liegen nicht vor. Roccor schloss die Ergebnisse ihrer Befragung aus dem Jahr 1998 mit dem Verweis darauf, „daß die Vorstellung, man habe es bei Heavy-Metal-Fans ausschließlich mit männlichen Jungarbeitern und arbeitslosen Jugendlichen zu tun“, verfehlt sei. Der mit 86 % überwiegende Teil der 2007 befragten Rock-Hard-Leser verfügte über ein Abitur. Eine von dem Psychologen Stuart Cadwallader und dem Erziehungswissenschaftler Jim Campbell durchgeführte Studie zum Musikkonsum von Hochbegabten aus dem Jahr 2007 ergab, „dass ein großer Anteil an gut gebildeten, jungen Leuten diese Musik mag“. Politische Haltung Viele Szene-Anhänger lehnen politische Instanzen ab. Helsper beschrieb dies als eine skeptische Haltung gegenüber Regierenden und politischen Parteien, welche Resultat sozialer Erfahrungen der Szene-Anhänger als „Reglementierung, Normierung und Kontrolle“ sei, neben die „vielfältige Gefühle der Unsicherheit hinsichtlich der Entwicklung von Natur, Gesellschaft, aber auch der eigenen Zukunft“ treten. Zu diesen Verunsicherungen kommt ein Gefühl „sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit“ in der Gesellschaft, zu deren Leidtragenden sich die Szene-Anhänger häufig selbst rechnen. Diese Skepsis erstreckt sich auf eine ebensolche gegenüber mächtigen und besonders wohlhabenden Personen. Jenseits dieser Skepsis ist den Szene-Anhängern jedoch keine politische Überzeugung gemein. Vielmehr birgt die Ablehnung von wirtschaftlichen oder politischen Eliten Anknüpfungspunkte für eine Vielzahl politischer Strömungen, so dass die politischen Überzeugungen innerhalb der Szene stark variieren – eine politische Offenheit, die, kombiniert mit der Ablehnung von Obrigkeit und Intellektualität, als Anschlussfähigkeit für den Rechtsextremismus von Autoren wie Michael Weiss oder Martin Büsser kritisiert wurde. Nach Berndt ist Metal „nicht einfach ‚links‘ oder ‚rechts‘.“ Tatsächlich sei eine politische Ausrichtung, welche die Musik dominiere, „hinderlich.“ Die Musik selbst müsse „als guter Metal akzeptiert werden“, dann könnten eingebrachte politische Inhalte als legitim beurteilt werden. Indes wird Dogmatismus von der Mehrheit der Szene abgelehnt, wodurch Interpreten mit konkreten politischen Inhalten vornehmlich in separierten Subszenen anzutreffen sind. Die Verbreitung einer politischen Botschaft als Bandkonzept hingegen, unter welchem die Musik zum Vehikel der Botschaft werde, „wird größtenteils abgelehnt.“ Dem Literaturwissenschaftler Frank Schäfer zufolge ist die Beschäftigung mit den Liedtexten in der Szene jedoch meist von nachrangiger Bedeutung. Transportierte Inhalte können gar den eigenen Überzeugungen konträr gegenüberstehen, ohne dabei den Zuspruch für die Musik zu beeinträchtigen. Ideale Autoren wie Helsper, Roccor oder Lücker, die Gesamtdarstellungen der Szene präsentieren, ebenso wie Artikel des von Nohr und Schwaab herausgegebenen Sammelwerkes Metal Matters umrissen entlang der Beschäftigung und Identifikation mit der Musik abstrakte Wertvorstellungen, die an die Musik und die Gemeinschaft geknüpft werden. Insbesondere ethische Ideale werden demnach implizierend auf die gesamte Szene angewandt und als wesentliche Aspekte der gegenseitigen Zugehörigkeit begriffen. Als derartige, die Gemeinschaft bestimmende Werte gelten zumeist Freiheit, Authentizität, Hingabe und Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund dieser Werte und dem statistischen Übergewicht männlicher Szenegänger wird von manchen Autoren auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Männlichkeit als weiteres gewichtiges, jedoch eher latent mitschwingendes Szeneideal verwiesen. Hinzukommend werden Individualismus und Körpererfahrung als szenebestimmende Aspekte benannt. Die ritualisierten Gemeinschafts- und Körpererfahrungen der Szene werden von einigen Autoren mit religiösen Erfahrungsräumen gleichgesetzt. Obschon sich viele der Ideale in allen Teilbereichen der Gemeinschaft in unterschiedlichen Gewichtungen ausmachen lassen, ist die Metal-Szene, wie andere Szenen auch, in ihrem ideologischen und thematischen Spektrum variabel und die benannten Eckpunkte gelten nur selten als absolut und ebenso selten als exklusiv. Freiheit und Individualismus Der Freiheitsbegriff steht in der Metal-Szene nur selten in einem politischen Kontext. Vielmehr wird der Terminus im Sinn eines als individualistisch empfundenen Lebensstils gebraucht. Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller verweist hierzu auf einen in der Metal-Szene gepflegten exaltierten „Rock ’n’ Roll Lifestyle“, der ohne Hang zum Aktivismus und ohne gemeinsame politische Agenda ausgelebt werde. Nach Scheller ist die Freiheit in der Metal-Szene durch eine Ästhetisierung der Kulturkritik geprägt. So sei Metal selbst ein Instrument der Abgrenzung und Distanzschaffung gegenüber der Außenwelt. Die Freiheit, Metal-Anhänger zu sein, sei für den jeweiligen Szenegänger Ausdruck der persönlichen Freiheit, des Individualismus und des eigenen Nonkonformismus, ohne sich damit ideologisch zu positionieren. Politischer Dogmatismus wird jenseits der ideologisch geprägten Randbereiche der Szene abgelehnt. Vielmehr werden Forderungen nach gelebtem Individualismus, Absagen an Autoritäten und Aufrufe zur Selbstbestimmung genreübergreifend formuliert. In autoritäreren Staaten wurde und wird der Freiheitsbegriff im Metal hingegen in einen oppositionellen Kontext gestellt. Einige Metal-Bands, die in solchen Staaten beheimatet sind, präsentierten systemkritische Texte. In anderen Staaten, insbesondere in der MENA-Region, stehen Metal-Anhänger aufgrund ihrer Äußerlichkeit in Opposition zu den vorherrschenden Verhältnissen und werden von Zensur und Repression bedroht. Dadurch wird die dortige Zugehörigkeit zur Metal-Szene als ein Ausdruck zivilen Ungehorsams gewertet. Authentizität In ebenfalls alltagsweltlicher Weise wird der Terminus Authentizität auf die wahrgenommene Echtheit einer Band oder einer Person angewandt. Die unterscheidende Verleihung der Authentizität vollzieht sich dabei ausschließlich innerhalb der Szene. Eng an den Begriff der Authentizität geknüpft sieht Helsper eine auf den Metal angewandte Erwartung der Verlässlichkeit. Bezogen auf die Musik wird hierbei von Anhängern der Szene auf einen handwerklichen, direkten und ungekünstelten Charakter verwiesen. Von gewichtiger Bedeutung erscheint vielen Anhängern die zugeschriebene Intention der Musiker, Metal zu spielen. So wird eine partielle Verweigerung der Mainstream-Anpassung betont. Diese basiert auf der Annahme, die Musiker würden Metal „nicht als Produkt erstellen, sondern als kreative Ausdrucksmöglichkeit erachten und Musik zunächst weniger als Beruf denn als Berufung und Leidenschaft ansehen.“ Ebenso wird der Anspruch gelebter Authentizität auf alle Personen des Metal-Kultur übertragen. Analog zum Verständnis von Freiheit innerhalb der Szene wird Authentizität hierbei zurückverweisend auf das Ideal am Szene-Anhänger selbst festgemacht. Die angemahnte Echtheit, bei welcher szeneintern mitunter ironisierend von Trueness gesprochen wird, misst sich demnach einerseits an fundierten Kenntnissen um das in Musik, Alben, Bands und Szene enthaltene subkulturelle Kapital der Szene, andererseits an der Bereitschaft, die eigene Szenezugehörigkeit gegenüber Außenstehenden zu repräsentieren. Hingabe Schlagwörter wie Hingabe und Leidenschaft werden in der Szene als Teil der authentischen Fremd- und Selbstverortung gewertet. So wird die am Metal in seiner Gesamtheit aus Szene und Musik orientierte Selbstinszenierung und die anhaltende Beschäftigung mit dem subkulturellen Kapital, inklusive des kommunikativen Austauschs unter Gleichgesinnten, als Ausdruck der persönlichen Hingabe bewertet. Lücker sieht in diesem Szenewert einen Ursprung beständiger Verkaufszahlen von Tonträgern. So sei die Bereitschaft, finanzielle Mittel für Tonträger inklusive ihrer Gestaltung aufzuwenden, im Metal größer als in vergleichbaren Szenen. Dabei sei ebenso die emotionale Verbundenheit und Gemeinschaft von Künstlern und Hörern wirksam. Das implizierte Verhältnis zwischen den Akteuren und den Szene-Anhängern begründe demnach eine symbolische Opferbereitschaft gegenüber der Musik, die nicht zuletzt durch den Kauf von Produkten sowie den Besuch von Konzerten und Festivals zum Ausdruck kommt. Damit einher geht die parallele Erwartungshaltung an die Hingabe der Interpreten. Deren „Einsatz und Passion zählen mehr als der äußerliche Schein“. Gemeinschaft Die in der Szene vorherrschenden Vorstellungen von Freiheit und Authentizität bedingen ein intensives Empfinden von Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Helsper sowie Berndt verweisen auf einen religiös anmutenden Aspekt der während Konzerten und Festivals stattfindenden Gemeinschaftserlebnisse. Die emotionale Bindung des Fans an den Künstler findet in einem wechselseitigen Fan-Star-Verhältnis Bestätigung. Die Identifikation des Fans mit der Szene findet in dem als Szenerepräsentant und Szene-Anhänger wahrgenommenen Akteur eine Projektionsfläche, welche die Szene als barrierefreie Solidargemeinschaft erscheinen lässt. Lücker beschreibt den Kauf von Merchandise-Artikeln der Szene-Anhänger als Ausdruck der Solidarität, mit welcher die Musik-Fans ihre Stars bewusst unterstützen. In der psychoanalytischen Deutung der Fan-Forschers Matt Hills wird darauf verwiesen, dass das Zusammenspiel von Szene-Akteuren und -Anhängern als „Imagination und Gemeinschaft“ dazu beiträgt, eine solche Vorstellungswelt gemeinsam aufrechtzuerhalten. In dieser Gemeinschaft würden Authentizität, Freiheit sowie das Extreme „als Werte, die im Alltag als unterdrückt oder verstümmelt empfunden, in ihrer revolutionären Bedeutung erkannt und gelebt werden.“ So führt die Identifikation mit der Szene, ihren Idealen und den lyrischen, musikalischen und kulturellen Aspekten während Szeneveranstaltungen zum religiös anmutenden Erlebnis einer das Individuum bestätigenden kollektiven Gemeinschaft. Der von der Szene programmatisch beschworene Individualismus, der durch die Szenezugehörigkeit seinen Ausdruck findet, steht hierbei in einer direkten Wechselwirkung mit seiner Identifikation mit der Szene. In der Gemeinschaft können die Anhänger der Szene, der Historikerin Tomislava Kosic zufolge, stärkende, bestätigende und reinigende Erfahrungen machen. Ähnlich wertet Helsper das Erleben von Metal-Konzerten als extreme „Formen des Selbsterlebens“, in welchen insbesondere Jugendliche eine Gemeinschaftserfahrung machen. Hierbei stünde die „jugendlich-ekstatisch-extreme Gemeinschaft gegen soziale Hierachie [sic!] und Reglementierung.“ Männlichkeit Bezugnahmen auf Männlichkeit und Geschlechterstereotype finden in gebrochener sowie in heteronormativer Form statt und werden in unterschiedlichen Subszene häufig neu besetzt. Entsprechend wird in wissenschaftlichen Arbeiten zur Szene nicht Männlichkeit, sondern die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Männlichkeit als ein stetig mitschwingendes Ideal der Szene betrachtet. Dabei wird der Männlichkeitsbegriff in der Szene vielschichtig besetzt und verhandelt. Die Kulturanthropologin Amber R. Clifford-Napoleone bezeichnet die Metal-Szene und ihre Vergemeinschaftungsorte als offenen heterotopischen und „transitorischen Raum“, in welchem es möglich sei, stereotype Rollenmuster aufzubrechen. So sei das visuelle und intertextuelle Spiel mit Androgynie, Erwartungen, Schockwirkungen und Identitäten ein wesentlicher Bestandteil der Metal-Kultur. Demgegenüber wird Teilen der Metal-Szene eine patriarchale und heteronormative Inszenierung von Männlichkeit nachgesagt. Dabei würden Stereotype von muskulösen, einsamen und kriegerischen Helden in einigen Subgenren, insbesondere im True Metal, als idealisierender Rückgriff auf die Vormoderne aufgegriffen. Hierbei würden „Weiblichkeit sowie marginalisierte und untergeordnete Formen von Männlichkeit diskriminiert“, und auf der Basis von Begriffen wie Ruhm, Ehre und Stolz werde eine männerbündische Solidarisierung gegen eine „harte Außenwelt“ beschworen. Die in manchen Substilen präsenten Muster werden so in anderen Spielarten des Metals gebrochen. Die Soziologin Deena Weinstein differenziert so zwischen der exklusiv maskulin inszenierten Männlichkeit des Thrash-, Death- und Black-Metals, der romantisch inszenierten Männlichkeit des Gothic Metal und der verletzlichen Männlichkeit des Nu Metals. Den Kunstpädagogen Jan Grünwald und Birgit Richard zufolge ist das im Black Metal gepflegte archaische und einzelgängerische Männerbild des wilden Zerstörers und Kriegers bewusst extrem künstlich und gerade im Rahmen der Fankultur von überhöhter Selbstironie geprägt. Im Zuge der teils hypermaskulinen, teils gebrochen maskulinen Selbstinszenierungen untersuchte Clifford-Napoleone 2015 die Bedeutung von LGBT im Metal und den damit einhergehenden ästhetischen Einfluss der LGBT-Community auf die Metal-Szene. Ebenso benennt sie die Metal-Szene als potentielle Chance jugendlicher LGBT-Anhänger, im Kontext der Szene stereotype Rollenmuster und Männlichkeitsbilder aufzubrechen. Susanne Sackl-Sharif, die ebenfalls 2015 die visuelle Aufarbeitung von Genderkonzepten im Metal untersuchte, weist ergänzend darauf hin, dass die Vorstellung von Männlichkeit im Metal nicht auf die geschlechtliche Identität begrenzt ist und in einem abstrakten übertragenen Sinn verstanden werden kann. Demnach können sich „Metalfans unabhängig von ihrem Geschlecht mit Männlichkeit und Power im Metal identifizieren“. Aspekte wie Stärke und Freiheit sind Facetten des oft hypermaskulin geprägten Verständnisses von Männlichkeit in der Szene. Als Ideal kann dieses Verständnis in der Szene jedoch geschlechtsunabhängig besetzt sein. Körperlichkeit Die Auseinandersetzung mit der szenebestimmenden Musik wird als körperlich-sinnliche Erfahrung charakterisiert, welche als für die Szene von immanenter Bedeutung gilt. So wird betont, dass die Metal-Szene sinnliche Erfahrungswerte aus der Musik und den szeneeigenen Ritualen zieht. Helsper sieht in dieser Körperlichkeit eine exzessive jugendliche Selbstfindung und gleichzeitig jugendlich-adoleszente Abgrenzung zur vorausgegangenen Generation und der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an den Einzelnen. Nach Sackl-Sharif ist die Metal-Musik Ausdruck eines körperlichen Erregungszustandes, der über seinen hohen Grad an Verzerrung und Intensität, sein Tempo und seine Lautstärke wiederum erregend auf den Hörer wirkt. In den religiösen Deutungen des Metals, insbesondere jenen, die Konzerte und Festivals als kultische Ereignisse werten, kommt der ekstatischen Körperlichkeit ein sinnstiftender und Gemeinschaft erzeugender Charakter zu. Thematische Schwerpunkte Als thematische Schwerpunkte der Szene werden in Szenedarstellungen einige inhaltliche Komplexe benannt, welche sich in vielen Subströmungen wiederfinden. Diese werden über lyrische und gestalterische Elemente in der Szene propagiert, von Fans aufgegriffen und rezipiert und dienen als weitere szeneinterne Anknüpfungspunkte untereinander. Die meisten dieser Kerntopoi finden sich in den Gestaltungen von Tonträgern, Werbungen, Bühneninszenierungen, Musikvideos und Liedtexten unterschiedlicher Szeneakteure sowie in den häufig auf solche Elemente rekurrierende Textilien und Aufnäher. Diese werden wiederum von Anhängern der Szene im Sinn einer Selbstverortung, der Präsentation der Zugehörigkeit sowie des Wissens um das subkulturelle Kapital getragen. Szeneinterne Diskussionen zu den unterschiedlichen Themenschwerpunkten, wie zu entsprechender Literatur, Spielen und Filmen sind rückverweisend auf die Musik Bestandteil der regulären Kommunikation innerhalb der Szene und dienen als ergänzende der Selbst- und Fremdverortung im Szenespektrum. Als diese, die Vergemeinschaftungspraxis der Szene mitbestimmenden, thematischen Schwerpunkte gelten Auseinandersetzungen mit der Figur des Teufels, inklusive diverser Formen des Okkultismus, literarischen Gattungen wie Fantasy und Horror, der Vormoderne oder als negativ wahrgenommenen Emotionen wie Hass und Wut oder Angst, Grauen und Trauer. Den negativ wahrgenommenen Emotionen stehen besonders die von Roccor, in Anlehnung an Weinstein, als dionysisch genannten Themen Sexualität, Alkohol- und sonstiger Drogenkonsum sowie Partybeschreibungen gegenüber. Nicht zuletzt stellen anhaltende kulturelle Selbstverweise einen gewichtigen Themenkomplex der Szene dar. So bilden der Metal, die von der Szene getragenen Ideale sowie die kulturelle Gemeinschaft in der Szene einen eigenen Themenkomplex von hoher Bedeutung. Dabei kann eine solche Auflistung weder als exklusiv noch als absolut betrachtet werden. Weitere Themen können bei einzelnen Interpreten, Stilrichtungen, Peers oder Szene-Subströmungen von immanenter Bedeutung sein, während sich kaum eine Szeneströmung oder Stilrichtung allen Themen widmet. Entwicklung der Metal-Szene Die Geschichte der Metal-Szene ist geprägt von der stetigen Neuverhandlung und Neubesetzung des Begriffes Metal und des differierenden Verständnisses der entsprechenden Musik. Entlang des Diskurses um die Authentizität neuer Ausprägungen wurde die Zugehörigkeit entsprechender Fans zu einer gemeinsamen Szene anhaltend in Frage gestellt und diskursiv erschlossen. Insbesondere entlang dieser Fragestellung entstanden manche der Strömungen als Abgrenzung zu temporär populären Entwicklungen im Metal. So ist die Black-Metal-Szene im Kontrast zum Death Metal und der True Metal im Kontrast zu Crossover- und Alternative-Derivaten entstanden. Ausgehend von mitunter regional geprägten Entwicklungen der Szene entstanden seit den 1980er-Jahren stetig neue Spielweisen, die häufig eigene Subszenen ausbildeten und so weitere Entwicklungen forcierten. Seither werden entlang dieser Entwicklungen Definitionen des gesamten Spektrum der Musik, der vollständigen Szene sowie der Subszenen und ihre präferierten Musikstile aus der Szene heraus und in der Forschung zur Szene fortwährend verhandelt. Viele neu entstandene Strömungen brachten modische Aspekte anderer Subkulturkreise in die Szene ein oder generierten aus anderen Bezügen neue. Diese wurden meist zeitversetzt durch die Szene assimiliert. Häufig wurden mit dem Aufkommen neuer Subströmungen ältere, zuvor in Frage gestellte Strömungen von der Szene akzeptiert. So erfuhr der Glam Metal durch den Erfolg des Grunge Akzeptanz in der Metal-Szene. Andere Strömungen wie der Thrash Metal wurden nach kurzem Widerstand als Szeneaspekt angenommen. Das entstandene kulturelle Feld des Metals entwickelte eine Vielzahl an Gemeinschaft erzeugenden Symbolen, Zeichen und Ritualen, welche mit den Werten der Szene oder ihrer Subszenen aufgeladen sind und somit den Wertekatalog der Szene repräsentieren. Viele der Subströmungen entstanden parallel zueinander und entwickelten sich gelegentlich unabhängig voneinander separat weiter, woraus eine immense Fülle an Stilrichtungen mit eigenen Betitelungen und zum Teil eigenen Fankreisen unter dem Begriff Metal subsumiert wird. Hinzukommend entstanden Musikrichtungen und die sich auf diese berufenden Szeneströmungen häufig zeitversetzt zueinander, weshalb eine geradlinige Kontinuität der Szene-Historie nicht nachzuzeichnen ist. Vergemeinschaftungspraxis Gemeinsamkeit innerhalb der Metal-Szene wird über Codes und Symbole erzeugt, die aus der Szene generiert werden. Insbesondere mit Bandnamen oder Albummotiven bedruckte Kleidungsstücke dienen der Selbstverortung in der Szene, der Präsentation der Zugehörigkeit sowie des Wissens um das subkulturelle Kapital. Die Gemeinsamkeit wird dabei vornehmlich an heterotopischen Gesellungsräumen der Szene wie auf Konzert- und Festivalgeländen, in Diskotheken und Szene-Kneipen erzeugt. Konzerte und Festivals weisen spezifische Rituale auf, welche die Vergemeinschaftung innerhalb des begrenzten Raumes unterstützten. Austausch findet auch auf den Leserbriefseiten bekannter Print-Magazine statt. Als virtuelle Gesellungsorte der Szene haben sich spezialisierte Internetforen etabliert. Außerdem haben sich Gruppen in sozialen Netzwerken und auf Videoportalen zusammengeschlossen. Die Szene ist dabei weder musikalisch noch modisch als homogene Gruppe zu verstehen. Sie gliedert sich in unterschiedliche Strömungen, die sich zum Teil in ihren musikalischen Vorstellungen diametral gegenüberstehen. Die musikalischen Vorlieben der unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Szene werden mitunter durch eigenständige Moden verdeutlicht sowie durch spezifische, auf die jeweilige Subströmung zugeschnittene Treffpunkte und Veranstaltungen gepflegt. Trueness und Metal sein In der Metal-Anhängerschaft besteht eine Trennung zwischen den Anhängern, die lediglich die Musik hören, und den Personen, die sich darüber hinaus als Szenegänger identifizieren. Diese Trennung begründet sich mitunter in der Ermangelung einer gemeinsamen Ideologie, welche es ermöglicht, die Musik zu hören, ohne mit der Kultur zumindest zu sympathisieren. Dem Historiker Tobias Winnerling zufolge lässt sich zwar kein Szene-Anhänger sinnvoll nachvollziehbar konzipieren, der die Musik nicht hört, jedoch sei es schlüssig, dass Menschen sich der Musik verbunden fühlen, ohne „darüber hinausgehende Identifikation mit der Figuration“ der Szene und ohne Übernahme jedweder Szenecodes aufzubauen. Diese Identifikation und die Internalisierung der Codes gelten indes als notwendig, um einen umfassenden Zugang zur Szene zu erhalten. Das vergemeinschaftende Erscheinungsbild, die ritualisierten Verhaltensmuster und die hierzu genutzten ästhetischen und musikalischen Stilmittel bilden jene Codes, welche die Szene formal prägen. In ihrer Gesamtheit schaffen diese Codes somit eine Abgrenzung zur Außenwelt und eine Identifizierbarkeit der Szene-Innenwelt. Als wesentliche Faktoren der Identifikation innerhalb der Szene werden die Konformität mit dem Code, das Wissen um das präsentierte subkulturelle Kapital und die Konstruktion von Authentizität in der Präsentation betrachtet. Bemessen wird die Konformität des Einzelnen in Form von Wissen, Aktivität und Teilhabe in und um die Szene und die sie konstituierende Musik, wofür auch die Beschreibung ‚Metal sein‘ steht. Neben der Beschäftigung mit der Musik selbst und modischen Faktoren werden so Aspekte der Freizeitgestaltung wie das Besuchen von Konzerten, Festivals und Clubs in der Frage der Authentizität berücksichtigt, ebenso die Bereitschaft des finanziellen Aufwands zum Erwerb von Musik (zumeist in Form von Tonträgern, Konzertkarten und ähnlichem). Des Weiteren dienen Glaubwürdigkeit und Kongruenz der präsentierten Identität der Verortung innerhalb der Szene. Die Akzeptanz innerhalb der Metal-Gemeinschaft basiert daher auf der individuell zugeschriebenen Authentizität der präsentierten soziokulturellen Identität als Szene-Anhänger, mitunter als ‚Trueness‘ bezeichnet. Trueness und Metal sein gelten somit als Begriffe der Authentizität und Kongruenz innerhalb der Szene. Zugehörigkeit zur Szene wird in den diversen Gesellungsräumen des Szene stetig aufs Neue verhandelt. Da sich die Codes fortwährend weiterentwickeln und in den Teilströmungen unterscheiden, können solche, die zu einem spezifischen Zeitpunkt an einem konkreten Ort gültig sind, in einem variierten Umfeld unzureichend sein. Erscheinungsbild Über die Jahrzehnte der Existenz der Metal-Szene hat sich ein Ästhetikbewusstsein entwickelt, welche das Erscheinungsbild prägt. Roccor beschreibt die szenetypische Kleidung als „Ergebnis einer sich über Jahre hinziehenden Bricolage.“ Die Ursprünge dieses Stils lagen in den sozial schlecht situierten Milieus, die ihre Zuneigung zu Vertretern des Hard Rock in den 1960er- und 1970er-Jahren präsentierten, indem sie Bandnamen mit Filzstiften auf T-Shirts und Jeansjacken schrieben. Diese selbst gefertigte Referenz-Kleidung ging im Verlauf der 1970er-Jahre in T-Shirts mit Aufdrucken, Buttons und Bügelstoffbilder über. Erst mit dem Erfolg der NWoBHM „entstand ein eigener Markt für Heavy-Metal-spezifische Kleidung und Accessoires.“ Der in den 1980er-Jahren entstandene Ur-Stil entwickelte sich stetig weiter, weshalb es eine Vielzahl an Subströmungen und Mischformen innerhalb der Szene gibt, welche auf die musikalischen Vorlieben der Person zurückverweisen. Ein zentraler Typus des Metal-Anhängers lässt sich daher nicht benennen. Vielmehr ist die Szene modisch intern höchst divergent und seit den 1990er-Jahren in einer anhaltenden Wechselwirkung mit anderen juvenilen Vergemeinschaftungsformen. So ging im Verlauf der Jahre mit der Aufsplitterung und Ausdifferenzierung der Subszenen eine Verbreitung diverser neuer Modeelemente einher. Eindeutige Bezüge zur Mode der Szene der 1980er-Jahre stehen seit der beschriebenen Phase der zunehmenden Ausdifferenzierung und des Crossovers in den 1990er-Jahren neben jenen der Modestile einiger Subszenen sowie unzähligen Mischformen zwischen den Strömungen. Modische Einflüsse der unterschiedlichen Strömungen, bis hin zu Alleinstellungsmerkmalen wie jene des Glam Metal, des Nu Metal oder des Black Metal, sind ebenso üblich. Die Metal-Szene hat seit ihrer Entstehung eine Vielzahl solcher Subszenen ausdifferenziert, woraus stetig unterschiedliche Abstufungen hinsichtlich Stil, innerer Kohäsion, Eigenständigkeit und Nähe zum vermeintlich idealtypischen Stereotyp generiert werden. Laut der Medienwissenschaftlerin Julia Eckel ist die Kleidung für „die Bedeutung, die die Selbstgestaltung und das Aussehen der Akteure der Metal-Kultur für die Abgrenzbarkeit und damit die Konstitution eben dieser Szene […] nicht zu unterschätzen.“ So bildet die Kleidung die von der Szene erwarteten Hingabe und Authentizität sichtbar ab, da sie stets auf die präferierte Musik verweist. Damit ist die Kleidung einerseits Ausdruck des jeweiligen Szene-Wissens, andererseits schriftbildliches Ereignisprotokoll der individuellen Fan-Biografie. Klassische Szene-Stereotype Leder und Jeans sind für die klassische Szene typisch, entsprechend dominieren die Farben Schwarz und Blau den Kleidungsstil. Schmuck wird zumeist in Form von Silberringen oder Anhängern getragen. Häufig stellt der Schmuck Totenschädel, Schwerter, Waffen und gefährliche Tiere dar oder verweist auf indianische, religiöse, mythologische oder okkultistische Symbole. Zu den szenetypischen Kleidungsstücken, die bereits zu Beginn präsent waren, gehören die Kutte, das Band-Shirt, mit Nieten besetzte Gürtel oder Armbänder, lang getragene Haare und Lederkleidung. Sie bilden ein kulturelles Kapital, das insbesondere von Anhängern der ursprünglichen Stile und des True Metals weiter gepflegt wird. So gehören Motorräder und Lederkleidung zu ihrem Erscheinungsbild. Als weiteren Aspekt fügten die Vertreter des True Metals ein „männlich-martialisches Fantasy-Krieger-Image“ hinzu. Während Motorräder und Kutten der Rockerszene entlehnt waren, übertrug Judas-Priest-Sänger Rob Halford die Lederbekleidung als modischen Einfluss aus der Lederszene auf die Metal-Szene. Obwohl Lederkleidung bereits zuvor als modischer Aspekt der Metal-Kultur galt, beeinflusste Halfords Auftreten in engem, schwarzem, zum Teil mit Nieten besetztem Leder das Auftreten der Szene. Weitere modische und kulturelle Einflüsse auf die Metal-Szene entlehnten sich dem Rockermilieu wie die Kutte oder der Hippiekultur, der insbesondere die lang getragenen Haare entsprachen. Neben den Anhängern der NWoBHM wurde der Stil besonders von Musikern und Fans des Speed- und Thrash-Metals in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren fortgeführt, gelegentlich in leicht legerer Form. Das Auftreten in engen Jeans, Lederjacke und Kutte wurde insbesondere in dieser Zeit um Sneaker, Band-Shirts sowie Nieten- und Patronen-Accessoires ergänzt. Über weite Subströmungen übergreifend in der Szene ist die schriftbildliche Darstellung individuell präferierter Musik in Form von Kutten oder Band-Shirts vorherrschend. Derweil solche Kleidungsstücke nicht von der gesamten Szene getragen werden, gelten sie neben langen Haaren als wesentliche Szene-Stereotype. Schriftbildliche Kleidung Die Medienwissenschaftlerin Julia Eckel beschreibt die auf Tonträgergestaltungen und ähnliche Elemente zurückverweisende schriftbildliche Visualisierung auf der Kleidung der Szene-Anhänger als Ausdruck einer „Affinität zum Bildlichen“, welche sich „in der dem Genre inhärenten Grenzauslotung begründet“. Die beiden am weitesten verbreiteten Varianten dieser Kleidung sind Kutten und Band-Shirts. „Kutte und Bandshirt können […] als doppelte Trägermedien angesehen werden: Einerseits sind sie Medium des Trägers, der sie als Mittel intendierter Informationsvergabe […] benutzt, andererseits sind sie medialer Träger zentraler Motive der Metal-Kultur und auf dieser Ebene mit Printmedien wie CD-Covers, Zeitschriften und Plakaten zu vergleichen.“ Die bewusste Wahl der schriftbildlich auf den Metal verweisenden Kleidung grenzt den Träger damit innerhalb und außerhalb der Szene ab. Er präsentiert sich einerseits nach außen und innen als Teil der Szene und verortet sich andererseits innerhalb der Szene, je nach Motiv, in einer bestimmten Strömung. Nach Lücker wird insbesondere bei raren und alten Exemplaren eine solche innere Signalwirkung ablesbar, da diese auf die Dauer der Szene-Zugehörigkeit oder die besonderen Kenntnisse um das kulturelle Kapital der Szene verweisen. Die Erlöse aus dem Verkauf von Merchandise-Artikeln gelten als „die bedeutsamsten Faktoren für das wirtschaftliche Überleben“ vieler Berufsmusiker in der Metal-Szene, wodurch der Kauf von Kleidungsstücken und Accessoires häufig als Ausdruck der inneren Gemeinschaft und Solidarität betrachtet wird. Kutte Als Kutte wird eine abgeschnittene Jeansweste bezeichnet, meist mit großem Rückenaufnäher, der Backpatch (englisch für Rückenaufnäher) genannt wird, und diversen „kleinen, dicht aneinander gesetzten Abzeichen“ verziert. Sie wurde aus dem Rockermilieu adaptiert und inhaltlich neu gefüllt. Roccor beschreibt die Kutte als nonverbales Kommunikationsmittel, welches in der gewählten Form exemplarisch für „männliche Jugendliche aus sozial schlechter gestellten Milieus“ sei. Hierbei zieht Roccor Vergleiche zu Eishockey- und Fußballfans und verweist auf die Kutte als Instrument einer „Massenkommunikation via Erscheinungsbild. Eindeutige, leicht zu entziffernde Embleme signalisieren die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Teilkultur bzw. Gruppe und ermöglichen eine rasche Identifikation des Gegenübers als Freund oder Feind.“ In dieser Funktion lässt eine Kutte die Differenzierung des bevorzugten Musikgeschmacks auch innerhalb der Szene selbst zu. Die Patches (englisch für Aufnäher) verweisen auf Musikgruppen und damit einhergehend auf einen oder mehrere bevorzugte Musikstile, welche wiederum Auskünfte über angenommene oder zumindest tolerierte Werte geben. Des Weiteren bildet die mit meist vielen verschiedenen Aufnähern versehene Kutte das Wissen um das kulturelle Kapital der Szene ab. So verweisen Kutten in der Regel nicht auf eine präferierte Musikgruppe, sondern auf unterschiedliche Interpreten, Konzerte und Veröffentlichungen. Dadurch verdeutlichen sie die individuellen Vorlieben und Kenntnisse des Trägers. Band-Shirt Während das Tragen von Kutten auf Teilbereiche der Szene begrenzt ist, ist das von Band-Shirts nach Lücker „die signifikanteste Übereinstimmung in der Außendarstellung von Metal-Anhängern jeglicher Couleur.“ Band-Shirts verfolgen meist eine ähnliche, an Tonträgern und Motiven orientierte Ästhetik. Häufig handelt es sich um schwarze, beidseitig bedruckte Textilen. Die Vorderseite präsentiert „in der Regel das Logo, d. h. der in der signifikanter Schreibweise dargestellte Bandname, ein aktuelles Plattencover inklusive Titel oder eigens für die Gestaltung des spezifischen Shirts entworfene Embleme.“ Auf der Rückseite werden indes neben der Wiederholung des Bandnamen-Schriftzuges – je nach Anlass des Shirts – Konzertdaten, Liedtextauszüge, Songlisten, Slogans, Bilder der Band oder ähnliches abgebildet. Im Einzelhandel finden sich nur wenige solcher Band-Shirts. Während Textil-Unternehmen wie H&M einseitig bedruckte Replikate vertreiben, sind die originären Kleidungsstücke meist direkt von der Band, dem Label oder über spezialisierte Versandhändler zu beziehen. Death Metal Die Death-Metal-Szene, insbesondere jene um den Florida Death Metal, nahm von Teilen der zwischen NWoBHM und Thrash Metal etablierten Kluft Abstand. Jacken und enge Jeans entsprachen nicht den in Florida vorherrschenden Temperaturen. Sie erweiterten den Stil Mitte der 1980er-Jahre stattdessen um Cargohosen und Bermuda-Shorts anstelle der Jeans und Band-Longsleeves anstelle der Band-Shirts. Glam-Metal Glam-Metal-Vertreter pflegten eine auf Hedonismus und Androgynie ausgelegte Ästhetik – Aspekte, welche erst Jahre nach dem Erfolg und Niedergang des Glam-Metal in den 1980ern von Teilen der Metal-Szene aufgenommen und akzeptiert wurden. Auch einige Szene-Chronisten wie Roccor oder Berndt bewerteten die Musik und ihre Anhängerschaft in ihren Schriften eher negativ. Mit dem ironisierenden Glam-Metal-Revival in den späten 1990er-Jahren erlebte das exzentrische, metrosexuelle und androgyne Auftreten mit toupierten Haaren und Schminke zunehmende Akzeptanz in der Metal-Szene. Insbesondere die androgyne Selbstinszenierungen und das damit einhergehende subversive Spiel mit marginalisierten und hegemonialisierten Vorstellungen von Männlichkeit gilt als ästhetische Basis des Glam-Metals. Die dem Glam-Metal zugeneigten Szenegänger adaptieren häufig, insbesondere zu Konzert- und Disko-Abenden, das von den Künstlern gepflegte Bühnenauftreten mit toupiertem und gefärbtem Haar, bunten Leggings und Tüchern, geschminkten Gesichtern sowie Lederjacken. Black Metal und Folgeerscheinungen Im Black Metal etablierte sich aus der norwegischen Szene heraus eine bevorzugt monochrom schwarze Ästhetik, welche mitunter die nihilistische Haltung der Szene repräsentieren soll. Diese entstand insbesondere in bewusst gewählter Abgrenzung zum Habitus des Death Metal, der „von Gewalt und Tod [sang] – aber trotzdem lebensbejahend und spaßorientiert“ erschien und darüber der angestrebten ernsthaften Vehemenz, Aggressivität und Gefährlichkeit widersprach. Die häufig lederne Kleidung, inklusive Nietenschmuck und Patronengurt, meist schwarz gefärbte Haare, Drudenfüße und Petruskreuze gehören zum Auftreten der Szene. Interpreten posieren häufig mit Corpsepaint und archaischen Waffen wie Schwertern, Äxten oder Stachelkeulen. Der Medienwissenschaftler Andreas Wagenknecht führt das Album A Blaze in the Northern Sky von Darkthrone als exemplarisch für eine konstitutive Symbol- und Gestaltungswelt der Black-Metal-Szene an. Meist dominiert körperbetonte schwarze Kleidung, während Kutten hier eher selten anzutreffen sind. Sofern vorhanden, werden diese Jeanswesten aus schwarzem Stoff hergestellt und mit Aufnähern in Schwarz-Weiß verziert. Auch die hier bevorzugt lang getragenen Haare werden häufig schwarz gefärbt. Zu den üblichen Accessoires gehören Ketten, Nieten- und Stachelarmbänder sowie Nieten- und Patronengurte und Schmuckstücke. Letztere zeigen Petruskreuze, Pentagramme, Runen sowie mythologische, heidnische und antichristliche Symbole. Ein in den frühen 1990ern noch häufig vorhandener Trend zum Corpsepaint unter Szenegängern ist hingegen abgeflaut. In der Anhängerschaft des aus dem Black Metal generierten Pagan- sowie in jener des Viking Metals werden häufig Symbole und Kleidungsstücke getragen, die auf den ideologischen Hintergrund der Strömung verweisen. Darunter fallen Thorshämmer, Runen, Felle und frühmittelalterlich anmutende Kleidungsstücke. Viele der Interpreten vollziehen solche Inszenierungen tiefergehend und treten vollständig in der dem jeweiligen Thema entsprechenden Gewandung auf. Solche Selbstinszenierungen werden mitunter von Anhängern der jeweiligen Subszenen aufgegriffen. Crossover, Alternative Metal und Folgeerscheinungen Der Alternative Metal prägte nach dem Welterfolg des zweiten Nirvana-Albums Nevermind aus dem Jahr 1991 einen jugendkulturellen Hype, der sich musikalisch wie modisch in der Metal-Szene niederschlug. Die „geschickt geschürte Massenhysterie um Anti-Stars, Gen-X-Lifestyle, Teenage Rebellion und Grunge Look“ bot einen „idealen Aufhänger für die effektive Vermarktung jugendlicher Identifikationspole“. Die zunehmende Vermengung von Medien, Kunst und Kommerz führte zur kommerziellen Nutzung des Alternative Metals zu Werbezwecken, wie des Grungesongs Inside für einen Werbespot der Jeansmarke Levi’s, welcher der bis dahin unbekannten Band Stiltskin einen Nummer-eins-Hit in den britischen Charts bescherte. Einen engen modischen oder kulturellen Zusammenhang konnte die Hörerschaft des Alternative nicht entwickeln. Stattdessen ordneten sich viele der Fans unterschiedlichen Unter- oder Obergruppierungen wie Crossover, Grunge, Alternative oder Metal zu. Dabei fanden durch die Vermengung musikalischer Einflüsse sowie durch die Vermarktung der musikalisch-juvenilen Rebellion modische und ideologische Überschneidungen mit angrenzenden Szenen statt. Die beiden Oberbegriffe Crossover und Grunge stellten die neuen Bezeichnungen für ein alternatives und unabhängiges Lebensgefühl der vermeintlich jungen Generation dar. Das rebellische Interesse dieser Gruppe, das im Besonderen durch nominelle Konsumverweigerung gekennzeichnet ist, wurde mit dem Erfolg der unterschiedlichen Musikstile ein relevanter Wirtschaftsfaktor. Skateboard, Snowboard, Energy Drinks und entsprechende Alltags- und Sportbekleidung wie Baggy Pants, Baseballkappen und Sportjacken wurden besonders über die als Crossover populären Stile Rap Metal, Funk Metal und Metalcore vermarktet und konnten im Nachfolgegenre Nu Metal deutlich Fuß fassen. Die Künstler und Anhänger des Crossover und Nu Metal vertieften die Übernahme modischer Aspekte der Hip-Hop-Kultur, wodurch das Auftreten in Baggy Pants und Sportshirts in der Metal-Szene zunahm. Einige Interpreten des am Thrash orientieren Groove Metals wie Pantera und Machine Head traten zu Beginn der 1990er in ähnlich legerer Kleidung in Erscheinung und führten den durch den Crossover initiierten Stil in der Metal-Szene fort. Grunge hingegen wurde durch einen einfachen gelegentlich schmuddelig wirkenden Jeanslook mit Holzfäller- oder ähnlichem Alltagshemd vertreten, der jedoch durch die Schuh- und Jeansindustrie erfolgreich genutzt wurde. Modische und ideologische Überschneidungen wie Dreadlocks, Flecktarnhosen oder kahl rasierte Köpfe der Crusties oder Holzfällerhemden der Slacker zogen ebenso aus dem zunehmenden Crossover zwischen Metal und Post-Hardcore mit Stilen wie Industrial Metal, Sludge und ähnlichem in das Erscheinungsbild der Metal-Szene ein. Gothic Metal und Folgeerscheinungen Mit dem Gothic Metal und den auf diesen folgenden Entwicklungen nahm der Anteil weiblicher Fans in der Metal-Szene zu. Anders als zuvor traten viele dieser neuen Anhängerinnen feminin auf, dem Auftreten vieler Sängerinnen der Genre entsprechend. Kleidungsstücke wie Corsagen und lange Röcke wurden so in das Erscheinungsbild der Metal-Szene eingeführt. Insbesondere die Sängerinnen des Symphonic Metals setzten sich optisch von bisherigen Stereotypen ab und traten betont feminin, häufig in mittelalterlich oder fantastisch anmutenden Kleidern auf. Hinzu trat die Nutzung von Make-up und ein als vampiresque beschriebene Gesamtinszenierung. Dieser Schritt wurde insbesondere durch die auf den Gothic Metal folgenden Hybride zwischen Schwarzer Musik und Metal forciert und dauerhaft in der Schnittmenge beider Szenen verankert. So trugen Gruppen des Dark- und des Symphonic Metal wie Cradle of Filth, Therion oder Nightwish maßgeblich zu einer Entwicklung bei, die ausgehend vom Gothic Metal Mode-Elemente hervorbrachte, die Inhalten und Themen beider Szenen entsprachen. Christofer Johnsson von Therion beschreibt die mit dem Erstarken des Gothic Metals aufgekommenen Szene-Hybride als Verkehrung der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Stereotype. Das „schwarze Leder mit Spikes nebst dem unvermeidlich dazugehörenden lärmenden Motorrad wurde gegen sanftes, weiches Leder und schwarzes, auch bei Männern sehr feminines Make-up getauscht.“ Mit dem Verweis auf Cradle of Filth ergänzte er, dass der „wütende Metal-Warrior […] sich in ein Wesen [verwandelte], das manchmal an einen sexbesessenen Vampir“ erinnere. Kommunikation und Begegnung Als Augenblick der Vergegenwärtigung gelten die Momente der Szene-Begegnung. Szenen manifestieren, produzieren, reproduzieren und entwickeln sich im kommunikativen Austausch. Entsprechend kommt den Gesellungsräumen sowie den Medien die Rolle des Katalysators zu. In den Augenblicken der Begegnung und des Austausches unterschiedlicher Individuen und Peers, die sich der Szene zugehörig fühlen, verdichten sich die verschiedenen Gruppierungen und Personen zur Szene als ein übergeordnetes soziales Netzwerk. Die Organisation und Gestaltung von Events, szenespezifischen Treffpunkten, virtuellen Plattformen, Szenemedien und ähnlichen Kommunikations- und Begegnungsmöglichkeiten dient den sich einbringenden Szenegängern als Erfahrungs- und Entwicklungsraum. Gesellungsräume Eigene Zeit- und Treffpunkte gewährleisten die Stabilität der Szene. Diese Phasen der Vergemeinschaftung gelten als „unabdingbare Voraussetzungen für die Szenegänger, um ihre Kultur intensivieren und (re)produzieren zu können.“ In solchen Phasen werden das „subjektive Zugehörigkeitsgefühl sowie Gruppenbewusstsein erlebt und gestärkt.“ Solche strukturierten Zusammenkünfte gelten als bedeutsamer Faktor des „Fan-Seins“. Insbesondere Konzerten und Festivals wird im Hinblick auf die Begegnung eine immanente, mitunter kultische, Bedeutung zugesprochen. Weitere Gesellungs- und Begegnungsräume, in welchen der kommunikative Austausch untereinander stattfindet, sind spezialisierte Metalmärkte, Kneipen, Diskotheken und Internetforen. Da sich eine Szene erst im kommunikativen Austausch manifestiert und reproduziert und das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit in eben diesem Austausch entsteht, kommt den Gesellungsräumen eine hohe Bedeutung für die Entwicklung und den Bestand der Szene zu. Neben großen Events wie Festivals, die teils internationale Bekanntheit besitzen, gehört das Wissen um lokale Treffpunkte, insbesondere Kneipen und Diskotheken, zum kulturellen Kapital der Szene. Konzerte Die Auftritte der Metal-Interpreten nehmen einen hohen Stellenwert ein. Viele Szenegänger nehmen lange Anfahrten, allein oder in der Gruppe, in Kauf, um solche Konzerte und Festivals zu besuchen. Der Besuch eines Konzertes gilt „als sowohl gesellschaftliches Ereignis als auch individuelles Erlebnis“ für den jeweiligen Zuschauer. Die Zugehörigkeit zur Szene wird zu einem realen, religiös anmutenden Gemeinschaftserlebnis. In diesen Events findet die Vorstellung von der Szene ihren wirklichen Widerhall und erhält die Imagination von der Szene aufrecht. So werden alltäglich unterdrückte Werte wie Authentizität, Freiheit und das Extreme in der Gemeinschaft erlebt. Die Identifikation mit der Szene, ihren Idealen und den lyrischen, musikalischen und kulturellen Aspekten bei Veranstaltungen gilt als religiös anmutendes Erlebnis einer das Individuum bestätigenden kollektiven Gemeinschaft. Der programmatisch beschworene Individualismus, der durch die Szenezugehörigkeit seinen Ausdruck findet, steht so in Wechselwirkung mit der Identifikation mit der Szene. In der Gemeinschaft machen die Anhänger stärkende, bestätigende und reinigende Erfahrungen. Helsper beschreibt das Erleben von Metal-Konzerten als extreme Variante der Selbsterfahrung, in welchen insbesondere Jugendliche ekstatisch die Szene-Gemeinschaft erleben. Das Konzert fungiert auch als sozialer Katalysator, der es den Szenegängern erleichtert, einander kennenzulernen. Während die Szene einen geschützten Rahmen bietet, kann das Konzert oder die Band als kommunikativer Anknüpfungspunkt dienen. Die Zeit vor und nach dem Auftritt ist mit der Erwartung auf das Ereignis beladen, schafft derweil einen Rahmen für mögliche Gespräche untereinander. Zugleich wird den Anhängern die Möglichkeit geboten, „Szene-Zugehörigkeit, Fachwissen und Vorlieben“ über ihr Erscheinungsbild zu präsentieren. Weitere Aspekte der Klassifikation von Konzerten als individuelles Erlebnis sind emotionale und soziale Erfahrungen, ritualisierte Verhaltensweisen im Zusammenspiel der Zuschauer untereinander oder der Zuschauer und der auftretenden Interpreten, ebenso die körperliche Erfahrung der Musik selbst. „Lautstärkevolumen und Bassvariation manchen das Konzert gar fühlbar und verändern nachweislich das vegetative System (z. B. Pulsfrequenz).“ Diverse Autoren, die sich der Szene interdisziplinär wissenschaftlich näherten, darunter Kosic, Berndt, Helsper, Lücker und Roccor, beschreiben den Besuch eines gelungenen Metal-Konzertes als transzendentale Erfahrung mit gruppendynamischen, religiösen und katharsischen Effekten auf den Besucher. Die ritualisierten und informell reglementierten Verhaltensweisen, wie das von Roccor benannte Headbangen, Moshing und Slamdancing, die im Zusammenspiel der Zuschauer untereinander oder der Zuschauer und der auftretenden Interpreten stattfinden, führt Lücker mit auf eine Reizübertragung zurück. Diese transferiere Energie über die Musik vom Künstler auf den Zuhörer und über die Anfeuerung des Publikums wiederum von diesem zum Künstler zurück. Dabei variiere die anfeuernde Aktivität der Zuschauer je nach Genre der Interpreten „analog zur höheren Intensität, Geschwindigkeit und Brachialität der Musik.“ Festivals Als besondere Variante der Konzerterfahrung gelten meist mehrtägige Events, die über einen längeren Zeitraum eine anhaltende Abfolge von Auftritten meist bekannter Interpreten bieten. Durch die Anzahl der Interpreten wird häufig ein größeres Publikum angesprochen, weshalb Festivals gegenüber Konzerten größere Szene-Zusammenkünfte darstellen. Die etablierten und ritualisierten Verhaltensweise bleiben als Bestandteil des Szene-Lebens Teil der Erfahrung. Die Dauer des Erlebnisses selbst wird über die Auftritte mehrerer Interpreten, je nach individuellem Interesse des Zuschauers, verlängert oder wiederholt. Während in den Umbauphasen zwischen den unterschiedlichen Auftritten Raum für Gespräche geboten wird, bieten Festivals neben den Auftritten weitere Erlebnisräume. Die Konzerte, das Treffen der Szene und das meist obligatorische „Camping mitsamt Party-Charakter“ machen gerade bei großen Events nur einen Teil des Erlebnisses aus. Hinzu kommen Getränke- und Imbisswagen, Verkaufsstände von Händlern und Metal-Labels mit Tonträgern und Merchandise-Artikeln, Autogrammstunden sowie Club- und Diskoabende. Manche Festivals bieten noch ein erweitertes Rahmenprogramm mit Shows, Lesungen, Party-Programm oder speziellen Themen-Arealen. Bei der Wahl des Arealthemas wird auf den Themenfundus der Szene zurückgegriffen. Entsprechend sind Themenareale wie Mittelaltermärkte, zum Beispiel beim Ragnarök-Festival, oder das postapokalyptisch inszenierte Wasteland des Wacken Open Air, aufwendig gestaltet. Das Verkaufs- und Unterhaltungspersonal tritt dabei in entsprechender Verkleidung auf. Überschneidungen zum Cosplay können ebenso durch das Publikum praktiziert werden. Zumeist werden diese Verkaufs- und Showflächen vom restlichen Festivalgelände abgegrenzt. Festival-Besucher sind insbesondere bei Open-Air-Veranstaltungen auf Camping zur Übernachtung angewiesen. Die Infrastruktur von Festivalgeländen ist, häufig auf den kurzen Zeitraum hin ausgerichtet, mit mobilen Toiletten- und Duschkabinen ausgestattet. Dabei wird der Minimalismus und die Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten der Natur als Teil einer Festival-Erfahrung hervorgehoben. Insbesondere die körperliche Auseinandersetzung mit Regen, Schlamm und Matsch werden von einigen Besuchern während den in den Sommermonaten stattfindenden Großveranstaltungen als „Riesenspaß“ zelebriert. Zu den Festivalveranstaltungen von hoher soziokultureller Bedeutung für die Szene und unterschiedliche Subszenen zählten und zählen indes diverse Veranstaltungen. Die vergemeinschaftenden Großveranstaltungen können große Events sein, die sich der breiten Szene widmen und diverse Spielformen des Metals präsentieren. Dennoch sind und waren auf Substörmungen hin spezialisierte Veranstaltungen wie das Doom Shall Rise, das mit 500 Besuchern nur ein kleines Publikum ansprach, ebenso etabliert. Das deutsche Wacken Open Air zählte als eines der größten Metal-Festivals Deutschlands, gefolgt vom Summer Breeze, With Full Force und Bang Your Head. Das französische Hellfest gilt als eine der größten europaweiten Veranstaltungen, dem schließen sich das österreichische Nova Rock und das belgische Graspop Metal Meeting an. Als weitere Angebote werden spezialisierte Festival-Kreuzfahrten wie Full Metal Cruise oder 70000 Tons of Metal organisiert. Das Reiseprogramm solcher Schiffsfahrten wird als mehrtägiges Metalfestival (meist zwischen drei und fünf Tagen) mit einer Vielzahl an Bandauftritten gestaltet. Durch die räumliche Begrenzung wird dabei „der unmittelbare Kontakt zwischen den Bands und den Fans“ zu einem besonderen Augenmerk. Diskotheken Diskotheken spezialisieren sich nur selten auf Metal-Veranstaltungen. Vielmehr gestalten diese Themenabende, welche sodann eine hohe Anzahl an Stammkunden anziehen. Alternativ bedienen Diskotheken ein größeres Musikspektrum. Gemeinsame Veranstaltungen für Metal-Fans mit Rockmusik-Anhängern oder Punks und Hardcore-Punks oder Alternative oder der Schwarzen Szene sind gängige Kombinationen. Zentral für die mit Flyern, Plakaten oder im Internet beworbenen Zusammenkünfte steht das von einem oder mehreren DJs gestaltete Musikprogramm, auf dessen Basis die Gemeinschaft der Szene erlebt werden kann. Neben dem Faktor des Musikgenusses gelten solche Veranstaltungen als Freizeitvergnügen unter Gleichgesinnten mit der Option, dem eigenen Alltag zeitweise zu entkommen. Darüber hinaus bietet der Diskothekenbesuch abgemilderte Erlebnisformen von Konzerten und Festivals. Insbesondere die ritualisierten Szene-Tänze und -Gesten werden hier gepflegt. „Emotionale Ausgleichsmomente und Entspannungswirkungen entstehen […] durch die zeitlich begrenzte Ausblendung des persönlichen Alltagslebens. Gemeinschaft wird zelebriert und die Szenegänger bewegen sich rhythmisch zur Musik […]. Neben der Unterhaltungsfunktion vermögen die Besucher mit Hilfe der Musik Stimmungen und Emotionen zu projizieren bzw. zu kompensieren, was wiederum einer emotionalen Affektregulierung entspricht.“ Neue soziale Kontakte können hinzukommend in diesen Zusammenkünften entstehen, diese gelten jedoch nicht als zentraler Aspekt des Gemeinschaftserlebnisses. Kneipen Als weiterer Treffpunkt gelten Metal-Kneipen und -Bars. Diese Lokale wenden sich insbesondere über die präsentierte Hintergrundbeschallung an die Szene. Die meisten Kneipen wurden nicht als solche konzipiert, sondern meist durch die bevorzugte Musik des Personals zum Szene-Treffpunkt. Sie dienen vornehmlich der Kommunikation untereinander, ihre Adressen werden oft im Internet ausgetauscht. Heavy-Metal-Clubs Eine Organisationsform, die in den späten 1980er-Jahren besonders populär war und seither als rückläufig gilt, sind Heavy-Metal-Clubs. Sie werden meist als Verein mit Satzung, Statuten, Vorsitzenden und Kassenwart initiiert. Diese Clubs organisieren eigene Veranstaltungen und Fahrgemeinschaften zu Events, pflegen den Austausch untereinander und bieten einen Rückzugsraum unter Gleichgesinnten. Roccor schreibt diesen Clubs eine wichtige Rolle für die sozial-emotionale Entwicklung ihrer meist jugendlichen Mitglieder zu. Diese könnten sich innerhalb des geschützten Rahmens ausprobieren, organisieren und entwickeln, während kollektive und soziale Bedürfnisse nach Kontinuität und Sicherheit erfüllt würden. Die bevorzugten Aktivitäten variieren dabei dem Alter der Mitglieder entsprechend. „Je nach pubertären Entwicklungsstadium überwiegt der gesellige Aspekt mit Trinkspielen, gemeinsamem Musikhören und Rumalbern, oder die Pflege des Heavy Metal – durch die Organisation kleiner Festivals mit Bands aus der Region.“ Heavy-Metal-Clubs weisen häufig Parallelen zu klassischen Vereinen und zu Motorradclubs in ihrem Erscheinungsbild sowie in der inneren Struktur auf. Die Mitglieder sind mit Aufgaben in der Vereinsarbeit betraut und leisten einen regelmäßigen Obolus in die Vereinskasse. Die Mitglieder sind zur Teilnahme an den Clubtreffen verpflichtet. Frauen sind häufig von einer Voll-Mitgliedschaft ausgeschlossen. Nach außen demonstrieren die Clubs Geschlossenheit und Einheit, unter anderem über gemeinsame Abzeichen, die ähnlich der Rocker-Kutte präsentiert werden. Symbolische Initiationsriten, welche die Opferbereitschaft neuer Mitglieder präsentieren, gehören ebenso zum Aufnahmeprocedere. Das Selbstbild der Clubs beschreibt die Gruppe als exklusive Gemeinschaft elitärer Individuen mit besonderen Kenntnissen. Es bietet somit einen Kontrast zur Wahrnehmung als gesellschaftliche Außenseiter, die insbesondere in der Blütezeit der Heavy-Metal-Clubs noch üblich war. Metalmärkte Auf die Szene hin ausgerichtete Verkaufsveranstaltungen, so genannte Metalmärkte, gehören zum Rahmenprogramm der meisten Festivals, existieren jedoch ebenso in eigenständiger Form. Zu diesen Veranstaltungen werden Räumlichkeiten, meist Konzerthallen oder Diskotheken, von einem Veranstalter angemietet. Dieser verpachtet meterweise Standfläche an Interessenten. Als Verkäufer treten professionelle Tonträgervertriebe und Labels in Erscheinung, aber auch Szenegänger, die Teile ihrer privaten Sammlung veräußern. Angeboten werden vornehmlich Tonträger, Videos und Merchandise-Artikel aus dem musikalischen Spektrum des Metals. Häufig finden Autogrammstunden und ähnliche Attraktionen statt. Neben dem kommerziellen Aspekt fungieren solche Märkte als Szene-Treffpunkt mit Bar, am Thema orientiertem Austausch und gelegentlichem Rahmenprogramm. Medien Auflagenstarke Magazine wie Metal Hammer, Deaf Forever, Rock Hard, Legacy, Kerrang!, Revolver, Webzines wie Metal.de, Metal4, Vampster und Metalinjection sowie Fanzines erfüllen eine Scharnierfunktion zwischen Musikfans, Interpreten und Musikindustrie. Der Umstand, dass Metal im Radio und Musikfernsehen kaum jenseits der an den Mainstream anknüpfenden Stile stattfand und stattfindet, führt dazu, dass Anhänger der Musik hauptsächlich auf diesem Weg Informationen zu neuen Veröffentlichungen und Veranstaltungen erhalten können. Die Musikindustrie findet demgegenüber den Zugang zu den Musikanhängern vornehmlich über das Medium der Metalpresse. Entsprechend hoch ist der Stellenwert der vornehmlich aus der Szene gewachsenen Metalpresse in der Szene sowohl bei der Industrie als auch bei den Szene-Anhängern. Dabei ging die Verbreitung und Etablierung der Metal-Presse mit der Entwicklung der Szene einher. Kommerzielle Erfolge brachten neue Magazine und Sendungen mit sich, neue Musikstile und zugehörige Szeneströmungen hingegen häufig eigene Web- und Fanzines, die sich je nach Erfolg zu Magazinen entwickeln konnten. Anmerkung: Der nachfolgende Schwerpunkt auf die deutschsprachigen Medien ist der Literatur geschuldet und steht damit exemplarisch für analoge Entwicklungen in nahezu allen Nationen mit eigenen großen Metal-Szenen. Print-Medien Als erste Print-Periodika, die sich ausschließlich dem Metal widmeten, gelten das niederländische Aardschok sowie das britische Kerrang. Während Aardschok als Fanzine begann, wurde Kerrang als Heftbeilage des Rockmusik-Magazins Sounds eingeführt. Beide Zeitschriften erschienen erstmals zu Beginn der 1980er-Jahre und galten bis in die Mitte der 1980er-Jahre als einzige beständige Informationsquellen. In Deutschland wurden mit Metal Maniacs Germany und Shock Power erste Fanzines produziert, welche allerdings keinen fortdauernden Bestand hatten. Erst Rock Hard konnte sich als Zeitschrift etablieren und vom Fanzine zum professionellen Musikmagazin entwickeln. Das 1983 erstmals mit 20 Seiten herausgegebene und bei Konzerten verkaufte Heft entwickelte sich bis zum Ende der 1980er-Jahre – neben dem 1984 erstmals erschienenen und von Beginn an als Kiosk-Magazin konzipierten Metal Hammer – zu einer der führenden deutschsprachigen Periodika. Bis in die Mitte der 1990er-Jahre entstand eine Vielzahl weiterer Magazine. Insbesondere der Erfolg des Alternative Metals bedingte ebenso den Aufstieg diverser Fanzines wie die Neugründung von Hochglanz-Zeitschriften. Im Zuge der zunehmenden kulturellen Überschneidungen orientierten sich zusätzlich neue und alte Magazine an Teilbereichen des Metals sowie an den Schnittstellen mit anderen Szenen. Neben Magazinen und Fanzines wie Legacy oder Iron Curtain, die sich beide den Extrem-Metal-Teilbereichen widmeten, griffen Magazine anderer Szenen wie Sonic Seducer und Visions Metal als Bestandteil kultureller Überschneidungen zu ihrer jeweiligen Kernklientel auf. Das Abebben des punktuellen Erfolges der Musik führte zur Einstellung einiger solcher Medien. Andere behaupteten sich über die partielle Hochphase hinaus am Markt und erweiterten den Kanon der gängigen Metalpresse. Als auflagenstärkste und beständigste deutschsprachige Zeitschriften gelten Metal Hammer, Rock Hard, Legacy und Deaf Forever, welches aus einer Redaktionsabspaltung vom Rock Hard nach inneren Konflikt entstand. Radio, Kino und Musikfernsehen Metal fand selbst in Phasen, in welchen die Musik als wirtschaftlicher Faktor Hochkonjunktur erlebte, nur marginal im Musikfernsehen und Radio statt. Diese Medien beschränkten sich zu einem Großteil darauf, ohnehin populäre, in den Mainstream eingedrungene Stücke zu spielen. Roccor benennt besonders Guns n’ Roses und Metallica als jene Gruppen, die zu Beginn der 1990er-Jahre einen solchen Erfolg verzeichneten. Dennoch blieb die „Kluft zwischen dem Heavy Metal als Mode und dem Heavy Metal als Kulturpraxis“ bestehen. Ein umfassendes Eindringen in den Mainstream blieb aus. Stattdessen wiederholte sich dieses Schema in dem Erfolg nachkommender Interpreten und Stilvariationen. Informationen zu Neuerscheinungen, Konzerten und neuen Künstlern erhielt die Szene kaum im Musikfernsehen. Videoclips werden im Metal unterschiedlich arrangiert. Es werden zwei Schwerpunkte gesetzt: Einerseits narrative Videos, die eine Geschichte erzählen, andererseits performative Videos, welche die Interpreten beim Musizieren zeigen. Beide Varianten besitzen in der Szene Befürworter, welche die gegenüberliegende Darstellungsform ablehnen. Trotz des langen Bestands der Szene, der Musik und teils aufwändiger Videoclips behauptete sich Metal nicht dauerhaft im Musikfernsehen. Sackl-Sharif zufolge verschwand Metal in der Mitte der 1990er-Jahre allmählich aus dem Mainstream-Musikfernsehen. Zuvor waren Videos der NWoBHM und des Glam Metals sporadisch im allgemeinen Programm ausgestrahlt worden. Mit der MTV-Sendung Headbangers Ball fand Metal 1988 erstmals einen eigenständigen Sendezeitraum im Fernsehprogramm. Auf die Sendung folgten weitere ähnliche Formate, die sich als kurzlebig erwiesen. Der 1993 initiierte Sender VIVA bot dem Metal-Publikum die Sendung Metalla. Weitere Formate wie die RTL-Sendung Mosh oder die Tele-5-Reihe Hard ’n Heavy hielten sich nur kurzfristig Ende der 1990er-Jahre am Markt. Auf den Erfolg des Alternative Metals in den 1990er-Jahren reagierten die Musikfernsehsender mit entsprechenden Sendungen. Lücker konstatierte dennoch 2011, dass Metalbands „trotz teils aufwändiger Videoclip-Produktionen und Single-Auskopplungen […] in der Regel von den Fernsehsendern und Radiostationen gemieden“ wurden. Demgegenüber berichten diverse TV-Magazine über besonders große Metal-Festivals, insbesondere das Wacken Open Air und das Hellfest werden häufig medial begleitet und aufbereitet. Ebensolche Aufmerksamkeit erhalten Metal-Kreuzfahrten. Insbesondere Unterhaltungs- und Kultursender wie Arte, One und ZDFneo zeigen einzelnen Künstlern oder Szenen gewidmete Dokumentationen. International entstanden diverse Dokumentationen, die sich Bands, Szenen, Teilgenren oder dem gesamten Spektrum der Musik widmeten. Der Kulturanthropologe Sam Dunn war für die genreübergreifend darstellenden Dokumentationen Metal – A Headbanger’s Journey, Global Metal sowie die ebenso ausgerichtete Serie Metal Evolution verantwortlich. Nebst solchen überblickenden Darstellungen erschienen diverse Dokumentationen, die sich auf Teilszenen konzentrierten, darunter unter anderem die dem Black Metal gewidmeten Until the Light Takes Us und Once Upon a Time in Norway sowie der die Extreme-Doom-Szene der amerikanischen Südstaaten darstellende Film Slow Southern Steel. Online-Medien Mit der zunehmenden Verbreitung des Internets nahm die Produktion von Print-Fanzines ab und jene von Webzines zu. Webzines gelten als kostengünstigere Variante, die ein hohes Maß an Aktualität und eine größere Verbreitung ermöglicht. Populäre Webzines wie die deutschsprachigen Metal.de, Vampster und Metal4 oder englischsprachige wie Metalsucks, Cvlt Nation oder Metalinjection stehen den großen Zeitschriften gegenüber und erweisen sich für ihre Redakteure als „zeitintensives und arbeitsreiches Hobby“ oder gar als eigenes Berufsfeld. Dabei sind führende Webzines den Gegebenheiten des digitalen Marktes unterworfen. „Nur wer ein gutes Konzept, tägliche Updates und kompetente Berichte bietet, hat Chancen zahlreiche Leser an sich zu binden, und nur wer aktuell bzw. termingerecht arbeitet und hohe Zugriffszahlen aufweisen kann, wird weiterhin von Plattenfirmen und Promotion-Agenturen mit Material bemustert.“ Ebenso sind die Werbeeinnahmen, die meist dazu dienen, das Webzine aktiv und aktuell zu halten, von den Zugriffszahlen abhängig. Neben den Webzines, die den Kanon der Metalpresse merklich ausbauten, avancierte das Internet mit dem Web 2.0 und seinen Foren und Plattformen zu einem weiteren Sammel- und Austauschfaktor der Szene. Musikgruppen können ihre Musikvideos unabhängig vom Musikfernsehen auf Videoplattformen präsentieren und Szene-Anhänger sich in Foren und sozialen Netzwerken zusammenschließen und austauschen. Ebenso förderte das Internet den Austausch zwischen Szenegestaltern wie Festivalveranstaltern, Interpreten, Zeitschriften und Online-Redakteuren. Außerdem hat die Szene mit Krachmucker TV, Der Dunkle Parabelritter, Banger TV von Sam Dunn, dem Vegan Black Metal Chef und ähnlichen Akteuren eigene YouTuber hervorgebracht. Rituale Insbesondere in den heterotopischen Räumen der Szene haben sich diverse Verhaltensweisen als habitualisiertes oder als ritualisiertes Gebaren der Szenegänger herausgebildet. Neben dem Erscheinungsbild gehören besonders diese Verhaltensformen zu den Codes und Symbolen der Szene. Gerade Konzerte und Festivals weisen mit dem Stagediving und Crowdsurfing eigene Rituale auf, welche die Vergemeinschaftung innerhalb des begrenzten Raumes in Form gruppendynamischer Vertrauensübungen unterstützten und die Identifikation des Einzelnen mit der Gemeinschaft erhöhen. Weitere Tanzrituale wie Pogo und Headbangen werden mitunter als ausgelebte Aggression und Frustration im Rahmen der informellen Normen der Szene betrachtet. Als in dieser Hinsicht bedeutsame Norm gilt, dass niemand absichtlich verletzt wird und die Szenemitglieder einander vor möglichen Schädigungen schützen. Ein weiteres gängiges Tanzverhalten einiger Szene-Anhänger ist die Luftgitarre. Das Nachahmen des Spiels des Instruments wird zumeist als Ausdruck der Begeisterung für die Musik betrachtet. Als zusätzliche habitualisierte Geste gilt die Mano-cornuta-Geste, welche vielfältig positiv besetzt genutzt wird. Ebenso wie sich die Ideale und Themen der Szene in allen Teilbereichen der Gemeinschaft in unterschiedlichen Gewichtungen ausmachen lassen, sind auch die Rituale der Szene in Subströmungen variabel und die im Folgenden beschriebenen Verhaltensformen sind weder als absolut noch ebenso als exklusiv zu betrachten. Teile der Rituale, wie der Pogo, wurden aus anderen Szenen adaptiert, andere Verhaltensformen, wie das Präsentieren der Mano-cortuna-Geste, wurden von anderen Szenen aus dem Repertoire des Metals übernommen. Mano cornuta Die im deutschen Sprachraum mitunter als „Pommesgabel“ bezeichnete Mano-cornuta-Geste, bei der Zeige- sowie kleiner Finger von einer geballten Faust abgespreizt werden, wird insbesondere während Auftritten den Musikern entgegengestreckt und rhythmisch im Takt der Musik geschwungen. Sie gilt während der Konzerte als Ausdruck der Begeisterung und des Zuspruchs. Darüber hinaus wird die Geste als Ausdruck des Gruppengefühls und der allgemeinen Begeisterung für die Musik genutzt. Szene-Anhänger präsentieren die Geste untereinander, häufig mit ironisierender Überzeichnung, als Symbol der Identität oder zur gegenseitigen Bestätigung, vergleichbar mit einem gehobenen Daumen. In diesen Verwendungen wurde die Geste von vorherigen Nutzungsformen getrennt und im Szene-Kontext mit neuer Bedeutung versehen. Stagediving und Crowdsurfing Beim Crowdsurfing wird eine Person vom Publikum über die Köpfe der vorderen Reihen hinweg gereicht. Beim Stagediving springt ein Konzertbesucher oder ein Musiker von der Bühne in die Menge, wird von dieser aufgefangen und sodann getragen und weitergereicht. Dabei gelten als interne Regeln, dass der Springer sicher vom Publikum gefangen wird, dass er sicher heruntergelassen wird und dass der Springer nicht mit den Füßen voraus ins Publikum springt. Lücker beschreibt das Stagediving als gruppendynamisches und zugleich hedonistisches Erlebnis. Einerseits stünde die subjektive Freude und Aufregung, andererseits das soziale gemeinschaftliche Erlebnis im Mittelpunkt. Stagediving und Crowdsurfing seien aufgrund des notwendigen gegenseitigen Vertrauens als ein Ausdruck des Zusammenhalts und der Gemeinschaft zu sehen. Tanz Aufbauend auf der zentralen Rolle der Musik und ihrer stimulierenden Wirkung nehmen unterschiedliche Varianten des Tanzens eine wichtige Funktion innerhalb der Szene ein. Nach Lücker hält die Musik „eine stimulierende Funktion in einer rationalisierten, differenzierten und auf Affektkontrolle ausgerichteten Gesellschaft bereit.“ Insbesondere auf Konzerten sei dies in Form einer körperlichen Teilhabe am Szeneleben, in Form von Headbanging, Luftgitarrenspiel und Varianten des Pogos zu beobachten. Dabei steige die körperliche Aktivität im Verhältnis zur Intensität der präsentierten Musik. So würden die in Bühnennähe stehenden Fans während des Erlebnisses eines Hard-Rock-Konzertes sich „durch Mitsingen, Fäuste recken, Präsentieren der Cortuno-Geste, Mitklatschen und -singen sowie Headbangen“ ausdrücken, wohingegen dieses Verhalten während eines Thrash-Metal-Konzertes um Variationen des Pogos und Stagedivings ergänzt werde. Headbanging bezeichnet schnelle rhythmische Bewegungen mit dem Kopf im Takt der Musik. Meist wird lang getragenes Haar wehend um den Kopf geschwungen. Die Kopfbewegung wird zumeist vor und zurück, seitwärts oder im Kreis ausgeführt. Das Luftgitarrespiel ist das nachahmende Spielen auf einer imaginären E-Gitarre zur Musik. Die Haltung der Arme und Hände orientiert sich dabei an der regulären Haltung der Gitarristen, die Bewegungsabläufe orientieren sich an der Musik. Dabei ist die Luftgitarre Ausdruck der Teilhabe an der Szene. Sie funktioniere nur „in einem Regelkreis von ästhetischer Produktion und Rezeption“ von dem Gitarristen über den reproduzierenden Fan in die Szene, in der sie zum Ausdruck der Teilhabe wurde. Beim Pogo, im Metal gelegentlich als Moshen bezeichnet, bilden die Tänzer einen Pulk, in dem sie einander an Armen und Schultern schubsen und abstoßen. Schläge und Tritte sind dabei verpönt und das Verhalten im Moshpit unterliegt einem Verhaltenskodex. „Wer hinfällt, wird hochgezogen, wer umkippt, wird über die Köpfe hinweg nach draußen gereicht. Mutwillige Schläger werden rüde zur Ordnung gerufen, genau wie Stagediver, die mit den Füßen voran ins Publikum springen.“ Rezeption Die Rezeption der Metal-Szene wurden in den ersten Jahren der Szeneexistenz durch Zuschreibungen unbestätigter Stereotype bestimmt. Nebst boulevardjournalistischen Artikeln zeigten besonders religiöse Gruppen ein Interesse an dem jugendkulturellen Netzwerk und urteilten die Szene ab. Presseberichte griffen die negativen Pauschalisierungen häufig auf. Weitere Auseinandersetzungen erwiesen sich als voreingenommen, pseudowissenschaftlich, einseitig und beladen mit Klischees von sexistischen, brutalen und dummen Szene-Anhängern. Mit der zunehmenden Verbreitung der Szene wandelte sich die Rezeption. Die mediale Rezeption wurde in den 2000er-Jahren gelegentlich positiv. Großveranstaltungen wurden von der allgemeinen Presse wohlwollend begleitet und medial aufbereitet. Fernseh- und Printdokumentationen über Festivals sind seither üblich. Der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnete Dokumentarfilm Full Metal Village von Sung-Hyung Cho zählt zu den populärsten Veröffentlichungen dieser Aufbereitungs-Form. Einschneidende Ereignisse, wie der Amoklauf von Erfurt eines jugendlichen Metal-Fans, führten dennoch zur Ausgrenzung der Metal-Szene. Einige Berichte über solche Ereignisse versuchten eine Kausalität zwischen Musik, Szene und Tat zu konstruieren. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit soziokulturellen Aspekten des Metals gab es erstmals vereinzelt in den 1990er-Jahren, die Rezeption nahm in den 2010er-Jahren deutlich zu. Der überwiegende Teil der spezifisch am Metal interessierten Fachliteratur widmet sich der Musik, die Kultur der Szene hingegen wurde bis in die 2010er-Jahre nur selten betrachtet. Erste Ansätze kultur- und sozialwissenschaftlicher Betrachtungen lieferten die Soziologin Deena Weinstein 1991 mit Heavy Metal: A Cultural Sociology, der Erziehungswissenschaftler Werner Helsper 1997 mit dem Aufsatz Das »Echte«, das »Extreme« und die Symbolik des Bösen sowie die Volkskundlerin Bettina Roccor 1998 mit Heavy Metal: Die Bands. Die Fans. Die Gegner. und Heavy Metal – Kunst, Kommerz, Ketzerei. In den folgenden Jahren wurden zunehmend populärwissenschaftliche und kulturhistorische Werke wie das von Ian Christe verfasste Buch Sound of the Beast. The Complete Headbanging History of Heavy Metal. veröffentlicht, welches versucht, eine Gesamtgeschichte des Metals als Szene und als Musikrichtung nachzuzeichnen. Häufiger erschienen kulturhistorische Betrachtungen zu einzelnen Strömungen. Neben solchen Betrachtungen traten insbesondere die Autoren Garry Sharpe-Young und Martin Popoff mit einer Vielzahl an Büchern zur Musik in Erscheinung. Viele dieser Bücher fassten Interviews, Rezensionen oder kurze enzyklopädische Darstellungen aus ihrer journalistischen Tätigkeit zusammen. Das Interesse an kultur- und sozialwissenschaftlichen Betrachtungen der Metal-Szene nahm ab 2010 zu. Es folgten Veröffentlichungen, die sich unterschiedlichen kulturellen Aspekten der Metal-Szene widmeten. Mit Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt der Medienkulturwissenschaftler Rolf F. Nohr und Herbert Schwaab erschien ein umfassender Sammelband zu diversen kulturellen Aspekten. Weitere spezialisierte Werke wie Queerness in Heavy Metal Music der Kulturwissenschaftlerin Amber R. Clifford-Napoleone aus dem Jahr 2015 oder Gott haßt die Jünger der Lüge des Theologen Sebastian Berndt aus dem Jahr 2012 beschäftigten sich mit Teilaspekten der kulturellen Identität. So setzt sich Clifford-Napoleone mit dem Aspekt LGBT im Metal auseinander, während Berndt die Bedeutung des alltagsrelevanten Bösen im Metal und die damit einhergehende christliche Auseinandersetzungen mit der Metal-Szene betrachtet. Mit dem durch die Religionswissenschaftlerin Anna-Katharina Höpflinger und den Musikwissenschaftler Florian Heesch herausgegebenem Methoden der Heavy Metal-Forschung: Interdisziplinäre Zugänge aus dem Jahr 2014 wurden mögliche Methoden wissenschaftlicher Untersuchungen der Metal-Szene aus interdisziplinärer Perspektive kanonisierend zusammengefasst und reflektiert. Seit Beginn der 2010er-Jahre nahm ebenso die wissenschaftliche Rezeption in Form von Fachtagen zu. Siehe auch Metal Geschichte des Metals Themen der Metal-Szene Liste von Filmen und Serien mit Metal-Bezug Literatur Einzelnachweise Metalkultur Metal Metal
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https://de.wikipedia.org/wiki/Italienische%20popul%C3%A4re%20Musik
Italienische populäre Musik
Die italienische populäre Musik umfasst populärmusikalische Strömungen in Italien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die strenge Trennung zwischen gehobener klassischer Musik und der dialektalen Volksmusik verhinderte in Italien lange die Entstehung einer nationalen populären Musik. Die neapolitanische Volksmusik konnte als erste die regionalen Grenzen überschreiten, die Entwicklung der ersten Aufnahmetechniken und die Verbreitung der caffè-concerti beeinflussten die Zirkulation von Musik um die Jahrhundertwende weiter. Ereignisse wie Massenemigration und Kolonialkriege sowie der Erste Weltkrieg lieferten neue Themen für Lieder und in der Zwischenkriegszeit erreichten amerikanische Einflüsse die italienische Musikszene, die mittlerweile auch im Radio ihr Publikum fand. Unter dem Faschismus erlebten populäre Lieder sowohl Zensur als auch Verwendung als Propaganda. Gleichzeitig brachten das Aufkommen des Tonfilms und die Entstehung von Rundfunkorchestern und Big Bands neue Kanäle zur Verbreitung der Musik mit sich. Die Wiederbelebung des italienischen Musikmarktes nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte 1951 mit der ersten Ausgabe des Sanremo-Festivals, das fortan eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Weiterentwicklung der italienischen populären Musik einnehmen sollte. Nach Domenico Modugnos Sanremo-Sieg 1958 mit Nel blu dipinto di blu löste man sich zunehmend von der Tradition: Die 1960er-Jahre brachten neue Stilrichtungen, neue Musikwettbewerbe und eine Vielzahl neuer „Stars“ hervor. Nach den politisch und musikalisch turbulenten 1970er-Jahren setzte sich in den 1980er-Jahren besonders durch das Debüt von Eros Ramazzotti eine moderne Popmusik durch. Daneben kamen die kurzlebige Italo Disco und erste Vorboten des italienischen Hip-Hops auf, der vor allem ab den 1990er-Jahren Zulauf erfuhr. Im neuen Jahrtausend reihten sich Castingshows neben dem Sanremo-Festival als Plattformen für neue Sänger ein, was auch das Festival nachhaltig prägte. Die Außenwirkung der italienischen populären Musik erfolgte in der Vergangenheit zum einen durch die mediale Verbreitung des Sanremo-Festivals (und des eng damit zusammenhängenden Eurovision Song Contests), zum anderen (hauptsächlich beschränkt auf die 1960er-Jahre) durch Erfolge fremdsprachiger Coverversionen italienischer Lieder im Ausland. Ausgewanderte Italiener und deren Nachkommen konnten außerdem ihre Musik in fremde Kulturen einbringen, was vor allem in den USA spürbar war. Später schafften mit Italo Disco und als Italo Pop bezeichneter Musik nur noch wenige Vertreter den Sprung über die Landesgrenze; bedeutende Absatzmärkte waren und sind hierbei Osteuropa und Lateinamerika. Begriff In Italien und generell im Italienischen gibt es keine allgemein anerkannte Bezeichnung oder Definition von populärer Musik. Als in den 1960er-Jahren englischsprachiger Pop Italien erreichte, wurde musica pop als eigenständiges, ausländisches Genre aufgefasst, womit keine italienische Entsprechung für notwendig empfunden wurde. Ab den 1970ern begann man, wohl unter dem Einfluss von Musikjournalismus und Musikwissenschaft aus dem englischsprachigen Raum, musica popolare als wörtliche Übersetzung von popular music zu verwenden, wobei auch die Definition übernommen wurde. Allerdings stieß diese Bezeichnung schnell an ihre Grenzen, da der Begriff musica popolare schon mindestens seit dem 19. Jahrhundert von Musikethnologen und Volkskundlern für Volksmusik (verstanden als mündlich überlieferte, traditionelle Musik) belegt war. Um Missverständnisse zu vermeiden, entwickelte man für die populäre Musik in der Folge den Begriff musica popolare contemporanea („zeitgenössische musica popolare“). Allerdings änderte das wenig an der Zweideutigkeit (genauso gut könnte damit „zeitgenössische“ Volksmusik gemeint sein), außerdem scheint durch die Beschränkung auf den zeitgenössischen Kontext ältere populäre Musik ausgeschlossen zu werden. Unabhängig davon hatte es sich schon früh eingebürgert, von populärer Musik (mit möglicherweise nicht völliger Deckungsgleichheit der Definitionen) einfach pars pro toto als canzone („Lied“) zu sprechen. Der Begriff canzone in der Bedeutung eine Vokalkomposition geht auf Dante Alighieris De vulgari eloquentia (1303–1305) zurück, im Lauf der Geschichte wurde er sehr unterschiedlich verwendet (eine Kanzone kann auch ein Instrumentalstück sein). Im heutigen Sprachgebrauch sind canzone und der leicht abwertend verstandene Diminutiv canzonetta zwar fast allumfassend und damit durchaus als begriffliche Entsprechung der populären Musik geeignet, allerdings sind die Begriffe durch die im Faschismus erfolgte und teilweise noch heute präsente Ausgrenzung populärer Musik ausländischen (insbesondere afroamerikanischen) Ursprungs empfindlich eingeschränkt. Für rein italienische Musik ist der Begriff aber weit verbreitet, besonders deutlich im vollständigen Namen des Sanremo-Festivals, Festival della Canzone Italiana. Ein weiterer verbreiteter Begriff ist musica leggera („leichte Musik“), der Ende des 19. Jahrhunderts aus einer konservativen Perspektive heraus geprägt wurde und Lieder, Tanzmusik sowie die Operette mit einschloss, analog zur deutschen Trivialmusik. Während des Faschismus etablierte das öffentliche Radio den Begriff, wobei jedoch die Operette aus der Definition heraus fiel. Problematisch an dem Begriff ist zum einen der stark abwertende Beigeschmack, zum anderen die Tatsache, dass viele Strömungen innerhalb der italienischen populären Musik (Urlatori, Cantautori oder Punkrocker) sich konkret gegen diese Bezeichnung stemmten und so gewissermaßen als Gegenbewegungen zur musica leggera wahrgenommen wurden. Daneben sind oder waren im akademischen Kontext auch musica d’uso (Gebrauchsmusik) und musica di consumo (Konsum-Musik) im Gebrauch. Bereits ab den 1980er-Jahren begann man aufgrund dieser begrifflichen Widersprüche, vereinzelt auf die englische Bezeichnung popular music zurückzugreifen. Diese konnte sich zwar mit der Zeit etablieren, ist aber doch nur bei einer Minderheit tatsächlich im Gebrauch. Parallel (und in Abgrenzung) dazu entstand auch der Begriff musica moderna („moderne Musik“). Geschichte Die italienische populäre Musik hat ihre Anfänge nach allgemeiner Auffassung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Ausgangspunkt wird die Veröffentlichung des Liedes Santa Lucia von Teodoro Cottrau und Enrico Cossovich angesehen: Auch wenn es sich im Grunde um die Übersetzung einer Barkarole aus dem Neapolitanischen handelte, gilt das Lied als erster Versuch, die Tradition der „gehobenen“ Musik (musica colta) sowohl melodisch als auch textlich mit der Tradition der Volksmusik in Einklang zu bringen. Anders als etwa in Frankreich, wo die Wurzeln des Vaudeville im Chanson des 16. Jahrhunderts liegen, oder im deutschsprachigen Raum, wo Musik und Dichtung im Kunstlied zusammenfanden, bestand in Italien über viele Jahre eine deutliche Trennung zwischen Kompositionen der gehobenen Musik (etwa Romanzen oder Operetten) und den im Dialekt gehaltenen Liedern aus der Volksmusik. Dabei hatten es lokale Musiktraditionen sehr schwer, ihr eng begrenztes Verbreitungsgebiet zu verlassen; am ehesten gelang dies der neapolitanischen Volksmusik sowie teilweise der römischen und mailändischen. Erst um 1900, auch unter dem Einfluss des französischen Café-concert, löste sich diese strikte Trennung der Musikstile langsam auf, eine Entwicklung, die schließlich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs als abgeschlossen betrachtet werden kann. Volksmusik vor der italienischen Einigung Die Volksmusikforschung hat eine Reihe verschiedener Traditionen auf der Italienischen Halbinsel ausgemacht, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen: zum einen die „gallisch-italische“ (gallo-italica) Tradition Oberitaliens, die deutlich unter französischem Einfluss steht und auf syllabischen Gesang sowie erzählerischen Texten aufbaut; zum anderen die Tradition Mittel- und Süditaliens, die durch melismatischen Gesang und lyrische, deskriptive Texte geprägt ist. Das älteste erhaltene Volkslied aus Oberitalien ist La donna lombarda, das laut dem Historiker Costantino Nigra aus dem 5. Jahrhundert stammt und das wahrscheinlich mit der Langobardenkönigin Rosamunde zusammenhängt. Erste Spuren der mittel- und süditalienischen Tradition hingegen finden sich im 12. und 13. Jahrhundert einerseits mit La ienti de Sion, einer jüdisch-italienischen Elegie, die üblicherweise während des Fasttags Tischa beAv angestimmt wurde und die vermutlich aus den Marken stammt; andererseits mit Turiddu, chi si’ beddu, chi si’ duci, einer Stanze, die wahrscheinlich auf einen Bänkelsänger (cantastorie) zurückgeht und erstmals in Partinico nachgewiesen wurde. Innerhalb der einzelnen Traditionen finden sich in Oberitalien der Trallalero Liguriens, die narrativen Gesänge aus dem Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Aostatal, die Lieder über einzelne historische Persönlichkeiten oder Ereignisse aus dem Piemont und der Lombardei, die sogenannten Villotte des Triveneto, oder die emilianischen Volkslieder aus den Überlieferungen der Po-Ebene. In Mittelitalien war Stegreifdichtung wie der Stornello von Bedeutung, der in verschiedenen Varianten in der Toskana (als rispetto), in Umbrien und in den Abruzzen (als canzune oder canzune suspette) vorkam, aber auch Gesänge in Stanzen, der Chorgesang il bei (aus der Gegend des Monte Amiata, mit Ähnlichkeit zum ligurischen Trallalero) und der mehrstimmige Vatocco der Marken, Umbriens und der Abruzzen. Im Süden schließlich kamen so verschiedene Traditionen wie der Tanz Saltarello aus dem unteren Latium, der zur Tarantella in Kampanien und Apulien und zur Pizzica im Salento überging, Bauerngesänge der Basilikata und Kalabriens, oder Gesänge der sizilianischen Fuhrmänner vor; bedeutend war auch die musikalische Vielfalt Sardiniens, die von den Tenores Barbagias über die Tasgia von Gallura zu den Muttos, den Muttettos und der Mattorina reichte. Die neapolitanische Volksmusik Eines der frühesten Beispiele für den traditionellen neapolitanischen Gesang ist der Canto delle lavandaie del Vomero, eine frühe Form der Villanelle (auch canto agreste, „ländlicher Gesang“) aus dem 13. Jahrhundert. Mit dieser polyphonen Kompositionsform befassten sich auch angesehene Komponisten wie Orlando di Lasso, Claudio Monteverdi und Giulio Caccini; erst später näherte sie sich der Volksmusik an, wobei sie formelle und stilistische Anleihen von der Opera buffa des 18. Jahrhunderts nahm und Blas- und Schlaginstrumente als Begleitung miteinbezog. Der andere prägende Einfluss der süditalienischen Musiktradition war die Tarantella, die wahrscheinlich Mitte des 17. Jahrhunderts in Apulien entstand und im 18. Jahrhundert vor allem in Neapel populär wurde. Die neapolitanische Volksmusik in der heute bekannten Form entwickelte sich allerdings erst im 19. Jahrhundert, auch dank der Arbeit von Guglielmo Cottrau, der traditionelle Melodien sammelte und niederschrieb (darunter Michelemmà, Cicerenella oder ’O guarracino). Zwischen 1835 und 1839 vollzog sich die endgültige Entwicklung des neapolitanischen Liedes anhand von Te voglio bene assaje, mit einem Text von Raffaele Sacco und einer Gaetano Donizetti zugeschriebenen Musik: Es wurde ein Verkaufsschlager mit über 180.000 verkauften Notenblättern und erfuhr auch sonst große Verbreitung. Dieses Lied war auch der Anlass für die traditionelle Festa di Piedigrotta, ein Volksfest, bei dem fortan die neuen Lieder des Jahres präsentiert wurden. Das Fest entwickelte sich mit den Jahren zu einem Musikwettbewerb und lancierte, nach einer kurzen Pause von 1861 bis 1876, Erfolgstitel wie Funiculì, Funiculà, ’E spingule francese oder ’O sole mio, und gleichzeitig auch deren wichtigste Autoren und Komponisten wie Francesco Paolo Tosti, Salvatore Di Giacomo, Mario Pasquale Costa, Salvatore Gambardella, Libero Bovio, Ernesto Murolo, Giovanni Capurro und Eduardo Di Capua. Die römische Volksmusik Erste Spuren der römischen Volksmusik stammen aus dem 13. Jahrhundert, mit dem Lied Sonetto (auch bekannt als Bella quanno te fece mamma tua), das später im Volksmund namensgebend für die römische Musiktradition wurde. Die melodischen Charakteristika dieser Lieder blieben laut dem Komponisten Alessandro Parisotti im Lauf der Jahrhunderte praktisch unverändert. Das Jahr 1890 gilt gemeinhin als Geburtsjahr des modernen römischen Liedes, mit der Veröffentlichung des Liedes Feste di maggio (mit einem Text von Giggi Zanazzo, dem „Vater“ des modernen römischen Liedes, und Musik von Antonio Cosattini), das für einen Schönheitswettbewerb in Rom anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Hauptstadtstatus geschrieben wurde. Der Erfolg des Titels weckte das Interesse der römischen Künstlerszene, woraufhin 1891 die Verleger Pietro Cristiano und Edoardo Perino die ersten Musikwettbewerbe für römische Lieder initiierten. Die Wettbewerbstradition fasste auch hier schnell Fuß und wurde mit den Feierlichkeiten zum Johannistag verbunden; sie hielt sich bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Die Entwicklung des italienischen Liedes verlief im 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Linien, sowohl in den gehobenen als auch in den dialektalen Formen der Volksmusik. Beispielsweise führte die große Popularität der Oper in nahezu allen Schichten der Bevölkerung dazu, dass die bekanntesten Arien (überwiegend in italienischer Sprache) sprichwörtlich in aller Munde waren. Aus dieser Mode heraus entstand die Romanze, eine musikalische Form aus der Oper, die auch rein solistisch gesungen werden konnte, und von Komponisten wie Francesco Paolo Tosti, Ruggero Leoncavallo, Salvatore Gambardella, Luigi Denza und Michele Costa geprägt wurde. Auch die Romanze war damit Zeuge für den zunehmenden Austausch zwischen gehobener und Volksmusik, bei dem die alte Volksmusiktradition eine Angleichung an Melodram und Romanze erfuhr. Der Erfolg einiger dieser Werke ist auch auf die Entwicklung der ersten Aufnahmetechniken zurückzuführen (zuerst über die Phonographenwalze und dann über die Schellackplatte), wodurch erst ein richtiger Musikmarkt entstehen konnte, mit Enrico Caruso als einem der ersten Stars. Gleichzeitig verbreiteten sich, dem französischen Vorbild folgend, café-concerts oder café chantants in den wichtigsten Ballungszentren der Italienischen Halbinsel (Neapel, Rom, Triest, Turin und Mailand): Während im Norden der französische und österreichische Einfluss stark war, erlaubten die Musiklokale im Süden die Verbreitung der populärsten Volkslieder, insbesondere der neapolitanischen. Im Gegensatz zu den ausländischen Vorbildern, wo ein gewisses Gleichgewicht zwischen Unterhaltung und Geschmack aufrechterhalten wurde, stellten die Veranstaltungen in diesen Lokalen in Italien hauptsächlich freizügige, weibliche Schönheit, Doppeldeutigkeit und Provokation in den Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang entstand in Neapel 1875 das Lied ’A cammesella, eine Verarbeitung eines alten neapolitanischen Kinderreims, in der es um eine sich keusch sträubende Ehefrau in der Hochzeitsnacht geht, gespickt mit Striptease-Elementen; wenige Jahre später prägten die Sängerinnen Maria Borsa und Maria Campi in Rom davon ausgehend die Mossa, eine obszöne Tanzbewegung. Bedeutung für die Entwicklung und Verbreitung der italienischen Musik hatten auch die turbulenten politischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts, von den Bewegungen des Risorgimento zu den späteren sozialistischen und anarchistischen sowie den nationalistischen Bewegungen. In der Musik blieb der Dualismus zwischen gehobenen Liedern, mit ausgewählten Texten, literarischen Bezügen und leicht melodramatischer Rhetorik, und dem populären Repertoire mit direktem und klarem Inhalt bestehen. Interessanterweise bedienten sich sowohl die nationalistisch-patriotischen, als auch die sozialistischen Gesänge eher bei ersterer Kategorie, mit dem Effekt, dass sie für breite Teile der Bevölkerung kaum verständlich waren. Größerer Erfolg war hingegen relativ einfachen Texten wie Garibaldi fu ferito oder La bella Gigogin (im Risorgimento) oder Bandiera rossa Ende des 19. Jahrhunderts beschieden. In den Jahren ab der italienischen Einigung bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinterließen zwei Ereignisse bleibende Spuren in der Entwicklung der populären Musik: Zum einen die Emigration von Millionen Italienern ins Ausland (insbesondere aus dem Triveneto nach Amerika), die ihren Niederschlag in Liedern wie Trenta giorni di nave a vapore und Mamma mia, dammi cento lire (che in America voglio andar) fand, mit Texten über den mit der Auswanderung verbundenen Schmerz; zum anderen die Kolonialkriege, die eine Reihe von den Krieg verherrlichenden oder gefallenen Soldaten gedenkenden Liedern hervorbrachten (Canto dei soldati italiani in Africa, La partenza per l’Africa, Ai caduti di Saati e Dogali). Besonders die Lieder über den Tripoliskrieg, am bekanntesten A Tripoli, erfreuten sich großer Popularität in den italienischen café-concerts. Auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs änderte nichts an der bereits beschriebenen Dualität des Liedgutes: Während patriotische Lieder wie La canzone del Piave mit hitzigen Texten voller kunstvoll gewählter literarischer Verweise glänzten, wurden das Leben im Schützengraben und die Heimatferne der Soldaten in dialektalen Texten mit starker regionaler Prägung festgehalten, etwa ’O surdato ’nnammurato oder Regazzine, vi prego ascoltare. Im Verlauf des Krieges begann sich die italienische Sprache in den Liedern zu etablieren, wenn auch noch umgangssprachlich und dialektal durchsetzt: Beispiele sind das Lied der Alpini Quel mazzolin di fiori und La tradotta che parte da Torino (später bekannt als La tradotta che parte da Novara) oder Protestlieder gegen Krieg und Militärkommando wie O Gorizia, tu sei maledetta. Vom Kriegsende bis zum Ende der 1920er-Jahre Schon vor dem Ersten Weltkrieg stieg die Beliebtheit des Tanzes und der Tabarin genannten Nachtlokale. Nach dem Krieg fand diese Mode rasante Verbreitung, trotz der intensiven Versuche der katholischen Kirche, solcherlei unzüchtige Verstöße gegen Sitte und Moral zu unterbinden. Mit Tango, Charleston, Foxtrott, Rumba, Ragtime und Jazz erreichten neue Klänge und Rhythmen Italien, auch in der Folge der Stationierung verbündeter amerikanischer Truppen, während sich in den ländlichen Gegenden der Liscio, ein Gesellschaftstanz zu leichter Tanzmusik aus der Romagna, von Carlo Brighi und später Secondo Casadei verbreitete. Auf den Bühnen der Tabarins etablierten sich die ersten italienischen populären Sänger wie Armando Gill (mit Come pioveva), die femme fatale Anna Fougez, der „ironische Gentleman“ mit Frack, Zylinder und Baritonstimme Gino Franzi sowie dessen kleinbürgerliches Gegenstück, die canzone-feuilletton der Brüder Gabrè und Miscel. Gleichzeitig bildete sich in der neapolitanischen Volksmusik die Sceneggiata heraus, wobei von einem Lied ausgehend ganze Bühnenstücke inszeniert wurden. Damit erlebte die neapolitanische Volksmusik eine neue Blütezeit, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs andauern sollte, und auch das römische Lied erfuhr einen Aufschwung. Etwa gleichzeitig mit dem Aufstieg des Faschismus fand in Italien das Radio Verbreitung. Am 6. Oktober 1924 ging das staatliche Radio Unione radiofonica italiana (später Ente Italiano per le Audizioni Radiofoniche, kurz EIAR) erstmals auf Sendung. Es wurde bald einer der wichtigsten Kanäle für populäre Musik, auch durch die Unterstützung des faschistischen Regimes. Allerdings waren die staatlichen Sendungen häufig von Zensur geprägt, wobei etwa ausländische Namen italianisiert (Louis Armstrong wurde zu Luigi Braccioforte oder Benny Goodman zu Beniamino Buonuomo) oder Lieder, die angeblich die öffentliche Ordnung verletzten oder politische oder religiöse Autoritäten angriffen, verboten wurden. Musik, sei es opernhafte oder populäre, machte den Großteil der Radiosendungen aus, da das Regime ihre Bedeutung für das Transportieren massenwirksamer Botschaften erkannte: So wurden faschistische Hymnen und Lieder (Giovinezza, Inno degli studenti, Canto delle donne fasciste) gespielt, aber auch leichtere traditionelle Lieder mit volksnahen Texten (Mille lire al mese, I milioni della lotteria) oder unterschwelliger Propaganda für das durch das Regime forcierte Bevölkerungswachstum (Signorine, sposatevi; C’è una casetta piccola), die sich musikalisch nicht von der reinen Unterhaltungsmusik unterschieden. Die 1930er- und 1940er-Jahre Im Jahr 1930 erschien der erste italienische Tonfilm La canzone dell’amore von Gennaro Righelli: Der Titelsong Solo per te Lucia war damit auch das erste Lied, das Eingang in einen italienischen Soundtrack fand. Im Lauf der 1930er- und 1940er-Jahre zeigten sich zwei Herangehensweisen an diese Verbindung von Film und Musik: Zum einen die traditionelle, meist mit Opernsängern, die sich als Schauspieler betätigten, zum anderen die modernere, wobei sich Filmstars als Sänger versuchten. Ein frühes Beispiel für letztere ist Vittorio De Sicas gesangliche Leistung in Gli uomini, che mascalzoni… von 1932, die sowohl ihm als auch dem interpretierten Lied Parlami d’amore Mariù zu großem Erfolg verhalf. Daneben entstanden in den 1930er-Jahren die großen Orchester und Big Bands, insbesondere das Rundfunkorchester der EIAR (1933), und der Swing hielt Einzug in die Radios und Tanzsäle, womit erstmals das traditionelle italienische Lied und die „moderne“ Musik aufeinanderprallten: Carlo Buti war der Hauptvertreter der traditionellen Richtung, die inhaltlich die Ruhe des Landlebens gegen die Hektik der Stadt ausspielte (Reginella campagnola, Se vuoi goder la vita); der Swing hingegen wurde von Natalino Otto (Mamma… voglio anch’io la fidanzata, Ho un sassolino nella scarpa), Alberto Rabagliati (Mattinata fiorentina, Ba-ba-baciami piccina), Luciana Dolliver (Bambina innamorata, Sono tre parole, Un’ora sola ti vorrei) und dem Trio Lescano (Arriva Tazio, Maramao perché sei morto?, Ma le gambe, Pippo non lo sa) aufgegriffen, wie auch von den Songwritern Alfredo Bracchi und Giovanni D’Anzi (Non dimenticar le mie parole, No, l’amore no) sowie Vittorio Mascheroni (Bombolo, Fiorin fiorello). Der Gegensatz war auch in den Orchestern spürbar, vor allem zwischen Pippo Barzizza, der auf Brassband-Musik setzte, und Cinico Angelini, der klassischeren Melodien nachging. Wenn auch oft als harmlos und als Realitätsflucht abgetan, zeigte sich in der populären Musik, dass politische Lieder sich gegenüber gefühlsbetonten und humorvollen Liedern nicht behaupten konnten und selbst das faschistische Regime dem Massengeschmack ausgeliefert war, ohne die Kreativität der Songwriter oder der Interpreten maßgeblich beeinflussen zu können. Tatsächlich richteten sich einige dieser vermeintlich harmlosen Lieder unverhohlen gegen Teile des Regimes: Bombolo, eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung für einen kleinen, rundlichen Mann, soll Guido Buffarini-Guidi gewidmet sein, der Refrain von Maramao perché sei morto? verunstaltete das für den verstorbenen Costanzo Ciano 1939 in Livorno errichtete Denkmal, und in Pippo non lo sa wurde eine Anspielung auf Achille Starace gesehen. Ende der 1930er-Jahre entstanden außerdem weitere bedeutende dialektale Lieder der neapolitanischen (Signorinella, Napule ca se ne va), römischen (Quanto sei bella Roma, Chitarra romana) und mailändischen Volksmusik (La Balilla, Porta Romana), sowie Lieder, die sich mit dem Abessinienkrieg und dem faschistischen Kolonialismus beschäftigten, insbesondere das Kampflied Faccetta nera, dessen Text allerdings mehrmals auf Druck der Regierung geändert werden musste, da die ursprüngliche Fassung die Abessinier angeblich zu positiv dargestellt hatte. 1938 und 1939 fanden zwei erfolgreiche nationale Gesangswettbewerbe statt, für die sich über 2500 Teilnehmer im ersten und fast 3000 Teilnehmer im zweiten Jahr anmeldeten; die jeweils 14 Sieger erhielten Gelegenheit, mit dem Orchestra Cetra von Pippo Barzizza im öffentlichen Radio aufzutreten. Mit dem Kriegseintritt Italiens nahmen die Einschränkungen und Verbote in Bezug auf Musik, Tanz und Revuetheater zu, insbesondere durch den Ausschluss jüdischer Songwriter (als Folge der italienischen Rassengesetze) und dem Totalverbot des Jazz und US-amerikanischer Musik insgesamt, was den Musikbetrieb im Land aber nicht zum Stillstand brachte. Ausgerechnet in den ersten Kriegsjahren erschienen zwei der größten Erfolge der 40er-Jahre: Mamma, das Beniamino Gigli 1941 im gleichnamigen Film sang, und Voglio vivere così, von Ferruccio Tagliavini 1942 im gleichnamigen Film von Mario Mattoli gesungen. 1940 wurde auch die Vokalgruppe Quartetto Cetra gegründet, die 1947 ihren großen Durchbruch hatte. Nach dem Fall des Faschismus 1943 nahm die Resistenza den Gesang als traditionelle Kommunikationsform der sozial benachteiligten Klassen auf und die starke Verbindung zwischen Partisanengesängen und Liedern aus der Volksmusik wurde deutlich. Dies zeigte sich sowohl in den lokal begrenzten (Bella ciao, La daré d’ cola montagna, Il fiore di Teresina) als auch in den noch aus dem Risorgimento oder dem Ersten Weltkrieg stammenden Liedern (Sul ponte di Perati), in den Liedern der Arbeiterorganisationen und der Revolutionäre (Fischia il vento) wie auch in den aktuell erfolgreichen und in den Parodien auf faschistische Lieder (Badoglieide). Das Kriegsende schließlich führte zu einer Invasion durch Jazz, Boogie-Woogie, Rumba, Samba, zu einem starken französischen Einfluss (durch Yves Montand, Édith Piaf, Juliette Gréco) sowie zu Materialmangel für die Herstellung von Schellackplatten. Damit kam die italienische Musikproduktion zu einem abrupten Ende. Trotz des großen Erfolgs von In cerca di te (1945), das die Lebensumstände vieler Italiener zum Kriegsende zusammenfasste, verschwand die populäre Musik vorerst aus dem nationalen Fokus und zog sich auf regionale Ebene zurück: Beispiele für Lieder aus jener Zeit sind Dove sta Zazà? von Raffaele Cutolo und Giuseppe Cioffi, Tammurriata nera von E. A. Mario und Edoardo Nicolardi, Munasterio ’e Santa Chiara von Michele Galdieri und Alberto Barberis oder Vecchia Roma von Mario Ruccione und Luciano Luigi Martelli (letzteres trug in den 1950er-Jahren zum Erfolg von Claudio Villa bei). Die 1950er-Jahre und die Entstehung der großen Festivals Ab 1947 gab es erste Versuche, über Gesangswettbewerben neue Talente zu lancieren, um den angeschlagenen Musikmarkt wieder zu beleben, und am 29. Januar 1951 fiel der Startschuss für die italienischen Musikfestivals in der modernen Form: Im städtischen Kasino von Sanremo fand die erste Ausgabe des Festival della Canzone Italiana statt. Es wurde live im öffentlichen Radio übertragen, moderiert von Nunzio Filogamo, und hatte drei Teilnehmer (Nilla Pizzi, Achille Togliani und das Duo Fasano), die insgesamt 20 Lieder präsentierten. Siegerin war Nilla Pizzi mit Grazie dei fiori, ein Erfolg, den sie im Jahr darauf mit Vola colomba sogleich wiederholen konnte, einem Lied über die Situation der von den Alliierten besetzten Stadt Triest; außerdem belegte sie im zweiten Jahr auch den zweiten und dritten Platz mit Papaveri e papere bzw. Una donna prega. Das Sanremo-Festival hatte auch Vorbildwirkung für den 1956 in Lugano erstmals ausgetragenen Gran premio Eurovisione della Canzone Europea (Eurovision Song Contest). Auch das Sanremo-Festival blieb nicht verschont vom Gegensatz zwischen der Rhetorik der traditionellen Musik, die sich im engen Themenkreis von Gott, Heimat und Familie bewegte (Vecchio scarpone, Sorrentinella, Berta filava, Il passerotto), und moderneren Liedern wie Canzone da due soldi (in der Version von Katyna Ranieri mit etwa 120.000 in wenigen Monaten verkauften Exemplaren einer der großen Erfolge der 1950er-Jahre) oder dem bereits erwähnten Papaveri e papere, dessen Text heute sowohl als Kritik an Politikern der Democrazia Cristiana als auch an der Benachteiligung der Frau zu jener Zeit verstanden wird. Schon 1952 entstand in Neapel das Festival di Napoli (Sieger der ersten Ausgabe waren Franco Ricci und wiederum Nilla Pizzi), das jedoch nie an die Bekanntheit des Sanremo-Festivals heranreichen konnte und häufig von Skandalen und Polemiken überschattet war. Dennoch wurde die neapolitanische Liedtradition von verschiedenen Musikern weitergeführt: Einerseits von Altmeister Roberto Murolo (Anema e core, Luna caprese, ’Na voce, ’na chitarra e ’o ppoco ’e luna), der sich die Aufgabe der Bewahrung der Tradition mit Sergio Bruni (Vieneme ’n zuonno, Marechiaro marechiaro) teilte; andererseits vom „Entweiher“ (dissacratore) Renato Carosone und seiner Band (ursprünglich nur mit Gegè Di Giacomo am Schlagzeug und Peter Van Wood an der Gitarre, später ein Sextett). Carosone gelang in Zusammenarbeit mit Textdichter Nisa 1956 der Durchbruch mit Tu vuò fà l’americano, weitere seiner Erfolge waren Torero, ’O sarracino, Caravan petrol sowie Neuinterpretationen anderer Lieder wie Chella llà von Aurelio Fierro, welches das sogenannte „angeberische“ Lied (canzone smargiasse) einleitete, geprägt von Humor und musikalischer Leichtigkeit. Die Brücke zwischen der regionalen neapolitanischen und der gesamtitalienischen Musik schlug hingegen Claudio Villa, dessen Karriere ungefähr 1952 ihren Anfang nahm: Bald als „kleiner König“ (reuccio) des italienischen Liedes bezeichnet, gewann er in kurzer Zeit viermal das Sanremo-Festival, einmal das Festival di Napoli, feierte große Verkaufserfolge, trat international auf und blieb auch in späteren Jahren Hauptvertreter des nach und nach veraltenden „melodiösen“ italienischen Liedes (canzone melodica). Villa machte auch häufig Negativschlagzeilen mit seinem in der Öffentlichkeit oft anmaßendem Auftreten, und musste zweimal regelrechte Schmutzkampagnen der Medien über sich ergehen lassen (wobei schließlich Pier Paolo Pasolini zu seiner Verteidigung schritt). In den 1950er-Jahren etablierte sich auch die Musikkomödie, ausgehend von den Revuetheatern. Hauptvertreter waren in jener Zeit die Theaterautoren Garinei und Giovannini sowie die Komponisten Gorni Kramer und Armando Trovajoli, die neuen Schauspielern und Sängern wie Delia Scala, Isa Barzizza, Gianni Agus, Tina De Mola, Elena Giusti, Carlo Dapporto und Renato Rascel zum Erfolg verhalfen (besonders letzterer hatte als Sänger eine ganze Reihe von Erfolgen, darunter das Lied Arrivederci Roma). Gleichzeitig mit dem Aufschwung des Theaters wurde auch das Interesse des Publikums an Nachtlokalen wieder größer. Dort wurden neue Sänger lanciert, die sich deutlich an Vorbildern aus Übersee orientierten: neben Renato Carosone etwa Peppino di Capri, der die Neuinterpretation der neapolitanischen Volksmusik mit Rockeinflüssen kombinierte (St. Tropez Twist, Nun è peccato), Fred Buscaglione, der übermäßige Amerikafreundlichkeit und vorherrschenden Machismus ironisierte und den Swing musikalisch wieder aufwertete (Che bambola!, Teresa non sparare, Eri piccola così) oder zwischen Jazz und Sentimentalität stehende Entertainer wie Nicola Arigliano, Bruno Martino oder Fred Bongusto. Auch das frisch gestartete Fernsehen (1954 in Italien) trug neben den Schallplatten und den Jukeboxen zur Revolutionierung des Musikwesens bei: Ab 1955 ging das Sanremo-Festival zusätzlich zur Radioübertragung auch im Fernsehen live auf Sendung und 1957 gab es die erste eigentliche Musikshow des italienischen Fernsehens, Il Musichiere (die Titelmelodie Domenica è sempre domenica stammte von Garinei und Giovannini und Gorni Kramer). Nach dem Erfolg dieses ersten Versuchs ließ man eine lange Reihe von Musiksendungen folgen, darunter Studio Uno und Canzonissima. Im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit und trotz der Anstrengungen einiger Erneuerer blieben die 1950er-Jahre musikalisch melodiegeprägt: Der Wunsch der Menschen nach Ruhe und Sicherheit führte zu Musik, die frei von Ideologie und Rhetorik darauf ausgerichtet war, den Krieg vergessen zu lassen und den Wiederaufbau anzutreiben. Andererseits war die populäre Musik noch immer in den Händen des Staates, der den Markt über den öffentlichen Rundfunk und die staatliche Plattenfirma Cetra kontrollierte; außerhalb dieser vorgegebenen Strukturen konnten sich nur sehr wenige erfolgreich behaupten, etwa die Plattenfirmen Fonit (spezialisiert auf Natalino Ottos Jazz, bis es 1958 zur erzwungenen Fusion mit Cetra kam) und Compagnia Generale del Disco (gegründet von Teddy Reno; unter den Künstlern fand sich ein weiterer Jazzmusiker, Lelio Luttazzi). Auch im Sanremo-Festival war diese Situation spürbar, mit der Etablierung des Klischees der melodiösen und sentimentalen Lieder, das meist zum Ausscheiden von unkonventionelleren Beiträgen führte (wenn nicht zuvor bereits die Zensur eingriff, um „unmoralische“ Inhalte zu verhindern). Erst gegen Ende des Jahrzehnts zeigten sich erste Zeichen eines musikalischen Umbruchs: Am 18. Mai 1957 wurde in Mailand das erste italienische Rock-’n’-Roll-Festival abgehalten, auf dem nicht nur erstmals Adriano Celentano öffentlich in Erscheinung trat, sondern auch eine ganze Reihe von Rockmusikern und sogenannten „Schreiern“ (urlatori), Tony Renis, Little Tony, Betty Curtis, Tony Dallara, Clem Sacco und Ghigo Agosti. Dallara veröffentlichte 1957 mit Come prima eine regelrechte Hymne der Urlatori und Urlatore Domenico Modugno gelang an der Seite von Johnny Dorelli der überwältigende Sieg beim Sanremo-Festival 1958 mit dem späteren Welterfolg Nel blu dipinto di blu (geschätzte 22 Millionen verkaufte Platten). 1958 entstand auch die Plattenfirma Dischi Ricordi, deren erste Veröffentlichung die Single Ciao ti dirò von Giorgio Gaber war und die neben der RCA Italiana eines der bedeutendsten Labels des italienischen Musikmarktes werden sollte. In der Fernsehsendung Lascia o raddoppia? erlangte 1959 außerdem Mina mit ihrem aggressiven musikalischen Stil Bekanntheit und konnte davon ausgehend eine Reihe von Erfolgen feiern, etwa Nessuno, Tintarella di luna oder Una zebra a pois. Die 1960er-Jahre zwischen Kontinuität und Revolution Mit dem Aufkommen der Urlatori und der musikalischen Rebellen wandelte sich auch das Filmgenre des Musicarello (Musikkomödien, die sich zumeist um ein bestimmtes Lied drehen): Die ursprünglich durch und durch melodiösen Titelsongs (wie in den Filmen mit Claudio Villa und Luciano Tajoli oder in Carosello napoletano) machten eine musikalische Revolution durch und waren nun durch eine ungekannte Aggressivität geprägt, etwa in den drei Filmen I ragazzi del juke-box, Urlatori alla sbarra und I Teddy boys della canzone (aus den Jahren 1959 und 1960). Auch mit Seitenhieben auf Rai, Democrazia Cristiana und die Musikindustrie wurde nicht gespart, ebenso wenig wie mit expliziten sexuellen Anspielungen. Während die Musikkomödien im Theater anhaltenden Erfolg hatten, zum Beispiel Rugantino (von Garinei und Giovannini und Armando Trovajoli; mit bekannten Interpreten wie Aldo Fabrizi, Nino Manfredi, Toni Ucci, Bice Valori und Lea Massari, die später durch Ornella Vanoni ersetzt wurde), Rinaldo in campo (mit Domenico Modugno als Protagonist und Komponist) oder Aggiungi un posto a tavola (mit Johnny Dorelli), erreichten die Musicarelli im Kino ihren Höhepunkt mit den Filmen von Ettore Maria Fizzarotti: In kürzester Zeit gedreht, mit äußerst geringem Budget und mit extrem simplen Handlungen, gelangen den Streifen überwältigende Einspielergebnisse. Der Erfolg war vor allem auf die Bekanntheit der Sänger, die die Protagonisten der Filme waren (Gianni Morandi, Bobby Solo, Caterina Caselli, Gigliola Cinquetti, Al Bano & Romina Power, Rocky Roberts), und deren Hits (meist auch titelgebend für die Filme) zurückzuführen. Mitte der 1960er-Jahre wurde in der italienischen populären Musik ein neuer Gegensatz deutlich: der zwischen der Vielzahl neuer, junger Sänger, sei es eher beschwingt wie Gianni Morandi und Rita Pavone oder melodiebetont wie Gigliola Cinquetti, Al Bano, Orietta Berti und Massimo Ranieri, und der aus England herübergeschwappten Beatwelle, die sich zum einen in den „Mädchen des Piper Club“ in Rom, Caterina Caselli und Patty Pravo, manifestierte, zum anderen in den prägenden Musikgruppen der Zeit (Equipe 84, The Rokes, Camaleonti, I Corvi, Nomadi, I Giganti, Dik Dik, Alunni del Sole). Neben den nun bereits etablierten Urlatori bildeten sich immer mehr Stilrichtungen heraus: Man begann, mit neuen Formaten zu experimentieren, und Künstlergruppen wie der Cantacronache und der Nuovo Canzoniere Italiano versuchten, den Realismus in der Musik zu finden, während andere sich an „intellektuellen“ Liedern versuchten (Versuche gab es von Pier Paolo Pasolini, Giorgio Strehler, Paolo Poli, Laura Betti, Mario Soldati, Ennio Flaiano, Alberto Moravia oder Alberto Arbasino). In der Genueser Schule der Cantautori (Liederdichter) sammelten sich nonkonformistische und existenzialistische Musiker wie Umberto Bindi, Gino Paoli, Bruno Lauzi, Luigi Tenco, Fabrizio De André und Sergio Endrigo, während in Mailand eine ironisch und surrealistisch geprägte Musikszene entstand, mit Dario Fo, Giorgio Gaber, Enzo Jannacci, I Gufi, Nanni Svampa und Cochi e Renato. Der Dichter Piero Ciampi fand ebenso sein Publikum wie die großen Sängerinnen Ornella Vanoni, Milva und Iva Zanicchi und Vertreter der römischen Schule wie Edoardo Vianello, Gianni Meccia und Nico Fidenco. 1966 debütierte die erfolgreiche Beatband Pooh, die 1968 mit Piccola Katy ihren Durchbruch hatte, und beim Gesangswettbewerb Cantagiro 1968 wurde die Band Ricchi e Poveri lanciert. Der Wandel der Musikszene ließ auch die Radio- und Fernsehsendungen sowie die Musikwettbewerbe nicht unberührt: 1962 nahm der bereits erwähnte Cantagiro seinen Anfang, ein Wettbewerb, der durch das ganze Land zog und dabei die Teilnehmer den Entscheidungen der regional wechselnden Jurys unterwarf, und auch der 1957 initiierte Newcomerwettbewerb Festival di Castrocaro erfuhr eine Aufwertung. 1964 starteten Un disco per l’estate, aus dem besonders leicht bekömmliche Musik hervorging (etwa Mino Reitano, Los Marcellos Ferial oder Jimmy Fontana), sowie Festivalbar, bei dem das Publikum direkt abstimmen konnte. Zwischen 1965 und 1966 gingen auch die Musiksendungen von Renzo Arbore und Gianni Boncompagni im Radio auf Sendung, Bandiera gialla und Per voi giovani. Durch die große musikalische Vielfalt des Jahrzehnts erlebte das Sanremo-Festival in den 60er-Jahren eine Blütezeit, mit unzähligen bekannten ausländischen Gästen und Teilnehmern sowie großen Verkaufserfolgen sowohl der einzelnen Teilnehmerbeiträge als auch der jährlichen Festival-Kompilation. Auf der Bühne des Festivals konnten sich meistens melodiebetonte Lieder gegen aggressive, vom Rock beeinflusste durchsetzen: Paradebeispiele dafür sind die zwei Siege von Gigliola Cinquetti, die 1964 mit Non ho l’età gewann (ein Erfolg, den sie auch beim Grand Prix Eurovision wiederholen konnte) und 1966 mit Dio, come ti amo, zusammen mit Domenico Modugno – durchbrochen allerdings durch den Sieg des „italienischen Elvis“ Bobby Solo beim Festival 1965 mit Se piangi, se ridi. Auf dem Plattenmarkt konnten sich häufig schwungvollere Lieder wie Il ragazzo della via Gluck von Adriano Celentano oder Nessuno mi può giudicare von Caterina Caselli gegen die Siegerlieder des Festivals durchsetzen. Das Jahr 1967 erwies sich als prägend für die italienische populäre Musik. Lucio Battisti und Mogol begannen ihre langjährige Zusammenarbeit, die ihren ersten Niederschlag in 29 settembre fand, erstmals interpretiert von Equipe 84. Die Ideen der Jugendbewegungen fanden ihren Weg auf die Bühne des Sanremo-Festivals, wenn auch nur in sehr harmloser Form: Gianni Pettenati verkündete in La rivoluzione eine Zukunft ohne Kriege, und auch I Giganti propagierten in Proposta pazifistische Ideale. Doch Aufsehen erregte beim Festival 1967 vor allem der Suizid von Luigi Tenco nach dem Ausscheiden seines Liedes Ciao amore, ciao aus dem Wettbewerb (vergleiche hierzu „Das ‚Trauma‘ Luigi Tenco“). Außerdem sahen sich Francesco Guccini und die Nomadi bei einem Protestkonzert gegen den Vietnamkrieg Beschimpfungen durch das Publikum ausgesetzt, da man ihnen vorwarf, Teil des Systems geworden zu sein. Die musikalische Revolution der Beatwelle und die Euphorie des italienischen Wirtschaftswunders waren zu Ende: Nach dem Bombenanschlag auf der Piazza Fontana und dem Tod von Giuseppe Pinelli 1969 überließ die das vergangene Jahrzehnt musikalisch prägende Suche nach jugendlicher Sorglosigkeit das Feld einer deutlich düstereren Rockmusik, die Ausdruck der Ängste einer Generation werden sollte, die nicht aufhörte, kritische Fragen zu stellen. Die 1970er-Jahre In den 1970er-Jahren wurde die Musikproduktion experimentierfreudiger und beschränkte sich nicht mehr auf die klassische Schallplatte und das Konzert auf der Bühne. Das Jahrzehnt war von den Auswirkungen der Jugendproteste, der 68er-Bewegung und den extremistischen Ausschreitungen während der bleiernen Jahre geprägt: Die den Studenten- und Arbeiterbewegungen nahestehenden Sänger wie Ivan Della Mea, Michele Straniero, Gualtiero Bertelli, Pino Masi, Giovanna Marini, Paolo Pietrangeli oder Sergio Liberovici (viele ehemals oder noch immer Teil der Gruppe des Nuovo Canzoniere Italiano) befeuerten den Protest gegen das System, während sich in den Campi Hobbit, kulturellen Veranstaltungen der Jugendorganisation des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano, eine alternative Musik der politischen Rechten entstand, unter Einbeziehung von nordischer und keltischer Mythologie und geprägt von neofaschistischem Revisionismus: Vertreter waren Leo Valeriano, Massimo Morsello, die Amici del Vento und die Compagnia dell’Anello. Durch die Verhärtung des politischen Diskurses sahen sich viele der Cantautori nun starker Ablehnung gegenüber: Die Vertreter der Genueser Schule, die nur wenige Jahre zuvor noch als Vorkämpfer einer Musik galten, die anders, edel und revolutionär war, wurden nun als zaghafte und bürgerliche chansonniers betrachtet, die den Mond besangen und dem Schlag der Herzens folgten. Auftritte in der Öffentlichkeit entwickelten sich für die meisten zu einer waghalsigen Unternehmung. Die Höhepunkte dieser Zusammenstöße ereigneten sich 1975, als die zwei Konzerte von Lou Reed in Rom und Mailand unterbrochen werden mussten, und am 2. April 1976, als Francesco De Gregori bei einem Konzert in Mailand von linken Demonstranten bedrängt wurde, die ihm seine hohe Gage und seine mangelnde finanzielle Unterstützung der Arbeiterbewegung vorwarfen. Die einzigen bedeutenden Vertreter der Cantautori, die vor den Pfiffen des Publikums einigermaßen verschont blieben, waren Fabrizio De André und Lucio Battisti, der Dichter und der Musiker, der Intellektuelle und der bon sauvage, das „Orakel der Linken und die Identifikationsfigur der Rechten“. Die beiden waren allerdings grundverschieden, sei es in musikalischer Hinsicht (bei De André zunächst einfach, dann immer experimenteller und pompöser; bei Battisti zunächst aufwendig arrangiert, mit Gitarre, Bläsern, Cembalo und Streichern, dann immer minimalistischer), sei es hinsichtlich ihrer Konzerttätigkeit (Battisti gab ab 1970 keine Konzerte mehr, De André hingegen begann erst 1975 mit Konzerten). Daneben konnte sich auch Francesco Guccini mit seiner direkten und leidenschaftlichen Poesie behaupten, der sich zwar nie als „politischen“ Cantautore betrachtete, aber zweifellos stark von politischen Liedern und dem Cantacronache beeinflusst wurde (dies beweisen Lieder wie La locomotiva oder Primavera di Praga über den Prager Frühling 1968). Erst ab der Mitte des Jahrzehnts konnten sich die Cantautori der Politisierung entziehen, wobei sie bisweilen harsche Kritik am Realsozialismus übten. Giorgio Gaber, der Anfang der 70er-Jahre das Image des „leichten“ Musikers abgelegt hatte und zusammen mit Sandro Luporini mit dem „Liedtheater“ (teatro canzone) experimentierte, beginnend 1970 bei Il signor G, attackierte die Bewegung unter Protesten des Publikums in den Theaterstücken Libertà obbligatoria und Polli d’allevamento (insbesondere mit dem Lied Quando è moda è moda). 1976 schrieb Roberto Vecchioni das Lied Vaudeville (ultimo mondo cannibale), in dem er den Vorfall mit De Gregori in Mailand thematisierte und die linken Demonstranten karikierte; Guccini legte 1974 in Canzone delle osterie di fuori porta und 1978 in Eskimo nach. Das Ganze stellte sich als Erwachen aus einem zum Albtraum gewordenen Traum für viele Künstler dar, die anfangs gutgläubig mit Politik und Protestbewegungen geliebäugelt hatten, sich dann aber davon bedrängt sahen. Daneben bestand allerdings auch eine betont unpolitische Szene von Cantautori, darunter so unterschiedliche Namen wie Lucio Dalla, der nach jahrelangen Misserfolgen mit 4/3/1943 (1971) und Piazza Grande (1972) den Durchbruch schaffte und gegen Ende des Jahrzehnts eine sehr erfolgreiche Tournee gemeinsam mit Francesco De Gregori machte; der exzentrische, jazzige Pianist Paolo Conte; der vieltalentierte Musiker Ivano Fossati, der zunächst mit der Progressive-Rock-Band Delirium und später als Solist auftrat; oder der Sizilianer Franco Battiato, bekannt für seine Texte voller Metaphern und Querverweisen. Diesen vier unterschiedlichen Künstlern waren jedoch einige Dinge gemeinsam, etwa dass sie in die Musik quasi hineingeboren wurden, dass sie sich erst spät vom Interpreten zum Autor entwickelt hatten (Dalla, Conte, Fossati), außerdem die Leidenschaft für Reisen und Exotismus (Conte, Battiato, Fossati) und besonders die Fähigkeit, neue musikalische Talente zu entdecken und zu fördern (Dalla entdeckte Ron, Luca Carboni und Samuele Bersani, Battiato Alice und Giuni Russo, Fossati schrieb Lieder für Patty Pravo, Mia Martini, Loredana Bertè, Anna Oxa oder Fiorella Mannoia). In den 1970er-Jahren entwickelte sich außerdem der italienische Progressive Rock: Als wichtigste Vertreter etablierten sich die polarisierenden Bands Premiata Forneria Marconi und Banco del Mutuo Soccorso, in deren Windschatten sich Gruppen wie New Trolls, Le Orme, I Califfi, Formula 3, Area, Stormy Six, Matia Bazar und, gegen Ende des Jahrzehnts, Gaznevada und Skiantos ausbreiteten. Irgendwo zwischen Prog-Rock und Cantautori ließen sich Eugenio Finardi, Ivan Graziani, und Gianna Nannini, die auf ihrem Debütalbum mit Themen wie Abtreibung und Masturbation für Aufregung sorgte, einordnen. In Rom war rund um das Lokal Folkstudio des Produzenten Giancarlo Cesaroni eine neue Musikszene mit dem bereits erwähnten Francesco De Gregori, Antonello Venditti, Ernesto Bassignano und Giorgio Lo Cascio entstanden, zu denen später auch Mimmo Locasciulli und Rino Gaetano dazustießen. Venditti und De Gregori brachten 1972 das gemeinsame Album Theorius Campus heraus, bevor sie ihre eigenen Wege gingen: Ersterer belebte mit Liedern über seine Heimatstadt Rom die römische Volksmusik neu (einen Beitrag dazu lieferte auch der junge Franco Califano); letzterer hingegen erlebte 1975 mit dem Album Rimmel seinen Durchbruch, womit er sich unter die großen Cantautori einreihen konnte. Bei RCA setzte man hingegen verstärkt auf eine neue „romantische“ Musik mit Claudio Baglioni (zwischen 1972 und 1975 erschienen Erfolge wie Questo piccolo grande amore, Amore bello, E tu… oder Sabato pomeriggio), Riccardo Cocciante, Gianni Togni und auch dem nonkonformistischen Renato Zero. Eine Sonderstellung nahmen in den 1970er-Jahren zum einen die Schwestern Mia Martini und Loredana Bertè (erstere mit frühen Erfolgen wie Piccolo uomo und Minuetto, letztere Ende des Jahrzehnts mit E la luna bussò) sowie Nada ein, die nach dem Sieg beim Sanremo-Festival 1971 (mit Nicola Di Bari) mit dem Album Ho deciso che esisto anch’io überraschte und sich danach auch ins Theater wagte (Il diario di Anna Frank von Giulio Bosetti und L’opera dello sghignazzo von Dario Fo), zum anderen Roberto Vecchioni, ein Oberschullehrer für alte Sprachen, der mit Liedern wie Luci a San Siro oder L’uomo che si gioca il cielo a dadi (präsentiert beim Sanremo-Festival 1973) auf sich aufmerksam machte und sich 1977 mit dem Album Samarcanda profilieren konnte. Auch in die Szene der dialektalen Musik kam mit Angelo Branduardi, der Nuova Compagnia di Canto Popolare, dem Canzoniere del Lazio, Gabriella Ferri, Dino Sarti, Raoul Casadei und Maria Carta Bewegung. Unterdessen versuchte man sich in Neapel an neuen Klängen: mit dem Jazz von James Senese, dem R&B und Funk von Enzo Avitabile, der Perkussion von Tullio De Piscopo, der Fusion von Blues und Volksmusik bei Pino Daniele, der Mischung von Folk, Jazz und Rock bei Teresa De Sio, dem nonkonformistischen Rock von Eugenio Bennato, dem Prog-Rock von Osanna und Napoli Centrale, sowie der Wiederaufnahme der neapolitanischen Sceneggiata der 1920er-Jahre durch Pino Mauro, Mario Trevi und vor allem Mario Merola. Die 1980er-Jahre 1980 befanden sich sowohl die Discomusik als auch die Cantautori in einer Krise, wodurch der Plattenmarkt empfindliche Einbußen erlebte, die jedoch bald durch die wieder verstärkte Benutzung der Festivals (besonders Sanremo) als Vermarktungsplattformen und das Aufkommen des Walkman sowie neuer Tonträgerformate (zuerst die Musikkassette, dann die CD) ausgeglichen werden konnten. Die 1980er-Jahre brachten die Rückkehr zweier Stars von früher mit sich, Gino Paoli und Gianni Morandi, sowie einen stilistischen Wandel bei den Cantautori, den Eugenio Finardi bereits vorgemacht hatte, stärker vom Rock geprägt und mit gröberen und spontaneren Texten, romantisch-kitschige Töne vermeidend. In diese Richtung gingen etwa Gianna Nannini (die ihren Erfolg mit Liedern wie Fotoromanza und Bello e impossibile fortsetzen konnte), Vasco Rossi (der mit Vita spericolata, erstmals präsentiert beim Sanremo-Festival 1983, den Durchbruch schaffte) und Zucchero (der zunächst Joe Cocker nachahmte und sich dann zum erfolgreichen Bluesmusiker entwickelte, erstmals zu hören in Zusammenarbeit mit Gino Paoli in Come il sole all’improvviso und dem Album Oro, incenso e birra). Daneben reihten sich die Punkszene mit Donatella Rettore (Splendido splendente, Kobra oder Donatella), Ivan Cattaneo (Polisex), Alberto Camerini (Rock ’n’ roll robot, Tanz bambolina), Decibel (Contessa), Kaos Rock und Kandeggina Gang sowie Vertreter der New-Wave-Bewegung wie Litfiba, Gang und CCCP – Fedeli alla linea ein. Mit Death SS entstand eine italienische Metal-Szene, im Untergrund kam mit Kirlian Camera auch Dark Wave auf. In den 1980er-Jahren setzte sich auch die Popmusik im engeren Sinn durch, besonders durch den Erfolg von Eros Ramazzotti (Sieger in der Newcomer-Kategorie des Sanremo-Festivals 1984 mit Terra promessa und dann in der Hauptkategorie des Festivals 1986 mit Adesso tu), die Rückkehr von Mia Martini mit Almeno tu nell’universo, Fiorella Mannoia, die Solokarriere von Enrico Ruggeri sowie durch eine Vielzahl neuer „leichter“ Sänger wie Amedeo Minghi, Mietta, Paola Turci, Toto Cutugno, Pupo, Anna Oxa, Alice, Marcella Bella, Mango, Fausto Leali, Eduardo De Crescenzo, Marco Ferradini, Fabio Concato, Viola Valentino, Luca Barbarossa und Mariella Nava. Besonders viel musikalische Aktivität gab es in diesem Jahrzehnt in Bologna, wo sich Ron (Una città per cantare), die Band Stadio (Chiedi chi erano i Beatles) und Luca Carboni (zunächst Songwriter für Ron und Stadio, Debüt als Solist 1984 mit …intanto Dustin Hoffman non sbaglia un film) profilieren konnten, sich folklastige Cantautori wie Pierangelo Bertoli und Claudio Lolli betätigten, und auch der „Wahl-Bologneser“ Biagio Antonacci sowie der junge Samuele Bersani auf sich aufmerksam machten. Erfolge hatten auch kurzlebige Italo-Disco-Gruppen wie Righeira mit Vamos a la playa oder Gruppo Italiano mit Tropicana. Jovanotti brachte mit seinem ersten Album Jovanotti for President erstmals Rap in die italienische Musik und der Dance wurde von Gruppen wie 49ers und Black Box weiterentwickelt. Die 1990er-Jahre und die Vorherrschaft des Pop Das Ende des 20. Jahrhunderts brachte eine Anpassung der italienischen Musik an den internationalen Pop mit sich, wodurch sich zum einen italienische Musiker vermehrt über die Landesgrenzen hinauswagten, zum anderen aber auch charakteristische Eigenschaften des italienischen Liedes internationalen Standards Platz machten; selbst die canzone d’autore war von dieser Anpassung nicht sicher und wurde zunehmend dem Pop angeglichen: Beispiele dafür waren die Erfolge von Attenti al lupo von Lucio Dalla, Benvenuti in Paradiso von Antonello Venditti und Viva la mamma von Edoardo Bennato. Die Singlecharts der frühen 90er-Jahre waren von melodiös-sentimentalen und vergnügten, unkritischen Liedern geprägt. Die Protagonisten dieser Szene waren Riccardo Cocciante, Amedeo Minghi, Mietta, Francesca Alotta, Aleandro Baldi, Marco Masini, Paolo Vallesi, Luca Carboni, Biagio Antonacci, Francesco Baccini und Ladri di Biciclette, aber auch die Schützlinge des DJs und Produzenten Claudio Cecchetto, nämlich Jovanotti und das Duo 883. Besonders letzteres (bestehend aus Max Pezzali und Mauro Repetto) stand für eine Weiterentwicklung italienischer Musik zum Pop, wenn es auch hauptsächlich bei einem jungen Publikum erfolgreich war. Insbesondere einige Sängerinnen brachten es in den 1990er-Jahren zu herausragender Bedeutung, etwa Laura Pausini, die mit La solitudine die Newcomer-Kategorie des Sanremo-Festivals 1993 gewann, gefolgt von einem dritten Platz mit Strani amori in der Hauptkategorie des Festivals 1994, und deren folgende Karriere sie weit über Italiens Grenzen hinaus bekannt machte (vor allem in Lateinamerika), oder Giorgia, die 1995 mit Come saprei das Sanremo-Festival gewann, später mit einer Vielzahl bekannter Künstler zusammenarbeitete (Pino Daniele, Luciano Pavarotti, Lionel Richie, Herbie Hancock) und sich im neuen Jahrtausend auch in die Black Music vorwagte. Andere erfolgreiche Sängerinnen der 1990er-Jahre waren Irene Grandi, Marina Rei, Ivana Spagna, Tosca (an der Seite von Ron Siegerin des Sanremo-Festivals 1996) und auf der Seite der Cantautrici Cristina Donà und Ginevra Di Marco sowie Elisa, die ihre Karriere mit Liedern in englischer Sprache auf dem Album Pipes & Flowers begann, bis sie 2001 mit ihrem ersten italienischen Lied Luce (tramonti a nord est) in Sanremo gewann. Ab Mitte des Jahrzehnts etablierte sich eine neue Generation von Cantautori, mit Massimo Di Cataldo, Alex Britti, Niccolò Fabi, Max Gazzè, Carmen Consoli, Vinicio Capossela, Samuele Bersani und Daniele Silvestri; daneben machte auch die Gruppe Avion Travel auf sich aufmerksam, zuerst mit dem Kritikerpreis beim Sanremo-Festival 1998 und dann mit dem Sieg beim Festival 2000 mit dem Lied Sentimento. Erwähnenswert sind auch Alex Baroni (bekannt durch seine Sanremo-Beiträge Cambiare und Sei tu o lei (Quello che voglio)), der Tenor Andrea Bocelli (Newcomer-Sieger beim Festival 1994 mit Il mare calmo della sera, gefolgt 1995 vom internationalen Erfolg Con te partirò) und Davide Van De Sfroos (mit einer Kombination aus Country und dialektaler Musik). Auf der Seite der Rockmusik gelang Luciano Ligabue mit dem Album Buon compleanno Elvis der endgültige Durchbruch, während zu Litfiba und Consorzio Suonatori Indipendenti neue Bands wie Afterhours, Subsonica und Marlene Kuntz dazustießen. Die Rockszene erlebte viel Experimentierfreude und reichte von Alternative-Gruppen wie Negrita, Timoria und Üstmamò über Punkrock-Bands wie Prozac+ zu von den Cantautori geprägten Gruppen wie La Crus, Têtes de Bois, Bluvertigo, Marta sui Tubi und Tiromancino oder zu Folkrockbands wie Modena City Ramblers, Banda Bassotti, Bandabardò und Mau Mau. Im Untergrund entstanden auch Neofolk-Gruppen wie Ataraxia oder Camerata Mediolanense. In den 1990er-Jahren entstand auch eine erste italienische Hip-Hop-Szene, eingeleitet insbesondere durch das Album Batti il tuo tempo der römischen Crew Onda Rossa Posse, dann vertreten durch Acts wie Frankie Hi-NRG MC, Articolo 31, Sottotono, 99 Posse, Almamegretta, Neffa und Er Piotta; ebenso etablierten sich Ska und Reggae mit Gruppen wie Bisca, Sud Sound System, 24 Grana, Pitura Freska und Africa Unite. Der italienische Dance fand Vertreter wie Robert Miles (mit seinen internationalen Hits Children, Fable und One and One) oder Alexia, die zunächst internationalen Projekten nachging (etwa mit Ice MC) und später eine erfolgreiche Solokarriere begann. In der neapolitanischen Musikszene gelangte unterdessen Gigi D’Alessio mit dem Album Passo dopo passo und dem Film Annaré zu Bekanntheit und wurde zum bekanntesten Vertreter der neapolitanischen Neomelodici („Neomelodiker“). Großer Popularität erfreute sich in Italien daneben die sogenannte musica demenziale, satirische Musik, vertreten durch Francesco Salvi, Giorgio Faletti, David Riondino, Marco Carena, Dario Vergassola und vor allem von der durch das Sanremo-Festival bekannt gewordenen Band Elio e le Storie Tese. Das neue Jahrtausend Mit dem neuen Jahrtausend erreichten eine Vielzahl von Neuerungen die italienische Musikszene: Zum einen erfuhren elektronische Musik, Jazz und auch klassische Musik eine Wiederentdeckung, zum anderen kamen neben dem Sanremo-Festival (insbesondere der Newcomer-Kategorie) die Castingshows (vor allem Amici di Maria De Filippi und X Factor) als Formate zur Entdeckung neuer Talente auf, nicht zuletzt ein Anzeichen für den „Sieg des Interpreten über den Autor“, wobei die Shows als eine Art „Lotterie“ für die teilnehmenden Sänger fungierten. Sanremo blieb auch in den 2000er-Jahren ein Sprungbrett für Musiker wie Dolcenera, Povia (Sieger 2006), Francesco Renga (ehemals Sänger von Timoria; Sieger 2005), Arisa (Siegerin 2014), Paolo Meneguzzi, Irene Fornaciari und Sonohra. Beim Sanremo-Festival 2009 wurde mit dem Sieg von Marco Carta (zuvor Sieger der siebten Staffel von Amici) die Überschneidung der neuen Bühnen mit dem traditionsbewussten Festival deutlich, was 2010 sogleich durch den Sieg von Valerio Scanu (Finalist der achten Amici-Staffel) bestätigt wurde; eine Entwicklung, die von vielen Seiten scharf kritisiert wurde. Auch insgesamt verzeichnete das Festival immer mehr Teilnahmen von Castingshow-Abgängern, etwa Karima (Amici-Finalistin 2007), Giusy Ferreri (X-Factor-Finalistin 2008), Noemi (X-Factor 2009), Marco Mengoni (X-Factor-Sieger 2010, dann Sieger des Festivals 2013), Emma Marrone (Amici-Siegerin 2010 und Sanremo-Siegerin 2012) oder Francesca Michielin (X-Factor-Siegerin 2012 und Platz zwei beim Festival 2016). Dennoch gab es auch auf Seiten der Cantautori durchaus Aktivität. Davon zeugen zum Beispiel Sergio Cammariere (der 2003 nach dem Kritikerpreis beim Sanremo-Festival mit dem Album Dalla pace del mare lontano auf sich aufmerksam machte), der nonkonformistische Tricarico (bekannt geworden 2001 durch den skandalumwitterten Nummer-eins-Hit Io sono Francesco und 2008 ebenfalls mit dem Kritikerpreis in Sanremo ausgezeichnet), Pacifico (auch für seine Tätigkeit im Filmbereich und seine Zusammenarbeiten mit Adriano Celentano und Frankie Hi-NRG MC bekannt), Simone Cristicchi, der das von Giorgio Gaber begründete Teatro canzone wiederbelebte und 2007 Sanremo gewann, Fabrizio Moro (Newcomer-Sieger in Sanremo 2007 und Sieger 2018) sowie L’Aura. Im melodiösen Pop hatte 2001 Tiziano Ferro mit dem R&B-geprägten Titel Perdono seinen Durchbruch, der eine enorm erfolgreiche Karriere auch über die Landesgrenzen hinaus einleitete; auch Anna Tatangelo machte mit ihrem Sieg in der Newcomer-Kategorie des Sanremo-Festivals 2002 und einem dritten Platz 2006 auf sich aufmerksam. Dance-Interpretin Alexia wechselte von Englisch zu Italienisch und konnte 2003 mit der Soul-Ballade Per dire di no Sanremo gewinnen. Einige Jahre später kamen zwei weitere bedeutende Frauenstimmen auf: Malika Ayane und Nina Zilli, beide lanciert durch das Sanremo-Festival. Unter den Bands brachte das neue Jahrtausend so unterschiedliche Acts wie Le Vibrazioni, Velvet, Quintorigo, Baustelle, Negramaro, Finley oder Zero Assoluto hervor. Im Hip-Hop-Bereich machte sich der gesellschaftskritische Caparezza einen Namen, ebenso wie der Provokateur Fabri Fibra und der „finstere“ Rapper Mondo Marcio. Die Jazzszene erfuhr ebenfalls starken Zulauf, mit den Pianisten Stefano Bollani und Danilo Rea, dem Saxophonisten Stefano Di Battista, den Sängerinnen Nicky Nicolai, Chiara Civello und Amalia Gré und dem Soulsänger Mario Biondi. Die Brücke zwischen klassischer Musik und elektronisch angehauchtem Pop schlugen die Komponisten und Pianisten Ludovico Einaudi und Giovanni Allevi. Ab den 2010er-Jahren war der endgültige Mainstream-Durchbruch des Hip-Hop zu beobachten, vor allem mit dem Charterfolg des Liedes Tranne te von Fabri Fibra. Auf dieser Welle feierten weitere Rapper wie Emis Killa, Salmo, Fedez, Gemitaiz, Clementino, aber auch Club Dogo und J-Ax (von Articolo 31) große Erfolge bei einem Massenpublikum. Das Genre machte auch vor dem Sanremo-Festival nicht Halt, wo 2014 der Rapper Rocco Hunt in der Newcomer-Kategorie gewann. Sfera Ebbasta dominierte ab 2016 mit Trap die italienischen Charts, was den Weg für Mahmoods zukunftsweisenden Sanremo-Sieg 2016 mit dem von Trap beeinflussten Titel Soldi ebnete. Ebenfalls über das Sanremo-Festival gelang der Rockband Måneskin 2021 ihr weltweiter Durchbruch, was wesentlich dazu beitrug, die italienische populäre Musik international wieder stärker zu positionieren. Musikalische Entwicklung und Genres Stil und Einflüsse Das „klassische“ italienische Lied in der neapolitanischen Tradition wies zunächst folgende zentrale Merkmale auf: Aufteilung in Strophe (strofa) und Refrain (ritornello), meist in verschiedenen Tonarten (z. B. Moll- bzw. Durparallele), einfache Harmonien, mit vereinzelten neapolitanischen Sextakkorden oder verminderten Septakkorden, „erzählerische“ Strophe abwechselnd mit dem gleichbleibenden Refrain. In der Zwischenkriegszeit wurden langsam die amerikanischen Einflüsse, vor allem des Jazz, spürbar. „Importierte“ Merkmale waren: melodische und harmonische Bausteine (etwa zweitaktige Phrasen, Riffs, Blues oder vom Blues abgeleitete Fortschreitungen), vereinzelte erweiterte Harmonien (etwa Durakkorde mit Sexte, Dominantseptakkorde mit None oder nicht aufgelöste Dominantseptakkorde), lateinamerikanische Rhythmen (etwa Tango, Beguine oder Rumba). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Sanremo-Festival eigens zu dem Zweck geschaffen, die italienische Liedtradition zu fördern und zu bewahren. Zu Beginn (1950er-Jahre) fielen die Festivalbeiträge grundsätzlich in zwei Kategorien: melodramatische oder langsame, lyrische Lieder, mit opernhaftem Gesang; Text, Arrangement, Melodie und Harmonien folgten Operntradition und neapolitanischer Volksmusik; der rhythmische Aspekt war unbedeutend; Beispiel: Grazie dei fiori (Nilla Pizzi 1951); leichte, fröhliche Lieder, mit natürlicher Stimmfärbung; die Harmonie wurde auf die Grundakkorde reduziert; der Rhythmus orientierte sich an Tänzen oder Märschen, manchmal auch mit lateinamerikanischem Einfluss; Beispiel: Aprite le finestre (Franca Raimondi 1956). Insgesamt stellte die durch das Festival geförderte Musik also eine Art Restauration dar. 1958 brach Domenico Modugno mit der Tradition: Weder dem Belcanto noch dem Crooning folgend, reihte er sich in die neue Riege der „Schreier“ (urlatori) ein; das Arrangement von Nel blu dipinto di blu wies eine unübliche Besetzung auf und sein sehr extravertierter Auftritt trug noch weiter zur Sensation bei. Nach der Erneuerung durch die Urlatori waren in den 1960er-Jahren weitere bedeutende Einflüsse die „British Invasion“ Italiens durch Beatbands und die Etablierung der Cantautori. Von zunächst strophisch aufgebauten Liedern ging die Entwicklung zum AABA-Schema und in den 1960er-Jahren schrittweise zur Strophe/Refrain-Abfolge über. Über die Beatmusik kam es zu einem Hang zu Modi und Pentatonik sowie zur Verwendung von Blue Notes in der Melodie. Spätestens in den 1970er-Jahren verlor das Sanremo-Festival seine Vormachtstellung in der populären Musik Italiens. Die stilistische Entwicklung verteilte sich dadurch auf diverse neu aufkommende Genres. Insbesondere die Cantautori gingen neue Wege, mit einem besonders „rauen“ Stil, der zusammen mit den Texten gesellschaftsrelevante Themen aufgriff und beschrieb. Als typisch galten hier akustische Arrangements, ohne Manipulationen im Mix, um möglichst authentisch zu erscheinen. Lucio Battisti nahm eine Sonderrolle ein und brachte eine raue Stimme, leicht verstimmten Gesang, unverbrauchte Melodien und tendenziell surreale Texte zusammen. Stilistische Weiterentwicklung brachte nicht zuletzt auch der Progressive Rock, der sich in Italien vor allem an britischen Vorbildern orientierte, wobei der nach wie vor starke Einfluss der Kunstmusik deutlich war. Genres Aufbauend auf eine Studie aus den 1980er-Jahren ermittelten Fabbri und Plastino neben der canzone italiana (Mainstream-Pop) folgende aktuell (2016) in Italien noch vorzufindende Genres populärer Musik: canzone d’autore (Cantautori), Rock, neapolitanische Volksmusik und musica neomelodica, Instrumentalmusik, Filmmusik, Dance und Techno, Hip-Hop, Jazz, canzone politica (politische und Protestlieder), Cabaret, religiöse Lieder, Kinderlieder, Metal, Progressive Rock, Punk, Reggae und Weltmusik. Ältere Genres hingegen sind entweder nur noch von historischem Interesse, haben sich in Nischen zurückgezogen oder sind in übergeordneten Genres aufgegangen. Canzone d’autore Während der Begriff Cantautore schon zu Beginn der 1960er-Jahre von RCA für die Vermarktung neuer Künstler verwendet wurde, die sich mit intelligenten Liedern gegen die traditionellen Klischees wandten und (im weiteren Verlauf) mit besonders lebensnahen und direkten Texten das kollektive Bewusstsein der Jugendbewegungen erreichten, wurde die Genrebezeichnung „Autorenlied“ in Analogie zum „Autorenkino“ erst nach dem Suizid von Luigi Tenco durch den Club Tenco geprägt. Damit wurde noch einmal das Prinzip der Urheberschaft unterstrichen und eine direkte politische Konnotation vermieden, während man neben den Cantautori auch Indie-Rock-Bands oder Rapper ins Genre miteinbeziehen konnte. Politische Lieder Politische Lieder kamen vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf und erlebten ihre Blütezeit zwischen den 60er-Jahren und den bleiernen Jahren, geprägt von Protestbewegungen. Sie griffen auf Volkslieder zurück und wurden weiter von den Cantautori sowie Theater und Cabaret beeinflusst. Später kam es zum Austausch mit neuen Genres wie Progressive Rock, Punk, Hip-Hop und Reggae. Neapolitanische Volksmusik und Neomelodiker Die neapolitanische Volksmusik durchlief eine ständige Weiterentwicklung. 1970 ging die Ära des Festival di Napoli zu Ende, die Erneuerungsbewegung Naples Power erlebte eine kurze Blütezeit, mit Pino Daniele als dem bedeutendsten Vertreter, danach kam es zu diversen Folk-Revivals. Mit der Jahrtausendwende hatten die sogenannten Neomelodiker (neomelodici) ihren Durchbruch, die vor allem in Süditalien populär sind; bekanntester Vertreter ist Gigi D’Alessio. Deren Musik ist geprägt durch eine Verbindung traditioneller Gesangstechniken mit modernem Pop und stark umgangssprachlichen, oft melodramatischen Texten. Außerdem wird der Szene eine Nähe zur Camorra nachgesagt. Kinderlieder Immer schon in der Volksmusik vertreten, fasste Musik für Kinder im italienischen Mainstream spätestens mit dem Beginn des Gesangwettbewerbs Zecchino d’Oro 1959 Fuß. Auch Titelmelodien von Fernsehsendungen für Kinder erfreuten sich großer Popularität. In den Charts erfolgreiche Titel waren etwa Carletto von Corrado (Platz eins 1983) oder in jüngerer Zeit das international erfolgreiche Il pulcino Pio (Platz eins 2012). Auf Kinderlieder spezialisiert sind zum Beispiel der Piccolo Coro dell’Antoniano und Cristina D’Avena. Italienischer Rock, Prog-Rock und Punk Ende der 1950er-Jahre aus Übersee nach Italien gekommen, verhalf Rock ’n’ Roll unter anderem Adriano Celentano zu seiner erfolgreichen Karriere. Erst in den 1960er-Jahren verbreitete sich Rock durch die Beatwelle, die zur Gründung einer Vielzahl von neuen Bands führte, von denen sich einige in den 1970er-Jahren dem Progressive Rock zuwandten. Der italienische Prog-Rock orientierte sich an britischen Vorbildern, war jedoch sehr um stilistische Eigenständigkeit bemüht; die bedeutendsten Bands Premiata Forneria Marconi und Banco del Mutuo Soccorso konnten sich auch international einen Namen machen. Es folgten Punk und der satirische rock demenziale, in den 1980er-Jahren erreichte auch New Wave Italien. Seit 1982 „verkörpert“ Vasco Rossi die italienische Rockmusik. Ab den 1990er-Jahren glich sich der italienische Rock noch mehr den internationalen Strömungen an. Italienischer Metal Eine italienische Metal-Szene entstand in den 1980er-Jahren, frühe Vertreter waren Death SS sowie die Thrash-Metal-Bands Bulldozer und Necrodeath. Die 90er brachten den Death Metal (etwa die Band Hour of Penance), letztlich zeigte sich jedoch ein Hang der italienischen Metal-Szene zu klassischer Musik: Opernhafte Sounds mit Gothic-Elementen wurden prägend, nicht zuletzt bei Rhapsody of Fire oder Opera IX, aber auch bei der heute wohl bekanntesten italienischen Metal-Band Lacuna Coil. Von Beginn an erfuhr Metal in Italien kaum mediale Aufmerksamkeit. Dies führte dazu, dass zugunsten eines internationalen Publikums Englisch die vorherrschende Sprache wurde, erst Linea 77 konnte italienischsprachigen Metal populärer machen. Trotz einer aktiven Szene und des bedeutenden Festivals Gods of Metal, das seit 1997 stattfindet, blieb Metal ein von Mainstream-Medien ignoriertes Nischenphänomen. Erst 2018 gab es mit der Jurytätigkeit in der Castingshow The Voice of Italy von Lacuna-Coil-Sängerin Cristina Scabbia ein Anzeichen einer Gegenentwicklung. Italienischer Hip-Hop In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre formierten sich, neben den frühen Mainstream-Erfolgen von Jovanotti, die ersten Hip-Hop-Crews (posse) und rappten zunächst auf Englisch. Zwischen 1989 und 1992 verbreitete sich Hip-Hop vor allem unter Jugendlichen in Sozialzentren, wobei die italienische Sprache nun in den Vordergrund rückte, und war stark politisch und sozialkritisch geprägt. In den 1990er-Jahren wurde das Genre in Italien schließlich zum Massenphänomen und erreichte den Mainstream, stärkere Kommerzialisierung und eine Abnahme der politischen Inhalte war die Folge. Gleichzeitig entwickelte ein Teil der Hip-Hop-Szene, zumindest aus der Sicht der Musikpresse, jedoch auch eine Nähe zur canzone d’autore. In neuerer Zeit erfuhren vor allem Freestyling sowie zuletzt Trap viel Zulauf. Hip-Hop entwickelte sich zum unter Jugendlichen beliebtesten Musikgenre und viele Rapper konnten sich im Zuge dieses Erfolgs auch im Fernsehen etablieren. Italienischer Dance und Techno Erste Vorboten der elektronischen Tanzmusik erreichten Italien Mitte der 1970er-Jahre mit der Discomusik, die auch die international erfolgreiche Italo Disco hervorbrachte, in den Fußstapfen des Eurodance-Pioniers Giorgio Moroder. In den 1990er-Jahren boomte italienischer Dance mit Vertretern wie Black Box oder DJ Dado und um die Jahrtausendwende hatten Gigi D’Agostino (L’amour toujours), Eiffel 65 (Blue) und Prezioso mit melodiebetonter Tanzmusik internationale Erfolge. Italienischer Reggae Wohl erster italienischer Vertreter des Reggae war die Band Africa Unite, die 1981 gegründet wurde. Danach verbreitete sich der Musikstil in ganz Italien. Wie im Hip-Hop spielten um 1990 die Sozialzentren eine wichtige Rolle, in denen sich Jugendliche versammelten, die sich über die neuen Musikrichtungen politisch und sozial engagierten. Eine bedeutende Formation war 99 Posse, die sich zwischen Raggamuffin und Rap bewegte. Größere Aufmerksamkeit erhielten auch die Ska-geprägte Gruppe Giuliano Palma & The Bluebeaters sowie Almamegretta. Der Sizilianer Alborosie konnte eine internationale Karriere starten, in jüngerer Zeit gelangen der Gruppe Boomdabash Erfolge. Filmmusik In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zunächst klassische Komponisten für Filme verpflichtet, so Ildebrando Pizzetti oder Pietro Mascagni, denen zeitgenössische Komponisten wie Goffredo Petrassi und Bruno Maderna nachfolgten; in der Zwischenkriegszeit hingegen waren die Filmsoundtracks zunehmend von populärer und Volksmusik und Komponisten wie Cesare Andrea Bixio geprägt. Erst in der zweiten Hälfte begannen einige Komponisten, sich auf Filmmusik zu spezialisieren: Vorreiter waren etwa Alessandro Cicognini, Giovanni Fusco, Mario Nascimbene, Carlo Rustichelli und Renzo Rossellini, in den 1960er-Jahren folgten ihnen u. a. Piero Piccioni, Armando Trovajoli, Piero Umiliani, Riz Ortolani sowie die beiden prägendsten italienischen Filmkomponisten Nino Rota und Ennio Morricone nach. Unter den späteren Vertretern der italienischen Filmmusik sind Stelvio Cipriani, Pino Donaggio, Luis Bacalov, Nicola Piovani sowie Aldo und Pivio De Scalzi erwähnenswert. Jazz Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatten sich Big Bands mit einem von Jazz geprägten Repertoire in Italien verbreitet. Das Genre blieb jedoch eine Randerscheinung, bis es in den 1970er-Jahren großen Jazzfestivals wie Umbria Jazz gelang, die jüngeren Generationen anzusprechen. Durch das Engagement von Giorgio Gaslini, dem „Vater“ des modernen italienischen Jazz, fand das Genre in den 60er-Jahren auch Eingang in italienische Konservatorien. Im Gegensatz zu den Vertretern anderer Genres gelang es vielen italienischen Jazzern, sich im Ausland zu etablieren. Auch die Jazzfestivals können ein internationales Publikum und Teilnehmerfeld vorweisen. Bedeutende italienische Jazz-Musiker sind Enrico Rava, Enrico Pieranunzi, Patrizia Scascitelli, Paolo Fresu, Roberto Gatto und Antonello Salis. Wirtschaftliche Aspekte Parallel zur Entstehung der populären Musik entwickelte sich, vor allem in Neapel, Mitte des 19. Jahrhunderts ein professionelles Musikverlagswesen. Um die Jahrhundertwende entstanden, wieder in Neapel, die ersten Plattenlabel. Anfang der 1930er-Jahre wurde das staatliche Label Cetra gegründet, das später mit Fonit zu Fonit Cetra fusionierte und in den 1990er-Jahren von Warner aufgekauft wurde. Auch viele andere große italienische Plattenfirmen waren schon in den 1980er-Jahren an internationale Konzerne übergegangen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen verblieb der italienische Musikmarkt damit großteils in den Händen der Major-Labels, die sich 1992 im Interessenverband Federazione Industria Musicale Italiana zusammenschlossen. Mit der wirtschaftlichen Vormachtstellung des Nordens konzentrierte sich die italienische Musikindustrie nach den neapolitanischen Anfängen rasch auf Mailand. Die italienische Musikindustrie war 2022 mit einem Handelswert von 371,3 Mio. € die viertgrößte Europas. Der Markt für digitale Musik, der in Italien ab 2004 nach und nach Fuß fassen konnte (die ersten Anläufe erfolgten durch Telecom Italia und iTunes), ist mittlerweile auf über 68 % angewachsen, zuletzt vor allem durch den starken Anstieg der Nutzung von Musikstreaming, das allein 66,7 % des Marktes ausmacht. Die wichtigsten Streamingdienste sind Amazon Music, Apple Music, Spotify, TIMmusic und YouTube. Bemerkenswert ist die starke Position der nationalen Produktionen, die 83 % des Marktes ausmachen (gemessen an den Album-Jahrescharts). Üblicherweise weisen die Singlecharts gegenüber den Albumcharts eine stärkere internationale Prägung auf (siehe auch Liste der Nummer-eins-Hits in Italien). Auch im Bereich der Livemusik gehört Italien zu den größten Märkten Europas (Platz 4). Die Sparte generierte 2019 Einnahmen von rund 700 Mio. US$ aus reinen Ticketverkäufen, aber die COVID-19-Pandemie dezimierte den Markt 2020. Ab 2022 durchlief Livemusik in Italien wieder ein starkes Wachstum. Die Wahrnehmung der Urheberrechte erfolgt in Italien durch die Verwertungsgesellschaft Società Italiana degli Autori e degli Editori (SIAE), deren Monopol erst durch die zunehmende Bedeutung des digitalen Marktes sowie durch neuere EU-Richtlinien ins Wanken geriet. 2000 wurde, angesichts der allgemeinen Krise des klassischen Musikmarktes, mit SCF Consorzio Fonografici auch eine entsprechende Körperschaft zur Wahrnehmung der verwandten Schutzrechte der Musikproduzenten und Labels geschaffen, wodurch die Einnahmen der Industrie deutlich erhöht werden konnten. Die größten Einnahmen durch Lizenzierung werden über das Fernsehen erzielt, gefolgt von Radio und Diskotheken (letztere verlieren jedoch zunehmend an Bedeutung). Leistungsschutzrechte haben 2022 rund 14 % zum italienischen Musikmarkt beigetragen, Synchronisierungen rund 3 %. Rezeption außerhalb Italiens Bereits vor der Einigung war Italien im Ausland für seine Musik bekannt, insbesondere für Opern- und Salonmusik, die auf der Italienischen Halbinsel vor allem vom mittelständischen Bürgertum gepflegt wurden. Im Zuge der Auswanderungswellen wurde später vor allem die neapolitanische Volksmusik in der Welt bekannt und prägte „das Klischee von italienischer Musik“. Ein früher internationaler Star aus Italien war Enrico Caruso, der zwischen 1911 und 1921 große Erfolge in den USA feierte. Musik der Diaspora Italienische Emigranten übten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ausländische Musikkulturen aus. Ein frühes Genre, bei dessen Popularisierung Italiener eine Rolle spielten, war die französische Musette (ein Beispiel ist Tony Muréna). Neben Frankreich (Nino Ferrer, Caterina Valente, Dalida) konnten sich italienische Musiker auch in Belgien behaupten, etwa Salvatore Adamo. Das Hauptgebiet der italienischen musikalischen Diaspora bildeten jedoch Nord- und Südamerika. In Argentinien prägten italienische Einwanderer die frühe Tango-Szene (Astor Piazzolla oder Angel D’Agostino waren italienischer Abstammung). In den USA entstand eine umfangreiche italienische Musiker-Szene, die auch von Radios und Plattenfirmen gestützt wurde. Charakteristisch für den frühen „Italo-Sound“ war der melodiöse Gesang, den die italienischen Musiker mit (afro-)amerikanischen Stilen vermischten. Andere, wie Dolly Dawn oder Louis Prima, fielen durch stark von der Oper geprägte Auftritte auf. Die neapolitanische Volksmusik entwickelte sich in der Diaspora zu der italienischen Musiktradition schlechthin und auch die Verwendung des Neapolitanischen wurde zu einem Merkmal des Repertoires italoamerikanischer Sänger. In den 1950er-Jahren prägte glamouröse „italienische“ Musik das gesellschaftliche Leben in Las Vegas. Ein besonderes Phänomen war der italoamerikanische Rock, der ab den späten 1950er-Jahren mit Gruppen wie The Crests, Dion and the Belmonts oder The Four Seasons die Doo-Wop-Ära einleitete, in der sich schwarze Musik und italienischer Belcanto begegneten. Sonstige bedeutende italoamerikanische Musiker waren Dean Martin, Frank Sinatra, Connie Francis, Mario Lanza, Jerry Vale oder Lou Monte. Der Sanremo-Effekt Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt mit dem Sanremo-Festival die „gesamtitalienische“ populäre Musik eine bedeutende Plattform, die auch nachhaltig zur Verbreitung italienischer Musik im Ausland beitragen sollte. Auch über das zusätzliche Schaufenster des Eurovision Song Contest gelangen Beiträgen aus dem Festival internationale Erfolge; das deutlichste Beispiel dafür ist Nel blu dipinto di blu von Domenico Modugno (1958), von dem nach dem Sanremo-Sieg und dem dritten Platz beim ESC weltweit mehr als 22 Millionen Exemplare verkauft wurden, verbunden mit Platz eins in den US-Charts sowie zwei Grammys. Auch Gigliola Cinquetti konnte 1964 nach dem Doppelsieg in Sanremo und beim ESC mit Non ho l’età (per amarti) einen internationalen Erfolg landen. Allerdings nahm der internationale Einfluss des Sanremo-Festivals mit der Zeit rapide ab: Zwar noch immer in Eurovision übertragen, findet es im Ausland mittlerweile kaum noch Publikum. Umgekehrt zog Italien sich 1997 aufgrund des eigenen Desinteresses am europäischen Wettbewerb vorerst auch aus dem ESC zurück (die Rückkehr erfolgte erst 2011, vergleiche Italien beim Eurovision Song Contest). Exporte mittels Coverversionen Bei den ersten internationalen Erfolgen handelte es sich für gewöhnlich um One-Hit-Wonder; im Gegensatz zum Filmbereich fehlte es der italienischen populären Musik an internationalen Stars (abgesehen von den bereits erwähnten Italoamerikanern). Angefangen beim Sanremo-Festival 1964 versuchte man daher eine Internationalisierung des Festivals, indem ausländische Teilnehmer eingeladen wurden, darunter Frankie Laine, Paul Anka, Gene Pitney, Ben E. King oder Antonio Prieto. Dies löste eine lange Tradition von Coverversionen aus, über die italienische Erfolge exportiert und internationale Erfolge nach Italien importiert wurden. Cover italienischer (insbesondere neapolitanischer) Lieder im Ausland hatte es vereinzelt bereits früher gegeben (etwa von Torna a Surriento, ’O sole mio oder Santa Lucia) und der große Erfolg von Modugnos Nel blu dipinto di blu zog Cover von u. a. Dean Martin, Nelson Riddle, Jesse Belvi und Alan Dale nach sich. In den 1960er-Jahren eroberten Cover italienischer Songs (meist Sanremo-Beiträge) zunächst den britischen Markt: Joe Loss coverte Tony Renis’ Quando quando quando (1962), Engelbert erreichte 1968 mit A Man Without Love (Original: Quando m’innamoro von Anna Identici und den Sandpipers) Platz drei der UK-Charts und Tom Jones mit Help Yourself (Original: Gli occhi miei von Dino und Wilma Goich) Platz fünf. Einer der größten Erfolge war Pino Donaggios Io che non vivo beschieden, das als You Don’t Have to Say You Love Me nacheinander durch Dusty Springfield, Elvis Presley und Jerry Vale sowie Guys ’n’ Dolls erfolgreich gecovert wurde. Cilla Black erreichte mit You’re My World (Il mio mondo von Umberto Bindi) die Spitze der britischen Charts, der Band Amen Corner gelang dies 1969 mit Half as Nice (Il paradiso von Lucio Battisti). Daneben wurden auch einige Lieder und Musikstücke aus italienischen Soundtracks gecovert, darunter The Legion’s Last Patrol (Concerto disperato von Nini Rosso und Angelo Francesco Lavagnino) aus Marschier oder krepier durch Ken Thorne & His Orchestra, sowie More von Nino Oliviero und Riz Ortolani aus Mondo Cane durch u. a. Perry Como oder Kai Winding. Der Erfolg von Covern blieb hauptsächlich auf die 60er-Jahre beschränkt und konnte keinen bleibenden Eindruck in den ausländischen Märkten hinterlassen. Zwischen Italo Disco, Italo Pop und Oper Internationale Aufmerksamkeit wurde und wird in jüngerer Zeit vor allem zwei Ausprägungen italienischer populärer Musik zuteil: zum einen Italo Disco, zum anderen dem stark durch das Sanremo-Festival geprägten melodischen Pop (oft als Italo Pop bezeichnet). Im Zuge der Disco-Welle wurde die Stilrichtung Ende der 1970er-Jahre auch in Italien populär. Der deutsche Produzent Bernhard Mikulski prägte aus Vermarktungsgründen die Bezeichnung Italo Disco, die sich durch einige One-Hit-Wonder der italienischen Acts D. D. Sound, Barbados Climax oder Gepy & Gepy verbreitete. Musikprojekte wie Righeira und Baltimora hatten großen Erfolg im Ausland und auch einzelne Produzenten bzw. Sänger wie Giorgio Moroder oder Raf schafften mit dem Genre den Durchbruch. Charakteristisch für die Rezeption von Italo Disco im Ausland ist jedoch die Loslösung von einzelnen Interpreten hin zu unpersönlichen Kompilationen; außerdem versucht der Italo-Disco-Sound meistens, eine Erwartungshaltung des Publikums an „typisch italienische“ Elemente zu bedienen, obwohl er schon von seinen Wurzeln her nicht als authentisch italienisch gelten kann. Spätestens um die Jahrtausendwende wurde schließlich auch der sogenannte Italo Dance international bekannt. Demgegenüber wurde im Ausland auch die Bezeichnung Italo Pop geprägt, die grundsätzlich melodiöse Popmusik unter Ausschluss von Rockeinflüssen sowie ohne Cantautori umfasst (tatsächlich wurde den Cantautori außerhalb Italiens nur wenig Aufmerksamkeit zuteil, mit der Ausnahme von Paolo Conte, der sich besonders in Deutschland und Frankreich großen Erfolges erfreute). Im Gegensatz zu Italo Disco liegt der Fokus in der Rezeption des Italo Pop auf den Interpreten und einzelnen Liedern, womit es Vertretern des Genres oft gelingt, im Ausland zu Superstars zu avancieren. Kennzeichnend ist dabei das Spiel mit nationalen und regionalen Klischees von Italien, zu finden etwa bei Ricchi e Poveri oder ganz besonders Toto Cutugno. Im deutschen Sprachraum wird in diesem Zusammenhang oft von Schlager gesprochen. Daneben hat die Oper bis heute einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf italienische populäre Musik. Eines der erfolgreichsten italienischen Lieder der jüngeren Zeit war Andrea Bocellis Con te partirò, das 1995 in Sanremo präsentiert und später im Duett mit Sarah Brightman als Time to Say Goodbye international bekannt wurde. Es ist ein Beispiel für die opernbezogene populäre Musik, die versucht, sich als gesamtitalienisch darzustellen, frei von Regionalismus. Bocelli avancierte in der Folge zum internationalen Star. In dieser Nachfolge steht auch das Trio Il Volo, das besonders in den USA sehr erfolgreich ist und 2015 mit dem Sanremo-Siegerlied Grande amore zu den Favoriten beim ESC gehörte. Das Genre wird im englischsprachigen Raum meist als Operatic Pop bezeichnet und wurde nicht zuletzt auch durch Luciano Pavarotti populär gemacht. Verbreitungsgebiete Grundsätzlich können zwei verschiedene Formen der Außenwirkung italienischer populärer Musik unterschieden werden: einmal die globale, meist auf Europa und Lateinamerika konzentriert; dann die auf einen geographisch enger begrenzten Raum ausgerichtete. Als global erfolgreich können Interpreten wie Eros Ramazzotti, Zucchero oder Toto Cutugno gelten, sowie einzelne Hits wie Ti amo und Gloria (Umberto Tozzi), Self Control (Raf) oder der Evergreen Nel blu dipinto di blu (Domenico Modugno). Geographisch spezifische Erfolge können etwa bei den als Oliver Onions bekannten Brüdern Guido und Maurizio De Angelis festgestellt werden, die vor allem in Deutschland erfolgreich waren, oder bei einer ganzen Reihe von „melodiösen“ Sängern aus den 1980er-Jahren in Osteuropa, darunter Pupo, Drupi oder Riccardo Fogli; auch Al Bano (mit oder ohne Romina Power) und erneut Toto Cutugno reihen sich dort ein, allerdings können diese gleichzeitig auch einen globalen Erfolg vorweisen (Cutugno gewann nicht zuletzt den Eurovision Song Contest 1990). Auch Mina erhielt viel internationale Anerkennung: In Deutschland konnte sie mit deutschen Schlagern (vor allem Heißer Sand 1962) große Erfolge landen, 1964 hatte sie sogar in Japan einen beachtlichen Erfolg mit der Single Suna ni kieta namida. Überhaupt erwies sich Japan immer wieder als Absatzmarkt für bestimmte italienische Sänger und Bands, darunter Claudio Villa. Der Absatzmarkt Lateinamerika (teilweise auch verbunden mit Spanien) hat für viele neuere italienische Popstars eine besondere Bedeutung: Die sprachliche Nähe erleichtert die Übersetzung der Liedtexte und damit den musikalischen Austausch. Sänger wie Eros Ramazzotti, Laura Pausini oder Tiziano Ferro produzieren alle ihre Alben zusätzlich in einer spanischen Version und können durch gezielte Vermarktung damit große Erfolge verbuchen. Als Latin-Pop-Künstler können sie sich auch international breiter positionieren, so gelang es etwa Pausini 2006, mit einem Grammy in der Kategorie Best Latin Pop Album ausgezeichnet zu werden (für Escucha, die spanische Ausgabe von Resta in ascolto) – vor ihr hatte nur ein einziger italienischer Künstler bei den Grammys gewonnen, nämlich Domenico Modugno 1958. Literatur Weblinks Canzone Italiana, Musikportal des Istituto Centrale per i Beni Sonori ed Audiovisivi (deutsch u. a.) Made in Italy: Global Popular Music, Online-Materialien zum Buch (englisch) Italian Pop Music, historischer Überblick und Künstlerbiografien auf Europopmusic (englisch) Irving Wolther: Italien: Von Sanremo in die Welt (16. Februar 2010), Artikel auf Eurovision.de Belege Populäre Musik Musik (Italien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Situation%20Room%20%28Foto%29
Situation Room (Foto)
Situation Room () ist eine Fotografie, die von Pete Souza, dem Cheffotografen des Weißen Hauses, am 1. Mai 2011 um 16:05 Uhr (EDT) aufgenommen wurde. Sie zeigt den US-Präsidenten Barack Obama zusammen mit Mitgliedern seines nationalen Sicherheitsteams, darunter Vizepräsident Joe Biden und Außenministerin Hillary Clinton, in einem Besprechungsraum des namensgebenden White House Situation Rooms. Zum Zeitpunkt der Aufnahme wurden die anwesenden Personen über den Verlauf der Operation Neptune Spear informiert, bei der im pakistanischen Abbottabad Osama bin Laden, der Gründer und Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida, sowie vier weitere Personen von Mitgliedern der US-amerikanischen Spezialeinheit DEVGRU getötet wurden. Das Foto wurde einen Tag nach der Aufnahme unter dem Namen P050111PS-0210 auf dem Imagehoster Flickr zusammen mit acht weiteren Fotos von Obama und anderen Regierungsmitgliedern veröffentlicht. In den nächsten Tagen erschien es in vielen Medien und wurde schnell in den Status einer Ikone erhoben. Da die US-Regierung entschied, keine Bilder des toten bin Laden zu veröffentlichen, wurde das Foto zum Sinnbild der Vorgänge der Operation Neptune Spear. Zahlreiche Journalisten und Wissenschaftler analysierten und kommentierten das Foto. Daneben griffen es Künstler in ihren Werken auf. Im Internet erschienen zahlreiche Parodien, das Foto wurde zum Internetphänomen. Hintergrund, Entstehung und Veröffentlichung Pete Souza und Obamas Bilderpolitik Pete Souza, der bereits zwischen 1983 und 1989 der Cheffotograf von US-Präsident Ronald Reagan war, lernte Barack Obama 2005 als neu gewählten Senator kennen und begann ab dieser Zeit, dessen Karriere fotografisch zu dokumentieren. So begleitete er ihn unter anderem auf Reisen in sieben verschiedene Länder. Im Juli 2008 veröffentlichte er den Bildband The Rise of Barack Obama, der zu einem Bestseller wurde. Das Titelblatt zeigt das wohl berühmteste Foto Souzas aus dieser Zeit, auf dem Obama leichtfüßig die Treppe zum Kapitol hinaufläuft. Nach der Wahl zum US-Präsidenten machte Obama Souza zum Cheffotografen des Weißen Hauses. Als solcher schoss dieser am 13. Januar 2009 das erste offizielle Präsidentenporträt, das mit einer Digitalkamera erstellt wurde. Die Bilder, die Souza in den nächsten Jahren von Obama veröffentlichte, zeigen ihn nicht nur bei offiziellen Situationen als Präsident, sondern geben auch einen Einblick in das Familienleben der Obamas. Verbreitet wurden sie über soziale Medien wie Twitter und Facebook und vor allem über den Imagehoster Flickr. Dies unterschied Obama von seinen Vorgängern und führte zur Bezeichnung seiner Amtszeit als „Flickr-Präsidentschaft“. Aus Sicht von Günther Haller erscheint Obama auf Souzas Fotos stets im bestmöglichen Licht. Dies rief die Kritik hervor, das Weiße Haus ersetze unabhängigen Fotojournalismus durch Propaganda, ein Vorwurf, der 2008 bereits gegen die Regierung von George W. Bush erhoben worden war. US-Medien sahen sich zunehmend von der Berichterstattung über relevante Themen ausgeschlossen. So kritisierte man unter anderem, dass der aufgrund von Formfehlern nachgeholte Amtseid Obamas nur von Souza dokumentiert wurde. Associated Press, die bedeutendste Nachrichtenagentur der USA, hatte Obamas Medienstrategie bereits während des Wahlkampfs 2008 als autokratisch kritisiert und war 2013 der Meinung, dass nie zuvor ein Präsident den Zugang für Medien so stark kontrolliert und limitiert habe. Die Chefredakteurin Kathleen Carroll riet deshalb Medien davon ab, die Veröffentlichung des Weißen Hauses kritiklos zu übernehmen. Im November 2013 gaben die Zeitschriften USA Today und The News Tribune bekannt, abgesehen von sehr speziellen Ausnahmefällen auf die Veröffentlichung von offiziellen Fotos des Weißen Hauses zu verzichten. Operation Neptune Spear Osama bin Laden war der Gründer und Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida. Als solcher wurde er unter anderem für die Terroranschläge auf die Botschaften der Vereinigten Staaten in Daressalam und Nairobi 1999 und die Terroranschläge am 11. September 2001 verantwortlich gemacht und stand ab 1999 auf der Liste der zehn meistgesuchten Flüchtigen des FBI. 2007 war für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen, ein Kopfgeld von 50 Millionen US-Dollar ausgesetzt worden. Im August 2010 soll die CIA den Aufenthaltsort bin Ladens in einem Vorort der pakistanischen Stadt Abbottabad ermittelt haben. Am 28. April 2011 fand eine Lagebesprechung mit hochrangigen Regierungsmitgliedern statt, in der über eine militärische Operation entschieden werden sollte. Weil unklar blieb, ob bin Laden wirklich an dem ermittelten Ort zu finden sei, rieten einige Regierungsmitglieder Obama von der Aktion ab. So war Vizepräsident Joe Biden dafür, auf bessere Informationen zu warten, wohl aus Furcht davor, ein Fehlschlag könne Obama und damit auch ihn eine zweite Amtszeit kosten. Verteidigungsminister Robert Gates erinnerte an die gescheiterte Operation Eagle Claw, in der 1980 die 52 Geiseln im Iran befreit werden sollten und die eine große Blamage für die USA war. Deshalb plädierte er dafür, bin Laden mit einer Drohne zu töten. Eine starke Befürworterin der Operation war Außenministerin Hillary Clinton, die entscheidend dazu beigetragen haben soll, dass Obama den Angriff auf das Anwesen bin Ladens für den 1. Mai anordnete. Er sollte durch Spezialeinheiten der Navy Seals durchgeführt werden. Über den genauen zeitlichen Ablauf der Operation gibt es verschiedene Angaben. Die im Folgenden angegebenen Uhrzeiten beruhen auf der Recherche von Günther Haller, der seine Informationen aus verschiedenen Publikationen zu den Vorgängen bezieht. Die Angaben von Michael Kauppert, die auf der Dokumentation Targeting Bin Laden des History Channels von 2011 beruhen, sind dagegen um circa 30 Minuten nach vorn verschoben. Am 1. Mai gegen 23:30 Uhr pakistanischer Zeit starteten auf dem Flughafen des afghanischen Dschalalabad zwei mit Tarnkappentechnik ausgestattete Black-Hawk-Hubschrauber mit 23 Elitesoldaten der Spezialeinheit DEVGRU, einem Dolmetscher und einem Hund an Bord. Begleitet wurden sie von zwei oder drei Chinook-Hubschraubern zur Versorgung mit Treibstoff und möglicher militärischer Unterstützung. Diese landeten nach etwa zwei Dritteln des Weges in der Wüste. Gegen 01:00 Uhr erreichten die beiden Black Hawks das Anwesen bin Ladens. Der ursprüngliche Plan war es, Soldaten sowohl auf dem Dach des Anwesens als auch auf dem Grundstück abzusetzen und das Gebäude von zwei Seiten zu stürmen. Er scheiterte jedoch, da einer der Hubschrauber in Turbulenzen geriet und abstürzte. Die Soldaten blieben dabei unverletzt. Der andere Hubschrauber landete danach vor dem Anwesen. Die Soldaten sprengten sich den Weg frei und stürmten in zwei Gruppen aufgeteilt das Anwesen. In einem Nebengebäude kam es zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem Abu Ahmad al-Kuwaiti, ein Kurier und persönlicher Vertrauter bin Ladens, sowie dessen Ehefrau getötet wurden. Im Hauptgebäude erschossen die amerikanischen Truppen zunächst einen Bruder al-Kuwaitis und einen Sohn bin Ladens, bevor sie im dritten Stock auf bin Laden trafen und ihn mit zwei Schüssen töteten. Bin Laden starb gegen 01:15 Uhr Ortszeit, was 16:15 Uhr Washingtoner Zeit entsprach. Zur Frage, ob er sich gewehrt hatte, gab es verschiedene Aussagen. Während es zunächst aus dem Pentagon hieß, bin Laden habe auf die Soldaten geschossen, wurde dies später korrigiert. Nun hieß es, er sei unbewaffnet gewesen, habe aber Widerstand geleistet. In seinem Buch No Easy Day stellte ein an der Operation beteiligter Soldat es jedoch so dar, dass bin Laden gezielt getötet wurde, ohne eine Chance gehabt zu haben, sich zu wehren. Nach der Tötung bin Ladens sprengten die Soldaten den abgestürzten Helikopter, um zu verhindern, dass die Technik in fremde Hände geriet, und kehrten zur Militärbasis in Afghanistan zurück. Bin Ladens Leiche wurde zu einem Schiff der US-Navy gebracht und im Meer bestattet. Im Situation Room Während in Pakistan die Operation Neptune Spear ablief, befand sich Barack Obama mit Mitgliedern seines Sicherheitsteams im sogenannten Small Conference Room des Situation Rooms, einem aus mehreren Räumen bestehenden Komplex im Westflügel des Weißen Hauses. Dort erhielten sie Informationen aus zwei verschiedenen Quellen. Admiral William McRaven berichtete aus Afghanistan, Leon Panetta, der Chef der CIA, aus der CIA-Zentrale in Langley. Die Personen im Situation Room sollen das Geschehen dabei sowohl über Audio- als auch Videoübertragungen verfolgt haben können. Was sie dabei genau zu sehen bekamen, ist nicht geklärt und Gegenstand von Spekulationen. So soll es laut Panetta kurz nach der Landung der Soldaten und noch vor der Erstürmung des Anwesens zu einem 20- bis 25-minütigen Ausfall der Übertragung gekommen sein. Ob dabei nur die Helmkamera eines Soldaten oder die Übertragung einer Draufsicht durch eine Drohne ausfiel, ist unklar. In einem Interview mit CBS äußerte Obama, dass sie nur die Vorgänge außerhalb des Anwesens beobachten konnten. Außerdem sollen sie Gewehrfeuer gehört und Blitze gesehen haben. Mit im Raum war der Fotograf Pete Souza. Laut eigener Aussage befand er sich in einer Ecke, in der er sich aufgrund der Vielzahl von Personen im engen Raum kaum bewegen konnte. Von dort aus habe er fast alle der etwa hundert Fotos geschossen, die in diesem Raum entstanden seien. Was die Personen im Raum zum Zeitpunkt der Aufnahme des Fotos Situation Room gerade sahen, ist nicht vollständig geklärt. Viele Medien gingen kurz nach der Veröffentlichung des Fotos davon aus, dass sie die Tötung bin Ladens beobachtet hatten. In einem auf NBC veröffentlichten Interview von Brian Williams mit unter anderem Obama, Clinton und Biden erklärten diese allerdings, dass sie den Absturz des Helikopters gesehen hatten. Dies stimmt zeitlich mit der Recherche von Günther Haller überein. Aufgrund seiner abweichenden Angaben zum zeitlichen Ablauf der Militäroperation geht Michael Kauppert davon aus, dass die Personen wahrscheinlich die Sprengung des abgestürzten Helikopters beobachtet hatten. Veröffentlichung Um 23:35 Uhr trat Obama vor die Kameras und informierte die Fernsehzuschauer über den Tod des al-Qaida-Chefs. Zeitgleich wurde der Anfang seiner Rede auf dem Twitter-Account des Präsidenten veröffentlicht. Am nächsten Tag, dem 2. Mai, um 13:00 Uhr Washingtoner Zeit wurde Situation Room auf dem Imagehoster Flickr unter dem Namen P050111PS-0210 hochgeladen. Noch am selben Tag wurde es gemäß den Angaben von Flickr durch eine andere Version ersetzt. Kurze Zeit später erschien es auch auf der Website des Weißen Hauses unter dem Titel Photo of the Day (deutsch: Foto des Tages). Die Bildunterschrift lautete an beiden Orten: Danach folgen eine Aufzählung der weiteren anwesenden Personen sowie der Hinweis, dass ein als geheim eingestuftes Dokument unkenntlich gemacht wurde. Da das Foto von einem Angestellten der Bundesregierung der USA in Ausübung seiner Pflicht erstellt wurde, ist es in den Vereinigten Staaten gemeinfrei. Gemäß den mitveröffentlichten EXIF-Daten (Metadaten des Bildes) wurde das Foto mit einer Canon EOS 5D Mark II aufgenommen. Bei der Aufnahme wurde kein Blitzlicht verwendet, die Brennweite betrug 35 Millimeter, die Belichtungsdauer eine Hundertstelsekunde und die Blendenzahl 3,5. Eine Bildbearbeitung mit Adobe Photoshop in der Version CS6 für Macintosh war vorgenommen worden. Die Bildauflösung beträgt 4.096 × 2.731 Pixel. Neben Situation Room wurden acht weitere Fotos zu den Vorgängen im Weißen Haus im Zusammenhang mit der Tötung Osama bin Ladens veröffentlicht. Sie zeigen Besprechungen Obamas mit seinem Team, die Vorbereitung der öffentlichen Bekanntgabe des Todes bin Ladens sowie die Bekanntgabe selbst. Gemäß der fortlaufenden Zählung in den Namen der Fotografien wurden die neun Aufnahmen aus über 800 Fotos ausgewählt, die Souza am 1. Mai geschossen hatte. Am 30. Dezember 2011 erschienen auf dem offiziellen Flickr-Fotostream des Weißen Hauses weitere Bilder vom 1. Mai. Die erste Aufnahme zeigt Obama bei der Vorbereitung seiner Ansprache zum Tod bin Ladens zusammen mit Joe Biden und dem Pressesprecher des Weißen Hauses Jay Carney. Das zweite Bild ist eine Collage von neun Fotos, die Obama und sein Team bei Besprechungen zeigen. Abgesehen von einem Ausschnitt des ersten Fotos der am 2. Mai veröffentlichten Serie hatte man alle Fotos der Collage vorher nicht veröffentlicht. Die US-Regierung verzichtete darauf, Fotos des toten bin Laden zu veröffentlichen. Begründet wurde dies damit, dass sie zu Propagandazwecken missbraucht werden könnten und damit eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellten. Diese Entscheidung wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. So forderte die ehemalige republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin die Veröffentlichung der Bilder zur Abschreckung anderer Feinde der USA. Andere, wie die Senatoren Susan Collins und Joe Lieberman, sahen in der Veröffentlichung die Möglichkeit, letzte Zweifel am Tod bin Ladens auszuräumen. Die Organisation Judicial Watch klagte sogar unter Berufung auf den Freedom of Information Act auf Freigabe der Fotos. Die Klage hatte keinen Erfolg, da auch die Gerichte der Meinung waren, dass die Nichtveröffentlichung im Interesse der nationalen Sicherheit sei. Im Zuge der Klage wurde bekannt, dass William McRaven, der Leiter der militärischen Operation, bereits kurz nach der Tötung bin Ladens alle Beteiligten dazu aufgefordert hatte, Fotos zu vernichten oder abzugeben. Beschreibung und Einzelanalyse Das Foto zeigt 13 identifizierbare Personen. Sechs von ihnen sitzen an einem Tisch, die sieben anderen stehen dahinter. Am Tisch sitzen von links nach rechts Vizepräsident Joe Biden, Präsident Barack Obama, Brigadier General Marshall B. Webb von der United States Air Force, der Stellvertretende Sicherheitsberater Denis McDonough, Außenministerin Hillary Clinton und Verteidigungsminister Robert Gates. Die stehenden Personen sind von links nach rechts der Vorsitzende des Generalstabs Admiral Michael Mullen, der Nationale Sicherheitsberater Thomas E. Donilon, der Stabschef des Weißen Hauses William M. Daley, der Nationale Sicherheitsberater des Vizepräsidenten Tony Blinken, die Direktorin für Terrorbekämpfung des Nationalen Sicherheitsrats Audrey Tomason, der Antiterror-Berater des Präsidenten John O. Brennan und der Direktor der nationalen Geheimdienste James R. Clapper. Neben diesen 13 Personen sind Ausschnitte von drei weiteren Personen erkennbar. Im Bild unten links sieht man einen Hinterkopf, rechts hinter Audrey Tomason eine Schulter (aufgrund der Kleidung und Größe einer vermutlich männlichen Person) und am rechten Bildrand erkennt man die verschränkten Arme und den unteren Teil der gelben Krawatte eines Mannes. Bei ihm soll es sich um einen Mitarbeiter der CIA handeln, der wesentlich zur Ergreifung bin Ladens beigetragen haben soll und wegen der Geheimhaltung seiner Identität in den Medien nur mit seinem Mittelnamen John benannt wurde. Bis auf Marshall B. Webb blicken alle Personen, deren Gesicht zu sehen ist, auf einen Punkt, der links vom Betrachter liegt. An der in ihrer Blickrichtung liegenden Wand befinden sich zwei Bildschirme sowie darüber mehrere Digitaluhren, die verschiedene Zonenzeiten anzeigen. In den rechteckigen Tisch aus poliertem Mahagoni ist eine intarsierte Goldleiste eingelassen. Dadurch wirkt er hochwertig. In seiner Mitte ist eine Kabelführungsleiste angebracht, an die technische Geräte angeschlossen werden können. Auf dem Tisch stehen vier baugleiche aufgeklappte Laptops von Hewlett-Packard an den Plätzen, die Joe Biden, seinem rechten Sitznachbarn (nicht im Bild), Hillary Clinton und Robert Gates zuzuordnen sind. Auf den beiden sichtbaren Displays ist nichts zu sehen. Ein weiterer Laptop, der von den anderen in seiner Form abweicht, steht vor Marshall B. Webb, der ihn zum Zeitpunkt der Aufnahme bedient. Zwischen den Laptops von Gates und Clinton stehen zwei unterschiedliche Pappbecher, von denen der größere das Siegel des US-Präsidenten zeigt. Auf Clintons Laptop liegen zwei Dokumente, von denen das obere unkenntlich gemacht wurde. An der rechten hinteren Ecke des Tisches liegen Aktenordner, darauf eine Tabellenkopie und eine aufgeklappte Brille. Wem diese Brille gehört, ist nicht eindeutig festzustellen, sowohl Denis McDonough als auch Marshall B. Webb kommen in Frage. Außerdem steht auf dem Tisch vor Obama eine Plastikflasche mit weißem Schraubverschluss. Zwischen Biden und Obama steht auf dem Boden eine Papiertasche, eine sogenannte , in der geheime Dokumente gesammelt und nach der Nutzung verbrannt werden. Zwar ist die Lichtquelle auf dem Foto nicht erkennbar, man kann aber anhand der Lichtsammlungen davon ausgehen, dass sie an der Decke angebracht ist. An der im Hintergrund zu sehenden geschlossenen Tür gibt es vermutlich eine weitere Lichtquelle, da Tony Blinken und Audrey Tomason von oben beleuchtet werden. Hillary Clinton – Die Emotionale Eine zentrale Rolle in der medialen und wissenschaftlichen Diskussion um das Foto spielt die Außenministerin Hillary Clinton: Sie befindet sich in dem Teil des Fotos mit der größten Schärfentiefe, wodurch jede Wimper, jede Falte und sogar die Spiegelung der Monitore in ihren Augen zu erkennen sind. Sie ist neben der nur klein im Hintergrund zu sehenden Audrey Tomason die einzige Frau im Raum und zeigt als einzige Person ihre Hände ganz. Diese führen zwei gegensätzliche Gesten aus. Die linke Hand, an der ein Armband und ihr Ehering zu sehen sind, hält einen Stift und liegt ruhig auf einem schwarzen Notizbuch, das selbst auf einem auf ihrem Schoß befindlichen Aktenordner liegt. Auf diesem Aktenordner steht „Top Secret Codeword NOFORN“ und „For use in White House Situation Room only“ (deutsch: „Nur für die Nutzung im Situation Room des Weißen Hauses bestimmt“). NOFORN steht dabei für „Not for release to foreign nationals“ (deutsch: „Keine Weitergabe an ausländische Staatsbürger“). Ihre rechte Hand hat Clinton zum Gesicht geführt und bedeckt damit ihren Mund. Die Geste spielt in Analysen und Kommentaren zu Clintons Erscheinung die größte Rolle. Dies zeigt sich exemplarisch am Titel des interdisziplinären Workshops Hillarys Hand. Zur politischen Ikonografie der Gegenwart, der im November 2011 an der Universität Hildesheim veranstaltet wurde und aus dessen Beiträgen 2014 ein gleichnamiger Sammelband hervorging. Die kurz nach der Veröffentlichung des Fotos erschienenen Medienkommentare beschrieben die Geste als entsetzt, schockiert, ängstlich, besorgt und angespannt. Clinton erklärte jedoch auf einer Pressekonferenz in Rom am 5. Mai, dass sie sich zwar nicht mehr genau an den Moment der Aufnahme erinnern könne, die Geste aber vermutlich in einem allergischen Niesen oder Husten begründet sei. Viele Medien bezweifelten diese Erklärung und vermuteten, Clinton wolle verhindern, dass ihre Emotionen als Schwäche ausgelegt würden. So kommentierte Miriam Meckel am 6. Mai bei Spiegel Online ironisch, es könne alles gewesen sein, „ein Schnupfen, ein Husten, ein Beinbruch, wenn notwendig, nur bloß kein Gefühl“. Die Befürchtungen scheinen nicht unbegründet gewesen zu sein. So warf ihr 2013 der rechtskonservative Radiomoderator und Aktivist Bryan Fischer vor, im Situation Room im Gegensatz zu den Männern panisch geworden zu sein (englisch: „freaked out“), und erklärte, dass er eine solche Person nicht als Präsidentin sehen wolle. Die Kommentare zu Clintons rechter Hand sind vielfältig. In einer am 7. Mai in der New York Times veröffentlichten Analyse bezeichnete Ken Johnson dieses Bilddetail als punctum, ein von dem französischen Philosophen Roland Barthes in seinem Essay Die helle Kammer eingeführter Begriff. Barthes beschreibt es als ein Element, das „wie ein Pfeil aus dem Zusammenhang hervorschießt, um mich zu durchbohren“. Michael Diers bezeichnet Clinton als „Pathosgestalt“ des Bildes. Ihre Geste, die er mit den Worten des Kunsthistorikers Aby Warburg ein „Superlativ der Gebärdensprache“ nennt, sei eine entscheidende Orientierungshilfe bei der Bewertung des Bildes. Ohne sie wäre das Foto deutlich weniger aussagekräftig. Auch Michael Schuster sieht in Clintons Erschrecken den innerbildlichen Beleg für die Tötung bin Ladens. In Boris Traues Augen erscheint Clinton durch ihre Geste so, als ob sie vor ihrer eigenen Härte, zu der sie durch die Taten anderer gezwungen wurde, zurückschrecke. Damit greife die Fotografie das „Erschrecken vor der eigenen Tat“ auf, eine klassische Pathosformel der Malerei. Verschiedene Analysen beschreiben auch politische Absichten, die hinter der Veröffentlichung der Fotografie mit dieser Geste Clintons stecken könnten. So sehen mehrere Kommentatoren die Möglichkeit, dass das Foto gezielt veröffentlicht wurde, um Clinton, die Obama als schwach und zögerlich bezeichnet und im Gegensatz zu ihm die Irak-Invasion gebilligt hatte, nun ihrerseits als schwach und schreckhaft darzustellen und ihr damit zu schaden. Andere sehen in der Geste eine Möglichkeit, Empathie und Menschlichkeit auszudrücken. So befreie sie aus Sicht von Ulrike Pilarczyk alle, die an der Entscheidung zur Tötung bin Ladens beteiligt waren, vom „Stigma der Erbarmungslosigkeit“. Susann Neuenfeldt sieht in der Geste eine Vermittlung zwischen dem US-amerikanischen Demokratieversprechen mit dem Recht auf einen fairen Prozess einerseits und der Auge-um-Auge-Politik im Antiterrorkampf der USA andererseits. Damit stehe sie ganz im Dienst des Demokratie-Mythos der Vereinigten Staaten. Barack Obama – Der Unauffällige Barack Obama ist als US-Präsident die ranghöchste Person im Raum. Diese hohe Stellung drückt die Fotografie jedoch nicht aus. So richten sich keine der möglichen Fokussierungen der Komposition auf ihn, wenngleich er durch die verstärkten Lichtreflexe in der Raumecke, die auf sein angestrengtes Gesicht fallen, eine gewisse Aura erhält. Er sitzt nicht auf dem Chefsessel, sondern in einer Ecke im Raum. Laut Pete Souza bot Marshall B. Webb Obama den Chefsessel an, als dieser den Raum betrat. Da Webb in diesem Moment über seinen Laptop mit William H. McRaven kommunizierte, soll Obama darauf verzichtet und sich stattdessen auf einen Klappstuhl gesetzt haben. Durch seine gebückte Haltung erscheint der körperlich große Obama deutlich kleiner, als er ist. Dadurch wirkt er für Aglaja Przyborski „auffällig unauffällig“. Andere Kommentatoren stellen heraus, dass ein unwissender Betrachter vermutlich nicht Obama für den Präsidenten auf dem Bild halten würde. Durch diese Erscheinung präsentiere sich Obama als bescheidener und uneitler Präsident, dem es um die Sache statt um sein eigenes Image gehe. Dies unterscheide ihn stark von vielen seiner Vorgänger, die sich häufig als Alphatiere darstellten. Stattdessen erscheine Obama auf dem Foto als Teamplayer, den die Meinungen seiner Berater interessierten und der bereit sei, Aufgaben nach Kompetenzen zu delegieren. Das Foto zeige damit insbesondere den Unterschied zwischen der öffentlichen Präsentation von Obama und seinem direkten Vorgänger George W. Bush. Während letzterer seine Männlichkeit häufig übermäßig betont habe, sei Obama in seiner Rhetorik und seinem Habitus deutlich gemäßigter und selbstreflektierender aufgetreten und habe damit eine intelligentere, weniger vereinfachende Form der öffentlichen Männlichkeit vertreten. Zur Mimik und Körperhaltung Obamas gibt es verschiedene Meinungen. Während Aglaja Przyborski sein Gesicht als beobachtend und neutral beschreibt, wirkt er auf andere sehr angespannt. So weist Ulrike Pilarczyk darauf hin, dass über seinem Kinn eine Querfalte zu sehen ist, die dort auf Fotos sonst fast nie sichtbar sei und auf eine starke Anspannung hindeute. Auf Martin Schuster wirkt Obama so, als ob er kurz davor sei, aufzuspringen und einzugreifen. Auch für Roswitha Breckner wirkt er im Vergleich zu den anderen Männern auf dem Bild deutlich angespannter und emotional involvierter. Durch seine kleinere und unschärfere Darstellung erscheine seine Betroffenheit jedoch zurückgesetzt, während die von Hillary Clinton betont würde. Statt seiner für ihn typischen fröhlichen und optimistischen Haltung zeige Obama sich in diesem Bild defensiv und offenbare durch die hochgezogenen Schultern Anzeichen von Furcht. Auf Boris Traue wirkt er „zurückgezogen in die Tiefe eines nachdenklichen Selbst“. Für Gerhard Schweppenhäuser strahlt Obamas Sitzhaltung dagegen neben Konzentriertheit auch eine lässige Souveränität aus. Sein Gesicht zeige durch die leicht heruntergezogenen Augenbrauen aber auch Anzeichen von Ernst und Skepsis. Auch Obamas Kleidung sticht heraus. Er trägt einen Sportblazer von Nike und darunter ein Poloshirt und ist damit sportlicher gekleidet als die anderen anwesenden Personen. Obama hatte am Morgen des 1. Mai auf dem Luftwaffenstützpunkt Andrews Golf gespielt und die dabei getragene Kleidung nach seiner Rückkehr ins Weiße Haus anbehalten. Gemäß einer Untersuchung von offiziellen Fotos des Präsidenten durch Ulrike Pilarczyk ist dieser Kleidungsstil für ihn eher ungewöhnlich. Auf den wenigen Aufnahmen, die ihn so zeigen, wird Obama entweder als volksnah inszeniert oder fernab von Repräsentation als jemand, der seinen Job macht. Deshalb entstehe durch die Kleidung ein assoziativer Bezug zu Volksnähe und Normalität. Zudem erscheint für Horst Bredekamp durch die Kleiderwahl Obamas das Ereignis als „eine von jedem Inszenierungsdruck freie, innere Notwendigkeit“. Susana Barreiro Pérez, Marcel Wolfgang Lemmes und Stephan Ueffing räumen ein, dass ein unbefangener Betrachter in der Kleidung Obamas und dem Kontrast zu dem neben ihm in Uniform sitzenden General Webb ein Symbol für den Machtverlust der Politik in Sicherheitsfragen gegenüber dem Militär sehen könnte. Auf der anderen Seite könne man sie als ein imagewahrendes Symbol für Obamas progressive politische Agenda und seine Dialog suchende Politik mit den Staaten des Mittleren Ostens verstehen. Die durch das Bild vordergründig vermittelte Überordnung der handelnden Militärs über die beobachtende Politik spiegelt sich in Umfragen, nach denen die Bevölkerung entgegen der Faktenlage dem Militär und nicht dem Präsidenten die ausschlaggebende Rolle bei der Operation zuschreibt. Von Gegnern Obamas wurde die Verschwörungstheorie aufgebracht, Obama sei gar nicht im Situation Room anwesend gewesen und erst später in das Foto eingefügt worden. Als Hinweise auf eine solche Manipulation galten ihnen unter anderem die geringe Kopfgröße Obamas, seine Freizeitkleidung und seine leicht von den anderen abweichende Blickrichtung. Auftrieb erhielten diese Spekulationen 2013 durch ein Interview von Reggie Love, einem engen Vertrauten Obamas, der behauptete, während des Angriffs mit Obama, dem Fotografen Souza sowie Obamas Mitarbeiter Marvin Nicholson 15 Partien Spades gespielt zu haben. Diese Aussagen wurden vom Weißen Haus nicht dementiert. Allerdings gab Love keine konkrete Zeit an. Dadurch ist es möglich, dass mit dem Kartenspiel nur die Zeit bis zur eindeutigen Identifizierung bin Ladens überbrückt wurde. Marshall B. Webb – Der Handelnde Brigadier General Marshall B. Webb war zur Zeit der Aufnahme stellvertretender Kommandierender General des United States Joint Special Operations Command. Er hebt sich auf verschiedene Weise von den restlichen Personen auf dem Foto ab. Er ist der Einzige, der eine vollständige Uniform trägt (Michael Mullen trägt nur ein Uniformhemd). Zudem folgt sein Blick nicht den Blicken der anderen Personen. Stattdessen blickt er auf den vor ihm stehenden Laptop, der sich von den anderen vier Laptops in der Form unterscheidet. Das Gerät ist weniger hoch, aber breiter. Des Weiteren ist er neben Hillary Clinton der Einzige, der seine Hand zeigt. Er bedient damit die Tastatur seines Laptops, wodurch er als einziger Handelnder und nicht nur Zuschauer ist. Durch diese handelnde Involviertheit und seinen konzentrierten, emotional distanzierten Blick bilde er einen Kontrast zu Hillary Clinton, die emotional, aber nicht handelnd am Geschehen beteiligt ist. Darüber hinaus wird Webb durch seine Positionierung auf dem Foto herausgehoben. Er sitzt an der Stirnseite des Tisches auf dem größten Stuhl. Außerdem liegt das geometrische Zentrum des Bildes exakt an der Stelle von Webbs linker Brust, auf der zahlreiche Ordensspangen zu sehen sind. Insgesamt ist er also viel auffälliger als Barack Obama. So nahmen unter einer von Ulrike Pilarczyk befragten Gruppe von Studenten die Männer der Gruppe meist Webb als Ersten wahr, während der Blick der Frauen zunächst meist auf die Geste von Hillary Clinton fiel. Diese herausgehobene Stellung Webbs wirft für Roswitha Breckner die Frage auf, wer in der Situation die Handelnden und wer die Zuschauer waren. Über die konkrete Handlung, die Webb während der Aufnahme vollführte, gibt es unterschiedliche Vermutungen. Ulrich Oevermann hält aufgrund des breiten Formats des Laptopbildschirms eine Übertragungsregie für möglich, während Horst Bredekamp vermutet, dass Webb Kontakt zum Ort der Mission hält. Für Susann Neuenfeldt erscheint Webb als Schaltstelle, die die Militäraktion per Tastendruck leitet. Webb selbst hat eine Kommentierung seiner Rolle während der Mission bzw. seiner Gedanken während der Videoübertragung gegenüber Journalisten mehrfach abgelehnt. Audrey Tomason – Die Unbekannte Besondere Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr neben Obama und Clinton auch Audrey Tomason, die die erkennbar jüngste Person auf dem Foto ist. Von herausragender Besonderheit war, dass ihr Name bis dahin auch den Medien unbekannt war. Dies war Thema unter anderem in der Washington Post und der Daily Mail. Die auf Flickr veröffentlichte Bildunterschrift beschrieb Tomason als Director for Counterterrorism, also als Direktorin der Terrorismusbekämpfung. Auf Anfrage der Website The Daily Beast gab das Pressebüro des Weißen Hauses bekannt, dass sie für den Nationalen Sicherheitsrat arbeitet. Der Sprecher des Sicherheitsrats Tommy Vietor bestätigte das. Vietor versuchte später Tomasons Bedeutung herunterzuspielen. So schrieb er in einer E-Mail an den Atlantic, dass mindestens ein halbes Dutzend weitere Personen mit einem ähnlichen Profil wie Tomason in unmittelbarer Umgebung anwesend gewesen sei, als das Foto geschossen wurde. Es gebe also nichts Geheimnisvolles an ihr. Die Berichte über ihre Person führten dazu, dass in der englischsprachigen Wikipedia ein Artikel über sie angelegt wurde, der inzwischen gelöscht ist. In der Bildanalyse spielt Tomason eine besondere Rolle. Zwar ist sie durch die vor ihr stehenden Männer teilweise verdeckt und nimmt von allen erkennbaren Personen die kleinste Fläche auf dem Foto ein. Allerdings steht sie im Fluchtpunkt, da die entlang der Tischkante und der Vertäfelung verlaufenden Fluchtlinien sich genau in ihrem Gesicht treffen. Dadurch werde sie hervorgehoben und sei somit genau wie Clinton sowohl versteckt als auch fokussiert. Die anderen Personen Im Vergleich zu Clinton, Obama, Webb und Tomason wurde in journalistischen und wissenschaftlichen Analysen den restlichen abgebildeten Personen deutlich weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Ihre Erscheinung wird meist als einheitlich beschrieben. Die Beschreibungen reichen von angespannt beobachtend und entschlossen abwartend über kontrolliert, versteinert und gefühllos bis zu kalt, unberührt und undurchdringlich. Durch ihre ablehnende Körperhaltung und die teilweise verschränkten Arme wirken sie auf Susann Neuenfeldt als direkte Nachbilder des Kalten Kriegs. Der Gesichtsausdruck von Denis McDonough, der hinter Clinton sitzt, weicht davon etwas ab. Durch seinen leicht geöffneten Mund wirke er sichtlich mitgenommen. Die das Foto links und rechts rahmenden Biden und Gates werden beide als gelassen beschrieben. Auffällig ist, dass die Männer ihre Hände vor der Kamera verborgen halten. Laut Martin Schuster lässt sich diese Geste so deuten, dass sie nichts mit der Operation zu tun haben und ihre Hände in Unschuld waschen. Michael Diers vermutet stattdessen, dass sie damit Anzeichen seelischer Erschütterung vermeiden wollten und sich in das für sie vorgesehene Rollenklischee einfügen. Unkenntlich gemachtes Dokument Auf der Tastatur des vor Hillary Clinton stehenden Laptops befinden sich zwei Dokumente. Das obere der beiden wurde durch Verpixelung unkenntlich gemacht, worauf auch die Bildunterschrift auf Flickr hinweist. Das darunter liegende Dokument ist allerdings deutlich erkennbar. Auf ihm ist neben dem Wappen der National Geospatial-Intelligence Agency eine SAR-Aufnahme des nordwestlichen Teils von bin Ladens Anwesen zu erkennen. Mithilfe des SAR-Abtastverfahrens ist es möglich, auch bei Nacht und durch Wolken Satellitenaufnahmen zu machen. Vor Joe Biden ist der kleine Ausschnitt eines Dokuments zu sehen, das dem Dokument vor Clinton ähnelt. Durch Verkleinerung des verpixelten Dokuments und einen Vergleich mit Satellitenaufnahmen von bin Ladens Anwesen konnte es mit hoher Wahrscheinlichkeit als eine Tageslichtaufnahme des Anwesens identifiziert werden. Laut eigenen Angaben hatte Souza die CIA darum gebeten, das Dokument von der Geheimhaltung auszunehmen, um das Foto unverändert veröffentlichen zu können. Dies sei aber von der CIA abgelehnt worden. In verschiedenen Analysen wurde das unkenntlich gemachte Dokument als ein Authentizität steigerndes Detail wahrgenommen. Es erwecke den Eindruck, der Fotograf hätte zufällig ein hochbrisantes Dokument fotografiert, und trage somit zum Schnappschusscharakter der Fotografie bei. Allerdings wird auch eine mögliche Inszenierung in Betracht gezogen. So erscheint es Ruth Ayaß als unwahrscheinlich, dass ein so geheimes Dokument offen auf dem Tisch liegt. Auch die leicht entschlüsselbare Verpixelung sieht sie als Hinweis auf eine Inszenierung. Ähnlich sieht es Ulrike Pilarczyk und führt daneben die Tatsache an, dass in anderen Medien Luftaufnahmen von bin Ladens Anwesen veröffentlicht wurden. Als Grund für eine mögliche Inszenierung sehen Ayaß und Pilarczyk die Schaffung eines Beleges dafür, dass die Fotografie wirklich mit der Mission gegen Osama bin Laden zusammenhängt. So seien sie die einzigen innerbildlichen Hinweise auf Osama bin Laden. Pilarczyk sieht darüber hinaus die Möglichkeit, dass die Aufnahmen zur Präsentation der Leistungsfähigkeit der amerikanischen Spionagesatelliten dienen und damit die enormen Ausgaben vor den amerikanischen Steuerzahlern rechtfertigen sollen. Gesamtanalyse Elliptisches Bild des Verbergens und der Abwesenheit Wegen der gemeinsamen Blickrichtung des Großteils der Personen und des daraus entstehenden Fluchtpunktes außerhalb des Bildes wird Situation Room in mehreren Analysen als elliptisches Bild beschrieben, das erst vollständig werde, wenn man es durch eigene Vorstellungen ergänze. Dadurch erzeuge das Foto Spannung. Jürgen Raab sieht Ähnlichkeiten mit dem sogenannten Reaction shot, einer bei Filmen üblichen Einstellung, der die Reaktion einer oder mehrerer Personen auf ein Ereignis zeigt, das außerhalb der Einstellung liegt. Während sich in diesen Einstellungen aber für gewöhnlich die Mimik und Gestik der einzelnen Personen gegenseitig bestätigten, seien in Situation Room ganz unterschiedliche Reaktionen auf das Gesehene zu erkennen. Neben dem Fluchtpunkt außerhalb des Bildes sieht Ulrike Pilarczyk einige weitere Elemente, die den Akt des Verbergens zu einem Thema der Fotografie machen. So zeigen die sichtbaren Laptopdisplays nichts an. Ein großer Teil der Personen verbirgt die Hände oder deren Sichtbarkeit wird durch die Kameraeinstellung verhindert. Diese Kameraeinstellung sorgt auch dafür, dass die Identität von drei sichtbaren Personen nicht festgestellt werden kann. Clintons rechte Hand verbirgt ihren Mund. Das Präsidentensiegel an der Wand wird durch Thomas E. Donilon verdeckt. Zudem stehen das verpixelte Dokument und die burn bag zwischen Biden und Obama im Zusammenhang mit diesem Thema. Ruth Ayaß bezeichnet das Foto als „Bild der Abwesenheit“. Neben den bereits von Pilarczyk genannten Elementen führen sie zwei weitere Dinge zu dieser Einschätzung. Zum einen zeichne sich die Fotografie durch ihre weitgehende Emotionslosigkeit aus. Zum anderen fehle auf ihr die Darstellung der Tötung bin Ladens und der vier anderen Personen sowie die Darstellung der Toten selbst. Propagandabild Der Soziologe Boris Traue klassifiziert Situation Room als Propaganda im Sinne ihrer Definition durch Talcott Parsons als nicht-rationale Beeinflussung der Bevölkerung. Einige mögliche Ziele dieser Beeinflussung wurden bereits in den Einzelanalysen von Barack Obama und Hillary Clinton dargelegt. Als ein weiteres mögliches Ziel führen verschiedene Analysen die moralische und demokratische Legitimation der völkerrechtlich und rechtsstaatlich umstrittenen Tötung bin Ladens an. So erscheinen für Ulrike Pilarczyk die abgebildeten Personen als „normale“ Leute ohne Allüren, die durch Kaffeebecher und Plastikflasche repräsentierte, normale Bedürfnisse haben. Zudem sei ihre Zusammensetzung aus Männern und Frauen sowie eines Vertreters einer Minderheit die politisch korrekte Vorstellung vom amerikanischen Volk. Auf dem Bild erscheine also der politische Souverän, das Volk, zusammengerückt in der Stunde der Not und warte auf den Vollzug der eigenen Entscheidung, wodurch die militärische Mission demokratisch legitimiert werden solle. Für Roswitha Breckner versuche das Foto darüber hinaus durch Gesten des Skrupels und der Zurückhaltung diese Mission moralisch als legitim erscheinen zu lassen. Auch für Jürgen Raab legitimiert die Fotografie diese und zukünftige irrationale Gewalthandlungen und zeige, dass die Gemeinschaft trotz der unterschiedlichen Reaktionen auf die Gewalt nicht auseinanderbreche. Damit repräsentiere sie den Spruch E pluribus unum (deutsch etwa: Aus vielen eines), der Teil des Präsidentensiegels ist, das auf dem Foto teilweise zu sehen ist. Für Ulrich Oevermann wird mit dem Foto die nach Genugtuung dürstende Rache der USA als ein berechtigtes Interesse der Völkergemeinschaft dargestellt. Ronan McKinney sieht in Situation Room ein Gegenbild zu den Bildern der Anschläge vom 11. September 2001. Diese Anschläge hatten die Vorstellung der USA als totale Weltmacht als Illusion entlarvt. Das Foto versuche, diese Vorstellung wiederherzustellen und dabei auch die Erinnerung der Öffentlichkeit an die Anschläge zu verändern. Waren die Ereignisse bisher als traumatisch in Erinnerung, erlaube das Foto, sie nun als eine zwar tragische, aber auch beruhigende Geschichte umzudeuten, in der das „Monster“ am Ende besiegt wurde. Liam Kennedy weist darauf hin, dass Obama selbst die Verbindung zwischen Situation Room und den Bildern des 11. Septembers 2001 in seiner Bekanntgabe der Tötung bin Ladens hergestellt hatte. Darin wies Obama unter anderem darauf hin, dass die Amerikaner sich den Kampf nicht ausgesucht hätten, beschwor eine neue nationale Einheit herauf und stellte klar, dass durch die Tötung Gerechtigkeit hergestellt worden sei. Damit habe er zum einen den Mythos der „Erlösung durch Gewalt“ (englisch: „redemption through violence“) bedient, zum anderen einen neuen Amerikanischen Exzeptionalismus befördert. In Zusammenhang mit dieser Rede verspreche das Foto das teilweise Ende der von den Anschlägen des 11. Septembers ausgegangenen Gewalt. In Ermangelung von Bildern des getöteten bin Ladens ist Situation Room zum Symbol für die Tötung des al-Qaida-Führers geworden. Verschiedene Analysen behandeln die Frage, ob und wie das Foto diese Tötung belegt. Ulrike Pilarczyk sieht die Beweiskraft des Fotos als prekär an. So gebe es im Bild weder einen Hinweis darauf, wie dramatisch die abgebildete Situation wirklich war, noch dass das Foto überhaupt am 1. Mai 2011 aufgenommen worden sei. Andere Kommentatoren weisen darauf hin, dass der Beleg der Ereignisse im Foto nur indirekt erfolge. Statt das Ereignis selbst zu bezeugen, sehe der Betrachter nur die Zeugenschaft anderer, womit ihm eine vermittelte Zeugenschaft zukomme. Susana Barreiro Pérez, Marcel Wolfgang Lemmes und Stephan Ueffing sehen das Foto dadurch als Beispiel für das vom Anthropologen Allen Feldman eingeführte Konzept des actuarial gaze (deutsch etwa: „Blick des Risikoexperten“, abgeleitet von Aktuar). Dieses Konzept beschreibt eine kulturpolitische Agenda, die unter anderem das Wissen und die Prognosen von Experten hervorhebt und gleichzeitig die Erfahrungen des Einzelnen marginalisiert. So zeige das Foto deren typisches Merkmal, dass Rezipienten die Bewertung von Ereignissen nicht selber vornehmen, sondern an Institutionen, in diesem Fall die US-Regierung, abgeben. Eine propagandistische Intention des Fotos wirft auch die Frage einer möglichen Inszenierung auf. Neben dem bereits angesprochenen verpixelten Dokument sehen sowohl Ulrich Oevermann als auch Susana Barreiro Pérez, Marcel Wolfgang Lemmes und Stephan Ueffing weitere Anzeichen für eine solche Inszenierung. So sei die helle Beleuchtung des Raums für die Verfolgung einer Übertragung auf einem Bildschirm eher hinderlich. Außerdem sei die Anordnung der Personen so günstig, dass fast jede Person gut zu erkennen sei, was eher an gestellte Gruppenfotos erinnere. Oevermann weist im Besonderen darauf hin, dass die vorne rechts sitzenden Gates und Clinton V-förmig vom Tisch abgerückt sind. Dies scheint für eine bessere Sicht der hinteren Personen auf die Bildschirme nicht vonnöten zu sein, ermöglicht es aber, die Gesichter von Gates, Clinton und McDonough zu erkennen. Diese beiden Punkte sind für Oevermann jedoch kaum politisch motiviert, sondern seien eher auf pragmatische Bedingungen für eine spätere Veröffentlichung des Fotos zurückzuführen. Im Gegensatz dazu spreche aber auch Clintons Geste, die sich im Bereich höchster Schärfe des Bildes befindet, für eine mögliche Inszenierung. Es sei nicht auszuschließen, dass es sich dabei um eine gespielte Reaktion handle. Gegen eine Inszenierung des Fotos spreche neben der Krisenhaftigkeit der Situation auch die zu erkennende starke emotionale Beteiligung der meisten Anwesenden, die sonst nur durch eine sehr gute schauspielerische Leistung möglich sei. Kriegsfotografie In Kriegsfotografien war es lange Zeit üblich, kämpfende, leidende oder sterbende Menschen abzubilden. Beispiele dafür sind The Falling Soldier von Robert Capa aus dem Spanischen Bürgerkrieg und The Terror of War von Nick Út aus dem Vietnamkrieg. Seit dem Irakkrieg ist die Berichterstattung über Kriege der Vereinigten Staaten aber vor allem von sogenannten Embedded Reporting geprägt, bei dem Fotografen und Journalisten direkt einer Kampfeinheit zugewiesen werden und von deren Einsätzen berichten. Dies habe auch zu einer veränderten Darstellung der Opfer in Kriegsfotografien geführt. So werde der Philosophin Judith Butler zufolge eingeschränkt, „was und wie wir sehen“ und festgelegt, „was als Realität zu gelten hat: was in welchem Umfang überhaupt als existent wahrgenommen wird.“ Da zum einen Pete Souza Teil der auf Situation Room dargestellten Gruppe sei und zum anderen auf dem Foto auch die Opfer des Krieges fehlten, sieht Ruth Ayaß das Foto als ein Beispiel für diese neue Strategie der Kriegsberichterstattung an. Bei solchen Fotos, die Ayaß als „Kriegsfotografien ohne Krieg“ bezeichnet, werde durch die Abwesenheit von Leid versucht, das Aufkommen von Mitleid mit den Opfern zu verhindern. Auf der anderen Seite weist Susann Neuenfeldt darauf hin, dass Situation Room mit dem Feldherrenportrait ein klassisches Genre der westlichen Kunst aufgreift. Auf diesen Bildern wird der Feldherr entweder direkt in der Schlacht während des Kampfes gezeigt, wie Alexander der Große auf dem sogenannten Alexandermosaik, oder bei der Betrachtung der Schlacht von dem Pferd aus oder auf einem Hügel, wie Napoleon Bonaparte in den Gemälden, die die Napoleonischen Kriege zeigen. Durch die Entwicklungen der Kriegstechnik im 20. und 21. Jahrhundert entfernten sich die Feldherren immer weiter von der Schlacht, bis sie von ihr vollkommen isoliert wurden. Dies schlug sich auch in den Abbildungen des Krieges nieder, aus der die Feldherren meist verschwanden und beispielsweise durch kämpfende Soldaten oder tote Feinde ersetzt wurden. In Situation Room kehren gemäß Neuenfeldt die Feldherren nun wieder auf die Kriegsfotografie zurück, „um sich mit eigenen Augen das tödliche Finale ihrer Kriegspolitik anzusehen.“ Das Foto unterscheide sich allerdings von klassischen Kriegsfotografien und erinnere vielmehr an eine Hinrichtungsszene, bei der die Tötung von den Zuschauern im Zuschauerraum beobachtet werde. Da die Situation dem Alltag von Drohnenpiloten ähnelt, die von daheim aus tödliche Einsätze auf anderen Kontinenten durchführen, sieht Hans-Arthur Marsiske in dem Foto ein Symbol für eine deutlich veränderte Kriegsführung, bei der Militärroboter eine bedeutende Rolle spielen. Gleichstellung von Frauen und Afroamerikanern In einem drei Tage nach dem Bild auf der Website von CNN veröffentlichten Artikel lässt der Journalist John Blake verschiedene Kommentatoren zu Wort kommen und kommt zu dem Schluss, das Bild zeige, wie sich die Einstellung der USA zu Frauen und Afroamerikanern ändern würde. So seien gemäß der Bloggerin Cheryl Contee schwarze Männer in der Geschichte der USA bisher oft als Bedrohung für die Sicherheit dargestellt worden. Das Bild zeige mit Obama nun einen Schwarzen als „obersten Beschützer“ (englisch „protector in chief“) und sei damit ein guter Schritt zur Veränderung der Meinung der Nation über schwarze Männer. Für den Politikwissenschaftler Saladin Ambar zeige das Foto darüber hinaus eine veränderte Rolle von Frauen. Dazu vergleicht er das Foto mit Aufnahmen von der US-Regierung um John F. Kennedy während der Kubakrise (siehe beispielsweise das Foto von Cecil Stoughton). Auf ihnen seien keine Frauen zu sehen und auch in den Filmen zu diesem Ereignis spielten Frauen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Im Gegensatz dazu präsentiere Situation Room mit Clinton und Tomason zwei Frauen im Zentrum der Macht und zeige damit, wie weit Frauen inzwischen gekommen seien. Auch für die Soziologin Lori Brown ist die Anwesenheit von zwei Frauen auf dem Foto bemerkenswert. Clintons von vielen als emotional interpretierte Geste schränke jedoch den positiven Einfluss des Fotos auf das Frauenbild ein. Justin S. Vaughn und Stacy Michaelson sehen die geschlechterspezifischen Aussagen des Fotos deutlich anders. Das Foto verstärke die Männlichkeit Obamas, während es die Weiblichkeit Clintons betone. Damit unterstreiche es die patriarchalische Natur der US-Regierung. Ulrike Pilarczyk sieht die Stilisierung Clintons und Tomasons zu Ikonen der veränderten Geschlechterverhältnisse kritisch. Sie weist darauf hin, dass bereits unter Obamas Vorgängern Clinton und Bush die beiden Frauen Madeleine Albright und Condoleezza Rice als Außenministerinnen tätig waren. Megan D. McFarlane wendet jedoch ein, dass frühere weibliche Kabinettsmitglieder nicht auf den ikonischen Bildern der jeweiligen Präsidentschaft abgebildet worden seien. Auch Martin Schuster sieht die Aussage des Fotos zu Fragen der Gleichberechtigung deutlich kritischer als der CNN-Artikel. Aus seiner Sicht zeige es, dass es für Frauen sowie Schwarze und Angehörige anderer Minderheiten immer noch sehr schwer sei, eine hohe Stellung in der Präsidialverwaltung zu erhalten. Die anderen Aufnahmen des 1. Mai 2011 Situation Room wurde am 2. Mai in einer Serie mit weiteren acht Bildern vom 1. Mai auf Flickr veröffentlicht. Diese Serie, die chronologisch geordnet ist, lässt sich laut Ulrike Pilarczyk in zwei Gruppen aufteilen, die sich zeitlich, räumlich und farblich unterscheiden. Zu der ersten Gruppe gehören die ersten vier Bilder, darunter an zweiter Stelle Situation Room. Sie entstanden alle im Situation-Room-Komplex des Weißen Hauses, wobei die anderen drei im großen Situation Room aufgenommen wurden. Sie sind dunkler und es dominieren Blautöne. Die Fotos der zweiten Gruppe, die durch das einzige Foto im Hochformat eingeleitet wird, sind deutlich heller und wärmer. Das fünfte und sechste Foto wurden im Oval Office, das siebente und achte Foto im East Room und das letzte Foto im Green Room aufgenommen. Auch die Kleidung Obamas unterscheidet sich in den beiden Gruppen. In der ersten Gruppe trägt er den Sportblazer von Nike, in der zweiten Gruppe ist er mit Schlips und Anzug zu sehen. Eingeleitet wird die Serie durch ein Bild, das Obama mit dem Nationalen Sicherheitsberater Thomas E. Donilon zeigt. Er sitzt auf dem Chefsessel an der Stirnseite des Tisches unterhalb des Präsidentensiegels. Dabei erscheine er als entschiedener Präsident, der mit dem Finger zeige, wo es langgeht, und über die Kamera in die Zukunft blicke. Diese Interpretation wird durch die Bildunterschrift unterstützt, in der es heißt: „President Barack Obama makes a point […]“ (deutsch etwa: „Präsident Barack Obama bringt einen Punkt an“). Die Darstellung Obamas weiche damit deutlich von der in Situation Room ab, wo er als aufnehmender und nicht als anweisender Präsident zu sehen sei. Laut Ulrike Pilarczyk ergebe sich aus der Logik der Serie der Eindruck, dass zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung für den Einsatz gefallen sei. Auch das dritte Bild der Serie wird von Barack Obama dominiert. Er ist zwar nur von hinten zu sehen, nimmt aber durch den etwas erhöhten Standpunkt des Fotografen und die Verwendung eines Weitwinkelobjektivs etwa ein Viertel des Bildes ein. Die anderen Personen, die im Vergleich zu Obama verschwindend klein wirken, zollen aus Sicht von Roswitha Breckner trotz vereinzelter skeptischer Blicke dem Präsidenten rituell Anerkennung. Damit erscheine Obama wie im ersten Bild als Herr der Lage und deutlich als derjenige, der das Sagen habe. Ulrike Pilarczyk weist darauf hin, dass die Obama-Darstellung Assoziationen an Batman oder Superman wecke. Das vierte Bild der Serie zeigt Obama im Chefsessel sitzend im Halbprofil. Wie Clinton im Situation Room hat er die Hand am Mund. Laut Breckner erweckt Obamas Geste den Eindruck kontrollierter Emotionen und lasse sich mit Beherrschtheit in einer angespannten Situation oder konzentriertem Nachdenken in Verbindung bringen. Im Gegensatz dazu wurde Clintons Geste als unmittelbar oder reflexartig interpretiert. Darüber hinaus inszeniere die breite Rückenlehne des Sessels Macht und Stärke des Präsidenten. Die Bilder fünf und sechs zeigen Obama im Oval Office, wie er telefoniert und seine Ansprache zum Tod bin Ladens vorbereitet. Während das achte Bild der Serie Obama bei dieser Ansprache zeigt, sieht man auf dem vorhergehenden Bild einige Regierungsmitglieder, wie sie die Rede Obamas verfolgen. Im Vordergrund sitzt neben den bereits im Situation Room anwesenden Biden, Clapper, Clinton, Donilon und Mullen auch der CIA-Chef Panetta. Im Hintergrund stehen Blinken und Daley. Obama wurde bei seiner Ansprache von links unten fotografiert, sodass er zentral und leicht erhöht im Bild erscheint. Im Hintergrund sind die Gemälde seiner demokratischen Vorgänger Jimmy Carter und Bill Clinton zu sehen, die laut Pilarczyk aber von der Lichtgestalt Obamas überstrahlt werden, der sich damit für die Ruhmeshalle der amerikanischen Geschichte empfehle. Im Gegensatz dazu sei das Bild der Regierungsmitglieder fotografisch schwach und die Dargestellten wirkten darauf erschöpft und ohne ihren Präsidenten verloren. Auf dem neunten und letzten Foto der Serie schüttelt Obama im Beisein von Clinton und Panetta im Green Room Mullen die Hand. Für Pilarczyk sollte durch die Auswahl der Bilder in der Fotoserie dem Eindruck eines schwachen Präsidenten entgegengewirkt werden, den das Foto Situation Room erwecken könne. Der Präsident erscheine in der Serie als entschieden und dominant und vermittle damit, anders als im Situation Room, nicht den Eindruck eines Teamspielers. Vor allem das Zusammenspiel des siebenten und achten Fotos zeige die für Souza typische Strategie, Obamas Image auch auf Kosten seiner Konkurrenz aufzubauen. Vor allem Clinton sei im Vergleich zum Präsidenten nicht immer vorteilhaft in Szene gesetzt. Am 30. Dezember 2011 wurden die Bilder vom 1. Mai um zwei weitere ergänzt. Das erste zeigt Obama zusammen mit Biden und seinem Pressesprecher Jay Carney im White House Presidential Secretary Office. Auf einem Fernsehbildschirm ist Osama bin Laden zu sehen. Somit gebe das Bild dem bisher nicht zu sehenden getöteten Gegner ein Gesicht, ohne ihn als Opfer darzustellen. Darüber hinaus zeige das Bild den Präsidenten wieder als Teamspieler, der nicht, wie im Bild sechs der Serie suggeriert, seine Rede selbst verfasst, sie aber auch nicht nur abliest. Damit wirke es ausgleichend zwischen der zurückhaltenden Darstellung des Präsidenten in Situation Room und den restlichen, stark auf den Präsidenten fokussierten Bildern der Serie. Diesen Eindruck vermittle laut Pilarczyk auch das zweite Bild, eine aus neun Einzelbildern bestehende Collage. Laut dem auf Flickr veröffentlichten Bildkommentar solle mit ihr den Leuten ein besseres Verständnis davon vermittelt werden, wie Sitzungen von historischer Bedeutung mit dem Präsidenten abliefen. Zentraler Bestandteil ist dabei ein Ausschnitt des ersten Bildes der Serie, der Obama und einen Teil des Präsidentensiegels zeigt. Die anderen acht Bilder, die zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren, vermittelten den Eindruck, die Entscheidung über die Militäraktion sei ein Ergebnis intensiver Beratungen gewesen, und relativierten damit das von der ursprünglichen Serie entworfene Superman-Image Obamas. Hillary Clinton wirke dabei im Gegensatz zu ihrem eigentlichen Anteil an der Mission zusammengesunken. Vergleich mit anderen Bildern John F. Kennedy und das Executive Committee Susana Barreiro Pérez, Marcel Wolfgang Lemmes und Stephan Ueffing vergleichen Situation Room mit einem von Cecil Stoughton geschossenen Foto aus dem Jahr 1962. Es zeigt den US-Präsidenten John F. Kennedy zusammen mit dem im Zuge der Kubakrise gegründeten Executive Committee bei einer Besprechung im Cabinet Room des Weißen Hauses einen Tag nach dem Ende der Kubakrise. Auf den ersten Blick seien sich die beiden Fotos sehr ähnlich. So ist wie in Situation Room auch im Bild von 1962 eine einzelne herausgehobene Geste zu sehen. Der vorne rechts sitzende Maxwell D. Taylor drückt seine linke Hand gegen die Stirn und verdeckt damit sein Gesicht fast vollständig. Diese Geste, die Nachdenklichkeit und Konzentration ausdrücke, wirke jedoch anders als die von Clinton auf den Betrachter distanzierend. Diese Distanz zwischen dem Betrachter und den dargestellten Personen werde durch die mit dem Rücken zur Kamera platzierten Personen unterstützt. Außerdem werde der Betrachter nicht an den Tisch eingeladen, wie dies in Situation Room durch den abgeschnittenen Tisch der Fall sei. Zudem blickten die Personen alle in unterschiedliche Richtungen, wodurch ein Fokus wie in Situation Room fehle. Einen solchen Fokus sehen die Autoren als entscheidenden Faktor für die Ikonisierung eines Bildes an. Dafür führen sie drei weitere Fotos als Beispiele an: The Terror of War, das die neunjährige Phan Thị Kim Phúc nach einem Napalm-Angriff zeigt, Sprung in die Freiheit, auf dem die Flucht des Polizisten Conrad Schumann von Ost- nach West-Berlin zu sehen ist, sowie die Fotografie Hanns Martin Schleyers aus seiner Geiselhaft bei der RAF. Im Unterschied zu diesen Bildern sei der Fokus in Situation Room aber kein Element des Bildes selbst, sondern werde durch die Blickrichtung der Protagonisten erzeugt. Ronald Reagan während der Bombardierung von Tripolis und Bengasi Der Soziologe Boris Traue vergleicht das Foto Situation Room mit einem Foto aus dem Jahr 1986, das den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan bei einer noch im alten Situation Room stattfindenden Lagebesprechung mit dem Nationalen Sicherheitsrat zur Bombardierung der libyschen Städte Tripolis und Bengasi im Zuge der Operation El Dorado Canyon zeigt. Darauf sitzt Reagan mit vier anderen Männern an einem Tisch und beobachtet einen Militärangehörigen, der auf einen Bildschirm mit Luftbildaufnahmen zeigt. Dieses Foto vermittle wie die Fotografie vom 1. Mai 2011 den Eindruck, dass der Präsident für den Augenblick seine Macht an das technologische Kontrollzentrum und dessen Bediener abgegeben habe. Solche Darstellungen seien charakteristisch für die Lagebesprechungsfotografie des 20. Jahrhunderts. Wie Hillary Clinton in Situation Room hat auch Reagan auf dem Foto eine Hand vor dem Mund. Im Gegensatz zu Clinton sei Reagans Geste jedoch unmissverständlich als ein Ausdruck des Nachdenkens über die Präsentation des Militärs zu deuten. George W. Bush und seine „Mission-Accomplished“-Rede Die Soziologin Ruth Ayaß vergleicht Situation Room mit einem Foto von Obamas Vorgänger George W. Bush, das exakt acht Jahre zuvor am 1. Mai 2003 entstanden ist. Es zeigt Bush auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln vor der Küste San Diegos bei der Verkündung des Endes des Irakkriegs. Somit seien die beiden Fotos eng verwandt, da beide den US-Präsidenten im Zusammenhang mit einer militärischen Aktion nach dem 11. September 2001 zeigen. Allerdings wichen die Fotos in wesentlichen Punkten voneinander ab. Bush ist mit einem Lächeln sowie einem hochgestreckten Daumen zu sehen und signalisiere damit positive Gefühle. Zudem ist er umringt von einer jubelnden Menge. Solche Gefühlsregungen fehlten in Situation Room, die einzige Geste diene eher dazu, negative Gefühle zu verdecken als sie zu zeigen. Bushs Auftritt sei sorgfältig inszeniert gewesen und zeige Anleihen an den Film Top Gun. Der Flugzeugträger musste so positioniert werden, dass das Licht für Fotografien günstig fiel und im Hintergrund nicht die Küste von San Diego zu sehen war. Bush, der einen Fluganzug trug, landete mit einem Jet auf dem Flugzeugträger, obwohl durch die Nähe zur Küste eine Landung mit einem Hubschrauber möglich gewesen wäre. Im Gegensatz dazu wirke Situation Room durch die offenen Hemdkragen, die Pappbecher und das Gedränge eher geschäftsmäßig. Auf dem Foto von Bush wurde darauf geachtet, dass relevante Symbole und Embleme zu sehen sind. So ist das Siegel des Präsidenten auf dem Rednerpult komplett im Bild und das extra an der Kommandobrücke angebrachte Banner mit dem Text „Mission Accomplished“ (deutsch: „Mission vollendet“) ist gut zu lesen. In Situation Room ist das Präsidentensiegel jedoch verdeckt. Das umstrittene „Mission-Accomplished“-Banner zeige den erfolgreichen Abschluss eines Auftrags an, während in Situation Room der Vollzug einer Handlung mit ungewissem Ausgang zu sehen sei. Zu guter Letzt weiche die Positionierung der Präsidenten in den Fotografien deutlich voneinander ab. Während das Foto ganz auf Bush zugeschnitten sei und ihn als Hauptperson an zentraler Stelle zeige, sitze Obama am Rand inmitten eines Kollektivs, in dem er zu verschwinden scheine. Damit wirke die Fotografie unpathetisch und unheroisch. Dies hätte sich laut Ayaß in der Rhetorik des Präsidenten bei der Verkündung von bin Ladens Tod fortgesetzt, die sachlich und berichterstattend gewesen sei. Dies unterscheide sie beispielsweise deutlich von der Rede Paul Bremers nach der Festnahme Saddam Husseins am 14. Dezember 2003, die mit den Worten „Ladies and gentlemen, we got him.“ (deutsch: „Meine Damen und Herren, wir haben ihn.“) begann. Donald Trump im Situation Room In der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 2019 führte die US-Spezialeinheit Delta Force im syrischen Ort Barischa die Operation Kayla Mueller aus, bei der Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der dschihadistisch-salafistischen Terrororganisation Islamischer Staat, ums Leben kam. Die US-Regierung veröffentlichte danach zwei Fotos aus dem Situation Room des Weißen Hauses, die laut Bildunterschrift Obamas Nachfolger Donald Trump zeigen, wie er den Verlauf der Militäroperation beobachtet. Die Fotos waren von Shealah Craighead, Souzas Nachfolgerin als Cheffotografin des Weißen Hauses, aufgenommen worden. Auf beiden Bildern sitzt Trump mit anderen Männern an einem Tisch; alle blicken Richtung Kamera. Auf einem der Bilder sieht man neben Trump Vizepräsident Mike Pence, Verteidigungsminister Mark Esper, den Nationalen Sicherheitsberater Robert C. O’Brien, den Vorsitzenden des Generalstabs Mark A. Milley sowie den Brigadier General Marcus Evans. Das zweite Foto entspricht weitgehend einem Ausschnitt des ersten, wobei Evans fehlt. Kurz nach der Veröffentlichung erschienen verschiedene Medienkommentare, die die Fotos von Trump mit Souzas Foto aus dem Situation Room verglichen. Während Souzas Foto so wie ein authentischer Filmstill wirke und die Abgebildeten den Eindruck machten, sie seien sich der Anwesenheit des Fotografen gar nicht bewusst gewesen, erschienen Craigheads Fotos gestellt. Sie wirkten so, als seien die Männer extra an diesen Tisch gesetzt und aufgefordert worden, ernst in die Kamera zu blicken. Dazu trage auch die Kleidung bei, die anderes als bei Situation Room durch die Anzüge, Krawatten und Uniformen sehr formell sei. Daneben unterstrichen die Kommentare die Positionierung von Trump in der Mitte der Fotos, was sie, ähnlich wie bei Bushs „Mission-Accomplished“-Foto, als Symbol dafür interpretierten, wie sich Trumps Auftreten und Politikstil von dem Obamas unterschied. Auch das Fehlen von Frauen und Mitgliedern von Minderheiten wurde hervorgehoben. Gemälde Rembrandts Der Kunsthistoriker Michael Diers sieht in der Komposition von Souzas Fotografie aus dem Situation Room Ähnlichkeiten zu Gruppenbildern der holländischen Barockmalerei. Im Besonderen vergleicht er es mit Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp aus dem Jahr 1632, das aus seiner Sicht nicht nur im Aufbau, sondern auch im Sujet der Fotografie ähnelt. Das Gemälde zeigt den Arzt Nicolaes Tulp und sieben Zuschauer bei einer Anatomie-Vorführung an einer Leiche. Zu den Ähnlichkeiten der beiden Bilder zählt Diers den gewählten Bildausschnitt sowie den flächig und neutral gestalteten Bildhintergrund. In beiden Bildern treten die Personen in einer Bildhälfte geballt auf. Während es bei Rembrandt die linke sei, sei es in Situation Room die rechte Bildhälfte. In beiden Bildern sei in der für den Betrachter als Einstieg ins Bild ausgesparten Mitte eine Tischfläche zu sehen. Wie in Situation Room mit Clintons rechter Hand gebe es bei Rembrandt eine einzige durch Tulp vollführte speziell ausgezeichnete Handbewegung. Wie die Dokumente vor Hillary Clinton seien auch im Gemälde Papiere demonstrativ dargestellt. Dabei handele es sich um eine Namensliste, die ursprünglich eine anatomische Zeichnung gewesen sei. Des Weiteren seien in beiden Bildern die gut erkennbaren und in helles Licht getauchten Gesichter mehrerer eng beieinander stehender Personen zu sehen. Auffällig sei, dass im Gemälde keiner den Blick auf die Leiche richte. Stattdessen blickten sie auf den Betrachter oder auf das unten rechts zu sehende Lehrbuch. Deshalb kann das Buch für Diers als Analogon zu den nicht sichtbaren Videobildschirmen im Situation Room angesehen werden. Den entscheidenden Unterschied zwischen der Fotografie und Rembrandts Gemälde sieht Diers in den Objekten auf den Tischen. So erschienen die Laptops und Pappbecher zwar durch die mangelnde Aufmerksamkeit als „tote“ Gegenstände, ersetzten jedoch nicht den Leichnam bei Rembrandt. Boris Traue sieht Ähnlichkeiten zwischen der Fotografie aus dem Situation Room und Die Vorsteher der Tuchmacherzunft, einem weiteren Gemälde von Rembrandt aus dem Jahr 1662. Auf ihm sind fünf Männer zu sehen, die an einem Tisch sitzen, ein weiterer steht hinter ihnen. Wie im Foto blicken die Männer auf einen Punkt, der vom Betrachter aus gesehen links liegt. Dies lade laut Traue in beiden Bildern den Betrachter dazu ein, an der Sitzung teilzunehmen und das Geschehen selbst zu beurteilen. Durch die aufgelöste Sitzordnung wirke die Gruppe nicht geschlossen und erlaube grundsätzlich die Aufnahme weiterer Personen. Rezeption Medien Bereits am Tag seiner Veröffentlichung auf Flickr gelangte das Foto Situation Room auf die Websites mehrerer großer US-Medien. Im Magazin Time erschien es unter der Schlagzeile „Moment of Triumph“. Die New York Times präsentierte eine Beschreibung des Fotos, die aus Sicht von Ruth Ayaß melodramatische Lyrik verwendete. Dabei ging die Times auch auf andere Fotos aus der Flickr-Serie ein. The Atlantic schätzte bereits am Tag der Veröffentlichung das Foto als ikonisch ein. CNN wählte am 4. Mai den Titel „A photo for the ages?“, der später häufig zitiert wurde, und stellte fest, dass Situation Room zum definierenden Foto von Obamas Präsidentschaft werden könnte. Im deutschsprachigen Raum erschien das Foto auf vielen Zeitungen am 4. Mai als Aufmacher. Die Süddeutsche Zeitung zeigte einen Ausschnitt, auf dem nur die sitzenden Personen zu sehen waren, und untertitelte ihn mit „Krieg führen zwischen Kaffeebechern“. In der FAZ erschien das Foto unter dem Titel „Public Viewing“. Dieser spielt mit den unterschiedlichen Bedeutungen dieses Begriffs in der deutschen und englischen Sprache. Während es im Deutschen das gemeinsame Schauen eines Sportereignisses beschreibt, bezeichnet es im Englischen die Aufbahrung eines Leichnams. In ihrer Ausgabe vom 6. Mai kommt die FAZ zu der Einschätzung, dass das Foto Aussichten auf einen Platz in den Geschichtsbüchern habe, und ist sich sicher, dass die Interpretation von ihm nie ganz enden werde. Besondere Aufmerksamkeit rief die Veröffentlichung der in New York ansässigen jüdisch-ultraorthodoxen Zeitung Di Tzeitung hervor. Diese hatte das Foto am 6. Mai veröffentlicht und dabei die beiden Frauen Hillary Clinton und Audrey Tomason wegretuschiert. Die Zeitung veröffentlicht aus religiös-moralischen Gründen grundsätzlich keine Bilder von Frauen. Auf die folgenden Proteste reagierte die Zeitung mit einer Entschuldigung, in der Clinton wortreich geehrt und eine Nichtveröffentlichung des Fotos als bessere Entscheidung bezeichnet wird. Auch Di Voch, eine andere jüdisch-ultraorthodoxe Zeitung aus New York, entfernte Clinton und Tomason von dem Foto. Als Reaktion auf diese Löschung der Frauen erschien im Internet eine Manipulation, die alle Männer aus dem Bild entfernte. Ein anderes Foto zeigt Clinton und Tomason im Situation Room zusammen mit Madeleine Albright, Oprah Winfrey, Golda Meir, Benazir Bhutto, Arianna Huffington, Margaret Thatcher, Aung San Suu Kyi, Condoleezza Rice, Janet Reno, Angela Merkel und Indira Gandhi. Wissenschaft Neben der großen medialen Aufmerksamkeit wurde Situation Room auch einer umfangreichen wissenschaftlichen Analyse unterzogen. So fand unter dem Titel Hillarys Hand. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart im November 2011 ein zweitägiger Workshop statt, über den auch die Süddeutsche Zeitung berichtete. Er wurde vom Forschungskreis Materiale Kulturanalysen des Herder-Kollegs sowie dem Methodenbüro des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim organisiert und bot acht Wissenschaftlern aus Österreich und Deutschland der Fachrichtungen Soziologie, Kunstgeschichte, Psychologie, Erziehungswissenschaft und Medientheorie die Möglichkeit, ihre Analysen vorzustellen. Der Workshop griff mit Bildanalysen und visuellen Verfahren zu dieser Zeit beliebte Forschungsthemen der Sozialwissenschaften auf. Ziel war es dabei auch, die Vielzahl von unterschiedlichen Verfahren zur Analyse von Bildern anhand der Anwendung auf ein gemeinsames Forschungsobjekt empirisch zu vergleichen. Drei der Vortragenden, Ulrike Pilarczyk, Aglaja Przyborski und Martin Schuster, setzten in der Folge ihren fachlichen Austausch fort und entschlossen sich dazu, ihre Analysen gemeinsam zu veröffentlichen. Ergänzt um eine journalistische Analyse von Günther Haller erschienen sie 2014 unter dem Titel Das politische Bild. Die anderen Beiträge des Workshops erschienen im selben Jahr in einem eigenen Sammelband unter dem Titel des Workshops. Ergänzt wurden sie darin um fünf weitere wissenschaftliche Analysen, einen Überblick über die Vorgänge rund um das Bild sowie eine Reflexion der methodischen Zugänge der anderen Beiträge. Kunst Situation Room wurde auch von Künstlern aufgegriffen. So besteht die Installation May 1, 2011 des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar aus zwei gleichformatigen Monitoren, denen jeweils ein Druck zugeordnet ist. Der rechte Bildschirm zeigt das Foto aus dem Situation Room und der zugehörige Druck eine vom weißen Haus veröffentlichte Erklärungsgrafik, die den abgebildeten Personen ihre Namen zuordnet. Der Bildschirm und der Druck auf der linken Seite sind komplett weiß. Sie sollen das fehlende Bild des getöteten Osama bin Laden symbolisieren und die Projektion der vom Foto Situation Room hervorgerufenen imaginären Bilder ermöglichen. Laut Jaar seien die Vorgänge um bin Ladens Tod ein Fall, bei dem die Öffentlichkeit ausgefordert werde zu glauben, ohne zu sehen. In seiner Arbeit Obscured Classified Document isolierte der niederländische Künstler Willem Popelier das unkenntlich gemachte Dokument auf Clintons Laptop. Dadurch verliere das Detail seinen Zusammenhang und kommentiere die im Foto präsentierte Schauanordnung. Das Stück Situation Rooms der Theatergruppe Rimini Protokoll, das am 23. August 2013 bei der Ruhrtriennale Premiere feierte, bietet den Zuschauern die Möglichkeit, mithilfe eines Tabletcomputers in Rollen verschiedener Menschen zu schlüpfen, deren Leben von Waffen geprägt ist. Unter den insgesamt 20 Rollen sind unter anderem ein Kindersoldat aus dem Kongo, ein Schweizer Waffenfabrikant, ein indischer Kampfpilot und ein pakistanischer Menschenrechtsanwalt zu finden. Nach Angaben der Macher wurde der Titel, der auf das Foto verweist, während der Arbeit an dem Stück gefunden. Das Foto sei damit für die Macher das Symbol einer neuen Art der Kriegsführung vom Schreibtisch aus. In seiner Videoinstallation The Situation Room baute der deutsche Performance-Künstler Franz Reimer den Small Conference Room als Kulisse nach. Das Bild einer fest installierten Videokamera, die denselben Ausschnitt wie das Foto aufnimmt, wird auf einen Bildschirm übertragen, der in gleicher Position wie die Bildschirme im Konferenzraum zu finden ist. Besucher können die Kulisse betreten und damit selbst Teil der Fotografie werden. Internet Nach der Veröffentlichung am 2. Mai gegen 13 Uhr erhielt das Foto innerhalb kürzester Zeit enorme Klickzahlen. Um 20 Uhr war es bereits etwa 600.000 Mal angesehen worden, nach 25 Stunden stand der Klickzähler bei etwa 1,4 Millionen. Laut Flickr hatte bis dahin kein Foto in solch kurzer Zeit so viele Klicks erhalten. In einer im September 2014 veröffentlichten Liste der meistgesehenen Flickr-Fotos belegte Situation Room mit über 2,7 Millionen Klicks Platz 4 und lag damit einen Rang vor einem anderen Bild Souzas aus dem Jahr 2012, das Obama zusammen mit der Kunstturnerin McKayla Maroney zeigt. Ende 2018 hatte Situation Room fast 3 Millionen Klicks. Die anderen Bilder der Serie vom 2. Mai hatten im Vergleich dazu deutlich weniger Klicks (zwischen 290.000 und 570.000), die Ende 2011 veröffentlichten Fotos lagen deutlich unter 100.000 Klicks. Am 6. Mai, also vier Tage nach der Veröffentlichung des Fotos, wurde in der englischsprachigen Wikipedia unter dem Lemma The Situation Room ein Artikel zu der Fotografie angelegt. Zwar stellte der Artikel in seiner ersten Version klar, dass es noch keinen offiziellen Titel für die Fotografie gebe und sie nur unter dem Namen P050111PS-0210 auf Flickr veröffentlicht wurde, durch die Wahl des Lemmas etablierte er jedoch selbst den Titel für das Foto. Trotz eines Hinweises auf Flickr, der die Manipulation der Fotografie verbot, erschien im Internet eine Vielzahl von Mashups und Verfremdungen von Situation Room. Einige zeigen die fiktive Verlängerung des Raums auf der nicht zu sehenden Seite, auf die fast alle Anwesenden blicken. Auch Nachbildungen des Fotos mit Legofiguren existieren. Eine größere Zahl von Collagen fügte viele prominente Figuren hinzu und schuf damit Wimmelbilder im Stil von Wo ist Walter?. Mehrere Bilder greifen die Thematik von Computerspielen bzw. Ego-Shootern auf. So wurde in einem Bild die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright mit einem Wii-Controller hinzugefügt. Ein anderes gab Obama ein Gamepad in die Hand. Auf einem weiteren wurde Robert Gates’ Kopf durch einen anderen ersetzt, der Kopfhörer trägt und dessen Gesichtsausdruck Zustimmung zeigt. Daneben ist „BOOM!!! HEADSHOT!!!“ (deutsch „Bumm! Kopfschuss!“) zu lesen. Auch eine Verwandlung der abgebildeten Personen in Superhelden von Marvel und DC wurde veröffentlicht. Darauf erscheint Obama als Captain America, Webb als Superman und Clinton als Wonder Woman, Mullen ist als Spiderman und Donilon als Batman zu sehen. Auch das dritte Bild der Serie, auf dem Obama überdimensioniert von hinten zu sehen ist, wurde auf diese Weise verändert, indem Obama das Cape von Superman verpasst wurde. Andere Memes duplizierten Elemente der Fotografie. So wurde in einem Bild Obamas Kopf auf alle anderen Körper montiert. Ein anderes fügte zu allen außer Webb Clintons rechte Hand vor dem Mund hinzu. Literatur Sammelbände Michael Kauppert: Briefing P050111PS-0210. Zum realen und imaginären Kontext des Situation-Room-Fotos vom 1. Mai 2011. S. 11–27. Ulrich Oevermann: Ein Pressefoto als Ausdrucksgestalt der archaischen Rachelogik eines Hegemons. Bildanalyse mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik. S. 31–57. Ruth Ayaß: Ein Bild der Abwesenheit. Die Fotografie aus dem Situation Room als widersprüchliche Zeigegeste. S. 59–77. Roswitha Breckner: Conference Room 1. Mai 2011. Zur Unwägbarkeit ikonischer Macht – oder: Was Hillarys Hand verdeckt. S. 79–103. Jürgen Raab: »E pluribus unum«. Eine wissenssoziologische Konstellationsanalyse visuellen Handelns. S. 105–130. Boris Traue: Resonanz-Bild und ikonische Politik. Eine visuelle Diskursanalyse partizipativer Propaganda. S. 131–156 (academia.edu). Horst Bredekamp: Der Situation Room des 1. Mai 2011. S. 159–163. Michael Diers: »Public Viewing« oder das elliptische Bild aus dem »Situation Room« in Washington. S. 165–185. Katja Müller-Helle: Brüchige Sichtbarkeiten. Medienmechanismen amerikanischer Bildpolitik nach 9/11. S. 187–201 (uni-heidelberg.de [PDF; 7,5 MB]). Susann Neuenfeldt: Die betroffene Feldherrin, oder: where in the world is Osama bin Laden? S. 203–219. Gerhard Schweppenhäuser: Die Geburt der Bilder aus dem Geist des Erschreckens. »Wahre Bilder«, Bilderverbot und Bildfetischismus. S. 221–244. Irene Leser: Die Kunst des Sehenes. Eine Reflexion der methodischen Zugänge visueller Bildanalysen. S. 247–267. Günther Haller: Der historische Moment – eine journalistische Recherche. S. 11–63. Ulrike Pilarczyk: Das Anti-Bild. S. 65–106. Aglaja Przyborski: Macht im Bild. S. 107–136. Martin Schuster: Die symbolische Kraft des „Nicht-Sehens“. S. 137–151. Einzelartikel Monografien Weblinks P050111PS-0210 auf Flickr The Situation Room bei Know Your Meme Einzelnachweise Foto Barack Obama Joe Biden Hillary Clinton Politik 2011 Politisches Dokument Fotografie (Vereinigte Staaten) Politik (Vereinigte Staaten) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Auditorium%20Maximum%20%28Universit%C3%A4t%20Hamburg%29
Auditorium Maximum (Universität Hamburg)
Das Auditorium Maximum (Audimax) der Universität Hamburg ist ein freistehendes Gebäude im Hamburger Stadtteil Rotherbaum. Als Auditorium maximum bietet das Gebäude den mit knapp 1700 Sitzplätzen größten Hörsaal der Universität, der sich durch eine versenkbare Trennwand in zwei Hörsäle teilen lässt. Das Audimax wurde von 1957 bis 1959 nach Entwürfen von Bernhard Hermkes erbaut und fügt sich in das von Paul Seitz konzipierte Ensemble des Campus Von-Melle-Park ein, zu dem neben dem Audimax u. a. der Philturm und die Universitätsbibliothek gehören. Zum Von-Melle-Park öffnet sich das Audimax mit einer konvexen Glasfassade, die den Blick auf das Foyer und Treppenhaus mit seinen schlank gestalteten Stützen freigibt. Eine konstruktive Besonderheit des Gebäudes ist die Stahlbetonkuppel in Form eines perfekten Kugelsegmentes, die mit einer Spannweite von bis zu 65 Metern den Hörsaal überspannt und ohne Verbindung zu den Wandscheiben nur auf den äußeren Stützpfeilern ruht. Neben dem Vorlesungsbetrieb der Universität finden im Audimax regelmäßig Konzerte sowie kulturelle und politische Veranstaltungen statt. Besondere Bekanntheit erlangte die Protestaktion „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ anlässlich der Rektoratsübergabe 1967. Das Audimax verkörpert nach Ansicht von Architekturkritikern die Aufbruchstimmung der Universität in der Nachkriegszeit in gelungener Weise und steht heute unter Denkmalschutz. Geschichte Vorgeschichte und Vorlesungsgebäude am Dammtor Die Universität Hamburg wurde erst 1919 gegründet. Schon länger bestand in Hamburg hingegen das Allgemeine Vorlesungswesen, eine Art Erwachsenenbildung mit akademischem Anspruch. Die gesetzliche Grundlage dafür wurde vom Senat 1837 geschaffen, 1895 reformierte Werner von Melle das Programm. 1908 entschied sich die Bürgerschaft für den Bau eines Vorlesungsgebäudes für das Allgemeine Vorlesungswesen und gab den Bauplatz an der Moorweide dazu, gegenüber dem Dammtorbahnhof. Das Geld für das Gebäude stiftete Edmund Siemers, der Entwurf stammte von Hermann Distel. 1911 wurde das Gebäude eingeweiht, das neben Arbeitsräumen vor allem sieben Hörsäle aufnimmt. Ab 1919 fand in diesem Gebäude der Vorlesungsbetrieb der frisch gegründeten Universität statt. Mit heutiger Bestuhlung bietet der größte Hörsaal im Vorlesungsgebäude an der Edmund-Siemers-Allee (ESA) 612 Plätze, alle sieben dort befindlichen Hörsäle bieten in Summe weniger Kapazität als der eine Hörsaal im Audimax. Das räumliche Zentrum der Universität war durch die Übernahme des Vorlesungsgebäudes eher zufällig gewählt worden. Freie Flächen gab es in den dicht bebauten Stadtteilen um den Dammtorbahnhof kaum. Die Universität war von ihrer Gründung bis zum Zweiten Weltkrieg größtenteils in angemieteten Häusern und Villen untergebracht, locker verstreut über Rotherbaum und Harvestehude, daneben das Universitätsklinikum in Eppendorf. Einen Campus gab es somit nicht, die Wege waren lang und der Universität fehlte eine identitätsstiftende Mitte. Eine Lösung wäre ob der räumlichen Enge in Rotherbaum der Umzug an einen neu zu gründenden Standort gewesen. Dazu gab es mehrfach Vorschläge und Planungen, am konkretesten 1928: Fritz Schumacher legte den Plan vor, auf unbebautem Gebiet nördlich des Eppendorfer Moors im Stadtteil Groß Borstel eine „akademische Stadt“ zu errichten. Auch der Botanische Garten sollte dorthin umziehen. Der neue Universitätsstandort sollte durch eine Verlängerung der Wilhelm-Metzger-Straße durch das Eppendorfer Moor erschlossen werden, auch eine Verlängerung einer Hochbahn-Linie war geplant. Dieser Plan wurde sowohl vom Senat als auch von der Universitätsleitung unterstützt, die Weltwirtschaftskrise machte ihn zunichte. Hamburg wurde im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe schwer getroffen, besonders im verheerenden Feuersturm von 1943. Diese Angriffe verwüsteten besonders den Osten der Stadt und das Gebiet um den Hafen. Das Gebiet der Universität westlich der Außenalster war vergleichsweise glimpflich davongekommen. Planung und Bau Von der Gründung der Universität 1919 bis zum Zweiten Weltkrieg zählte die Universität Hamburg nie mehr als etwa 3.000 Studenten. Von 1949 bis 1959 stiegen die Studentenzahlen an der Universität Hamburg von unter 5.000 auf 12.000 an. In der unmittelbaren Nachkriegszeit trugen Kriegsheimkehrer und Flüchtlinge aus den Ostgebieten und der Sowjetischen Besatzungszone zum Wachstum bei. Später sorgten neben den steigenden Geburtenzahlen vor allem die zunehmenden Abitur- und Studentenraten, auch bei Frauen, für weiteres Wachstum. Prognostiziert wurden somit weitere, drastische Steigerungen der Studentenzahlen. Die meisten Gebäude der Vorkriegsuniversität waren noch vorhanden, teilweise wurden sie nach der Kapitulation von der englischen Besatzungsmacht beschlagnahmt. Das galt aber nicht für das Vorlesungsgebäude, in dem ab 1945 wieder Vorlesungen stattfinden konnten. Auch nach Rückgabe aller Gebäude konnte jedoch keinesfalls der Raumbedarf einer wachsenden Universität befriedigt werden. Ein Campus fehlte nach wie vor. Durch die Zerstörungen des Krieges war nun jedoch Bauplatz entstanden. Die Fläche zwischen Grindelallee und Beneckestraße (nicht mehr existent) wurde enttrümmert, einzelne noch teilweise stehende Gebäude wurden abgerissen. Dieses Gebiet um den ehemaligen Bornpark sollte den neuen Campus bilden. 1952 entstand mit dem Studentenhaus an der Schlüterstraße der erste Nachkriegs-Neubau der Universität. 1954 legte das Hamburger Hochbauamt einen Plan für eine „Universitätsstadt“ im Dreieck zwischen Schlüterstraße, Grindelallee und Grindelhof vor, südlich von der Moorweidenstraße begrenzt. Hier sollten – bis auf das Universitätskrankenhaus UKE – sämtliche Einrichtungen der Universität zusammengefasst werden, die Baukosten wurden mit fünfzig Millionen DM prognostiziert. 1955 sprach sich der Senat endgültig für eine innerstädtische Universitätsstadt aus, Verlagerungspläne an Standorte an der Peripherie waren damit vom Tisch. Der Rahmenplan für den Campus der Universität Hamburg stammte von Paul Seitz in Zusammenarbeit mit Werner Hebebrand. Im Mai 1955 fand die Grundsteinlegung für das Mineralogische Institut statt, das erste Gebäude entsprechend der neuen Planung. Das Auditorium Maximum war mit 2000 Plätzen geplant, auch die Mathematik und die Naturwissenschaften sollten rund um den Bornplatz ihr Zuhause finden. In den 1970er Jahren wurden diese Fakultäten dann entlang der Bundesstraße untergebracht (u. a. im Geomatikum), da der Campus am Bornplatz nicht genug Raum für die weiter wachsende Universität bot. Im April 1956 begann die Planung für das Auditorium Maximum. Bauherren waren die Freie und Hansestadt Hamburg und die Universität Hamburg. Der Entwurf stammte von Bernhard Hermkes, die Akustik wurde von Lothar Cremer ausgelegt. Die Statik des Dachs wurde von Alfred Mehmel verantwortet. Hermkes Entwurf orientiert sich deutlich am 1955 eingeweihten Kresge Auditorium des MIT, dessen Entwurf von Eero Saarinen stammte. Als weiteres Vorbild wird die Berliner Kongresshalle genannt, die 1956/1957 erbaut wurde. Im Mai 1957 wurde der Grundstein für das Audimax gelegt, anwesend waren der Rektor Karl Schiller, der Erste Bürgermeister Kurt Sieveking und der Schulsenator Hans Wenke. Fotos von der Grundsteinlegung zeigen die Dekane der Universität in voller Amtstracht in der Baugrube, mit Talar und Amtskette. Der Rohbau wurde von einer ARGE aus Wayss & Freytag mit Dyckerhoff & Widmann errichtet. Ende Juli 1958 wurde das Richtfest gefeiert. Anfang 1959 wurde dem Hamburgischen Landesparlament eine Kostenerhöhung für den Audimax-Bau zur Genehmigung vorgelegt. Der ursprüngliche Kostenvoranschlag von Februar 1957 lag bei etwa 3,4 Mio. DM, nun wurden Mehrkosten von 985.000 DM veranschlagt. Als Hauptgründe für diese Erhöhung wurden offiziell die Inflation der Baukosten, Schwierigkeiten mit der versenkbaren Trennwand und bauamtliche Auflagen zu Nebenräumen genannt. Letztlich seien aber die Kosten von 100 DM pro Kubikmeter umbauten Raums immer noch günstiger als bei der Berliner Kongresshalle, zudem rechtfertige die Doppelnutzung – Auditorium maximum oder zwei getrennte Hörsäle – den Mehraufwand. In einem Interview 20 Jahre nach dem Bau nannte der Dywidag-Bauleiter weitere Gründe für Kostensteigerungen und Schwierigkeiten beim Bau: So reichten die humösen Schichten am Bauplatz deutlich tiefer als erwartet, wodurch mehr als geplant ausgeschachtet werden musste – 3 m im Mittel, an der Stelle der versenkbaren Wand bis zu 7,5 m tief. Weiter lag ein Planungsfehler vor: Bei den Entwürfen waren Räume für Toiletten vergessen worden, was zu kostspieligen Änderungen führte. Die Lüftung funktionierte anfangs nicht wie geplant, und zur innovativen Dachkonstruktion fehlten Erfahrungswerte, wodurch Versuche und Änderungen notwendig waren. Letztlich seien aber Kostensteigerungen bei einem solch ehrgeizigen Projekt normal; um eine Ausschreibung zu gewinnen, würden diese von Architekten auch sehenden Auges in Kauf genommen – „nachfinanziert würde wohl fast immer“. Am 11. November 1959 wurde das Audimax dann feierlich eingeweiht. Die Gesamtbaukosten lagen knapp über 5 Millionen DM. Nutzung Das Audimax dient primär der Universität Hamburg, daneben ist es auch ein öffentliches Gebäude der Stadt Hamburg selbst. Diese Dualität ist schon in der gemeinsamen Verantwortung dieser beiden Körperschaften als Bauherren angelegt. Der Leitspruch der Universität steht seit 1911 über dem Portal des Vorlesungsgebäudes: „Der Forschung – Der Lehre – Der Bildung“. Geforscht wird in einem Auditorium Maximum nicht, entsprechend dient das Audimax tagsüber Lehre und Bildung. Hier werden große Vorlesungen und Klausuren abgehalten. Bei den Klausuren erlaubt die hohe Zahl der Plätze hinreichenden Abstand zwischen Prüfungsteilnehmern. Neben diesen Veranstaltungen nach Lehrplan steht das Audimax auch anderen universitären Gruppen zur Verfügung, sei es für Vollversammlungen, Veranstaltungen von Hochschulgruppen oder Freizeitangebote wie UniFilm. Diese direkten und indirekten universitären Angebote haben bei der Raumvergabe Vorrang. Daneben können bei Verfügbarkeit auch nicht-universitäre Anbieter die Räume für ihre Veranstaltungen anmieten. Dazu zählen Kongresse, Konzerte und andere Unterhaltungsangebote. Im Semester, also während des Vorlesungs- und Prüfungsbetriebs, ist die Nutzung nur eingeschränkt möglich, da der universitäre Betrieb zumindest werktags immer stattfindet. Entsprechend gibt es weder Auf- noch Abbautage, für aufwendige Bühnenumbauten oder Änderungen an der Technik fehlt die Zeit. Die Akustik des Auditoriums ist auf maximale Sprachverständlichkeit ausgelegt, entsprechend ist die Nachhallzeit für einen Raum dieser Größe kurz und das Klanggefühl „trocken“. Daraus ergibt sich eine hervorragende Eignung für Diskussionen und Vorträge und eine gute bis hinreichende Eignung für klassische und moderne Musik mit Solisten oder kleinen Ensembles. Für große Ensembles, insbesondere Chöre, und für Musik der Romantik ist das Audimax akustisch nicht gut geeignet. Wie andere Gebäude der Universität war auch das Audimax Schauplatz der Studentenbewegung der 1960er Jahre, oft mit „1968“ abgekürzt. Während der Rektoratsfeier am 9. November 1967 enthüllten zwei Studenten beim Einzug der Lehrstuhlinhaber ins Audimax ein Transparent mit der Aufschrift „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Am 24. November 1967 fand im Audimax eine Diskussion zwischen Rudolf Augstein und Rudi Dutschke statt, Thema war „Revolution 1967 – Studentenulk oder Notwendigkeit?“ Uwe Timm thematisierte 1974 in seinem Roman Heißer Sommer das „Sprengen“ der Vorlesung eines konservativen Professors im Audimax durch den SDS. Auch andere Intellektuelle und Politiker waren Gäste bei Podiumsdiskussionen im Audimax, so zum Beispiel Karl Schiller, Gustav Heinemann, Carl Friedrich von Weizsäcker und Ralf Dahrendorf. Weizsäcker hatte diese Diskussionen nach dem großen Erfolg seiner Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten initiiert, Themen waren unter anderem Ostpolitik, Notstandsgesetze und die deutsche Wiederbewaffnung. In den 1970er und 1980er Jahren wurde das Audimax öfter für Konzerte bekannter Musiker genutzt. Unter anderem traten dort Pink Floyd (1970), zweimal Kraftwerk (1971), B. B. King (1971), Joan Baez (1973), Black Sabbath (1978) und AC/DC (1978) auf. Auch die deutsche Liedermacher- und Protest-Szene war regelmäßig vertreten, zum Beispiel mit Franz Josef Degenhardt (1966), Reinhard Mey und Hannes Wader (gemeinsamer Auftritt 1967) sowie Ton Steine Scherben (1976). Zahlreiche regulär veröffentlichte Live-Mitschnitte, aber vor allem auch Bootlegs dieser Zeit haben den Aufnahmeort „Audimax Hamburg“. Im Rahmen der bundesweiten Studentenproteste wurde das Audimax am 11. November 2009 spontan besetzt. Die Besetzer forderten unter anderem eine Studienreform und mehr Transparenz in universitären Belangen. Am 23. Dezember 2009 räumte die Polizei das Gebäude. Bauliche Veränderungen 1971 wurde im Foyer eine von Fritz Fleer gestaltete Bronzeplatte in den Boden eingelassen, mit der den Hamburger Studenten Reinhold Meyer, Hans Leipelt, Margaretha Rothe und Friedrich Geussenhainer gedacht wird, die als Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose Hamburg ermordet wurden. Von 1997 bis 1998 wurden 1324 der Original-Holzsitze ausgetauscht. Die neuen Sitze sind in gedecktem Blau gepolstert, die abklappbaren Schreib-Unterlagen wurden beim Austausch vergrößert. Mit der Aktion „Ein Platz im Audimax“ wurden dafür Spenden eingeworben, bei einer Spende in Höhe von 980 DM konnten Sponsoren den gestifteten Platz mit einem Messingschild versehen. In den Jahren 2002/2003 wurden Foyer und Backstage-Bereich modernisiert. 2007 wurde ein Aufzug eingebaut, womit Rollstuhlfahrern auch der abgetrennte Hörsaal II zugänglich wurde. Der Aufzugsturm ist teils mit Glas und teils mit Sichtbeton verkleidet und kann nicht an die Eleganz des von Hermkes gestalteten Foyers anschließen. Bis 2008/2009 wurde das Dach neu eingedeckt, dabei wurde auf 2.600 m² Fläche die Dachabdichtung vollständig erneuert und stärker gedämmt. Zudem wurde die Regenentwässerung verbessert. 2018 wurde ein Gutachten zum Zustand der Gebäude der Universität Hamburg veröffentlicht. Für das Audimax mit seiner Nutzfläche von 1.864 Quadratmetern wurde darin Bedarf für eine energetische Sanierung festgestellt, bei der u. a. die Gebäudehülle besser gedämmt und die Einfachverglasung des Foyers gedichtet werden soll. Zudem seien neue Heizkörper und eine neue Abwasserführung vonnöten. Die Investitionssumme für diese Maßnahmen läge bei mindestens fünf Millionen Euro. Lage und Baubeschreibung Lage Die Gebäude der Universität Hamburg haben im Stadtteil Rotherbaum zwei Zentren: den Campus rund um den Von-Melle-Park mit den Geistes- und Sozialwissenschaften und das Gebiet entlang der Bundesstraße mit den naturwissenschaftlichen Fakultäten. Das Auditorium Maximum befindet sich am östlichen Rand des Campus Von-Melle-Park. Die verglaste Vorderseite des Audimax mit dem Haupteingang weist nach Westen, zum Von-Melle-Park. Eingerahmt wird das Audimax nördlich vom „Philturm“ (fertiggestellt 1963), der mit vierzehn Stockwerken den sonst mit einer gründerzeitlichen Traufhöhe bebauten Stadtteil dominiert. Südlich des Audimax befindet sich das zwei- bis viergeschossige Studentenhaus mit seiner eher unauffälligen Klinkerfassade (1952). Vor dem Philturm befindet sich die Pädagogische Fakultät (1960) mit ihrer Metallfassade, der Von-Melle-Park wird weiter vom brutalistischen „WiWi-Bunker“ (1975) und dem Neubau der Universitätsbibliothek (1982) gerahmt. Die benachbarten Gebäude waren bis auf den Neubau der Universitätsbibliothek schon im Gesamtplan von Seitz vorgesehen, stilistisch bilden sie dennoch keine Einheit. Auf der Rückseite (östlich) des Audimax verläuft die Schlüterstraße, schräg gegenüber das Rechtshaus (1964) der juristischen Fakultät. Sehr dicht an die nordöstliche Rückseite des Audimax wurde eine Fahrrad-Garage und -Werkstatt gebaut. Durch diese Umbauung und die geringe Höhe des Baukörpers am östlichen Rand ist das Audimax von der Schlüterstraße aus optisch wenig präsent. Äußere Form und Gestaltung Der Grundriss des Audimax hat in etwa die Form eines gleichschenkligen Trapezes, wobei die Basis des Trapezes durch die verglaste Front nach Westen gebildet wird. Der Hörsaal verjüngt sich zum Podium hin, seine Seiten bilden die Schenkel des Trapezes. Die Abweichungen des Grundrisses von der idealen Trapezform ergeben sich durch die konvexen Wände – stärker auskragend zur Front hin, nur leicht gewölbt zu den Seiten. Das Dach hat die Form eines idealen Kugelsegments mit dem Radius 65 m. An den Rändern wird die Dachform durch die Verschneidung der Kugelfläche mit den Seitenwänden gebildet. Die Seitenwände haben die Form eines Wandsegments eines senkrechten Kreiszylinders. Dadurch sind die Randlinien des Daches keine Großkreise der Kugel. Die Zylinder haben an den Seitenwänden einen größeren Radius als an der Front. Die konstruktive Ausführung des Dachs und seiner Stützen wird im Abschnitt Tragwerk näher beschrieben, beim sonstigen Gebäude – also im Bereich des Foyers und der Zugänge – handelt es sich um eine Stahlbetonskelett-Konstruktion. Die Front des Audimax ist komplett verglast und wird von einer sehr schlanken Pfosten-Riegel-Konstruktion gehalten. Die Konstruktion ist horizontal zwischen jeweils zwei Pfeilern dreigeteilt, wobei die mittlere Bahn breiter ist. Die vertikale Teilung der Glasfront verläuft nicht parallel zum Boden, sondern steigt und fällt mit der Dachkante. Die Seitenwände sind hinter den Stützen komplett mit hellgelbem Klinker verkleidet, in diesem Detail gleicht das Audimax dem benachbarten „Philturm“. Nur an einer Stelle sind die Seitenwände geöffnet, zwischen fünfter und siebter Stütze besteht an beiden Seitenwänden ein Lichtdurchlass mittels semitransparenter Glaslamellen. Konstruktiv gilt die Außenwand als nicht-tragende Ausfachung, die aus Gründen der akustischen Dämmung zweischalig ausgeführt wurde. Die äußere Schale der Außenwand besteht aus klinkerverblendetem Ziegelmauerwerk, die innere aus Schwemmstein-Mauerwerk. An der rückwärtigen Außenwand des Audimax wurde im Jahr 2000 von nicaraguanischen Jugendlichen aus der Partnerstadt León ein Wandgemälde angebracht. Unter Anleitung des Hamburgers Sönke Nissen-Knaack entstand ein Werk im naiven Stil, das für Völkerverständigung stehen soll – auf der linken Seite des Bildes mit Wahrzeichen von León, rechts mit Wahrzeichen Hamburgs. Weniger dauerhaft waren Graffiti, die 1968 der damals stadtbekannte Peter-Ernst Eiffe an den Toilettenwänden des Audimax anbrachte. Innenräume Besucher betreten das Audimax durch einen von fünf dem Foyer vorgelagerten Windfängen, die mittig in der gläsernen Westfassade angebracht sind, jeweils zwischen zwei Stützpfeilern. Die Glaskästen der Windfänge stehen dabei vor der Glasfassade und werden von einem gemeinsamen Vordach geschützt. Nach Betreten des Foyers können die Besucher geradeaus und auf derselben Ebene zur Garderobe gehen. Der Weg zum Auditorium ist so eingerichtet, dass sich die Besucherströme bei einer getrennten Nutzung von Auditorium I und II nicht kreuzen. Vom Foyer aus gehen die Wege für Besucher zum Auditorium in drei Richtungen ab, jeweils symmetrisch links und rechts, also über sechs Wege. Der äußerste Weg (ganz links bzw. ganz rechts) führt auf Ebene des Erdgeschosses mit leichter Steigung zum vorderen Teil (Podium) des großen Hörsaals (Auditorium I). Dieser Weg ist seitlich durch ein Lamellenfenster belichtet. Links (bzw. rechts) vor diesem Weg führt eine Treppe zur ersten Ebene, die von hinten in den großen Hörsaal führt. Auf dieser ersten Ebene befindet sich zwischen den Eingangstüren zum großen Hörsaal das abstrakte Relief „Ohne Titel“ aus rotem Tuffstein, angefertigt 1959–1960 von Karl Hartung. Eine weitere Treppe führt links und rechts zur zweiten Ebene, die in den kleinen Hörsaal (Auditorium II) führt. Das eigentliche Auditorium, also der Platz für die Zuhörer, ist in drei (bzw. vier) Teile eingeteilt: Das Parkett bildet mit 20 Stuhlreihen den größten Bereich des Auditoriums I. Das Parkett ist mittig geteilt, Zugänge existieren vom Rand und von der Mitte her. Jede Saalseite im Parkett hat pro Reihe zwischen 18 und 22 Sitze, insgesamt finden im Parkett 848 Zuhörer Platz. Das Parkett steigt von der Ebene vor dem Podium (Niveau −0,85 m) nach hinten auf das Niveau +3,15 m an. Der Rang zählt zum Auditorium I, befindet sich aber ungefähr auf Höhe des Auditorium II. Es gibt einen linken und einen rechten Rang, spiegelbildlich in L-Form. Die 18 Stuhlreihen jedes Rangs haben etwa 6 bzw. etwa 16 Sitze, je nach Position im schmalen oder breiten Teil des L. Jeder der Ränge ist nur von der jeweiligen Wandseite aus zugänglich. Der rechte und der linke Rang bietet 156 bzw. 153 Zuhörern Platz. Der Rang steigt vom Niveau +3,45 m auf +7,05 m. Das Auditorium II ist ein separater, kleinerer Hörsaal, der durch die mobile Wand zum Auditorium I dazugeschaltet werden kann. Die Sitze im Auditorium II verteilen sich auf 19 Stuhlreihen, wobei die letzten drei (seitlichen) Reihen neben der Projektorkabine nur sehr schmal sind. Die meisten Stuhlreihen im Auditorium II zählen zwischen 22 und 37 Sitze, insgesamt finden hier 509 Zuhörer Platz. Zugänglich sind die Plätze nur von den Seiten, eine mittige Teilung gibt es nicht. Das Auditorium II steigt vom Niveau +4,05 m auf +8,87 m. Insgesamt bietet das Auditorium Maximum somit 1.666 Zuhörern einen Sitzplatz, bei Teilung 1.157 im Auditorium I und 509 im Auditorium II. Diese Kapazität hat das Audimax erst seit dem Umbau und Austausch der Sitze 1997/1998, vorher zählte das Gebäude 1.800 Sitzplätze. Die Reduzierung um 134 Sitzplätze resultierte aus der größeren Breite der neuen Sessel – diese sind nun 54,5 cm breit. Pro Sitzreihe im Parkett und im Auditorium II entfielen dadurch zwei Plätze, auch im Rang fielen einige Sitze weg. Anzahl und Stufung der Stuhlreihen blieben hingegen unverändert, somit auch der Reihenabstand von 83 cm. Zum Vergleich: der Standard-Economy-Sitz in einem Flugzeug der 2000er Jahre war 44 bis 47 cm breit, der Reihenabstand („seat pitch“) variierte von 72 bis 86 cm. Das Podium ist so dimensioniert, dass es Platz für 120 Personen bietet, was ungefähr der Größe des Lehrkörpers zur Entwurfszeit entsprach. Zum Vergleich zählte die Universität Hamburg 2022 etwa 500 Professorinnen und Professoren – schon ohne UKE. Ebenso reicht der Platz auf dem Podium, um ein 60-köpfiges Orchester aufzunehmen. Der Bühnenraum verjüngt sich durch die Form des Baukörpers stark nach hinten, vorn ist das Podest 23 m breit, hinten 13 m. Der Bühnenraum ist 9,5 m tief und zwischen 7 und 3,5 m hoch. Schwere Instrumente und Technik können mit einem Lastenaufzug aus dem Kellergeschoss auf die Bühne gehoben werden. Tragwerk Das Dach des Audimax ist als Schalen-Tragwerk ausgebildet. Diese Stahlbeton-Schale hat eine Dicke von nur 13 cm und überspannt mit einem Radius von 65 m eine Weite von bis zu 60 m. Ein gern gebrachter Vergleich zur Verdeutlichung der filigranen Ausführung des Audimax-Daches ist das Hühnerei: Im Verhältnis von Schalendicke zu Spannweite ist das Audimax-Dach deutlich dünner als die Eierschale. Für eine Deckenschale ohne Versteifungsrippen ist der Radius von 65 m außergewöhnlich groß. Der bestimmende Versagensfall für die Auslegung der Schale war das Beulen, woraus sich die Schalendicke von 13 cm im Bereich der Kalotte ergab, verstärkt im vorgespannten Bereich des Übergangs zu den vertikalen Stützen. Über die gesamte Spannweite des Dachs gibt es keine Stützen, sämtliche Verbindungen zwischen inneren Wänden und der Decke sind ohne Aufnahme von statischen Kräften ausgeführt. Beim Vorbild Kresge Auditorium ist die Dach-Schale symmetrisch auf drei Eckpunkten gelagert, die Vertikal- und Horizontalkräfte aufnehmen. Die Lagerung der Dachschale ist beim Audimax anders gelöst, hier führen schlanke Stützen entlang des Dachrandes nur die Vertikalkräfte ab. Da die Kräfte in der Kuppel notwendigerweise schräg wirken, müssen die horizontalen Kraftanteile durch umlaufende, horizontale Ringkräfte aufgenommen werden. Dazu wurde die Kuppel längs des Randes vorgespannt, die Armierung wurde dazu parabelförmig entlang des Dachrandes eingebracht. Das Wirkprinzip der vorgespannten Armierung entspricht einem Gürtel: Zugezogen erzeugt dieser einen radial gerichteten Druck nach innen, der dem Horizontalanteil der Kräfte in der Schale entgegenwirkt. Der Vertikalanteil wird von den Stützen aufgenommen. Entlang jeder der drei Seiten gibt es neun innere Stützen, dazu die Stützen an den Ecken des Gebäudes. Die Seitenwände sind hinter den Stützen durchgeführt und haben keine tragende Funktion. Einzige Ausnahme bildet die schmale Podiumsseite (Ostseite), die massiv in Stahlbeton ausgeführt ist. Zudem ist auf der rechten wie linken Seite die Wand zwischen zweiter und dritter Stütze ebenfalls als Stahlbetonscheibe ausgeführt, um als Aussteifung gegen Windkräfte zu dienen. Optisch unterscheiden sich diese Scheiben nicht von der sonstigen Seitenwand, da sie mit demselben Klinker verkleidet sind. Akustik und Saaltrennung Hermkes übernahm die Planung im Frühjahr 1956, dabei stand von Beginn an die Typologie und die funktionale Nutzung im Vordergrund. Gefordert war vom Bauherr ein Saal für besondere Veranstaltungen mit bis zu 1.800 Zuhörern. Gleichzeitig sollte das Gebäude aber auch dem normalen Vorlesungsbetrieb dienen, für den diese Kapazität viel zu groß war. Entsprechend lautete der Auftrag, den großen Saal durch mobile Wände in kleinere Hörsäle unterteilbar zu machen, die dann parallel genutzt werden konnten. So klar dieses Konzept auch war, seinerzeit gab es weltweit kein Beispiel in ähnlich großen Dimensionen. Saarinens Kresge Auditorium hat zwar neben dem großen Hörsaal noch einen kleineren Theatersaal und Probenräume für Orchester und Chor, aber diese Räume befinden sich unter dem großen Hörsaal und können nicht „dazugeschaltet“ werden. Die Schwierigkeit lag in der akustischen Isolierung der voneinander abgetrennten Hörsäle bei gleichzeitiger Nutzung: Dazu musste die mobile Trennwand praktisch schalldicht sein. Die angestrebte Schalldämmungswirkung der Trennwand würde um so höher sein, je schwerer und dicker diese war: Eine Verdopplung der flächenbezogenen Masse einer einschaligen, homogenen Trennwand führt nach dem Berger’schen Massegesetz zu einer Reduktion der Schallübertragung um 6 dB. Bei der abzutrennenden Raumgröße im Audimax ergaben sich daraus jedoch schnell Massen, die nicht mehr zu bewegen waren. Abhilfe verschaffte das Konzept der mehrschaligen Trennwand, das Lothar Cremer von der TU Berlin für das Audimax entwickelte. In zahlreichen Labortests passte Cremer die Trennwand an, die aus Schichten und Kammern aus inertem (schweren) Material, Steinwolle und Luft besteht. Dennoch war eine Abtrennung über die komplette Breite des Hörsaals nicht machbar und hätte zu einer zu schweren Trennwand geführt. Daraus ergab sich die oben beschriebene Aufteilung des Saals in das kleinere Auditorium (Saal II), das nicht die komplette Breite des großen Auditoriums einnimmt. Die so entworfene mobile Trennwand ist 20 Meter breit und 10 Meter hoch und wiegt 107 Tonnen. Die Wand wird mit vier elektrisch angetriebenen Spindeln versenkt und wieder hochgefahren. Diese Mechanik lieferte MAN. Nachdem Cremer sich an der schwierigen akustischen Aufgabe der Trennwand bewährt hatte, wurde er auch zur Auslegung der Saalakustik engagiert. Er ließ in seinem Berliner Institut Modelle des Saales bauen und entwickelte Dämmungselemente und akustische Reflektoren, die an der Decke und den Wänden angebracht sind. Das Ziel der akustischen Auslegung war die maximale Sprachverständlichkeit, auch ohne Verstärkung. Ein Zuhörer sollte auch von einer oberen Sitzreihe im Rang ohne Saalmikrofon eine Frage stellen können, die auf dem Podium gut verstanden wird. Dazu war neben der Schallisolierung der getrennten Hörsäle gegeneinander auch die Isolierung von Außengeräuschen notwendig, was durch die Fensterlosigkeit des Auditoriums leichter wurde. Die Reflektoren an der Decke wirken sowohl dämmend (nach außen) als auch sammelnd und verstärkend (zwischen Podium und Hörsaal). Gebäudetechnik Belüftung und Heizung eines so großen Hörsaals stellen eine besondere Herausforderung dar. Während die Frischluft für eine volle Besetzung des Saals ausreichend sein muss, darf nirgendwo als unangenehm empfundene Zugluft entstehen. Um das zu erreichen, dürfen die Lüftungseinlässe nicht zu weit von den -auslässen entfernt sein, da andernfalls zu hohe Luftgeschwindigkeiten notwendig wären. Zudem muss die Technik leise arbeiten, um Vorträge nicht zu stören. Die Gebäudetechnik ist darauf ausgelegt, im Maximal-Lastfall pro Stunde 85.000 m³ Luft auszutauschen, davon bei Saalteilung 36.000 m³ im großen Saal (Audimax I) und 18.000 m³ im kleinen Saal (Audimax II). 30.000 m³ Luft pro Stunde werden im Foyer und auf den Zugängen ausgetauscht. Die Säle können beheizt und klimatisiert werden, im Foyer steht nur die Heizung zur Verfügung. Bezogen auf die maximale Kapazität des zusammengelegten Audimax-Hörsaals von knapp 1.700 Personen entspricht diese Luftmenge einer Luftwechselrate von knapp 32 m³ pro Person und Stunde, etwas mehr als auf Basis aktueller Normen empfohlen. Um diese Luftströme ohne Zugluft und ohne sichtbare Lüftungskanäle an ihr Ziel zu bringen, wird die Frischluft an beiden Seiten des Audimax angesaugt und durch einen mannshohen unterirdischen Kanal unter dem Foyer in die Mitte des Gebäudes zur Lüftungszentrale geleitet. Dort wird die Luft temperiert und durch Öffnungen im Fußboden in die Hörsäle geblasen. Ein Viertel der Grundfläche des Kellers wird von Lüftung und Klimaanlage eingenommen. Einordnung Bei der architekturhistorischen Einordnung geht es einerseits um die Frage, welchen Platz das Bauwerk im Schaffen von Bernhard Hermkes einnimmt und wie sich das Werk in die zeitgenössische Architektur einreiht. Weiter ist mit Blick auf Schalendach und teilbares Auditorium zu fragen, ob diese innovative Art der Gestaltung beispielgebend wurde. Hermkes war als Architekt und als Stadtplaner tätig. Nach Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft eröffnete er 1945 in Hamburg ein eigenes Büro, wo er eine ganze Reihe von bedeutenden Werken schuf. Sein Durchbruch als Architekt in Hamburg waren die Grindelhochhäuser (erbaut 1946 bis 1956), wobei er an diesem Projekt nur als Teil einer größeren Gruppe beteiligt war. Der Einsatz von Beton im feingliedrigen Schalenbau und bei Falttragwerken wurde zu einem „Markenzeichen“ von Hermkes, hier gilt er als Pionier. Diese Bauweise setzte er beim Audimax zum ersten Mal in großem Stil ein, wenn auch das schwebende Dach der Vorwerk-Verwaltung in Wuppertal (begonnen 1954) einen Vorgriff darstellt. In dieser Hinsicht ähnlich bedeutend ist die Hamburger Großmarkthalle, die Hermkes nach dem Audimax begann. Den größten zeitgenössischen Einfluss auf Hermkes’ Entwurf hatte Eero Saarinen. Dessen 1955 fertiggestelltes Kresge Auditorium am MIT benannte Hermkes explizit als Inspirationsquelle für seinen Audimax-Entwurf. Weitere vergleichbare Werke von Saarinen sind die 1940 eröffnete Kleinhans Music Hall in Buffalo. Das Dach dieses Konzerthauses ist als freitragende Paraboloidschale ausgebildet, und die Akustik des Innenraums war bestimmend für den Entwurf. Mit Blick auf die kühne Gestaltung von großen, freitragenden Dächern wären weiter die Saarinen-Entwürfe des Hauptterminals am Dulles International Airport in Washington D.C. und das TWA-Terminal am Flughafens JFK in New York zu nennen, beide 1962 eröffnet. Neben Saarinen wird als Vorbild für Hermkes’ Umgang mit der Schalenbauweise noch der italienische Ingenieur Pier Luigi Nervi genannt. Zwei Elemente des Audimax-Entwurfs stechen im Vergleich zur Umsetzung ähnlicher Bauaufgaben heraus: die freitragende Spannbeton-Decke in Form eines Kugelsegments und die versenkbare Akustik-Trennwand aus einem Stück. Beide Lösungen haben sich beim Bau von Auditorien und Konzerthallen nicht durchgesetzt. Dächer in Form einer hyperbolischen Paraboloidschale waren in den 1960er und 1970er Jahren bei Bauwerken mit Solitär-Charakter vereinzelt anzutreffen, die Kugelsegment-Form nur sehr selten. Zwar ist die stützenlose Überspannung großer Räume bei Konzerthallen und Auditorien mit mehr als tausend Sitzplätzen normaler Teil der Bauaufgabe. Für Bauten mit einer expressiv geformten Dachkante (Berliner Philharmonie, Elbphilharmonie) kommt die Kugelsegment-Form für das Dach jedoch nicht in Frage. Große Hörsäle an Universitäten werden zumeist als Teil von größeren Gebäudekörpern geplant, oder sind mit diesen verbunden. Auch in diesen Fällen kommt die Dachform kaum in Frage. Zudem stellen sich bei der nachträglichen Sanierung solcher vielfach gekrümmten Dächer der Schutz der Stahlarmierung gegen Rost und die Wärmedämmung als schwierige Aufgabe dar – ebene Dachflächen sind deutlich leichter zu bearbeiten, egal ob als Flach- oder Schrägdach. 1985 stellte der Ingenieur Helmut Bomhard in einer Übersicht die Entwicklung von dünnwandigen Schalenbauwerken aus Stahlbeton mit und ohne Vorspannung anhand von typischen und herausragenden Beispielen dar, darunter auch das Audimax. Bomhard war langjähriger technischer Direktor von Dyckerhoff & Widmann, der Pionier dieser Baumethode in Deutschland. Dabei stellte Bomhard fest, dass die technischen Grenzen der Anwendung der Baumethode noch lange nicht erreicht seien, zum Beispiel in Bezug auf überspannbare Breiten oder das Verhältnis Schalendicke zu Spannweite. Jedoch sei die Schalenbauweise nicht wirtschaftlich, jedenfalls in industrialisierten Ländern, in denen die Lohnkosten schwerer ins Gewicht fallen als die Materialkosten. Schon in den 1980er Jahren war die Schalenbauweise in Westeuropa aus der Industriearchitektur (besonders von Lagerhallen) praktisch verschwunden. Solche Bauwerke werden heute mit vorproduzierten Trägern errichtet, die mit Leichtbaudächern geschützt werden. Gebäudetechnik und Decken werden im Rastermaß an die Träger gehängt. Auch dieser nachträgliche Ausbau ist deutlich kostengünstiger als bei individuell geformten Freiflächen. Bomhardt betont, dass die Schalenbauweise nach wie vor optimal sei, wenn es um Minimierung des Materialeinsatzes geht. Die Zukunft des Einsatzes sah er eher in Tankbehältern und im Offshore-Bereich, nicht bei spektakulären Bauten in der Stadtlandschaft. Teilbare (bzw. zusammenschaltbare) Auditorien werden durchaus weiter gebaut, deren Grundriss hat fast immer die Form eines Rechtecks oder eines Kreissegmentes, und die Teilung erfolgt über die gesamte Breite bzw. Tiefe des Raums. Dabei besteht die Trennwand allerdings aus Wandsegmenten, die an horizontalen Schienen laufen, oder vertikal aus dem Deckenraum herabgefahren werden. Dadurch können Standard-Wandsysteme mit kleinen Motoren verwendet werden, was kostengünstiger ist als ein Individualentwurf einer schweren Wand aus einem Stück mit großer Hubmaschine. Bei Zusammenschalten des Raums werden die Segmente in einen dafür vorgesehenen Stauraum hinter einer Wand oder unter der Decke gefahren, auch das ist günstiger herzustellen als ein tiefer Schacht für die Trennwand. Durch die Verwendung von Wandsegmenten wird die Trennung entlang der ansteigenden Achse des Auditoriums möglich, die hängenden Wandsegmente sind dann unterschiedlich lang. Rezeption Bei seiner Eröffnung und in der Zeit unmittelbar danach wurde das Audimax geradezu hymnisch gelobt. Zwar fügt sich dieses Lob nahtlos in den zeitgenössischen „Sound“ von Wiederaufbau und Moderne ein, ist aber doch so konkret, dass klar wird: Das Hamburger Audimax „galt […] als eine Sensation“. In einem von Erich Lüth als Pressesprecher der Stadt Hamburg herausgegebenen Band der Reihe „Neues Hamburg“ heißt es: Das Audimax „besticht durch die Leichtigkeit seines Materials und durch die schwingende Kurvatur seiner Erscheinung als ein glänzendes Werk zeitgenössischer Architektur. Alles an diesem Bauwerk: Wände, Glasfront und Dach weist im Gegensatz zu den vielen schmalen Kuben der Nachbargebäude ausschließlich gekrümmte Linienführungen auf. Die Spannung der gleichsam von innen her leicht geblähten Flächen bewirkt, daß der Baustoff, daß Stein, Beton und Stahl von aller Schwere befreit sind.“ Ob bei Tageslicht, wenn die Sonne durch die Glasfront scheint und den inneren Bau sichtbar macht, oder bei Nacht, wenn die Beleuchtung von innen die Konstruktion nachzeichnet: Hier sei ein Gebäude entstanden, „weithin offen für alle, ein Ort der Begegnung, der Lehre freier Wissenschaft und der Diskussion.“ Ein halbes Jahr nach der Einweihung sah das Hamburger Abendblatt im Audimax ein sichtbares Zeichen für ein Aufholen der Universität Hamburg. Noch vor kurzem sei man in Hamburg mit der Universität „hintenan“ gewesen, doch nun „stürmt das voran“. Das Audimax, „dieser großartige, kühn geschwungene Bau“, habe dafür den Startschuss gegeben. Doch nicht nur die Universität profitierte, der Saal sei beinahe jeden Abend ausverkauft: mit Podiums-Diskussionen, Literatur, Musik, Film. Das Audimax sei eine Attraktion geworden. 1993 zählte der Architekt Volkwin Marg das Audimax zu den „251 bemerkenswerten Bauten“ Hamburgs aus dem 20. Jahrhundert. Laut Marg war die Schalenkonstruktion seinerzeit „in Deutschland eine technische Sensation“, ebenso die Abtrennung des kleinen Hörsaals mittels der Hubwand. Kurz darauf bezeichnete der Architekturhistoriker Ralf Lange das „großzügige Foyer mit seinen freischwebenden Emporen und Treppen“ als „eine der schönsten Raumschöpfungen der Wiederaufbaujahre in Deutschland überhaupt“. 1996 erschien eine kunsthistorische Dissertation zu Architektur und Städtebau der 1950er Jahre in Hamburg, die das Audimax durchgehend positiv darstellt: Die Spannbetonkonstruktion überwölbt „auf atemberaubende Weise“ das Auditorium und „Hermkes' Fähigkeiten, selbst dynamische Formen durch ausgewogene Proportionen zu bändigen, zeigt sich an der Großform gleichwie im Detail“. Die Gestaltung des Verhältnis von Tragen und Lasten beim Tragwerk und im Foyer sei meisterlich und „ohne spielerische Attitüden“. Nur das Nebeneinander von Audimax und Philturm sei wenig glücklich, das Audimax würde vom Hochhaus „fast erdrückt“. Das sah schon Hermkes so, auf einem Foto in dessen Archiv ist der Philturm wegretuschiert. Aus den Illustrationen der 2018 erschienenen ersten Monographie zum Werk von Hermkes wird die Vorliebe des Architekten für Stahlbeton offenbar. Hermkes ließ in der Rohbauphase von Ernst Scheel eine spektakuläre Serie von Schwarz-Weiß-Fotos anfertigen, auf denen durch künstliche Beleuchtung und Streiflicht die raue Oberfläche und der Abdruck der Holzschalungen im geschwungenen Beton plastisch wird. Hermkes habe es bedauert, dass diese Ästhetik durch die akustisch notwendige Holzverkleidung nicht sichtbar bleiben konnte. Das Ziel bei Planung und Bau des Audimax war es, ein Zentrum des akademischen Lebens zu bilden und dabei offen für die Stadt und deren Belange zu sein. Laut dem Autor der Werks-Monographie sei dies gelungen: Das „als regelrechte Ekklesia der Universität konzipierte Auditorium“ nehme eine zentrale Rolle innerhalb des Campus ein und sei gleichzeitig zu einem Bezugspunkt und Veranstaltungsraum für die ganze Stadt geworden. 2013 wurde das Audimax unter Denkmalschutz gestellt. Literatur Helmut Bomhard: Concrete Shell Construction – Structures and Designs in the Federal Republic of Germany. In: Theory and Experimental Investigation of Spatial Structures – Application of Shells in Engineering Structures, Vol. 1. Conference Proceedings, 23.–29. September 1985, Moskau (), S. 103–126. (Technische und wirtschaftliche Grenzen der Stahlbeton-Schalenbauweise anhand von elf Bauwerken, siehe Structurae) Giacomo Calandra di Roccolino: Bernhard Hermkes : die Konstruktion der Form. Dölling und Galitz, Hamburg 2018, ISBN 978-3-86218-095-0, S. 199–214. (Kapitel „Das Auditorium Maximum der Universität Hamburg“) Giacomo Calandra di Roccolino: Das Auditorium Maximum der Universität Hamburg: Ein Identitätsstiftendes Element für den Campus und die Stadt. In: Paolo Fusi (Hrsg.): Stadtcampus : zwischen Enklave und Agora. HCU HafenCity Universität, Hamburg 2016, ISBN 978-3-941722-33-0, S. 34–41. Ulrich Höhns: Grosse Formen und die Liebe zur Konstruktion : Bernhard Hermkes’ Hamburger Bauten. In: Werk, Bauen + Wohnen, Band 91 (2004), Heft 7/8 (Hamburg), , S. 36–45. Michael Holtmann: Die Universität Hamburg in ihrer Stadt : Bauten, Orte und Visionen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Universität Hamburg, Hamburg 2009, PPN 613205235. (Holtmann war Leiter der Bauabteilung der Universität Hamburg) Jürgen Joedicke: Schalenbau. Konstruktion und Gestaltung. Karl Krämer Verlag, Stuttgart 1962, S. 126–135. (Kapitel „Kresge Auditorium, Massachusetts Institute of Technology“ und „Auditorium Maximum, Universität Hamburg“) Peter Krieger: „Wirtschaftswunderlicher Wiederaufbau-Wettbewerb“ : Architektur und Städtebau der 1950er Jahre in Hamburg. Universität Hamburg, Hamburg 1996, , S. 205–221. (Kapitel XII, „Schulbau, Universität, Sportstätten und Krankenhausbau“) Joachim Poley: Das Auditorium maximum. In: Erich Lüth (Hrsg.): Neues Hamburg : Zeugnisse vom Wiederaufbau der Hansestadt, Band 14 („Das neue Gesicht der Stadt“). Hammerich & Lesser, Hamburg 1961, S. 27–33. Proseminar Architekturgeschichte, Leitung Klaus Herding: Das Auditorium Maximum der Universität Hamburg. Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Hamburg, Hamburg 1981. PPN 042127920 (Maschinenschrift mit Bauzeichnungen und Fotos). Weblinks Campus-Tour: Audimax auf der Website der Universität Hamburg Video mit Innenaufnahmen des Audimax auf YouTube Einzelnachweise Bauwerk der Moderne in Hamburg Universität Hamburg Erbaut in den 1950er Jahren Kulturdenkmal in Hamburg-Rotherbaum Bauwerk im Bezirk Eimsbüttel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pythagoreer
Pythagoreer
Als Pythagoreer (auch Pythagoräer, altgriechisch Πυθαγόρειοι Pythagóreioi oder Πυθαγορικοί Pythagorikoí) bezeichnet man im engeren Sinne die Angehörigen einer religiös-philosophischen, auch politisch aktiven Schule, die Pythagoras von Samos in den zwanziger Jahren des 6. Jahrhunderts v. Chr. in Süditalien gründete und die nach seinem Tod noch einige Jahrzehnte fortbestand. Im weiteren Sinn sind damit alle gemeint, die seither Ideen des Pythagoras oder ihm zugeschriebene Ideen aufgegriffen und zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Weltbildes gemacht haben. Wegen der verworrenen Quellenlage sind viele Einzelheiten der philosophischen Überzeugungen und politischen Ziele der Pythagoreer unklar, zahlreiche Fragen sind in der Forschung stark umstritten. Sicher ist, dass in einer Reihe von griechischen Städten Süditaliens Gemeinschaften von Pythagoreern bestanden, die sich als soziale und politische Reformbewegung betrachteten und mit Berufung auf die Lehren des Schulgründers massiv in die Politik eingriffen. Dabei kam es zu schweren, gewaltsamen Auseinandersetzungen, die im 5. Jahrhundert v. Chr. mit wechselndem Erfolg ausgetragen wurden und schließlich mit Niederlagen der Pythagoreer endeten. In den meisten Städten wurden die Pythagoreer getötet oder vertrieben. Für die Pythagoreer charakteristisch ist die Überzeugung, dass der Kosmos eine nach bestimmten Zahlenverhältnissen aufgebaute harmonische Einheit bildet, deren einzelne Bestandteile ebenfalls harmonisch strukturiert sind oder, soweit es sich um menschliche Lebensverhältnisse handelt, harmonisch gestaltet werden sollten. Sie nahmen an, dass in allen Bereichen – in der Natur, im Staat, in der Familie und im einzelnen Menschen – dieselben zahlenmäßig ausdrückbaren Gesetzmäßigkeiten gelten, dass überall Ausgewogenheit und harmonischer Einklang anzustreben sind und dass die Kenntnis der maßgeblichen Zahlenverhältnisse eine weise, naturgemäße Lebensführung ermöglicht. Das Streben nach Eintracht beschränkten sie nicht auf die menschliche Gesellschaft, sondern dehnten es auf die Gesamtheit der Lebewesen aus, was sich in der Forderung nach Rücksichtnahme auf die Tierwelt zeigte. Forschungsprobleme Von Pythagoras sind keine authentischen Schriften überliefert, nur einige ihm zugeschriebene Verse sind möglicherweise echt. Schon in der Antike gab es unterschiedliche Meinungen darüber, welche der als pythagoreisch geltenden Lehren tatsächlich auf ihn zurückgehen. Die Unterscheidung zwischen frühpythagoreischem und späterem Gedankengut gehört bis heute zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen der antiken Philosophiegeschichte. In der Forschung ist sogar strittig, ob es sich bei der Lehre des Pythagoras tatsächlich um Philosophie und um wissenschaftliche Bestrebungen handelte oder um eine rein mythisch-religiöse Kosmologie. Zu diesen Schwierigkeiten trägt das frühe Einsetzen einer üppigen Legendenbildung bei. Die Schule des Pythagoras Die politische Geschichte der Schule bis zu ihrem Untergang im 5. Jahrhundert v. Chr. ist in Umrissen bekannt. Hinsichtlich ihres Zwecks und ihrer Arbeitsweise und Organisation gehen die Meinungen der Historiker jedoch weit auseinander. Politische Geschichte der Schule Pythagoras stammte von der griechischen Insel Samos. Er emigrierte zwischen 532 und 529 v. Chr. in ein damals von Griechen besiedeltes Gebiet Süditaliens, wo er sich zunächst in Kroton (heute Crotone in Kalabrien) niederließ. Dort gründete er die Schule, die von Anfang an neben den Studien auch politische Ziele verfolgte. Am Krieg zwischen Kroton und der ebenfalls griechischen Stadt Sybaris, der von Sybaris ausging und mit großer Brutalität ausgetragen wurde, nahmen die Pythagoreer aktiv teil. Der Befehlshaber des Heeres der Krotoniaten, der berühmte Athlet Milon, war Pythagoreer. Nach dem Sieg über Sybaris, das erobert und geplündert wurde (510), wurden die Pythagoreer in heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Bürgerschaft von Kroton verwickelt. Dabei ging es um die Verteilung des eroberten Landes und um eine Verfassungsänderung. Wegen dieser Unruhen verlegte Pythagoras seinen Wohnsitz nach Metapontion (heute Metaponto in der Basilikata). Dort setzte er seine Lehrtätigkeit fort, während in Kroton seine hart bedrängten Anhänger unterlagen und vorübergehend die Stadt verlassen mussten. Als Anführer der gegnerischen Partei trat ein vornehmer Bürger namens Kylon hervor (daher „kylonische Unruhen“), und auch ein Volksredner namens Ninon hetzte gegen die Pythagoreer. Berichte einzelner Quellen, wonach es damals bereits zu einer blutigen Verfolgung kam, beruhen aber anscheinend auf Verwechslung mit späteren Vorgängen. Da die Schule erhebliche Ausstrahlungskraft hatte, bildeten sich auch in anderen griechischen Städten Süditaliens Pythagoreergemeinschaften, die wohl auch dort in die Politik eingriffen. Eine institutionalisierte Herrschaft der Pythagoreer hat es aber weder in Kroton noch in Metapontion oder anderswo gegeben, sondern nur eine mehr oder weniger erfolgreiche Einflussnahme auf den jeweiligen Rat der Stadt und auf die Bürgerversammlung. Mehrere Quellen berichten, dass der Pythagoreismus sich auch in der nichtgriechischen Bevölkerung verbreitete. Genannt werden u. a. die Stämme der Lukanier und Messapier. Pythagoras starb in den letzten Jahren des 6. Jahrhunderts oder im frühen 5. Jahrhundert. Nach seinem Tod setzten seine Schüler ihre Aktivitäten in den Städten fort. Es bestand nun aber wohl keine zentrale Lenkung der Schule mehr, denn Pythagoras hatte anscheinend keinen Nachfolger als allgemein anerkanntes Schuloberhaupt. Die Pythagoreer waren – gemäß ihrer insgesamt auf Harmonie und Stabilität ausgerichteten Weltanschauung – politisch konservativ. Dadurch wurden sie zu Verbündeten der traditionell in den Stadträten dominierenden Geschlechter. Sie stießen aber, wie das Beispiel Kylons zeigt, in den einflussreichen Familien auch auf Opposition. Ihre natürlichen Feinde waren überall die Agitatoren, die für einen Umsturz und für die Einführung der Demokratie eintraten und nur auf diesem Wege Macht erlangen konnten. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts oder etwas später kamen in einer Reihe von Städten demokratisch gesinnte Volksredner an die Macht. Sie gingen, damaliger Sitte folgend, mit großer Härte gegen die Anhänger der unterlegenen Partei vor. Daher kam es zu blutigen Verfolgungen der Pythagoreer, die entweder getötet wurden oder aus den Städten fliehen mussten. Die politischen Wirren hielten anscheinend längere Zeit an. Dabei konnten die Pythagoreer sich zeitweilig wieder durchsetzen; schließlich unterlagen sie jedoch überall außer in Tarent, wo sie noch bis um die Mitte des 4. Jahrhunderts eine starke Stellung hatten. Viele von ihnen emigrierten nach Griechenland. Die Schule hörte als Organisation zu bestehen auf. Der Unterricht und sein Zweck Die Pythagoreer zerfielen laut einigen Quellenberichten in zwei Gruppen oder Richtungen, die „Mathematiker“ und die „Akusmatiker“. „Mathematiker“ waren diejenigen, welche sich mit „Mathemata“ befassten, das heißt mit schriftlich festgehaltenen Lerngegenständen und Empirie (auch, aber nicht nur Mathematik im heutigen Wortsinn). Dies kann als eine frühe Form von mathematisch-naturwissenschaftlicher Forschung betrachtet werden. Akusmatiker wurden Pythagoreer genannt, die sich auf „Akusmata“ (Gehörtes) beriefen, also auf die nur mündlich mitgeteilten Lehren des Pythagoras; dabei ging es hauptsächlich um Verhaltensregeln und das religiöse Weltbild. Unklar ist, ob schon Pythagoras seine Schüler gemäß ihren Neigungen und Fähigkeiten in zwei Gruppen mit verschiedenen Aufgaben aufteilte oder die Abgrenzung zwischen den beiden Richtungen erst nach seinem Tod deutlich wurde. Jedenfalls kam es nach einem Bericht, den manche Forscher auf Aristoteles zurückführen, zu einem unbekannten Zeitpunkt nach dem Tod des Schulgründers zu einer Spaltung zwischen den zwei Richtungen. Dabei nahm jede von ihnen für sich in Anspruch, die authentische Tradition des Pythagoras fortzusetzen. Der völlig verschiedenartige Charakter dieser beiden Richtungen gibt bis heute Rätsel auf. So ist unklar, welche der beiden Gruppen älter, welche größer und welche für den Pythagoreismus wichtiger war, welche den Kern der Schule ausmachte und damit als fortgeschrittener und höherrangig galt. Darüber gehen die Ansichten in der Forschung weit auseinander. Manche Gelehrte (besonders Walter Burkert) meinen, dass zu Lebzeiten des Pythagoras alle Pythagoreer Akusmatiker waren und dass die griechische Wissenschaft außerhalb des Pythagoreismus entstanden ist. Demnach waren die „Mathematiker“ einzelne Pythagoreer, die sich erst nach dem Tod des Schulgründers mit wissenschaftlichen Anliegen zu befassen begannen; ihr Wirken fiel größtenteils in die Zeit nach dem Untergang der Schule. Diese „Mathematiker“ waren aber diejenigen Repräsentanten des Pythagoreismus, mit denen sich Platon im 4. Jahrhundert auseinandersetzte. Sie prägten das später (und bis heute) in der Öffentlichkeit vorherrschende, nach Burkerts Ansicht falsche Bild vom anfänglichen Pythagoreismus, indem sie ihn als eine Pflanzstätte wissenschaftlicher Forschung erscheinen ließen. Hinzu kam, dass schon die Schüler Platons und des Aristoteles platonische Gedanken für pythagoreisch hielten. In Wirklichkeit war die Schule nach Burkerts Deutung ein Bund mit religiösen und politischen Zielen, der seine esoterischen Lehren geheim hielt und kein Interesse an Wissenschaft hatte. Burkert vergleicht die Pythagoreergemeinschaft mit den Mysterienkulten. Der Hauptvertreter der gegenteiligen Auffassung ist gegenwärtig Leonid Zhmud. Sie besagt, es habe weder eine Geheimlehre der frühen Pythagoreer noch eine für alle verbindliche religiöse Doktrin gegeben. Die Schule sei eine „Hetairie“ gewesen, ein lockerer Zusammenschluss autonom forschender Personen. Diese hätten sich gemeinschaftlich – aber ohne Fixierung auf vorgegebene Dogmen – ihren wissenschaftlichen und philosophischen Studien gewidmet. Außerdem seien sie durch bestimmte politische Ziele verbunden gewesen. Die Berichte über die Akusmatiker seien späte Erfindungen. Die Akusmata – ursprünglich „Symbola“ genannt – seien nur Sprüche und nicht konkrete, verbindliche Regeln für den Alltag gewesen. Sie seien zwar sehr alt, wie auch Burkert meint, aber großenteils nicht pythagoreischen Ursprungs. Vielmehr seien es teils Weisheitssprüche unbestimmter Herkunft, teils handle es sich um uralten Volksaberglauben, der in Pythagoreerkreisen in symbolischem Sinn umgedeutet wurde. Burkert bemerkt: „Die modernen Kontroversen um Pythagoras und den Pythagoreismus sind im Grunde nur die Fortsetzung des alten Streits zwischen ‚Akusmatikern‘ und ‚Mathematikern‘.“ Andere Gelehrte wie B. L. van der Waerden vertreten eine Mittelposition. Sie weisen weder der einen noch der anderen Gruppe die Priorität und alleinige Authentizität zu, sondern meinen, die Unterscheidung zwischen Mathematikern und Akusmatikern gehe auf unterschiedliche Bestrebungen zurück, die schon zu Pythagoras’ Lebzeiten in der Schule bestanden. Nach dem Tod des Schulgründers habe sich daraus ein Gegensatz entwickelt, der zur Spaltung der Schule führte. Späte Quellen schildern die Pythagoreer – gemeint sind offenbar Akusmatiker – als eine verschworene Gemeinschaft von Jüngern, die ihren Meister als göttliches oder jedenfalls übermenschliches Wesen verehrten und blind an seine Unfehlbarkeit glaubten. Dieser Glaube soll dazu geführt haben, dass sie jede Frage durch Berufung auf eine (angebliche) mündliche Äußerung des Pythagoras entschieden. Allein der „Autoritätsbeweis“ durch die Versicherung „Er selbst [Pythagoras] hat es gesagt“ habe bei ihnen gegolten. In diesen Zusammenhang gehören auch Berichte, wonach Pythagoras Bewerber, die in seine Schule eintreten wollten, zunächst physiognomisch prüfte und ihnen dann eine lange (nach manchen Angaben fünfjährige) Schweigezeit auferlegte, nach deren erfolgreicher Absolvierung sie in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Pythagoreer der Frühzeit Der prominenteste unter den forschenden Pythagoreern der Frühzeit war der Mathematiker und Musiktheoretiker Hippasos von Metapont. Er soll Klangexperimente durchgeführt haben, um das Verhältnis der Konsonanzen zu messbaren physikalischen Größen zu bestimmen. Bekannt ist er vor allem durch die früher herrschende Ansicht, er habe eine „Grundlagenkrise“ des Pythagoreismus ausgelöst, indem er die Inkommensurabilität entdeckte und damit die Behauptung widerlegte, alle Phänomene seien als Erscheinungsformen ganzzahliger Zahlverhältnisse erklärbar. Angeblich schlossen die Pythagoreer Hippasos daraufhin aus und betrachteten seinen Tod durch Ertrinken im Meer als göttliche Strafe für den „Geheimnisverrat“. Die Entdeckung der Inkommensurabilität mag eine historische Tatsache sein, aber die Vermutung, dies habe zu einer Grundlagenkrise geführt, wird in der neueren Forschung abgelehnt. Zu den frühen Pythagoreern gehörten ferner: Milon von Kroton, einer der berühmtesten antiken Athleten. Als einziger siegte er sechsmal in Olympia. Er war der siegreiche Heerführer Krotons im Krieg gegen Sybaris (510). Milon soll eine Tochter des Pythagoras namens Myia geheiratet haben. Demokedes von Kroton, der nach dem Urteil Herodots der beste Arzt seiner Zeit war. Er war Schwiegersohn Milons von Kroton und beteiligte sich auf der pythagoreischen Seite an den politischen Kämpfen in seiner Heimatstadt. Schon sein Vater, der Arzt Kalliphon, soll von Pythagoras beeinflusst gewesen sein. möglicherweise auch der berühmte Naturphilosoph Alkmaion von Kroton, der die Gesundheit als harmonisches Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte im Körper auffasste. Ob er auch als Arzt praktizierte, ist umstritten. In der Frühzeit sollen auch Frauen in der Bewegung aktiv gewesen sein. Insbesondere wird in den Quellen oft der Name von Pythagoras’ Gattin Theano genannt. Ihr wurden später zahlreiche Aussprüche und Schriften zugeschrieben, die vor allem von Tugend und Frömmigkeit handelten, sowie sieben Briefe, die erhalten sind. Der Philosoph Parmenides soll Schüler eines Pythagoreers namens Ameinias gewesen sein; pythagoreischer Einfluss auf ihn wird von der heutigen Forschung angenommen, das Ausmaß ist aber unklar. Der Philosoph Empedokles, der Pythagoras bewunderte, war zwar kein Pythagoreer im engeren Sinne, stand aber der pythagoreischen Gedankenwelt sehr nahe. Lehren und Legenden Trotz der ungeheueren persönlichen Autorität des Pythagoras war der frühe ebenso wie auch der spätere Pythagoreismus kein verbindlich fixiertes, in sich geschlossenes und detailliert ausgearbeitetes dogmatisches Lehrgebäude. Eher handelte es sich um eine bestimmte Art der Weltbetrachtung, die für unterschiedliche Ansätze Spielraum ließ. Alle Pythagoreer teilten die Grundüberzeugung, die gesamte erkennbare Welt sei eine auf der Basis bestimmter Zahlen und Zahlenverhältnisse aufgebaute, prinzipiell harmonisch gestaltete Einheit. Diese Gesetzmäßigkeit bestimme alle Bereiche der Wirklichkeit gleichermaßen. Die Kenntnis der maßgeblichen Zahlenverhältnisse betrachteten sie daher als den Schlüssel zum Verständnis von allem und als Voraussetzung für eine gute, naturgemäße Lebensführung. Ihr Ziel war es, die unterschiedlichen und gegensätzlichen Kräfte durch Ausgewogenheit zu einem harmonischen Einklang zu bringen, sowohl im menschlichen Körper als auch in der Familie und im Staat. Dabei wollten sie das, was sie als Maß, Ordnung und Harmonie zu erkennen meinten, überall in der Natur finden und in ihrem eigenen Leben wahren. Sie gingen also von einer ganzheitlichen Deutung des Kosmos aus. Das, was in ihm in Unordnung geraten war, wollten sie in die natürliche Ordnung zurückbringen. Im Sinne dieses Weltbildes hielten sie alle beseelten Wesen für miteinander verwandt und leiteten daraus ein Gebot der Rücksichtnahme ab. Hinsichtlich der Einzelheiten gingen ihre Meinungen aber oft weit auseinander. Seelenlehre Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele gehört zum ältesten Bestand der frühpythagoreischen Philosophie. Sie ist eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Pythagoreismus und Platonismus, die sich im Lauf ihrer Entwicklung gegenseitig beeinflussten und bei manchen Philosophen miteinander verschmolzen. Die Pythagoreer waren ebenso wie die Platoniker von der Seelenwanderung überzeugt. Dabei nahmen sie keinen Wesensunterschied zwischen menschlichen und tierischen Seelen an. Diese Idee setzte die Unsterblichkeit der Seele voraus. Da jedoch die Pythagoreer in den harmonischen Zahlenverhältnissen das Fundament der Weltordnung sahen, gab es bei ihnen auch die Vorstellung, dass die Seele eine Harmonie sei, nämlich das harmonische Gleichgewicht der den Körper bestimmenden Kräfte. Das ist mit der Unsterblichkeitsidee schwer zu vereinbaren. In diesem Widerspruch zeigt sich die Unfertigkeit des in Entwicklung begriffenen pythagoreischen Philosophierens. Platon setzte sich in seinem Dialog Phaidon mit der Deutung der Seele als Harmonie auseinander und bemühte sich sie zu widerlegen. Ein weiterer Bereich, in dem innerhalb der pythagoreischen Bewegung offenbar disparate Ideen vertreten und nicht zu einem stimmigen Ganzen verbunden wurden, war die Frage nach der Bestimmung und Zukunft der Seele. Ein wesentlicher, allerdings für die sehr quellenarme Frühzeit nicht eindeutig bezeugter Bestandteil des Pythagoreismus war die religiöse Überzeugung, dass die menschliche Seele göttlicher Herkunft und Natur sei. Daraus folgte (wie bei den Orphikern und den Platonikern), dass es die Aufgabe und Bestimmung der Seele sei, aus dem Diesseits in ihre jenseitige Heimat zurückzukehren. Darauf sollte sie sich durch Schulung und rechte Lebensführung vorbereiten. Ihr wurde zugetraut, ihre göttlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten zurückzuerlangen. Der Umstand, dass Pythagoras von vielen seiner Anhänger als gottähnliches Wesen betrachtet wurde, zeigt, dass ein solches Ziel grundsätzlich erreichbar schien. Mit diesem Erlösungsstreben schwer vereinbar war jedoch ein anderes Konzept, welches von einem ewigen, unabänderlichen Kreislauf des Weltgeschehens ausging. Die Annahme, dass ein einheitlicher Kosmos immer und überall von den gleichen mathematischen Gegebenheiten bestimmt sei, und die zyklische Natur der gleichmäßigen Bewegungen der Himmelskörper führten dazu, auch das Schicksal der Menschheit als vorbestimmt und zyklisch aufzufassen. Daher herrschte zumindest bei einem Teil der Pythagoreer ein astrologischer Fatalismus, also die Vorstellung von der zwangsläufigen ewigen Wiederkunft aller irdischen Verhältnisse entsprechend den Gestirnbewegungen. Dieser Idee zufolge beginnt die Weltgeschichte von neuem als exakte Wiederholung, sobald alle Planeten nach Ablauf einer langen kosmischen Periode, des „Großen Jahres“, ihre Ausgangsstellung wieder erreicht haben. Als religiöse Erlösungslehre präsentierte sich der Pythagoreismus insbesondere in einem sehr populären antiken Gedicht eines unbekannten Autors, den „Goldenen Versen“. Dort wird dem Menschen, der sich an die philosophischen Lebensregeln hält und zur Erkenntnis der Weltgesetze vorgedrungen ist, in Aussicht gestellt, dass seine Seele dem Leiden und der Sterblichkeit entrinnen und in die Daseinsweise unsterblicher Götter überwechseln könne. Dies hatte schon im 5. Jahrhundert Empedokles als Ziel formuliert. Ernährung und Kleidung Ebenso wie viele andere philosophische Richtungen traten die Pythagoreer für Beherrschung der Begierden und damit auch für eine einfache Lebensweise und frugale Ernährung ein. Dass sie jeden Luxus – insbesondere den Kleiderluxus – verwarfen, ergab sich aus ihrer allgemeinen Forderung, das rechte Maß zu wahren und so die Harmonie zu verwirklichen. Ein Kernbestandteil des ursprünglichen Pythagoreismus war der Vegetarismus. Er wurde als „Enthaltung vom Beseelten“ bezeichnet. Diese Bezeichnung weist auf die ethische und religiöse Wurzel des pythagoreischen Vegetarismus hin. Er hing mit der Überzeugung zusammen, dass die Seelen der Menschen und diejenigen der Tiere nicht essentiell verschieden seien und man den Tieren somit Rücksichtnahme schulde. Verschiedene Legenden, nach denen Pythagoras sich Tieren verständlich machen konnte, zeugen von einer besonderen Nähe der Pythagoreer zur Tierwelt. Daher wurden neben der Fleischnahrung auch die Tieropfer verworfen. Damit waren aber soziale Probleme verbunden, denn die Teilnahme an den traditionellen Opfern und den anschließenden Opfermahlzeiten gehörte zu den wichtigsten gemeinschaftsstiftenden Bräuchen, und die politisch aktiven Pythagoreer mussten auf ihr Ansehen in der Bürgerschaft Wert legen. Daher gab es anscheinend kein für alle verbindliches Gebot, und nur ein Teil der Pythagoreer lebte vegetarisch. Ein strenges Tabu richtete sich gegen den Verzehr von Bohnen. Der ursprüngliche Grund des Bohnenverbots war schon in der Antike unbekannt, es wurde darüber gerätselt. Gelegentlich wurde ein gesundheitlicher Grund angedeutet, aber meist ging man davon aus, dass es ein religiöses Tabu war. Es wurde sogar angenommen, das Verbot sei so umfassend gewesen, dass es auch bloße Berührung einer Bohnenpflanze absolut untersagte. Daher entstanden Legenden, wonach vor Verfolgern fliehende Pythagoreer (bzw. Pythagoras selbst) eher den Tod in Kauf nahmen, als ein Bohnenfeld zu durchqueren. Der tatsächliche Grund für das Bohnentabu ist bis heute nicht geklärt. Die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit dem Favismus, einer erblichen Enzymkrankheit, bei welcher der Genuss von Ackerbohnen (Vicia faba) gesundheitsgefährlich ist, wurde mehrfach als Erklärung erwogen. Diese Hypothese findet in den Quellen keine konkrete Stütze und ist daher spekulativ. Freundschaftsideal Eine wichtige Rolle spielte im Pythagoreismus das Konzept der Freundschaft (philía). Dieser Begriff wurde gegenüber seiner normalen Bedeutung stark ausgeweitet. Da die Pythagoreer den Kosmos als Einheit von zusammengehörigen und harmonisch zusammenwirkenden Bestandteilen auffassten, gingen sie von einer naturgegebenen Freundschaft sämtlicher Lebewesen (einschließlich der Götter) untereinander aus. Dieses Ideal universaler Freundschaft und Harmonie in der Welt erinnert an den Mythos vom paradiesischen Goldenen Zeitalter. Das Ziel war, die so verstandene Verbundenheit aller zu erkennen und im eigenen Leben umzusetzen. Damit war aber – wie die Beteiligung am Krieg gegen Sybaris schon zu Lebzeiten des Pythagoras zeigt – kein absoluter Gewaltverzicht im Sinne des Pazifismus verbunden. Insbesondere praktizierten die Pythagoreer die Freundschaft untereinander. Manche von ihnen verstanden darunter eine unbedingte Loyalität nicht nur zu ihren persönlichen Freunden, sondern zu jedem Pythagoreer. Über die Freundestreue sind einige Anekdoten überliefert. Die berühmteste ist die Geschichte von Damon und Phintias, die von Friedrich Schiller für seine Ballade Die Bürgschaft verwertet wurde. Es wird erzählt, dass der Pythagoreer Phintias wegen eines Komplotts gegen den Tyrannen Dionysios zum Tode verurteilt wurde, aber die Erlaubnis erhielt, vor der Hinrichtung seine persönlichen Angelegenheiten in Freiheit zu regeln, da sich sein Freund Damon als Geisel für seine Rückkehr verbürgte. Phintias kehrte rechtzeitig zurück; anderenfalls wäre Damon an seiner Stelle hingerichtet worden. Dies beeindruckte den Tyrannen stark, worauf er Phintias begnadigte und selbst vergeblich um Aufnahme in den Freundschaftsbund bat. Nach einer Version hatte Dionysios den ganzen Vorfall nur zum Schein arrangiert, um die legendäre Treue der Pythagoreer auf die Probe zu stellen, nach einer anderen Version handelte es sich um eine wirkliche Verschwörung. Bekannt war in der Antike der Grundsatz der Pythagoreer, dass der Besitz der Freunde gemeinsam sei (koiná ta tōn phílōn). Dies ist aber nicht im Sinne einer „kommunistischen“ Gütergemeinschaft zu verstehen; eine solche wurde – wenn überhaupt – nur von wenigen praktiziert. Gemeint war, dass die Pythagoreer einander in materiellen Notlagen spontan und großzügig unterstützten. Mathematik und Zahlensymbolik Zahlen und Zahlenverhältnisse haben in der pythagoreischen Lehre von Anfang an eine zentrale Rolle gespielt. Dies ist ein Merkmal, das den Pythagoreismus von anderen Ansätzen unterscheidet. Ob das aber bedeutet, dass Pythagoras schon Mathematik getrieben hat, ist strittig. Manche Forscher (insbesondere Walter Burkert) haben die Ansicht vertreten, er habe sich nur mit Zahlensymbolik befasst, wissenschaftliches Denken sei ihm fremd gewesen, und erst um die Mitte des 5. Jahrhunderts habe sich Hippasos als erster Pythagoreer mathematischen Studien zugewandt. Die Gegenposition von Leonid Zhmud lautet, die frühen Pythagoreer seien Mathematiker gewesen und die Zahlenspekulation sei erst spät hinzugekommen und nur von vereinzelten Pythagoreern betrieben worden. Der Grundgedanke der Zahlenspekulation wird oft in dem Kernsatz „Alles ist Zahl“ zusammengefasst. In damaliger Ausdrucksweise besagt das, dass die Zahl für die Pythagoreer die archē, das konstituierende Urprinzip der Welt gewesen sei. Damit fiele der Zahl diejenige Rolle zu, die Thales dem Wasser und Anaximenes der Luft zugewiesen hatte. Diese Auffassung ist aber im frühen Pythagoreismus nicht belegt. Aristoteles schreibt sie „den Pythagoreern“ zu, ohne Namen zu nennen. Er kritisiert sie und unterstellt dabei, die Pythagoreer hätten unter den Zahlen etwas Stoffliches verstanden. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts schrieb der Pythagoreer Philolaos, alles für uns Erkennbare sei notwendigerweise mit einer Zahl verknüpft, denn das sei eine Voraussetzung für gedankliches Erfassen. Seine Feststellung bezieht sich aber nur auf den menschlichen Erkenntnisprozess. Sie besagt nicht im Sinne einer Ontologie der Zahl, dass alle Dinge aus Zahlen bestehen oder hervorgehen. Die Auffassung, dass die Zahlen selbst die Dinge seien, wird oft als typisch pythagoreisch bezeichnet. Dies ist jedoch nur Aristoteles’ möglicherweise irriges Verständnis der pythagoreischen Lehre. Das für Philolaos Wesentliche war der Unterschied zwischen dem nach Zahl, Größe und Form Begrenzten und dem Unbegrenzten, das er für prinzipiell unerforschbar hielt, und das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren. Ausgangspunkt der konkreten Zahlenspekulation war der Gegensatz von geraden und ungeraden Zahlen, wobei die ungeraden als begrenzt (und damit höherrangig) und – wie im chinesischen Yin und Yang – als männlich bezeichnet wurden und die geraden als unbegrenzt und weiblich. Die als Prinzip der Einheit aufgefasste Eins galt als der Ursprung, aus dem alle Zahlen hervorgehen (und infolgedessen die ganze Natur); so gesehen war sie selbst eigentlich keine Zahl, sondern stand jenseits der Zahlenwelt, obwohl sie rechnerisch als Zahl wie alle anderen erscheint. So konnte die Eins paradoxerweise als gerade und ungerade zugleich bezeichnet werden, was rechnerisch nicht zutrifft. Die Zahlen stellte man mit Zählsteinen dar, und mit den ebenen geometrischen Figuren, die mit solchen Steinen gelegt werden können (beispielsweise einem gleichseitigen Dreieck), wurden die den Zahlen zugewiesenen Eigenschaften demonstriert. Große Bedeutung legte man dabei der Tetraktys („Vierheit“) bei, der Gesamtheit der Zahlen 1, 2, 3 und 4, deren Summe die 10 ergibt, die bei Griechen und „Barbaren“ (Nichtgriechen) gleichermaßen als Grundzahl des Dezimalsystems diente. Die Tetraktys und die „vollkommene“ Zehn betrachtete man als für die Weltordnung grundlegend. Einzelne mathematische Erkenntnisse wurden in der Antike – zu Recht oder zu Unrecht – den Pythagoreern oder einem bestimmten Pythagoreer zugeschrieben. Pythagoras soll einen Beweis für den nach ihm benannten Satz des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck gefunden haben. Hippasos von Metapont schrieb man die Konstruktion des einer Kugel einbeschriebenen Dodekaeders und die Entdeckung der Inkommensurabilität zu. Eine nicht genau bekannte Rolle spielten Pythagoreer bei der Entwicklung der Lehre von den drei Mitteln (arithmetisches, geometrisches und harmonisches Mittel). Ferner sollen sie unter anderem den Satz über die Winkelsumme im Dreieck bewiesen haben. Womöglich stammen große Teile von Euklids Elementen – sowohl der arithmetischen als auch der geometrischen Bücher – aus verlorener pythagoreischer Literatur; dazu gehörte die Theorie der Flächenanlegung. Kosmologie und Astronomie In der Astronomie vertraten die Pythagoreer keinen einheitlichen Standpunkt. Das älteste Modell, das wir kennen, ist dasjenige des Philolaos aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Es nimmt ein Zentralfeuer an, das den Mittelpunkt des Universums bildet und um das die Himmelskörper einschließlich der Erde kreisen. Für uns ist es unsichtbar, da die bewohnten Gegenden der Erde auf der ihm stets abgewandten Seite liegen. Um das Zentralfeuer kreist auf der innersten Bahn die Gegenerde, die für uns ebenfalls unsichtbar ist, da sie vom Zentralfeuer verdeckt wird. Darauf folgen (von innen nach außen) die Erdbahn und die Bahnen von Mond, Sonne und fünf Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn). Umschlossen ist das Ganze von einer kugelförmigen Schale, auf der sich die Fixsterne befinden. Aristoteles kritisierte dieses System, da es nicht von den Erscheinungen, sondern von vorgefassten Ansichten ausgehe; die Gegenerde sei nur eingeführt worden, um die Zahl der bewegten Körper am Himmel auf zehn zu bringen, da diese Zahl als vollkommene galt. Aristoteles erwähnt, dass „einige“ Pythagoreer einen Kometen zu den Planeten zählten. Das widerspricht der Zehnzahl bei Philolaos. Auch über die Milchstraße hatten die Pythagoreer keine einheitliche Meinung. Daraus ist zu ersehen, dass die frühen Pythagoreer kein gemeinsames, für alle verbindliches Kosmosmodell hatten. Manche Forscher nehmen an, dass es vor Philolaos ein völlig anderes, nämlich geozentrisches pythagoreisches Modell gab. Es sah vor, dass sich die kugelförmige Erde im Zentrum des Kosmos befindet und vom Mond, der Sonne und den damals bekannten fünf Planeten umkreist wird. Zu den wichtigsten Annahmen der Pythagoreer gehörte die Idee der Sphärenharmonie oder – wie die Bezeichnung in den ältesten Quellen lautet – „Himmelsharmonie“. Man ging davon aus, dass bei der Kreisbewegung der Himmelskörper ebenso wie bei Bewegungen irdischer Objekte Geräusche entstehen. Wegen der Gleichförmigkeit der Bewegung konnte dies für jeden Himmelskörper immer nur ein konstanter Ton sein. Die Gesamtheit dieser Töne, deren Höhe von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten und den Abständen der Himmelskörper abhing, sollte einen kosmischen Klang ergeben. Diesen betrachtete man als für uns unhörbar, da er ununterbrochen erklinge und uns nur durch sein Gegenteil, durch einen Gegensatz zwischen Klang und Stille zu Bewusstsein käme. Allerdings soll Pythagoras laut einer Legende als einziger Mensch imstande gewesen sein, die Himmelsharmonie zu hören. Da die Töne der Himmelskörper nur als gleichzeitig, nicht als nacheinander erklingend gedacht werden konnten, musste als Ergebnis ihres Zusammenklingens ein ebenfalls stets unveränderter Klang angenommen werden. Daher ist der populäre Begriff „Sphärenmusik“ sicher unpassend. Dass der Zusammenklang harmonisch ist, ergibt sich in diesem Modell aus der Annahme, dass die Entfernungen der kreisenden Himmelskörper vom Zentrum und ihre bei größerer Entfernung entsprechend höheren Geschwindigkeiten eine bestimmte arithmetische Proportion aufweisen, die dies ermöglicht. Musik Die Musik war derjenige Bereich, in dem die Grundidee einer auf Zahlenverhältnissen beruhenden Harmonie am einfachsten demonstrierbar war. Den musikalischen Gesetzmäßigkeiten galt die besondere Aufmerksamkeit der Pythagoreer. Auf diesem Gebiet haben sie offenbar auch experimentiert. Pythagoras wurde in der Antike allgemein als Begründer der mathematischen Analyse der Musik angesehen. Platon bezeichnete die Pythagoreer als Urheber der musikalischen Zahlenlehre, sein Schüler Xenokrates schrieb die entscheidende Entdeckung Pythagoras selbst zu. Dabei ging es um die Darstellung der harmonischen Intervalle durch einfache Zahlenverhältnisse. Das konnte durch Streckenmessung veranschaulicht werden, da die Tonhöhe von der Länge einer schwingenden Saite abhängt. Für solche Versuche eignete sich das Monochord mit verstellbarem Steg. Einen anderen, ebenfalls tauglichen Weg zur Quantifizierung fand Hippasos, der die Töne bronzener Scheiben von unterschiedlicher Dicke bei gleichem Durchmesser untersuchte. Sicher unhistorisch ist allerdings die Legende von Pythagoras in der Schmiede, der zufolge Pythagoras zufällig an einer Schmiede vorbeiging und, als er die unterschiedlichen Klänge der verschieden schweren Hämmer hörte, sich von dieser Beobachtung dazu anregen ließ, mit an Saiten aufgehängten Metallgewichten zu experimentieren. Platon, der eine rein spekulative, aus allgemeinen Prinzipien abgeleitete Musiktheorie forderte und die Sinneserfahrung durch das Gehör für unzureichend hielt, kritisierte die Pythagoreer wegen ihres empirischen Vorgehens. Die Musik eignete sich zur Abstützung der These einer universalen Harmonie und der Verflochtenheit aller Teile des Kosmos. Durch die Idee der klingenden Himmelsharmonie war sie mit der Astronomie verbunden, durch die Messbarkeit der Tonhöhen mit der Mathematik, durch ihre Wirkung auf das Gemüt mit der Seelenkunde, der ethischen Erziehung und der Heilkunst. Die Pythagoreer befassten sich mit den unterschiedlichen Wirkungen verschiedener Instrumente und Tonarten auf das menschliche Gemüt. Den Legenden zufolge setzte Pythagoras ausgewählte Musik gezielt zur Beeinflussung unerwünschter Affekte und zu Heilzwecken ein, betrieb also eine Art Musiktherapie. Entwicklung nach den antipythagoreischen Unruhen Von den Pythagoreern der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts scheint der Naturphilosoph Philolaos einer der prominentesten gewesen zu sein. Er gehörte anscheinend zu denjenigen, die wegen der politischen Verfolgung in Italien nach Griechenland gingen. Jedenfalls lehrte er zumindest zeitweilig in Theben. Seine Kosmologie mit der Annahme eines Zentralfeuers in der Mitte des Universums unterschied sich stark von der zuvor dominierenden. Den Mond hielt er für bewohnt, die Sonne für glasartig (also kein eigenes Licht ausstrahlend, sondern fremdes Licht wie eine Linse sammelnd). Seine Ansichten sind nur aus Fragmenten seines Buchs bekannt, deren Echtheit zum Teil umstritten ist. Im 4. Jahrhundert v. Chr. war der bedeutendste Pythagoreer der mit Platon befreundete Archytas von Tarent. Er war sowohl ein erfolgreicher Staatsmann und Heerführer seiner Heimatstadt als auch Philosoph, Mathematiker, Physiker, Musiktheoretiker und ein hervorragender Ingenieur. Das pythagoreische Konzept einer mathematisch fassbaren Harmonie wandte er auf die Politik an, indem er für einen kalkulierten Ausgleich zwischen den sozialen Schichten eintrat. Die Eintracht der Bürger führte er auf eine angemessene, von allen als gerecht empfundene Besitzverteilung zurück. Platon befasste sich intensiv mit der pythagoreischen Philosophie. Umstritten ist die Frage, inwieweit die Ansichten des Philolaos und des Archytas sein Bild von ihr prägten. Nach seinem Tod dauerte in der Platonischen Akademie das Interesse am Pythagoreismus an, und unter den Platonikern bestand die Neigung, Anregungen aus dieser Tradition aufzunehmen und Platon in entsprechendem Sinne zu deuten. Aristoteles verfasste eine Schrift über die Pythagoreer, von der nur Fragmente erhalten geblieben sind, und setzte sich auch sonst kritisch mit dem Pythagoreismus auseinander. Unter anderem argumentierte er gegen die Himmelsharmonie (Sphärenharmonie). Im 4. Jahrhundert lebten in Griechenland zahlreiche aus Italien geflüchtete Anhänger des Pythagoras. Man unterschied nun zwischen „Pythagoreern“ und „Pythagoristen“ (von Pythagoristḗs „die pythagoreische Lebensweise Befolgender“). Die letzteren waren ein beliebtes Ziel des Spotts der Komödiendichter, da sie bettelten und asketisch lebten. Besonders ihre äußerst genügsame Ernährungsweise wurde in Komödien aufs Korn genommen. Sie wurden als schmutzige Sonderlinge dargestellt. Daneben gab es aber unter den aus Italien emigrierten Pythagoreern auch Gelehrte, die sich Respekt zu verschaffen wussten. Zu ihnen gehörte Lysis. Er wurde in Theben Lehrer des später berühmten Staatsmanns und Feldherrn Epameinondas; auf diesem Weg hat möglicherweise der Pythagoreismus ein letztes Mal auf die Politik Einfluss genommen. Zu den im späten 5. und im 4. Jahrhundert tätigen Pythagoreern gehörten ferner: Damon und Phintias aus Syrakus, deren berühmte Freundschaft für die Nachwelt vorbildlich wurde Diodoros von Aspendos, der besonders den pythagoreischen Vegetarismus vertrat und durch sein Auftreten als barfüßiger, langhaariger Asket Aufsehen erregte Echekrates von Phleius, ein Schüler des Philolaos, der in Platons Dialog Phaidon als Gesprächspartner auftritt Ekphantos, der ein geozentrisches Weltbild vertrat, wobei er eine Achsendrehung der Erde von West nach Ost annahm. In der Erkenntnistheorie war er Subjektivist. Eurytos, ein Schüler des Philolaos, der die pythagoreische Zahlenlehre auf Tiere und Pflanzen anwendete Hiketas von Syrakus, der die täglichen Veränderungen am Himmel auf die Achsendrehung der Erde zurückführte Kleinias von Tarent, der wegen seiner Freundestreue gerühmt wurde; er soll Platon von dem Vorhaben abgebracht haben, alle erreichbaren Bücher Demokrits zu verbrennen Lykon von Iasos, der für eine maßvolle Lebensweise nach dem Vorbild des Pythagoras eintrat und Aristoteles wegen dessen aufwendigen Lebensstils kritisierte Xenophilos von der Chalkidike, ein Schüler des Philolaos und Lehrer des Philosophen Aristoxenos Neupythagoreismus Bei den Römern stand Pythagoras in hohem Ansehen. Er wurde als Lehrer des zweiten Königs von Rom, Numa Pompilius, bezeichnet, was allerdings chronologisch unmöglich ist. Im 1. Jahrhundert v. Chr. bemühte sich anscheinend der mit Cicero befreundete Gelehrte und Senator Nigidius Figulus um eine Erneuerung des Pythagoreismus. Da eine kontinuierliche Tradition nicht mehr bestand, war dies ein Neuanfang. Daher pflegt man Nigidius als den ersten Neupythagoreer zu bezeichnen; allerdings ist nicht klar, ob seine tatsächlichen Ansichten und Aktivitäten diese Bezeichnung rechtfertigen. Der Neupythagoreismus dauerte bis in die Spätantike fort, doch gab es keinen kontinuierlichen Schulbetrieb, sondern nur einzelne pythagoreisch gesinnte Philosophen und Gelehrte. Es handelte sich beim Neupythagoreismus nicht um eine in sich geschlossene neue, von älteren Richtungen inhaltlich klar abgrenzbare Lehre. Starkes Interesse an pythagoreischen Ideen zeigte Marcus Terentius Varro, der berühmteste römische Universalgelehrte. Er wurde gemäß seiner testamentarischen Verfügung „nach pythagoreischer Sitte“ beigesetzt. In der von Quintus Sextius im 1. Jahrhundert v. Chr. in Rom gegründeten Philosophenschule der Sextier wurden neben stoischen auch neupythagoreische Lehren, darunter der Vegetarismus, vertreten. Dieser (allerdings kurzlebigen) Schule gehörte Sotion, der Lehrer Senecas, an. Von den Sextiern übernahm Seneca die pythagoreische Übung der Rekapitulation des Tages am Abend, mit der man für sich Bilanz zog. Dazu gehörte eine Selbstbefragung mit Fragen wie: „Welches deiner (charakterlichen) Übel hast du heute geheilt? Welchem Laster hast du widerstanden? In welcher Hinsicht bist du besser (geworden)?“ Der Dichter Ovid gab im 15. Buch seiner Metamorphosen einem fiktiven Lehrvortrag des Pythagoras breiten Raum und trug damit zur Verbreitung von pythagoreischem Gedankengut bei, doch gibt es keinen Beleg für die Annahme, dass er selbst Neupythagoreer war. 1917 wurde in Rom in der Nähe der Porta Maggiore ein unterirdisches Bauwerk in Form einer Basilika aus der Zeit des Kaisers Claudius (41–54) entdeckt. Es sollte offenbar als Versammlungsraum für einen religiösen Zweck dienen, wurde aber schon bald nach dem Ende der Bauarbeiten geschlossen. Der Historiker und Archäologe Jérôme Carcopino hat eine Reihe von Indizien gesammelt, die dafür sprechen, dass die Erbauer Neupythagoreer waren. Dazu gehört unter anderem die Ausschmückung von Decken und Wänden mit Darstellungen von Szenen aus der Mythologie, die dem Betrachter den als Erlösung aufgefassten Tod und das nachtodliche Schicksal der Seele vor Augen führen. Der bekannteste Neupythagoreer der römischen Kaiserzeit war Apollonios von Tyana (1. Jahrhundert n. Chr.). Von seiner Philosophie ist wenig Zuverlässiges überliefert. Er orientierte sich offenbar in seiner philosophischen Lebensführung stark am Vorbild des Pythagoras (bzw. an dem damals dominierenden Pythagorasbild) und beeindruckte damit seine Zeitgenossen und die Nachwelt nachhaltig. Die übrigen Neupythagoreer waren zugleich Platoniker bzw. Neuplatoniker. Im Neupythagoreismus waren frühpythagoreische Ideen mit Legenden aus der späteren pythagoreischen Tradition und (neu)platonischen Lehren verschmolzen. Moderatos von Gades (1. Jahrhundert n. Chr.) betrachtete die Zahlenlehre als didaktisches Mittel zur Veranschaulichung von Erkenntnisgegenständen der geistigen Welt. Von Nikomachos von Gerasa (2. Jahrhundert) stammen eine Einführung in die Arithmetik (d. h. in die pythagoreische Zahlenlehre), die Schulbuch wurde und im Mittelalter in der lateinischen Fassung des Boethius sehr verbreitet war, und ein Handbuch der musikalischen Harmonik. Boethius ging in seiner für das Mittelalter maßgeblichen lateinischen Darstellung der Musiktheorie (De institutione musica) von den musikalischen Lehren des Nikomachos aus und behandelte auch die Sphärenharmonie. Außerdem verfasste Nikomachos eine Biographie des Pythagoras, die verloren ist. Im 2. Jahrhundert lebte auch der Platoniker Numenios von Apameia, der den Pythagoreismus mit der authentischen Lehre Platons gleichsetzte und auch aus Sokrates einen Pythagoreer machte; den späteren Platonikern warf er vor, von Platons pythagoreischer Philosophie abgewichen zu sein. Der Neuplatoniker Porphyrios schrieb im 3. Jahrhundert eine Lebensbeschreibung des Pythagoras und zeigte sich besonders in seinem Eintreten für den Vegetarismus pythagoreisch beeinflusst. Weit stärker trat pythagoreisches Gedankengut bei dem etwas jüngeren Neuplatoniker Iamblichos von Chalkis in den Vordergrund. Er verfasste ein zehnbändiges Werk über die pythagoreische Lehre, von dem Teile erhalten sind, darunter insbesondere die Abhandlung „Vom pythagoreischen Leben“. Sein Pythagorasbild war von einer Fülle von legendenhaftem Stoff geprägt, den er zusammentrug. Sein Anliegen war insbesondere, die metaphysisch-religiöse und die ethische Seite des Pythagoreismus mit der Mathematik (worunter er primär die arithmetische und geometrische Symbolik verstand) zu verbinden und dieses Ganze als göttliche Weisheit darzustellen, die den Menschen durch Pythagoras geschenkt sei. Wie Numenios betrachtete er Platons Lehre nur als Ausgestaltung der pythagoreischen Philosophie. Im 5. Jahrhundert schrieb der Neuplatoniker Hierokles von Alexandria einen Kommentar zu den „Goldenen Versen“. Er betrachtete dieses Gedicht als allgemeine Einführung in die Philosophie. Unter Philosophie verstand er einen Platonismus, den er mit Pythagoreismus gleichsetzte. Auch der Neuplatoniker Syrianos, ein Zeitgenosse des Hierokles, war überzeugt, dass Platonismus nichts anderes als Pythagoreismus sei. Neuzeitliche Rezeption Seit der Renaissance haben einzelne Naturphilosophen so stark pythagoreisches Gedankengut rezipiert und sich so nachdrücklich zur pythagoreischen Tradition bekannt, dass man sie als Pythagoreer bezeichnen kann. Ihnen ging und geht es darum, das Universum als einen nach mathematischen Regeln sinnvoll und ästhetisch durchstrukturierten Kosmos zu erweisen. Diese harmonische Ordnung soll in den Planetenbahnen ebenso wie in musikalischen Proportionen und in der Zahlensymbolik erkennbar sein. Die Gesetze der Harmonie werden als grundlegende Prinzipien betrachtet, die in der gesamten Natur auffindbar seien. Zu dieser Denkweise bekannten sich bedeutende Humanisten wie Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), der sich ausdrücklich als Pythagoreer bezeichnete, und Johannes Reuchlin (1455–1522). Einen Vorläufer hatten sie in dem spätmittelalterlichen Gelehrten Pietro d’Abano. Besonders eifrig bemühte sich der Astronom und Naturphilosoph Johannes Kepler (1571–1630), die Planetenbewegungen als Ausdruck einer vollkommenen Weltharmonie zu erweisen und astronomische Proportionen mit musikalischen zu verbinden. Im 20. Jahrhundert knüpfte der Musikwissenschaftler Hans Kayser mit seiner „harmonikalen Grundlagenforschung“ an die pythagoreische Tradition an. Sein Schüler Rudolf Haase setzte seine Arbeit fort. Diese Bemühungen finden insbesondere in Kreisen der Esoterik Anklang. Da die Grundannahme einer kosmischen Harmonie, von der die modernen Pythagoreer ausgehen, den Charakter einer religiösen Überzeugung hat, finden ihre Forschungen in der Wissenschaft kaum Beachtung. Werner Heisenberg wies in seinem erstmals 1937 veröffentlichten Aufsatz „Gedanken der antiken Naturphilosophie in der modernen Physik“ den Pythagoreern eine Pionierrolle bei der Entstehung der naturwissenschaftlichen Denkweise zu, welche darauf abzielt, die Ordnung in der Natur mathematisch zu fassen. Heisenberg schrieb, die „Entdeckung der mathematischen Bedingtheit der Harmonie“ durch die Pythagoreer beruhe auf „dem Gedanken an die sinngebende Kraft mathematischer Strukturen“, einem „Grundgedanken, den die exakte Naturwissenschaft unserer Zeit aus der Antike übernommen hat“; die moderne Naturwissenschaft sei „eine konsequente Durchführung des Programms der Pythagoreer“. Die Entdeckung der rationalen Zahlenverhältnisse, die der musikalischen Harmonie zugrunde liegen, gehört für Heisenberg „zu den stärksten Impulsen menschlicher Wissenschaft überhaupt“. Die spanische Philosophin María Zambrano (1904–1991) sah im Pythagoreismus eine Ausrichtung des Denkens, welche die Wirklichkeit in Zahlenverhältnissen sucht und damit das Universum als „ein Gewebe aus Rhythmen, eine körperlose Harmonie“ betrachtet, worin die Dinge nicht in sich selbst bestehen, sondern nur durch ihre mathematischen und zeitlichen Beziehungen zueinander Phänomene in Erscheinung treten lassen. Den Gegenpol dazu bilde der Aristotelismus, für den die einzelnen Dinge als Substanzen in sich ruhen und damit eine eigene innere Wirklichkeit aufweisen. Der Aristotelismus habe zwar gesiegt, da er zunächst eine überlegene Erklärung der Natur und des Lebens anbieten konnte, aber die pythagoreische Haltung existiere als Alternative weiter und die moderne Physik der Relativität sei eine Rückkehr zu ihr. Siehe auch Liste bekannter Pythagoreer Quellensammlungen Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Band 1, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7608-1735-4, S. 100–220 (griechische Quellentexte mit deutscher Übersetzung und Erläuterungen) Maurizio Giangiulio (Hrsg.): Pitagora. Le opere e le testimonianze. 2 Bände, Mondadori, Milano 2001–2002, ISBN 88-04-47349-5 (griechische Texte mit italienischer Übersetzung) Jaap Mansfeld, Oliver Primavesi (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Reclam, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-15-010730-0, S. 122–205 (griechische Texte mit deutscher Übersetzung; die Einleitung entspricht teilweise nicht dem aktuellen Forschungsstand) Maria Timpanaro Cardini (Hrsg.): Pitagorici. Testimonianze e frammenti. 3 Bände, La Nuova Italia, Firenze 1958–1964 (griechische und lateinische Texte mit italienischer Übersetzung) Literatur Handbuchdarstellungen Constantinos Macris: Pythagore de Samos (Compléments). In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 7, CNRS Éditions, Paris 2018, ISBN 978-2-271-09024-9, S. 1025–1174 Irmgard Männlein-Robert: Der Neupythagoreismus. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/1). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3698-4, S. 633–638, 698 f. Johan C. Thom: Pythagoras (Pythagoreer). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 28, Hiersemann, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-7772-1815-1, Sp. 496–522 Leonid Zhmud: Pythagoras und die Pythagoreer. 2. Die Pythagoreer. In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): Frühgriechische Philosophie (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 1). Halbband 1, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 401–429. Gesamtdarstellungen, Untersuchungen Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Hans Carl, Nürnberg 1962 Walter Burkert: Lore and Science in Ancient Pythagoreanism. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 1972, ISBN 0-674-53918-4 (überarbeitete Fassung von Burkerts Weisheit und Wissenschaft) Gabriele Cornelli: In Search of Pythagoreanism. Pythagoreanism As an Historiographical Category. De Gruyter, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-030627-9 Cornelia Johanna de Vogel: Pythagoras and Early Pythagoreanism. An Interpretation of Neglected Evidence on the Philosopher Pythagoras. Van Gorcum, Assen 1966 Frank Jacob: Die Pythagoreer: Wissenschaftliche Schule, religiöse Sekte oder politische Geheimgesellschaft? In: Frank Jacob (Hrsg.): Geheimgesellschaften: Kulturhistorische Sozialstudien (= Globalhistorische Komparativstudien, Bd. 1), Königshausen & Neumann, Würzburg 2013, S. 17–34 Charles H. Kahn: Pythagoras and the Pythagoreans. A Brief History. Hackett, Indianapolis 2001, ISBN 0-87220-576-2 James A. Philip: Pythagoras and Early Pythagoreanism. University of Toronto Press, Toronto 1968, ISBN 0-8020-5175-8 Christoph Riedweg: Pythagoras: Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung. 2. Auflage, Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-48714-9 Bartel Leendert van der Waerden: Die Pythagoreer. Artemis, Zürich und München 1979, ISBN 3-7608-3650-X Leonid Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus. Akademie Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-05-003090-9 Leonid Zhmud: Pythagoras and the Early Pythagoreans. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-928931-8 Aufsatzsammlungen Gabriele Cornelli u. a. (Hrsg.): On Pythagoreanism. De Gruyter, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-031845-6 Rezeption Irene Caiazzo, Constantinos Macris, Aurélien Robert (Hrsg.): Brill’s companion to the reception of Pythagoras and Pythagoreanism in the Middle Ages and the Renaissance. (Brill’s companions to classical reception, Band 24). Brill, Leiden, Boston 2021, ISBN 978-90-04-37362-4. Bibliographie Luis E. Navia: Pythagoras. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin%20Piscator
Erwin Piscator
Erwin Friedrich Max Piscator (* 17. Dezember 1893 in Ulm, heute zu Greifenstein gehörig; † 30. März 1966 in Starnberg) war ein deutscher Theaterintendant, Regisseur und Theaterpädagoge. Piscator war ein einflussreicher Avantgardist der Weimarer Republik, der das Theater unter Ausweitung der bühnentechnischen Möglichkeiten zum ‚politischen Tribunal‘ umfunktionierte. Mit Hilfe komplexer Arrangements von Filmdokumenten, Bildprojektionen, laufenden Bändern und Fahrstühlen kommentierte er das theatrale Geschehen und erweiterte die Bühne zum epischen Panorama. Das an den Piscator-Bühnen der Weimarer Republik entwickelte politische Theater erzielte breite Resonanz, veranlasste die Zeitgenossen jedoch angesichts der Abgrenzung des Regisseurs von einer Bühnenästhetik des reinen Kunstschönen zu sehr widersprüchlichen Einschätzungen. Piscators Inszenierungen wirkten auch auf die Theatertheorie Bertolt Brechts ein, der mit seinem epischen Theater Anleihen bei Piscator machte. Nach langjähriger Emigration in der Sowjetunion, Frankreich und den Vereinigten Staaten traf Piscator in den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik erneut den Nerv der Zeit mit Inszenierungen von Gegenwartsstücken zur NS-Vergangenheit. Damit leitete er eine Phase des Gedächtnis- und Dokumentartheaters ein, die auf breiter Ebene zu gesellschaftlichen Debatten um Fragen der Geschichtspolitik führte. Leben Jugend und Erster Weltkrieg (1893–1918) Piscator entstammte einer calvinistischen Kaufmannsfamilie aus Mittelhessen. Seine Eltern Carl Piscator und Antonie Karoline Katharina Piscator (geb. Laparose), ab 1899 in Marburg ansässig, waren Mitinhaber einer Textilmanufaktur. Zu seinen Vorfahren zählte Erwin Piscator den Theologen und Bibelübersetzer Johannes Piscator, der um 1600 seinen Familiennamen Fischer latinisiert hatte. Das Erlebnis eines Gastspiels des Gießener Stadttheaters in Marburg ließ den jungen Piscator den Entschluss fassen, anstatt der ihm vorbestimmten kaufmännischen Laufbahn den Einstieg in das Theaterfach zu suchen. Nach dem Schulbesuch am Gymnasium Philippinum und an der Städtischen Oberrealschule in Marburg absolvierte Piscator ab Herbst 1913 bei der Theaterschule Otto König in München eine Schauspielausbildung. Nach einem Wechsel der Schauspielschule attestierte Piscators neuer Lehrer Carl Graumann dem jungen Schauspielschüler eine starke Begabung. Zugleich belegte Piscator Lehrveranstaltungen in Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik an der Universität München, unter anderem bei Artur Kutscher, einem der Begründer der Theaterwissenschaft. In der Spielzeit 1914/15 volontierte Piscator auch am Königlichen Hof- und Nationaltheater, einer ästhetisch ganz der Tradition des 19. Jahrhunderts verbundenen Bühne. Den Ersten Weltkrieg erlebte Piscator unter anderem in den Stellungskämpfen in Westflandern. Im Frühjahr 1915 wurde er als „Landsturm-Pflichtiger“ einer Infanterieeinheit an der Ypern-Front zugeteilt und erlitt nach wenigen Monaten schwere Verwundungen. Die Kriegserfahrung prägte die pazifistische und sozialistische Überzeugung Piscators, der damals „auch nicht im geringsten den Atem dieser ‚grossen Zeit‘“ verspürte. Von Piscators antimilitaristischer Haltung zeugen die verstörenden Gedichte, die er während der Kriegsjahre in Franz Pfemferts literarischer und politischer Wochenschrift „Die Aktion“ veröffentlichte. Ab Herbst 1917 beteiligte Piscator sich an einem Fronttheater, das ein Repertoire populärer Unterhaltungsstücke zeigte und dessen Spielleitung ihm nach einem halben Jahr übertragen wurde. Frühe Theaterarbeit und Volksbühnen-Zeit (1918–1927) Nach Kriegsende setzte Piscator seine Studien an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin fort und schloss sich der Berliner Gruppe des Dadaismus um die Maler und Grafiker George Grosz und John Heartfield an. Nach der Novemberrevolution trat er in die KPD ein. Ein erstes eigenes Theaterprojekt in Königsberg, bei dem Piscator lauter „vergessene alte Übungen des Theaters“ neu belebte, darunter „die Verwandlung auf offener Szene und der sichtbar gelassene Schnürboden,“ scheiterte nach wenigen Monaten. In Königsberg lernte Piscator seine erste Frau kennen, die sechs Jahre jüngere oberschlesische Schauspielerin Hildegard Jurczyk, die am Neuen Schauspielhaus auftrat. Erwin Piscator und Hildegard Jurczyk heirateten im Oktober 1919. Nach dem Scheitern seiner ersten eigenen Bühne in Königsberg ging Piscator erneut nach Berlin und gründete dort im Herbst 1920 das „Proletarische Theater“. Bei einer Inszenierung von Alfons Paquets Schauspiel Fahnen an der Volksbühne Berlin nutzte Piscator im Mai 1924 ausgiebig Projektionen und Zwischentitel auf Leinwänden und nahm damit – wie schon bei früheren Inszenierungen – zentrale Stilmittel des „epischen Theaters“ vorweg. Paquet hatte sein Stück zudem nicht-gattungskonform als „dramatischen Roman“ bezeichnet. In Zusammenhang mit dieser Piscator-Inszenierung kommentierte Alfred Döblin im Leipziger Tageblatt, der Urheber des Stücks sei „episch, nicht lyrisch entflammt“ und die von Paquet geprägte Form des Roman-Dramas könne wieder zum „Mutterboden des Dramas“ werden. In der wenige Jahre später aufkommenden Debatte um die Urheberschaft am Begriff und der Methodik des epischen Theaters spielten die Beobachtungen Döblins von 1924 eine wichtige Rolle. Im Anschluss an die erfolgreiche Fahnen-Produktion wurde Piscator 1924 als Oberspielleiter fest an die Volksbühne am Bülowplatz verpflichtet. Die Volksbühne Berlin war eine mitgliederstarke Besucherorganisation, deren Anspruch darin bestand, der Berliner Arbeiterschaft unter dem Leitgedanken „Die Kunst dem Volke“ Zugang zum bürgerlichen Bildungsgut zu verschaffen. Die erklärte Absicht des erst kurze Zeit in sein Amt eingeführten Volksbühnen-Intendanten und Piscator-Entdeckers Fritz Holl war, „der jungen Dramatik, die die Bewegungen der Zeit reflektierte,“ den Weg zu bereiten. Neben seiner neuen Funktion als Oberspielleiter an der Volksbühne setzte Piscator Satireabende, Sprechchorwerke und politische Revuen im Auftrag der KPD in Szene, in denen er erstmals den Einsatz filmischer Mittel erprobte. Erhebliches Aufsehen erregte eine Gastinszenierung, die Piscator 1926 am Preußischen Staatstheater unter der Intendanz Leopold Jessners ausführte, Friedrich Schillers Schauspiel Die Räuber. Gegen die seit der Märzrevolution 1848 auf deutschen Bühnen verstärkt gepflegte pathetische Überhöhung von Schillers Dichtung setzte Piscator eine radikale Überprüfung und Aktualisierung seiner Vorlage. Vor einer simultanen Etagenbühne wurde in ineinander verschränkten Sequenzen der bandeninterne Gegenspieler des Grafensohns Karl Moor, Moritz Spiegelberg, in Trotzki-Maske als ein „Verstandesrevolutionär bolschewistischer Prägung“ in Szene gesetzt. Der „Schillersche Bösewicht“ Spiegelberg „avancierte zum Helden, der sich nicht von persönlichen Gefühlen oder Ehrgeiz verführen lässt.“ Obwohl verschiedene Klassikerinszenierungen der Weimarer Republik wie Erich Ziegels Hamburger Räuber-Inszenierung von 1921 mit aktualisierenden Elementen wie zeitgenössisch kostümierten und militärisch organisierten Räubern aufgewartet hatten, übertraf das Echo auf die rasante Piscator-Produktion vorhergegangene Kontroversen deutlich sowohl an Schärfe als auch in der Gegensätzlichkeit der Einschätzungen. Während der österreichische Publizist und Satiriker Karl Kraus Schillers Dramatik fortan generell ironisch als „Piscator-Dramen“ apostrophieren wollte, war die Debatte in den deutschen Feuilletons durch Zuspitzungen und suggestive Begrifflichkeiten wie „Klassikerschlaf“ (Bernhard Diebold) oder „Klassikertod“ (Herbert Ihering) geprägt. 1927 kam es, nach einem durch die Inflation bedingten Mitgliederrückgang an der Volksbühne und auf Grund von Befürchtungen seitens des Volksbühnen-Vorstands, dass Piscators Wirken die überparteiliche Ausrichtung der Besucherorganisation gefährde, zum Zerwürfnis. Ausschlag für den Eklat gab eine aktuelle Bezüge auslotende Inszenierung von Ehm Welks Drama Gewitter über Gottland, in der der bekannte Schauspieler Heinrich George den Claus Störtebecker spielte. Der Vorstand warf Piscator vor, das Stück einer tendenziös-politischen Umdeutung und einer provozierenden Darstellung „sozialer Revolution“ unterzogen zu haben. Die Piscator-Bühnen (1927–1931) Nach diesem Eklat eröffnete Piscator 1927 sein eigenes Theater, die Piscator-Bühne, in einem 1100 Plätze fassenden Theatergebäude am Nollendorfplatz. In seinem Antrag auf die Bühnenkonzession hatte er als personelle Ausstattung eine Gruppe von „16 Einzeldarstellern, 1 Dramaturgen, 8 technischen und 5 kaufmännischen Angestellten“ geltend gemacht. Für die Finanzierung des Unterfangens hatte Piscator den Berliner Großindustriellen Ludwig Katzenellenbogen gewinnen können. Piscators Inszenierungen von zeitgenössischen Stücken und Romanbearbeitungen wie Ernst Tollers Hoppla, wir leben! (1927) oder Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk nach Jaroslav Hašek (1928) beeindruckten das Publikum durch ihren aufwändigen, an konstruktivistischen Prinzipien geschulten Bühnenapparat. Sie begründeten Piscators Ruf als beispielloser bühnenästhetischer Innovator und trugen ihm eine Würdigung als ‚einzigem fähigen Dramatiker außer mir‘ durch Bertolt Brecht ein. Schon Piscators erste Regiearbeit an seiner eigenen Bühne, Ernst Tollers Hoppla, wir leben! über einen ehemaligen Revolutionär von 1918, der nach seiner Entlassung aus achtjähriger Festungshaft an der pragmatisch gewandelten Haltung ehemaliger Mitstreiter zerbricht, zeigte 1927 Piscators virtuose Ausgestaltung der Bühnenhandlung durch komplexe Medienarrangements. Zu den Film-, Ton- und Bühnenbildeffekten der Inszenierung zählten eine vierstöckige Bühne für die zahlreichen kurzen Szenen in den Büros der Ministerien oder den verschiedenen Hotelzimmern des dritten Aktes. Filmische Zwischenszenen oder Illustrationen wurden auf eine Leinwand in der Bühnenmitte projiziert. Der erste Akt begann mit einem Dokumentarfilm über die weltgeschichtlichen Ereignisse der Jahre, die die Hauptfigur im Gefängnis verbringen musste. Ein Titelsong von Walter Mehring in der Vertonung von Edmund Meisel kommentierte die Stückhandlung ironisch. Der Theaterkritiker Herbert Ihering urteilte: „Eine phänomenale technische Phantasie hat Wunder geschaffen.“ Die Nutzung komplexer bühnentechnischer Elemente wie Film- und Bildprojektionen, laufenden Bändern, Metallkonstruktionen oder Fahrstühlen geschah dabei Piscator zufolge in dramaturgischer, nicht illusionistischer Absicht. Piscators gewagte Bearbeitungen und seine bühnentechnischen Mittel sollten politische und ökonomische Analysen im Sinne des proklamierten Partei ergreifenden, „politischen Theaters“ stützen. Dem umfangreichen dramaturgischen Kollektiv der Piscator-Bühne gehörten zeitweilig Bertolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Leo Lania, Moshe Lifshits, Heinrich Mann, Walter Mehring und Erich Mühsam an. Als Bühnenbildner wirkten an der Piscator-Bühne George Grosz, John Heartfield und László Moholy-Nagy, als Filmproduzenten und -monteure Curt Oertel und Svend Noldan sowie als Musiker Edmund Meisel und Franz Osborn. Hanns Eisler verfasste seine erste Bühnenmusik 1928 für Piscator. Viele bekannte Schauspieler traten an der Piscator-Bühne auf: Sybille Binder, Tilla Durieux, Ernst Deutsch, Paul Graetz, Alexander Granach, Max Pallenberg, Paul Wegener, Hans Heinrich von Twardowski und andere. Angesichts der außerordentlich aufwändigen und kostspieligen Inszenierungen erzwang jedoch schon 1928 ein Konkursantrag der Berliner Steuerbehörde die vorübergehende Schließung der Piscator-Bühne. Zwei Wiedereröffnungen in den beiden Folgejahren führten nicht zu der erhofften dauerhaften Konsolidierung. Im Jahr der Weltwirtschaftskrise 1929 erschien Piscators programmatische Schrift Das politische Theater, die anschaulich die bedeutenderen Inszenierungen des Theaterleiters Revue passieren ließ und seine Auffassung vom Theater als maßgeblichem Mittel „in dem einsetzenden Prozess der geistigen Revolutionierung“ entfaltete. Als erste von zahlreichen Übersetzungen erschienen 1930 eine Übertragung ins Spanische (El teatro político), 1931 ins Japanische (Sayoku Gekij) und 1932 ins Ukrainische (Politytschnyj teatr). Auslandsprojekte, Emigration und Rückkehr (1931–1962) Nach Liquiditätsproblemen ging Piscator 1931 in die Sowjetunion und produzierte dort unter anderem in der arktischen Hafenstadt Murmansk und an der ukrainischen Schwarzmeerküste bei Odessa seinen einzigen Spiel- und Tonfilm Der Aufstand der Fischer (1934) nach einer Novelle von Anna Seghers. Der Film behandelt den Widerstand streikender Matrosen gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf den Schiffen des Reeders Bredel. Zu den Schlüsselszenen des Films zählt die Beerdigung des vom herbeigeeilten Militär getöteten Streikführers Kedennek, die in ein Fiasko mündet. Die Beisetzung Kedenneks wird zum Fanal, und ein Aufstand der Küstenfischer der gesamten Region hebt an. Für Aufsehen sorgte Piscator dadurch, dass er eine bewegte Kamera einsetzte, was von Sergej Eisenstein kritisiert und abgelehnt wurde. Doch wurde Piscator von Anfang an von der sowjetischen Geheimpolizei GPU bespitzelt. Auch denunzierten ihn deutsche Kommunisten, die im Moskauer Exil lebten, als „politisch unzuverlässig“. Während einer Theaterkonferenz 1935 in Moskau, die von Piscator als Vorsitzenden eines internationalen Theaterbundes geleitet wurde, übermittelte ihm der britische Theaterreformer Edward Gordon Craig im Hotel Metropol Avancen von Propagandaminister Goebbels, nach Berlin zurückzukehren und dort seine Arbeit wieder aufzunehmen. 1936 emigrierte der vom Erleben des Stalinismus ernüchterte Regisseur nach Denunziationen als Trotzkist und einem offenbar fremdenfeindlich motivierten Übergriff aus der Sowjetunion nach Frankreich. Nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs rief er 1936 auf Einladung der demokratisch gewählten republikanischen Regierung in Katalonien zur Verteidigung der Demokratie und zum Kampf gegen die Putschisten auf. Unter Verweis auf seine Erfahrungen als Leiter eines Fronttheaters während des Ersten Weltkriegs forderte er, als Beitrag der Künste zur Verteidigung der demokratischen Kultur in Katalonien und Spanien „Werke der kleinen Form an die Front [zu] bringen“ sowie „satirische Gruppen“ spielen zu lassen. Piscator selbst führte vor Ort jedoch keine eigenen Produktionen aus. Während der entbehrungsreichen Emigrationsjahre kam es zu einer weiteren wichtigen Begegnung, die 1937 zu einer zweiten Heirat führte. Piscators erste Ehe mit der Schauspielerin Hildegard Jurczyk, die seit 1919 bestanden hatte, war um 1930 in Berlin einvernehmlich aufgelöst worden. In Salzburg hatte Piscator, aus der Sowjetunion kommend, bei Max Reinhardt die gebildete und wohlhabende Tänzerin Maria Ley kennengelernt. Ley hatte 1934 an der Sorbonne eine Dissertation über Victor Hugo verfasst. „Erst vor kurzer Zeit hatte sie ihren Gatten Franz Deutsch verloren, Sohn eines der Direktoren der Berliner AEG, und nun wollten sie und Piscator heiraten. Brecht sollte einer der Trauzeugen sein. Von Anfang 1937, als er zu ihr in das Haus in Neuilly zog, bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1951 war sie Piscator bei all seinen Unternehmungen ein getreuer Partner.“ In Frankreich entwickelte Piscator 1938 eine aufwändige Bühnenbearbeitung von Lew Nikolajewitsch Tolstois historischem Roman Krieg und Frieden, die er mit Unterstützung des US-Theaterproduzenten Gilbert Miller im Londoner West End und am New Yorker Broadway unterzubringen hoffte. Nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten einige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zerschlugen sich diese Pläne. Stattdessen wurde Piscator zwischen 1940 und 1951 zum Gründer und Leiter einer Schauspielschule, des Dramatic Workshop an der New School for Social Research in New York (1949 Ablösung von der New School). Die „New School“ verschaffte zahlreichen prominenten Flüchtlingen aus Europa während des Zweiten Weltkriegs eine Beschäftigungsmöglichkeit. 1947/48 war am Dramatic Workshop mit annähernd tausend Studenten und Studentinnen, von denen etwa ein Drittel ganztägig Kurse belegte, die Grenze der Auslastung erreicht. Zu den Mitarbeitern des Workshops gehörten unter anderem Stella Adler, Herbert Berghof, Lee Strasberg, Kurt Pinthus, Hans José Rehfisch, Carl Zuckmayer, Hanns Eisler, Erich Leinsdorf und Jascha Horenstein. Zu Piscators US-Studenten am Workshop zählten Beatrice Arthur, Harry Belafonte, Marlon Brando, Tony Curtis, Jack Garfein, Judith Malina, Walter Matthau, Rod Steiger, Elaine Stritch sowie der Dramatiker Tennessee Williams. Im Anschluss an umfangreiche Voruntersuchungen des FBI zu einem Deportationsverfahren gegen Piscator erhielt der Emigrant auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära 1951 eine Vorladung durch das Komitee für unamerikanische Aktivitäten. Unter dem Eindruck aggressiver Presseberichte, die den Dramatic Workshop als Organisation kommunistischer „fellow travellers“ diffamiert hatten, und der Vorladung durch das Komitee kehrte Piscator unvermittelt nach Deutschland zurück. Nach über zwanzigjähriger Abwesenheit aus Deutschland war er zunächst gezwungen, als Gastregisseur an zahlreichen Bühnen in der Bundesrepublik und im westeuropäischen Ausland zu inszenieren. Pläne zur Gründung einer Theaterakademie im Zusammenwirken mit dem Rektor der Universität Frankfurt Max Horkheimer verliefen 1953 erfolglos. Einen ersten Schritt zu einem Comeback bildete 1955 die Annahme von Piscators Bühnenfassung von Lew Tolstois Krieg und Frieden am Schillertheater in West-Berlin, einer Inszenierung mit einem beispiellosen Publikumserfolg, jedoch mit einem vernichtenden Presse-Echo. In den fünfziger Jahren erhielt Piscator mehrere Ehrungen, darunter 1953 die Goethe-Plakette des Landes Hessen. Anlässlich seines 65. Geburtstags wurde ihm 1958 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Intendanz an der Freien Volksbühne (1962–1966) 1962 kam Piscator als Intendant an die Freie Volksbühne in West-Berlin, die er als Nachfolger von Günter Skopnik bis zu seinem Tod leitete. 1963 fand deren Umzug vom Theater am Kurfürstendamm, das bis dahin als Spielstätte genutzt worden war, in das eigene Theater der Freien Volksbühne statt. Piscators zentrales Anliegen bei seinen späten Inszenierungen war die Auseinandersetzung mit dem „allgemeine[n] Vergessen-Wollen“ und der defizitären deutschen Erinnerungskultur in Anbetracht des Holocaust. Diese Spielplanausrichtung fand wirksam ihren Niederschlag in seinen Inszenierungen der Uraufführungen von Rolf Hochhuths „christlichem Trauerspiel“ Der Stellvertreter (Uraufführung am 20. Februar 1963) und Peter Weiss’ minimalistischem Theaterstück zum Auschwitz-Prozess Die Ermittlung (Ring-Uraufführung am 19. Oktober 1965). Mit stark voneinander abweichenden dokumentarischen Ansätzen warfen beide Theatertexte die politisch-moralische Frage nach Verantwortung, Schuld und Unrechtsbewusstsein des Individuums in der Diktatur auf und führten deutschlandweit und international zu weit gefächerten geschichtspolitischen Auseinandersetzungen. Schon Piscators dritte Regiearbeit an der Freien Volksbühne, Rolf Hochhuths Der Stellvertreter, wurde zu einem Aufsehen erregenden Bühnenereignis. Der Theaterkritiker Henning Rischbieter resümierte, Der Stellvertreter zeige die Fähigkeit des Theaters, „direkte politische Wirkungen zu zeitigen. Allen (berechtigten) ästhetischen Einwänden entgegen hat es durch seine Fragestellung und die leidenschaftliche Anklage, die der Autor durch seine Hauptfigur ausspricht, eine erregte Diskussion ausgelöst, die Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche beeinflusst und die Zeitgeschichtsschreibung zur Auseinandersetzung mit einem vorher wenig beachteten, ja tabuisierten Thema genötigt: Wie hat sich die katholische Kirche und ihr damaliges Oberhaupt, Papst Pius XII., zum nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden verhalten?“ Zwischen dem Erstkontakt mit dem Text, der Piscator im Frühjahr 1962 vorlag, und der Inszenierung verstrich ein ganzes Jahr. Piscators sorgfältig und von langer Hand vorbereitete Inszenierung führte dazu, dass der befürchtete Skandal – zumindest in Berlin – ausblieb. International provozierte Der Stellvertreter dennoch „leidenschaftliche publizistische Auseinandersetzungen, öffentliche Massendemonstrationen, parlamentarische Debatten, außenpolitische Verstimmungen und diplomatische Interventionen.“ Der Regisseur der Berliner Uraufführung hatte den Stücktext um die Hälfte gekürzt, die Anzahl der Akteure auf die Hälfte reduziert und die Handlungsstränge des thematisch vielschichtigen Werks ganz auf Papst Pius XII. und sein Verhalten in Bezug auf den Holocaust konzentriert. Die Berliner Kommentatoren lobten das Schauspiel als eines der bedeutendsten und erregendsten Ereignisse des deutschsprachigen Theaters der letzten Jahre. Für das „Auschwitz-Oratorium“ Die Ermittlung von Peter Weiss vereinbarte Piscator für den 19. Oktober 1965 mit dem Suhrkamp-Theaterverlag eine Ring-Uraufführung, an der sich vierzehn west- und ostdeutsche Theater sowie die Royal Shakespeare Company in London beteiligten. Das Stück thematisierte den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters. In der West-Berliner Inszenierung, die im Fokus der bundesweiten Aufmerksamkeit stand und für die der italienische Komponist Luigi Nono eine Bühnenmusik geschaffen hatte, ließ Piscator die Zuschauer aus der Perspektive der Überlebenden auf das Prozessgeschehen und auf die Angeklagten blicken. Im Anschluss an die Ring-Uraufführung fand das Stück in den Jahren 1965 bis 1967 zunächst Eingang in die Spielpläne von Theatern in Amsterdam, Moskau, New York, Prag, Stockholm und Warschau. Mit seiner letzten Inszenierung konnte Piscator nicht an die Uraufführungs-Erfolge der vorangegangenen Jahre anknüpfen. Der Aufstand der Offiziere nach einem Roman von Hans Hellmut Kirst wurde am 2. März 1966 uraufgeführt, doch der Autor hatte sein Material dramaturgisch nicht bewältigt. Die Schauspieler Ernst Deutsch und Wolfgang Neuss waren schon vorzeitig aus der Probenarbeit ausgestiegen, und auch die Presse reagierte vernichtend. Piscator war noch während der Proben erkrankt und fuhr anschließend zur Erholung in ein Sanatorium am Starnberger See. Nach einer Notoperation an seiner entzündlich veränderten Gallenblase starb Piscator am 30. März 1966 in Starnberg. Piscators Ehrengrab befindet sich auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in der Abt. XX-W-688/690. Theatergeschichtliche Bedeutung Programmatik und Impulse Zahlreiche bühnentechnische Neuerungen gehen auf Piscators Theaterpraxis in der Weimarer Republik seit 1925 zurück, darunter der ausgiebige Einsatz kommentierender Bild- und Textprojektionen, die Einspielung von Filmdokumenten als „lebende Kulisse“ auf Gazeschleier oder Leinwand sowie die Nutzung aufwändiger Gerüstkonstruktionen (Simultanbühnen in Kombination mit Drehbühne, Laufbändern, Rolltreppen oder Fahrstuhlbrücken), die Piscator durch seinen experimentierfreudigen Bühnenarchitekten Traugott Müller umsetzen ließ. Müllers Maxime: „Seit Jahren arbeite ich an der Abschaffung des Bühnenbildes.“ Mit der Entwicklung der politischen Revue übte Piscator maßgeblichen Einfluss auf das politische Massentheater der Weimarer Republik aus. Mit dem Organisieren seiner Textvorlagen nach dem Prinzip maximaler Kontraste und unerwarteter Anordnungen erzielte er scharfe politisch-satirische Effekte und nahm die Kommentierungsformen des epischen Theaters vorweg. Vom epischen Theater Brechts grenzte er sich durch seine, den Zuschauer in das szenische Geschehen integrierende Regieauffassung ab. Bei Piscator sollten die Erschütterung und die Aktivierung der Zuschauer miteinander einhergehen: Aus Mangel an Phantasie erleben die meisten Menschen nicht einmal ihr eigenes Leben, geschweige denn ihre Welt. Sonst müsste die Lektüre eines einzigen Zeitungsblattes genügen, um die Menschheit in Aufruhr zu bringen. Es sind also stärkere Mittel nötig. Eins davon ist das Theater. Um sein immersives, den Zuschauer zu aktiver Teilnahme am Bühnengeschehen herausforderndes Theaterkonzept auch baulich realisieren zu können, entwarf Piscator 1927 gemeinsam mit Walter Gropius, dem Gründer der avantgardistischen Kunsthochschule Bauhaus, das Projekt eines „Totaltheaters“, das der Aufhebung der räumlichen Trennung zwischen Schauspielern und Zuschauern und der Ablösung der Tiefen- und Guckkastenbühne galt. Angesichts der erfolglosen Suche nach einem potenten finanziellen Förderer für das monumentale Totaltheater-Projekt blieb die angestrebte unmittelbare Identität von Bühne und Publikum eine unvollendete Theatervision Piscators. Durch seine Tätigkeit als Regisseur an eigens für den Dramatic Workshop gegründeten kleinen New Yorker Repertoirebühnen (Studio Theatre, President Theatre, Rooftop Theatre) und als Theaterpädagoge im US-Exil beeinflusste Piscator später den „Aufstieg und die Anerkennung des ‚Off-Broadway‘“ und das amerikanische Experimentaltheater (wie zum Beispiel das Living Theatre), gegründet von seiner Studentin und Assistentin Judith Malina, die noch The Piscator Notebook über die Arbeit in dieser Zeit herausgab. Piscator richtete sich gegen tradierte Vorstellungen vom hermetischen und unveränderlichen Kunstwerk an sich. In seinen Inszenierungen wurde die normative autonome Bühnenästhetik, die die Inszenierungspraxis deutscher Bühnen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt hatte, überwunden. Piscators Theaterkonzeption versuchte man in den größeren Bezugsrahmen einer anti-idealistischen Materialästhetik einzuordnen. Der Theater- und Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei beschrieb deren Anhänger als Wegbereiter eines tiefgreifenden Funktionswechsels der Kunst in Abgrenzung von einer autonomen Ästhetik des reinen Kunstschönen. Die „Materialästheten“ der späten Weimarer Republik verstanden ältere künstlerische Stoffe als wandelbares und an aktuelle Herausforderungen anzupassendes Material. Sie arbeiteten konventionelle Vorlagen um in der Absicht, auf eine grundlegende Umgestaltung gesellschaftlicher Strukturen hinzuwirken, oder erarbeiteten sie neu. Sie strebten neue Rezeptionsformen an und wollten die Betrachter aktivieren und als Mitproduzenten aufwerten. Dem gesellschaftlichen Aussagewert des Kunstwerks sollte Vorrang vor dessen rein ästhetischem Erlebniswert gebühren. Die Programmatik der Materialästhetik schlug sich bei Piscator unter anderem auch in der Praxis der szenischen Bearbeitung von Romanen (von Jaroslav Hašek, Theodore Dreiser, Theodor Plievier, Robert Penn Warren und anderen) und historischen Stoffen nieder. Piscators inhaltlich mehrfach überarbeitete Bühnenfassung von Lew Tolstois historischem Roman Krieg und Frieden wurde seit 1955 in mehrere Sprachen übertragen und in 16 Ländern aufgeführt. In der Bundesrepublik erlebte Piscators interventionistisches Theater eine späte zweite Blüte. Mit Inszenierungen von Uraufführungsstoffen, die durch ein Engagement zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit (Hochhuth, Weiss) und die Kritik an einer atomaren Aufrüstung (Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer, 1964) geprägt waren, wurde er zu einem Initiator und Impulsgeber für das Gedächtnis- und Dokumentartheater. Einflüsse und Mitstreiter Die Zeit der Weimarer Republik war eine der schöpferischsten und experimentierfreudigsten Epochen der deutschen Geschichte. Piscator bewegte sich in einem von der Suche nach neuen Theateransätzen, der Verschmelzung verschiedener Kunst- und Wahrnehmungsformen (Synästhesie) und lebhaften künstlerisch-politischen Debatten geprägten Umfeld. Punktuelle Übereinstimmungen Piscators im Hinblick auf Einzelaspekte wie die politische Wirkungsabsicht, die ausgiebige Nutzung der Bühnenmaschinerie oder das Zielpublikum bestanden mit den Theateransätzen verschiedener deutschsprachiger Kollegen. Der österreichische Theaterunternehmer Max Reinhardt, der das Große Schauspielhaus in Berlin mit 5000 Plätzen bespielte und als Antipode Piscators galt, beeindruckte ein Massenpublikum durch ähnliche großräumige Arrangements vor einem Rundhorizont und durch die ausgiebige Nutzung der Bühnenmaschinerie, durch das Spiel auf einer Arenabühne und einer riesigen Drehbühne. Der vormalige Bühnenexpressionist Leopold Jessner galt ebenfalls als Vertreter eines, wenngleich moderateren „politischen Theaters“ der Weimarer Republik. Als Leiter des Preußischen Staatstheaters trat Jessner mit Inszenierungen wie Schillers Wilhelm Tell hervor, in denen er eine reduktionistische Stufenbühne zum Hintergrund eines leidenschaftlichen symbolischen Bekenntnisses zur jungen Republik machte. Kleinere Bühnen wie Karlheinz Martins „Tribüne“ wollten im Gefolge des Expressionismus – ähnlich den ersten Bühnen des frühen Piscator – einem proletarischen Publikum neue Kultursphären erschließen. Vielfach wurden Übereinstimmungen Piscators mit russischen Theater- und Filmregisseuren im Hinblick auf die Nutzung von Film auf der Bühne und der fotografischen Montage bei Eisenstein, der Segment-Globus-Bühne bei Meyerhold oder der Konfrontation von Darsteller und Marionette bei Majakowski (sowie bei dem Briten Edward Gordon Craig) ausgemacht. Eine Vor-Ort-Begegnung mit den Arbeiten der sowjetischen Theateravantgarde im Zusammenhang mit einer ersten Reise Piscators in die Sowjetunion fand hingegen erst im September 1930 statt. Die in den Arbeiten von Kollegen angelegten Ideen fanden sich, häufig in verdichteter Form, bei Piscator wieder, indem er diese entweder zeitgleich selbst entwickelt hatte oder aber als Anregung von außen in seine Theaterkonzeption integrierte und umfunktionierte. Besser nachweisbar als die mittelbaren Einflüsse anderer avantgardistischer Theaterpraktiker seiner Zeit auf Piscator sind die unmittelbaren Beiträge zahlreicher Mitarbeiter zu seinen Inszenierungen. Ganz im Sinne von Piscators Verständnis des Inszenierens als kollektivem Arbeitsprozess stellten die Produktionen der Piscator-Bühne das Ergebnis einer politisch-ästhetisch motivierten Gemeinschaftsanstrengung unter Leitung des Regisseurs als primus inter pares dar. Schon an die Stelle des Dramaturgen trat an der Piscator-Bühne ein größeres „dramaturgisches Kollektiv“: „Ein ganzes Team von Schriftstellern sollte das literarische Programm betreuen und die einzelnen Texte der Stücke prüfen.“ Dem von Felix Gasbarra und Leo Lania geleiteten Kollektiv gehörten als Mitarbeiter Walter Mehring, Bertolt Brecht, Erich Mühsam, Moshe Lifshits, Franz Jung und Alfred Wolfenstein an. Alfred Döblin, Kurt Tucholsky, Johannes R. Becher und der Filmkritiker Béla Balázs wurden von Fall zu Fall hinzugezogen. Über den Kreis der dramaturgischen Experten hinaus wirkten wechselnde Bühnenbildner, Kostümgestalter, Choreographen, Komponisten und Schauspieler an den Erfolgen der Piscator-Bühne mit. Im Extremfall war es möglich, dass sich eine einzelne Person in wechselnden Funktionen als Autor, Dramaturg, Vorleser und Hauptdarsteller verausgabte (so geschehen im Fall von Theodor Plievier bei Des Kaisers Kulis 1930 am Lessingtheater). Die Fruchtbarkeit der gemeinschaftlichen Produktionsweise zeigte sich noch in Piscators späten Arbeiten, in denen die enge Kooperation mit Autoren wie Rolf Hochhuth oder Peter Weiss, Bühnenbildern wie Hans-Ulrich Schmückle oder Komponisten wie Boris Blacher und Luigi Nono vereinzelt ähnlich intensive Formen annahm wie in den zwanziger Jahren. Kulturpolitische Aktivitäten und Reminiszenzen Als Theaterschaffender, für den ästhetische Form und politischer Anspruch prinzipiell zusammenfielen, unternahm Piscator zeitlebens auch zahlreiche Initiativen im Bereich der Kulturförderung und der Theaterpädagogik (Mitglied der Schriftstellervereinigung „Gruppe 1925“, Mitbegründer des „Volksverbandes für Filmkunst“, Einrichtung des „Studios“ an der Piscator-Bühne, Konzeption eines „Deutschen Staatstheaters“ in Engels etc.). Er war Mitinitiator und Präsident der 1956 in Hamburg gegründeten Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Präsident des Berliner Landesverbandes des Deutschen Bühnenvereins, Mitglied der Abteilung Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin (West), korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Künste Berlin (Ost) sowie seit 1959 Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik. Auf Anregung seiner zweiten Ehefrau Maria Ley wird in New York seit 1986 jährlich der „Erwin Piscator Award“ an prominente Theater- und Filmschaffende sowie weitere Künstler vergeben (bislang unter anderem an Giorgio Strehler, Robert Wilson und Peter Zadek). Ausrichter ist die Non-Profit-Organisation „Elysium – Between Two Continents“. Neben dem deutsch-amerikanischen Schauspielpreis erinnern Stätten in mehreren Ländern an Piscators Bedeutung für das europäische Theater, darunter die 1969 als „Erwin-Piscator-Haus“ eröffnete Stadthalle Marburg, das 1972 gegründete Teatro Erwin Piscator in der süditalienischen Stadt Catania, eine 1980 eingeweihte Skulptur des schottischen Bildhauers Eduardo Paolozzi nördlich des Londoner Stadtzentrums sowie mehrere Gedenktafeln unter anderem in Berlin. Anlässlich des 100. Geburtstags wurde 1993 eine Landesstraße in Piscators Geburtsort Ulm (Greifenstein) nach dem Regisseur benannt. Im 50. Todesjahr wurde dem Regisseur daselbst ein Denkmal gesetzt. Piscators Leben, seine Theaterarbeit und sein in der Emigration entstandener Spielfilm sind Gegenstand verschiedener filmischer Dokumentationen, szenischer Textcollagen, künstlerischer Installationen sowie einer musikalischen Arbeit. Die 17-minütige Komposition Gustav Metzger as Erwin Piscator, Gera, January 1915 des in Hamburg ansässigen Soloprojekts „Black To Comm“ (Album Oocyte Oil & Stolen Androgens, 2020) enthält eine Rezitation aus Jaroslav Hašeks Roman Der brave Soldat Schwejk, auf die eine Passage aus dem ersten Kapitel von Piscators Hauptwerk Das Politische Theater folgt, in der der Theaterregisseur seine Einberufung zum Kriegsdienst schildert. Umfangreiche Dokumente zu Leben und Wirken Piscators bewahren das Archiv der Akademie der Künste in Berlin (seit 1966/1971) sowie die Southern Illinois University Carbondale (seit 1971) auf. Der Verbleib des größten Teils der Originale der umfangreichen Piscator-Tagebücher der 1950er und 1960er Jahre ist, bis auf wenige Exemplare, die das Archiv der Akademie der Künste verwahrt, bislang ungeklärt. Inszenierungen 1924: Alfons Paquet, Fahnen (Volksbühne Berlin, 26. Mai 1924) 1924: Revue Roter Rummel (Berliner Säle, 22. November 1924) 1925: Trotz alledem! Historische Revue (Großes Schauspielhaus Berlin, 12. Juli 1925) 1926: Alfons Paquet, Sturmflut (Volksbühne, 20. Februar 1926) 1926: Paul Zech, Das trunkene Schiff (Volksbühne Berlin, 21. Mai 1926) 1926: Friedrich Schiller, Die Räuber (Preußisches Staatstheater Berlin, 11. September 1926) 1927: Ehm Welk, Gewitter über Gottland (Volksbühne, 23. März 1927) 1927: Ernst Toller, Hoppla, wir leben! (Piscator-Bühne Berlin, 3. September 1927) 1927: Alexei Nikolajewitsch Tolstoi und Pawel Schtschegolew, Rasputin, die Romanows, der Krieg und das Volk, das gegen sie aufstand (Piscator-Bühne, 12. November 1927) 1928: Max Brod und Hans Reimann, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk (Piscator-Bühne, 23. Januar 1928) 1928: Leo Lania, Konjunktur (Piscator-Bühne im Lessingtheater (Berlin), 8. April 1928) 1929: Walter Mehring, Der Kaufmann von Berlin (Zweite Piscator-Bühne, 6. September 1929) 1952: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (Schauspielhaus Marburg, 14. Mai 1952) 1954: Arthur Miller, Hexenjagd (Nationaltheater Mannheim, 20. September 1954) 1955: Lew Tolstoi, Krieg und Frieden (Schillertheater Berlin, 20. März 1955) 1957: Friedrich Schiller, Die Räuber (Nationaltheater Mannheim, 13. Januar 1957) 1962: Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche (Münchner Kammerspiele, Uraufführung, 15. Februar 1962) 1962: Gerhart Hauptmann, Atriden-Tetralogie (Theater am Kurfürstendamm, 7. Oktober 1962, kürzende Bearbeitung von Erwin Piscator) 1963: Rolf Hochhuth, Der Stellvertreter (Theater am Kurfürstendamm, 20. Februar 1963) 1963: Romain Rolland Robespierre (Freie Volksbühne Berlin, 1. Mai 1963, Bühnenbearbeitung von Erwin Piscator und Felix Gasbarra) 1964: Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer (Freie Volksbühne Berlin, 11. Oktober 1964) 1965: Peter Weiss, Die Ermittlung (Freie Volksbühne Berlin, 19. Oktober 1965) Film, Fernsehen, Hörspiel Spiel- und Fernsehfilme Der Aufstand der Fischer nach Anna Seghers (UdSSR: Meschrabpom 1934). Im Räderwerk nach Jean-Paul Sartre (HR, 1956) Hörspiele Heimkehr von Ilse Langner (NWDR, 1953) Gas von Georg Kaiser (HR, 1958) Göttinger Kantate von Günther Weisenborn (SDR, 1958) Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth (HR, 1963) Fernsehdokumentationen über Piscator Ein Mann namens Pis. Drehbuch & Regie: Rosa von Praunheim. 1991. Porträt des berühmten Theaterregisseurs Erwin Piscator. Drehbuch: Ulf Kalkreuth. ORB, Potsdam 1993. Der Revolutionär – Erwin Piscator auf der Weltbühne. Regie: Barbara Frankenstein, Rainer K. G. Ott. SFB, Berlin 1988. Weltbühne Berlin – die zwanziger Jahre. Drehbuch: Irmgard v.z. Mühlen. Chronos, Berlin 1991 (kurze Originalaufnahme von Piscator 1927). Literatur Schriften Erwin Piscator: Briefe. Band 1: Berlin – Moskau 1909–1936. Hrsg. von Peter Diezel. B&S Siebenhaar, Berlin 2005, ISBN 3-936962-14-6. Erwin Piscator: Briefe. Band 2: Paris, New York 1936–1951. Hrsg. von Peter Diezel. B&S Siebenhaar, Berlin 2009. Band 2.1: Paris 1936–1938/39. ISBN 978-3-936962-57-4. Band 2.2: New York 1939–1945. ISBN 978-3-936962-58-1. Band 2.3: New York 1945–1951. ISBN 978-3-936962-70-3. Erwin Piscator: Briefe. Band 3 Hrsg. von Peter Diezel. B&S Siebenhaar, Berlin 2011. Band 3.1: Bundesrepublik Deutschland, 1951–1954. ISBN 978-3-936962-83-3. Band 3.2: Bundesrepublik Deutschland, 1955–1959. ISBN 978-3-936962-84-0. Band 3.3: Bundesrepublik Deutschland, 1960–1966. ISBN 978-3-936962-85-7. Erwin Piscator: Das Politische Theater. Neubearbeitet von Felix Gasbarra, mit einem Vorwort von Wolfgang Drews. Rowohlt, Reinbek 1963, . (Originalausgabe: Adalbert Schultz, Berlin 1929, ) Erwin Piscator: Theater, Film, Politik. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Henschel, Berlin 1980, . Erwin Piscator: Zeittheater. Das politische Theater und weitere Schriften. 1915–1966. Ausgewählt und bearbeitet von Manfred Brauneck und Peter Stertz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986, ISBN 3-499-55429-1. Krieg und Frieden. Nach dem Roman von Leo Tolstoi für die Bühne nacherzählt und bearbeitet von Alfred Neumann, Erwin Piscator und Guntram Prüfer. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1955, . Sekundärliteratur Ullrich Amlung (Hrsg.): „Leben – ist immer ein Anfang!“ Erwin Piscator 1893–1966. Der Regisseur des politischen Theaters. Jonas, Marburg 1993, ISBN 3-89445-162-9. Knut Boeser, Renata Vatková (Hrsg.): Erwin Piscator. Eine Arbeitsbiographie in 2 Bänden (= Reihe Deutsche Vergangenheit, Band 11). Frölich und Kaufmann / Edition Hentrich, Berlin 1986. Band 1: Berlin 1916–1931. ISBN 3-88725-215-2 Band 2: Moskau-Paris-New York-Berlin 1931–1966. ISBN 3-88725-229-2. Franz-Josef Deiters: „'das Theater [...] in den Dienst der revolutionären Bewegung gestellt'. Erwin Piscators Modell eines Agitations- und Propagandatheaters“. In: Franz-Josef Deiters: Verweltlichung der Bühne? Zur Mediologie des Theaters der Moderne. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2019. ISBN 978-3-503-18813-0, S. 103–131. Heinrich Goertz: Erwin Piscator in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1974, ISBN 978-3-499-50221-7 (früher: ISBN 3-499-50221-6) Hermann Haarmann: Erwin Piscator und die Schicksale der Berliner Dramaturgie. Nachträge zu einem Kapitel deutscher Theatergeschichte. Wilhelm Fink, München 1991, ISBN 3-7705-2685-6. Peter Jung: Erwin Piscator. Das politische Theater. Ein Kommentar. Nora, Berlin 2007, ISBN 978-3-86557-105-2. Judith Malina: The Piscator Notebook. Routledge Chapman & Hall, London 2012, ISBN 978-0-415-60073-6. Klaus Wannemacher: Erwin Piscators Theater gegen das Schweigen: politisches Theater zwischen den Fronten des Kalten Kriegs (1951–1966) (= Theatron, Band 42), Niemeyer, Tübingen 2004, ISBN 978-3-484-66042-7 (Dissertation Universität Heidelberg 2002, VIII, 287 Seiten, Illustrationen; unter dem Titel Piscator und die unbewältigte Vergangenheit). Klaus Wannemacher: Der Amnesie des Publikums begegnen. Nachkriegstheater als Inkubator des „Aufarbeitungs“-Diskurses. In: Stephan A. Glienke, Volker Paulmann und Joachim Perels (Hrsg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus. Wallstein, Göttingen 2008, ISBN 978-3-8353-0249-5, S. 263–291. John Willett: Erwin Piscator. Die Eröffnung des politischen Zeitalters auf dem Theater. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-10924-3. Thea Kirfel-Lenk: Erwin Piscator im Exil in den USA. Henschelverlag, Berlin, 1984 Thea Kirfel-Lenk: „Ändere die Welt: Sie braucht es.“ Erwin Piscator und sein internationales Theaterkollektiv. In: Berliner Begegnungen. Ausländische Künstler in Berlin 1918 bis 1933. Dietz Verlag Berlin, 1987, S. 312–324 Weblinks erwin-piscator.de, Webseite zu Piscator samt „Annotierter Erwin Piscator-Bibliographie“ mit über 1300 Titeleinträgen Erwin-Piscator-Center im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Erwin Piscator Papers der Morris Library, Southern Illinois University, Bestandsübersicht Filmsequenzen der Piscator-Inszenierungen 1927–29 (filmportal.de) Elysium Between Two Continents, Stifter des Erwin Piscator Award Erwin Piscator auf Künste im Exil Einzelnachweise Filmregisseur Theaterregisseur Theaterintendant Theaterproduzent Schauspiellehrer Mitglied der Akademie der Künste (DDR) KPD-Mitglied Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes Bestattet in einem Ehrengrab des Landes Berlin Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Deutscher Geboren 1893 Gestorben 1966 Mann Person (Mittelhessen) Künstler (Berlin)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Die%20Weltb%C3%BChne
Die Weltbühne
Die Weltbühne war eine deutsche Wochenzeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft. Sie wurde von Siegfried Jacobsohn in Berlin unter dem Namen Die Schaubühne als reine Theaterzeitschrift gegründet und erschien am 7. September 1905 zum ersten Mal. Am 4. April 1918 wurde die Schaubühne, die sich seit 1913 für wirtschaftliche und politische Themen geöffnet hatte, in Die Weltbühne umbenannt. Nach dem Tode Jacobsohns im Dezember 1926 übernahm Kurt Tucholsky die Leitung des Blattes, die er im Mai 1927 an Carl von Ossietzky weitergab. Die Nationalsozialisten verboten nach dem Reichstagsbrand die Weltbühne, die am 7. März 1933 zum letzten Mal erscheinen konnte. Im Exil wurde die Zeitschrift bis 1939 unter dem Titel Die neue Weltbühne fortgeführt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschien die Weltbühne unter ihrem ursprünglichen Namen wieder in Ost-Berlin, wo sie bis 1993 Bestand hatte. 1997 haben sich die Zeitschriften Ossietzky und Das Blättchen in die Tradition des berühmten Vorbilds gestellt. Mit ihren kleinen roten Heften galt die Weltbühne in der Weimarer Republik als das Forum der radikaldemokratischen bürgerlichen Linken. Rund 2500 Autoren schrieben von 1905 bis 1933 für die Zeitschrift. Dazu gehörten neben Jacobsohn, Tucholsky und Ossietzky auch prominente Journalisten und Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Moritz Heimann, Kurt Hiller, Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Alfred Polgar, Robert Walser, Carl Zuckmayer und Arnold Zweig. Auch ein wenig in Vergessenheit geratene Publizisten wie Rudolf Arnheim, Julius Bab, Erich Dombrowski, Axel Eggebrecht, Hellmut von Gerlach, Hanns-Erich Kaminski, Richard Lewinsohn, Fritz Sternberg, Heinrich Ströbel und Richard Treitel gehörten zu den wichtigen Mitarbeitern des Blattes. Ferner der erste weibliche Journalist der Volkswacht (Freiburg im Breisgau), die deutsche Schriftstellerin und Journalistin Käthe Vordtriede. Selbst in ihrer Hochphase hatte die Weltbühne nur eine geringe Auflage von rund 15.000 Exemplaren. Publizistisch drang sie dennoch durch. Beispiele dafür sind die Aufdeckung der Fememorde innerhalb der Schwarzen Reichswehr sowie Berichte über die heimliche Aufrüstung der Reichswehr, die später zum sogenannten Weltbühne-Prozess führten. Auch der von Tucholsky geprägte Satz „Soldaten sind Mörder“ führte zu einer Anklage gegen den damaligen Herausgeber Ossietzky. Entstehung und Entwicklung der Schaubühne Die Gründung der Schaubühne war das Resultat einer Plagiatsaffäre, in die der 23 Jahre alte Theaterkritiker Siegfried Jacobsohn verwickelt war. Am 12. November 1904 hatte das Berliner Tageblatt auf Parallelen zwischen Kritiken von Jacobsohn und Alfred Gold aufmerksam gemacht. Jacobsohn war zu diesem Zeitpunkt Theaterkritiker der Welt am Montag, die ihren streitbaren und in Presse- und Theaterkreisen daher zum Teil verhassten Mitarbeiter aufgrund der öffentlichen Empörung nicht mehr halten wollte. Der beruflich fürs erste gescheiterte Jacobsohn trat eine mehrmonatige Reise durch Europa an und beschloss, eine eigene Theaterzeitschrift ins Leben zu rufen. Diese Lebensphase, von Beginn der Plagiatsaffäre bis zur Gründung der Schaubühne, beschrieb er in der 1913 erschienenen Schrift Der Fall Jacobsohn. Im Rückblick schilderte er seine Affäre als „Sensationsstück ersten Ranges, für das es sich lohnte, die berliner Litfaßsäulen mit Riesenplakaten – Jacobsohns Entlarvung; Plagiator Jacobsohn; Siegfrieds Tod – wochenlang vollzukleben“ (S. 50). Neueren Untersuchungen zufolge fand der Fall in der Hauptstadtpresse aber nur ein geringes Echo. Jacobsohns Broschüre enthält auch eine Briefpassage, die seine Vorstellungen von der zukünftigen Arbeit als Herausgeber und Redakteur wiedergibt (S. 47): Theaterphase: 1905 bis 1913 Die Zeitschrift hat während ihres Bestehens von 1905 bis 1933 mehrere Entwicklungsphasen durchlaufen. Bis 1913 konzentrierte sie sich auf „die gesamten Interessen des Theaters“, wie es bis dahin in ihrem Untertitel hieß. Jacobsohn war überzeugt, dass „der Geist eines Volkes und einer bestimmten Zeit eindringlicher als in der übrigen Literatur im Drama zum Ausdruck kommt“ – so heißt es in seinem Beitrag Zum Geleit, mit dem er das erste Heft der Schaubühne eröffnete. Den ersten vier Nummern war ein Zitat aus Friedrich Schillers Aufsatz Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet als Motto vorangestellt: „So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze“. Das war ein Hinweis darauf, wie Jacobsohn sein Unternehmen verstanden wissen wollte: als Aufklärung im Geist der Klassik. Die große Bedeutung, die künstlerischen Debatten in der damaligen Zeit zukam, lag allerdings auch darin begründet, dass die Kunst im Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm II. weniger Repressionen ausgesetzt war als Politik und Journalismus. Zu den wichtigsten Mitarbeitern in der Anfangsphase der Schaubühne zählten die Theaterkritiker Julius Bab, Willi Handl und Alfred Polgar, in den Folgejahren traten auch Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Robert Walser, und Harry Kahn sowie der Theaterkritiker Herbert Ihering hinzu. Im November 1908 wurde Feuchtwangers Zeitschrift Der Spiegel nach nur 15 Ausgaben mit der Schaubühne vereinigt. Als Theaterkritiker war Jacobsohn ein Antipode Alfred Kerrs. Anders als dieser war er ein entschiedener Kritiker des Naturalismus und schätzte im Gegensatz zu Kerr auch die Leistungen von Max Reinhardt als Theaterleiter und -regisseur weit höher ein als die von Otto Brahm. Reinhardts 1910 beginnende Hinwendung zum Massentheater in Zirkusarenen, die in Berlin schließlich im Bau des Großen Schauspielhauses mündete, wurde von Jacobsohn jedoch missbilligt. Öffnung zur Politik: 1913 bis 1918 Am 9. Januar 1913 erschien erstmals ein Beitrag des an diesem Tage 23 Jahre alt gewordenen Jura-Studenten Kurt Tucholsky in der Schaubühne. Schon im ersten Jahr seiner Zusammenarbeit mit Jacobsohn avancierte Tucholsky zu dessen wichtigstem Mitarbeiter. Um das Blatt nicht allzu „Tucholsky-lastig“ erscheinen zu lassen, legte er sich bereits 1913 drei Pseudonyme zu, die er bis zum Ende seines publizistischen Wirkens beibehielt: Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panter. Unter dem Einfluss von Tucholskys Mitarbeit sollte sich auch der Charakter der Schaubühne rasch wandeln. Schon im März 1913 erschienen die ersten „Antworten“, eine Rubrik, in der die Zeitschrift in Zukunft zu echten oder fingierten Leserbriefen Stellung nehmen sollte. Wichtiger war jedoch die Entscheidung Jacobsohns, sein Blatt für Themen aus Politik und Wirtschaft zu öffnen. Am 25. September berichtete der Wirtschaftsjurist Martin Friedlaender unter dem Pseudonym „Vindex“ über Monopolstrukturen in der amerikanischen Tabakindustrie. Jacobsohn nahm in einer fingierten „Antwort“ dazu Stellung: Während des Krieges gelang es Jacobsohn, dass seine Zeitschrift trotz schwieriger Bedingungen regelmäßig erscheinen konnte. Von August 1914 an eröffnete er jedes Heft mit einem politischen Leitartikel, in dem ein „patriotischer“ Standpunkt vertreten wurde. Im November 1915 startete der Journalist Robert Breuer unter dem Pseudonym „Cunctator“ eine Serie von Artikeln, die sich kritisch mit der Politik der Reichsregierung und dem politischen Zustand des Reiches auseinandersetzten. Die Reihe gipfelte am 23. Dezember in dem Beitrag Die Krise des Kapitalismus, der mit der Feststellung endete: „Nur die Internationale des Proletariats kann die Krise des national verbrämten Kapitalismus überwinden.“ Aufgrund dieses Artikels wurde die Schaubühne zunächst verboten. Jacobsohn konnte jedoch ein weiteres Erscheinen des Blattes sicherstellen, indem er in eine Vorzensur einwilligte. Zum Germanicus gewandelt kehrte Breuer im Januar 1916 als Kommentator zum Blatt zurück und führte dort trotz seines Namens einen permanenten Kampf gegen die Annexionsforderungen des Alldeutschen Verbandes. Von 1916 druckte Jacobsohn, der 1915 nach dem Tod seines jüngsten Bruders an der Front ein leidenschaftliches pazifistisches Bekenntnis abgegeben hatte, regelmäßig Annoncen zur Zeichnung von Kriegsanleihen. Ungeklärt ist bislang, ob diese Anzeigen vergütet wurden und damit möglicherweise entscheidend zur Existenzsicherung der Zeitschrift beitrugen. Das insgesamt keineswegs pazifistische, politisch bestenfalls als lavierend zu bezeichnende Erscheinungsbild des Blattes trug Jacobsohn später nicht unberechtigte Kritik u. a. von Franz Pfemfert und Karl Kraus ein. Dem Wandel vom reinen Theaterblatt zur „Zeitschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft“ trug Jacobsohn schließlich am 4. April 1918 mit der Umbenennung der Schaubühne in Weltbühne Rechnung. Die Umbenennung in Weltbühne – für Revolution und Republik: 1918 bis 1926 Nach den Anfangserfolgen der deutschen Frühjahrsoffensive 1918 rückte Jacobsohns Leitartikler Robert Breuer von seiner bis dahin anti-annexionistischen Position ab und verließ auch auf anderen Gebieten die bisherige Linie des Blattes. Die Differenzen zwischen dem MSPD-Anhänger Breuer und Jacobsohn, der sich mehr und mehr der Position der USPD näherte, führte schließlich zum Abschied von „Germanicus“. Während der Novemberrevolution ließ sich die Weltbühne nicht auf einen Parteikurs festlegen. Von März 1919 bis Oktober 1920 schrieb der Sozialdemokrat Heinrich Ströbel die politischen Leitartikel. Am 21. November 1918 veröffentlichte Jacobsohn das Programm des „Rates geistiger Arbeiter“, dem er selbst kurzzeitig angehörte, den er aber verließ, weil er sich nicht für einen „Debattierklub“ die Zeit für die Redaktionsarbeit stehlen lassen wollte. Schon bald beschäftigte sich die Weltbühne kritisch mit der Zusammenarbeit von Sozialdemokratie und dem alten Heer sowie der unzureichenden Säuberung von Justiz und Verwaltung von monarchistisch und antirepublikanisch eingestellten Beamten. Im März 1919 wehrte sich Tucholsky in dem programmatischen Text „Wir Negativen“ gegen den Vorwurf, die neue Republik nicht positiv genug zu sehen: In den folgenden Jahren vertrat die Weltbühne einen strikt pazifistischen und antimilitaristischen Kurs, forderte eine harte Reaktion der Republik auf die zahlreichen politischen Morde und drängte auch während des Ruhrkampfes auf die Erfüllung der im Versailler Vertrag festgelegten Friedensbedingungen. Daher trat das Blatt auch entschieden für die Aussöhnung mit den Kriegsgegnern ein. Ein besonderes Verdienst der Weltbühne bestand darin, auf die Fememorde innerhalb der Schwarzen Reichswehr aufmerksam gemacht zu haben. Obwohl Jacobsohn wusste, dass er sich damit einer großen persönlichen Gefahr aussetzte, veröffentlichte er vom 18. August 1925 an entsprechende Aufzeichnungen des ehemaligen Freikorpsangehörigen Carl Mertens. Wegweisend für die weitere Entwicklung der Zeitschrift war auch die Verpflichtung des politischen Publizisten Carl von Ossietzky, der vom April 1926 an als Redakteur und politischer Leitartikler von Jacobsohn beschäftigt wurde. Mit dem plötzlichen Tod Jacobsohns am 3. Dezember 1926 war der Fortbestand der Weltbühne, die damals eine Auflage von rund 12.500 Exemplaren hatte, jedoch in Frage gestellt. Kampf gegen den Nationalsozialismus: 1927 bis 1933 Nach dem Tod seines Mentors Jacobsohn gab Tucholsky zunächst sein Korrespondentendasein in Paris auf, kehrte zurück nach Berlin und wurde – wie er es spöttisch nannte – „Oberschriftleitungsherausgeber“ der Weltbühne. Jacobsohns Witwe Edith Jacobsohn übernahm 1927 die Leitung des Verlags. Es zeigte sich jedoch schon bald, dass Tucholsky die Position des Herausgebers nicht behagte. Daher übernahm Ossietzky im Mai 1927 die Redaktion und wurde von Oktober 1927 offiziell als Herausgeber genannt, „unter der Mitarbeit von Kurt Tucholsky“, wie es bis 1933 auf dem Titelblatt hieß. Obwohl von Ossietzky vom Typus her ein völlig anderer Redakteur als Jacobsohn war, blieb die Kontinuität der Zeitschrift gewahrt. Aus den Briefen Tucholskys an seine Frau Mary Gerold geht jedoch hervor, dass dieser in den Jahren 1927 und 1928 alles andere als zufrieden mit der Arbeitsweise seines Nachfolgers „Oss“ war. Typische Briefpassagen lauteten: „Oss antwortet überhaupt nicht – geht auf nichts ein – und zwar sicherlich nicht aus Gemeinheit, sondern aus Faulheit“ (14. August 1927); „Oss ganz weit weg. Ich habe den lebhaften Eindruck, zu stören. Er mag mich nicht u. ich ihn nicht mehr. Behandelt mich um die entscheidende Nuance zu wenig respektvoll. Kriegt auf den Kopf“ (20. Januar 1928); „Oss ist ein aussichtsloser Fall – er weiß nicht einmal, wie langweilig er alles macht. Er ist faul und unfähig.“ (25. September 1929) Erst in den kommenden Jahren sollten sich die beiden Journalisten inhaltlich und persönlich näherkommen, sodass Tucholsky im Mai 1932 schließlich einräumte, Ossietzky habe dem Blatt einen „gewaltigen Auftrieb“ gegeben. Dieser Auftrieb schlug sich auch in der Auflage nieder, die Anfang der 1930er-Jahre mit 15.000 Exemplaren ihr Maximum erreichte. Von der Bedeutung der Weltbühne zeugen u. a. die Leserzirkel, die sich in zahlreichen deutschen Städten und selbst in Südamerika bildeten. Für Aufmerksamkeit auch über den Kreis der Leser hinaus sorgten die juristischen Auseinandersetzungen, die die Weltbühne aufgrund ihrer antimilitaristischen Aufklärungsarbeit fast permanent mit dem Reichswehrministerium führte. Höhepunkt dieser Konflikte war der sogenannte Weltbühne-Prozess, in dessen Folge von Ossietzky und der Journalist Walter Kreiser wegen Spionage zu 18 Monaten Haft verurteilt wurden. Dem Kampf gegen die „Reise ins Dritte Reich“ (Tucholsky) galt gegen Ende der Weimarer Republik die volle Konzentration des Blattes, obgleich das kulturelle Leben nicht völlig ausgeblendet wurde. Allerdings hatte Tucholsky Anfang 1932 bereits resigniert und veröffentlichte nur noch sporadisch eigene Texte. Im Mai 1932 übernahm Hellmut von Gerlach vorübergehend die Leitung, da Ossietzky seine Haftstrafe absitzen musste. Während dieser Zeit fungierte der Journalist Walther Karsch als so genannter Sitzredakteur, war also verantwortlicher Redakteur im Sinne des Presserechts. Im Sommer wurde Ossietzky ebenfalls wegen des Tucholsky-Satzes „Soldaten sind Mörder“ angeklagt. Ein Gericht sprach den bereits Inhaftierten jedoch frei, der Weihnachten 1932 aufgrund einer Amnestie schließlich aus der Haft entlassen wurde. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war vorauszusehen, dass ein Verbot der Weltbühne erfolgen würde. In der Nacht des Reichstagsbrands vom 27. auf den 28. Februar 1933 wurden Ossietzky und weitere Mitarbeiter verhaftet. Nach der Flucht Hellmut von Gerlachs übernahm Walther Karsch, der spätere Mitbegründer des Berliner Tagesspiegels, auch die Funktion des Chefredakteurs der Weltbühne. Die für den 14. März geplante Ausgabe konnte zwar noch gedruckt, aber nicht mehr ausgeliefert werden. Die letzte Ausgabe der Weltbühne erschien somit am 7. März 1933 (Nr. 10) und endete mit der trotzigen Versicherung: „Denn der Geist setzt sich doch durch“. Nachfolge-Zeitschriften Wechselvolle Jahre im Exil: 1933 bis 1939 Das Verbot der Zeitschrift traf den Verlag der Weltbühne nicht unvorbereitet. Schon am 29. September 1932 war in Wien ein Ableger des Blattes erschienen, die Wiener Weltbühne. Für die Nummern 11–13 1933 (2. Jahrgang) schrieben bereits verschiedene Berliner Emigranten. Als Leiter der Wiener Dependance fungierte der Journalist Willi Siegmund Schlamm, ein Schüler von Karl Kraus und Leo Trotzki. Im Redaktionsvertrag zwischen Schlamm und Edith Jacobsohn war vorgesehen, dass Carl von Ossietzky im Falle einer Emigration auch die Redaktion des Exilblattes übernehmen würde. Doch dazu kam es nicht. Edith Jacobsohn gelang gemeinsam mit ihrem Sohn Peter die Flucht in die Schweiz. Von dort aus versuchte sie, weiterhin Einfluss auf die Zeitschrift zu nehmen, die nach der Entmachtung des österreichischen Parlaments durch Kanzler Engelbert Dollfuß ihren Redaktionssitz nach Prag hatte verlegen müssen. Da das Berliner Original inzwischen auch verboten worden war, änderte die Zeitschrift ihren Namen in Die Neue Weltbühne um. Zwischen 6. April 1933 (Nr. 14) und 31. August 1939 (Nr. 35) erschienen knapp 4000 Artikel. Redaktionsleiter wurde Schlamm. Schlamm machte seine Arbeit gut. Tucholsky lobte ihn in einem Brief an Heinz Pol ganz besonders, er halte die Artikel von Schlamm für „großartig“. 1934 wurde Schlamm die Leitung des Blattes aus der Hand genommen. Schlamm sprach von „Erpressung und einem gezielten Coup der Kommunisten“. Die Vorgänge um den Wechsel der Reaktion von Schlamm zu Hermann Budzislawski sind nach Ansicht des Historikers Alexander Gallus umstritten. Gallus hält Schlamms Vermutung für plausibel. Ersten waren solche Übernahmen im Stalinschen Kommunismus nicht ungewöhnlich. Darüber hinaus hatte sich Schlamm unbeliebt gemacht, weil er sowohl die Kommunisten und die Sozialdemokraten wegen ihrer Rolle bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten hart kritisiert hatte. Unter dem Einfluss des den Kommunisten nahestanden Wirtschaftsjournalisten Budzislawski, der in Berlin sporadischer Mitarbeiter der Weltbühne gewesen war, ließ Jacobsohn es auf den Bruch mit Schlamm ankommen. Von März 1934 an übernahm Budzislawski die Redaktion in Prag. Zwar änderte er sogleich die politische Linie der Zeitschrift, doch die Auflage konnte er nicht wesentlich erhöhen. Dies lag auch daran, dass mit Österreich und bald auch dem Saargebiet wichtige Absatzgebiete der Exilzeitschriften verloren gingen. Daher sah Edith Jacobsohn sich im Juni 1934 gezwungen, Verlag und Titelrechte zu verkaufen. Als Käufer traten der Physiker Albrecht Seidler-Stein (60 Prozent Anteile), der Rechtsanwalt Hans Nathan-Ludwig (31 Prozent) und der frühere Weltbühne-Mitarbeiter Heinz Pol (neun Prozent) auf. Im Juli 1935 verkaufte Nathan-Ludwig seine Anteile jedoch an die mit Budzislawski befreundete Helene Reichenbach, Tochter eines chinesischen Diplomaten und Geschäftsmannes. Pol gab seinen Anteil im November 1935 ebenfalls wieder ab, sodass Seidler-Stein schließlich zwei Drittel der Anteile, Reichenbach ein Drittel besaß. Da Seidler-Stein versuchte, Budzislawski durch einen anderen Redakteur zu ersetzen, wurde er von Budzislawski schließlich aus dem Verlag gedrängt. Obwohl Budzislawski über keine finanziellen Rücklagen verfügte, stimmte die in Moskau lebende Reichenbach im August 1936 einem Vertrag zu, der beiden zu gleichen Teilen das Eigentum am Verlag zusicherte. Unter diesen Bedingungen konnte die Zeitschrift noch rund drei Jahre existieren. Im Juni 1938 wechselte die Redaktion von Prag nach Paris, da Die neue Weltbühne in der Tschechoslowakei bereits mehrfach wegen Deutschland-kritischer Artikel konfisziert worden war. In Frankreich verboten die Behörden schließlich das Blatt ebenfalls, das am 31. August 1939 zum letzten Mal erscheinen konnte. Budzislawski ist in der Vergangenheit häufig vorgeworfen worden, die Weltbühne lediglich als kommunistischer Agent übernommen zu haben, um sie im Sinne der KPD und der Kommunistischen Internationale weiterführen zu können. Neuere Forschungen unter Auswertung des Redaktionsarchivs gehen eher davon aus, dass Budzislawski aus Gründen der persönlichen Reputation und als entschiedener Hitler-Gegner die Leitung der Neuen Weltbühne übernehmen wollte. Dennoch bleibt festzuhalten, dass unter seiner Herausgeberschaft nach Moskau emigrierte deutsche Kommunisten wie Walter Ulbricht und Franz Dahlem ein Forum in dem Blatt fanden. Außerdem vermied es Budzislawski, über die so genannten Stalinschen Säuberungen zu berichten. Kurt Hiller, seit 1915 Mitarbeiter der Weltbühne, appellierte 1937 aber vergeblich an Budzislawski, die charakteristische Ausgewogenheit und Freizügigkeit der Zeitschrift wiederherzustellen (vgl. seine kritische Schrift Rote Ritter. Erlebnisse mit deutschen Kommunisten, Gelsenkirchen 1951). Parteiblatt nach dem Krieg: 1946 bis 1993 1946 wurde die Weltbühne von Maud von Ossietzky und Hans Leonhard wieder gegründet und im Verlag der Weltbühne, Ost-Berlin, herausgegeben. Von den USA aus erhoben sowohl Peter Jacobsohn als auch Budzislawski Einspruch gegen die Neugründung. In den Jahren nach dem Kriege fand die Zeitschrift auch in den westlichen Besatzungszonen viele Abnehmer. In den 1950er und 1960er wurde die Weltbühne daher als Brücke zu den intellektuellen Kreisen im Westen gesehen sowie als Möglichkeit betrachtet, diese Kreise zu beeinflussen. In einem Antrag auf die Neuausstellung einer Lizenzurkunde im Jahre 1962 hieß es daher: Im Zweifel entschied sich die Redaktion dabei für die aktuellen politischen Erfordernisse und gegen die Tradition der Zeitschrift, wie aus einer internen Charakteristik von Mitte der 1950er-Jahre hervorgeht: „Kam die Weltbühne immer etwas intellektueller daher als andere DDR-Zeitschriften, so war sie doch im Grunde linientreu“, lautet das Resümee von Petra Kabus. Allerdings erreichte die Auflage mit 170.000 Exemplaren eine Größenordnung, die diejenige der Original-Weltbühne um mehr als das Zehnfache überstieg. Von 1967 bis 1971 fungierte Budzislawski wieder als Herausgeber und Chefredakteur der Weltbühne. Von Dezember 1989 bis zur Einstellung des Blattes im Juli 1993 übernahm Helmut Reinhardt diese beiden Aufgaben. Die Zeitschrift musste auch deswegen eingestellt werden, weil Peter Jacobsohn nach der Wiedervereinigung die Rechte an dem Zeitschriftentitel geltend machte. Einen ersten Prozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main verlor Jacobsohn jedoch. Der zwischenzeitliche Eigentümer des Verlages, Bernd F. Lunkewitz, versuchte sich im anschließenden Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main außergerichtlich mit Jacobsohn zu einigen. Da diese Einigung misslang, stellte er die hochdefizitär gewordene Zeitschrift am 6. Juli 1993 ein. Seine Begründung: Der Verlag der Weltbühne hatte als Vorleistung für den Vergleich die Ansprüche Jacobsohns voll anerkannt, was nicht mehr rückgängig gemacht wurde. Herausgeber Helmut Reinhardt war bis zuletzt davon ausgegangen, dass der Prozess vor dem Oberlandesgericht gewonnen werden würde. Die Redaktion des Blattes zeigte sich von dem eigenmächtigen Vorgehen Lunkewitz' daher völlig überrascht und fügte dessen Erklärung eine eigene Stellungnahme hinzu: Durch die Anerkenntnis des Klagebegehrens wurde juristisch nie geklärt, ob die Titelrechte tatsächlich den Jacobsohn-Erben zugestanden hätten. Zwar sicherte sich Jacobsohn zwischenzeitlich die Titelrechte, jedoch wurden diese anschließend nie genutzt. Dies ist mit einer Sicherung von Markenrechten nicht dauerhaft vereinbar (siehe: Schutzdauer im Markenrecht) Lunkewitz verkaufte im August 1993 schließlich den Verlag samt Abonnentenkartei an Peter Großhaus, der damals auch die frühere FDJ-Zeitung Junge Welt verlegte. Im Dezember 1993 wechselte der Verlag ein weiteres Mal den Besitzer und wurde in Webe Verlag und Beteiligungsgesellschaft umbenannt. Drei Jahre später, im November 1996, kaufte Titanic-Verleger Erik Weihönig den Verlag. Am 29. November 2001 wurde die Webe schließlich aus dem Handelsregister gelöscht. Zwei Wiederbelebungsversuche 1997 1997 wurden sowohl in Berlin als auch in Hannover Wiederbelebungsversuche unternommen. Beide Autorengruppen scheuten eine juristische Auseinandersetzung um das Recht an dem Namen Weltbühne. Nicht nur Peter Jacobsohn, sondern auch die neuen Besitzer des früheren Weltbühne-Verlages wollten die Verwendung des Namens unterbinden. Das Projekt aus Hannover wurde daher Ossietzky genannt und erscheint im gleichnamigen Verlag. Das Ost-Berliner Zwillingsblatt legte sich den redaktionsinternen Spitznamen der Original-Weltbühne Das Blättchen zu und wurde bis September 2009 als gedruckte Ausgabe von einem Zirkel um Jörn Schütrumpf herausgegeben. Seit 2010 erscheint Das Blättchen als reine Online-Zeitschrift. Rezeption und Wirkung Dass die Weltbühne trotz ihrer geringen Auflage eine so große Wirkung entfalten konnte, lässt sich wohl nur mit der Person Siegfried Jacobsohns begründen. Über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten war es ihm gelungen, wichtige Vertreter der intellektuellen Linken an sein Blatt zu binden und eine gleich bleibend hohe Qualität der Texte zu gewährleisten. „Der Mann war der idealste Redakteur, den unsre Generation gesehen hat“, schrieb Tucholsky nach dem überraschenden Tod Jacobsohns im Dezember 1926. Im Unterschied zu Karl Kraus’ Fackel und Maximilian Hardens Zukunft dominierten in der Weltbühne jedoch von Anfang an nicht die Texte des Herausgebers. Jacobsohn sah sich stets als der „Regisseur einer gedruckten Bühne“, wie er im Mai 1905 in einem Brief geschrieben hatte. Die geringe Auflage steht nicht im Widerspruch zur, sondern kann eher als Begründung für die besondere Stellung der Weltbühne herhalten. Denn im Gegensatz zu größeren Blättern musste Jacobsohn weder auf Verlags-, Partei- noch Anzeigeninteressen Rücksicht nehmen. Auch um die Ansprüche seiner Leser scherte sich Jacobsohn wenig. „Sie haben nur ein Recht: mein Blatt nicht zu lesen“, zitierte Tucholsky mehrfach das Credo seines Mentors. Charakteristisch dafür war eine Antwort, die Jacobsohn einem Leser gegen Ende des Ersten Weltkrieges gab: Diese Unabhängigkeit war auch ein Grund dafür, dass ein Autor wie Tucholsky trotz des nicht gerade üppigen Honorars immer wieder zur Weltbühne zurückkehrte und dort Texte veröffentlichte, die er in bürgerlichen Blättern wie der Vossischen Zeitung oder dem Berliner Tageblatt nicht unterbringen konnte. Ein Resultat der Radikalität waren Vorwürfe, die sich das Blatt schon Anfang 1919 gefallen lassen musste und die Tucholsky damals wie folgt zusammenfasste: Der Hintergrund dieser Kritik lag wohl darin, dass sich die Weltbühne in der Weimarer Republik von Beginn an nicht auf eine bestimmte parteipolitische Position festlegen ließ und bei keiner Partei ihre Vorstellungen von einem demokratischen und sozialen Deutschland verwirklicht sah. Vor allem die SPD musste sich bis zum Ende der Weimarer Republik vorhalten lassen, die Ideale der Novemberrevolution verraten und nicht energisch genug mit den Traditionen des Kaiserreiches gebrochen zu haben. Die Radikalität und Offenheit der Weltbühne-Positionen waren jedoch gleichzeitig ein Grund dafür, dass sie innerhalb von Journalismus und Politik sehr aufmerksam wahrgenommen wurden. Diese Leserschicht des Blattes erfüllte somit eine Multiplikatorenfunktion und sorgte dafür, dass die Weltbühne-Positionen in anderen Blättern Verbreitung fanden, wenn auch häufig verkürzt und verfälscht. „Die ‚Weltbühne‘ hat immer zwei gewichtige Gegenpole gehabt: die Parteien und die große Presse“, heißt es bei Tucholsky in „Fünfundzwanzig Jahre“. Charakteristisch für Rezeption und Wirkung der Weltbühne sowie Ton und Inhalt der damaligen Debatten ist folgende Antwort, die die Kritik eines sozialdemokratischen Blattes an der Weltbühne wiedergibt: Trotz dieser Dauerkritik an der SPD war der Weltbühne stets klar, dass die wahren Feinde der Republik auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu suchen waren. In einem Gedicht Tucholskys hieß es Ende 1919: Das Blatt scheute daher nicht davor zurück, aus Protest gegen die judenfeindliche Politik der Kahr-Regierung die Leser dazu aufzufordern, ihren Urlaub nicht mehr in Bayern zu verbringen. Die Kampagne „Reisende, meidet Bayern!“ schlug hohe Wellen., wie die folgende, von extremem Antisemitismus geprägte Reaktion seines satirischen Vorbilds in einem Leitartikel zeigt: Die Weltbühne wurde von Vertretern der radikalen politischen Rechten aber nicht nur aufmerksam verfolgt und angegriffen, sondern wegen ihrer Konzeption und ihres sprachlichen Niveaus auch bewundert. So schrieb der Nationalist Franz Schauwecker im Januar 1926 an Ernst Jünger: Tatsächlich scheint die Weltbühne für einige nationalistische Blätter ein Vorbild abgegeben zu haben. Bemerkenswert ist auch eine Stellungnahme des jungkonservativen Publizisten Heinrich von Gleichen-Rußwurm, der seine Kritik an der Haltung der Weltbühne mit einer scharfen Missbilligung antisemitischer Pöbeleien verband: Die weiter oben zitierte Beurteilung durch den Reichstagsabgeordneten Anton Erkelenz findet sich in ähnlicher Form auch Texten wieder, die sich aus historischer Perspektive mit der Weltbühne befassen. So kritisierte Rudolf Augstein die überzogenen Ansprüche des Blattes an die Politiker: Allerdings lässt sich der Weltbühne nicht vorwerfen, sie habe von einer rein idealistischen und ästhetischen Warte aus agiert, ohne sich um die Aufdeckung konkreter Missstände zu kümmern. So ging Jacobsohn ein hohes persönliches Risiko ein, als er 1925 die Berichte über Fememorde innerhalb der Vaterländischen Verbände veröffentlichte. Nach Angaben Ossietzkys soll Jacobsohn darin auch seine wichtigste journalistische Leistung gesehen haben: „Und wenn ich nichts getan hätte als die Aufdeckung der Fememorde, so wäre mir das genug …“ Auch die Reaktion der Reichsregierung auf die Enthüllungen, die zum Weltbühne-Prozess führten, zeigten sehr deutlich, dass bereits 1929 nur noch wenig von dem Staat übrig war, den die Weltbühne hätte verteidigen wollen. Und wie eine vorweggenommene Antwort auf die Kritiker der Nachkriegszeit liest sich eine Stelle aus einem Brief Tucholskys an Walter Hasenclever vom 17. Mai 1933: Urteile über die Weltbühne Redaktionelle Daten Die Schaubühne erschien zunächst in der Schaubühne GmbH, die am 1. August 1905 eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufen worden war. Im Januar 1906 übernahm der neu gegründete Verlag Oesterheld & Co. die Zeitschrift. Vom 1. Januar 1909 bis zum 1. Oktober 1912 kam die Schaubühne im Verlag Erich Reiß heraus. Danach erschien die Zeitschrift bis zu ihrem Verbot 1933 in Jacobsohns Verlag der Schaubühne (1918 in Verlag der Weltbühne umgewandelt). Die finanzielle Situation der Zeitschrift war bis Mitte der zwanziger Jahre eher prekär. Außerdem entstanden Jacobsohn durch erfolglose Buchausgaben von Texten seiner Autoren hohe Verluste, die er durch die Einnahmen aus seiner Zeitschrift decken musste. Die Schau- und Weltbühne verzichteten fast völlig auf Fotografien und Illustrationen. Lediglich in einigen Ausgaben der Schaubühne finden sich Darstellungen von Bühnentechnik. Die Inserate in der Weltbühne beschränkten sich vorwiegend auf Anzeigen von Büchern. In einer Ausgabe von 1930, die 36 redaktionelle Seiten umfasst, finden sich zwölf Seiten Buchinserate und eine Seite mit Kleinanzeigen. Bekannte und wichtige Mitarbeiter (1905–1933) Name (Mitarbeit von – bis, Zahl der Artikel) Pseudonyme Siehe auch Weltbühne-Prozess, Pressegeschichte, Zeitungsmuseum, Zeitungsantiquariat Literatur Nachdrucke Die Schaubühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1905–1918. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978–1980 Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978. Die Wiener Weltbühne. Nachdruck der Originalausgabe. 1. Jahrgang 1932. o.A. Die neue Weltbühne. Nachdruck der Originalausgabe. 2. Jahrgang der Wiener Weltbühne, 1. Halbjahr 1933. o.A. Die neue Weltbühne. Nachdruck der Originalausgabe Prag/Paris 4/1933–8/1939. München/London/New York/Paris 1992. Redaktionskorrespondenz Dietger Pforte (Hrsg.): Farbige weithin sichtbare Signalzeichen. Der Briefwechsel zwischen Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1932. Akademie der Künste, Berlin 1985, Aus Anlaß der Ausstellung „Deutschland – ? Schweigen u. Vorübergehen“ Kurt Tucholsky in d. Emigration 1929–1935, Akad. d. Künste, 21. Dezember 1985 bis 9. Februar 1986, mit einem Nachwort von Pforte Siegfried Jacobsohn: „der beste Brotherr dem schlechtesten Mitarbeiter“. Briefe an Kurt Tucholsky 1915–1926. Hrsg. von Richard von Soldenhoff. München/Hamburg 1989, ISBN 3-8135-1758-6. Sekundärliteratur Joachim Bergmann: Die Schaubühne – Die Weltbühne 1905–1933, Bibliographie und Register mit Annotationen. Saur, München 1991, ISBN 3-598-10831-1. Istvan Deak: Weimar Germany’s Left-Wing Intellectuals. A Political History of the Weltbühne and its Circle. Berkley, Los Angeles 1968. Alf Enseling: Die Weltbühne, Organ der intellektuellen Linken. Fahle, Münster 1962. Axel Eggebrecht, Dietrich Pinkerneil: Das Drama der Republik. Zum Neudruck der Weltbühne zwei Essays. Athenäum, Königstein 1979, ISBN 3-7610-9302-0. Alexander Gallus: Heimat Weltbühne. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert. Wallstein, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1117-6. Friedhelm Greis, Stefanie Oswalt (Hg.): Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur „Weltbühne“. Lukas, Berlin 2008, ISBN 978-3-86732-026-9 (umfangreiche Website). W. B. van der Grijn Santen: Die Weltbühne und das Judentum, eine Studie über das Verhältnis der Wochenschrift Die Weltbühne zum Judentum, hauptsächlich die Jahre 1918 – 1926 betreffend. Königshausen und Neumann, Würzburg 1994, ISBN 3-88479-953-3. Online lesen bei google-books Heidemarie Hecht: Von der „Schaubühne“ zur „Weltbühne“. Der Entstehungsprozeß einer politischen Zeitschrift. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1991. 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Weblinks Website zu Weltbühne-Lesebuch mit Autorenbiographien, Chronologie und Auswahlbibliographie Zweiwochenschrift Das Blättchen Zweiwochenschrift Ossietzky Der Streit um die Rechte am Namen Weltbühne Otto Köhler zum 100. Geburtstag der „Weltbühne“ im „Freitag“ Die neue Weltbühne im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Marko Rösseler: 07.03.1933 - "Die Weltbühne" erscheint letztmalig WDR ZeitZeichen vom 7. März 2018. (Podcast, verfügbar bis 4. März 2028.) Einzelnachweise Deutschsprachige Wochenzeitschrift Literaturzeitschrift (Deutschland) Kulturzeitschrift (Deutschland) Politische Zeitschrift (Deutschland) Exilzeitschrift Zeitschrift (Berlin) Zeitschrift (DDR) Zeitschrift (Weimarer Republik) Antiquarische Zeitschrift (Deutschland) Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Ersterscheinung 1905 Erscheinen eingestellt 1933
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https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher%20Zollverein
Deutscher Zollverein
Der Deutsche Zollverein war ein Zusammenschluss von deutschen Staaten für den Bereich der Zoll- und Handelspolitik. Der Zollverein trat durch den am 22. März 1833 unterzeichneten Zollvereinigungsvertrag am 1. Januar 1834 in Kraft. Der Zollverein war außerhalb des Deutschen Bundes gegründet worden; er war also kein Teil der Bundesorganisation, sondern ein eigenständiges Bündnis. Im Laufe der Zeit umfasste er fast alle Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes. Ziel des Zollvereins war die Schaffung eines wirtschaftlichen Binnenmarkts und die Vereinheitlichung fiskalisch-ökonomischer Rahmenbedingungen. Politisch stärkte der Deutsche Zollverein die Vormachtstellung Preußens und förderte die Entstehung der sogenannten kleindeutschen Lösung. Der preußisch dominierte Deutsche Zollverein löste den Preußisch-Hessischen Zollverein, den Mitteldeutschen Handelsverein und den Süddeutschen Zollverein ab. Neben Preußen umfasste der Deutsche Zollverein zu Beginn das Großherzogtum Hessen, Kurhessen, Bayern, Württemberg, Sachsen und die thüringischen Einzelstaaten. Bis 1836 traten Baden, Nassau und Frankfurt dem Zollverein bei. 1842 erweiterte sich das Zollgebiet um Luxemburg, Braunschweig und Lippe, 1854 folgten Hannover und Oldenburg. Somit umfasste der Zollverein vor der Gründung des Norddeutschen Bundes als Bundesstaat circa 425.000 km². Nach der Bundesgründung 1867 wurde der Zollverein auf eine neue Grundlage gestellt. Dies geschah durch einen neuen Vertrag, der 1868 in Kraft trat. Die Organe des Norddeutschen Bundes wurden im Wesentlichen zu den Organen des Zollvereines. Der Zollbundesrat bestand aus dem normalen Bundesrat mit Vertretern aus denjenigen Zollvereinsstaaten, die dem Norddeutschen Bund nicht beigetreten waren. Das Zollparlament bestand aus den Mitgliedern des Norddeutschen Reichstags sowie den hinzugewählten Abgeordneten aus den übrigen Staaten (einzige Wahl 1868). Das Gebiet des Zollvereins stellte 1870 nach Großbritannien und den Vereinigten Staaten die drittgrößte Industriemacht der Welt dar. Nach dem Beitritt der süddeutschen Staaten zum Bund 1870/71 bestand der Bundesstaat als Deutsches Reich weiter. Obwohl nicht Teil des Deutschen Reichs, gehörte Luxemburg über die Zollvereinsverträge bis Ende 1918 zum deutschen Zollgebiet. Entstehung Vorgeschichte und Hintergründe Um 1790 gab es in Deutschland 1800 Zollgrenzen. Allein innerhalb der preußischen Staaten gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts über 67 lokale Zolltarife mit ebenso vielen Zollgrenzen. Bei einem Transport von Königsberg nach Köln beispielsweise wurde die Ware etwa achtzigmal kontrolliert. Im Zuge der Modernisierung während und nach der napoleonischen Ära schufen die deutschen Staaten, insbesondere die Rheinbundstaaten, nach 1800 einheitliche zollfreie Binnenmärkte innerhalb ihres Staatsgebiets. In Bayern führte die Zollgesetzgebung zwischen 1799 und 1808 zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums, der zeitweise als der freieste in Europa galt. Das Königreich Württemberg folgte 1810, ein Jahr später entstand auch im Großherzogtum Baden ein einheitlicher Binnenmarkt. Im Vordergrund stand hierbei neben der sozialen und wirtschaftlichen Integration der durch die napoleonischen Reformen erheblich vergrößerten Staatsgebiete weniger eine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik als vor allem eine Steigerung der Staatseinnahmen. Da es noch keine Einkommensteuer gab, waren Verbrauchsteuern und Zölle die Haupteinnahmequellen der Staaten. Diese galt es zu sichern und nach Möglichkeit auszubauen. Vereinzelt gab es bereits zu dieser Zeit Stimmen, die eine Abschaffung von Binnenzöllen und einen gemeinsamen deutschen Außenzoll forderten, so beispielsweise von Joseph Görres oder Freiherr vom Stein. Im Gegensatz zum Auftrag der Bundesakte gelang es dem 1815 gegründeten Deutschen Bund nicht, die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland zu vereinheitlichen. Der das Handelsgebiet betreffende Artikel 19 regelte lediglich, dass über Handels- und Verkehrsfragen später zu beraten sei. Zwar beschäftigte sich der Bundestag auf Initiative Badens 1819 und 1820 mit einer möglichen Zolleinigung, doch endeten die Beratungen ohne Ergebnis. Die Überwindung der innerdeutschen Zölle vollzog sich daher außerhalb der Bundesorgane auf der Ebene der beteiligten Staaten selbst. Die zollpolitische Zersplitterung behinderte die industrielle Entwicklung und verteuerte den innerdeutschen Handel. Wichtige Anstöße zu Veränderungen in diesem Bereich kamen von außen. Mit der Aufhebung der Kontinentalsperre standen deutsche Gewerbetreibende in direkter Konkurrenz mit der englischen Industrie. Ein Allgemeiner Deutscher Handels- und Gewerbeverein verlangte aus nachträglich teilweise übertrieben scheinender Furcht vor der entwickelten englischen Exportindustrie nach zollpolitischem Schutz. Ihr Wortführer, der Nationalökonom Friedrich List, fürchtete, dass die deutsche Volkswirtschaft ansonsten als „Wasserträger und Holzhacker der Briten“ enden würde. Vergleichbar zur Denkschrift von Karl Friedrich Nebenius aus dem Jahr 1819, die den badischen Initiativen beim Deutschen Bund zugrunde lag, forderte List im Namen des Allgemeinen Handelsvereins in einer weit verbreiteten Petition über den Schutzzollgedanken hinaus einen Abbau der innerdeutschen Zollschranken: Dabei verfolgte List nicht nur ökonomische, sondern auch politische Ziele. Für List sollte ein ökonomisch geeinter Nationalstaat mit hohen Zollschranken nach außen und Freihandel nach innen den Deutschen Bund ersetzen. Der Erfolg der Initiative blieb zwar gering, förderte aber liberale Positionen, beeinflusste indirekt staatliche Maßnahmen und insbesondere in Süddeutschland auch die späteren Verhandlungen zu einer Zollunion. Modernisierung der einzelstaatlichen Zollsysteme Wirkungsmächtiger waren allerdings die zollpolitischen Maßnahmen Preußens. Auch in Preußen gab es Anknüpfungspunkte an die Reformen der Rheinbundstaaten. So blieb etwa in den Preußen zugeschlagenen Gebieten des Königreichs Westphalen die Abschaffung der Binnenzölle bestehen. Das Zollgesetz dieses ehemaligen Staates wurde zum Vorbild der preußischen Zollgesetzgebung. Dafür sorgte auch Hans Graf von Bülow, der bis 1811 Finanzminister in Westfalen war und diese Position ab 1813 in Preußen einnahm. Hinzu kam wie auch in Süddeutschland die Notwendigkeit, die neugewonnenen Territorien in das Staatsgebiet zu integrieren. Die südwestdeutschen Staaten und Preußen wurden in der Folge führend bei der Modernisierung der Zollsysteme innerhalb der Staaten des Deutschen Bundes. Wie auch die territorial gewachsenen süddeutschen Mittelstaaten hatte die Regierung Preußens angesichts des zersplitterten Staatsgebiets ein Eigeninteresse an der Abschaffung von Zollgrenzen. Nach dem Wiener Kongress war der Kontrast zwischen den gewerblich entwickelten westlichen preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen auf der einen Seite und den stark agrarisch geprägten ostelbischen Gebieten auf der anderen Seite besonders groß. Diese ungleichen Regionen galt es politisch und administrativ zusammenzufassen. Ein Aspekt dabei war die Zollpolitik. In Preußen selbst waren mit dem Zollgesetz von 1818 alle innerstaatlichen Handelsschranken gefallen. Nach außen hin wurde ein nur mäßiger Schutzzoll erhoben. Für den Durchgangsverkehr wurden allerdings hohe Zölle fällig. Damit konnten sowohl die am Freihandel interessierten Großgrundbesitzer wie auch die von der ausländischen Konkurrenz bedrohte gewerbliche Wirtschaft leben. Das preußische Zollgesetz war darüber hinaus einfach, effizient und wurde anders als in früheren Zeiten von der Verwaltung konsequent angewandt. Es gab seit 1818 nur noch Einfuhr-, Ausfuhr- und Transitzölle, die, anders als bisher, ohne Rücksicht auf Herkunfts- oder Bestimmungsland erhoben wurden. Von Zöllen ausgenommen waren Grundnahrungsmittel und Rohmaterialien. Gewerbliche Güter wurden mäßig besteuert. Eine Ausnahme bildeten recht hohe Abgaben auf Textilien. Am wichtigsten waren die Einnahmen für gehobene Lebensmittel, Genussmittel und Luxusgüter. Das preußische Zollsystem wurde daher für etwa ein halbes Jahrhundert mehr oder weniger zum Vorbild für das Zollsystem in den deutschen Ländern. Trotz einiger Veränderungen und Aufweichungen im Detail blieben die Grundprinzipien bis in die Zeit des Kaiserreichs konstant. Noch 1871 stammten drei Viertel der Einnahmen aus Zoll auf Getränke (Bier, Wein, Spirituosen usw.), Nahrungs- und Genussmittel (Kaffee und einige Kolonialwaren) sowie Tabakprodukte. Insgesamt lagen die Zölle in Preußen 1818 zwar höher als die der kleineren deutschen Staaten, aber deutlich niedriger als in Österreich, Frankreich oder Russland. Vor allem für die kleineren Nachbarstaaten, die teilweise oder ganz von preußischem Staatsgebiet umschlossen waren, führten insbesondere die Durchgangszölle zu einem Druck, sich dem preußischen System anzuschließen. Als erstes schloss sich das Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen dem preußischen Zollgebiet an. Andere Kleinstaaten folgten. Die übrigen Staaten protestierten sofort gegen die Behinderung ihrer Wirtschaft. Sie kritisierten die Politik Preußens als partikularistische Aktion gegen die kleineren Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes. In den Mittelstaaten, insbesondere jenseits der Mainlinie und in Norddeutschland, führte die preußische Politik zunächst zu Bestrebungen, gegen die preußische Politik defensive regionale Zollbündnisse zu etablieren. Gründung und Vereinigung mehrerer Zollverbünde Bereits 1820 plante Württemberg die Gründung eines Zollverbundes des Dritten Deutschland, also der mittelgroßen Staaten des Deutschen Bundes ohne Österreich und Preußen. Allerdings scheiterte das Vorhaben an den unterschiedlichen Interessen der angesprochenen Länder. Während das wirtschaftlich relativ hoch entwickelte Baden mit seinen langen Außengrenzen und guter Infrastruktur für Freihandel eintrat, verlangte die bayerische Regierung einen Schutzzoll. Einziges Resultat der Verhandlungen war ein kurzlebiger Handelsvertrag zwischen Baden und Hessen-Darmstadt. Allerdings kam es in einer zweiten Verhandlungsrunde 1825 in Stuttgart zu einer Einigung zwischen Württemberg und Bayern und der Gründung des Süddeutschen Zollvereins. Als Gegengründung zu den preußischen Aktivitäten entstand außerdem 1828 aus Hannover, Sachsen, Kurhessen und weiteren Staaten ein von Österreich, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden geförderter Mitteldeutscher Handelsverein. Die Staaten verpflichteten sich, nicht dem preußischen Verbund beizutreten, bildeten selbst aber keine Zollunion. Der Verein blieb letztlich erfolglos, weil es ihm nur um eine Wahrung des Status quo ging. Beeinflusst vor allem durch Finanzminister Friedrich von Motz sowie dessen Nachfolger Karl Georg Maaßen versuchte die preußische Regierung durch Druck oder durch finanziell lukrative Angebote bisher nicht gebundene Staaten, aber auch Mitglieder der konkurrierenden Zollverbünde zum Anschluss an das preußische System zu bewegen. Der erste größere Staat, der sich dem preußischen Zollgebiet anschloss, war 1828 das Großherzogtum Hessen. Bereits 1829 begann der Mitteldeutsche Handelsverein auseinanderzubrechen, als Kurhessen ihn verließ. Aus finanziellen Gründen ließ auch im Süden und Westen Deutschlands der Widerstand gegen eine Annäherung an das preußische System nach. Der Süddeutsche Zollverein hatte in finanzieller Hinsicht nicht die Erwartungen seiner Gründer erfüllen können. Über 40 % der Einnahmen wurden von Verwaltungskosten aufgezehrt. Während im preußisch-hessischen Zollgebiet die Einnahmen pro Kopf der Bevölkerung bei 24 Groschen lagen, betrugen sie in Bayern und Württemberg nur 9½ Groschen. Daher kam es ebenfalls im Jahr 1829, nicht zuletzt vermittelt durch den Verleger Johann Friedrich Cotta, zu einem Vertrag zwischen dem preußischen und süddeutschen Zollverbund. Dieser sah die gegenseitige Zollfreiheit für inländische Produkte vor. Der Druck auf die Regierungen wuchs zusätzlich, als im Gefolge der Revolutionsereignisse von 1830 zollpolitische Forderungen erhoben wurden. Das Königreich Hannover versuchte mit dem Ziel, eine zollpolitische preußische Vormachtstellung doch noch zu verhindern, den Deutschen Bund einzuschalten. Als dies misslang, begann Hannover mit der Gründung des Steuervereins einen eigenen Zollverbund aufzubauen. Innerhalb dieser umfangreichen Verhandlungen zwischen den Staaten des Deutschen Bundes gelang es der preußischen Regierung, die meisten übrigen deutschen Staaten für das Projekt eines großen Zollvereins zu gewinnen. Während noch weit gediehene Verhandlungen mit anderen Staaten wie Baden liefen, schlossen sich mit Vertrag vom 22. März 1833 der preußische und süddeutsche Zollverbund offiziell zusammen. Sachsen und die thüringischen Staaten schlossen sich noch im selben Jahr an. Am 1. Januar 1834 trat dann der vorerst auf eine Dauer von acht Jahren angelegte Deutsche Zollverein in Kraft. In den folgenden Jahren folgten Baden, Nassau, Oldenburg, die Freie Stadt Frankfurt und Luxemburg. Hannover und Braunschweig als Mitglieder des Steuervereins folgten nach der Auflösung dieser Konkurrenzorganisation in den 1850er Jahren. Dadurch entstand eine mitteleuropäische Freihandelszone von zunächst 25 (im Jahr 1842), später 30 Millionen Einwohnern. Die Tabelle und Darstellung ist ein vereinfachter Überblick. Zu den Details der Territorialentwicklung siehe Gebiet des Deutschen Zollvereins Von den Staaten des Deutschen Bundes blieben außerhalb des Zollvereins Österreich, Liechtenstein, Holstein, Mecklenburg-Strelitz, Mecklenburg-Schwerin. Die beiden Mecklenburgs waren nach der Reichsgründung als Deutsches Zollgebiet mittelbar am Zollverein beteiligt. Die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck traten 1888 dem Zollverein bei, errichteten aber Freihäfen, die sich außerhalb des deutschen Zollgebiets befanden. Zu diesen Staaten kamen nach dem Krieg von 1866 die preußische Provinz Schleswig-Holstein und nach 1871 das Reichsland Elsaß-Lothringen als unselbstständige Gebiete hinzu. Aufbau und Funktionsweise Um den Souveränitätsanspruch der kleineren Staaten zu schonen, wurde bei den Verhandlungen über die Strukturen des Vereins versucht, das Prinzip der Gleichberechtigung zu wahren. Oberstes Organ wurde die Zollvereinskonferenz, für deren Entscheidungen Einstimmigkeit vorgeschrieben wurde und in der die einzelnen Staaten ein Vetorecht hatten. Die Konferenz tagte einmal jährlich über mehrere Monate bis hin zu einem halben Jahr. Der Tagungsort wechselte zwischen den Mitgliedsstaaten. Die von den Regierungen ernannten Delegierten waren dabei weisungsgebunden. Jeder Staat hatte im Prinzip eine Stimme. Einige kleinere Staaten wie etwa die Freie Stadt Frankfurt oder die thüringischen Staaten waren nicht selbst vertreten, sondern delegierten ihre Stimme. Die Kleinstaaten in Thüringen gründeten zur Wahrnehmung ihrer Interessen den Zoll- und Handelsverein der Thüringischen Staaten. Der Zollvereinsvertrag wurde zunächst auf acht Jahre abgeschlossen und verlängerte sich automatisch, wenn er nicht von einem der Mitglieder gekündigt wurde. Eine einheitliche Zollverwaltung bestand nicht, die Ausführung der Beschlüsse blieb Sache der Behörden in den Mitgliedsländern. Als einzige zentrale Institution gab es das Zentral-Rechnungsbüro in Berlin, das für die nach Kopfzahl der Bevölkerung anteilige Verteilung der Einnahmen sowie für die Erstellung der Zollvereinsstatistik zuständig war. Für die gemeinsame Zollgesetzgebung waren die Beschlüsse der Generalkonferenz bindend und benötigten keine weitere Ratifizierung durch die Einzelstaaten. Während es gelang, die Zollfragen im engeren Sinn einheitlich zu regeln, gelang dies in Fragen der Angleichung der Verbrauchssteuern, der staatlichen Monopole sowie der Standardisierung von Maßen, Gewichten und Münzen nur teilweise. Bei den Verbrauchssteuern schlossen sich nur einige Staaten dem preußischen System an, z. B. Sachsen und die thüringischen Länder. Die Folge waren große Unterschiede, die auf der Ebene des Zollvereins zu Verwaltungsproblemen führten. Einen gewissen Ausgleich boten dabei Kompensationszahlungen, später wurde ein einheitlicher Transitzoll erhoben. Wo es noch Salz- und Spielkartenmonopole gab, kam es zu einem Importverbot. Die Folge war, dass etwa der Salzschmuggel zu einem dauernden Problem des Zollvereins wurde. Dies bedeutete, dass zumindest partiell der freie Binnenmarkt nicht vollständig ausgebildet war und es weiterhin noch Zollkontrollstellen innerhalb des Zollvereinsgebietes geben musste. In der Frage der Gewichte sah das Zollvereinsabkommen vor, dass die Mitgliedsstaaten sich für die bayerischen oder preußischen Gewichte als Standard entscheiden sollten. Von erheblicher Bedeutung waren Handelsabkommen mit ausländischen Staaten. Zwar hatten sich Bayern und Württemberg grundsätzlich das Recht vorbehalten, eigene Handelsabkommen zu schließen, nutzten dieses Recht aber nur selten. In der Regel wurden auf der jährlichen Zollvereinskonferenz die Grundlinien eines Abkommens beschlossen, die konkreten Verhandlungen dann aber Preußen überlassen, das teilweise weitere Regierungen beteiligte. Diese Regelung gab Preußen zwar ein starkes Gewicht, aber da die Beschlüsse auch noch von den Einzelstaaten ratifiziert werden mussten, konnte dies zu erheblichen Konflikten führen. Über die Rechtsnatur des Zollvereins gab es von Anfang an unterschiedliche Meinungen. So vertraten Georg Jellinek, Gerhard Anschütz und andere Staatsrechtler verschiedene Standpunkte, die von einem bloßen völkerrechtlichen Vertrag bis hin zu einer Staatenverbindung in Gestalt eines Staatenbundes reichten. Einigkeit bestand lediglich darin, dass die Mitgliedstaaten des Zollvereins weiterhin souveräne Staaten waren und der Zollverein somit keine Staatenverbindung in Form eines Bundesstaates darstellte. Er war aber aufgrund seiner Organe und seiner im Völkerrechtsverkehr anerkannten Völkerrechtssubjektivität mehr als ein bloßes Vertragsverhältnis der Einzelstaaten untereinander, andererseits aber angesichts seiner ausschließlich wirtschaftlichen Aufgaben ermangels Erfüllung wesentlicher Aufgaben des Staatslebens auch kein Staatenbund. Der Zollverein – mehr als ein schlichter Vertrag, weniger als ein Staatenbund – liegt damit in einem Bereich, der von den damaligen Kategorien nicht erfasst wurde und der heute von den Internationalen Organisationen abgedeckt wird. Zwar gehört der Zollverein neben der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt zu den ersten Vorläufern der Internationalen Organisationen, doch wäre die Einordnung als Internationale Organisation anachronistisch, weshalb dem Zollverein die Bezeichnung als quasi-Staatenbund oder loser Staatenbund wohl am ehesten gerecht wird. Konflikte und Interessengegensätze Die Veränderungen der Zölle und anderer Regelungen im Gebiet des Zollvereins selbst verliefen angesichts unterschiedlicher Interessen keineswegs harmonisch. Erschwert wurde die Lösung nicht zuletzt durch das Vetorecht der Mitglieder. Die Konflikte hatten über Sachfragen hinaus nicht selten auch eine machtpolitische Dimension. Bereits die erste vertraglich anstehende Verlängerung 1842 wäre beinahe gescheitert. Erst nach langwierigen Verhandlungen konnte der Vertrag auf weitere zwölf Jahre verlängert werden. Zehn Jahre später führte Preußen geheime Verhandlungen mit dem Königreich Hannover mit dem Ziel, den norddeutschen Steuerverein in den Zollverein zu integrieren. Dies hätte allerdings Veränderungen des Zollvereinsabkommens nötig gemacht. Durch den Einfluss Österreichs verweigerten die süddeutschen Staaten ihre Zustimmung. Stattdessen versuchte die österreichische Regierung, den Zollverein durch die Idee eines mitteleuropäischen Zollverbundes auseinanderzubrechen. Erst als Preußen seinerseits den Zollvertrag kündigte, konnte eine Einigung erzielt werden. Dasselbe wiederholte sich, als Preußen kurze Zeit später einen Handelsvertrag mit Österreich ausgehandelt hatte und die Mittelstaaten sich dem widersetzen. Erneut setzte die preußische Regierung Veränderungen im Zollvertrag mit Hilfe einer Vertragskündigung durch. Eine ähnliche Konstellation gab es zehn Jahre später, als Preußen mit Frankreich, angelehnt an den Cobden-Vertrag, 1862 ein neues Handelsabkommen aushandelte. Dieses lief im Kern auf das Prinzip des Freihandels hinaus. Die Folge war aber, dass die Zolltarife in 161 Punkten gesenkt werden mussten. Obwohl die süddeutschen Staaten an den Verhandlungen beteiligt worden waren, weigerten sie sich, unterstützt von Österreich, die Verträge zu ratifizieren. Es dauerte drei Jahre, bis diese Vereinbarungen in Kraft treten konnten. Dies gelang auch nur, weil der gerade in Preußen an die Macht gekommene Ministerpräsident Otto von Bismarck mit der Nichtverlängerung des Zollvereins drohte. Bei allen Konflikten ist die grundsätzliche Stabilität bemerkenswert. Selbst als einige Mitgliedsstaaten im Deutschen Krieg 1866 auf gegnerischen Seiten standen, erhoben Bayern, Württemberg und Hannover weiterhin die Zölle und sandten diese vertragsgemäß nach Berlin. Die preußische Regierung verteilte sie dann ebenso routinemäßig anteilig an die Einzelstaaten. Ein Grund für die Stabilität waren die für alle Beteiligten bestehenden insbesondere finanziellen Vorteile. Bedeutung Wirtschaftliche Entwicklungen Industrialisierung und Zollverein Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Zollvereinigung wurden sowohl von den Zeitgenossen, als auch in der Folge überwiegend positiv wahrgenommen. Lange Zeit war daraufhin auch in der Forschung die These verbreitet, dass Industrieförderung der wesentliche Antrieb zur Gründung des Zollvereins gewesen sei. Zu dieser Meinung haben nicht zuletzt auch die Schriften von Friedrich List beigetragen. In Großbritannien sahen führende Politiker wie Palmerston durch die Zollvereinsmaßnahmen die gewerbliche Vormachtstellung ihres Landes in Gefahr. Für diese These sprach scheinbar, dass sowohl die Landwirtschaft, wie auch die gewerbliche Wirtschaft und insbesondere die Industrie in den 1830er Jahren ein starkes Wachstum aufwiesen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass der Zollverein nur eine Facette der Veränderungen in der deutschen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert darstellte. Zwar erleichterte der Zollverein die industrielle Entwicklung, es gingen aber kaum direkt wirksame Wachstumsimpulse in diesem Bereich von ihm aus. So konnte in neueren Forschungen gezeigt werden, dass von den neuen Zöllen keine unmittelbaren Veränderungen der Handelsströme oder der Import- und Exportpreise ausgingen. Im Bereich der Landwirtschaft war nicht der Zollverein der Grund für den Aufschwung, sondern verschiedene seit langem eingeleitete Strukturveränderungen. Wirtschaftsstrukturelle Bedeutung des Zollvereins Dennoch war der Zollverein auf mittlere Sicht von erheblicher Bedeutung für die industrielle Entwicklung. Zum einen bildeten die Zollvereinseinnahmen in einigen Staaten überhaupt erst die Basis, mit der Maßnahmen zur Modernisierung von Gesellschaft, Infrastruktur und Gewerbe bezahlt werden konnten. So finanzierte Württemberg in den 1830er Jahren die Agrarreformen und Gewerbeförderungsmaßnahmen vor allem aus den nun reichlicher fließenden Zolleinnahmen. Die Zolleinigung beseitigte mit der Zersplitterung des deutschen Wirtschaftsraums eine Ursache für den ökonomischen Rückstand insbesondere gegenüber England und schuf erstmals stabile handelspolitische Verhältnisse. Dazu trug nicht zuletzt die allmähliche Übernahme des preußischen Handelsgesetzbuches durch die übrigen Mitgliedsstaaten bei, nachdem die Frankfurter Nationalversammlung es nicht mehr geschafft hatte, ein gesamtdeutsches Gesetzbuch zu verabschieden. 1861 wurde die Rechtsangleichung durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch abgeschlossen. Der Handelsvertrag von 1862 auf der Basis der Meistbegünstigungsklausel führte dazu, dass auch kleinere deutsche Staaten erstmals vertraglich garantierte Handelsbeziehungen mit den europäischen, aber auch außereuropäischen Staaten wie den USA oder Japan aufnehmen konnten. Allerdings war dieser Schritt nicht unumstritten. Vielmehr gab es von Anfang an Konflikte zwischen Befürwortern des Freihandels wie Preußen und den süddeutschen Staaten, die insbesondere für ihre Textilprodukte Schutzzölle forderten. In der Praxis verfolgte der Zollverein eine differenzierte Politik. Neben Bereichen, in denen der freie Handel vorherrschte, gab es andere, in denen die Zölle eine protektionistische Rolle spielten. Dazu gehörte die Herstellung von Rübenzucker, Baumwollprodukten und Eisenwaren. Wichtig war der Zollverein zudem durch die Schaffung neuer Erwartungshorizonte. Er verstärkte die Investitionsbereitschaft der Unternehmer und intensivierte die Verflechtung der Wirtschaftsregionen zu einem nationalen Markt. So stammten bereits 1837 rund 87 % der süddeutschen Importe an gewerblichen Fertig- und Halbfertigwaren aus Preußen und Sachsen. Bereits vor der Gründung des Zollvereins führte die Konkurrenz der verschiedenen Zollvereinigungen und der Staaten untereinander zu höheren Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Dies gilt seit den 1830er Jahren vor allem für den Eisenbahnbau, wo sich die Zollpolitik auf das Tempo des Ausbaus und die Streckenführung auswirkte. Neben der Bahn wurden auch Fernstraßen und das Binnenschifffahrtsnetz ausgebaut. Mit dem durch die Zollfreiheit auf mittlere Sicht ansteigenden Handelsvolumen wurde auch der weitere Ausbau der Eisenbahn nötig. Nach der Eröffnung der ersten deutschen Bahnstrecke 1835 mit einer Länge von sechs Kilometern wuchs das Streckennetz bis 1865 auf 14.690 Kilometer an. Dies wiederum hatte positive Folgen auf Bergbau, Eisenindustrie und Maschinenbau. Insgesamt sanken die Transportkosten erheblich. Der Verkehrsausbau vergrößerte die Sicherheit insbesondere für den Absatz von gewerblichen Massenprodukten und begrenzte wiederum das Investitionsrisiko gerade in den modernen Großbetrieben, verbesserte die Investitionsanreize und trug damit zum Ausbau der modernen Industrie bei. Grundsätzlich waren Zollverein und Eisenbahnbau zwei komplementäre Prozesse, die Friedrich List bereits in den 1830er Jahren als „siamesische Zwillinge“ der Modernisierung in Deutschland gedeutet hatte. Der Anstieg des wirtschaftlichen Gesamtwachstums überdeckte auch regionale Unterschiede, so dass trotz der insbesondere in den süddeutschen ländlichen Regionen vereinzelt auftretenden Ängste einer „Innenkolonisierung“ alle Teilnehmer des Zollvereins, unabhängig von ihrem ökonomischen Entwicklungsstand, an diesem Wachstum partizipierten. Auch die Zolltarifpolitik des Vereins hatte zumindest in den 1840er Jahren eine fördernde Wirkung auf die industrielle Entwicklung. Die moderaten Zölle auf Eisen und Garne schlossen einerseits notwendige Technologietransfers und den Import notwendiger Halb- und Fertigwaren aus Großbritannien nicht aus. Andererseits führten sie dazu, dass sich die Nachfrage zumindest in diesen wichtigen Gewerbebereichen auf Anbieter innerhalb des Vereinsgebiets richtete. Dies alles hatte erhebliche positive Wirkung auf den Außenhandel des Zollgebiets. Bereits in den 1820er Jahren war der Export der deutschen Volkswirtschaften angestiegen. Im Zollverein verstärkte sich dieser Trend nochmals. Auch die Nettoüberschüsse des deutschen Außenhandels stiegen in den 1830er Jahren an, bevor in den 1840ern der Modernisierungsschub im Rahmen der industriellen Revolution in Deutschland die Einfuhr modernerer Güter aus industrialisierteren Ländern und damit die Importwerte stark ansteigen ließ. Vereinheitlichung von Gewichten und Währungen Da die Erhebung der Zölle im Zollverein auf gemeinschaftliche Rechnung erfolgte, wurde eine Angleichung der Gewichte zur Erhebung gleichmäßiger Abgaben nötig. Noch vor Inkrafttreten des Zollvereins einigten sich einige Staaten 1833 auf ein einheitliches Zollgewicht. Als Einheit wurde das Zollpfund zu 500 Gramm eingeführt. Eine Annäherung an das metrische System bedeutete die Definition des Zentners gemäß hessisch-badischem Maß als 50 Kilogramm. Zunächst galt das Zollgewicht nur im Verkehr der Staaten miteinander, erst ab 1858 begannen einige Staaten es auch als Handelsgewicht im Inneren einzuführen. Dem folgten im Laufe der Zeit die übrigen Staaten. Nur Bayern hielt bis 1871 am Pfund zu 560 Gramm fest. Da die Maße für die Zollberechnung kaum eine Rolle spielten, blieb deren Vielfalt bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes groß. Vereinbart war, dass die Vertragsstaaten dahin wirken, dass „in ihren Ländern ein gleiches Münz-,Maß- und Gewichtssystem in Anwendung komme, hier über sofort besondere Verhandlungen einleiten zu lassen“ (Artikel 14). Für die Vereinheitlichung des Münzsystems musste vor allem das im süddeutschen Raum vorherrschende Guldensystem und das nördlich des Mains vorherrschende Talersystem miteinander harmonisiert werden. Die Hansestädte Hamburg und Lübeck rechneten und prägten zudem in einer Schillingewährung mit der Kölnischen Mark (ca. 234 Gramm) als Münzgrundgewicht. Bremen rechnete als einziger der deutschen Staaten schon in einer Goldwährung. Die Harmonisierung des norddeutschen Taler- mit dem süddeutschen Guldensystem wurde dadurch erschwert, dass innerhalb dieser Gebiete sowohl der Taler als auch die Gulden in einem unterschiedlichen Münzfuß geprägt wurden und sich somit im Wert unterschieden. Nachdem Preußen durch die Graumansche Münzreform im Jahr 1750 bereits ein einheitliches Kurantmünzensystem auf Basis des 14-Talerfußes geschaffen hatte, wurde 1821 auch das Kleinmünzensystem für alle preußischen Provinzen vereinheitlicht (Preußische Münzgeschichte). Der Taler wurde nun in 30 Silbergroschen zu je 12 Pfennigen unterteilt. In der Folgezeit stellten viele norddeutsche Staaten auf den 14-Talerfuß und 30 Silbergroschen um. Auch das Königreich Sachsen übernahm schließlich den 14-Talerfuß für die Kurantmünzen, nutzte jedoch andere Kleinmünzen. Dem Zollverein gelang über die Münzverträge insgesamt – über seine Vertragsstaaten hinaus – eine teilweise Vereinheitlichung der Währungen im Talergebiet. Im Münchner Münzvertrag von 25. August 1837 wurden ein einheitlicher 24½-Guldenfuß für die Kurantmünzen sowie weitgehend einheitliche Scheidemünzen in Bayern, Württemberg, Baden, Nassau, Schwarzburg-Rudolstadt und anderen Ländern geschaffen. Der Dresdner Münzvertrag vom 30. Juli 1838 fasste die süddeutsche Guldenwährung im 24½-Guldenfuß mit dem preußischen Taler im 14-Talerfuß zusammen. Es entstand eine in allen Staaten gültige „Vereinsmünze“ zu 2 Talern = 3½ Gulden. Diese wurde bis 1. Januar 1841 in allen Vertragsstaaten eingeführt. Im Wiener Münzvertrag vom 24. Januar 1857 wurde der vormalige 14-Talerfuß auf Gewichtsmarkbasis in einen 30-Talerfuß auf Zollpfundbasis geändert. Das Feinsilbergewicht des Talers verminderte sich dadurch von theoretischen 16,704 auf 16,667 Gramm und war somit kaum wahrnehmbar. Die einfachen (und doppelten) Taler wurden jetzt Vereinstaler genannt und waren bis 1907 in Deutschland als Drei-Mark-Stücke gültig. Der Vereinstaler wurde Hauptvereinsmünze und auch von den süddeutschen Guldenländern geprägt. Fast ganz Deutschland und Österreich prägten ab 1857 eine einheitliche, große Kurantmünze: 2 Taler (norddeutsch) = 3½ Gulden (süddeutsch) = 3 Gulden (österreichisch) sowie die Einfachtalermünzen. Luxemburg und Liechtenstein waren an dieser Währungsunion zeitweise beteiligt. Hinzu kam die Einführung einer goldenen Vereinshalb- und -kronenmünze. Das Währungsabkommen mit Österreich brach aber wieder zusammen, da es in Österreich durch die Ausgabe von Papiergeld zu einer starken Inflation kam. Insgesamt entstand eine Art Taler-und-Gulden-Währungsblock auf der Basis eines Silberstandards. Dagegen gelang es nicht, die Ausgabe von Banknoten zu zentralisieren. Diese blieb Sache der Einzelstaaten. In Preußen etwa war dafür die halbstaatliche Preußische Bank zuständig. In der Praxis dominierten die preußischen Banknoten. Gegen die Herausgabe nichtkonvertibler Noten hatte der Verein zudem ein Verbot erlassen. Richard H. Tilly argumentiert, dass der Zollverein bei allen Grenzen die monetäre Integration der deutschen Staaten deutlich beschleunigt habe. Fiskalische Folgen Die fiskalischen Folgen des Zollvereins waren ebenfalls grundsätzlich positiv. Dabei entfiel ein Großteil der Einnahmen auf die Abgaben für Kolonialwaren. Diese machten 1835 allein 55 % aller Zollgebühren aus. Das Zolleinkommen stieg von 14,5 Millionen Talern im Jahr 1834 auf 27 Millionen Taler 1844 und übertraf damit den Bevölkerungszuwachs in dieser Zeit erheblich. Die Ergebnisse der einzelnen Mitgliedstaaten waren allerdings unterschiedlich. Preußen war zunächst ein Verlierer des Zollsystems. Mit Beginn des Zollvereins sanken die preußischen Steuereinnahmen um 25 %. Danach stiegen sie langsam wieder an und erreichten 1838 ihren alten Stand. Die meisten anderen Länder profitierten dagegen von Anfang an. So konnte Bayern seine Einnahmen bereits im ersten Jahr fast verdoppeln. In den ersten zehn Jahren der Mitgliedschaft erhielt das Königreich insgesamt Zuweisungen nach Abzug der Kosten von 22 Millionen Gulden. Selbst die thüringischen Kleinstaaten erzielten in diesem Zeitraum einen Überschuss von insgesamt vier Millionen Gulden. Auch später verzichtete Preußen zu Gunsten der übrigen Mitgliedsländer regelmäßig auf Einnahmen, die ihm nach der Zahl seiner Bewohner eigentlich zugestanden hätten. Es waren in erster Linie diese finanziellen Zugeständnisse, die dazu führten, dass auch die politische Macht Preußens anstieg. Politische Aspekte des Zollvereins Die Modernisierung der Zollpolitik zunächst auf einzelstaatlicher Ebene, dann in den regionalen Zollvereinigungen und schließlich im Deutschen Zollverein hatte immer auch politische Motive. Die nach der Gründung des Deutschen Reichs immer wieder, insbesondere von der borussischen Historiografie um Heinrich von Treitschke, betonte Funktion des Vereins als Motor der deutschen Einheit war kein hauptsächlicher Beweggrund der preußischen Führung oder der Regierungen in den übrigen Einzelstaaten. Die Chance, den Zollverein als Weg zu einem deutschen Nationalstaat zu nutzen, wurde stattdessen von der nationalliberalen Opposition in den Staaten des deutschen Bundes gesehen und propagiert. So stellte Hoffmann von Fallersleben bereits 1840 die ökonomischen Auswirkungen des Zollvereins in einen ironischen Kontrast zum Deutschen Bund in seinem Lied „Der Deutsche Zollverein“: Heinrich Heine gab 1843 in Deutschland. Ein Wintermärchen höhnisch die Ansicht eines Mitreisenden beim Grenzübertritt von Frankreich nach Preußen wieder: David Hansemann stellte 1845 vor dem Provinziallandtag der Rheinprovinz den Antrag, bei den Kongressen des Zollvereins eine Nationalrepräsentation zu schaffen. Auch die Heppenheimer Tagung beschloss auf Anraten Hansemanns und Mathys 1847 ein politisches Programm, das den Zollverein zur Vereinheitlichung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse nutzen und durch die Schaffung eines Zollparlaments und einer Zollexekutive unter Umgehung des Deutschen Bundes eine einheitliche Regierung auf konstitutioneller Grundlage für Deutschland schaffen wollte. Eine Verfolgung dieser Pläne war allerdings durch die Revolution von 1848/49 und die Einberufung der Frankfurter Nationalversammlung nicht möglich. Vielen Zeitgenossen, darunter insbesondere dem wesentlichen Förderer des Zollvereinsgedankens in der preußischen Regierung, Finanzminister Motz, war die politische Dimension der Zollunion allerdings von Anfang an bewusst. Motz sah den geplanten Zollverein bereits 1829 als Werkzeug zur Durchsetzung eines kleindeutschen Nationalstaats unter preußischer Führung. Er schrieb „…wenn es staatswissenschaftliche Wahrheit ist, dass Zölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muss die Wahrheit auch sein, dass Einigung dieser Staaten zu einem Zoll- und Handelsverband zugleich auch Einigung zu ein und demselben politischen System mit sich führt.“ Auch der österreichische Außenminister Metternich erkannte früh die Gefahr für die österreichische Monarchie und sah den Zollverein als „kleine[n] Nebenbund, […] welcher nur zu bald sich daran gewöhnen wird, seine Zwecke mit seinen Mitteln in erster Linie zu verfolgen.“ Durch diese Bedrohung des Status quo im Deutschen Bund und der Rolle Österreichs im deutschen Machtgefüge hielt er ihn bereits 1833 für eine „höchst nachteilige unheildrohende Erscheinung“ und versuchte, die Gefahr durch einen österreichischen Beitritt in den Zollverein abzuwenden. Metternich war allerdings trotz der Unterstützung des Handelsministers und österreichischer Industrieller nicht in der Lage, das im hochprotektionistischen Österreich vorhandene Misstrauen gegen Freihandel und liberale Wirtschaftsansätze zu überwinden, obwohl weitere Zeitgenossen einen politischen Machtzuwachs Preußens infolge der Zollvereinsgründung erwarteten. Insgesamt greift aber eine ausschließliche Interpretation des Zollvereins als preußisches Vehikel zur Erringung der Vormachtstellung in Deutschland zu kurz. Vielmehr bildeten für die meisten Staaten wirtschafts- und fiskalpolitische Gründe die Triebfeder für den Beitritt. Den kleineren, meist hoch verschuldeten Staaten eröffneten die Einkünfte des Zollvereins politische Spielräume. Dies galt umso mehr, als der Zollverein half, die Verwaltungskosten zu senken und gleichzeitig Einnahmen generierte, über deren Verwendung die Exekutive keine Rechenschaft ablegen musste. Damit reduzierte der Zollverein den Einfluss der in einigen Staaten vorhandenen Kammerparlamente, die, wie beispielsweise die badische Zweite Kammer oder die bayerische Abgeordnetenkammer, Kontrollrechte für den Bereich der Steuerpolitik, nicht aber bezüglich der Zolleinnahmen besaßen. In anderen Staaten war der Zollverein gar mit ein Grund, dass der Weg der Konstitutionalisierung von den Fürsten nicht beschritten werden musste, so etwa in Preußen, wo aufgrund der finanziellen Unabhängigkeit der Regierung das Verfassungsversprechen des Staatsschuldengesetzes von 1820 bis zur Einberufung des Vereinigten Landtages 1847 nicht erfüllt werden musste. Auf mittlere Sicht kompensierte der Zollverein im Bewusstsein der Zeitgenossen in einem gewissen Umfang die fehlende nationale Einheit und wirkte gewollt oder ungewollt als Werkzeug der nationalen Integration. Dabei erschienen die liberalen Wirtschaftsinteressen weitgehend deckungsgleich mit denen des preußischen Obrigkeitsstaates. Allerdings gab es durchaus auch Ansätze, die wie Friedrich List eine Zollpolitik im großdeutschen Sinn vertraten oder wie Georg Waitz in der Frankfurter Nationalversammlung in einer auch Österreich umfassenden Zolleinigung die Grundlage für eine dominierende Stellung in Europa sahen. In der liberalen Öffentlichkeit wurde der Zollverein nach anfänglicher Skepsis vor allem in Südwestdeutschland, die insbesondere auf der Ablehnung der preußischen Vormachtstellung beruhte, überwiegend positiv bewertet. Während der Deutsche Bund vielfach als Organisation der Restauration und Repression betrachtet wurde, galt der Zollverein als dynamisches und konstruktives Element im gesellschaftlichen Wandel. Die oben erwähnten Forderungen der Heppenheimer Tagung sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Als sich in den 1850er Jahren der Steuerverein an den Zollverein anschloss und es zum Abschluss eines Handelsvertrages mit der österreichischen Monarchie kam, schien zeitweise wirtschafts-, aber auch allgemeinpolitisch noch einmal die großdeutsche Lösung eine realistische Option zu sein. Diese Möglichkeit endete 1864, als Preußen durch seine Kündigung des Vertrags auf einen freihändlerischen Kurs drängte. Die Neuverhandlung des Vertrages, bei der die preußische Regierung den Zollverein indirekt auch als Instrument in der Auseinandersetzung um die Hegemonie in Deutschland einsetzte, hatte zur Folge, dass Österreich 1865 zollpolitisch zum Ausland wurde. Der Zollverein in der Zeit der Nationalstaatsgründung Die Gründung des Norddeutschen Bundes hatte erhebliche Folgen für den Zollverein. Durch die Verfassung des Bundes hörten die bisherigen norddeutschen Staaten auf, Einzelmitglieder des Zollvereins zu sein. Dies machte eine völlige Neuordnung nötig. Die Grundlagen dafür wurden auf einer Zollvereinskonferenz im Juni 1867 gelegt. Abgeschlossen wurde der neue Vertrag am 8. Juli 1867 und trat am 1. Januar 1868 in Kraft. Dieser nahm auf der Ebene der Zoll- und Handelspolitik einen einheitlichen Bundesstaat vorweg. Der neue Zollverein verfügte erstmals über föderale Institutionen, die später auch das Kaiserreich besaß. Es gab einen Zoll-Bundesrat und ein Zollparlament als Legislative. Die von diesen Organen getroffenen Mehrheitsbeschlüsse waren für alle Mitgliedsstaaten bindend, ein Veto gab es nicht mehr. Ausführendes Organ war das Zollpräsidium. Dieses lag beim preußischen König. Es bereitete Handelsverträge vor und überwachte die Einhaltung der Beschlüsse. Wie eng der Zollverein dem Norddeutschen Bund verbunden war, zeigt die Struktur seiner Organe. Der Zollbundesrat als Vertretung der Mitgliedsstaaten war nichts anderes als der Bundesrat des norddeutschen Bundes, ergänzt um Vertreter der süddeutschen Staaten. Für das Zollparlament galt wie für das Parlament des Norddeutschen Bundes das allgemeine, gleiche und direkte Männerwahlrecht. Das erste Parlament wurde gebildet, indem zu den Abgeordneten des Reichstages des Norddeutschen Bundes die Vertreter aus Süddeutschland hinzugewählt wurden. Das Zollparlament trat zwischen 1868 und 1870 zu drei Sitzungsabschnitten zusammen. Dabei wurden Grundlagen für eine wirtschaftliche Einheit geschaffen, an die das Deutsche Kaiserreich direkt anknüpfen konnte. Territorial kamen zu dieser auch als „Zweitem Zollverein“ bezeichneten Neuorganisation das Gebiet der Provinz Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Schwerins und Mecklenburg-Strelitz hinzu. In dieser Zeit wurden auch einige der verbliebenen Sonderregelungen für bestimmte Güter aufgehoben. So verschwanden die einzelstaatlichen Salzmonopole 1867, die letzten Rheinuferzölle wurden 1868 beseitigt. Vom Zollverein zum Zollgebiet Durch die Reichsverfassung von 1871 wurde das deutsche Kaiserreich zu einem einheitlichen Zoll- und Handelsgebiet, wenngleich Hamburg und Bremen bis 1888 als Freihäfen zunächst noch außerhalb des Zollgebietes blieben. (Für den zollfreien Handel mit dem Hinterland wurden in beiden Städten sogenannte Zollvereinsniederlagen errichtet.) Die Zollvereinsverträge blieben zwar bestehen, aber die Funktionen des Vereins gingen auf das Reich über. Dem Reich standen die Zollgesetzgebung und die Zollerhebung an den Außengrenzen zu. Zu Beginn war das Reichskanzleramt für die Wirtschaftspolitik zuständig, später wurden eigene Ressorts geschaffen. Die legislativen Aufgaben übernahm der Reichstag, der Zollverein wurde operativ überflüssig. Ein Relikt war lediglich noch die durch die Zollvereinsverträge bedingte Zugehörigkeit Luxemburgs zum deutschen Zollgebiet, die erst 1919 durch den Versailler Vertrag beendet wurde. Der Zollverein in der Historiografie Nach der Reichseinigung wurde der Zollverein von der preußischen Geschichtsschreibung als uneigennützige Leistung Preußens zum Wohle Deutschlands beschrieben. Treitschke machte sich bei der Wertung des Zollvereins dabei teilweise die Wahrnehmungen der liberalen Opposition in den 1840ern zu eigen und deutete diese konservativ um. Mit dem Zollverein und dem Deutschen Bund hätten somit „zwei Gemeinwesen [bestanden]: ein Deutschland des Scheines, das in Frankfurt, ein Deutschland der ehrlichen Arbeit, das in Berlin seinen Mittelpunkt fand.“ Gustav von Schmoller würdigte ebenfalls die preußische Leistung, fokussierte hierbei jedoch den Aspekt der Industrieförderung statt der Nationalstaatspolitik. Diese Sichtweise konnte sich teilweise bis in die 1970er Jahre halten. Wilhelm Treue sah die preußische Wirtschaftspolitik als entscheidenden Faktor der Industrialisierung an und bezeichnete vor diesem Hintergrund den Zollverein anknüpfend an Schmoller und Wilhelm Roscher als „bedeutendstes Ereignis in der deutschen Geschichte“ zwischen 1815 und 1866. Da die deutsche Wirtschaftsgeschichtsschreibung noch lange von der historischen Schule der Nationalökonomie beeinflusst war, kamen erste Neuansätze der Forschung aus dem Ausland. Eine Pionierstudie war die Arbeit von William Otto Henderson aus dem Jahr 1939. Damit begann eine insgesamt differenziertere und nüchternere Betrachtung des Gegenstands. Radikal in Frage gestellt wurden die älteren Deutungen aus ideologischen Gründen in der DDR-Forschung. So sah beispielsweise Karl Obermann im Zollverein noch in den 1980ern lediglich ein ökonomisches Zugeständnis der Reaktion an die Bourgeoisie zum eigenen Machterhalt. In der westdeutschen Forschung wurde das preußische Interpretationsmuster zwar vereinzelt in Frage gestellt, umfassende Untersuchungen zum Zollverein erschienen jedoch erst wieder zu Beginn der 1970er Jahre. Eine Ursache waren die politischen Debatten zwischen den Befürwortern der EWG auf der einen und der europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) auf der anderen Seite. Beide Seiten versuchten dabei, ihre Positionen durch den Verweis auf den Deutschen Zollverein historisch zu legitimieren. Während die Verfechter der EWG auf die Vorreiterrolle des Zollvereins für die politische Einigung hinwiesen, argumentierten die Fürsprecher der Freihandelszone, dass der Zollverein auf liberale Weise die Einbindung in die Weltwirtschaft ermöglicht habe. An diese Diskussion knüpfte Wolfram Fischer an, der den Zollverein als historisches Vorbild der EWG sah. Im Zuge seiner Untersuchungen wurde die fiskalpolitische Bedeutung des Zollvereins herausgearbeitet und abweichend von den Interpretationsmustern Treitschkes der Zollverein nicht als langfristig geplantes System, sondern als „System von Behelfen, das aufgebaut wurde, um dringenden Bedürfnissen nachzukommen“ dargestellt. Seither wurde in mehreren Arbeiten insbesondere die Vielschichtigkeit der ökonomischen Vorgänge herausgearbeitet, in die der Zollverein eingewoben war und die sich gegenseitig beeinflussten. Zu den bedeutenderen jüngeren Werken zählen die Arbeiten von Hans-Werner Hahn. Die wirtschaftlichen Folgen neu beschrieben hat etwa Rolf H. Dumke. Einig ist sich die neuere Forschung in der Vielschichtigkeit der Zielsetzungen, die mit dem Zollverein verbunden waren. Dabei herrscht die Tendenz vor, dass die Gründung kaum als Politik der Industrieförderung, sondern aus fiskalischen und machtpolitischen Interessen erfolgte. Dies schließt nicht den Befund aus, dass der Verein sehr wohl zur Förderung der gewerblichen Entwicklung beigetragen hat. An diese Perspektive anknüpfend wird der Zollverein von der Forschung heute als eine, aber eben nicht alleinige oder ausschlaggebende, wichtige Voraussetzung betrachtet, um den Entwicklungsrückstand der deutschen Staaten gegenüber Großbritannien aufzuholen. Literatur Quellen und zeitgenössische Literatur Ludwig Karl Aegidi, Alfred Klauhold: Die Krisis des Zollvereins urkundlich dargestellt. Beilage zu dem Staatsarchiv. Meissner, Hamburg 1862. Alfred Bienengräber: Statistik des Verkehrs und Verbrauchs im Zollverein für die Jahre 1842 - 1864. Nach den veröffentlichten amtlichen Kommerzial-Übersichten etc. Duncker, Berlin 1868. Johannes Falke: Die Geschichte des deutschen Zollwesens. Von seiner Entstehung bis zum Abschluß des deutschen Zollvereins. Veit, Leipzig 1869. Hermann von Festenberg-Packisch: Geschichte des Zollvereins mit besonderer Berücksichtigung der staatlichen Entwickelung Deutschlands. Brockhaus, Leipzig 1869 Gustav Höfken: Der deutsche Zollverein in seiner Fortbildung. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1842. Statistische Uebersichten über Waaren-Verkehr und Zoll-Ertrag im Deutschen Zoll-Vereine. Zusammengestellt von dem Central-Bureau des Zoll-Vereins nach den amtlichen Mittheilungen der Zollvereins-Staaten. Berlin 1842–1859. Konrad Sturmhoefel: Der deutsche Zollverein. Ein geschichtlicher Rückblick. Verlag für Sprach- und Handelswissenschaft, Berlin 1906. Georg von Viebahn: Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschland. 3. Bde. Berlin 1858–1868. Wilhelm Weber: Der deutsche Zollverein. Geschichte seiner Entstehung und Entwicklung. Veit & Comp., Leipzig 1869. Sekundärliteratur Jürgen Angelow: Der Deutsche Bund. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15152-6, S. 60–67. Helmut Berding: Die Reform des Zollwesens in Deutschland unter dem Einfluss der napoleonischen Herrschaft. In: Geschichte und Gesellschaft. Heft 4 1980, S. 523–537. Wolfram Fischer: Der deutsche Zollverein. Fallstudie einer Zollunion. In: Wolfram Fischer: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen, 1972, ISBN 3-525-35951-9, S. 110–128. Wolfram Fischer: Der deutsche Zollverein, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Freihandelszone. In: Wolfram Fischer: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen, 1972, ISBN 3-525-35951-9, S. 129–138. Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, ISBN 3-525-33500-8. Digitalisat Die industrielle Revolution in Deutschland. München 2005, (=EDG, Band 49) ISBN 3-486-57669-0. Der Zollverein von 1834 aus preußischer Perspektive. In: Michael Gehler et al. (Hrsg.): Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung:Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Studien Verlag, 1. Aufl. 2009, ISBN 978-3-7065-4849-6 (S. 95–114); Reprint des HMRG-Beiheftes Nr. 15 von 1996, siehe Leseprobe William Otto Henderson: The Zollverein. 3. Aufl. Cass, London 1984, ISBN 0-7146-1322-3. Richard H. Tilly: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914. DTV, München 1990, (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit) ISBN 3-423-04506-X. Heinrich von Treitschke: Die Gründung des Deutschen Zollvereins. Leipzig 1913 (= Auszüge aus Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bände II–IV, Leipzig 1879–1894). Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Deutschen Doppelrevolution 1815–1845/49. C. H. Beck, München 1989, ISBN 3-406-32262-X. Wolfgang Zorn: Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und öffentliche Finanzen 1800–1970. In: Hermann Aubin und Wolfgang Zorn: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Band 2. Stuttgart 1976, , S. 148–197. Weblinks Website des Landesarchivs Baden-Württemberg zu den Zollvereinsstatistiken: Das Königreich Württemberg in Zahlen Flugblätter und andere Druckerzeugnisse aus den Jahren 1848/49 mit Bezug zum Zollverein in der Flugschriften-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Scans mit bibliografischen Kommentaren) Deutscher Zollverein beim Deutschen Zollmuseum (Bundesministerium der Finanzen) Deutscher Zollverein auf HGIS Germany Fußnoten Historische Organisation (Berlin) Gegründet 1834 Aufgelöst 1919
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Ostfriesland
Ostfriesland (ostfriesisches Plattdeutsch: Oostfreesland, Ostfreesland) ist eine Region in Niedersachsen im äußersten Nordwesten Deutschlands. Sie besteht aus den Landkreisen Aurich, Leer und Wittmund sowie der kreisfreien Stadt Emden. Ostfriesland liegt an der Küste der Nordsee und umfasst neben dem Festland auch die Ostfriesischen Inseln Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog und Spiekeroog. Auf seinem Gebiet leben Menschen (Stand ) auf 3144,26 Quadratkilometern. Die Region ist mit knapp 150 Einwohnern pro km² dünner besiedelt als der Bundesdurchschnitt (233), aber ähnlich dicht wie das Bundesland Niedersachsen (168) und überdurchschnittlich dicht für eine ländliche Region ohne Großstadt. Prägend für Ostfriesland ist, dass es nicht von einer größeren Stadt dominiert wird. Vielmehr sind es die fünf Mittelstädte Emden, Aurich, Leer, Norden und Wittmund sowie die fünf Kleinstädte Weener, Wiesmoor, Esens, Norderney und Borkum und eine Vielzahl von Dörfern, die die Struktur Ostfrieslands bestimmen. Das heutige Gebiet entspricht bis auf kleinere Arrondierungen dem Gebiet der früheren Grafschaft Ostfriesland, die bis 1744 bestand. Von der früheren politischen Einheit Ostfriesland ist heute die Ostfriesische Landschaft übrig geblieben. Die Region war über Jahrhunderte von der Landwirtschaft, der Fischerei und – besonders in den wenigen Städten – vom Handel geprägt. Dazu zählte in den Hafenstädten insbesondere der Seehandel. Deichbau und Melioration haben die landwirtschaftliche Nutzung weiter Teile der zuvor von der Tide beeinflussten Marsch und der Moore erst möglich gemacht. Inzwischen haben der Tourismus, vor allem auf den Inseln und in vielen Küstenorten, sowie einige industrielle Kerne hohe Bedeutung für die regionale Wirtschaft erlangt. Gleichwohl nimmt die Landwirtschaft auch weiterhin eine starke Stellung ein – kulturräumlich und auch wirtschaftlich. Trotz wirtschaftlicher Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten gilt Ostfriesland als strukturschwache Region mit einer großen Abhängigkeit von einigen wenigen Branchen und einer kleinen Zahl größerer Unternehmen. Durch die Jahrhunderte währende, landseitige relative Isolation durch große Moore im Süden Ostfrieslands bei gleichzeitiger Hinwendung zur See hat die Region innerhalb Deutschlands eine teilweise recht eigenständige Entwicklung genommen. Auch enge Verbindungen zu den Niederlanden trugen dazu bei. Dies zeigt sich noch heute, etwa in kulturellen Belangen oder im politischen Raum, bei Bemühungen, ostfrieslandweite Institutionen zu erhalten und, wo möglich und sinnvoll, nicht mit Institutionen außerhalb Ostfrieslands zu verschmelzen. Der Landstrich gilt als eine der Hochburgen der plattdeutschen Sprache: Schätzungsweise 50 Prozent der Einwohner sprechen noch ostfriesisches Platt. Geografie Lage und Gebiet Ostfriesland liegt an der Nordseeküste und ist die nordwestlichste Region Deutschlands. Im Allgemeinen wird unterschieden zwischen Ostfriesland im historisch-politischen Sinne (um das es im vorliegenden Artikel geht) und dem geografischen Begriff Ostfriesland, der zuweilen weiter gefasst ist (siehe dazu den Artikel Ost-Friesland). Das Ost in Ostfriesland bezieht sich darauf, dass es im östlichen Teil des alten Friesland liegt – im Gegensatz zum Westfriesland genannten Teil (der Provinz Friesland und der nordholländischen Region Westfriesland in den Niederlanden). Neben diesen beiden Frieslanden gibt es das als Nordfriesland bezeichnete Gebiet im nordwestlichen Schleswig-Holstein, das jedoch außerhalb der im Heiligen Römischen Reich als Friesland bezeichneten Gebiete liegt. Ostfriesland umfasst die kreisfreie Stadt Emden sowie die Landkreise Aurich, Leer und Wittmund. Diese bilden – von kleineren Grenzkorrekturen abgesehen – das Gebiet des ehemaligen Fürstentums Ostfriesland (1464–1744), das als Regierungsbezirk Aurich innerhalb Preußens, dann Hannovers, wiederum Preußens und später Niedersachsens bis 1978 fortbestand. Die Einwohner dieses Landstrichs sind die einzigen, die sich noch als Ostfriesen bezeichnen. Zudem sind die Stadt und die drei Kreise das Gebiet, das von der Ostfriesischen Landschaft, dem „Kulturparlament“ der Ostfriesen, und dem Niedersächsischen Landesarchiv (Standort Aurich) betreut wird. Ostfriesland wird begrenzt von den drei oldenburgischen Landkreisen Friesland (Grenze ist die sogenannte Goldene Linie), Ammerland und Cloppenburg im Osten sowie dem Landkreis Emsland im Süden. Im Westen grenzt Ostfriesland an die Niederlande, im Norden an die Nordsee. Dem Festland vorgelagert sind die Ostfriesischen Inseln, von denen sieben bewohnt sind. Die Inseln Wangerooge und Minsener Oog zählen zu den Ostfriesischen Inseln (mit großem „O“), sind aber keine ostfriesischen Inseln (mit kleinem „o“), sondern oldenburgische. Hintergrund dieses verwirrenden Sprachgebrauchs ist der Unterschied zwischen „Ostfriesland“ (Betonung auf der zweiten Silbe) und „Ost-Friesland“ (Betonung auf der ersten Silbe): Nur der westliche größere Teil des Gebietes zwischen Ems und Jadebusen bildete bis zur Gründung des Regierungsbezirks Weser-Ems auch eine „Ostfriesland“ genannte politische Einheit. Der kleinere östliche Teil Ost-Frieslands war in seinem nördlichen Abschnitt, dem Jeverland, zunächst selbstständig (als Herrschaft Jever, zu der auch Wangerooge gehörte), in seinem Südabschnitt, der Friesischen Wehde, bereits früher Teil Oldenburgs. Ostfriesen fühlen sich als Teil der friesischen Kultur – als Friesen, die in den Nationalstaaten der Niederlande und Deutschlands an der Nordseeküste wohnen. Historisch reicht das hochmittelalterliche Siedlungsgebiet von der Lauwerszee (bei Groningen) bis zur Weser (Stedingen) und nördlich der Linie Wildeshauser Geest – Hümmling – Hondsrug. Zur Sektion Ost des Friesenrates gehören daher neben Organisationen aus Ostfriesland, dem Oldenburger Friesland und dem Saterland auch solche aus den Landstriche Butjadingen (Landkreis Wesermarsch) und Land Wursten (zwischen Bremerhaven und Cuxhaven). Vor allem in kulturellen, aber auch in politischen und administrativen Belangen zeigt sich ein Bemühen um den Erhalt historisch gewachsener Strukturen und ein Festhalten an organisatorischen Abgrenzungen zum Umland. An diesem ausgeprägten Eigenbewusstsein scheiterte etwa der Zusammenschluss der Landkreise Wittmund und Friesland im Zuge der niedersächsischen Landkreisreform zum 1. August 1977 – jedoch „beiderseitig“. Der Landkreis hieß Friesland, Kreisstadt war Wittmund. Nach Klagen vor dem Staatsgerichtshof in Bückeburg wurde der Zusammenschluss zum 1. Januar 1980 zurückgenommen. Auch in der Polizeiorganisation – der Landkreis Wittmund wurde 2005 der Polizeiinspektion in Wilhelmshaven und damit der Polizeidirektion in Oldenburg zugeschlagen, während die Kreise Aurich und Leer sowie die Stadt Emden zwei weitere Polizeiinspektionen innerhalb der Polizeidirektion Osnabrück bildeten – ließ sich eine übergreifende Gliederung nicht durchsetzen. Die Regelung wurde 2007 nach vielerlei Bitten und politischen Interventionen zurückgenommen, der Kreis Wittmund der Polizeiinspektion Aurich angeschlossen. Landschaftsformen Dem Festland ist die Inselkette der Ostfriesischen Inseln vorgelagert. Sie erstreckt sich über rund 90 Kilometer Länge von West nach Ost von der Emsmündung mit dem Dollart bis zur Mündung der Jade in den Jadebusen. Die Inseln sind jeweils durch Seegaten voneinander getrennt, aber durch die davor liegenden Riffbögen und Platen miteinander verbunden. Zwischen den Inseln und dem Festland befindet sich ein ausgedehnter Wattbereich, der über ein weit verzweigtes Flusssystem von Rinnen, Prielen und Baljen (schiffbare Priele) im Gezeitenrhythmus von Meerwasser überflutet wird und wieder trocken fällt. Die Inseln, das umgebende Watt sowie das den Inseln vorgelagerte Küstenmeer (Naturschutzgebiet „Küstenmeer vor den ostfriesischen Inseln“) stehen in einer engen ökologischen Beziehung. Die Inselkette ist Teil des größten und global bedeutsamen Nordsee-Wattenmeeres, das sich von Den Helder (Niederlande) über die niedersächsische, hamburgische und schleswig-holsteinische Küste bis nach Esbjerg (Dänemark) erstreckt und in verschiedenen Nationalparke aufgeteilt ist. Ostfriesland hat innerhalb dessen mit seiner Küste und den Inseln einen wesentlichen Anteil am Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Die Unterschutzstellung des deutsch-niederländischen Teils des Wattenmeers als Weltnaturerbe wurde im Juni 2009 von der UNESCO beschlossen. Die Ostfriesischen Inseln liegen am Rande des Festlandssockels. Sie sind keine Festlandsreste, sondern geologisch sehr junge Gebilde aus einem Strand- und Dünenwall. Dieser grenzte zur Zeitenwende das Wattenmeer zur offenen See ab. Die heutige Kette der Sandinseln vor der südlichen Nordsee von Texel bis Mellum ist im Gegensatz zu den Nordfriesischen Inseln auf altem, untergegangenem und mit marinen Sedimenten überlagertem Festland entstanden. Das Insel-Watt-System ist ein sehr dynamisches System und ständigen Veränderungen unterworfen, das sich vor allem in der Veränderung der Gestalt und Lage der Inseln äußert. Seewärts finden sich auf den Inseln Sandstrände. Durch Strömung, Wellenschlag und Wind bilden sich zunächst Primärdünen, die sich zu bis zu 20 Meter hohen Weißdünen weiterentwickeln. Es schließen sich Dünenbereiche aus älteren Grau- und Braundünen an. Darauf folgen Marschen und Salzwiesen, regional auch als „Heller“ bezeichnet, die schließlich in das Watt zwischen Inselkette und Festland übergehen. Salzwiesen werden noch gelegentlich bei besonders hohen Wasserständen überflutet. Sie sind durch spezifische Pflanzenwelt aus Salzpflanzen (Halophyten) geprägt. Als erste Pionierpflanze siedelt sich meist der Europäische Queller an (Quellerzone). Die oberen und unteren Salzwiesen werden teils extensiv beweidet, teils werden sie der natürlichen Sukzession überlassen. An der Festlandküste sind stellenweise vor den Außendeichen noch natürliche Salzwiesen entwickelt. Vor mehr als 1000 Jahren begannen die Bewohner, sich durch Deiche zu schützen. Dennoch kam es bei großen Flutkatastrophen immer wieder zu erheblichen Landverlusten. Im Gegenzug versuchten die Bewohner der Region, Neuland aus dem Meer zu gewinnen, und es entstanden Polder. Die erfolgreichen Eindeichungen führten aber auch zu großen Verlusten natürlicher Salzwiesen, die sich aufgrund der eingeschränkten Dynamik nicht mehr in vollem Ausmaß bilden konnten. Ohne Deiche würden weite Teile Ostfrieslands, vornehmlich die Marschen und die Moore an den Außenrändern des ostfriesisch-oldenburgischen Geestrückens, zweimal täglich von den Fluten der Nordsee überspült. Für die Unterhaltung der Deiche im Rahmen des Küstenschutzes sind mehrere Deichachten zuständig, die jeweils Abschnitte des Deichbandes unter ihrer Aufsicht haben. Der Anstieg des Meeresspiegels und kurzfristige Wetterkapriolen durch den Klimawandel machen zusätzliche Küstenschutz- und Entwässerungsmaßnahmen erforderlich. Denn aus topografischen Gründen stellt auch das Wasser innerhalb des Deichbandes ein Problem dar: Wegen des kaum ausgeprägten Gefälles muss Niederschlag über mit Schöpfwerken ausgestattete Siele und bei Schleusungen vom Schiffen und Booten in die Ems und ihre Nebenflüsse beziehungsweise direkt in die Nordsee geleitet werden. Bei sehr niedriger Ebbe kann dies durch natürlichen Sielzug geschehen. Ist es jedoch nötig, auch bei Flut zu entwässern, kommen Pumpen zum Einsatz. Bei besonders ergiebigen Regenfällen kommt es fallweise auch vor, dass Entwässerungsgräben (in Ostfriesland Schloote genannt) sowie Kanäle und kleinere Flüsse (in Ostfriesland zumeist Tief genannt) über die Ufer treten, weil die Pumpenleistungen nicht ausreichen oder es zu anderen Störungen im Entwässerungsnetz gekommen ist. Für die Entwässerung sind Entwässerungsverbände, örtlich auch Sielachten genannt, zuständig. Der Küstenraum des Festlandes ist Marschland, das weiter landeinwärts in Niedermoore, Geest und Hochmoore übergeht. An Hochmoorresten ist insbesondere das Gebiet um das Ewige Meer bei der nach ihm benannten Ortschaft Eversmeer hervorzuheben. Es gilt als der größte Hochmoorsee Deutschlands. Dieser und Reste der ehemals großen Hochmoore sowie darin gelegene kleinere Moorseen wie das Lengener Meer sind heute Schutzgebiete. Durch Wiedervernässungsmaßnahmen soll der ursprüngliche Charakter wiederhergestellt werden, nachdem diese Flächen über lange Zeit stark entwässert und schließlich verbuscht waren. Die Altmoränenlandschaft der Geest zeichnet sich durch vorwiegend sandiges Geschiebematerial der Saaleeiszeit aus und ist weitgehend als land- oder (in geringem Umfang) forstwirtschaftliche Fläche kultiviert. Nach Auflösung der Allmende entstand dank der den Bauern auferlegten Pflicht, ihre Parzellen abzugrenzen und das Ausbrechen des Weideviehs zu verhindern, die typische Wallheckenlandschaft mit kleinen Weideflächen, die von busch- und baumbestandenen Erdwällen umgeben sind. Deren Zugangsöffnungen werden mit den ebenso typischen, grob gezimmerten Holztoren (Plattdeutsch: hek) verschlossen. Inzwischen weicht allerdings das Holz zunehmend Stahl. Die kleineren Parzellen dienen meist der Viehhaltung, während auf größeren Parzellen, auf denen der Maschineneinsatz lohnend ist, auch Pflanzenanbau betrieben wird. Zu den größeren Waldgebieten gehören der Heseler Wald (Samtgemeinde Hesel), der Ihlower Forst (Gemeinde Ihlow), der Karl-Georgs-Forst (Friedeburg), der Egelser Wald und der Meerhusener Wald (beide Stadt Aurich). In den Samtgemeinden Hage und Esens befinden sich nennenswerte Waldareale, die nur wenige Kilometer hinter der Küstenlinie liegen. Weiterhin gibt es in Ostfriesland eine größere Anzahl natürlicher (Niedermoor-)Seen, deren größter das Große Meer bei Bedekaspel (Südbrookmerland) ist. Neben den bereits genannten Seen befinden sich noch weitere in Ostfriesland, insbesondere im Städtedreieck Emden-Aurich-Leer, darunter die Hieve (Hinte) und das Sandwater (Ihlow). Größter Fluss Ostfrieslands ist die Ems, nach Elbe und Weser der kleinste der drei Ströme, die in Deutschland in die Nordsee münden. Weitere Flüsse sind die Leda (Landkreis Leer), die bei Leerort in die Ems mündet, ihr Nebenfluss Jümme, sowie die Harle im Landkreis Wittmund, die in Harlesiel in die Nordsee fließt – allerdings durch ein Siel. Ostfriesland ist zudem von einer Vielzahl kleinerer natürlicher Gewässerläufe durchzogen. Sie sind mit künstlich angelegten Kanälen oder den erwähnten Tiefs verbunden. Der längste künstliche Wasserlauf ist der Ems-Jade-Kanal. Weitere längere Kanäle sind der Ems-Seitenkanal zwischen Emden und Oldersum sowie der Nord- und der Südgeorgsfehnkanal. Am stärksten von Fehnkanälen durchzogen sind die Gemeinden Großefehn, Rhauderfehn und Ostrhauderfehn sowie die Stadt Wiesmoor, während die Kanäle in Emden, die keine Fehnkanäle sind, die längsten in den ostfriesischen Städten sind. Die Marschen sind zudem von einer Vielzahl von sogenannten Tiefs durchzogen. Dabei handelt es sich teils um natürliche Tiefs, teils um künstlich angelegte Entwässerungskanäle. Die Tiefs waren in früheren Jahrhunderten der Hauptverkehrsträger. Beispielhaft kann hier die Gemeinde Krummhörn genannt werden, deren 19 Dörfer allesamt ans Kanalnetz angeschlossen und mit den Nachbargemeinden sowie der Stadt Emden verbunden sind. Der höchste natürliche Punkt ist eine Düne auf Norderney, die 24,4 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Auf dem Festland ist der höchste Punkt eine Wanderdüne im Naturschutzgebiet Hollsand in der Gemeinde Uplengen, die etwa 18,5 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Der tiefste Punkt befindet sich nahe der Nordseeküste in der Gemeinde Krummhörn. Hier liegt ein Teil des Freepsumer Meeres 2,5 Meter unter dem Meeresspiegel. 1983 wurde dieser als tiefster Punkt Deutschlands in das Guinness-Buch der Rekorde eingetragen. Seit 1988 gilt jedoch eine Stelle (−3,54 m) in der Gemeinde Neuendorf-Sachsenbande in der Wilstermarsch in Schleswig-Holstein als tiefer gelegen. Flora und Fauna An den Stränden der Inseln und der Küste werden Seetang und -gras angespült. In den Dünen der Inseln sind viele Arten von Strandpflanzen vorhanden. Zu den typischen Vertretern gehören Pionierpflanzen wie der Strandhafer auf Weißdünen sowie Sanddorn auf Braundünen. Auf Letzteren breitet sich oft auch großflächig die Krähenbeere aus. Auf den höher gelegenen und bei Ebbe länger trocken fallenden Abschnitten des Watts siedelt sich als Pionierpflanze der Queller an. Auf den Inseln finden sich an Säugetieren Wanderratten, Igel und oft in hohen Populationsdichten Kaninchen. Im 19. Jahrhundert wurden Hasen, Rebhühner und Fasane ausgesetzt. Von diesen dreien hat sich hauptsächlich der Hase den Insel-Bedingungen gut anpassen können. Im Wattenmeer leben Seehunde und Kegelrobben. Das Watt bietet einer Vielzahl von Vogelarten Nahrung – in Form von Krebsen, Muscheln, Schnecken und Würmern wie zum Beispiel der Sandpier. Neben vielen Brutvögeln nutzen etwa zehn Millionen Zugvögel, darunter vor allem Watvögel wie der Knutt, Gänse und Enten das Wattenmeer. Das Watt ist für diese Vögel einer der wichtigsten Aufenthaltsorte auf ihrem bis Südafrika reichenden „Ostatlantischen Zugweg“. Viele von ihnen leben im Wattenmeer für einen Großteil des Jahres und füllen ihre Fettreserven für den kräftezehrenden Zug auf oder mausern sich wie beispielsweise die Brandgans. Die Insel Memmert ist mit rund 12.000 Brutpaaren der Silbermöwen die größte Kolonie dieser Art in Deutschland und zudem der einzige in Deutschland festgestellte Brutplatz der Englischen Heringsmöwe. Auch Kormorane leben sowohl auf den Inseln als auch im Binnenland. Die Marsch ist – ebenso wie die Niederungsflächen am Rande der Geest – aufgrund der Eingriffe des Menschen in die Natur und der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung relativ artenarm. Es finden sich Hasen und Fasane, Feldmäuse und – in großer Zahl – Maulwürfe. In der Marsch ist unter den Entenarten die Stockente verbreitet. An den Binnengewässern finden sich auch weitere Entenarten, Gänse, Reiher und Schwäne. Zu den in den Binnengewässern vorkommenden Fischarten zählen Aal, Hecht, Barsch, Zander und Karpfen. Die Geest ist artenreicher als die Marsch. Zwischen Äckern und Grünlandflächen finden sich die Wallhecken, die günstigere Lebensbedingungen bieten als die Marsch. Dort sind viele Kleinvogelarten anzutreffen, aber auch Rebhuhn und Wachtel. Das Hochmoor hingegen dient nur wenigen Vogelarten als Lebensraum. Eine Ausnahme bildet das Birkhuhn. Dafür gibt es in den Hochmooren Moorfrösche, Eidechsen und Kreuzottern. In den wenigen Wäldern Ostfrieslands ist auch Damwild und Schwarzwild anzutreffen. Klima Ostfriesland liegt in der warmgemäßigten Zone mit ganzjährigen Niederschlägen. Nach der Klimaklassifikation von Köppen befindet es sich in der Einteilung Cfb (Klimazone C: Warm-Gemäßigtes Klima; Klimatyp Cf: Feucht-Gemäßigtes Klima; Klimauntertyp b: warme Sommer). Die Temperaturen sind aufgrund der Nähe zur Nordsee relativ ausgeglichen; die Sommer sind warm, häufig liegt die Höchsttemperatur über 20 °C, die 30 °C-Marke wird nur an wenigen Tagen überschritten. Die Winter sind im Allgemeinen mild und feucht mit sehr wenigen Eistagen, leichter Frost ist aber jederzeit möglich. Nur selten gibt es Temperaturen unter −10 °C. Die Jahresmitteltemperatur liegt bei 8,4 °C im zentral gelegenen Aurich und 9 °C auf Norderney, wobei auf den Inseln die Temperaturen ausgeglichener sind. Durch den Speichereffekt des Meeres wird noch lange nach dem Hochsommer Wärme abgegeben. Die Temperaturen sind daher im Winter milder. In den Hochmoorgebieten im Landesinneren liegen die Temperaturen zumeist etwas niedriger als in der küstennahen Marsch. Im Laufe des Jahres fallen im Mittel rund 800 mm Niederschlag, auf den Inseln weniger. Ostfriesland liegt damit rund 100 mm über dem deutschen Durchschnittswert. Der meiste Niederschlag fällt im Landesinneren in den Sommermonaten, vor allem im Juni und Juli. Auf den Inseln sind dagegen die Herbstmonate die niederschlagsreichsten. Die Zahl der Nebeltage mit Sichtweiten von weniger als einem Kilometer ist überdurchschnittlich: 35 Tage auf den Inseln, 45 Tage auf dem Festland – mit noch höheren Werten in den Hochmoorgegenden. Die Zahl der Schneetage im Jahr liegt zumeist im einstelligen Bereich. Trotz des überdurchschnittlichen Niederschlags und des oft auftretenden Nebels ist Ostfriesland relativ bewölkungsarm und sonnenreich. Die Sonnenscheindauer liegt mit rund 1500 bis 1600 Stunden etwa im Mittel des nordwestdeutschen Raums, die Inseln liegen noch darüber. In Ostfriesland weht der Wind stärker und häufiger als im Durchschnitt in Deutschland. Zumeist kommt er aus westlichen Richtungen. Die mittlere Windgeschwindigkeit liegt auf dem Festland bei 5,5 bis 6 m/s, auf den Inseln durchschnittlich bei 7,5 bis 8 m/s. Sturm (Windgeschwindigkeit von mehr als 20 m/s) tritt überdurchschnittlich häufig auf: Auf den Inseln an 30, auf dem Festland an 22 Tagen im Jahr. An der Küste und auf den Inseln herrscht im Winterhalbjahr bei solchen Wetterlagen Sturmflutgefahr, besonders bei Winden aus Nordwest. Diese ist besonders groß, wenn zur Sturmlage noch die Springtide hinzukommt, die das Wasser ohnehin höher auflaufen lässt. Die geringen Temperaturunterschiede, der stetige Wind sowie eine salz-, ozon- und jodreiche Luft von hoher Reinheit und Feuchte bilden das Reizklima, das Heilwirkungen hervorrufen kann. Hinzu kommen eine erhöhte Ultraviolett-Strahlung und auf den Inseln eine überdurchschnittliche Sonnenscheindauer. Klimatabellen (langjähriges Mittel 1961–1990) von Aurich und Norderney zum Vergleich: Einwohner In Ostfriesland leben etwa 465.000 Menschen auf 3144,26 Quadratkilometern. Daraus ergibt sich eine Einwohnerdichte von rund 148 Einwohnern pro Quadratkilometer. Damit liegt die Region unter dem Bundesdurchschnitt von 230 Einwohnern/km² und auch noch unter dem Durchschnitt des Landes Niedersachsen (168 Einwohner/km²). Die größten Städte sind Emden (rund 50.000 Einwohner), Aurich (rund 42.500), Leer (rund 35.000), Norden (rund 24.800) und Wittmund (rund 20.400). Die fünf Mittelstädte verteilen sich über die Region, lediglich Aurich und Wittmund haben eine gemeinsame Grenze – dies allerdings bedingt durch sehr umfangreiche Eingemeindungen bei der Kommunalreform 1972. Die am dichtesten besiedelte dieser Städte ist Leer. Sie erstreckt sich auf lediglich gut 70 Quadratkilometern, während die anderen Städte viel mehr Raum in Anspruch nehmen (Wittmund: 210 km², Aurich: 197,21 km², Emden: 112,33 km², Norden 106,33 km²). Die kleinste Einheitsgemeinde Ostfrieslands ist die Insel Baltrum mit rund 600 Einwohnern. Zur Einwohnerzahl in gräflicher beziehungsweise fürstlicher Zeit liegen keine Daten vor. Erst mit der Eingliederung Ostfrieslands in Preußen wurden ab 1750 Listen geführt. Für das Jahr 1744 variieren die Schätzungen zwischen 80.000 und 100.000 Einwohnern. Ostfriesland hat eine überdurchschnittliche Geburtenrate. Während 2003 der Bundesdurchschnitt bei 1,37 Geburten pro Frau im gebärfähigen Alter lag, lag er in den Landkreisen Aurich und Leer bei 1,6, im Landkreis Wittmund noch etwas höher. Allerdings reichen die Geburtenzahlen – wie im übrigen Bundesgebiet – nicht aus, um den Bevölkerungsstand zu halten: Sie liegen unterhalb der Nettoreproduktionsrate. Die Zuwanderung hat über einen längeren Zeitraum das Geburtendefizit wieder ausgeglichen. Dabei handelte es sich in den 1990ern oftmals um Zuwanderer aus den neuen Bundesländern sowie Spätaussiedler aus Osteuropa. Allerdings spielen auch Senioren aus anderen Teilen Deutschlands, die in Ostfriesland und den Ostfriesischen Inseln ihren Ruhestand verbringen wollen, eine Rolle bei der Zuwanderung. Dies verstärkt allerdings noch – über den ohnehin erwartbaren demografischen Wandel hinaus – die Überalterung. In einzelnen Gemeinden reicht die Zuwanderung jedoch inzwischen nicht mehr aus, um das Geburtendefizit auszugleichen. Ihre Einwohnerzahl sinkt. Der Ausländeranteil in Ostfriesland liegt unter dem Durchschnitt der Bundesrepublik von 12,5 Prozent und Niedersachsens (10,5 Prozent). In der Stadt Emden lag der Anteil im Jahr 2019 mit 11,4 Prozent noch am höchsten, im Landkreis Aurich betrug der Anteil 6,1 %. Im Landkreis Leer lag der Ausländeranteil im Jahr 2014 bei 8,7 %. Bemerkenswert ist im Landkreis Leer die Tatsache, dass von den rund 14.800 Ausländern fast 3100 aus den Niederlanden stammen. Dies ist mit den im Vergleich zum Nachbarland geringeren Baulandpreisen erklärbar. Der Landkreis Leer hat eine gemeinsame Landgrenze mit den Niederlanden, die A 280 führt ins Nachbarland. Der Landkreis Wittmund weist mit 4,8 Prozent den geringsten Ausländeranteil in Niedersachsen auf. Geschichte Ur- und Frühgeschichte Früheste Siedlungsnachweise finden sich für jungpaläolithische Rentierjäger der Hamburger Kultur. Es folgen Nachweise mesolithischer Besiedlung und später neolithischer Siedlungen der Trichterbecherkultur, Schnurkeramiker und Glockenbecherkultur. Auf Spiekeroog und Baltrum fanden Hobbyarchäologen 2016 und 2018 zwei menschliche Kieferknochen. Sie sind 7500 und 5500 Jahre alt und die ältesten bis dato gefundenen menschlichen Überresten im Gebiet der südlichen Nordsee. Überregional bedeutende Funde sind eine der ältesten befestigten Straßen der Welt, der Bohlenweg im Meerhusener Moor südlich des Ewigen Meers samt Überresten von Wagen (etwa 2500 v. Chr.), die älteste Brandbestattung Nordwestdeutschlands (datiert auf 2700–2900 v. Chr.) und der Pflug von Walle. Er galt zu Zeiten seiner Entdeckung als ältester erhaltener Pflug in Europa, da er zunächst in die Jungsteinzeit datiert wurde. Inzwischen wird seine Entstehungszeit auf etwa 1000 Jahre v. Chr. geschätzt. Aufgrund der relativ weit entwickelten Form des Hakenpfluges ist nach Ansicht einiger Wissenschaftler jedoch auch eine Datierung in der jüngeren Bronze- oder der frühen Eisenzeit denkbar. Versuche, das Alter mit der Radiokarbonmethode zu bestimmen, schlugen fehl, weil die nach der Bergung genutzten Konservierungsmittel das Messergebnis verfälschten. Eine genaue Datierung des Fundes steht somit noch aus. Für spätere Zeit ist die Siedlung germanischer Stämme aus dem Großverband der Ingwäonen nachgewiesen. Dies waren Chauken und Friesen. Während ursprünglich Chauken das Gebiet zwischen Ems und Weser bewohnten, begannen etwa um die Zeitenwende Friesen langsam in diesen Raum vorzudringen. Die Chauken wurden von diesen teils verdrängt, teils in deren Stammesverband aufgesogen. Seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert werden die Chauken nicht mehr erwähnt. Von der Landseite her drängten derweil sächsische Stämme in die Geestgebiete vor. Die späteren Ostfriesen gingen aus der Mischung dieser Bevölkerungsgruppen hervor. 12 v. Chr. erreichten die Römer unter ihrem Feldherren Drusus erstmals Ostfriesland. Wenige Jahre später ankerte Germanicus in der Amisia (Ems). Der möglicherweise zur Versorgung und zum Schutz der Schiffe genutzte Fundplatz Bentumersiel (heute Gemeinde Jemgum, Landkreis Leer) zählt zu den wenigen Orten in Niedersachsen, an denen archäologische Funde auf die Anwesenheit römischer Legionäre zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. hinweisen. Völkerwanderung, Heerkönige, gescheiterte Christianisierung Im 5. Jahrhundert kam es zu einem starken Rückgang der Besiedlung. Ursache dafür könnte der Anstieg des Meeresspiegels und die dadurch bedingte Überflutung der Marsch und die Vernässung der Geest sein. Der Rückgang der Bevölkerung macht sich ausschließlich in archäologischen Funden bemerkbar, die für das 5. und 6. Jahrhundert fast gänzlich fehlen. Eine der wenigen Ausnahmen, die für eine kontinuierliche Besiedelung sprechen, ist der Runensolidus von Schweindorf. Gesichert ist, dass ein Teil der Bevölkerung mit den Angelsachsen nach England übersetzte. In der Völkerwanderungszeit wurde die in Ostfriesland lebende Bevölkerung vermutlich in den föderativen Stammesverband der Sachsen eingegliedert. Auf eine kulturelle Annäherung deuten zudem Funde neuer Keramikformen hin, die aus dem Gebiet westlich der Weser stammen, wo zu dieser Zeit die Sachsen lebten. Zeugnisse kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa Brandhorizonte, fehlen hingegen. Im 7. und 8. Jahrhundert begann eine Neubesiedlung, die sich im Rahmen einer weitläufigen Expansion des friesischen Siedlungsgebiets abspielte. Diese reichte im Westen bis zur Sincfal (heute Het Zwin, nördlich von Brügge) und umfasste Südholland, Utrecht und Westgelderland. Seit dem 8. Jahrhundert wurden auch Wursten und die nordfriesischen Inseln besiedelt, später das Festland gegenüber. Funde aus dieser Zeit deuten dementsprechend darauf hin, dass die Siedler aus den friesischen Gebieten westlich der Lauwers stammten. Bis zu den ersten Deichbauten war eine Besiedlung nur in höher gelegenen Geestgebieten und auf so genannten Warften im regelmäßig von der Nordsee überfluteten Marschland möglich. Ab etwa 1000 n. Chr. ermöglichten Deichbauten die gesamte Marsch zu besiedeln. Hierauf spielt der Sinnspruch Deus mare, Friso litora fecit (Gott schuf das Meer, der Friese die Küsten) an. Zwischen 650 und 700 entstand ein friesisches Heerkönigtum, das gelegentlich immer noch als Großreichsbildung missverstanden wird. Unstreitig ist, dass diese Heerkönige sich gegen die fränkische Expansion zur Wehr setzten, was weite Teile des heutigen Westfriesland, Ostfriesland und Gebiete bis zur Weser womöglich zusammenführte (Magna Frisia). Der erste überlieferte Name eines Heerkönigs ist Aldegisel, der offenbar ab 678 den christlichen Missionar Wilfrid unterstützte. Sein Sohn und Nachfolger Radbod hatte, wie sein Vater, seinen Machtschwerpunkt im Westen, im Raum Utrecht. Er stand 716 mit seinem Heerhaufen vor Köln und besiegte im selben Jahr den fränkischen Hausmeier Karl Martell, der damit seine einzige Niederlage hinnehmen musste. Radbod († 719) wurde in wilhelminischer Zeit geradezu zu einem Vorkämpfer germanischer Freiheit und, da er sich nicht taufen ließ, der anti-römischen Kräfte stilisiert. In der Folge wurden Industriekomplexe wie die Zeche Radbod im östlichen Ruhrgebiet nach ihm benannt. Er ist bis heute Teil der Folklore. Teil des Frankenreichs, Christianisierung Nachfolger Radbods wurde Poppo. Er widersetzte sich vergeblich der Rückeroberung des westlichen Frieslands durch die Franken, und nach 720 waren alle friesischen Landesteile westlich der Vlie in fränkischer Hand. Endgültig schlug Karl Martell die Friesen in der Schlacht an der Boorne (734). Poppo fand dabei den Tod. Karl der Große eroberte 785 nach dem Sieg über die Sachsen ganz Friesland einschließlich der östlichen Gebiete bis zur Weser. Sachsen und Friesen, die gegen Karl gekämpft hatten, wurde das Ius paternae hereditatis, das Recht auf ihr väterliches Erbe und damit ihr freies Erbeigen entzogen. Zur Absicherung seiner Eroberungen ließ Karl zudem das alte Friesische Recht aufzeichnen und mit fränkischen Gesetzen in einer Übersicht zusammenfassen, der Lex Frisionum. Hier finden sich erstmals Hinweise auf eine Teilung der friesischen Gebiete, welche bis heute Bestand hat. In dieser Zeit wurde Ostfriesland Ziel mehrfacher Normanneneinfälle, bei denen die Bevölkerung auf sich allein gestellt war. Die Verteidigung des Landes organisierte Karl, indem er in Friesland entlang der Küste und insbesondere an den Flussmündungen eine Küstenwacht einrichtete, die sich auf die Selbsthilfe der waffenfähigen und königstreuen Friesen stützte. Tatsächlich gelang mit dem Sieg in der Schlacht bei Norditi im Jahr 884 die dauerhafte Vertreibung der Wikinger aus Ostfriesland, diese bildeten aber eine stete Bedrohung. Die ostfriesischen Männer wurden dafür vom Militärdienst auf fremden Territorien freigestellt. Die Friesen entwickelten daraus den politischen Mythos, Karl der Große sei der Stifter der Friesischen Freiheit gewesen, wahrscheinlich wurde diese aber erst später gewährt. Die so privilegierte Schicht dürfte dünn gewesen sein, da sie ausschließlich aus Männern bestand, die königstreu waren und denen Karl daher das Ius paternae hereditatis nicht entzogen hatte. Erst als der Sohn Karls, Ludwig der Fromme, ihnen dieses 814 zurückgab, gelangten alle grundbesitzenden Friesen in den Genuss der Königsfreiheit. Diese zahlten dem König im Gegenzug dafür eine huslotha oder koninckhuere genannte Abgabe. Ostfriesland wurde in zwei Grafschaften geteilt. Zu dieser Zeit wurde die gescheiterte Christianisierung durch die Missionare Liudger und Willehad wieder aufgenommen. Ostfriesland wurde zu einem Teil dem Bistum Bremen, zum anderen dem Bistum Münster zugeschlagen. Im Zuge der Christianisierung entstand an der niederländischen und deutschen Nordseeküste eine Klosterlandschaft. Ihren Höhepunkt fand die Bewegung im 12. und 13. Jahrhundert. Insgesamt lassen sich von Westfriesland über Groningen bis Ostfriesland etwa 120 Gründungen der verschiedenen Orden nachweisen. In Ostfriesland selbst gab es mehr als 30 Klöster, Stifte und Kommenden. Nach der Reformation wurden die Klöster säkularisiert und zum Teil als profane Gebäude genutzt. Die meisten wurden jedoch abgebrochen und das so gewonnene Baumaterial, etwa die Ziegel, zum Hausbau oder zur Anlage von Befestigungen für die Städte genutzt. Auch die Urkunden, Verträge, Bild- und Schriftquellen, die in ihnen aufbewahrt wurden, gingen größtenteils verloren. Ablösung der Grafengerichte, Konsularverfassung, Friesische Freiheit Gegen Ende der Karolingerzeit entstand ein Verbund zunehmend von den herrschaftlichen Gruppen im Kernland des Frankenreichs abgekoppelter Bezirke. Diese entsandten jährlich gewählte Vertreter, die so genannte „Redjeven“ (Rechtsprecher, Ratsmänner), die sowohl die Gerichtsbarkeit ausübten als auch ihre Bezirke führten. Die Gruppe der Großen reichte zwar teilweise bis zur fränkischen Eroberung zurück, doch blieb der in Europa verbreitete Feudalismus in Ostfriesland wenig entwickelt. Vielmehr verstanden sich die Friesen als von grundherrlichen Bindungen freie Bauern, die weder an die Scholle gebunden waren, noch Vasallitätsverhältnisse entwickelten, wie sie in den karolingischen Herrschaftsgebieten entstanden waren. Zwar gab es Unfreie, aber ihre Zahl dürfte gering gewesen sein. Die Ablösung der Grafengerichtsbarkeit durch die Konsularverfassung begann schon vor dem 12. Jahrhundert. Jedes Jahr versammelten sich vom 12. bis ins 14. Jahrhundert in der so genannten Friesischen Freiheit gewählte Abgesandte der sieben friesischen Seelande am dritten Pfingsttag am Upstalsboom nahe Aurich. Die Zahl sieben ist hierbei lediglich symbolisch zu verstehen, tatsächlich waren es Abgesandte aus mehr Landstrichen. Am Upstalsboom wurde Recht gesprochen und politische Entscheidungen von überregionaler Bedeutung getroffen. Die Abgeordneten wurden bereits zu Ostern in den Gauen gewählt. Urkundlich nachgewiesen sind diese Versammlungen zwischen 1216 und 1231 und von 1323 bis 1327. Ostfriesische Häuptlinge Im Verlauf des 14. Jahrhunderts zerfiel die Redjeven-Verfassung zusehends, wozu auch der Ausbruch der Pest und Sturmflutkatastrophen beigetragen haben mögen, in deren Gefolge viele der bedeutenden Familien verarmten. Auch hatten Feudalherren wie die Bischöfe von Münster oder die Grafen von Oldenburg ihre Bestrebungen keineswegs aufgegeben, den Norden ihrem Herrschaftssystem einzufügen. Diese Situation machten sich einige einflussreiche Familien zu Nutze und schufen ein Herrschaftssystem, in dem sie als Häuptlinge (hovedlinge) die Macht über mehr oder weniger weite Gebiete gewannen. Dabei etablierten sie weiterhin kein Feudalsystem, wie es im übrigen Europa zu finden war, sondern eher ein Gefolgschaftssystem, das älteren Herrschaftsformen germanischer Kulturen im Norden ähnelte, indem die Bewohner der jeweiligen Machtbereiche zwar in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Häuptling standen, diesem verschiedentlich verpflichtet waren, im Übrigen ihre Freiheit behielten und sich auch anderweitig niederlassen konnten. Bis Ende des 14. Jahrhunderts bildeten die Machtkämpfe der verschiedenen Häuptlingsfamilien ein lokales Problem. Nachdem die Vitalienbrüder durch den Deutschen Orden im Jahr 1398 von der Ostseeinsel Gotland vertrieben waren, fanden sie jedoch Aufnahme bei einigen der ostfriesischen Herrscher, die sie als Streitmacht einsetzten. Einer der Seeräuber, die in Ostfriesland Unterschlupf fanden, war Klaus Störtebeker. Er quartierte sich in Marienhafe ein, das damals noch an der Leybucht lag und somit Zugang zur offenen See hatte. Dadurch kam es zu erheblichen Spannungen mit der Hanse, deren Heere in der Folgezeit mehrfach in Ostfriesland einmarschierten. Vor allem die Städte Hamburg und Bremen sahen sich durch die Seeräuber geschädigt. Die Konflikte unter den Häuptlingen wurden durch das Engagement der Hanse jedoch nicht beseitigt, sondern eher noch verkompliziert. Die Hanse schlug 1401 eine erfolgreiche Seeschlacht vor Helgoland gegen die Seeräuber. Teile Ostfrieslands, darunter Emden, wurden besetzt, vor allem von hamburgischen Kräften. Sie zogen erst 1453 wieder aus Emden ab. Erst der Aufstieg der Cirksena um 1430, als Edzard Cirksena sich als Anführer eines Bundes der Freiheit durchgesetzt hatte, beendete diese von dauerhaften Fehden geprägte Phase, zugleich aber auch die Sonderstellung der regionalen Gesellschaftsverfassung. Ulrich Cirksena, ein Angehöriger eines der letzten einflussreichen Häuptlingsgeschlechter, wurde 1464 von Kaiser Friedrich III. in den Reichsgrafenstand erhoben und mit Ostfriesland als Reichsgrafschaft belehnt. Es gehörte zum Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis. Die Herrschaft der Cirksena (1464–1744) Unter der Herrschaft des 1662 in den erblichen Fürstenstand erhobenen Hauses Cirksena entwickelte sich Ostfriesland gesellschaftlich und wirtschaftlich vorteilhaft. Die größte Ausdehnung erreichte die Grafschaft unter Edzard dem Großen, dem Cirksena-Herrscher, unter dessen Herrschaft auch die Ausbreitung der Reformation in Ostfriesland begann und das Ostfriesische Landrecht konzipiert wurde. In dieser Zeit (1547–1625) lebte auch Ubbo Emmius, Humanist, Historiker und erster Rektor der Universität Groningen. Die Grafen konnten in Ostfriesland allerdings keine starke Adelsherrschaft wie in den anderen Staaten des Reiches durchsetzen, da die friesischen Stände ihre Freiheitsrechte weitgehend zu wahren und verteidigen wussten. Bereits um 1520 hielt die Reformation Einzug in Ostfriesland. Anders als in den meisten Regionen war es jedoch nicht die Obrigkeit, die hier federführend war. Zwar unterstützte Graf Edzard I. die Verbreitung der neuen Lehre, war in seiner Position jedoch zu schwach, um ein bestimmtes Bekenntnis durchzusetzen. So existierten Katholizismus, lutherischer Protestantismus und Calvinismus in Ostfriesland nebeneinander, ohne dass dabei eine Konfession die Oberhand gewinnen konnte. Vielmehr setzte sich eine Spaltung des Landes in einen lutherischen Osten und einen calvinistischen Westen durch. Vor allem die Stadt Emden profitierte in den Folgejahren vom Zuzug von Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden, die etwa Menno Simons aus Witmarsum führte – nach ihm wurden die Mennoniten benannt –, aber auch aus Frankreich und England. Zeitweise sah es so aus, als ob die Stadt ein drittes reformatorisches Zentrum neben Wittenberg und Genf werden könnte. Die Stadt agierte immer selbstbewusster gegenüber dem Grafen. Die Spannungen gipfelten 1595 in der Emder Revolution, bei der Graf Edzard II. gezwungen wurde, seine Residenz nach Aurich zu verlegen und auf den Großteil seiner Rechte in Emden zu verzichten. Schon Ocko I. tom Brok soll im 14. Jahrhundert Juden nach Ostfriesland geholt haben, wahrscheinlich reichen die Kontakte aber erheblich weiter zurück, zumal Friesen wie Juden sehr stark im Fernhandel tätig waren. Die älteste Synagogengemeinde entstand um 1550 in Emden; weitere Gemeinden entstanden in allen größeren Orten. 1568 geriet Ostfriesland in die Auseinandersetzungen der niederländischen Freiheitskriege, als niederländische Truppen, die so genannten Geusen, unter ihrem Anführer Ludwig von Nassau-Dillenburg nach der Schlacht von Heiligerlee ins Rheiderland auswichen. Spanische Truppen unter Herzog Alba folgten ihnen. Am 21. Juli 1568 trafen die beiden Verbände in der Schlacht von Jemgum aufeinander, die mit einem Sieg der Spanier endete. Albas Heer zog anschließend drei Tage lang plündernd, brandschatzend und vergewaltigend durch das Rheiderland. Während des Dreißigjährigen Krieges litt Ostfriesland große Not durch die Truppen des Grafen von Mansfeld. Die einzige Ausnahme bildete Emden, da der kurz zuvor fertiggestellte Emder Wall die Stadt vor der Eroberung schützte. Die Stadt erlebte von 1570 bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges ihre größte Blütezeit und wurde einer der wichtigsten europäischen Hafen- und Reedereistandorte. Dies war in erster Linie der großen Zahl niederländischer Glaubensflüchtlinge geschuldet, die sich in der Seehafenstadt niederließen. Mehrere Tausend Kaufleute, Reeder und Handwerker siedelten sich in der Stadt an, die Einwohnerzahl stieg um 1600 auf annähernd 15.000. Emden war damit in dieser Zeit eine der führenden Hafenstädte (Nord-)Europas. Die Stadt war zudem durch das Wirken reformierter Prediger auch eine Hochburg des Calvinismus. Emder Kaufleute gründeten 1633 die erste Fehnsiedlung Ostfrieslands, (West-)Großefehn. Der 1618 ausgebrochene Dreißigjährige Krieg hatte für Ostfriesland zunächst keine militärischen Folgen, und auch später fanden hier keine Kämpfe statt. Stattdessen fungierte die Gegend als Ruheraum für einige Truppen mit verheerenden Folgen, da diese sich an der Bevölkerung schadlos hielten. Von 1622 bis 1624 waren es die Truppen von Mansfeld, von 1637 bis 1651 waren es hessische Truppen. 1647 fiel der römisch-katholische kaiserliche Feldgeneral Guillaume de Lamboy in Ostfriesland ein, um die Truppen des schwedisch-protestantischen Feldmarschalls Hans Christoph von Königsmarck zum Abzug von der Belagerung Paderborns zu bewegen. Dem Dreißigjährigen Krieg folgte eine unvergleichliche Machtentfaltung der ostfriesischen Stände, die sich weitgehend unabhängig vom jeweiligen Landesherrn machten. Der Versuch, die landesherrliche Macht wiederherzustellen, schlug fehl. Aus der Vertretung der ostfriesischen Stände ging später die Ostfriesische Landschaft hervor, die noch deren Wappen führt, sich inzwischen aber von einer politischen Institution zu einer Einrichtung der Kulturpflege gewandelt hat. Das Fürstentum Ostfriesland kam unter den Einfluss der Niederlande und lehnte sich politisch, kulturell und wirtschaftlich eng an diese an. Die Niederlande stationierten an zentralen Orten Truppen, darunter in Leerort bei Leer und in Emden. Während des Holländischen Krieges von 1672 bis 1679 durchzogen Truppen verschiedener Staaten Ostfriesland, das den Abzug durch Zahlungen erkaufen musste. Kampf zwischen Fürstenhaus und Ständen, Brandenburg-Preußen Christine Charlotte, Regentin von Ostfriesland, nutzte diese Situation aus und handelte 1676 einen Schutzvertrag mit dem Fürstbischof von Münster aus, um ihren Herrschaftsanspruch gegen die Stände durchsetzen zu können. Anfang September 1676 marschierten schließlich acht münsterische Kompanien Infanterie als Grenzschutz nach Ostfriesland ein. Die Stände benötigten nun ihrerseits eine Schutzmacht, um das innenpolitische Übergewicht der Fürstin wieder ausgleichen zu können, wofür sich Brandenburg anbot. Dieses interessierte sich für Ostfriesland, weil auf diese Art die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie von Königsberg an den strategisch viel besser gelegenen Hafen von Emden verlegt werden konnte, zumal dieser zu der Zeit als einer der besten Europas galt. Dabei nutzte Kurfürst Friedrich Wilhelm 1682 die erneut aufflammenden Konflikte zwischen dem Fürstenhaus und den ostfriesischen Ständen. Vor allem die Stadt Emden war an einer Schwächung des Fürstenhauses interessiert und einigte sich mit dem brandenburgischen Herrscher. Dieser ließ Truppen in Ostfriesland aufmarschieren. Im November 1682 landeten brandenburgische Truppen unter Wilhelm von Brandt vor Greetsiel. Am 6. November erfolgte die Einnahme der Burg Greetsiel, nachdem die Stände in Emden dies gebilligt hatten und die nur 16 Mann starke Garnison im Einvernehmen kapitulierte, woraufhin am 22. April 1683 ein Handels- und Schifffahrtsvertrag mit den Ständen Emdens ausgehandelt wurde. Fortan wurde Emden der Stammsitz der Brandenburgisch-Afrikanischen Compagnie und Vorposten Brandenburg-Preußens. Die Weihnachtsflut im Jahre 1717 hatte für Ostfriesland verheerende Folgen. In der gesamten Grafschaft verloren 2787 Menschen ihr Leben (etwa 3,6 Prozent der Bevölkerung) durch die Auswirkungen der Flut. Auch der Viehbestand erlitt starke Verluste. Insgesamt ertranken 2186 Pferde, 9430 Rinder, 1031 Schweine sowie 2682 Schafe. Auf die Verheerungen der Flut folgte eine Phase des wirtschaftlichen Niedergangs und der Armut. 1726/27 kam es zum so genannten Appell-Krieg, der sich in einem erneuten Konflikt zwischen dem Fürsten Georg Albrecht und einem Teil der Stände äußerte, die sich in „gehorsame“ und „renitente“ aufspalteten. Der Fürst ging als Sieger aus diesem Konflikt hervor. Selbst die an der Spitze der renitenten Stände stehende Stadt Emden unterwarf sich. Durch Verhandlungsfehler des Kanzlers von Georg Albrecht, Enno Rudolph Brenneysen, kam es jedoch nicht zu einer friedlichen Einigung der an dem Konflikt beteiligten Parteien. Obwohl Kanzler und Fürst eine strenge Bestrafung der Renitenten forderten, wurden diese 1732 vom Kaiser amnestiert. Als Fürst Georg Albrecht am 11. Juni 1734 starb, übernahm Carl Edzard im Alter von 18 Jahren die Amtsgeschäfte als letzter noch lebender Nachkomme von Georg Albrecht. Auch er konnte die Konflikte mit den Ständen nicht lösen. Zu dieser Zeit wurden die Weichen für die Machtübernahme Preußens in Ostfriesland gestellt. Eine wichtige Rolle nahm hierbei die Stadt Emden ein, die nach dem Appell-Krieg politisch isoliert und wirtschaftlich stark geschwächt war. Ziel der Emder Stadtspitze war es, die Stellung als ständische Hauptstadt und Handelsmetropole zurückzugewinnen. Ab 1740 setzte sich die Meinung durch, dass dieses Ziel mit preußischer Hilfe erreicht werden könnte. Dazu sollte ein Vertragswerk geschaffen werden, das die preußische Anwartschaft anerkannte. Die wirtschaftliche Position Emdens sollte durch Schutzmaßnahmen und Förderungen gestützt und die bestehenden Privilegien (etwa das Stapelrecht) der Stadt bestätigt werden. Die Verhandlungen auf preußischer Seite führte der Direktorialrat im niederrheinisch-westfälischen Reichskreis, Sebastian Anton Homfeld, der am 8. November 1740 ein erstes Gutachten über die Verfahrensweise beim Eintritt des Erbfalls vorlegte. Homfeld galt als einer der führenden Vertreter der renitenten Stände. Nach anfänglichen Schwierigkeiten kam es am 14. März 1744 zum Abschluss von zwei Verträgen, die zusammenfassend als Emder Konvention bezeichnet werden. Zum einen war dies die Königliche Special-Declarations- und Versicherungsakte, zum anderen die Agitations- und Konventionsakte, in der vornehmlich wirtschaftliche Regelungen getroffen wurden. Des Weiteren stützte sich Preußen auf die von Kaiser Leopold I. 1694 ausgestellte Expektanz, die das Recht auf Belehnung des Fürstentums Ostfriesland für den Fall fehlender männlicher Erben sicherstellte. Trotz des Widerstands des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg setzte sich Preußen im Bemühen um Ostfriesland durch. Von der ersten zur zweiten preußischen Herrschaft (1744–1871) Als am 25. Mai 1744 Carl Edzard, der letzte ostfriesische Fürst aus dem Hause Cirksena, starb, machte König Friedrich II. von Preußen sein Nachfolgerecht geltend, das in der Emder Konvention geregelt war. Er ließ Ostfriesland von Emden ausgehend ohne Widerstand besetzen, worauf am 23. Juni das Land der Krone huldigte. Die Landeshauptstadt Aurich blieb Sitz der Landesbehörden, erhielt eine Kriegs- und Domänenkammer und wurde Regierungshauptstadt der preußischen Provinz Ostfriesland. Das gesamte Inventar des Schlosses, darunter die ostfriesische Fürstenbibliothek und das Mobiliar, wurde in mehreren Auktionen versteigert, so dass davon heute kaum noch etwas erhalten ist. Die preußische Herrschaft brachte für Ostfriesland einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung und die verstärkte Öffnung nach außen. Zudem profitierte die Stadt Emden von der Einrichtung eines Freihafens im Jahr 1751. 1754 wurde per königlichem Befehl die Einrichtung einer Feuerversicherung angeordnet – die noch in öffentlichem Besitz befindliche Ostfriesische Landschaftliche Brandkasse. Auch das Postwesen wurde ausgebaut. Mit dem Urbarmachungsedikt von 1765 begann die Moorkolonisierung und die Gründung vieler neuer Fehnsiedlungen. Preußen erkannte die selbstständige Stellung Ostfrieslands innerhalb des Staates an und setzte einen weitgehend autonom regierenden Kanzler ein. Der erste Kanzler war der oben genannte, äußerst einflussreiche Sebastian Anton Homfeld aus einer rheiderländischen Honoratiorenfamilie, dem Gerüchte die Vergiftung des letzten ostfriesischen Fürsten zuschreiben. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt (1806) und dem daraufhin erfolgten Frieden von Tilsit (1807) ging Ostfriesland zunächst an Frankreich und wurde im März 1808 an das unter der Regentschaft von Napoleons Bruder Louis Bonaparte stehende Königreich Holland abgetreten. 1810 kam es als Departement Ems-Oriental (Ost-Ems) unmittelbar zum französischen Kaiserreich. Das westliche Ostfriesland (Rheiderland) wurde aufgrund alter niederländischer Ansprüche aus Ostfriesland ausgegliedert und dem niederländischen Departement Ems-Occidental mit der Hauptstadt Groningen zugeschlagen. Frankreich brachte moderne Rechtsvorstellungen nach Ostfriesland und unternahm die ersten Schritte zu einem umfassenden Umbau des Gesellschaftssystems. Auf Anordnung Napoleons mussten die Ostfriesen 1811 die bisher dort unbekannten Familiennamen annehmen und ihr bisheriges kompliziertes System der patronymischen Namensvererbung aufgeben – dies setzte sich aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig durch. Es wurden auch erstmals Bürgermeister in den Dörfern eingeführt. Die Dorfgesellschaften kannten bis dahin keine zentrale Verwaltungsstelle, da die Verantwortung auf die Olderlinge, Deichgrafen und andere lokale Honoratioren gleichmäßig verteilt war. Außerdem wurde der Code civil eingeführt. Zur Durchsetzung der Kontinentalsperre wurden zahlreiche französische Zollbeamte eingesetzt, deren Nachkommen teils noch immer in Ostfriesland leben. Einige Ostfriesen wurden in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit durch den England-Schmuggel wohlhabend, unter anderem mit Tee. Dennoch empfanden die meisten (auch die hier lebenden Juden, denen unter holländischer und später unter französischer Besetzung die Bürgerrechte und die völlige Gleichberechtigung zugestanden wurde) die Fremdherrschaft als bedrückend und beteiligten sich an den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Nach der Niederlage Napoleons und dem Zusammenbruch seiner Herrschaft zogen in den Jahren 1813 bis 1815 erneut die Preußen ein. Ostfriesische Soldaten nahmen an den Schlachten von Ligny und Belle-Alliance (Waterloo) teil. Die Hoffnungen, preußisch zu bleiben, wurden jedoch durch den Wiener Kongress 1814/15 enttäuscht. Preußen musste Ostfriesland an das Königreich Hannover abtreten. Federführend war dabei das Vereinigte Königreich, das die Festsetzung Preußens an der Nordseeküste verhindern wollte. Dazu heißt es in Artikel 27 der Schlussakte des Wiener Kongresses: „Der König von Preußen tritt an den König von Großbritannien und Irland sowie Hannover das Fürstentum Ostfriesland ab unter den Bedingungen, die im Artikel 5 über die Emsschifffahrt und den Handel im Emder Hafen gegenseitig festgelegt sind. Die Stände des Fürstentums werden ihre Rechte und Privilegien behalten.“ Die folgende Zeit war geprägt von wirtschaftlichem Stillstand, teilweise Rückschritt. Zur Verwaltung des neuen Gebietes wurde am 17. Juni 1817 eine Provinzialregierung mit Sitz in Aurich gebildet. 1823 wurde daraus die Landdrostei Aurich als Mittelbehörde des Königreichs. Zu dieser Zeit lebten etwa 142.000 Einwohner in Ostfriesland. Bis zum Ende der hannoverschen Zeit erhöhte sich die Einwohnerzahl um etwa 37 Prozent auf 194.033. Die schlechten Wirtschaftsbedingungen – die trotz des Baus der Hannoverschen Westbahn 1854–1856, der zunächst Leer und Emden an das Eisenbahnnetz anschloss, lange andauerten – führten zu einer Auswanderungswelle von Ostfriesen in die USA, die etwa um 1848/50 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ziele der Ostfriesen waren vor allem die Staaten Illinois und Iowa, in denen es noch heute Regionen gibt, in denen Plattdeutsch gesprochen wird. Die Auswanderer zogen bevorzugt mit Menschen zusammen, mit denen sie schon in ihren Heimatdörfern zusammengelebt hatten. Von 1882 bis 1971 erschien in den Vereinigten Staaten die Zeitung Ostfriesische Nachrichten – Heimatblatt der Ostfriesen in Amerika. Als das Land mit der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866 wieder preußisch wurde und sich daraus ein Entwicklungsschub ergab, wurde dies in Ostfriesland allgemein beifällig aufgenommen. Darüber hinaus setzte sich die kulturelle Verbindung mit Deutschland (Duitsland) endgültig durch und die Verwendung der hochdeutschen Sprache in der Schule wurde üblich (in manchen Gebieten wurde zuvor noch Niederländisch und auch ostfriesisches Platt gesprochen). Preußische Provinz im Deutschen Reich, Erster Weltkrieg (1871–1918) Ostfriesland war ab 1866 Teil der preußischen Provinz Hannover. Aus der Landdrostei wurde der preußische Regierungsbezirk Aurich gebildet, wobei die Bezeichnung Landdrostei ebenso wie die Ämterstruktur noch bis 1885 erhalten blieben. In jenem Jahr wurden die Landkreise Aurich, Emden (ohne Stadt Emden), Leer, Norden, Weener und Wittmund gebildet. Als kreisfreie Stadt kam Emden hinzu. In den Jahren 1880 bis 1888 wurde der Ems-Jade-Kanal erbaut. Seine Entstehung verdankte er dem Wunsch Preußens, seinen als Exklave im damaligen Großherzogtum Oldenburg gelegenen Kriegshafen Wilhelmshaven über den Wasserweg mit dem preußischen Ostfriesland, zu dem Wilhelmshaven politisch gehörte, und hier insbesondere dem Emder Hafen zu verbinden. Wirtschaftlich blieben Ackerbau und Viehzucht, insbesondere die Rinderzucht dominierend. Aurich und Leer waren zu dieser Zeit wichtige Viehhandelsplätze. Die Industrialisierung fand hingegen nur sehr zögerlich statt. Bedeutung erlangten die Werften in Leer und Emden. Hier lagen auch die Handelszentren des Regierungsbezirks. Bei der wirtschaftlichen Förderung konzentrierte sich der preußische Staat auf Emden. Die Stadt entwickelte sich infolgedessen zum Seehafen des Ruhrgebiets und bedeutenden Umschlagplatz für Massengüter wie Erze und Kohle. Einen Anschub leistete dabei der 1899 fertiggestellte Dortmund-Ems-Kanal. 1913 wurde in der Stadt die Große Seeschleuse eingeweiht. Mit einer Binnenlänge von 260 Metern galt sie damals als eine der größten Seeschleusen der Welt. Mit dem Bau wurde auch ein neues Hafenbecken angelegt, der Neue Binnenhafen. Die Einfuhr im Emder Hafen steigerte sich von 75.000 Tonnen im Jahr 1899 auf 1,5 Millionen Tonnen im Jahre 1913. Dieser Entwicklung folgten die anderen Städte nur bedingt. Lediglich in Leer gab es ein bescheidenes Wachstum, nachdem der Hafen von 1901 bis 1903 modernisiert worden war. Das Bevölkerungswachstum in der Region setzte sich fort. Im Jahre 1905 lebten 251.666 Menschen in Ostfriesland, etwa 30 Prozent mehr als zu Beginn der preußischen Herrschaft. Um die Jahrhundertwende setzte ein Wirtschaftswachstum ein, das bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges anhielt. Wie im übrigen Reich wurde in Ostfriesland der Beginn des Krieges begeistert gefeiert. Viele junge Männer meldeten sich freiwillig zum Dienst. Das in Aurich stationierte Ostfriesische Infanterie-Regiment Nr. 78. wurde zunächst in Richtung Belgien geschickt und kam im Verlaufe des Krieges sowohl an der Westfront als auch an der Ostfront zum Einsatz. Nach dem Ende des Krieges wurde es Mitte 1919 aufgelöst. Einen Tag vor Abdankung des Kaisers wurde in Aurich und Emden am 8. November 1918 der erste Soldatenrat zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ gegründet. Wenig später folgten Leer, Norden, Esens, Wittmund und Dornum. Am 10. November 1918 wurde vor rund 100.000 begeisterten Demonstranten in Wilhelmshaven die Nordseestation und alle umliegenden Inseln und Marineteile sowie das dazugehörige Oldenburger Land zur sozialistischen Republik Oldenburg/Ostfriesland ausgerufen. Zum Präsidenten wurde Bernhard Kuhnt ernannt – eine Episode, die jedoch ohne Folgen für Ostfriesland blieb. In der ländlichen, eher konservativ ausgerichteten Bevölkerung Ostfrieslands konnten sich die Arbeiter- und Soldatenräte nicht etablieren, so lösten sie sich dort nach der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung nach und nach auf. Weimarer Republik In der Weimarer Republik wurde in Person von Jann Berghaus 1922 erstmals wieder ein Ostfriese Regierungspräsident in Aurich. Diese Position hielt er bis zum Preußenschlag 1932 inne. Ostfriesland als vorwiegend ländlich geprägte Region hatte nach dem Ersten Weltkrieg während der Hochinflation eine wirtschaftlich relativ günstige Phase erlebt. Mit ihren Überschüssen bedienten die Bauern einen Markt, der schnell wuchs. Während industrialisiertere Regionen und Städte erst mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in die Rezession gerieten, kam es in Ostfriesland schon nach der Währungsreform 1923/1924 – die stabile Währung bedeutete den „Wiedereintritt“ Deutschlands in den Weltmarkt und damit in den Lebensmittel-Import – zu einem starken Preisverfall bei Agrarprodukten um bis zu 40 Prozent. Dies führte beispielsweise in der stark von der Landwirtschaft abhängigen Stadt Aurich zu einer fatalen Kettenreaktion. Der Wert der Höfe halbierte sich, die Landbevölkerung verarmte. Dadurch kam es häufig zu Zwangsversteigerungen unter Wert, was mit einer gewissen Verzögerung die Banken in eine Krise führte und schließlich Handwerk und Handel mit sich riss. Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt, Kredite nicht mehr bedient werden. Maßnahmen der Bezirksregierung, um die Konjunktur durch staatliche Nachfrage wieder anzukurbeln, wie Investitionen in Deichbau- und Landgewinnungsprojekte, die Moorkultivierung und den Bau mehrerer Schöpfwerke, blieben wirkungslos. Die Stadt Emden war zudem durch die Ruhrbesetzung vom Ruhrgebiet als ihrem wichtigsten wirtschaftlichen Hinterland abgeschnitten. Die Ein- und Ausfuhr von Erz und Kohle nahmen ab. Dadurch kam die heimische Industrie, namentlich der Schiffbau, zum Erliegen. Die folgenden Jahre waren geprägt durch eine hohe Arbeitslosigkeit, Streiks, Rezession. In dieser Zeit breitete sich der bis dato unbedeutende Antisemitismus in Ostfriesland aus, der sich unter anderem gegen den jüdischen Viehhandel richtete, dem manche in der Zeit der damaligen Agrarkrise mit Vorurteilen und Misstrauen begegneten. Vor allem der Fall des Borkumer Pastors Ludwig Münchmeyer, der mit antisemitischen Hasstiraden das Publikum aufhetzte und anschließend im sogenannten Münchmeyer-Prozess gezwungen wurde, sein Amt als Pastor aufzugeben, erregte dabei reichsweites Aufsehen. 1932 wurde in Ostfriesland eine Kreisreform vorgenommen. Der Kreis Weener wurde aufgelöst und in den Landkreis Leer integriert. Der Kreis Emden wurde ebenfalls aufgelöst, nachdem die kreisfreie Stadt Emden bereits vier Jahre zuvor einige Gebiete des Kreises eingemeindet hatte. Der Großteil des Kreises Emden, darunter das Gebiet der heutigen Gemeinden Krummhörn, Hinte und Wirdum (Ostfriesland), kam zum Landkreis Norden, ein kleinerer Teil (Oldersum, Tergast) zum Landkreis Leer, der dadurch nahezu seine heutige Größe erreichte. Bei den Reichstagswahlen von 1932 wählten 44,2 % der Stimmberechtigten im Regierungsbezirk Aurich die NSDAP. Die Wahl von 1933 besiegelte schließlich das Ende der Demokratie auch in Ostfriesland. Nationalsozialismus Bei den Reichstagswahlen am 5. März erreichten die Nationalsozialisten 47,5 Prozent der in Ostfriesland abgegebenen Stimmen, in einzelnen Orten wie etwa Oldersum fast 70 Prozent. Im Landkreis Wittmund erzielte die Partei mit 71 Prozent der abgegebenen Stimmen ihr Spitzenergebnis. Mit Verleumdungskampagnen, teilweise auch mit roher Gewalt, wurden nach der so genannten Machtergreifung demokratisch gewählte Politiker aus dem Amt gedrängt: In Leer wählte Bürgermeister Erich vom Bruch nach massiven Vorwürfen und Drohungen im Mai 1933 den Freitod, im Oktober wurde Emdens Oberbürgermeister Wilhelm Mützelburg bedrängt und nach körperlichen Misshandlungen durch Nationalsozialisten im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Rathaus geworfen“. Die Medien wurden gleichgeschaltet, was auf nur geringen Widerstand traf. Wichtigstes Organ der NSDAP in Ostfriesland war die 1932 gegründete Ostfriesische Tageszeitung (OTZ), die zum Leitmedium wurde. Verbände und Vereine wurden nach dem Führerprinzip strukturiert, jüdische Mitglieder hinausgedrängt und die freie Marktwirtschaft eingeschränkt. Auch in die Verwaltungsstrukturen griffen die Nationalsozialisten ein: Ostfriesland zählte nun zum Gau Weser-Ems der NSDAP. Nach der Machtergreifung Anfang 1933 hatten vor allem die Juden unter Repressionen staatlicher Organe zu leiden. Sozialisten und Kommunisten wurden in Schutzhaft genommen und zum Teil in Konzentrationslagern inhaftiert. Zwei Monate nach der Machtergreifung und vier Tage früher als in anderen Teilen des deutschen Reiches begann in Ostfriesland der Boykott jüdischer Geschäfte. Am 28. März 1933 postierte sich die SA vor den Geschäften. In der Nacht wurden in Emden 26 Schaufensterscheiben eingeworfen, was die Nationalsozialisten später den Kommunisten anlasten wollten. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 beteiligten sich ostfriesische SA-Truppen an den von der Reichsleitung der Nationalsozialisten befohlenen Ausschreitungen gegen die Juden, die später als Reichskristallnacht oder Novemberpogrome 1938 bezeichnet wurden. In dieser Nacht wurden die Synagogen von Aurich, Emden, Esens, Leer, Norden und Weener niedergebrannt. Die Synagoge in Bunde war schon vor 1938 an den Kaufmann Barfs verkauft und abgerissen worden. Die Synagoge von Jemgum war bereits um 1930 verfallen. In damals noch zu Ostfriesland gehörenden Neustadtgödens hatte ein Kaufmann das Gebäude 1938 erworben und nutzte es als Farblager, weshalb die Nazis wahrscheinlich kein Feuer legten. Die Synagoge von Norderney wurde 1938 verkauft, die in Wittmund war im Juni 1938 auf Abbruch verkauft worden. Erhalten ist heute nur noch die Synagoge von Dornum, welche am 7. November 1938 an einen Tischler verkauft wurde. Alle männlichen Juden wurden zusammengetrieben und nach zum Teil stundenlanger Schikane über Oldenburg in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, aus dem sie erst nach Wochen zurückkehren konnten. Die Diskriminierung hielt weiter an, und zwei Jahre später, im April 1940, meldeten die ostfriesischen Städte und Landgemeinden dem Regierungspräsidenten, früher als anderswo im Reich, dass sie „judenfrei“ seien. Zweiter Weltkrieg Die Kriegsvorbereitungen begannen auch in Ostfriesland sehr früh. Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurden nach Aurich auch Emden und Leer Garnisonsstädte. Während des Zweiten Weltkrieges war Emden als wirtschaftliches wie industrielles Zentrum Ostfrieslands mehrfach Ziel von Luftangriffen, die jedoch zunächst nur geringere Schäden anrichteten. Am 27. September 1943 fanden in Esens 165 Menschen bei einem Bombenangriff den Tod. Das „Armen- und Arbeiterhaus“ wurde völlig zerstört, im Keller des Gebäudes starben 102 Schul- und Landjahrkinder. Esens – selbst ohne militärische Bedeutung – wurde als so genanntes „Target of Opportunity“ (Gelegenheitsziel) von verirrten Bombern getroffen, die eigentlich Emden als Ziel hatten. Aurich wurde während des Krieges dreimal bombardiert. Dabei kamen 17 Menschen ums Leben und 24 wurden verletzt. Am 6. September 1944 wurde Emden erneut bombardiert. Beim Angriff alliierter Bomber wurden rund 80 Prozent der Innenstadt und damit fast die gesamte historische Bausubstanz zerstört. Emden gehört damit zu den zehn am stärksten vom Bombenkrieg in Mitleidenschaft gezogenen deutschen Städten, bezogen auf den Prozentsatz der zerstörten Wohnungen. Gegen Ende des Krieges wurde 1944 das KZ Engerhafe errichtet. Die hier unter unmenschlichen Bedingungen Inhaftierten mussten Panzergräben rund um die zur Festung erklärte Stadt Aurich ausheben. Kurz vor der Fertigstellung der „Rundumverteidigung Aurichs“ wurde das Lager am 22. Dezember 1944 aufgelöst. Innerhalb der zwei Monate seines Bestehens starben 188 Häftlinge. Ende April 1945 erreichten alliierte Bodentruppen Ostfriesland. Am 30. April wurde Leer von kanadisch-englischen Truppen eingenommen. Bis zum 2. Mai erreichten sie auch Oldersum und Großefehn. Am 3. und 4. Mai 1945 verhandelte eine Delegation aus Aurich erfolgreich mit den heranrückenden Kanadiern über die kampflose Übergabe der Stadt. Die Kampfhandlungen in Aurich wurden dann jedoch auf Grund der Waffenstillstandverhandlungen auf höherer Ebene eingestellt. Am 4. Mai unterzeichnete Hans-Georg von Friedeburg bei Lüneburg im Auftrag des letzten Reichspräsidenten Karl Dönitz, der sich mit der letzten Reichsregierung nach Flensburg-Mürwik abgesetzt hatte, die Teilkapitulation der Wehrmacht für Nordwestdeutschland, Dänemark und die Niederlande. Die Kampfhandlungen in Ostfriesland endeten damit am 5. Mai 1945 um acht Uhr. Nachkriegszeit Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Ostfriesland Teil der britischen Besatzungszone. Dabei waren auch kanadische Soldaten in Ostfriesland stationiert. In den Niederlanden gab es Überlegungen, einige Gebiete Deutschlands zu annektieren. Dabei wurde auch Ostfriesland ins Auge gefasst. Insbesondere auf den Dollart, die Emsmündung und Borkum hatten es die Niederlande abgesehen, um Emden vom Seehandel abzuschneiden. Diese Pläne scheiterten jedoch am Widerstand der Westalliierten. Am 23. August 1946 zerschlugen die Briten das Land Preußen und bildeten aus dessen ehemaliger Provinz Hannover das Land Hannover, aus dem gemeinsam mit den Ländern Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe bereits am 1. November 1946 das Land Niedersachsen hervorging. Die politische Einheit Ostfrieslands blieb auch nach 1946 unter dem Namen „Regierungsbezirk Aurich“ erhalten; der Bezirk wurde zunächst Teil des Landes Hannover, später Niedersachsens. Ostfriesland wurde von vielen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches bevölkert. Lebten 1945 noch etwa 295.600 Einwohner in der Region, waren es ein Jahr später bereits 364.500, 1948 bereits 390.334 Einwohner. 1950 wurde mit 391.570 Einwohnern das vorläufige Maximum erreicht, unter ihnen stellten die Vertriebenen 16,3 Prozent. 1959 hatte Ostfriesland 358.218 Einwohner, davon 38.678 Heimatvertriebene, was einem Anteil von 10,8 Prozent entsprach. Der Wiederaufbau nach dem Krieg dauerte in Emden aufgrund der massiven Zerstörungen am längsten. Noch zu Beginn der 1960er Jahre gab es in der Stadt Barackenlager. Wirtschaftswunder, Verwaltungsreformen, kulturelles Eigenbewusstsein Im Zuge der niedersächsischen Kommunalreform wurde 1972 die vormals ostfriesische Gemeinde Gödens in die oldenburgische Gemeinde Sande eingegliedert. Umgekehrt wurde der Ort Idafehn, der zuvor zur Gemeinde Strücklingen im Landkreis Cloppenburg gehört hatte, 1974 der Gemeinde Ostrhauderfehn im Landkreis Leer zugeschlagen. 1977 gab es letzte kleinere Änderungen im Bereich der Grenze zwischen den Gemeinden Ostrhauderfehn und Saterland. Innerhalb Ostfrieslands wurden viele kleine Gemeinden mit einer teils nur dreistelliger Einwohnerzahl zu größeren Gemeinden oder Samtgemeinden verschmolzen. Auch haben Städte in größerem Umfang umliegende Gemeinden eingegliedert. Damit war im Wesentlichen der heutige Zustand hergestellt. Zum 31. Januar 1978 wurde der Regierungsbezirk Aurich mit den Bezirken Osnabrück und Oldenburg im Regierungsbezirk Weser-Ems zusammengefasst. Seither ist Ostfriesland somit keine eigenständige Verwaltungseinheit mehr. Lediglich die Ostfriesische Landschaft als Landschaftsverband ist weiterhin ostfrieslandweit tätig – politisch jedoch lediglich auf dem Gebiet der Kulturpolitik, wozu unter anderem die Pflege des Plattdeutschen, die Aufarbeitung der Geschichte Ostfrieslands, die Bewahrung des Kulturerbes und seit 2006 auch Teile des Regionalmarketings gehören. „Die Landschaft“, wie sie kurz genannt wird, ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und ein höherer Kommunalverband, jedoch explizit keine Gebietskörperschaft. Die Landschaftsversammlung als oberstes Organ setzt sich aus gewählten Vertretern zusammen, die von den drei Kreistagen und dem Emder Stadtrat zu benennen sind und versteht sich als identitätsstiftende Institution aller Ostfriesen. Unter den Landschaften und Landschaftsverbänden in Niedersachsen ist die Ostfriesische Landschaft, 1464 entstanden, mit weitem Abstand die älteste – alle anderen wurden erst im 20. Jahrhundert gegründet. 1964 wurde mit dem Bau des Volkswagenwerks Emden begonnen, dem bis heute wichtigsten Industriebetrieb der Region. 1977 lief dort der letzte in Deutschland gebaute VW Käfer vom Montageband. 1984 wurde in Aurich der Windenergie­anlagen­hersteller Enercon gegründet, der heute etwa 3000 Beschäftigte in Ostfriesland zählt. In den 1980er Jahren begann der Aufstieg Leers zum zweitgrößten deutschen Seereedereistandort nach Hamburg. Ende der 1960er Jahre ist der Ostfriesenwitz aufgekommen; seine Entstehungsgeschichte erklärt, warum es diese Witze nur über die Ostfriesen gibt und nicht auch über die Nordfriesen. Mit der Nordseehalle in Emden (1972), der Kunsthalle in Emden (1986), der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden (1995) und kleineren Museen in anderen ostfriesischen Orten wurde die kulturelle Infrastruktur seit Anfang der 1970er Jahre stark ausgebaut. 21. Jahrhundert Zu Beginn der 2000er Jahre traf die Werftenkrise Ostfriesland. So stellten in Emden die Cassens-Werft 2018 und die Nordseewerke nach mehreren Eigentümerwechseln unter dem Namen Fosen Yards 2022 ihren Betrieb ein. Im Bereich der Windkraftindustrie kündigte Enercon 2019 einen massiven Stellenabbau an. Demgegenüber will Volkswagen kräftig in seinen Standort Emden investieren: Im Zuge der Umstellung auf die Produktion von Elektroautos sollen etwa eine Milliarde Euro nach Emden fließen. Eine weitere Großinvestition kündigte die EWE 2022 an. Der regionale Energieversorger will in Emden für eine knappe halbe Milliarde Euro eine Großanlage zur Produktion von Wasserstoff bauen. Die Corona- und die Energie-Krise nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine 2022 trafen die Tourismusbranche und den Einzelhandel in Ostfriesland schwer. Mit dem Neubau der B 210 zwischen der Anschlussstelle Riepe (A 31) und Aurich sowie einer Ortsumgehung für die Stadt Aurich will das Land Niedersachsen die Anbindung des mittelostfriesischen Raumes und der Stadt Aurich an das Autobahnnetz sowie die touristische Erschließung der Region verbessern. Das Vorhaben wird intensiv diskutiert und spaltet Ostfriesland in Gegner und Befürworter. Der Fahrgastverband Pro Bahn, das Nahverkehrsbündnis Niedersachsen und Teile der Politik sprechen sich weiterhin für einen Bahnanschluss für Aurich aus. Auch eine Reaktivierung der Strecke Esens – Norden steht im Raum. Als Küstenregion ist Ostfriesland besonders stark vom Klimawandel betroffen. Dabei sorgt der steigende Meeresspiegel für Probleme im Küstenschutz und der Entwässerung. Während Klimadeiche die Region vor Anstieg des Meeresspiegels schützen sollen, befürchten Experten, dass der Wasserstand der Nordsee um 2060 so hoch ist, dass das überschüssige Wasser aus dem Binnenland nicht mehr von selbst abfließen kann. Dieses müsste dann mit viel Energie und unter hohen Kosten ins Meer gepumpt werden. Problematisch wird auch die ungleiche Verteilung des Niederschlags: Im Winter wird es erheblich mehr regnen, im Sommer dagegen weniger. Die daraus folgende Trockenheit könnte Folgen für die Landwirtschaft haben, weshalb das Oberflächenwasser im Sommer in Poldern zwischengespeichert werden soll. Darüber hinaus sollen die Speicher bei Starkregen überschüssiges Wasser aufnehmen und vor Überschwemmungen schützen. Politik Die Funktionen des ehemaligen Regierungsbezirks Aurich haben weitgehend die Landkreise Leer, Aurich und Wittmund sowie die kreisfreie Stadt Emden übernommen, sofern sie nicht auf das Land Niedersachsen oder (bis zu dessen Auflösung im Jahr 2004) auf den Regierungsbezirk Weser-Ems übergegangen sind. Im Jahr 2005 begann in den ostfriesischen Kreistagen eine Diskussion über einen möglichen Zusammenschluss zu einem „Landkreis Ostfriesland“. 2006 wurde von regionalen SPD- und CDU-Politikern stattdessen vorgeschlagen, aus Vertretern der vier Landkreise und zwei kreisfreien Städte auf der ostfriesischen Halbinsel, also inklusive Friesland und Wilhelmshaven, einen Regionalrat Ostfriesland zu bilden. Allerdings haben Friesland und Wilhelmshaven von einer Teilnahme abgesehen. Vertreter aus den drei ostfriesischen Kreistagen und dem Emder Stadtrat haben im August 2010 in einer konstituierenden Sitzung den Regionalrat gegründet, erster Vorsitzender wurde der SPD-Bundestagsabgeordnete Garrelt Duin aus Hinte. Ziel des Regionalrates ist es, die Interessen der Region mit einer Stimme gegenüber dem Land Niedersachsen, dem Bund und der EU zu vertreten. Welche inhaltliche Verantwortung der Regionalrat darüber hinaus übernehmen soll, wird noch entschieden. Es bestand der Plan im Rahmen der Kommunalwahl 2011 den Regionalrat von den Ostfriesen selbst wählen zu lassen; diese Wahl kam jedoch nicht zustande, da zwei Kreistage (Leer und Wittmund) keine Beschlüsse gefasst haben. Die Beteiligten strebten aber eine Direktwahl zur dann folgenden Kommunalwahl an. Am 24. April 2015 beschloss der Hauptausschuss des Regionalrates die Auflösung des Gremiums. Wahlen Bei Wahlen ist Ostfriesland insgesamt eine traditionelle SPD-Hochburg. Bei der Wahl 2005 erreichte die SPD im Bundestagswahlkreis Aurich – Emden mit 55,9 Prozent das höchste Zweitstimmenergebnis in ganz Deutschland. Auch im Bundestagswahlkreis Unterems (Landkreis Leer/nördlicher Landkreis Emsland) erreicht die SPD im ostfriesischen Teil besonders hohe Anteile, im Gegensatz zum katholisch geprägten Emsland, das ungefähr die andere Hälfte dieses Wahlkreises bildet und wo die CDU die deutliche Mehrheit der Stimmen holte. Im Bundestagswahlkreis Friesland – Wilhelmshaven, zu dem auch der Landkreis Wittmund zählt, gewann ebenfalls traditionell die SPD – auch wenn die CDU im Landkreis Wittmund selbst vor der SPD lag. Der Landkreis Wittmund war bis 2010 auch der einzige mit einem CDU-Landrat, in den anderen drei Kommunen stellt die SPD die Hauptverwaltungsbeamten. Im Landkreis Wittmund wurde Landrat Matthias Köring bei seiner Wahl 2010 von CDU, SPD und FDP unterstützt. Bei der Bundestagswahl 2017 war die SPD mit 37,8 Prozent stärkste politische Kraft der Region. Die CDU verlor stark und konnte 28 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Es folgen die AfD mit 9,1 Prozent, Grünen mit 7,4 Prozent sowie Die Linke mit 7,2 Prozent. Die FDP übersprang auch in Ostfriesland mit 7,1 Prozent der Wählerstimmen die Fünf-Prozent-Marke deutlich. Im Parlament ist die Region künftig mit drei Abgeordneten vertreten. Im Bundestagswahlkreis Aurich – Emden wurde Johann Saathoff von der SPD direkt gewählt. Im Wahlkreis Unterems setzte sich die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann aus Leer gegen den SPD-Kandidaten Markus Paschke aus Riepe durch. Direkt gewählte Abgeordnete im Bundestagswahlkreis Friesland – Wilhelmshaven ist Siemtje Möller von der SPD. Über Die Landesliste der Parteien gelang keinem Kandidaten aus der Region der Einzug in den Bundestag. Die Bundestagswahl 2021 gewann erneut die SPD. Im Bundestagswahlkreis Aurich – Emden wurde ihr Kandidat Johann Saathoff mit 52,8 % wiedergewählt. Er erhielt hiermit bundesweit das beste Erststimmenergebnis. Von den Zweitstimmen konnte die SPD 43,3 Prozent auf sich vereinen. Die CDU erlitt starke Verluste und rutschte auf 17,7 Prozent ab. 13 Prozent entfielen auf die Grünen, 8,9 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die FDP. Die AfD erzielte eine Ergebnis von 8,2 Prozent. Alle anderen Parteien blieben unter der fünf-Prozent-Hürde. Im Bundestagswahlkreis Friesland – Wilhelmshaven – Wittmund konnte Siemtje Möller (SPD) ihr Mandat verteidigen. Bei den Zweitstimmen ergab sich folgendes Bild: SPD 38 Prozent, CDU 21,5 Prozent, Grüne 12,8 Prozent, FDP 10,4 Prozent, AfD. 8,2 Prozent. Alle anderen Parteien blieben unter der fünf-Prozent-Hürde. Im Bundestagswahlkreis Unterems, der auch den Landkreis Leer umfasst, verteidigte Gitta Connemann ihr Direktmandat. Bei den Zweitstimmen lag die SPD mit 34 Prozent vor der CDU, die starke Verluste einfuhr und bei 29,9 Prozent landete. Die Grünen erhielten 10,7 Prozent. 10,1 Prozent entfielen auf die FDP und 8,2 Prozent auf die AfD. Alle anderen Parteien blieben unter der fünf-Prozent-Hürde. Über die Landeslisten ihrer Parteien zogen Anja Troff-Schaffarzyk (SPD, Wahlkreis Unterems), Julian Pahlke (Grüne, Wahlkreis Unterems), Anne Janssen (CDU, Wahlkreis Friesland-Wilhelmshaven-Wittmund) und Joachim Wundrak (AfD, Wahlkreis Friesland-Wilhelmshaven-Wittmund) in den Bundestag ein. Ostfriesland ist seit der Landtagswahl in Niedersachsen 2022 mit sieben Abgeordneten im Landtag vertreten. Für die SPD zogen Nico Bloem (Wahlkreis 84, Leer/Borkum), Matthias Arends (Wahlkreis 85, Emden/Norden), Wiard Siebels (Wahlkreis 86, Aurich) und Karin Emken (Wahlkreis 87, Wittmund/Inseln), sowie der CDU-Politiker Ulf Thiele (Wahlkreis 83, Leer) direkt in das Parlament ein. Über die Landeslisten stellt die CDU mit Saskia Buschmann (Aurich) und die Grünen mit Meta Janssen-Kucz (Leer) zwei weitere Abgeordnete. Ostfrieslandweit (alle fünf Wahlkreise zusammen) wurde die SPD stärkste Kraft vor der CDU. Wappen und Flagge Das gräfliche Wappen Ein offizielles ostfriesisches Landeswappen gibt es heute nicht mehr, da Ostfriesland als Gebietskörperschaft nicht mehr existiert. In der allgemeinen Öffentlichkeit wird heutzutage das sechsfeldrige Vollwappen des ostfriesischen Grafen- und Fürstenhauses benutzt, so wie es 1625 durch Graf Rudolf Christian eingeführt wurde. Bis 1600 (Berumer Vergleich) war das Wappen vierfeldrig, ohne die beiden unteren für das Harlingerland stehenden Felder. Das Fürstenhaus Cirksena benutzte das sechsfeldrige Wappen bis zu seinem Aussterben 1744. Nach 1744 fand das Cirksenawappen Aufnahme in das preußische Wappen. Dieses Wappen vereint in sich die Wappen der wichtigsten ostfriesischen Häuptlingsfamilien bzw. die von ihnen ursprünglich beherrschten Landesteile. Für die Familie Cirksena soll dieses die Legitimation ihrer Herrschaft ausdrücken. Es zeigt (unheraldisch von links oben bis rechts unten): das Wappen der Cirksena aus Greetsiel, den goldenen, gekrönten Jungfrauenadler, begleitet von vier goldenen Spornrädern in schwarzem Feld. Die Spornräder stehen für die Familie Itzinga. Territorial steht dies für das Emsigerland und das westliche Norderland, das Wappen der tom Brok, einen goldenen, auf Haupt und Flügeln gekrönten Adler. Territorial steht dies für das Brokmer- und Auricherland, die Wappensymbole der Familien Tzyerza (Rautenbalken) und Mertenesna (Mondsicheln). Territorial stehen beide für das östliche Norderland (Berum). Aus dem Namen der Familie Tzyerza wurde nach vielen Schreibweisen schließlich der Familienname Cirksena. das Wappen des Häuptlings Focko Ukena aus Leer, ein rechtsaufgerichteter silberner Löwe auf blauem Grund mit einer gestürzten goldenen Krone um den Hals. Territorial steht dies für das südliche Ostfriesland (Reider-, Mormer-, Lengener- und Overledingerland), das Wappen der Attena aus Esens, der rechtsaufgerichtete, rot bewehrte schwarze Bär mit goldenem Halsband auf goldenem Grund. Territorial steht dies für Esens und Stedesdorf, das Wappen des Attena-Häuptlings Hero Omken aus dem Harlingerland, zwei goldene schräggekreuzte zweisträngige Geißeln im blauen Feld. Territorial steht es für Wittmund. Die drei gekrönten Bügelhelme über dem ostfriesischen Wappen sind Bestandteile der Wappen der Cirksena (mittlerer Helm, welcher als Helmzier eine goldene Lilie vor sechs goldenen Straußenfedern trägt) und des Harlingerlandes (rechter Helm mit zwei schräggekreuzten Geißeln und eine Lilie) sowie der Grafen von Rietberg (mit rot-goldener Helmdecke sowie einem goldenen Adlerrumpf mit rotem Flug). Der Wappenspruch Eala Frya Fresena deutet auf die Tradition der friesischen Freiheit hin. Das ständische Wappen Aus der freiheitlichen Tradition der Friesen heraus entwickelte sich in der Grafschaft Ostfriesland eine starke Stellung der Standesversammlung. Die Landstände hatten neben den Grafen und Fürsten umfangreiche landesherrliche Rechte. Diesem Umstand trug Kaiser Leopold I. mit einem im alten Reich einmaligen Vorgang Rechnung, als er der Ostfriesischen Landschaft am 14. Januar (Julianischer Kalender) (der 24. Januar 1678 nach dem Gregorianischen Kalender, dieser wurde in den protestantischen Landesteilen erst 1700 eingeführt) ein eigenes Wappen verlieh. Dieses Upstalsboom-Wappen wird bis heute von der Landschaft verwendet. Auf einem roten Schild zeigt es einen grünen Eichenbaum auf einem grünen Hügel (als Sinnbild für den Upstalsboom), daneben stehend einen geharnischten Mann, eine Lanze in seiner rechten und einen Degen in seiner linken Hand, mit zwei weißen und zwei blauen Federn gezierten Bügelhelm auf dem Haupt. Die ostfriesische Flagge Die ostfriesische Flagge zeigt drei gleich breite Querstreifen in den Farben schwarz, rot und blau. Diese Farben sind der Helmzier des gräflichen Wappen entnommen: Schwarz ist die Grundfarbe des Cirksena-Wappens, das Rot entstammt dem Wappen der Grafen von Rietberg und Blau steht für das Harlingerland. Im Gegensatz zum gräflichen Wappen hat die populäre ostfriesische Flagge heute wieder offiziellen Status, da sie von der Ostfriesischen Landschaft im Jahr 1989 offiziell angenommen wurde. Im privaten Gebrauch wird die Flagge fast ausschließlich mit dem gräflichen Wappen verwendet und vor vielen Häusern in Ostfriesland gehisst. Kultur Sprache Die Volkssprache in Ostfriesland ist das Ostfriesische Platt, eine nordniedersächsische Variante der niederdeutschen Sprache. Ostfriesland gehört heute zu den wenigen noch relativ intakten Sprachgebieten des Niederdeutschen, gilt aber auch als dialektales Rückzugsgebiet. Genaue Sprecherzahlen liegen nicht vor. Nach den Ergebnissen einer Studie verstehen mindestens 80 Prozent der Menschen in Ostfriesland Plattdeutsch. Etwa 50 Prozent sprechen die Sprache aktiv. Dabei gibt es im Ergebnis einer 2007 im Auftrag der Ostfriesischen Landschaft durchgeführten Umfrage ein starkes Altersgefälle: Während die über 40-Jährigen angaben, zu 60 bis 88 Prozent platt sprechen zu können, waren es bei den unter 30-Jährigen 24 Prozent. Die Zweisprachigkeit wird von der Ostfriesischen Landschaft gefördert, beispielsweise durch Hilfe bei der zweisprachigen Unterrichtung in Kindergärten und Grundschulen durch das Plattdütskbüro. Auch Vereine wie Oostfreeske Taal (Ostfriesische Sprache) sind auf diesem Gebiet aktiv, zudem geben regionale Verlage Bücher auf Plattdeutsch heraus. In Zeitungen und Zeitschriften erscheinen regelmäßig Artikel auf Plattdeutsch, und von 1992 bis 2018 gab es eine Zeitschrift namens Diesel, die vollständig in ostfriesischem Plattdeutsch erschien und die neben Unterhaltung und Kulturnachrichten moderne Lyrik und Prosa veröffentlicht hat. Seit dem Jahr 2004 dürfen einige Gemeinden und Städte in Ostfriesland zweisprachige Ortsschilder aufstellen, dies sind unter anderem die Städte Aurich (Auerk) und Norderney (Nörderneei) sowie die Gemeinden Großheide (Grootheid), Wirdum (Ostfriesland) (Wir’m) und Lütetsburg (Lütsbörg). In weiten Gebieten haben sich allerdings die plattdeutschen Ortsnamen erhalten (Beispiele: Möhlenwarf, Moorhusen, Suurhusen, Rechtsupweg), so dass keine zweisprachigen Schilder notwendig sind. Die ursprüngliche Volkssprache in Ostfriesland war jedoch nicht Niederdeutsch, sondern die zum Friesischen gehörende ostfriesische Sprache. Mit der Reformation kamen schließlich die hochdeutsche Sprache und – besonders im calvinistischen Westen Ostfrieslands – das Niederländische ins Land. Auch aus der nur kurz währenden Franzosenzeit haben sich einige sprachliche Relikte erhalten. Im späten 19. Jahrhundert hielt die deutsche Sprache auch in den calvinistischen Gemeinden Einzug. Spätestens in dieser Zeit gerieten auch die abgelegensten Gebiete Ostfrieslands unter hochdeutschen Einfluss, und das Standarddeutsche begann sich durchzusetzen. Durch diese bewegte Sprachgeschichte hebt sich das Ostfriesische Platt in der Aussprache wie im Wortschatz von den Nachbardialekten ab. Das Friesische und das Niederländische haben ihre Spuren hinterlassen, aber auch der niederdeutsche Kern der Sprache gilt als relativ konservativ. Durch seine isolierte Lage bewahrt das ostfriesische Niederdeutsch manche alte niederdeutsche Wörter wie fuul (schmutzig), Penn ((Schreib-)Feder), quaad (böse); es enthält außerdem noch eine Anzahl friesischer Wörter und Formen wie die Personalpronomen hör (sie) und hum (ihn/ihm), sowie Bezeichnungen wie Gulf (Scheunenteil), Heff (Wattenmeer), Jier (Jauche) usw., und schließlich (besonders im westlichen Teil) hat es eine Reihe Wörter aus dem Niederländischen aufgenommen wie Bahntje (Anstellung, Posten; ndl. baan), Patries (Rebhuhn; ndl. patrijs) oder Ühr (Stunde; ndl. uur). Die alte ostfriesische Sprache hat sich nur außerhalb Ostfrieslands erhalten. Im jahrhundertelang schwer zugänglichen Saterland, einer südöstlich von Ostfriesland gelegenen ehemaligen „Insel“ im Moor, sprechen bis heute etwa 2000 Menschen Saterfriesisch. Im Gegensatz zu den Groninger Ommelanden, wo der Verlust der ostfriesischen Sprache auch zu einem Verlust der friesischen Identität führte, ist das friesische Selbstbewusstsein in Ostfriesland nach wie vor stark ausgeprägt und nicht so stark mit der Regionalsprache verknüpft wie in Nord- und Westfriesland. Der Standardgruß in Ostfriesland ist „Moin“ und wird zu jeder Tages- und Nachtzeit benutzt. Dabei gilt Moin in Ostfriesland auch durchaus als formelle Grußformel, während in anderen Gegenden Norddeutschlands häufig in formeller Umgebung auf „Guten Tag“ o. ä. zurückgegriffen wird. Die Herkunft des recht jungen Grußes Moin ist nach wie vor ungeklärt, er trat allerdings zuerst in Ost- und Nordfriesland auf. Gestützt wird die These, dass der Ursprung von Moin in Ostfriesland zu suchen ist, durch die erste schriftliche Erwähnung des Grußes in Wiard Lüpkes Ostfriesischen Wörterbuch aus dem Jahr 1932. Die gängigsten Theorien gehen von einer Herkunft aus dem niederländischen/niederdeutschen „Mojen Dag“ („Schönen Tag“) oder von einer schrittweisen Verkürzung von „En goden Mörgen“ („Einen guten Morgen“) aus. Gegen die erste Herleitung spricht allerdings, dass das „oi“ in Moin mit einem kurzen o gesprochen wird ([]), während es in moi lang ist ([]). Gegen die zweite Theorie spricht die Verwendung des Grußes rund um die Uhr, und nicht nur am Morgen. Parallel zu Moin existieren lokal begrenzt weitere traditionelle Grußformeln, etwa „Mui“ im Rheiderland oder „He“ auf Norderney. Sehenswürdigkeiten In Ostfriesland ist eine große Zahl von Baudenkmälern erhalten geblieben. Entsprechend der Struktur Ostfrieslands sind diese nicht nur in den Städten zu finden, sondern auch in vielen Dörfern. Unter den architektonisch herausragenden Sakralbauten sind die Ludgerikirche in Norden, die größte Kirche Ostfrieslands, sowie die Neue Kirche und die Große Kirche in Emden zu nennen. Letztere verbindet die bis ins Mittelalter zurückreichende historische Bausubstanz der im Zweiten Weltkrieg zerstörten reformierten „Moederkerk“ mit einem Neubau aus den 1990ern und beherbergt heute die Johannes a Lasco Bibliothek. Zahlreiche weitere Gotteshäuser Ostfrieslands stammen aus dem Mittelalter, viele Dorfkirchen sind im romanischen und gotischen Stil erbaut. Ein Unikat ist die Suurhuser Kirche, die den zweitschiefsten Kirchturm der Welt beherbergt und daher im Guinness-Buch der Rekorde steht. Eine Vielzahl von beachtenswerten Profanbauten ist insbesondere in den ostfriesischen Städten zu finden. Aus allen Epochen seit ungefähr 1450 finden sich stilprägende Gebäude. Eine Vielzahl von historischen Gebäuden befindet sich beispielsweise in den Innenstädten von Aurich und Leer. Auch in der Stadt Emden, die während eines Bombenangriffs im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört wurde, sind noch Gebäude vergangener Jahrhunderte vorhanden. Daneben hat Emden eine Vielzahl von Bunkern aus dem Krieg aufzuweisen, die heute auf unterschiedliche Art genutzt werden. Zu den herausragenden Museen der Region gehören die Kunsthalle in Emden, das Ostfriesische Landesmuseum in Emden und Teemuseen in Norden und Leer. Ostfriesische Wohnkultur des 18. und 19. Jahrhunderts kann im Haus Samson in Leer besichtigt werden. Daneben gibt in vielen Orten Heimat- und Regionalmuseen wie das Historische Museum Aurich oder kleinere themenbezogene Museen wie das Ostfriesische Landwirtschaftsmuseum in Campen oder das Moormuseum Moordorf, das sich der Geschichte der Moorkolonisation widmet. In Emden und Leer gibt es Museumshäfen mit historischen Schiffen. Ostfriesland war früher reich an Klöstern, von denen das Kloster Ihlow den größten Einfluss auf Politik und Landesausbau hatte. An dessen Stätte in Ihlowerfehn erinnert seit 2009 eine stilisierte Rekonstruktion von Klosterkirche und Garten mit angeschlossener Ausstellung an die Bedeutung der Klöster für den Landesausbau Ostfrieslands. Aus touristischer Erwägung dient der Kirchturm gleichzeitig als eine der wenigen öffentlich zugänglichen Aussichtsplattformen Ostfrieslands. Über ganz Ostfriesland verteilt finden sich zahlreiche Wehr- und Prachtbauten der ehemaligen Häuptlings- und Adelsfamilien des Landes. Allein in Leer stehen vier dieser so genannte Burgen, die sich teils in Privatbesitz, teils in Besitz der öffentlichen Hand befinden. Die älteste unter ihnen ist die bald nach 1450 erbaute Harderwykenburg. Auch das Schloss Lütetsburg nahe Norden befindet sich in Privatbesitz, im ausgedehnten anliegenden Park sind jedoch Spaziergänge möglich. Im benachbarten Hage befindet sich die Burg Berum. Die älteste erhaltene Häuptlingsburg Ostfrieslands ist das Steinhaus in Bunderhee. Weitere Burgen und Schlösser finden sich auch in Hinte, Pewsum, Stickhausen und Dornum. Im Auricher Schlossbezirk sind Gerichte und das Niedersächsische Landesamt für Bezüge und Versorgung untergebracht. Die größte Veranstaltungshalle Ostfrieslands, die Nordseehalle in Emden, hat eine Maximalkapazität von 5500 Personen. Darüber hinaus gibt es nennenswerte Veranstaltungshallen in Aurich (Stadthalle und seit Mai 2009 auch ein Neubau mit dem Sponsoring-Namen Sparkassen-Arena, maximal 3000 Personen) und Leer (Ostfrieslandhalle). Theater finden sich auf Norderney (Kurtheater Norderney) und in Emden (Neues Theater). In den anderen Orten werden für Theateraufführungen, Kabarettveranstaltungen u. ä. zumeist andere öffentliche Gebäude wie beispielsweise Schulen genutzt, in Aurich auch die Stadthalle. Viele Dörfer sind in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge der Dorferneuerung aufgewertet worden. Zu den Dörfern mit gut erhaltenen historischen Ortskernen zählen beispielsweise die beiden Krummhörner Orte Rysum (Landessieger 1995 im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“) und Greetsiel, das Uplengener Dorf Hollen (Zweiter Bundessieger 1993 und 1995 beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“) oder auch Westgroßefehn, das 1633 Ausgangspunkt der Kolonisierung des Großefehns war. Die Gemeinde Großefehn ist von kilometerlangen, schnurgerade verlaufenden Fehnkanälen durchzogen, desgleichen die Gemeinden Rhauderfehn, Ostrhauderfehn, weite Teile der Gemeinde Moormerland und kleinere Teile anderer Gemeinden. Greetsiel und die Rheiderländer Ortschaft Ditzum sind auch als Kutterhäfen touristische Anziehungspunkte. In Ostfriesland gibt es eine große Zahl von Mühlen, hauptsächlich Holländerwindmühlen, von denen die meisten besichtigt werden können. Die größte dieser Art in Deutschland mit einer Kappenhöhe von 30,2 Metern steht in Hage. Auch die älteste erhaltene Holländerwindmühle Deutschlands, die Peldemühle in Wittmund aus dem Jahr 1741, befindet sich in Ostfriesland. Zu Berühmtheit gebracht haben es auch die unmittelbar nebeneinander stehenden, in rot und grün gehaltenen Zwillingsmühlen von Greetsiel. Außerdem befindet sich in Dornum die einzige Bockwindmühle Ostfrieslands. Die Gemeinde Krummhörn beherbergt sowohl den größten Leuchtturm an der deutschen Nordseeküste in Campen (65 Meter) als auch den kleinsten in Pilsum (zwölf Meter). Der gelb-rot gestreifte Turm wurde insbesondere durch den Otto-Waalkes-Film Otto – Der Außerfriesische bekannt und gilt – spätestens – seitdem als ein Markenzeichen Ostfrieslands. Als Wahrzeichen der Blumenstadt Wiesmoor gilt die Blumenhalle. Die 1969 erbaute Ausstellungshalle zeigt auf einer Fläche von 1500 Quadratmeter mehr als 10.000 Blumen. Die Stadt verfügt über viele Baumschulen und große Gartenbau-Betriebe, weite Teile der Anbaufläche liegen unter Glas. Seit 1952 findet jährlich am ersten Septemberwochenende das den Blumen gewidmete Blütenfest statt. Zu den überregional beachteten Veranstaltungen zählen das Festival Musikalischer Sommer in Ostfriesland, bei dem viele der zumeist klassischen Konzerte in Kirchen stattfinden, sowie das Internationale Filmfest Emden-Norderney, nach der Zahl der Besucher das größte Filmfestival Niedersachsens. Das größte Volksfest Ostfrieslands mit jährlich etwa einer halben Million Besucher ist der Gallimarkt in Leer. Die Verleihung der Marktrechte jährte sich 2008 zum 500. Mal. Orgellandschaft Ostfriesland ist nicht zuletzt wegen seiner reichen Orgellandschaft bekannt. In den rund 170 alten Kirchen finden sich an die 100 historische Orgeln aus allen Epochen seit der Spätgotik. Eine der ältesten Orgeln der Welt, die noch in ihrem Grundbestand erhalten und spielbar ist, ist die Rysumer Orgel (um 1440). Zu den weitgehend vollständig erhaltenen Instrumenten aus dem 17. Jahrhundert mit Pfeifenmaterial aus dem 16. Jahrhundert gehören die Orgeln in Osteel (1619), Westerhusen (1642–1643) und Uttum (etwa 1660). Auch der Orgelbauer Arp Schnitger hat mit Neubauten, etwa in Norden und Weener, seine Spuren in Ostfriesland hinterlassen; seine Orgeln in Wittmund/St. Nicolai und Leer/Lutherkirche wurden später durch Neubauten ersetzt. Im 18. Jahrhundert erlebte die Orgelkultur einen weiteren Höhepunkt, als die Orgelbauer Johann Friedrich Wenthin und Hinrich Just Müller miteinander konkurrierten und sich selbst kleine Dorfkirchen wertvolle Orgeln anschafften. Als zwischen etwa 1850 und 1950 das Niveau im ostfriesischen Orgelbau seinen Tiefpunkt erreichte, hatten viele Gemeinden kein Geld, sich zeitgemäßere Instrumente anzuschaffen, so dass die alten Orgeln meist erhalten blieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden fast alle Originalinstrumente restauriert, was vor allem dem führenden Orgelbauer Jürgen Ahrend (Leer-Loga) und den Orgelsachverständigen Harald Vogel und Reinhard Ruge zu verdanken ist. Heute ist das Organeum in Weener ein wichtiges Orgelzentrum, um Experten, aber auch einer breiten Öffentlichkeit die kulturellen Schätze der Orgellandschaft auf vielfältige Art und Weise zu erschließen. Auch bei Veranstaltungen wie dem „Krummhörner Orgelfrühling“ oder der „Nachtorgel“ in der Gemeinde Dornum werden die Instrumente einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Essen und Trinken Eine der auffälligsten Besonderheiten Ostfrieslands ist der mit der ostfriesischen Teekultur einhergehende hohe Teekonsum, der mit etwa 300 Litern pro Kopf und Jahr etwa elfmal höher ist als im restlichen Deutschland. Schon im 17. Jahrhundert kam der erste Tee vor allem durch die Niederländer und die Briten nach Ostfriesland. Nur 100 Jahre später war der Tee in Ostfriesland bereits in allen Gesellschaftsschichten weit verbreitet und sorgte mit dafür, dass der vorher große Bierkonsum deutlich verringert wurde. 1806 wurde die heute noch existierende Teehandelsfirma Bünting (Teil der Bünting-Gruppe in Leer) gegründet und mischte den echten Ostfriesentee. Zwei weitere Firmen (Thiele & Freese in Emden sowie Onno Behrends in Norden) stellen ebenfalls Tee mit der geschützten Bezeichnung Echter Ostfriesentee her. Gästen wird in Ostfriesland traditionell Tee als Begrüßungsgetränk angeboten. Nach der alten Sitte „Dree is Oostfresenrecht“ („Drei ist Ostfriesenrecht“) werden für gewöhnlich mindestens drei Tassen Tee getrunken. Wenn nicht so viel Tee (oder kein weiterer mehr) gewünscht wird, ist der Löffel in die Tasse zu legen. Eine Reihe von Spirituosen wird in der Region hergestellt, darunter ein 32-prozentiger Kräuterbitter namens Kruiden. Der auch außerhalb der Region verbreitetste Schnaps Ostfrieslands, Doornkaat wird seit 1992 nicht mehr in Norden hergestellt, sondern bei Berentzen im emsländischen Haselünne. Die Produktion ostfriesischer Schnäpse findet heute vornehmlich in Betrieben in Leer (Folts & Speulda) und Friedeburg (Heiko Blume) statt. Das für Ostfriesland typische Hauptgericht ist zur Winterzeit der Grünkohl mit Pinkel und/oder mit Kassler sowie durchwachsenem Speck. Um die deftige, würzige ostfriesische Variante des Grünkohls zu erreichen, muss das Fleisch zwingend im Grünkohl und niemals davon getrennt gegart werden. Der Grünkohl wird traditionell erst geerntet, nachdem er mindestens einem Tag Frost ausgesetzt war; dadurch erreicht er seinen unverwechselbaren Geschmack. Als klassisches „Seemannsgericht“ steht daneben Labskaus auf dem Speiseplan – inzwischen auch in gutbürgerlichen Restaurants. Labskaus wird traditionell mit Matjes oder Rollmops gegessen. Matjes wird bis heute in vielerlei Variationen in Emden hergestellt. Beliebt sind auch Fischbrötchen. In den Sielorten werden Krabben angelandet, die regional gerne auf Schwarzbrot gegessen werden. Den Fischreichtum in Ostfrieslands Binnengewässern nutzen Angler zur Selbstversorgung mit Fisch. Dieser wird oft geräuchert. Eine andere Spezialität Ostfrieslands sind die ausschließlich zu Silvester gebackenen Neujahrshörnchen, plattdeutsch Rullekes/Nijaahrskook, zu Hörnchen geformte, harte Waffeln. Auch nur zu Silvester gibt es die sogenannten Speckendicken, ein in der Pfanne gebratenes Gebäck. Weitere regionale Spezialitäten sind der Snirtjebraten und Buttermilchbrei. Bauen und Wohnen In Ostfriesland ist das selbstbewohnte Einfamilienwohnhaus weit verbreitet. Viele junge Leute bauen ihr Haus unter Mithilfe der Familie selbst. Gerade bei personalintensiven Gewerken, wie z. B. beim Dachdecken, gesellen sich oft noch viele Bekannte dazu. Hier kommt der hohe Anteil von Handwerkern unter der ostfriesischen Bevölkerung zum Tragen. Die typische Form des ostfriesischen Bauernhauses ist das Gulfhaus. Es entstand im 16. und 17. Jahrhundert zunächst in den Marschen, wo durch bessere Entwässerungssysteme auch der Ackerbau möglich wurde – zuvor war dort nur Viehhaltung möglich. Da der Marschboden sehr fruchtbar ist, sind – auch sonst gute Bedingungen vorausgesetzt – reiche Ernten möglich. In der Marsch finden sich daher mehr größere Gulfhöfe, dort auch Plaats genannt, als auf der Geest. Auch viele kleinere Landarbeiterhäuser sind nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie die großen Höfe. Im Vorderteil eines Gulfhofs befinden sich die Wohnräume, im weitaus größeren hinteren Teil der Platz für das Erntegut und das Vieh. Jener Teil ist wesentlich breiter als das Vorderhaus und weiter gen Erdboden gezogen. Auch die kleinsten Ecken werden ausgenutzt, an den tief gezogenen Seiten findet das Vieh seinen Platz, das Erntegut wird zumeist in der Mitte des Scheunenteils gelagert. Der Zugang zum Scheunenteil erfolgt zum einen innerhalb des Gebäudes durch eine Verbindung vom Wohntrakt, zum anderen durch Tore auf einer der dem Wohntrakt zugewandten Seite des (breiteren) Scheunenteils sowie auf der Rückseite des Scheunenteils. Die Dachlast wird von einem innerhalb der Scheune stehenden Holzständerwerk getragen. Sowohl bei Einfamilienhäusern als auch bei Höfen und ebenfalls bei vielen öffentlichen Gebäuden und manchen Betriebsgebäuden findet der typische rote Klinker noch stets am häufigsten Verwendung. Bei reinen Zweckbauten wird aus Kostengründen jedoch oft auf Klinker verzichtet. Bräuche Zu den Festtagsbräuchen zählt das Aufstellen des Maibaums am Vorabend des 1. Mai, das in eine große eurasische Traditionslinie gehört, in Ostfriesland aber eine eigene Form und eigene Regeln ausgeprägt hat. Neben Nachbargemeinschaften sind es auch Vereine oder ganze Dörfer, die ihren Maibaum aufstellen. Der Maibaum muss bis zum Morgengrauen des 1. Mai bewacht werden, was sich durch dauerndes Handanlegen eines der Besitzer ausdrückt. Ansonsten kann der Maibaum durch drei symbolische Spatenstiche „geklaut“ werden und ist am nächsten Tag meist durch einen Kasten Bier und Schnaps wieder auszulösen. Weitere Bräuche sind das Martinisingen und das Brautpfadlegen zu Himmelfahrt. Einige besondere Traditionen haben sich zudem auf den ostfriesischen Inseln erhalten, zum Beispiel Klaasohm auf der Insel Borkum in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember – eine Veranstaltung, deren Ausrichtung lediglich Borkumer Männern vorbehalten ist. Zu Ostern ist das Eiertrullern oder Eiertrüllen weit verbreitet. Es wird am Ostersonntag von Kindern (und Erwachsenen) mit den zu Ostern erhaltenen hart gekochten Eiern am Deich, auf den Ostfriesischen Inseln in den Dünen, oder anderen zur Verfügung stehenden Erhebungen (zum Beispiel Plytenberg, Eierberge in Wallinghausen) gespielt. Am Vorabend des Nikolaus-Tages finden am 5. Dezember im Einzelhandel, in der Gastronomie und bei verschiedenen Organisationen und Vereinen traditionell Verknobelungen statt. Dabei wird um Torten, Backwaren sowie Geflügel-, Fleisch- und Wurstwaren gewürfelt. Jeder Mitspieler gibt seinen Einsatz und hat danach einen Wurf. Gewürfelt wird im Allgemeinen mit drei Würfeln im Lederbecher. Der Spieler, der die höchste Zahl wirft, gewinnt einen der genannten Preise. Insbesondere in Neubaugebieten fällt beim Richten des Dachstuhls den zukünftigen Nachbarn die Aufgabe zu, in der Nacht zuvor einen Sparren zu verstecken. Das Bauherrenpaar muss diesen dann suchen, durch Schnaps auslösen und wird darauf von den Nachbarn durch die Siedlung zu ihrem Haus getragen, in das der noch fehlende Sparren eingesetzt und anschließend das Richtfest gefeiert wird. Hierbei wird auch ein Richtkranz am Dachgiebel befestigt. Auch das Bogenmachen zum Anlass einer (Jubel-)Hochzeit ist sehr beliebt. Hierzu trifft sich die Nachbargemeinschaft meist einige Tage vorher. Die Männer bauen das Bogengestell, welches dann mit Tannenzweigen bestückt wird, während die Frauen im Haus die Rosen und Girlanden aus Papier herstellen. Ausrichter ist zumeist ein unmittelbarer Nachbar. Dieser Bogen wird anschließend gemeinsam zu dem (Jubel-)Paar getragen und an dessen Hauseingang befestigt, woran sich oft noch eine Stehparty auf der Hauseinfahrt anschließt. Ein ähnlicher Brauch ist auch bei den Jugendlichen entstanden. Wird ein Jugendlicher 16 Jahre alt, so trifft sich der Freundeskreis (die Clique) am Vorabend ohne Wissen des Geburtstagskindes und fertigt ein sogenanntes Laken an. Mit Sprühfarbe wird ein altes Bettlaken mit originellen und meist witzigen Sprüchen beschrieben, die meistens mit dem, der Geburtstag hat, zusammenhängen (beispielsweise neue Wortschöpfungen aus seinem Namen). Kurz vor 12 Uhr Mitternacht wird das Laken an der Straßenseite des Hauses befestigt und um 12 Uhr wird auf den Geburtstag angestoßen. Am 18. Geburtstag trifft sich der Freundeskreis, um einen Bogen zu bauen. Hierbei wird Tannengrün von den Jungs an einem Drahtgestell, meist in Herzform, befestigt. Die Mädchen bestücken den Bogen mit Papierrosen. Kurz vor 12 Uhr wird der Bogen zum Haus desjenigen, der Geburtstag hat, getragen und an der Straßenseite aufgestellt. Um genau 12 Uhr gratulieren alle und werfen demjenigen, der Geburtstag hat, Mehl und rohe Eier auf den Kopf. Ebenfalls sehr verbreitet sind „Strafen“ für diejenigen, die an ihrem 30. Geburtstag noch unverheiratet sind. Männer müssen an ihrem 30. Geburtstag Treppe fegen, Frauen Klinken putzen. Zumeist werden hierzu Rathaus- oder Kirchentreppen oder -türen herangezogen. Erst durch das „Freiküssen“ einer Jungfrau oder eines „Jungmannes“ wird man von dieser Pflicht entbunden. Gewissermaßen als „Vorwarnung“ werden an ihrem 25. Geburtstag unverheiratete Männer als „Alte Socke“ oder „Alte Flasche“ und die Frauen als „Alte Schachtel“ bezeichnet und erhalten oft auch einen entsprechend behangenen Bogen. Dieser ist idealerweise von der Straße aus gut einsehbar, damit jeder von dieser „Nachricht“ Notiz nimmt. Eine regionale Besonderheit ist der Beruf des Knochenbrechers (plattdeutsch Knakenbreker), der laut volkstümlicher ostfriesischer Bezeichnung ein traditioneller, alternativer Heilkundler ist. Bildung und Forschung Die Hochschule Emden/Leer hat ihren Sitz und ihren kopfstärksten Standort in Emden. Ein weiterer Standort befindet sich in Leer, dort ist die Seefahrtschule beheimatet, die den Fachbereich Seefahrt beheimatet. An den beiden ostfriesischen Hochschul-Standorten sind knapp 4700 Studenten eingeschrieben, davon etwa 420 in Leer. Eine Berufsakademie für den ostfriesischen Raum befindet sich in Leer. Eine Universität gibt es in Ostfriesland nicht, die nächstgelegene ist die Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg. Neben öffentlichen Bibliotheken in Städten und Gemeinden gibt es weitere, für jedermann zugängliche Bibliotheken in Emden (Johannes a Lasco Bibliothek, Schwerpunkt Geschichte der Reformation) sowie die Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich, die schwerpunktmäßig regionalgeschichtliche Literatur führt und einen Bestand von zirka 115.000 Bänden und 640 laufenden Zeitschriften umfasst. Die Ostfriesische Landschaft fördert die historische Regionalforschung. Der für ganz Ostfriesland zuständige Standort Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs hat seinen Sitz an der Oldersumer Straße in Aurich. Stadtarchive gibt es in Emden, Leer, Norden, Norderney und Wittmund. Die Stiftung Stipendium Gerlacianum, die Stiftung für bildende Kunst und Kultur in der deutsch-niederländischen Ems-Dollart-Region, die Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden und die Gerhard ten Dornkaat Koolman-Stiftung fördern Wissenschaft und Kultur in der Region. Sport In Ostfriesland entwickelten sich eigenständige Sportarten wie Boßeln, Klootschießen und Schleuderballspiel, diese drei Sportarten werden auch als sogenannter „Friesensport“ zusammengefasst. Das hiervon verbreitetste Boßeln wird als Mannschaftssportart in vielen Vereinen und Ligen mit allwöchentlichen Punktspielen und Meisterschaften bis zur niedersächsischen Ebene gespielt. Es gibt auch Europameisterschaften im Boßeln und Klootschießen. Weit verbreitet sind Wassersportarten, die auf den zahlreichen Gewässern (Hochsee, Binnenmeere, Flüsse und Kanäle) betrieben werden, darunter Segeln, Motorboot fahren, Rudern, Paddeln, Angeln und Surfen. Beliebte Surfreviere finden sich vor Norderney und auf dem Großen Meer. In strengeren Wintern, wenn die Meere und Kanäle zufrieren, ist auch das Schlittschuhlaufen („Schöfeln“) eine traditionell beliebte Sportart. Früher wurden die typischen ostfriesischen Schlittschuhe mit breiten Kufen in dem Ort Breinermoor hergestellt und werden daher Breinermoorkes genannt. Auf professioneller Ebene in ihren jeweiligen Sportarten waren bis zum Sommer 2009 der ehemalige Fußball-Drittligist Kickers Emden und der ehemalige Handball-Zweitligist OHV Aurich vertreten. Kickers Emden spielt in der Regionalliga, der OHV Aurich in der drittklassigen Regionalliga. Das größte regelmäßig genutzte Stadion Ostfrieslands ist das Ostfriesland-Stadion des BSV Kickers Emden (7200 Plätze); das größte Stadion überhaupt hingegen das seltener genutzte Motodrom Halbemond, dessen Zuschauer-Kapazität von 50.000 Plätzen bei Speedway-Rennen jedoch zudem nicht annähernd ausgeschöpft wird. Nach einer Erhebung des Niedersächsischen Landesamtes für Statistik (Stichtag: 31. Dezember 2001) weist Ostfriesland mit Ausnahme des Kreises Leer eine überdurchschnittliche Dichte an Mitgliedschaften in Sportvereinen innerhalb Niedersachsens auf. Mitgliedschaften sind in diesem Fall nicht gleichzusetzen mit Mitgliedern, da ein und dieselbe Person natürlich auch Mitglied in zwei oder mehr Sportvereinen sein kann. Der Kreis Wittmund erreicht den höchsten Wert unter den niedersächsischen Städten und Kreisen, die drei ostfriesischen Landkreise und die Stadt Emden zusammen einen überdurchschnittlichen Wert. Religionsgemeinschaften Die ostfriesische Bevölkerung ist überwiegend protestantisch. In der Krummhörn, der Küstengemeinde zwischen Norden und Emden, sowie entlang der niederländischen Grenze (Rheiderland) herrscht das reformierte Bekenntnis vor. In Emden und Leer sind Reformierte ebenfalls stark vertreten – in Emden etwa gibt es lediglich einige Hundert Lutheraner mehr. Leer ist Sitz der Reformierten Kirche. Die anderen ostfriesischen Regionen sind lutherisch geprägt. Die Landkreise Aurich und Wittmund haben die höchsten Anteile von Lutheranern an der Gesamtbevölkerung in ganz Deutschland. In Ostfriesland leben etwa 266.000 Lutheraner und rund 80.000 Reformierte – zusammen also etwa 346.000 der rund 465.000 Einwohner Ostfrieslands. In Emden haben um das Jahr 1600 herum bedeutende reformierte Prediger gewirkt, unter ihnen Johannes a Lasco. Die Stadt galt seinerzeit als „Genf des Nordens“ und beherbergte einige Tausend Flüchtlinge aus den Niederlanden, die aus der heutigen „Großen Kirche“ in Emden die „moederkerk“ (dt.: Mutterkirche) des nordwesteuropäischen Calvinismus machten. Evangelische Freikirchen sind in Ostfriesland ebenfalls überdurchschnittlich stark vertreten. Die Geschichte der Emder Mennonitengemeinde reicht in die Reformationszeit zurück. Die Baptistengemeinden (offizieller Name heute: Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden) entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ausgangspunkt waren die Gemeinden in Jever und Westoverledingen-Ihren. In Ostfriesland existieren fünf evangelisch-altreformierte Gemeinden, die in den Jahren von 1854 bis 1861 gegründet wurden. Es folgte die Evangelisch-methodistische Kirche, die mit ihren ostfriesischen Gemeindegründungen ebenfalls im 19. Jahrhundert begann. Freie evangelische Gemeinden begannen erst Anfang der 1950er Jahre mit ihrem Wirken. Weiterhin ist in Ostfriesland die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten mit zwei Gemeinden vertreten. In Bagband-Hesel gibt es seit den 1930er-Jahren eine Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). Mit Ausnahme der SELK gehören die lutherischen Kirchengemeinden zur Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, die reformierten Gemeinden aber zur Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Nordwestdeutschland und Bayern oder zur schon genannten Evangelisch-altreformierten Kirche. Die Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden Ostfrieslands gehören zum Landesverband Baptisten im Nordwesten und bilden hier den Regionalverband Ems-Jade. Die mennonitischen Gemeinden Emden, Leer und Norden gehören zur Konferenz der nordwestdeutschen Mennonitengemeinden. Weitere Religionsgemeinschaften sind die Neuapostolische Kirche mit 12 lokalen Gemeinden und die Zeugen Jehovas, die mit ihren Königreichssälen an mehreren Orten vertreten sind. Die römisch-katholische Kirche ist trotz des Zuzugs vieler katholischer Flüchtlinge in der Nachkriegszeit eine Minderheitskirche geblieben. Ostfriesland wird als Diaspora bezeichnet. Die Katholiken bemühen sich um Ökumene. Die katholischen Kirchengemeinden gehören zum Dekanat Ostfriesland des Bistums Osnabrück. Knapp sieben Prozent der Ostfriesen gehören der katholischen Kirche an. Fast 90 Prozent der Einwohner Ostfrieslands sind Mitglieder einer christlichen Kirche. Genaue Zahlen zum Anteil der Muslime in Ostfriesland liegen nicht vor. 2009 wurde in unmittelbarer Nähe des Emder Hauptbahnhofes in einer umgebauten Gaststätte die erste Moschee Ostfrieslands eröffnet. Sie trägt den Namen Eyüp-Sultan-Moschee. Jüdische Gemeinden bestanden in Ostfriesland über einen Zeitraum von zirka 400 Jahren von ihren Anfängen im 15. Jahrhundert bis zu ihrem Ende 1942. Die wenigen heute in Ostfriesland lebenden Juden sind Teil der jüdischen Gemeinde in Oldenburg. Wirtschaft Geschichtlicher Hintergrund Immer wieder im Laufe der Geschichte haben sich in Ostfriesland Zeiten relativer Armut mit Phasen relativen wirtschaftlichen Aufschwungs abgelöst, wobei insbesondere im Küstenraum, wo eine kleine Schicht wohlhabender Hofbesitzer einem kopfstarken Landarbeiter-Proletariat gegenüberstand, häufig ein erhebliches Sozialgefälle festzustellen war. Als Reaktion auf die ärmlichen Verhältnisse suchten junge Leute vielfach als Wanderarbeiter, beispielsweise in den Niederlanden, ein Auskommen (die so genannten „Hollandgänger“) oder sie verließen ihre Heimat ganz. Viele Ostfriesen wanderten in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo unter ihnen noch heute ein starker Gemeinschaftssinn zu finden ist. Seit dem 20. Jahrhundert und bis heute ist zudem eine Tendenz zur Bildungswanderung festzustellen: Wer nicht an der regionalen Fachhochschule ein Studium aufnehmen kann (oder – wegen beschränkter Auswahlmöglichkeiten – will) oder sich für einen dualen Studiengang/Berufsausbildung an der regionalen Berufsakademie entscheidet, ist gezwungen, Ostfriesland zu Studienzwecken zu verlassen. Nur ein kleiner Teil kehrt nach dem Studium zurück (Talentabwanderung). Die Arbeitslosenquote lag im Februar 2023 bei 6,9 Prozent und damit um 0,6 Prozent über dem Vorjahresmonat. Landwirtschaft und Fischerei Die Landwirtschaft war jahrhundertelang der Haupterwerbszweig der Ostfriesen, wenn auch in den Städten der Handel und seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, noch mehr im 20. Jahrhundert, auch die Industrie einen bedeutenden Anteil an der Wertschöpfung erlangte – und noch heute innehat. Auch im 21. Jahrhundert spielt die Landwirtschaft in Ostfriesland eine große Rolle. So zählt der Landwirtschaftliche Hauptverein für Ostfriesland, die Interessenvertretung der ostfriesischen Landwirte, 5800 Mitglieder. Insgesamt gab es 2020 2946 landwirtschaftliche Betriebe in Ostfriesland. Zusammen bewirtschaften sie eine Fläche von 195.130 ha. Davon sind 76.434 ha Ackerland und 118.351 ha Dauergrünland. Der Anteil der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft reicht von 0,4 % in der Stadt Emden bis zu 2 % im Landkreis Aurich (Bundesdurchschnitt: 0,9 %). Besonders die Milchwirtschaft ist stark ausgeprägt. Durch die großen Flächen an fruchtbarem Weideland bieten sich gute Bedingungen für die Milchviehhaltung. Ostfriesland zählt mit anderen norddeutschen Regionen sowie dem bayrischen Voralpenland zu den Hauptregionen für Milchviehhaltung in Deutschland, die Landkreise Aurich und Leer zählen zu den zwölf größten Milcherzeuger-Landkreisen Deutschlands. Insgesamt halten die Landwirte in Ostfriesland 149.110 Milchkühe. Trotz der hohen Bedeutung der Milchviehhaltung findet sich nur noch eine größere Molkerei in Ostfriesland, die Firma Rücker in Aurich. Weitere größere Molkereien sind in den Nachbarlandkreisen Ammerland und Emsland zu finden, darunter Nordmilch und die Molkerei Ammerland. Diese werden auch von ostfriesischen Milchbauern beliefert. Ostfriesland hat als landwirtschaftlich geprägte Region einige eigenständige Nutztierrassen hervorgebracht. Hervorzuheben sind dabei das Ostfriesenpferd, das Ostfriesische Milchschaf, das mittlerweile nur noch in wenigen reinen Exemplaren vertretene schwarzbunte Rind, die Emder Gans sowie die Hühnerrasse Ostfriesische Möven in verschiedenen Farbschlägen. Das zum Typ des Niederungsviehs gehörende schwarzbunte Rind gehört zu den bedrohten alten Rassen. Es wurde seit langem durch Hochleistungszuchten wie die Holstein Friesian, eine in den USA entstandene Hybridrasse, verdrängt. In den Poldergegenden am Küstensaum (vom Rheiderland über die Krummhörn und das Norderland bis zum Harlingerland) finden sich auch Getreide-, Kartoffel- und Gemüsebauern. Vorherrschend sind Weizen, der auf einer Fläche von 7.874 ha angebaut wird und Mais (12.762 ha), es wird jedoch auch auf 2.870 Hektar Fläche Raps angebaut. In den Moor- und Geestgegenden des Binnenlands hingegen ist die Viehwirtschaft vorherrschend. Die Landwirtschaft hat auch wesentlichen Anteil an der kulturräumlichen Entwicklung Ostfrieslands. So entstanden die Moorkolonien mit ihren typischen Fehnkanälen durch die Arbeit derer, die sich in den Mooren eine (landwirtschaftliche) Existenz aufbauen wollten. Zum Transport der Waren wurden eigene Schiffstypen wie beispielsweise die Mutte entwickelt. Die Wallhecken in der Mitte Ostfrieslands entstanden als Einfriedungen von Feldern. Die zunehmende Bedeutung der regenerativen Energieerzeugung hat vielen Landwirten ein zusätzliches Einkommen ermöglicht – sei es durch Windkraftanlagen oder durch Biomasse-Kleinkraftwerke. Letztere führen allerdings teilweise bereits zu einer Flächenkonkurrenz zwischen Nutzpflanzen mit hohem Energiewert für die Stromerzeugung (etwa Mais) und anderen Pflanzen. Auf mehreren Feldern in Ostfriesland finden sich größere Freiland-Photovoltaikanlagen. In mehreren kleinen Häfen in Ostfriesland befinden sich Flotten von Krabbenkuttern, vor allem in Ditzum, Greetsiel, Norddeich, Dornumersiel und Neuharlingersiel. Die Krabbe (eigentlich: Nordseegarnele) ist die einzige marine Garnele mit fischereiwirtschaftlicher Bedeutung in Deutschland. Daneben werden auch Miesmuscheln gefischt. Hochseefischerei wird von Ostfriesland aus nach Einstellung der Emder Heringsfischerei nicht mehr betrieben. Der Walfang wurde bereits weit vor dem 20. Jahrhundert beendet. Wohl aber findet in nennenswertem Umfang Sportfischerei statt, besonders in den zahlreichen Binnengewässern. Industrie In Ostfriesland fand im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands die Industrialisierung erst recht spät statt. Zu den ersten Industrien gehörten Schiffbaubetriebe, Ziegeleien und einzelne Textilindustriebetriebe, vornehmlich Webereien in Leer. Durch den Ausbau Emdens zum Seehafen des Ruhrgebietes wurde die Industrialisierung vorangetrieben, Emden ist industrieller Schwerpunkt Ostfrieslands. Einen weiteren Schub erhielt die Industrialisierung in der Region durch den Bau des Volkswagenwerks Emden 1964. Das VW-Werk ist mit rund 8.000 Beschäftigten sowie allein 1000 Mitarbeitern in einem angrenzenden Zuliefererpark der größte industrielle Arbeitgeber der Region. Neben dem Automobilbau ist der Schiffbau ein wichtiges Standbein für den regionalen Arbeitsmarkt. Viele Ostfriesen, besonders aus dem südlichen Landkreis Leer, finden Arbeit bei der Meyer Werft im benachbarten Papenburg, wo rund 2500 Menschen beschäftigt sind. Kleinere Werften gibt es darüber hinaus in Emden, Leer und Oldersum; Bootsbauer in weiteren Orten der Region. Schiffbau-Zulieferer finden sich in der gesamten Region. Enercon, der größte deutsche Hersteller von Windkraftanlagen, hat seinen Hauptsitz in Aurich und beschäftigt in Aurich, Emden und Georgsheil direkt mehr als 3000 Personen, rund 2800 davon in Aurich. In Ostfriesland werden nicht nur Windenergieanlagen hergestellt, die Region ist auch selbst eine Hochburg der Windenergie-Nutzung in Deutschland. Wegen der kräftigen Winde an der Küste und der teilweise recht dünnen Besiedlung gibt es viele große Windparks in der Region. Der Gesamtverbrauch der Strommenge betrug 2007 in Ostfriesland 2160 Millionen Kilowattstunden. Rechnerisch wurden 84,8 % dieses Verbrauchs aus Windenergie in der Region gewonnen, weitere elf Prozent aus Biomasse und zusammen ein Prozent aus Photovoltaik, Klärgas, Deponiegas und anderen regenerativen Energiequellen. Der Anteil regenerativ erzeugter Energie am Gesamtverbrauch der Region betrug somit 2007 96,8 %. Ende 2014 waren im IHK-Bezirk 1.435 Megawatt Windenergieleistung und damit 18 Prozent der niedersächsischen Gesamtleistung installiert. Allein durch Strom aus Onshore-Windenergie konnten rein rechnerisch 128 Prozent des regionalen Strombedarfs gedeckt werden. Insgesamt wurden im IHK-Bezirk Ostfriesland und Papenburg rein rechnerisch 168 Prozent des Strombedarfs aus Erneuerbaren Energien gedeckt. In Emden und Dornum befinden sich die beiden Anlandestationen für norwegisches Nordsee-Erdgas, das über die Pipelines Norpipe, Europipe I und Europipe II zugeführt wird. Damit wird rund 30 Prozent des deutschen Erdgasverbrauchs über Ostfriesland importiert und weitergeleitet. Emden ist Sitz der Deutschland-Zentrale des norwegischen Konzerns StatoilHydro. In Etzel im Landkreis Wittmund befindet sich ein Untertage-Erdgasspeicher mit 75 Kavernen in Betrieb: 51 für Erdgas und 24 für Rohöl. Insgesamt beträgt das Volumen der Anlage derzeit ca. 40 Mio. Kubikmeter auf einer Fläche von 1.500 ha (15 km²). Ein Ausbau auf 130 Kavernen läuft. Er soll bis 2025 abgeschlossen sein. (Stand: September 2017). Im Bezirk der Industrie- und Handelskammer für Ostfriesland und Papenburg, der neben Ostfriesland auch die emsländische Stadt Papenburg umfasst, hat die Zahl der Industriebeschäftigten 2010 um 2,2 % auf 21.850 Arbeitnehmer zugenommen. Die Exportquote liegt mit 45,4 % über dem Durchschnitt des Landes Niedersachsen. Für die Exportquote waren vor allem das Emder VW-Werk, die beiden Großwerften Meyer Werft und Nordseewerke, Enercon und die jeweiligen Zulieferer verantwortlich. Neben den genannten Betrieben finden sich in Ostfriesland Elektroindustrie, Stahl- und Maschinenbau, Nahrungsmittelindustrie und eine Vielzahl von Betrieben des Bauhaupt- und Baunebengewerbes. In den einzelnen Städten und ihrem Umland, von wo aus viele Arbeitnehmer einpendeln, ergibt sich durch die Abhängigkeit von den großen Unternehmen eine Monostruktur. So arbeiten von den gut 22.000 Industriebeschäftigten im IHK-Bezirk allein rund 15.500 bei den größten vier Unternehmen, davon wiederum allein 9100 bei VW – die Zulieferer noch nicht eingerechnet. Versinnbildlicht wird diese Monostruktur durch den oft zu hörenden Ausspruch Wenn VW hustet, bekommt Ostfriesland eine Lungenentzündung. Dienstleistungen Touristisch erschlossen sind in erster Linie die Ostfriesischen Inseln, welche breite Sandstrände zum Baden bieten. Auf den Inseln begann der Tourismus bereits am Ende des 18. Jahrhunderts (Norderney war 1797 erstes deutsches Nordseeheilbad). Davon profitierten dann auch die Fährorte wie Norddeich oder Bensersiel. Abseits von den Inseln und den Küstenorten spielte der Tourismus im Landesinneren lange Zeit keine große Rolle. Seit Mitte der 1970er Jahre ändert sich dies aber zunehmend, und die Regionen im Binnenland versuchen, ihre Orte ebenfalls touristisch zu vermarkten. Die Anlegung von Wander- und Radwanderwegen, Paddelrouten sowie touristischen Themenrouten hat dazu beigetragen. Auch der Kulturtourismus gewann in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung, unter anderem seit Eröffnung der Kunsthalle in Emden (1986). Leer ist ein bedeutender Reederei-Standort: Nach Hamburg ist hier der zweitgrößte Teil der deutschen Seehandelsflotte beheimatet. Als Einkaufsorte der Region dienen vor allem Aurich und Leer, in geringerem Maße auch Emden, gefolgt von Norden und Wittmund. Besonders der Einzelhandel in den küstennahen Städten Norden und Wittmund profitiert dabei auch von den Urlaubern. Aurich hat eine Einzelhandelszentralität von 135 % (2015), Leer liegt bei 203 % und Emden bei 116 %. Größere öffentliche Dienstleister sind unter anderem die Bundesbehörden Bundesanstalt für Verwaltungsdienstleistungen (BAV) in Aurich und das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Emden (WSA). Wichtige Landesbehörden sind der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), der in Norden seinen Hauptsitz und in Aurich eine Betriebsstelle hat. Im Auricher Schlossbezirk befindet sich außerdem der Hauptsitz der Landesweiten Bezüge- und Versorgungsstelle (LBV) der Oberfinanzdirektion (OFD) Niedersachsen. Die Hochschule Emden/Leer (4174 Studierende, 471 Beschäftigte) hat ihre Standorte in Emden und Leer. Der Haupt- und Verwaltungssitz der Hochschule ist in Emden. Drei ostfriesische Städte sind Garnisonsstädte: Aurich, Leer und Wittmund. In der Auricher Blücher-Kaserne hatte die 4. Luftwaffendivision ihr Hauptquartier. Inzwischen unterhält die Bundeswehr hier nur noch das Munitionslager Aurich sowie eine Anlage zur Luftraumüberwachung in Brockzetel. In der Nachbarstadt Wittmund ist das Richthofengeschwader stationiert, das unter anderem die Alarmrotte für den norddeutschen Raum stellt. In der Leeraner von Lettow-Vorbeck-Kaserne ist das Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst beheimatet. Das für alle fünf ostfriesischen Amtsgerichtsbezirke (Aurich, Emden, Leer, Norden, Wittmund) zuständige Landgericht Aurich hat seinen Sitz im historischen Auricher Schloss. In direkter Nähe am Schlossplatz befindet sich die Hauptstelle der Staatsanwaltschaft Aurich, die ebenfalls für ganz Ostfriesland zuständig ist. Die jeweils übergeordneten Behörden sind das Oberlandesgericht Oldenburg und die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg. Das für ganz Ostfriesland zuständige Sozialgericht hat seinen Sitz an der Kirchstraße in der Auricher Altstadt. Das für die Landkreise Aurich und Leer sowie die kreisfreie Stadt Emden zuständige Arbeitsgericht Emden hat seinen Sitz im Behördenviertel in Emden. Für den Landkreis Wittmund ist das Arbeitsgericht Wilhelmshaven zuständig. Die Agentur für Arbeit Emden-Leer mit Standorten in Leer, Emden, Norden, Wittmund, Aurich, Juist, Norderney und Borkum ist für die Betreuung der Arbeitslosen in Ostfriesland zuständig. Medien In Ostfriesland gibt es eine große Vielfalt an Tageszeitungen mit eigenständigen Lokalredaktionen. Die Auflagen der Zeitungen (Daten aus dem vierten Quartal 2022, jeweils verkaufte Auflage inklusive e-Paperausgaben) reichen von 26.820 (Ostfriesen-Zeitung) bis hinunter zu einer kleinen vierstelligen Zahl bei den Inselblättern Borkumer Zeitung (verkaufte Auflage: 641) und Norderneyer Badezeitung (verkaufte Auflage: 655). Die Ostfriesen-Zeitung ist die einzige regionsweit erscheinende Tageszeitung, während die beiden Inselzeitungen lediglich auf den jeweiligen Inseln erscheinen. Die Verbreitungsgebiete der übrigen Titel orientieren sich oftmals, aber nicht ausschließlich an (teils ehemaligen) Verwaltungsgrenzen der Landkreise. Die Ostfriesen-Zeitung ist in einem Teil des Landkreises Leer (Stadt Leer sowie nördlicher und östlicher Landkreis Leer) de facto die einzige Tageszeitung. Im Südosten des Landkreises Leer, im Overledingerland, erscheint zudem der General-Anzeiger (verkaufte Auflage: 7.251). General-Anzeiger und Ostfriesen-Zeitung sind in dem Verlagshaus Zeitungsgruppe Ostfriesland wirtschaftlich und größtenteils auch redaktionell zusammengefasst. Im Rheiderland, dem Gebiet des früheren Landkreises Weener, hat die Rheiderland-Zeitung (5.592) ihren Auflagenschwerpunkt. Die Emder Zeitung (verkaufte Auflage: 7.591) hat ihren Schwerpunkt in der kreisfreien Stadt Emden und ihren Umlandgemeinden. Der Ostfriesische Kurier (9.235) erscheint in erster Linie im Gebiet des ehemaligen Landkreises Norden, die Ostfriesischen Nachrichten (11.068) vornehmlich im Altkreis Aurich (Städte Aurich, Wiesmoor sowie die Gemeinden Großefehn, Ihlow und Südbrookmerland). Der Anzeiger für Harlingerland (10.580) hat den Schwerpunkt seiner verkauften Auflage im Landkreis Wittmund. Zwei Zeitungen (Ostfriesische Nachrichten, Rheiderland-Zeitung) beziehen den sogenannten Mantel von der in Osnabrück erscheinenden Neuen Osnabrücker Zeitung, während fast alle anderen Verlage ihren Mantel von der in Oldenburg erscheinenden Nordwest-Zeitung beziehen. Lediglich die Emder Zeitung war bis April 2020 die kleinste deutschsprachige Vollzeitung Deutschlands. Seitdem wird der Mantelteil von der Nordwest-Zeitung in Oldenburg bezogen. Das Ostfriesland Magazin ist die Monatszeitschrift für Ostfriesland. In mehreren Städten und Gemeinden gibt es darüber hinaus Anzeigenblätter mit verschiedenen Erscheinungsweisen. Der Bürgerrundfunksender Radio Ostfriesland mit Hauptsitz in Emden und Studios in Aurich und Leer sendet neben seinem Musikprogramm täglich Nachrichten und Features aus der Region, teils auch komplett Sendungen auf Plattdeutsch. Der in Wilhelmshaven beheimatete Sender Radio Jade sendet ebenfalls bis nach Ostfriesland. Auf Norderney hat sich aus einem ehemaligen Piratensender das Privatradio SWS (Sturmwellensender) entwickelt, das in den Sommermonaten ein Programm für die Küste, besonders aber die Insel Norderney selbst, ausstrahlt. Der Friesische Rundfunk ist ein privater regionaler Fernsehsender. Er war zunächst in Hinte, später in Sande beheimatet, ist aber mittlerweile ins ostfriesische Friedeburg umgezogen. Die terrestrische Fernsehversorgung Ostfrieslands wird über den Grundnetzsender Ostfriesland in Aurich-Popens sichergestellt. Beim Radio kommen die Fernmeldetürme in Haxtum, Emden, Nüttermoor und Wilhelmshaven hinzu. Geschichtlich wurden Sat.1 und RTL mit deren Aufkommen im Jahr 1984 bis zur Umstellung auf DVB-T am 22. Mai 2006 terrestrisch und analog über die beiden letzteren sowie den Fernmeldeturm Eilsum am Wohnplatz Middelstewehr ausgestrahlt. Verkehr Über Jahrhunderte waren Wasserstraßen für Ostfriesland die wichtigsten Verkehrswege – zumindest für den Fernhandel und den überörtlichen Handel innerhalb Ostfrieslands. Aufgrund ihrer peripheren Lage wurde die Region erst spät an das Eisenbahn- und später das Autobahnnetz angeschlossen. Die wichtigsten Verkehrsverbindungen folgen zum einen ungefähr dem Lauf der Ems in Richtung Süden und queren zum anderen Ostfriesland in Ost-West-Richtung in Höhe der Städte Leer und Oldenburg. Straßenverkehr Drei Autobahnen führen durch Ostfriesland, eine weitere weiter östlich ist zumindest für das östliche Ostfriesland (Landkreis Wittmund) von großer Bedeutung. Die 1988 auf dem ostfriesischen Abschnitt fertiggestellte Bundesautobahn A 28 ist eine Ost-West-Verbindung von Leer über Oldenburg bis zur A 1 bei Stuhr. Die A 28 ist die wichtigste Ost-West-Verbindung in Ostfriesland und verbindet die Region mit dem Ballungsraum Bremen-Oldenburg sowie darüber hinaus mit Hamburg und Hannover. Die im Dezember 2004 vollendete A 31 verbindet den Nordseehafen Emden mit der im Ruhrgebiet gelegenen A 2/A 3 bei Bottrop. Sie wird auch als Ostfriesenspieß oder Emslandautobahn bezeichnet. Ihr Bau wurde teilweise von den Regionen Emsland und Ostfriesland, durch Spenden von Privatleuten und Firmen aus den genannten beiden Regionen sowie von den Niederlanden finanziert, für die die A 31 eine wichtige grenznahe Verbindung ist. Dieses Finanzierungsmodell ist bislang ohne Beispiel in Deutschland. Die vier Kilometer lange A 280 verlängert die niederländische A7, die von Zaandam über Groningen nach Deutschland führt, zur A 31. Sie verbindet somit das deutsche und das niederländische Autobahnnetz. Die A 280 in ihrer Gesamtlänge, gefolgt von einem Teilstück der A 31 und der A 28 in ihrer Gesamtlänge sind Bestandteil der Europastraße 22. Daneben ist die A 29, die Wilhelmshaven mit der A 1 bei Ahlhorn verbindet, der wichtigste Zubringer für das östliche Ostfriesland, im Wesentlichen also den Landkreis Wittmund. Die A 29 verläuft jedoch an keiner Stelle über ostfriesischen Boden. Nach der A 28 ist die Bundesstraße B 210 die zweite wichtige Ost-West-Verbindung in Ostfriesland. Sie führt von Emden über Aurich, Wittmund, Jever und Schortens nach Wilhelmshaven. Für den Landkreis Wittmund ist sie eine der beiden Verbindungsstraßen zur A 29. Eine weitere Ost-West-Verbindung ist die B 436 von Weener zur A 29 bei Sande im Landkreis Friesland. Zwischen Weener und Hesel führt die B 436 über dieselbe Trasse wie früher die – in Ostfriesland inzwischen entwidmete – B 75, die durch die A 28 ersetzt wurde. In der Zeit vor der Eröffnung der Autobahnen in Ostfriesland haben – neben der früheren B 75 – besonders zwei Bundesstraßen eine wichtige Rolle für den überregionalen Verkehr gespielt: die B 70 und die B 72. Die B 70 ist eine der längsten Bundesstraßen in Nordwestdeutschland und verbindet Ostfriesland mit dem Niederrhein. Die B 70 führt auf ihrem Weg von Neermoor nach Wesel fast immer entlang der Ems. Während die B 70 heute in Neermoor endet, führte sie in früheren Jahrzehnten weiter über Emden bis nach Norddeich. Die B 72 führt von der A 1 bei Cloppenburg über Aurich bis an die Küste nach Norddeich und wurde vor Eröffnung der A 28 ausgebaut, weil sie ein wichtiger Zubringer im Urlauberverkehr war. Zwischen Friesoythe (Landkreis Cloppenburg) und der Anschlussstelle Filsum an der A 28 verläuft die B 72 als Kraftfahrstraße im „2 zu 1“-System. Sie stellt weiterhin eine Alternative zur kompletten Fahrt auf der Autobahn dar, wenn das Fahrtziel der Raum Osnabrück ist. Die B 438 führt von Folmhusen (Gemeinde Westoverledingen) über Collinghorst, Rhaudermoor, Westrhauderfehn (Gemeinde Rhauderfehn) und Ostrhauderfehn, Idafehn (Gemeinde Ostrhauderfehn) nach Wittensand (Saterland). Sie verbindet die B 70 mit der B 72 und erschließt den südlichen Landkreis Leer. Die B 461 führt von der Kreisstadt Wittmund zu den Sielhäfen in den Wittmunder Stadtteilen Carolinensiel und Harlesiel. Sie ist damit eine der wenigen Bundesstraßen in Deutschland, die sich in ganzer Länge innerhalb einer Gemeinde befinden. Der am stärksten befahrene Abschnitt einer Bundesstraße in Ostfriesland ist die B 72/210 am westlichen Stadtrand Aurichs, im Stadtteil Extum. Dort fahren täglich knapp 28.000 Fahrzeuge vorbei. Auf dem östlichen Innenstadtring Aurichs (B 72) sind es noch fast 26.300 Fahrzeuge, darunter knapp 1400 LKW, was den höchsten Wert für Lastwagen auf Ostfrieslands Bundesstraßen darstellt. Auf der B 210 im Emder Stadtteil Harsweg, der Hauptausfallstraße in nördliche Richtung, wird der dritthöchste Wert erreicht: fast 23.100 Fahrzeuge. Der vierthöchste Wert wird am südlichen Stadteingang Nordens nahe dem Bahnhof beobachtet (22.200 Fahrzeuge). Viele der Küstenorte – darunter auch jene Fährorte, die nicht an einer Autobahn (Emden) oder Bundesstraße (Norddeich, Harlesiel) liegen – sind durch Landesstraßen an das überörtliche Verkehrsnetz angeschlossen. Die Nummerierung der Landesstraßen in Niedersachsen beginnt in Ostfriesland mit der L 1 von Oldersum nach Aurich. Der straßengebundene Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) mit Bussen wird durch den Verkehrsverbund Ems-Jade (VEJ) sichergestellt. Bahnverkehr Die wichtigsten Eisenbahnlinien Ostfrieslands sind die elektrifizierten Hauptbahnstrecken von Norden in Richtung Oldenburg/Bremen und in Richtung Münster, die im Regional- (RE, RB) und Fernverkehr (IC) der Deutschen Bahn AG befahren werden. Die Bahnstrecke Rheine–Norddeich Mole (Kursbuchstrecke 395) von Norden über Emden und Leer nach Münster ist zweigleisig und – wegen der früheren Erztransporte zwischen Emden und dem Ruhrgebiet – für den Schwerstlastverkehr ausgelegt. Die Bahnstrecke Oldenburg–Leer (Kursbuchstrecke 390) ist hingegen lediglich eingleisig. Im Bundesverkehrswegeplan ist ein zweigleisiger Ausbau lediglich als „weiterer Bedarf“ festgehalten. InterCity-Zugverbindungen bestehen vom Bahnhof Norddeich Mole in Richtung Berlin/Leipzig sowie in Richtung Köln. Teilweise enden Züge am Bahnhof Emden Außenhafen statt in Norddeich. Die IC-Linie von Norddeich Mole/Emden-Außenhafen über Emden und Leer nach Köln/Koblenz/Stuttgart/Konstanz (IC-Linie 35) wird im Zwei-Stunden-Takt bedient, die Strecke von Norddeich Mole über Emden und Leer nach Berlin/Cottbus oder Leipzig (IC-Linie 56) auch. Regional-Express-Verbindungen bestehen von Norddeich Mole nach Hannover sowie von Emden nach Münster. Einige der Verbindungen nach Münster enden nicht am Emder Hauptbahnhof, sondern am Bahnhof Emden Außenhafen, abgestimmt auf die Fährzeiten nach Borkum. Die Strecke zwischen dem Emder Hauptbahnhof und dem Außenhafen ist die Kursbuchstrecke 395. Zwischen Emden und Wittmund verlief die Strecke der Ostfriesischen Küstenbahn. Sie ist eine eingleisige Strecke. Für den regelmäßigen Personenverkehr wird heute der Abschnitt Emden-Norddeich Mole genutzt. Zwischen Norden und Dornum verkehren im Ausflugsverkehr Züge der Museumseisenbahn Küstenbahn Ostfriesland (MKO). Der Streckenabschnitt zwischen Dornum und Esens ist abgebaut. Der Personenverkehr auf den Strecken Wilhelmshaven–Oldenburg(–Osnabrück, nicht auf ostfriesischem Gebiet) und Esens–Wilhelmshaven wird von der NordWestBahn GmbH betrieben. Von Esens aus fahren täglich Züge über Wittmund nach Wilhelmshaven, wobei Anschluss in Richtung Oldenburg besteht. Die Strecke zwischen Esens und der Kreisgrenze zum Landkreis Friesland bildet heute den östlichen Abschnitt der Ostfriesischen Küstenbahn. Die Bahnstrecke Abelitz–Aurich wurde nach ihrer zwischenzeitlichen Stilllegung 1996 im April 2008 wieder reaktiviert. Allerdings wird diese Strecke ausschließlich für den Güterverkehr genutzt, vor allem als Verbindung für Enercon in den Emder Hafen. Die internationale Schienenverbindung von Leer über Weener und Neuschanz nach Groningen (Bahnstrecke Leer–Groningen, Kursbuchstrecke 397) wurde auf deutscher Seite lange Zeit durch Busse bedient. Inzwischen wird die Strecke vom Transportunternehmen Arriva befahren. Leer ist damit der Knotenpunkt des ostfriesischen Eisenbahnnetzes mit Strecken in alle vier Himmelsrichtungen. Die Stadt bezeichnet sich deswegen als Tor Ostfrieslands. Im Zuge dieser Strecke wird die Friesenbrücke über die Ems befahren, Deutschlands längste Eisenbahn-Klappbrücke. Diese Strecke ist seit dem 3. Dezember 2015 bis auf Weiteres nicht mehr befahrbar, da ein Frachter die Friesenbrücke rammte. Die beschädigte Brücke wurde 2021/22 abgerissen und soll bis 2024 durch einen Neubau ersetzt werden. Seitdem muss auf dem Streckenabschnitt Leer–Weener auf die Buslinie 620 ausgewichen werden. Schiffsverkehr und Häfen Die Ems ist der wichtigste Transportweg zu Wasser. An ihrem rechtsseitigen Ufer liegen die drei Seehäfen (flussaufwärts geordnet) Emden, Leer und Papenburg – wobei Letzteres bereits zum Landkreis Emsland zählt. Mit gut sechs Millionen Tonnen Jahresumschlag ist der Emder Hafen der größte dieser drei. Emden ist nach Bremerhaven und Zeebrügge (Belgien) der drittgrößte Autoverladehafen Europas mit rund einer Million umgeschlagenen Fahrzeugen pro Jahr – fast ausschließlich solche der Volkswagen AG. Daneben werden Forstprodukte und Flüssigkreide umgeschlagen, beides für die UPM Nordland Papier in Dörpen. Diese Güter werden per Binnenschiff über die Ems weitertransportiert. Zunehmende Bedeutung für den Emder Hafen erhält der Umschlag von Enercon-Windmühlen, die nach Übersee exportiert werden. Zu den weiteren Umschlagsgütern zählen Baustoffe und Magnesiumchlorid. Auch für die Meyer-Werft in Papenburg ist die Ems von immenser Bedeutung, werden auf ihr doch die Schiffe der Werft gen See überführt. Einerseits als Maßnahme des Küstenschutzes, andererseits aber auch zum Aufstauen der Ems bei Überführungen großer Kreuzfahrtschiffe der Meyer-Werft, wurde nahe Gandersum das Emssperrwerk errichtet. Die Leda hat lediglich auf dem kurzen Abschnitt zwischen ihrer Mündung in die Ems und dem Leeraner Hafen Bedeutung für die Seeschifffahrt. Der Ems-Jade-Kanal, einst als innerostfriesische Verbindung zwischen Emden und Wilhelmshaven angelegt, hat heute fast ausschließlich für die Sportschifffahrt Bedeutung. Lediglich der Transport von Baustoffen vom Emder Hafen zum Binnenhafen von Aurich fällt noch ein wenig ins Gewicht. Der Ems-Seitenkanal wurde einst als Ergänzung zum Dortmund-Ems-Kanal angelegt, wird aber ebenfalls nur noch für die Sportschifffahrt genutzt. Der Dortmund-Ems-Kanal selbst, einst wichtiger Transportweg für Erz von Emden ins Ruhrgebiet, verläuft nicht über ostfriesischen Boden. Er beginnt (aus nördlicher Perspektive betrachtet) erst im Emsland, bis dort benutzen Binnenschiffe die Ems. In früheren Jahrhunderten waren die Fehnkanäle in Ostfriesland wichtige Transportwege. Auch sie dienen heute allein der Erholung auf dem Wasser. Zu den längsten Fehnkanälen Ostfrieslands zählt der Nordgeorgsfehnkanal. Fährhäfen zu den Inseln sind – von West nach Ost – Emden (nach Borkum), Norddeich-Mole (nach Juist und Norderney – Mit 825.000 beförderten Personen sowie 180.000 Fahrzeugen war die Verbindung die zweitwichtigste deutsche Fährverbindung im 1. Halbjahr 2004), Neßmersiel (nach Baltrum), Bensersiel (nach Langeoog), Neuharlingersiel (nach Spiekeroog) und Harlesiel (nach Wangerooge). Weitere kleinere Häfen (teils eher Marinas) mit schleusenfreier Verbindung zur Ems und zur Nordsee befinden sich in Pogum, Ditzum, Midlum, Jemgum, Bingum, Weener, Oldersum und Petkum an der Ems sowie in Dornumersiel am Wattenmeer. Die Häfen von Greetsiel und Carolinensiel können durch Schleusen erreicht werden. Für die Fischerei sind vor allem die Häfen in Ditzum, Greetsiel, Norddeich, Dornumersiel und Neuharlingersiel von Bedeutung. In Oldersum ist am Hafen zudem eine kleinere Werft ansässig. Flugverkehr Ostfriesland verfügt über zivile Flugplätze in Leer-Nüttermoor, Emden und Norden-Norddeich. Außerdem verfügen alle Inseln mit Ausnahme Spiekeroogs über Flugplätze. Diese dienen dem Personentransport von und zu den Inseln, teils auch dem Gütertransport mit leichteren Waren. Die meisten Flugbewegungen werden auf dem Flugplatz in Leer verzeichnet, der besonders von Geschäftsreisenden aus Leer und Papenburg häufig genutzt wird. Der Emder Flugplatz ist für die ansässigen Betriebe, vor allem das VW-Werk, ebenfalls von Bedeutung. Der Norddeicher Flugplatz hingegen dient dem Inselverkehr. In Emden ist der OFD Ostfriesischer-Flug-Dienst GmbH (OFD, früher OLT; Tochterfirma der Reederei AG Ems) beheimatet, in Norden/Norddeich die FLN FRISIA-Luftverkehr GmbH (Tochterfirma der Reederei Frisia). Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen ist der Flughafen Bremen. Persönlichkeiten Ostfriesland hat im Laufe der vergangenen Jahrhunderte – und bis heute – eine Reihe von bekannten Persönlichkeiten hervorgebracht. Den meisten ist gemeinsam, dass sie ihre Karriere anderenorts begannen oder fortsetzten – was als Hinweis auf die periphere Lage des Landstrichs und auf das Fehlen einer Metropole verstanden werden kann. Der international bekannteste Ostfriese dürfte der aus Emden stammende Filmregisseur Wolfgang Petersen sein. Zu den national bekanntesten Ostfriesen gehören darüber hinaus die ebenfalls aus Emden stammenden Komiker Otto Waalkes und Karl Dall. Besonders Otto hat in vielen Musikalben und Filmen stets seine Herkunft betont. Der Frontmann der Techno-Band Scooter, H.P. Baxxter, heißt mit bürgerlichem Namen Hans-Peter Geerdes und stammt aus Leer. Der in Emden geborene Journalist Henri Nannen hat das Magazin Stern gegründet und damit einen wesentlichen Beitrag zur Presselandschaft im Nachkriegsdeutschland geleistet. Der Fernsehjournalist und langjährige ARD-Korrespondent in Paris, Heiko Engelkes, wurde in Norden geboren. Zu den bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart zählt der gebürtige Auricher Hermann Lübbe. Ebenfalls in Aurich geboren wurde Rudolf Eucken, der 1908 als zweiter Deutscher den Literatur-Nobelpreis verliehen bekam und damit der einzige Ostfriese ist, der bislang diese Ehrung erhielt. Die aus Pewsum stammende Hermine Heusler-Edenhuizen war 1911 die erste offiziell anerkannte und niedergelassene Frauenärztin in Deutschland. In früheren Jahrhunderten haben der Universalgelehrte Ubbo Emmius aus Greetsiel gewirkt, der unter anderem Gründungsrektor der Universität Groningen war, der Apotheker und Naturaliensammler Albert Seba, der als Herausgeber des „Thesaurus“, einer umfangreichen Buchausgabe mit Darstellungen und Beschreibungen aller Objekte seiner Sammlung, zu den Vorläufern der großen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d'Alembert gehörte, sowie der Astronom Johann Fabricius aus Resterhafe, der unabhängig von Galileo Galilei die Sonnenflecken entdeckte. Der Leeraner Historiker Onno Klopp hat es als letzter Historiograph der Welfen im 19. Jahrhundert zu Bekanntheit gebracht. Der SPD-Politiker Garrelt Duin aus Hinte war Europaabgeordneter (2000–2005), Bundestagsabgeordneter (2005–2012) und war von 2012 bis 2017 Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen. Ulf Thiele aus Uplengen fungiert als niedersächsischer CDU-Generalsekretär. Der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), stammt aus Bunde. 2013 ist Johann Saathoff, gebürtiger Emder, als Direktkandidat für die SPD in den Bundestag eingezogen. Dieter Eilts aus Upgant-Schott, früherer Fußballprofi bei Werder Bremen, hat zum Gewinn der Europameisterschaft 1996 beigetragen. Der gebürtige Norderneyer Bernd Flessner ist mit 14 deutschen Meistertiteln der erfolgreichste deutsche Windsurfer. Um die Gesundheit von Sportlern kümmert sich einer der bekanntesten deutschen Sportmediziner, der gebürtige Leerhafer Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. Die frühere Box-Weltmeisterin Heidi Hartmann wurde ebenso wie der iranische Fußball-Nationalspieler Ferydoon Zandi in Emden geboren, die Leichtathletin Silvia Rieger stammt aus Hinte. Eine Reihe von bekannten Persönlichkeiten wurde zwar nicht in Ostfriesland geboren, ist der Region aber verschiedentlich verbunden gewesen. Dazu zählt der Seeräuber Klaus Störtebeker, der sich im 14. Jahrhundert die Lage Ostfrieslands an Seewegen bei gleichzeitiger Abgeschiedenheit auf dem Landwege zunutze machte und in Ostfriesland Unterschlupf fand, vor allem in Marienhafe. Der aus Diedenshausen bei Siegen stammende Rechtsgelehrte Johannes Althusius war einer der bedeutendsten Nicht-Ostfriesen, die in Ostfriesland gewirkt haben. Als Stadtsyndikus von Emden lenkte er maßgeblich die Geschicke der Stadt in der Zeit ihrer größten Blüte um 1600. Althusius gilt auch als einer der ersten Deutschen, die sich wissenschaftlich mit Politik befasst haben. Der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, gebürtig aus Nordschleswig, verbrachte einen Teil seiner Jugend in Leer. Er besuchte dort die Volksschule und das Gymnasium. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich auf der Insel Borkum einen Zweitwohnsitz eingerichtet. Auf Norderney lebte und arbeitete bis 2008 der aus dem schleswig-holsteinischen Wedel stammende Kunstmaler Ole West. Siehe auch Literatur Als Standardwerk zur Landesbeschreibung gilt das zwölfbändige Kompendium Ostfriesland im Schutze des Deiches. Beiträge zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des ostfriesischen Küstenlandes, das von der Deichacht Krummhörn in Pewsum zunächst im Selbstverlag herausgegeben und in späteren Auflagen in den Leeraner Verlagen Rautenberg und zum Teil Schuster erschienen ist. Band I: K.-H. Sindowski: Geologische Entwicklung von Ostfriesland, H. Voigt/G. Roeschmann: Die Böden Ostfrieslands, P. Schmidt: Die vor- und frühgeschichtlichen Grundlagen der Besiedlung Ostfrieslands nach der Zeitenwende, W. Reinhardt: Die Orts- und Flurformen Ostfrieslands in ihrer siedlungsgeschichtlichen Entwicklung, H. Wiemann: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostfrieslands. Band II: H. Homeier: Der Gestaltwandel der ostfriesischen Küste im Laufe der Jahrhunderte – Ein Jahrtausend ostfriesischer Deichgeschichte, E. Siebert: Entwicklung des Deichwesens vom Mittelalter bis zur Gegenwart, J. Kramer: Neue Deiche, Siele und Schöpfwerke zwischen Dollart und Jadebusen. Band III: G. Siebels: Die Pflanzenwelt der ostfriesischen Halbinsel, G. Siebels: Die Tierwelt Ostfrieslands, J. Köppe: Ostfriesische Tierzucht. Band IV: G. Kiesow: Ostfriesische Kunst. Band V: H. Schmidt: Politische Geschichte Ostfrieslands. Band VI: M. Smid: Ostfriesische Kirchengeschichte. Band VII (Geschichte der Stadt Emden 3): E. Siebert: Von 1750 bis 1890, W. Deeters: Von 1890 bis 1945, Bernard Schröer: Von 1945 bis zur Gegenwart. Band VIII: H. Wiemann/J. Engelmann: Alte Straßen und Wege in Ostfriesland. Band IX: O. Minssen: Friedrich von Thünen (1785–1865) – Leben und Werk eines friesischen Hausmannes. Band X (Geschichte der Stadt Emden 1): K. Brandt: Archäologische Quellen zur frühen Geschichte von Emden, H. van Lengen: Geschichte der Stadt Emden von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, H. Schmidt: Geschichte der Stadt Emden von 1500 bis 1575, W. Deeters: Geschichte der Stadt Emden von 1575 bis 1611. Band XI (Geschichte der Stadt Emden 2): Bernd Kappelhoff: Emden als quasiautonome Stadtrepublik 1611 bis 1749. Band XII: M. Wilken/U. Hangen/W. Deeters: Deiche und Deichachten in der Krummhörn. Weitere Literatur: Johann Aeils, Jan Smidt, Martin Stromann: Steinerne Zeugen in Marsch und Geest: Gulfhöfe und Arbeiterhäuser in Ostfriesland. 3., neu überarb. Auflage. Verlag SKN, Norden 2007, ISBN 978-3-928327-16-9. Karl Cramer: Die Geschichte Ostfrieslands. Ein Überblick. Isensee Verlag, Oldenburg 2003, ISBN 3-89598-982-7. Karl-Ernst Behre, Hajo van Lengen: Ostfriesland. Geschichte und Gestalt einer Kulturlandschaft. Aurich 1995, ISBN 3-925365-85-0. Karl-Ernst Behre: Ostfriesland – Die Geschichte seiner Landschaft und ihrer Besiedelung. Brune-Mettcker Druck- und Verlags-GmbH, Wilhelmshaven 2014, ISBN 978-3-941929-09-8. Ernst Friedlaender: Ostfriesisches Urkundenbuch. Erster Band, 787–1470, Emden 1878. Ernst Friedlaender: Ostfriesisches Urkundenbuch. Zweiter Band, 1471–1500 nebst Nachträgen und Anhang, Emden 1881. Johann Gottfried Hoche: Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Gröningen. Friedrich Wilmans, Bremen 1800, Repr. Schuster, Leer 1977/1978, ISBN 3-7963-0137-1, . Hermann Homann: Ostfriesland – Inseln, Watt und Küstenland. F. Coppenrath Verlag, Münster. Gottfried Kiesow: Architekturführer Ostfriesland. Verlag Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn 2010, ISBN 978-3-86795-021-3. Onno Klopp: Geschichte Ostfrieslands. 3 Bde., Hannover 1854–1858. Stefan Kröger: Das Ostfriesland-Lexikon. Ein unterhaltsames Nachschlagewerk. Isensee Verlag, Oldenburg 2006, ISBN 3-89995-320-7. Hajo van Lengen – Ostfriesland, Kultur und Landschaft. ruhrspiegel-Verlag, Essen 1978. Hajo van Lengen (Hrsg.): Die Friesische Freiheit des Mittelalters – Leben und Legende. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 2003, ISBN 3-932206-30-4. Eberhard Lutze: Ostfriesland (= Deutsche Lande Deutsche Kunst). 3. Auflage. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 1980, ISBN 3-422-00122-0. Günther Möhlmann (Hrsg.): Ostfriesisches Urkundenbuch. Dritter Band: Ergänzende Regesten und Urkunden zu Band I und II, 854–1500. Hrsg. unter Mitarbeit von Heinrich Reimers, Heino Steffens, Gerhard Theuerkauf und Albrecht Timm (= Quellen zur Geschichte Ostfrieslands, Band 10). Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1975. Heinrich Friedrich Wilhelm Perizonius: Geschichte Ostfrieslands. Nach den besten Quellen bearbeitet. Vier Bände. Risius, Weener 1868–1869 (in der Darstellung überholt, wegen der ausgewerteten und zitierten Quellen jedoch für die ostfriesische Geschichte in der Frühen Neuzeit noch von Interesse). Herbert Reyer: Ostfriesland im Dritten Reich. Die Anfänge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Regierungsbezirk Aurich 1933–1938. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich 1992. Herbert Röhrig: Heilige Linien durch Ostfriesland (= Arbeiten zur Landeskunde und Wirtschaftsgeschichte Ostfrieslands, Heft 5). A. H. F. Dunkmann, Aurich 1930. Martin Tielke (Hrsg.): Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich, Bd. 1 ISBN 3-925365-75-3 (1993), Bd. 2 ISBN 3-932206-00-2 (1997), Bd. 3 ISBN 3-932206-22-3 (2001), Bd. 4 ISBN 3-932206-62-2 (2007). Historisch: Hector Wilhelm Heinrich Mithoff, Kunstdenkmale und Alterthümer im Hannoverschen: Fürstenthum Ostfriesland und Harlingerland, Band 7, Ostfriesland in belletristischen Texten Seit Mitte der 1980er-Jahre wurde Ostfriesland insbesondere als Schauplatz für Krimis von mehreren Autoren entdeckt. Den Anfang machte dabei der aus Nordrhein-Westfalen stammende, aber seit den 1970ern in Ostfriesland lebende Theodor J. Reisdorf. Ihm folgte unter anderem der ebenfalls aus NRW stammende und in Ostfriesland lebende Klaus-Peter Wolf, wohingegen die Autorin Sandra Lüpkes zwar in Göttingen geboren wurde, aber auf der Insel Juist aufwuchs. Auch der Schriftsteller Wolfgang Bittner, der in Ostfriesland aufwuchs und zeitweise beim Landkreis Wittmund und bei der Bezirksregierung in Aurich tätig war, geht in mehreren seiner Werke auf Ostfriesland ein, so etwa in den Romanen „Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben“ (1978), „Niemandsland“ (1992) und „Hellers allmähliche Heimkehr“ (2012). Eine Auswahl an belletristischen Texten mit dem Sujet Ostfriesland: Erskine Childers: Das Rätsel der Sandbank (Orig.: The Riddle of the Sands, 1903 erschienen, gilt als einer der ersten Spionageromane und befasst sich mit einer möglichen deutschen Invasion Englands) Sophie Wörishöffer: Onnen Visser, der Schmugglersohn von Norderney (im späten Kaiserreich eines der beliebtesten Jugendbücher über Ostfriesland unter französischer Herrschaft). Hansjörg Martin: Kein Schnaps für Tamara (spielt in Norden, starke Anspielungen an dortige Geschäftsleute), auch Fernsehfilm. Krimis mit Lokalkolorit von Theodor J. Reisdorf: Land, Leute und Leichen (1982), Inselschönheit (1984), Jadedistel (1986), Friesische Todessinfonie (2006). Wolfgang Bittner: Schreiben, Lesen, Reisen (2006) (mit einer Rückbesinnung Aufgewachsen in Ostfriesland und einem Nachwort des Wittmunder Bürgermeisters Karl-Heinz Krüger). Krimis mit Lokalkolorit von Klaus-Peter Wolf: Ostfriesenkiller (2007), Ostfriesenblut (2008), Ostfriesengrab (2009),Ostfriesensünde (2010), Ostfriesenfalle (2011), Ostfriesenangst (2012), Ostfriesenmoor (2013), Ostfriesenfeuer (2014), Ostfriesenwut (2015), Ostfriesenschwur (2016), Ostfriesentod (2017), Ostfriesenfluch (2018). Krimis mit Lokalkolorit von Sandra Lüpkes: Die Sanddornkönigin (2001), Der Brombeerpirat (2002), Fischer, wie tief ist das Wasser (2003), Das Hagebuttenmädchen (2004), Halbmast (2005), Die Wacholderteufel (2006), Das Sonnentau-Kind (2007), Die Blütenfrau (2008). Rainer Joedecke (auch Fotos): Ostfriesland: Geschlossene Gesellschaft. In: Geo-Magazin. Hamburg 1978,10, S. 8–32. Informativer Erlebnisbericht, mit Karte: „Die kinderreichste Landschaft der Bundesrepublik“ Ostfriesland in Film und Fernsehen Britta, zweiteiliges ARD-Fernsehspiel aus dem Jahr 1978. Der Autor und Regisseur Berengar Pfahl hatte den Löwenanteil der Handlung nach Ostfriesland verlegt und es dabei verstanden, Lebensumstände und Lebensgefühl der Region, insbesondere das der Jugendlichen zu transportieren. So war die Produktion auch in weiten Teilen Ostfrieslands ein Straßenfeger. Otto – Der Außerfriesische, Kinofilm von und mit Otto Waalkes aus dem Jahr 1989, in dem er seine Heimat Ostfriesland davor bewahrt, dass dort eine Teststrecke für Hochgeschwindigkeitszüge errichtet wird. In jenem Film bewohnt Otto den Pilsumer Leuchtturm, der es nicht zuletzt durch diesen Film zu Berühmtheit gebracht hat und als „Markenzeichen“ Ostfrieslands gilt. Otto Waalkes hat sein Ostfriesentum zudem im Kabarett und in weiteren Spielfilmen zum Thema gemacht. Schnaps im Wasserkessel, Dokumentarfilm von Hans-Erich Viet (1991). Der Regisseur Hans-Erich Viet begibt sich in seine Heimat, das Rheiderland, und lässt unter anderem die Landarbeiter, Bauern, Mägde, Schnaps- und Ziegelbrenner, Jäger und VW-Arbeiter größtenteils im Rheiderländer Platt, das auch der Regisseur selbst noch spricht, von ihrem Leben und ihrer Arbeit erzählen. Frankie, Johnny und die Anderen, Kinofilm von Hans-Erich Viet (1993). Im Sumpf des Rheiderlands: Fünf Freunde, angeführt von Frankie (Detlef Kuper) versuchen, ihre Langeweile mit dem Erlernen fernöstlicher Kampfsportarten und Meditation zu vertreiben, und planen schließlich ein Bombenattentat auf die Dorfkirmes. Sonne und Sturm, Folge der ARD-Reihe Tatort (2003), die in dem fiktiven Küstenort „Nordersiel“ spielt, jedoch in Greetsiel gedreht wurde. Doktor Martin, komödiantische Vorabendfamilienserie im ZDF. Ausstrahlung von 2007 bis 2009. Doktor Martin, gespielt von Axel Milberg, ist ein Arzt, der wegen einer Blutphobie einen Neuanfang im Fischerdorf Neuharlingersiel sucht. Im Rahmen des ZDF Samstagskrimi werden zwei in Ostfriesland handelnde und gedrehte Krimiserien ausgestrahlt: Friesland ist eine mit komödiantischen Elementen versehene Serie von Krimis mit bisher mehr als zehn Folgen. Die Dorfpolizisten Jens Jensen (Florian Lukas) und Süher Özlügül (Burcu Dal) sind im ostfriesischen Leer stationiert. Unterstützt von der Dorfapothekerin und Hobby-Forensikerin Insa Scherzinger (Theresa Underberg) überschreiten sie ihre Kompetenzen, indem sie Mordfälle aufklären und dabei dem eigentlich zuständigen Kriminalkommissar Jan Brockhorst (Felix Vörtler) aus Wilhelmshaven zuvorkommen. Ostfrieslandkrimis ist eine ursprünglich in Buchform erschienene Krimiserie von Klaus-Peter Wolf, von denen es mehrere Folgen mit Verkäufen in den Millionen an die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste schafften. Das ZDF kaufte die Filmrechte und begann die Fernsehserie am 1. April 2017 mit der Verfilmung seines gleichnamigen Romans Ostfriesenkiller. Die Handlung sowohl der Romane als auch der Filme spielt im Wesentlichen in der ostfriesischen Heimatstadt Norden des Buchautors, wo auch die Hauptprotagonistin und Kriminalkommissarin Ann Kathrin Klaasen wohnt. Auch in der Fernsehserie lassen sich ostfriesische Drehorte wie die Polizeiwache am Marktplatz in Norden, das Rathaus in Aurich sowie die Nordseeküste erkennen. Obwohl Wolf schon mehrere Drehbücher zum Beispiel für die Krimireihe Tatort schrieb, überließ er hier die filmische Umsetzung anderen Autoren. Der Ostfriesenkomplex, Film-Essay von Wolfgang Jost in 7 Teilen (2020), KinoEye041049 Weblinks Website der Ostfriesland Tourismus GmbH Daniela Wakonigg: 25.05.1744 - Todestag von Carl Edzard WDR ZeitZeichen (Podcast) Mit einem Überblick über die Geschichte Ostfrieslands. Literatur über Ostfriesland in der Niedersächsischen Bibliographie Anmerkungen Region in Niedersachsen Reichsgrafschaft Weltliches Reichsfürstentum Region in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich%20I.%20%28HRR%29
Friedrich I. (HRR)
Friedrich I., genannt Barbarossa (italienisch für „Rotbart“) (* um 1122; † 10. Juni 1190 im Fluss Saleph nahe Seleucia, Kleinarmenien), aus dem Adelsgeschlecht der Staufer war von 1147 bis 1152 als Friedrich III. Herzog von Schwaben, von 1152 bis 1190 römisch-deutscher König und von 1155 bis 1190 Kaiser des römisch-deutschen Reiches. Barbarossas Wahl war die Folge eines Interessenausgleichs mehrerer Fürsten. Die wohl bedeutendste Rolle spielte dabei sein Vetter Heinrich der Löwe, der als Folge der Absprachen eine königgleiche Stellung in Norddeutschland aufbauen konnte. Seine langjährige Förderung durch den König missachtete jedoch das Gleichgewicht hocharistokratischer Familienverbände und ließ Heinrich schließlich zum Störfaktor für die übrigen Reichsfürsten werden. Barbarossas Herrschaft war zudem vom Doppelkonflikt mit dem lombardischen Städtebund und dem Papsttum geprägt. In einer Gesellschaft, in der Ehre (honor) den sozialen Rang bestimmte, führten Ehrverletzungen und der daraus resultierende Zwang zur Rache zu jahrzehntelangen Konflikten. In den Auseinandersetzungen zwischen den oberitalienischen Städten versuchte Barbarossa eine Vermittlerrolle einzunehmen. Er scheiterte jedoch, zog sich den Vorwurf der Parteilichkeit zu und konnte die traditionellen Herrscheraufgaben der Friedens- und Rechtswahrung nicht ausüben. Die Weigerung einiger Städte, sich dem kaiserlichen Gericht zu stellen, musste angesichts des Konzepts der „Ehre des Reiches“ (honor imperii) aber auch zur Bestätigung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs gesühnt werden. Nachdem Tortona und Mailand zerstört worden waren, beabsichtigte Barbarossa die Königsherrschaft im Regnum Italicum grundsätzlich neu zu ordnen. Alte Hoheitsrechte des Reiches wurden wieder beansprucht oder neu definiert und schriftlich fixiert. Alle Gerichtshoheit und Amtsgewalt sollte vom Reich ausgehen. Die Einsetzung kaiserlicher Verwalter und die umfassende finanzielle Nutzung der dem Kaiser zugesprochenen Regalien trafen jedoch auf den Widerstand der Städte. Sie hatten Regalien und Jurisdiktionsrechte längst schon gewohnheitsrechtlich wahrgenommen. Anders als noch in salischer Zeit führten der Konflikt mit dem Papst und die Exkommunikation des Kaisers nicht zur Entstehung einer größeren Oppositionsbewegung im nördlichen Reichsteil. Erst nach der Niederlage des kaiserlichen Heeres in der Schlacht von Legnano 1176 wurde das jahrzehntelange Schisma im Frieden von Venedig und der Konflikt mit den Kommunen im Konstanzer Frieden 1183 beendet. Heinrich der Löwe hatte sich geweigert, dem Kaiser 1176 im Kampf gegen die lombardischen Städte beizustehen; auf Bestreben der Fürsten wurde er gestürzt und musste ins Exil gehen. Schon vor seiner Königsherrschaft hatte Barbarossa von 1147 bis 1149 am Kreuzzug seines königlichen Onkels Konrad III. teilgenommen. In seinen letzten Jahren bereitete er nach der Niederlage des Königs von Jerusalem, Guido von Lusignan, gegen Saladin 1187 einen weiteren Kreuzzug vor. Am 11. Mai 1189 brach der Kaiser auf, doch er ertrank dreizehn Monate später kurz vor seinem Ziel. Der Beiname „Barbarossa“ („Rotbart“) wurde erst im 13. Jahrhundert fester Namensbestandteil. Im Rahmen der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Friedrich Barbarossa zum nationalen Mythos. Mit der Sage vom Kaiser, der im Kyffhäuser schläft und auf bessere Zeiten wartet, wurde die Hoffnung auf die nationale Einheit verbunden. Leben Herkunft und Aufstieg der Staufer Friedrich entstammte dem adligen Geschlecht der Staufer. Dieser Name ist jedoch eine Begriffsfindung der Historiker aus dem 15. Jahrhundert. Die Ahnen väterlicherseits waren unbedeutend und wurden nicht überliefert. Abstammung und Herkunft der Familie sind bis heute ungeklärt. Der Familie gelang es durch konsequente Nutzung von Klostervogteien, kluge Inanspruchnahme der Ministerialität und enge Zusammenarbeit mit Klerus und Volk der Bistümer Würzburg, Worms und Speyer ihre Herrschaftsposition vor Antritt des Königtums auszubauen. Für das Anwachsen der staufischen Macht waren auch zahlreiche Eheschließungen vorteilhaft. Über Barbarossas Urgroßvater Friedrich von Büren ist lediglich bekannt, dass er eine Frau namens Hildegard geheiratet hat. Jüngst wurde vermutet, dass der Schlettstädter Besitz nicht Hildegard, sondern Friedrich selbst gehört habe und die Staufer damit ein elsässisches Geschlecht gewesen seien. Erst um 1100 habe sich mit Herzog Friedrich I. der Ausgriff ins ostschwäbische Remstal vollzogen. Weit wichtiger war für die Staufer ihre prestigeträchtige Verwandtschaft mütterlicherseits mit den Saliern. Die Großmutter Friedrich Barbarossas war Agnes, eine Tochter des salischen Herrschers Heinrich IV. Barbarossa verstand sich als Nachkomme des ersten Salierkaisers Konrad II., auf den er sich in Urkunden mehrfach als seinen Vorfahren bezog. Der Aufstieg der Staufer vollzog sich in den Konflikten Heinrichs IV. mit den Fürsten aus Sachsen und Schwaben. Als Reaktion auf die Erhebung des Schwabenherzogs Rudolf von Rheinfelden zum Gegenkönig Heinrichs IV. erhielt Friedrich I. vom König 1079 das Herzogtum Schwaben und wurde mit dessen Tochter Agnes vermählt. Als Schwiegersohn war Friedrich eine wichtige Stütze für den salischen Kaiser gegen die geistlichen und weltlichen Vertreter der gregorianischen Reform. 1105 bekam sein fünfzehnjähriger Sohn Friedrich II., der Vater von Barbarossa, das Herzogtum. Nach dem Sturz des Kaisers durch seinen Sohn Heinrich V. übernahmen 1116 die beiden Brüder Konrad und Friedrich II. die Stellvertreterschaft im nördlichen Reichsteil. Konrad wurde Herzog von Ostfranken. Barbarossas Vater Friedrich II. war in der Verteidigung der salischen Interessen und dem weiteren Ausbau seiner staufischen Hausmacht so erfolgreich, dass über ihn laut Otto von Freising erzählte wurde, er habe am Schwanz seines Pferdes stets eine Burg hinter sich hergezogen. Um 1122 wurde Barbarossa als Sohn Friedrichs II. und der Welfin Judith geboren. Sein Geburtsort war vielleicht Hagenau. Er erlernte das Reiten, Jagen und den Umgang mit Waffen. Barbarossa konnte weder lesen noch schreiben und war auch der lateinischen Sprache nicht mächtig. Die Kandidatur seines Vaters Friedrich II. als Nachfolger des kinderlos verstorbenen salischen Herrschers Heinrich V. blieb 1125 erfolglos, da er die libera electio (freie Wahl) der Fürsten nicht akzeptierte. Gewählt wurde stattdessen der Sachsenherzog Lothar III. Nach dem Tod Lothars wurde am 7. März 1138 Konrad in Koblenz von einer kleinen Fürstengruppe unter der Leitung des Erzbischofs Albero von Trier zum König gewählt. Friedrich Barbarossa nahm 1141 in Straßburg, 1142 in Konstanz, 1143 in Ulm, 1144 in Würzburg und 1145 in Worms an Hoftagen seines königlichen Onkels Konrad teil. Auch in den Folgejahren hielt er sich regelmäßig am Königshof auf. Um 1147 heiratete er Adela, die Tochter des nordbayerischen Markgrafen Diepold III. von Vohburg. Wenige Wochen vor dem Tod seines Vaters wurde Barbarossa zu Weihnachten 1146 in einer königlichen Urkunde als „der jüngere Herzog“ bezeichnet. Von 1147 bis 1149 nahm er am Kreuzzug seines königlichen Onkels Konrad teil. Das Unternehmen schlug fehl, der König erkrankte an der Malaria. Zur Jahreswende 1151/52 traf Konrad Vorbereitungen für die Königswahl seines Sohnes Friedrich von Rothenburg, starb jedoch schon am 15. Februar 1152. Königswahl (1152) Bereits zwei Wochen nach dem Tod Konrads wählten die Fürsten am 4. März 1152 in Frankfurt am Main seinen Neffen Herzog Friedrich III. von Schwaben, den Sohn des Thronkandidaten von 1125, zum neuen König. Otto von Freising zeichnet das Bild einer einmütigen Königserhebung und zwangsläufigen Nachfolge Friedrichs. Friedrich sei gewählt worden, da er den beiden verfeindeten Familien der Heinrici de Gueibelinga (Heinriche von Waiblingen) und der Guelfi de Aldorfio (Welfen von Altdorf) angehöre; er sei damit der „Eckstein“ (angularis lapis) der Versöhnung geworden. Tatsächlich dürfte es jedoch vor der Wahl intensive Verhandlungen, Zugeständnisse und Absprachen zwischen Friedrich und den Großen gegeben haben. Als Herzog von Schwaben musste Barbarossa seine Erhöhung zum König seinen Standesgenossen hinnehmbar machen. Die Unterstützung Heinrichs des Löwen gewann er wohl durch die Zusage, ihm das Herzogtum Bayern zurückzugeben. Auf Konrads letztem Hoftag gelang es Barbarossa, sich die Unterstützung des Bamberger Bischofs Eberhard II. zu sichern. Eberhard hoffte dadurch Bambergs kirchenrechtliche Stellung gegenüber Mainzer Ansprüchen zu wahren. Welf VI. versprach sich vom künftigen König, seinem Neffen, die Sicherung seiner herzoglichen Stellung. Sie wurde durch die Einsetzung als Herzog von Spoleto, Markgraf der Toskana und Fürst von Sardinien (dux Spoletanus et marchio Tusciae et princeps Sardiniae) noch im selben Jahr gefestigt. Durch die Wahl wurde Konrads minderjähriger Königssohn Friedrich bei der Königswahl übergangen – der erste Fall dieser Art bei Königswahlen. Vor diesem Hintergrund bemerkte Otto von Freising in seinem Bericht über die Frankfurter Königswahl von 1152 ausdrücklich, dass die Wahl des Königs ein besonderer Vorzug des römisch-deutschen Reichs sei. Friedrich wurde am 9. März 1152 von Erzbischof Arnold von Köln in der Aachener Münsterkirche Karls des Großen gekrönt. Während der Zeremonie warf sich ein Ministeriale, dem Barbarossa aufgrund schwerer Vergehen die Gunst entzogen hatte, dem frisch gesalbten König in aller Öffentlichkeit vor die Füße. Der Ministeriale wollte dadurch die Wiederaufnahme in die Huld des Herrschers erreichen. Er wurde jedoch von Friedrich mit der Begründung abgewiesen, dass er ihn nicht aus Hass, sondern aus Gerechtigkeitsgründen von seiner Huld ausgeschlossen habe (non ex odio, sed iustitie intuitu illum a gratia sua exclusum fuisse). Die Entscheidung überraschte die meisten der Anwesenden und erhielt ihren Respekt. Die Reaktion Barbarossas wird von der modernen Forschung als Ausdruck des Wandels bei der Einschätzung der Frage gewertet, welche Tugenden von einem Herrscher erwartet wurden. Waren in ottonisch-salischer Zeit Milde und Barmherzigkeit mit ihren demonstrativen Ausdrucksformen wie Tränen und Friedenskuss Werte, an denen königliches Handeln gemessen wurde, so war nun der rigor iustitiae (Strenge der Gerechtigkeit) zum Maßstab für die Bewertung des Herrschers geworden. Verzeihung und Wiedereinsetzung wurden unter Barbarossa nicht mehr in dem bis dahin üblichen Maß gewährt. Nach der Frankfurter Königswahl wurde Barbarossa auf seinem traditionellen Königsumritt durchs Reich von Heinrich dem Löwen, Albrecht dem Bären, Welf VI. und Bischof Anselm von Havelberg begleitet. Personelle Veränderungen und Kontinuitäten Mit der Königsherrschaft Barbarossas setzte eine Verschiebung der Machtstruktur besonders bei den weltlichen Fürsten am Hof ein: Die beiden Welfen Heinrich der Löwe und Welf VI. wurden als ehemalige Gegner des alten Königs Konrad zuverlässige Vertraute des neuen Königs und besuchten von allen Fürsten am regelmäßigsten den Königshof. Welf VI. wurde im Juni 1152 erstmals als „Herzog von Spoletto und Markgraf von Tuszien und Fürst von Sardinien“ bezeichnet. Neben den Welfen tauchten auch die Wittelsbacher als ehemalige Gegner des alten Königs Konrads nun am Königshof auf. Otto von Wittelsbach wurde eine zuverlässige Stütze der Königsherrschaft Barbarossas. Dafür verloren die Grafen von Sulzbach und die Babenberger, auf die sich Konrad gestützt hatte, an Einfluss. Bei den geistlichen Fürsten waren Erzbischof Arnold II. von Köln, Bischof Anselm von Havelberg und Abt Wibald von Stablo und Corvey bereits enge Vertraute Konrads gewesen und behielten diese Position auch unter Barbarossa. Auf dem Merseburger Hoftag 1152 wurde Wichmann, der bisherige Bischof von Naumburg, zum neuen Erzbischof von Magdeburg erhoben. Mit der Erhebung entsprach Barbarossa den Bedürfnissen der Personengruppe um den Meißener Markgrafen Konrad von Wettin. Dieser war bereits ein zuverlässiger Parteigänger König Konrads gewesen und konnte seine Stellung auch unter Barbarossa behaupten. Durch die Durchsetzung der Erhebung von Konrads Neffen Wichmann zum Erzbischof von Magdeburg gelang es ihm, ein Gegengewicht zu Heinrich dem Löwen in Sachsen zu schaffen. Barbarossa sicherte sich dafür die Gunst der Fürstengruppe, die der königlichen Förderung Heinrichs des Löwen skeptisch gegenüberstand, und konnte so den künftigen Magdeburger Erzbischof auf seine Person verpflichten. Seine Ehe mit Adela von Vohburg ließ Barbarossa 1153 in Konstanz wegen angeblich zu naher Verwandtschaft auflösen. Entscheidend gewesen sein dürften in Wirklichkeit aber die kinderlose Ehe oder Adelas nicht mehr standesgemäße Herkunft sowie ihre Beziehung zu Personenkreisen, die unter König Konrad einflussreich gewesen waren, nun aber zurückgedrängt wurden. Barbarossas Verhandlungen mit dem byzantinischen Kaiser Manuel I. über eine Ehe mit einer Angehörigen aus dem byzantinischen Kaiserhaus blieben jedoch ohne Ergebnis. Förderung und Zusammenarbeit mit Heinrich dem Löwen Die größten Zuwendungen erhielt Heinrich der Löwe. Nach der Königswahl setzte eine enge Zusammenarbeit mit dem Herzog ein. Am 8. oder 9. Mai 1152 belehnte ihn Barbarossa mit der Reichsvogtei Goslar, die wegen ihres Silberabbaus am Rammelsberg hohe und kontinuierliche Einnahmen sicherte. Am 18. Mai 1152 fand ein Hoftag in Merseburg statt. Dort entschied der König mit den Fürsten die dänischen Thronstreitigkeiten zwischen Sven Grathe und dessen Kontrahenten Knut zu Gunsten des ersteren. In Merseburg war außerdem ein Streit über die Plötzkauer und Winzenburger Grafschaften zwischen Heinrich dem Löwen und Albrecht dem Bären zu klären. Albrecht berief sich wohl auf Verwandtenerbrecht; Heinrich vertrat die Auffassung, dass nach dem Tod eines erbenlosen Grafen dessen Güter und Rechte an den Herzog übergehen. Ziel der Argumentation des Löwen war wohl, die Herzogsgewalt als verfassungsrechtliche Größe zwischen König und Grafen zu positionieren. Der sächsische Dukat wäre auf diese Art, wie in der spätkarolingischen Zeit, zu einem Vizekönigtum geworden. Der Konflikt wurde am 13. Oktober 1152 beim Hoftag in Würzburg beigelegt. Heinrich der Löwe erhielt das Erbe des ermordeten Grafen Hermann II. von Winzenburg, Albrecht die Plötzkauer Grafschaften. Barbarossa verlieh dem Löwen zudem 1154 das königliche Recht der Investitur für die Bistümer Oldenburg, Mecklenburg und Ratzeburg sowie für alle anderen Bischofssitze, die der Löwe noch errichten werde. Die Forderung Heinrichs nach Rückgabe des bayerischen Herzogtums blieb vorerst jedoch offen. Der Herzog kompensierte die Förderung durch seinen intensiven Einsatz für den König in Italien. Seine von Barbarossa geschaffene Machtfülle störte jedoch das hocharistokratische Gleichgewicht unterhalb des Königtums und rief Unmut im Kreis der Fürsten hervor. Vorbereitung auf die Kaiserkrönung und schwelender Konflikt mit Mailand Im März 1153 fand in Konstanz ein Hoftag statt. Nach der Darstellung von Otto Morena wurde Barbarossa dort mit den Problemen zwischen den italienischen Städten konfrontiert. Kaufleute aus Lodi sollen gegen die Angriffe auf ihre Freiheit und die Behinderung des Handels durch Mailand geklagt haben. Der Konflikt zwischen Mailand und Lodi war Folge des politischen und demografischen Wandels in Italien, der zur Entstehung der Kommune im späten 11. Jahrhundert führte. Unter Führung gewählter Konsuln setzte sich die Selbstverwaltung der Bürger gegen den bischöflichen Stadtherrn durch. Der Investiturstreit im 11. Jahrhundert führte zum Zusammenbruch der Reichsherrschaft in Italien und zum bewaffneten Kampf zwischen den Kommunen. In der oberitalienischen Städtelandschaft grenzten die Kommunen ihr Einflussgebiet von der nächstmächtigeren Kommune ab. Die größeren Kommunen begannen ein Territorium aufzubauen und brachten schwächere Kommunen in ihre Abhängigkeit. Dies führte zu kriegerischen Konflikten mit benachbarten Städten. Im ersten innerlombardischen Krieg hatte Mailand 1111 Lodi und nach zehnjährigem Krieg 1127 Como in weitgehende Abhängigkeit gebracht. Otto Morena schreibt, nach der Klage der Lodeser Kaufleute habe Barbarossa einen Boten nach Mailand mit dem Befehl geschickt, die Verlegung des Marktes rückgängig zu machen. Der Brief des Boten Barbarossas sei „öffentlich und in allgemeiner Versammlung“ von den Mailänder Konsuln vor den Bürgern ihrer Stadt verlesen worden. Anschließend sei der Brief zerknüllt und das Siegelbild des thronenden Königs auf den Boden geworfen und demonstrativ zertrampelt worden. Die Zerstörung des Siegels wäre eine schwere Beleidigung und Ablehnung des Herrschaftsanspruchs Barbarossas gewesen, da die Bildgegenwart des Herrschers seine Präsenz auch während der Abwesenheit verdeutlichte. Barbarossas Gesandter Sicher habe ohne die übliche Ehrerweisung in der Nacht die Stadt verlassen müssen. Das Verhältnis zwischen Mailand und Barbarossa wäre somit bereits vor dem ersten Italienzug durch eine Beleidigung angespannt gewesen. Nach Knut Görich überliefert Otto Morena zuverlässig „die oft bezeugte Bedeutung öffentlich demonstrierter Emotionen bei der Entscheidungsfindung“. Dagegen haben andere Forscher (John B. Freed, Wolfgang Stürner und Johannes Laudage) Morenas Glaubwürdigkeit bezweifelt. Morenas Bericht über das in Mailand öffentlich zertretene Siegel Barbarossas wurde von Laudage „zweifelsfrei als ätiologische Sage“ betrachtet. In Konstanz waren auch zwei päpstliche Legaten anwesend. Dadurch rückten die Verhältnisse in Süditalien in den Blickpunkt. Während des Papstschismas von 1130 hatte sich Roger II. zum König krönen lassen, und er konnte diese Würde auch nach dem Ende des Schismas behaupten. Aus kaiserlicher Sicht waren die Normannen Usurpatoren (invasor imperii), da Süditalien zum Imperium gezählt wurde. Der künftige Kaiser und der Papst stimmten darin überein, dass die Herrschaft der Normannen in Süditalien beseitigt werden müsse. Den päpstlichen Legaten versprach Barbarossa, dass er weder mit der römischen Bürgerschaft noch mit König Roger II. ohne Zustimmung des Papstes einen Frieden oder Waffenstillstand schließen werde. Er wolle vielmehr die Römer wieder unter die Herrschaft des Papstes und der römischen Kirche zwingen (subiugare). Als Schutzvogt der Kirche sollte er die Ehre (honor) des Papsttums und die Regalien des heiligen Petrus in allen Gefahren verteidigen. Papst Eugen III. versprach neben der Kaiserkrönung die Exkommunikation eines jeden, „der das Recht und die Ehre des Reiches“ verletzen würde. Der Papst und der künftige Kaiser versprachen einander, dem byzantinischen Reich keine Zugeständnisse in Italien zu machen. Über diese Vereinbarungen stellte Eugen III. am 23. März 1153 eine Urkunde aus, den sogenannten Konstanzer Vertrag. Erster Italienzug (1154–1155): Krönungszug und Konflikt mit Mailand und Tortona Im Spätherbst 1154 erreichte Barbarossa Italien. Auf einem Hoftag bei Roncaglia in der Nähe von Piacenza erschienen Gesandte aus Lodi und Como und beschwerten sich über Mailand. Die ebenfalls anwesenden Mailänder Konsuln wollten ihm eine goldene Schale voller Münzen überbringen. In der Annahme und Ablehnung von Geschenken wurde das Verhältnis der gegenseitigen politischen Beziehungen deutlich. Eine Annahme der Geschenke Mailands hätte bedeutet, dass der Herrscher zu der gebenden Stadt ein positives Verhältnis pflegte. Die Geschenke lehnte Barbarossa jedoch ab, solange sich Mailand nicht durch Gehorsam seinen Befehlen unterwerfe sowie Recht und Frieden achte. Dennoch wurde Barbarossa von Mailand in einem Vertrag (fedus) die große Summe von 4000 Mark Silber zugesichert. Barbarossa wollte anschließend nach Monza ziehen, um sich zum König des italienischen regnums (Reich) krönen zu lassen. Die Bevorzugung des kleinen Monza als Krönungsort wurde von Mailänder Seite als Provokation empfunden. Auf dem Weg zur italienischen Königskrönung wurde Barbarossa durch zwei Mailänder Konsuln drei Tage bei schlechtem Wetter durch ödes Land zwischen Landriano und Rosate fehlgeleitet. Im Heer Barbarossas entstanden dadurch erhebliche Versorgungsprobleme. Von seinen Großen wurde Barbarossa unter Druck gesetzt, sich solch eine Demütigung nicht gefallen zu lassen und die Versorgung mit Lebensmitteln durch Plünderungen im Mailänder Umland zu gewährleisten. Diese Plünderungen machten die Konfliktbereitschaft deutlich. Mailand versuchte nun die verlorene Huld durch eine symbolische Genugtuungsleistung wiederherzustellen, indem es das Haus des Konsuls, der das Heer missgeleitet hatte, zerstören ließ. Doch war das Ansehen Barbarossas dadurch nicht wiederhergestellt, da die Hauszerstörung als Genugtuungsleistung nicht in einem demonstrativen Akt vor dem beleidigten Herrscher und seinem Heer in aller Öffentlichkeit stattfand und der in seiner Ehre verletzte Barbarossa keinen Einfluss auf die satisfactio (Genugtuung) nehmen konnte. Die zugesagten 4000 Mark Silber lehnte Barbarossa ab und verlangte, dass sich Mailand hinsichtlich der Konflikte mit Como und Lodi seinem Gericht unterwerfe. Er erwartete eine öffentliche Demonstration des Gehorsams und der Unterwerfung unter seine Herrschaft. Erst wenn die Mailänder bereit wären, sich seinem Gericht zu unterwerfen, würden auch ihre Geschenke akzeptiert. Die Ablehnung des Geldes machte für Mailand den Verlust der kaiserlichen Huld deutlich. Die Zurückweisung des Geldes wurde von der Stadt als unmissverständliches Zeichen mangelnder Friedensbereitschaft gedeutet. Mailand befürchtete, Barbarossa könnte als parteiischer Richter auftreten. Außerdem war seine über Jahre gewachsene und von Barbarossas Vorgängern nicht beanstandete Machtposition bedroht. Auf der anderen Seite war mit der Verweigerung der Ladung vor das Königsgericht die zentrale Herrscheraufgabe der Rechts- und Friedenswahrung betroffen. Vor den Fürsten des Reiches beklagte sich Barbarossa, dass Mailand den honor imperii, die Ehre des Reiches, verletzt habe. Eine Verletzung des kaiserlichen honor verletzte zugleich den honor der Großen. Dadurch konnte Barbarossa bestimmte Erwartungen an das Handeln dieser Großen knüpfen und mit weitgehender Erfüllung rechnen. Dies verpflichtete ihn jedoch wiederum zu Gegenleistungen für erhaltene Hilfe und erwiesene Treue. Damit war der offene Konflikt unumgänglich. Doch mit 1800 Rittern hatte Barbarossa kein schlagkräftiges Heer für eine Offensive gegen das mächtige Mailand. Barbarossas Konflikt mit Mailand hatte Auswirkungen auf andere kommunale Stadtrivalitäten. Tortona war mit Mailand gegen Pavia verbündet. Ende 1154 wollte das königsfreundliche Pavia einen Konflikt mit Tortona vor dem Königsgericht klären lassen. Tortona verweigerte jedoch trotz mehrfacher Ladung das Verfahren mit der Begründung, Barbarossa sei ein Freund (amicus) der Pavesen und demnach parteiisch (suspectus). Mit dem Ladungsungehorsam war jedoch erneut die Herrschaftsaufgabe der Friedens- und Rechtswahrung betroffen. Von Februar bis April 1155 belagerte Barbarossa demzufolge Tortona. Gefangene Tortonesen wurden zur Abschreckung von Barbarossa öffentlich hingerichtet und das Trinkwasser mit Leichen und Schwefel vergiftet. Die zunehmend kritisch gewordene Versorgung zwang die Stadt, um Frieden zu ersuchen. In den mit Friedrich ausgehandelten Friedensbedingungen war die demütigende Unterwerfung „um des Königs und des heiligen Reiches Ruhm und Ehre“ (ob regis et sacri imperii gloriam et honorem) notwendig. Die Stadt ergab sich daraufhin in der Form der deditio (Unterwerfungsritual) im April 1155. Die Bürger unterwarfen sich vor allen Anwesenden zu Füßen Barbarossas. Die öffentliche Übergabe der Stadt in die königliche Gewalt und die Anerkennung der Herrschaft waren Voraussetzung, um Genugtuung für die erlittene Ehrverletzung zu leisten. Der Kaiser versprach daraufhin, dass die Stadt keinen Schaden nehmen würde. Entgegen der Zusage wurde Tortona jedoch am nächsten Tag vom königsfreundlichen Pavia zerstört. Pavia nutzte bei der Durchsetzung des königlichen Herrschaftsanspruchs also die Gelegenheit, einen alten Rivalen auszuschalten. Die Vorgänge bei der Zerstörung Tortonas offenbaren ein strukturelles Problem der kaiserlichen Herrschaft in Italien. Die Zeitgenossen vermuteten eine List Barbarossas. Doch war der König gezwungen, auf die Interessen seiner Verbündeten Rücksicht zu nehmen, um weiterhin ihre Unterstützung zu erhalten. Als Verbündeter einer Stadt war Barbarossa aber in den interkommunalen Rivalitäten, die „in der Art eines Schachbrettmusters“ miteinander verfeindet oder verbündet waren, immer parteiisch. Jede Intervention wurde als einseitige Parteinahme angesehen. Barbarossa war zur Durchsetzung seines Herrschaftsanspruches im italienischen regnum auf die Treue und die materiellen Ressourcen seiner Verbündeten angewiesen. Sein Handlungsspielraum und seine Entscheidungen wurden durch Rücksichtnahme auf seine städtischen Verbündeten stark eingeschränkt. Frieden und Gerechtigkeit als zentrale Herrschaftsaufgabe zu wahren, war durch die konsequente Begünstigung seiner Verbündeten kaum noch möglich. Kaiserkrönung (1155) Am 8. Juni 1155 begegneten sich Barbarossa und der Papst erstmals persönlich. Der König sollte gemäß dem Marschall- und Stratordienst bei der Begrüßung das Pferd des Papstes führen. Dabei kam es zu einem Eklat, da unklar war, wie und in welcher Weise der Marschalldienst geleistet werden solle. Die Details über den Ablauf der Begegnung konnten wohl zwischen den Gesandten nicht vorab geklärt werden. Der Eklat erscheint somit als ein Missverständnis, verursacht durch unzureichende Planung. Es wurde am nächsten Tag behoben, indem die Begegnung in genau abgesprochener Form wiederholt wurde. Kurz vor der Kaiserkrönung durch Papst Hadrian IV. erschien eine Gesandtschaft der Römer bei Barbarossa. Die kommunale Bewegung hatte den altrömischen Senat erneuert und wollte die Rechte von Kaiser und Papst völlig neu definieren. Unter Berufung auf antike Traditionen bot die Kommune Friedrich gegen eine Zahlung von 5000 Pfund Silber die Kaiserkrone aus der Hand des römischen Volkes an. Ein Bruch mit der durch Karl den Großen begründeten jahrhundertealten Tradition für eine Geldzahlung musste von Barbarossa abgelehnt werden. Damit waren weitere Unruhen mit den Römern vorhersehbar. Am 18. Juni 1155 wurde Barbarossa in St. Peter von Hadrian IV. zum Kaiser gekrönt. Die Angriffe der Römer an der Engelsbrücke und im nördlichen Trastevere am gleichen Tag konnten abgewehrt werden. Hierbei tat sich besonders Heinrich der Löwe hervor. Sommerhitze und Versorgungsprobleme zwangen jedoch bald zum Rückzug. Der Feldzug gegen die Normannen wurde aufgrund fürstlichen Widerspruchs unverrichteter Dinge abgebrochen. Dadurch konnte Barbarossa aber auch seine Zusagen aus dem Konstanzer Vertrag nicht einhalten. Es war ihm weder gelungen, für den Papst Rom zurückzugewinnen, noch hatte er einen Feldzug gegen die Normannen geführt. In dieser Situation waren weitere Konflikte mit Mailand und nun auch dem Papsttum absehbar. Bereits auf der Rückkehr in den nördlichen Reichsteil verhängte Barbarossa in Verona, wegen der Weigerung sich dem kaiserlichen Gericht zu unterwerfen, den Bann über Mailand. Über Regensburg ging der Weg zum Weihnachtsfest nach Worms. Unter den Staufern entwickelte sich Worms zu einem der wichtigsten Herrschaftszentren. Mehrmals feierte Barbarossa die hohen Kirchenfeste Weihnachten und Pfingsten dort. Verschärfter Konflikt mit dem Papsttum Der Abbruch des Italienzuges führte zu einem Wandel der politischen Verhältnisse in Italien. Infolge der Nichteinhaltung des Konstanzer Vertrages suchte die römische Kurie den Schutz ihrer Rechte unabhängig vom Kaisertum. Auf Betreiben des Kanzlers Roland Bandinelli, des späteren Papstes Alexander III., schloss der Papst Frieden mit den Normannen. Im Juni 1156 wurde der Vertrag von Benevent zwischen Papst Hadrian IV. und Wilhelm I. von Sizilien geschlossen. Der Ausschluss des Kaiser von diesem Abkommen sorgte bei Barbarossa für großen Unmut, da der Rechtsanspruch des Reiches (ius imperii ad regnum) auf Süditalien dadurch gefährdet war. Aus Sicht Barbarossas war der Papst derjenige, der den Konstanzer Vertrag, in dem ein gemeinsames Vorgehen gegen die Normannen vereinbart worden war, nicht eingehalten hatte. Damit hatte er sein Versprechen gebrochen, die Ehre des Reichs (honor imperii) zu wahren. Im Oktober 1157 erschien mit dem Kardinal Bernhard von S. Clemente und Roland Bandinelli eine Gesandtschaft des Papstes auf dem Hoftag in Besançon mit der Absicht, Bedenken des Kaisers gegen den Vertrag von Benevent auszuräumen. Das Verhältnis zur römischen Kurie verschlechterte sich jedoch weiter, als die päpstlichen Gesandten Barbarossa einen Brief überreichten, in dem Hadrian IV. gegen die Gefangennahme des schwedischen Erzbischofs Eskil von Lund protestierte und der Kaiser auch auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes nichts für seine Befreiung unternommen habe. Der Vorwurf, der Kaiser vernachlässige mit der Rechtswahrung die vornehmste Herrscherpflicht, löste in der großen Fürstenversammlung starke Empörung aus. Doch erklärte der Papst sich bereit, trotz der Kaiserkrönung dem Kaiser maiora beneficia zu gewähren. Friedrichs Kanzler Rainald von Dassel übersetzte den Begriff beneficia vor der Fürstenversammlung mit „noch größere Lehen“. Dadurch entstand der Eindruck, der Papst sehe den Kaiser als Lehnsmann und sich selbst als Lehnsherrn. Diese Neubewertung des Verhältnisses zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt rief heftigen Widerstand von Kaiser, Fürsten und auch Bischöfen hervor, denn nach Meinung der Fürsten wurde der künftige Kaiser durch ihre Wahl bestimmt. Die sakrale Legitimation des Kaisers wurde seit Barbarossa enger als zuvor mit den Fürsten verknüpft. Nicht mehr der Papst, sondern das fürstliche Votum war demnach entscheidend. Ohne feierliche Verabschiedung und ohne Geschenke mussten die Legaten den Hof verlassen. Barbarossa beklagte in einem Brief, dass die „Ehre des Reiches“ durch eine so unerhörte Neuerung verletzt sei. Er ließ reichsweit verlauten, dass er „Königtum und Kaisertum durch die Wahl der Fürsten allein von Gott empfangen“ habe. Die Beleidigung des Herrschers hatte den Huldverlust und den Abbruch der Kommunikation zur Folge. In der schmachvollen Behandlung seiner Gesandten sah der Papst den honor Dei (Ehre Gottes) verletzt. Auf Vermittlung Heinrichs des Löwen und Bischof Eberhards von Bamberg konnte die Konfrontation beigelegt werden. Im Juni 1158 erörterten in Augsburg zwei Kardinäle die schriftliche Erklärung: Der Papst habe nicht beneficium im Sinne von Lehen (feudum) gemeint, sondern im Sinne von Wohltat (bonum factum). Der Entschuldigungsbrief war als satisfactio (Genugtuungsleistung) zur Wiederherstellung des in Besançon verletzten honor imperii ausreichend, jedoch blieben zwischen Kaiser und Papst andere Probleme, wie etwa der Vertrag von Benevent oder die Nutzung der Petrusregalien, ungelöst. Jahre im nördlichen Reichsteil (1155–1158) In den Jahren nördlich der Alpen gelang die Lösung des Konflikts zwischen Heinrich dem Löwen und Heinrich Jasomirgott um das Herzogtum Bayern, Barbarossas Heirat mit Beatrix von Burgund und der Kriegszug gegen die Polen. Dadurch waren die Machtverhältnisse im Reich längerfristig so weit konsolidiert, dass Planungen für einen zweiten Italienzug beginnen konnten. Vergabe des bayerischen Herzogtums an Heinrich den Löwen (1156) Der Streit um das bayerische Herzogtum zwischen Heinrich dem Löwen und Heinrich Jasomirgott war eine Hinterlassenschaft von Barbarossas Vorgänger Konrad III., der dem Vater Heinrichs des Löwen das bayerische Herzogtum abgesprochen und später dem Babenberger zugesprochen hatte. Mit beiden Streitparteien war Barbarossa eng verwandt. Über seine Großmutter, die Salierin Agnes, war er Neffe der babenbergischen Brüder und über seine Mutter, der Welfin Judith, ein Vetter von Heinrich dem Löwen. Die Verhandlungen zwischen Barbarossa und Heinrich Jasomirgott zogen sich bis 1156 hin. Nach beiden Seiten musste Barbarossa Rücksicht auf Rang, Status und Ehre nehmen. Dabei wechselte Barbarossa in seinen Maßnahmen zur Lösung des Problems zwischen einem öffentlichen Verfahren vor dem Königsgericht mit dem Urteil durch die Fürsten (iudicium) und einer gütlichen Einigung zwischen den Beteiligten (consilium) im kleinen Kreis. Der Babenberger wurde mehrmals von Barbarossa zu Verhandlungen vorgeladen: im Oktober 1152 nach Würzburg, im Juni 1153 nach Worms, im Dezember 1153 nach Speyer. Angesichts des bevorstehenden Italienzuges zur Kaiserkrönung änderte Barbarossa jedoch sein Verhalten. Im Juni 1154 wurde Heinrich Jasomirgott das Herzogtum Bayern durch ein iudicium der Fürsten entzogen und Heinrich dem Löwen zugesprochen. Eine Investitur in das bayerische Herzogtum unterblieb jedoch. Die königliche Kanzlei führte ihn weiterhin nur als „Herzog von Sachsen“ (dux Saxonie). Durch dieses Vorgehen wollte sich Barbarossa den Verhandlungsweg mit Heinrich II. Jasomirgott bewahren und gewalttätige Handlungen während seiner Abwesenheit in Italien verhindern. Im Privilegium minus von 1156 wurde die Markgrafschaft Österreich in ein Herzogtum (ducatus Austrie) umgewandelt und an Heinrich Jasomirgott vergeben, damit „die Ehre und der Ruhm unseres überaus geliebten Onkels (honor et gloria dilectissimi patrui nostri) in keiner Weise gemindert erscheinen.“ Durch diesen Kompromiss gelang es Barbarossa, Rang und Ansehen (honor) der beiden rivalisierenden Großen in der Öffentlichkeit zu wahren. Heirat mit Beatrix von Burgund (1156) Im Juni 1156 feierte Barbarossa in Würzburg seine Hochzeit mit Beatrix, der sehr jungen Erbtochter des Grafen von Burgund. Aus der 28 Jahre dauernden Ehe gingen acht Söhne und drei Töchter hervor (darunter der nächste römisch-deutsche Kaiser Heinrich VI., der schwäbische Herzog Friedrich V., der spätere Pfalzgraf Otto von Burgund, Konrad von Rothenburg und der spätere römisch-deutsche König Philipp von Schwaben). Die gebildete und standesbewusste Beatrix scheint die Hofkultur gefördert und für französische Einflüsse geöffnet zu haben. Sie starb 1184 und wurde in Speyer bestattet. In Würzburg beklagten sich zugleich Gesandtschaften aus Como, Lodi, Bergamo und Pavia über die Bedrückungen Mailands. Barbarossa seinerseits beklagte sich auf den Hoftagen von Fulda und Worms 1157 vor den Fürsten über die Verletzung der Ehre des Reiches. Damit konnte sich Barbarossa die Unterstützung der Fürsten sichern, denn diese hatten die Verpflichtung zum Schutz der kaiserlichen Ehre in ihrem Treueid beschworen. Vor dem Italienzug wurden Otto von Wittelsbach und Rainald von Dassel nach Italien geschickt. Sie sollten das Fodrum, eine Abgabe zur Versorgung des Heeres, und die Regalien geltend machen. Kriegszug gegen Polen (1157) Unter der Herrschaft Konrads III. hatte Bolesław seinen Bruder Wladyslaw II. von Polen als Herzog von Polen vertrieben. Wladyslaw II. war mit der Babenbergerin Agnes verheiratet. Ihre Mutter war Agnes, die Schwester Kaiser Heinrichs V. und Großmutter von Barbarossa. Bolesław weigerte sich nun, dem Kaiser den üblichen Jahrestribut zu zahlen. Barbarossa war vor allem in Sorge, dass die Vertreibung seiner Verwandten das Ansehen des Reiches beschädigt hatte. Gemäß der üblichen Kriegsführung verwüstete Barbarossa im Sommer 1157 die Diözesen Breslau und Posen. Auf Vermittlung Wladislaws von Böhmen und anderer Fürsten unterwarf sich Bolesław barfuß. Erstmals werden dabei blanke Schwerter im Nacken als Attribut der Unterwerfung nördlich der Alpen überliefert. Bolesław musste schwören, dass „sein exilierter Bruder nicht zur Schmach des Römischen Reiches vertrieben worden war“. Er leistete den Treueid, zahlte dem Kaiser beträchtliche Summen und versprach, sich mit 300 Panzerreitern am nächsten Italienzug zu beteiligen. Zweiter Italienzug (1158–1162): Papstschisma und Zerstörung Mailands Erste Unterwerfung Mailands (1158) Das Heer wurde, um Versorgungsschwierigkeiten beim Zug über die Alpen zu vermeiden, in vier Heersäulen geteilt. Anfang August 1158 erschien das Heer vor den Toren Mailands. Vor den Toren entwickelten sich während der Belagerung durch den Ausfall der Mailänder oder das Bestreben ehrbewusster Fürsten um eine ruhmreiche Kriegstat kleinere Gefechte. Die Kriegsführung war ansonsten vielmehr vom Verwüsten und Belagern des Mailänder Umlands geprägt. Der Feind sollte in seinen Lebensgrundlagen geschädigt und ihm dadurch eine Fortführung des Krieges unmöglich gemacht werden. Eine größere Feldschlacht wurde aufgrund des unkalkulierbaren Risikos vermieden. Mailand geriet infolgedessen zunehmend in Versorgungsnot. Eine langfristige Aushungerung der Stadt konnte sich Barbarossa aufgrund logistischer Probleme sowie der Unzufriedenheit vieler Fürsten über Krankheiten und drückende Hitze nicht erlauben. Friedensverhandlungen lagen daher in beiderseitigem Interesse, jedoch befand sich Barbarossa in einer besseren Verhandlungsposition. Eine Unterwerfung Mailands war für den Kaiser aufgrund der fortgesetzten Ehrverletzungen, die ihm Mailand zugefügt hatte, unausweichlich. Die Demütigung der Unterworfenen und die Überordnung des Kaisers mussten in aller Öffentlichkeit verdeutlicht werden. Die verletzte Ehre von Kaiser und Reich konnte nur durch eine symbolische Unterwerfung in größtmöglicher Öffentlichkeit wiederhergestellt werden. Zwölf Konsuln sollten als symbolische Strafe für ihren Ungehorsam barfuß vor dem auf dem Thron sitzenden Kaiser erscheinen und über ihren gebeugten Nacken Schwerter tragen. Der demütigenden Unterwerfung versuchte sich Mailand vergeblich mit großen Geldsummen zu entziehen, indem man das Unterwerfungsritual wenigstens mit Schuhen an den Füßen vollziehen wollte. Eine Geldzahlung Mailands als Zeichen der Anerkennung der Herrschaft und für das eigene Sündenbekenntnis war für Barbarossa bei Verletzung des kaiserlichen honor jedoch nicht ausreichend. Immerhin mussten die Konsuln sich nicht mit ausgestrecktem Körper vor den Füßen des Kaisers zu Boden werfen. Im Friedensvertrag musste sich Mailand verpflichten, Como und Lodi zur „Ehre des Reiches“ beim Wiederaufbau nicht zu behindern und „zur Ehre des Herrn Kaisers“ (ad honorem domini imperatoris) in Mailand eine Pfalz zu errichten. Die usurpierten Einkünfte aus königlichen Rechten (Regalien), unter anderem Münze, Zoll oder Hafenzoll, musste Mailand zurückgeben. Die Stadt durfte jedoch die bisherigen Städtebündnisse aufrechterhalten. Die Unterwerfung Mailands wurde mit einer Festkrönung in Monza verbunden, mit der Barbarossa die verhältnismäßig kleine Stadt am 26. Januar 1159 als „Haupt der Lombardei und Sitz des Königreichs“ (caput Lombardie et sedes regni) besonders ehrte. Beschlüsse von Roncaglia (1158) Nach dem Sieg über Mailand wollte Friedrich durch eine umfassende Neuordnung der kaiserlichen Herrschaftsrechte die machtpolitischen und finanziellen Ressourcen in der lombardischen Städtelandschaft nutzbar machen. Seit den drei Ottonen war es nur noch zu kurzen Aufenthalten der Herrscher südlich der Alpen gekommen. Den Kommunen machte es diese Tatsache einfacher, die königlichen Rechte an sich zu ziehen, die von den abwesenden Herrschern nicht eingefordert wurden. Die aus Barbarossas Sicht entfremdeten Reichsrechte versuchte er wieder zur Geltung zu bringen. Seine strittig gewordenen Ansprüche erforderten jedoch einen enormen juristischen Legitimationsbedarf, um sie bei den tatsächlichen politischen Verhältnissen in Oberitalien durchsetzen zu können. Vom 11. bis 26. November 1158 fand ein Hoftag in Roncaglia statt. Die roncalischen Gesetze sollten die königlichen Ansprüche systematisch erfassen. Die vier Bologneser Rechtsgelehrten Bulgarus, Martinus Gosia, Jacobus und Hugo de Porta Ravennate stellten ihr Expertenwissen dem Hof zur Verfügung. Durch die Aneignung des Römischen Rechts wurde der Kaiser zum alleinigen Legitimationsquell herrscherlicher Ansprüche. Dies stand im Widerspruch zur Rechtsauffassung der Kommunen, die auf ungestörte Ausübung ihrer lokalen Rechtsgewohnheiten (consuetudines) basierte. Alle Rechtsprechung sollte vom Kaiser und nur von ihm ausgehen. Die lex omnis iurisdictio bewilligte alle weltlichen Herrschafts- und Gerichtsrechte dem Kaiser. Die Wahl der kommunalen Konsuln war fortan von der Zustimmung des Kaisers abhängig. Die lex tributum sprach dem Kaiser die Kopfsteuer und eine allgemeine Grundsteuer zu. Auf solche Einkünfte wurde bislang von den mittelalterlichen Herrschern kein Anspruch erhoben. Die lex palatia formulierte zudem das kaiserliche Recht, ohne Rücksicht auf die erreichte Unabhängigkeit der Städte, an allen Orten Pfalzen zu bauen. Die roncalischen Gesetze waren aus der Sicht des Kaisers nur die Einforderung alter Rechte. Sie bedrohten jedoch für die Kommunen den bislang unbestrittenen gewohnheitsrechtlichen Erwerb von Regalien und Gerichtsbarkeit. Die Gesetze waren jedoch kein Herrschaftsprogramm Barbarossas, sondern sie wurden einzeln ausgehandelt. In den folgenden Wochen und Monaten sollten Barbarossas Gesandte unterwegs sein, um in der Umsetzung der Beschlüsse von Roncaglia Eidesleistungen einzufordern, Steuern zu erheben oder Stadtregimenter zu übernehmen. Ausbruch des Papstschismas (1159) Während des zweiten Italienzuges ergaben sich mit dem Papst ungeklärte Differenzen über die Heerfolgepflicht italienischer Bischöfe und die Befugnisse des Kaisers in Rom. Ungeklärt war außerdem, ob die Mathildischen Güter dem Patrimonium oder dem Reich gehören sollten und ob der Kaiser auch von den Städten das fodrum eintreiben durfte. Auch das Verhältnis zu den Normannen war seit dem ersten Italienzug ungeklärt geblieben. Die kaiserliche Seite unter Kardinal Octavian schlug ein von kaiserlicher und päpstlicher Seite paritätisch besetztes Schiedsgericht vor. Die prosizilianische Seite unter dem päpstlichen Kanzler Roland hingegen berief sich auf die Nichtjudizierbarkeit des Papstes. In dieser angespannten Situation starb am 1. September 1159 Hadrian IV. Die Gegensätze innerhalb des Kardinalskollegiums führten zu einer Doppelwahl. Barbarossa wollte nur den Papst annehmen, der im Umgang mit dem Kaiser die „Ehre des Reiches“ wahren wollte. Kardinal Octavian (als Papst Viktor IV.) war dazu auch bereit. Kardinal Roland (als Papst Alexander III.) hatte den Kaiser durch seine führende Rolle beim Abschluss des Vertrags von Benevent und seinem Auftreten in Besançon mehrmals beleidigt und dafür nie Genugtuung in einer persönlichen Begegnung geleistet. Ihn konnte Barbarossa daher nicht als einen geeigneten Papst anerkennen. Barbarossa berief zum 13. Januar 1160 eine Kirchenversammlung nach Pavia ein. Alexander berief sich auf die Nichtjudizierbarkeit des Papsttums und blieb der Versammlung fern. Er definierte den Papst als das keinem irdischen Gericht unterworfene Haupt der Christenheit. Die Synode endete mit der Exkommunikation Alexanders und seiner Anhänger. Daraufhin exkommunizierte Alexander den Kaiser und Viktor IV. Die Entscheidung für Viktor band jedoch nur den Reichsklerus und die in Lehnsbindung zum Reich stehenden Länder Böhmen, Polen und Dänemark. Vom englischen, französischen, iberischen und ungarischen Klerus war niemand anwesend und die kaiserliche Entscheidung verfehlte die erhoffte Wirkung. Johannes von Salisbury, der Sekretär des Erzbischofs von Canterbury, hatte 1160 Barbarossas Anspruch, über die Papstfrage auf dem Konzil von Pavia zu entscheiden, in einem überlieferten Brief empört zurückgewiesen und gefragt, wer denn die „Deutschen zu Richtern über die Nationen“ bestellt habe. Der englische König Heinrich II. und der französische König Ludwig VII. ergriffen dagegen für Alexander Partei. Mitte Juni 1161 versuchte Barbarossa daher in Lodi mit einer weiteren Synode die Rechtmäßigkeit Viktors IV. zu bekräftigen. Zweite Unterwerfung Mailands (1162) Die Beschlüsse von Roncaglia erzeugten rasch Widerstand bei den Kommunen. Mailand musste entgegen den Zusagen des Friedensvertrages mit Barbarossa seine Bündnisse mit anderen Städten auflösen und der Mailänder contado, das von der Stadt beanspruchte Umland, wurde massiv verkleinert. Durch die Entsendung einer kaiserlichen Gesandtschaft nach Mailand erwartete Barbarossa, dass die Wahl der Konsuln unter Leitung seiner Legaten durchgeführt würde. Mailand beharrte auf den bisherigen Rechtsbrauch und wollte die Konsuln nach eigenem Ermessen frei wählen und die Gewählten dann zur Leistung des Treueids zum Kaiser schicken. Die Mailänder sahen die Wahlfreiheit bedroht. Barbarossas Gesandte wurden daraufhin vom Mailänder Volk mit Steinen beworfen. Die Konsuln versuchten zu beschwichtigen und versprachen als Genugtuung viel Geld. Doch flohen die Gesandten heimlich in der Nacht, ohne auf das Versöhnungsangebot einzugehen, da mit der Beleidigung der Gesandten auch der Kaiser selbst beleidigt und damit sein Verhältnis zu Mailand beeinträchtigt worden war. Barbarossa beschwerte sich angesichts der Beleidigung seiner Gesandten vor den versammelten Fürsten darüber, dass Mailands Hochmut und Anmaßung dem Reich und den Fürsten eine erneute Beleidigung zugefügt habe. Nach den „Spielregeln der mittelalterlichen Konfliktführung“ musste diejenige Partei, die einen Friedensschluss brach, mit besonderer Strenge rechnen. Im Februar 1159 verlief ein Ausgleichsversuch am Hof in Marengo ergebnislos. Für Mailand hatte der Friedensvertrag Vorrang vor den roncalischen Gesetzen. Nach Auffassung Barbarossas brach Kaiserrecht jedoch alle anderslautenden Regeln. Die Mailänder erkannten darin einen Wortbruch und verließen den Hof. Ein Konflikt war damit unausweichlich. Im Sommer 1159 wurde zunächst der Mailänder contado verwüstet, um so die Versorgungslage zu schädigen. Im Juli 1159 wurde die mit Mailand verbündete Stadt Crema angegriffen. Barbarossa griff zum Terror als Kampfmittel. Gefangene wurden vor den Augen der Einwohner gehängt. Dies entfesselte im Belagerungskrieg eine Gewaltspirale. Von beiden Seiten wurden demonstrativ die Gefangenen in Sichtweite des Gegners hingerichtet. Um den Jahreswechsel lief Marchese, der Kriegstechniker der Cremasken, zu Barbarossa über. Für seinen Seitenwechsel wurde er mit reichen Geschenken geehrt. Durch sein Expertenwissen konnte im Januar 1160 Crema unterworfen werden. In demütigender Weise durften die bezwungenen Cremasken nicht ihre Tore benutzen, sondern mussten die Stadt durch eine enge Mauerbresche verlassen. Barbarossa half ihnen durch die schmale Bresche hinauszuziehen, schenkte ihnen das Leben und konnte sich so als barmherziger Herrscher inszenieren. Der Kaiser verfügte für seinen Kampf gegen Mailand noch über verhältnismäßig wenige Kräfte. In Erfurt wurde am 25. Juli 1160 unter Leitung Rainalds von Dassel die erneute Heerfahrt beschworen. Im Frühjahr 1161 konnte der Kampf mit Mailand weitergeführt werden. Mit Unterstützung seiner Verbündeten wurde die Stadt durch die Verwüstung seiner Anbauflächen geschädigt und ranghöhere Gefangene wurden systematisch verstümmelt. Die Fürsten nutzten die Kämpfe gegen Mailand zum persönlichen Ruhmerwerb. Die dramatische Versorgungslage zwang Mailand im März 1162 zu kapitulieren. Unter den Fürsten, die um die Gunst beim Kaiser rivalisierten, kam es zum Streit um die führende Rolle bei den Vermittlungen über das besiegte Mailand. Insbesondere Rainald von Dassel, der durch die Mailänder Steinwürfe persönlich in seiner Ehre beleidigt worden war, wollte die Ehre des Kaisers wahren und seine persönliche möglichst glanzvoll wiederhergestellt sehen. Er bestand daher auf einer möglichst vollständigen Unterwerfung Mailands. Dabei torpedierte er die Vermittlungsaktionen friedensbereiter Fürsten, um einen Prestigegewinn seiner fürstlichen Rivalen beim Kaiser zu verhindern. Mit seiner Vorstellung einer bedingungslosen Unterwerfung konnte sich Rainald schließlich beim Kaiser durchsetzen. Die Unterwerfung (deditio) zog sich fast eine Woche hin und verdeutlichte in mehreren Akten symbolisch die Verherrlichung der kaiserlichen Macht. Mailand musste sich Anfang März gleich viermal in Lodi und somit in jener Stadt demütig unterwerfen, die durch ihre Klagen 1153 den Konflikt ausgelöst hatte. Die Mailänder Konsuln, 300 Ritter und ein Teil des Fußvolks mussten sich Barbarossa unterwerfen. Als Strafe für ihren Ungehorsam und als Zeichen für ihre verdiente Hinrichtung trugen die Ritter Schwerter auf dem Nacken und die einfachen Soldaten Stricke um den Hals. Im Zentrum der Kapitulationszeremonie musste der Mailänder Kriegstechniker Guintelmo die Schlüssel der Stadt überreichen. Seine besondere Rolle im Unterwerfungsritual verdeutlicht die Bedeutung dieser Spezialisten während der Kriegsführung. Auf dem Höhepunkt der Inszenierung musste vom Mailänder Fahnenwagen (Carroccio) die Mastspitze vor Barbarossa als Zeichen der Selbsterniedrigung zu Boden geneigt werden. Als wichtigstes Herrschaftszeichen der Kommune und mit dem Bild des Stadtheiligen Ambrosius auf der Mastspitze erklärt sich die besondere Bedeutung des Fahnenwagens beim Unterwerfungsritual. Nach der bedingungslosen und demütigenden Unterwerfung wurde Mailand wochenlang über die eigene Zukunft im Unklaren gehalten. Schließlich ließ Barbarossa am 26. März auf maßgebliches Betreiben der Städte Cremona, Pavia, Lodi, Como und ihrer anderen Gegner die Stadt zerstören. Die Mailänder mussten zuvor ihre Stadt verlassen und wurden in Dörfer umgesiedelt. Der Zugang in ihre Stadt blieb den Mailändern ab 1162 verwehrt. Sie mussten außerhalb der Stadt neue Siedlungen errichten. Das Ritual der deditio verlor damit für Mailand für die gütliche Beilegung von künftigen Konflikten seine Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit. Das epochale Ereignis führte dazu, dass die Kaiserurkunden bis in den August 1162 „nach der Zerstörung Mailands“ (post destructionem Mediolani) datiert wurden. Mailands Verbündete Brescia, Piacenza und Bologna unterwarfen sich innerhalb weniger Wochen. Seine Machtstellung nutzte Barbarossa, um eine direkte Reichsverwaltung in Oberitalien auf dem Prinzip der Stellvertretung durchzusetzen. Kaiserliche Legaten wurden als Stellvertreter in Italien eingesetzt. Sie hielten Gericht, nahmen die Treueide der Bevölkerung entgegen und erhoben Abgaben. Durch diese Vielzahl an Herrschaftsakten wurde kaiserliche Herrschaft in bislang nicht bekanntem Ausmaß für die Kommunen spürbar. Durch die allgemein gehaltenen Handlungsanweisungen des Kaisers „nach der Mehrung der Ehre des Reiches“ und die noch fehlende Zentralverwaltung bedingt, übten seine Amtsträger die kaiserliche Stellvertreterfunktion aus eigener Initiative und nach dem vermuteten Willen des Kaisers aus. Die Erschließung von Geldquellen für Barbarossa nutzten die kaiserlichen Amtsträger aber auch zur Steigerung des eigenen Einflusses und Ansehens. Dies wurde von den Städten zugleich als persönliche Bereicherung empfunden. Unter dem Eindruck des Sieges über Mailand war für Barbarossa im Papstschisma Alexander III. weiterhin nicht als rechtmäßiger Papst akzeptabel. Der Kaiser vertraute vielmehr auf seine militärische Macht und auf die stadtrömische Basis Viktors IV. Alexander war Ende 1161 nach Frankreich geflohen. Der französische König Ludwig VII. befand sich zu der Zeit mit dem englischen König in Konflikt und drohte mit dem Staufer einen neuen Gegner zu bekommen. Die Papstfrage wollten beide Herrscher im August 1162 bei einem Treffen im burgundischen Dorf Saint-Jean-de-Losne entscheiden. Dabei sollte Alexander von Ludwig und Viktor von Barbarossa beim Treffen erscheinen. Barbarossa lud jedoch die Anhänger Alexanders im Episkopat gar nicht erst ein. Alexander berief sich weiterhin auf die Nichtjudizierbarkeit des Papstes und blieb dem Treffen fern. Eine zweite Begegnung innerhalb von drei Wochen scheiterte an der schwierigen Versorgungslage für die mehr als 3000 Personen auf kaiserlicher Seite. In dieser prekären Situation ließ Barbarossa eine Synode nur mit dem kaisertreuen Episkopat und ohne den französischen König abhalten. Er verkündete, dass Provinzkönige (provinciarum reges) sich anmaßten, zum Schaden des Römischen Reiches in Rom einen Bischof einzusetzen, und damit Hoheitsrechte in einer fremden Stadt ausüben wollten, die ihnen nicht gehörte. Nach der Argumentation von Barbarossas Kanzler Rainald habe der Kaiser als Schutzherr der Römischen Kirche das Recht, die Papstfrage nur von Geistlichen des Imperiums entscheiden zu lassen. Die Beteiligung des französischen Königs sei daher nicht erforderlich. Rainald soll Ludwig VII. sogar als „Königlein“ (regulus) bezeichnet haben. Diese Argumentation stieß an den anderen europäischen Höfen auf große Ablehnung. Heinrich II. und Ludwig VII. schlossen Ende September 1162 Frieden und erwiesen Alexander die einem Papst zustehende Ehre. Dritter Italienzug (1163–1164) Der dritte Italienzug sollte mit Unterstützung der Seestädte Genua und Pisa den Zugriff auf Sizilien bringen. Dabei wurde Barbarossa mit dem Unmut der Städte über die neuartigen und erhöhten Abgaben und über den Despotismus seiner Verwalter konfrontiert. In die Zuständigkeiten seiner Legaten konnte er aus Rücksicht auf den honor seiner wichtigsten Berater nicht eingreifen. Zudem war ohne die Unterstützung seiner Legaten sein Herrschaftsanspruch nicht durchsetzbar. Die durchgeführten Maßnahmen aufzuheben hätte ihre Autorität untergraben und die Treuebindung seiner wichtigsten Berater schlecht vergolten. Diese Bindungen waren jedoch für die Grundlage seiner Herrschaftsausübung überaus bedeutsam. Da der Kaiser die Klagen gegen seine Amtsträger nicht zuließ, schlossen sich Verona, Padua, Vicenza sowie Venedig Anfang 1164 zur societas Veronensium (Veroneser Bund) zusammen. Ferrara, Mantua und Treviso gelang es, für ihr Versprechen, dem Bund nicht beizutreten, dem Kaiser mit der freien Wahl ihrer Konsuln, der Beibehaltung ihrer bisherigen Rechtsgewohnheiten und dem Verzicht auf Regalienzins zahlreiche Zugeständnisse abzuringen. Gegen den Städtebund mangelte es Barbarossa im Juni 1164 an Unterstützung, so dass er sich auf keinen Kampf einließ und im September 1164 nach Norden abzog. Kampf gegen Alexander III. im Reich (1165–1166) Am 20. April 1164 war Viktor in Lucca verstorben. Die Möglichkeit zur Beendigung des Schismas wurde durch die rasche Erhebung Paschalis III. durch Rainald, der dabei im vermuteten Sinn des Kaisers handelte, zunichtegemacht. Die Wahl fand außerhalb Roms statt, was die Vorbehalte gegen die Legitimität Paschalis’ verstärken sollte. Ende 1164 konnte Alexander daher nach Rom zurückkehren; die Stadt sollte dadurch für den Kaiser zum militärischen Ziel werden. Aber auch im Reich neigten die Erzbischöfe von Magdeburg, Mainz und Trier sowie fast die gesamte Kirchenprovinz Salzburg zu Alexander. Die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Einheit der Kirche war im Reich weit verbreitet. Für Barbarossa war es entscheidend, den Reichsepiskopat in der Papstfrage eng an sich zu binden. Zu Pfingsten 1165 wurde ein Hoftag in Würzburg einberufen. In den Würzburger Eiden 1165 verpflichtete sich Barbarossa, nur Paschalis und seine Nachfolger, jedoch nie Alexander III. und dessen Nachfolger anzuerkennen. Damit war jede politische Verständigungsmöglichkeit ausgeschlossen. Die Durchsetzung Paschalis’ war fortan für Barbarossa aufs Engste mit seinem eigenen Schicksal verbunden. Vierzig weitere Fürsten verpflichteten sich ebenfalls durch Eid. Erzbischof Wichmann von Magdeburg und einige weitere leisteten den Eid nur unter Vorbehalt. Die Erzbischöfe Hillin von Trier und Konrad von Salzburg waren nicht erschienen. Im Sommer 1165 wurde Konrad in seiner eigenen Kirchenprovinz von Barbarossa isoliert, indem dieser die Salzburger Suffragane von Freising, Passau, Regensburg und Brixen sowie Konrads Bruder Herzog Heinrich Jasomirgott von Österreich auf die Würzburger Eide festlegte. Nach mehrmaligen Ladungen erschien Konrad am 14. Februar 1166 in Nürnberg. Ihm wurde von Barbarossa vorgeworfen, dass er weder die Regalien vom Kaiser noch die Spiritualien von Paschalis III. empfangen habe und das Erzbistum durch Raub in Besitz genommen habe. Konrad erwiderte, dass er dreimal um die Regalien nachgefragt habe und diese ihm jedoch verweigert worden seien, weil er Paschalis, der nicht rechtmäßiger Papst sei, nicht habe anerkennen wollen. Konrad verlor daraufhin die Huld des Kaisers. Nach gescheiterten Vermittlungsversuchen wurden die Besitzungen der Salzburger Kirche an Laien verlehnt und das Bistum verwüstet. Barbarossa war 1165 an der Heiligsprechung Karls des Großen und der Erhebung seiner Gebeine in Aachen beteiligt. Seine Beteiligung ist durch die „zeitübliche Heiligen- und Reliquienverehrung“ und der Sorge um das eigene Seelenheil zu erklären und weniger mit einem Konzept, das Reich oder das staufische Kaisertum unabhängig vom Papsttum sakral zu überhöhen. Die Initiative für diese Heiligsprechung ging nach Knut Görich von den Aachener Stiftsklerikern aus, die Ansehen und Vorrangstellung ihrer Kirche als Krönungsort festigen und steigern wollten. Ein heiliger Vorgänger als Kaiser brachte Barbarossa einen schwer abschätzbaren Legitimationsgewinn. Im Jahre 1166 wurde auf Betreiben Barbarossas auf einem Hoftag in Ulm die Tübinger Fehde durch ein Unterwerfungsritual beigelegt. Der Pfalzgraf Hugo von Tübingen musste sich mehrmals unterwerfen. Dabei ließ Barbarossa erstmals einen Adligen öffentlich fesseln. Anscheinend sollte durch eine besondere Demonstration von Härte und Unnachgiebigkeit die verletzte Ehre von Hugos Fehdegegner Welf VII. wiederhergestellt werden. Vierter Italienzug (1166–1168): Sieg bei Tusculum und Seuchenkatastrophe Der ruhmlose Abzug 1164 und die mangelnde Unterstützung in Italien machten einen vierten Italienzug notwendig. Dorthin brach Barbarossa im November 1166 erneut auf, auch um das Schisma zu beenden. Alexander III. sollte besiegt und Papst Paschalis III. in Rom inthronisiert werden. Da die fürstliche Unterstützung zur Heerfolge nachließ, wurden aus den niederrheinischen Gebieten Brabanzonen genannte Söldner angeheuert. Die kaiserlichen Legaten sollten außerdem die Ressourcen für den Italienzug gründlich ausschöpfen. In Mailand wurde die Eintreibung von Steuern und Abgaben durch eine neue Steuerliste systematisiert. Ungeachtet der Klagen der lombardischen Großen in Lodi wurde die strenge Reichsverwaltung beibehalten. Infolge der materiellen Belastungen und der Missachtung bisheriger Rechtsgewohnheiten formierte sich im März 1167 mit Cremona, Bergamo, Brescia, Mantua und Ferrara der lombardische Städtebund. Die bislang miteinander verfeindeten Kommunen fanden durch die kaiserliche Willkürherrschaft schnell zusammen. Mailand gelang durch zahlreiche Zugeständnisse die Aufnahme in den Bund. Durch den Schutz des Stadtbundes konnten die Mailänder im April in ihre verwüstete Stadt zurückkehren. Barbarossa zog währenddessen weiter nach Süden. Ancona, das alle Abgaben verweigerte, wurde von Barbarossa unterworfen. Die Erzbischöfe von Köln und Mainz, Rainald und Christian, hatten Ende Mai 1167 die Römer in der Schlacht von Tusculum vernichtend geschlagen. Die Nachricht von dem Sieg über die Römer erreichte Barbarossa am Ende der Belagerung von Ancona. Auf Betreiben einiger normannischer Adliger in seinem Heer wurde jedoch noch ein kurzer Streifzug an die nördliche Grenze Siziliens unternommen. Es blieb die einzige Expedition des vielgeplanten und immer wieder verschobenen Zuges gegen den normannischen König. Der Belastung durch die große Sommerhitze ausgesetzt, erreichte Barbarossa am 20. Juli 1167 Rom. Es gelang, St. Peter zu erobern und Paschalis III. am 30. Juli in Rom einzusetzen. Der zunächst in der Stadt Rom von kaiserlichen Truppen eingeschlossene Alexander konnte nach Benevent fliehen. Wenige Tage später brach im kaiserlichen Heer eine durch die Augusthitze geförderte Ruhrepidemie aus. Sie hatte mit dem Tod zahlreicher Erbsöhne tiefgreifende dynastische Folgen für den Laienadel. Der Seuche erlagen die Bischöfe Konrad von Augsburg, Alexander von Lüttich, Daniel von Prag, Eberhard von Regensburg, Gottfried von Speyer und Hermann von Verden, der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, die Herzöge Friedrich von Rothenburg und Welf VII., Theobald von Böhmen, Berthold von Pfullendorf, mehrere Konsuln aus den verbündeten Kommunen, darunter der Lodeser Chronist Acerbus Morena sowie 2000 Ritter. Das Scheitern von Barbarossas Italienpolitik zeichnete sich ab. Am 1. Dezember 1167 erfolgte der Zusammenschluss des Lombardenbundes mit dem Veroneser Bund. Die kaiserliche Verwaltung brach bis auf die Verbündeten Novara, Vercelli und Pavia zusammen. Das Vorgehen des Lombardenbundes zwang Barbarossa zum überstürzten Rückzug nach Pavia. Aus Angst um sein Leben floh Barbarossa mitten in der Nacht als Pferdeknecht verkleidet aus Susa über den einzigen freien Alpenpass. Jahre im Reich (1168–1174) Die kommenden sechs Jahre waren die längste Zeit, die Barbarossa seit seiner Königswahl nördlich der Alpen verbrachte. Sein Aufenthaltsort ist dabei teilweise über Monate unbekannt. Durch die vielen Todesfälle infolge der Seuche erwarb Barbarossa systematisch die Güter erbenloser Hochadliger. Es entstand ein nahezu geschlossenes Königsland nördlich des Bodensees, im Alpenvorland und im östlichen Schwaben. 1168/69 schlichtete Barbarossa einen Streit zwischen Heinrich dem Löwen und seinen sächsischen Gegnern, indem er die übermächtige Stellung Heinrichs des Löwen unverändert beließ und damit aber auch die Klagen, die den Konflikt mit ausgelöst hatten, einfach überging. 1169 wurde Barbarossas vierjähriger Sohn Heinrich VI. in Bamberg zum Nachfolger gewählt und zwei Monate später in Aachen gekrönt. Barbarossa machte Alexander den Vorschlag, ihn zu dulden; er wollte ihn jedoch nicht persönlich als Papst anerkennen. Sein Sohn Heinrich sollte sich seiner Autorität unterordnen, wenn Alexander ihn dafür zum Kaiser krönen werde. Barbarossa selbst wollte jedoch nicht gezwungen werden, „einen anderen Papst anzuerkennen als Petrus selbst und die Päpste im Himmel“. Die Verhandlungen scheiterten daher. Am 8. Juni 1170 erklärte Barbarossa in Fulda, dass er Roland niemals als Papst (Alexander III.) anerkennen werde. Fünfter Italienzug (1174–1176): Niederlage von Legnano Im Frühjahr 1168 hatten die Konsuln ihre Siedlung „zu Ehren des Papstes“ und zur Schande des Kaisers Alexandria (Alessandria) genannt. Die Siedlung wurde vom Lombardenbund als civitas anerkannt und von Papst Alexander zum Bistum erhoben. Dies war insoweit eine Provokation gegenüber Barbarossa, da Städtegründungen zum kaiserlichen Vorrecht gehörten. In kaiserlichen Schriftstücken wurde die Stadt abwertend als „Strohstadt“ tituliert. 1174 brach Barbarossa zu seinem fünften Italienzug auf. Noch Jahre später begründete Barbarossa den Italienzug damit, dass die Stadt „gegen unsere und des Reiches Ehre“ (contra honorem nostrum et imperii) gegründet wurde und er nach Italien zog mit der Absicht, die Beleidigung zu rächen. Die Belagerung zog sich wegen widrigen Wetters über mehrere Monate hin. Der heranrückende Lombardenbund brachte im April 1175 die vier Fahnenwagen der Kommunen von Piacenza, Mailand, Verona und Brescia in Sichtweite zum Kaiser in Stellung. Eine Schlacht wurde wegen des unkalkulierbaren Risikos jedoch vermieden. In Friedensgesprächen konnte keine Einigkeit über den künftigen Status Alessandrias erzielt werden. Dennoch wurde am 17. April der Frieden von Montebello geschlossen. Der Streitpunkt Alessandria wurde auf die Zukunft vertagt. Die beiden Befehlshaber des Bundes mussten sich Barbarossa demütig unterwerfen und ihm die Schwerter übergeben, die sie über ihrem Nacken getragen hatten. Durch die Unterwerfung wurde symbolisch Genugtuung für die ihm zugefügte Ehrverletzung geleistet und der honor imperii wiederhergestellt. Dafür gab Barbarossa ihnen als Zeichen für die Wiedererlangung seiner Huld den Friedenskuss. Das bedeutete allerdings auch eine symbolische Anerkennung des Bundes. Wenige Wochen später war Barbarossa jedoch nicht mehr bereit, sich in der Angelegenheit Alessandrias (negocium Alexandrie) einem Schiedsgerichtsverfahren mit offenen Ausgang zu unterwerfen. Im November 1175 forderte Barbarossa Unterstützung im Kampf gegen die lombardischen Städte. Die folgenden Ereignisse sind aus den Quellen nicht widerspruchsfrei zu rekonstruieren. Gesichert ist nur der Dissens zwischen Heinrich dem Löwen und Friedrich Barbarossa. Alle Quellen sind Jahre oder gar Jahrzehnte später abgefasst worden und waren vom Wissen um die Entmachtung des Löwen beeinflusst. Alle sächsischen Fürsten sollen der Bitte gefolgt sein, nur Heinrich der Löwe habe sich geweigert und soll von Barbarossa zu einer Unterredung nach Chiavenna nördlich des Comer Sees gebeten worden sein. Anfang 1176 trafen sich beide anscheinend in der Reichsburg Chiavenna. Möglicherweise fiel der Kaiser sogar vor dem Herzog auf die Knie, um die Dringlichkeit seiner Bitte zu unterstreichen. Heinrich lehnte die Bitte jedoch ab und brach dadurch mit der gesellschaftlichen Konvention, ein durch Fußfall eines Höheren vor dem Rangniederen manifestiertes Ersuchen zu akzeptieren. Die Stellung eines Heereskontingents machte der Herzog wohl von der Übergabe der Stadt Goslar mit ihren reichen Silberminen abhängig. Dies jedoch lehnte Barbarossa ab. Barbarossa ist zugleich der letzte König, von dem eine so demütigende Bitte überliefert ist. Die Schlacht von Legnano entstand aus einer zufälligen Begegnung am 29. Mai 1176 zwischen einer Abteilung lombardischer Ritter und der kaiserlichen Vorhut. Sie entwickelte eine unkontrollierte Eigendynamik. Der Ansturm des kaiserlichen Heeres endete abrupt am Mailänder Fahnenwagen, dessen Eroberung wegen seiner symbolischen Bedeutung für die Freiheit und Ehre der Stadt ein wichtiges Ziel im Kampf war. Barbarossa konnte mit Mühe entkommen und erreichte Anfang Juni Pavia. Dort soll man ihn schon für tot gehalten haben. Friedensschluss von Venedig (1177) Der Ausbruch einer Malariaerkrankung im Sommer 1176 bei Barbarossa und damit die Furcht des exkommunizierten Kaisers um sein Seelenheil waren entscheidend für die Aufnahme von Verhandlungen mit Alexander III. Wesentlichen Anteil am sogenannten Vorvertrag von Anagni für die Friedensbedingungen im November 1176 hatte der vom Kaiser als Vermittler bestimmte Erzbischof Wichmann von Magdeburg. Der Vertrag sah vor, dass Barbarossa Alexander die „geschuldete Ehrerweisung“ (debita reverentia) durch Zügel- und Bügeldienst, Fußfall und Fußkuss erweisen sollte, die ihm als rechtmäßigem Papst zustanden. Seit Mitte Mai 1177 wurde in Venedig über den Frieden verhandelt. Noch vor der persönlichen Begegnung mit dem Kaiser löste Alexander Barbarossa vom Bann. Der kaiserliche Gesichtsverlust durch die öffentliche Anerkennung des Papstes sollte durch eine öffentliche Unterwerfung des Lombardenbundes unter kaiserliche Herrschaft kompensiert werden. Mit den Kommunen konnte jedoch nur ein auf sechs und mit dem normannischen König ein auf fünfzehn Jahre befristeter Waffenstillstand geschlossen werden. Das sorgfältige Austarieren von Erhöhung und Erniedrigung kaiserlicher Würde und Macht wäre dadurch fast gescheitert, hätten die Erzbischöfe von Magdeburg und Mainz nicht gedroht, Alexander III. als rechtmäßigen Papst anzuerkennen. Mit dem drohenden Übertritt der Vermittler zur Konfliktpartei, wäre Barbarossa jedoch als Friedensbrecher im Reich isoliert gewesen. Barbarossa legte daraufhin, so der Erzbischof Romuald von Salerno, „die löwenhafte Wildheit ab, nahm die Sanftmut eines Schafes an“ und akzeptierte ihren Vorschlag. Am 24. Juli 1177 unterwarf sich Barbarossa Papst Alexander III. und erwies ihm die geforderten Ehrendienste und damit die Anerkennung als rechtmäßig gewählter Papst. Andere Fragen, wie der umfangreiche Besitz der Mathildischen Güter in Mittelitalien, wurden auf später verschoben. Barbarossa wurde von Alexander wieder als „Sohn der Kirche“ angenommen. Der Konflikt mit dem Papst war damit beigelegt. Barbarossa zog in den Norden und ließ sich im Juli 1178 in Arles zum König von Burgund krönen. Damit wollte er die neuerrungene Autorität des Kaisertums und die Reichsherrschaft über Burgund demonstrativ zur Schau stellen. Sturz Heinrichs des Löwen (1180/81) Während die ältere Forschung im Kaiser die treibende Kraft beim Sturz des Löwen sah, werden in der neueren Forschung eher die Fürsten als Initiatoren angesehen. Am 6. Juli 1174 wird Heinrich der Löwe das letzte Mal in den Zeugenreihen der Urkunden Barbarossas genannt, 1181 wurde er gestürzt. Bereits im Frieden von Venedig wurde festgelegt, dass der auf Initiative Heinrichs 1160 vertriebene Bischof Ulrich von Halberstadt sein Amt zurückerhalten solle. Im Herbst 1177 begann Ulrich von Halberstadt in Sachsen den Kampf gegen Heinrich den Löwen um die Halberstädter Kirchenlehen. Unterstützung erhielt er 1178 vom aus Italien heimgekehrten Philipp von Köln. Der Erzbischof fiel in den westfälischen Teil des Herzogtums ein. Im November 1178 auf dem Hoftag zu Speyer nahm Barbarossa erstmals die Klagen der sächsischen Gegner des Löwen an. Auf einem Hoftag in Worms sollte sich der Herzog für sein aggressives Auftreten gegenüber dem sächsischen Adel verantworten. Heinrich erschien jedoch zwischen dem 6. und 13. Januar 1179 nicht in Worms. Vor Gericht zu erscheinen hätte bedeutet, dass er die gegen ihn geführte Klage als berechtigt anerkannt hätte. Der Ungehorsam gegen die Ladung und die demonstrative Missachtung von Kaiser, Fürsten und Gericht traf Barbarossas Herrschaftsanspruch und war eine Verletzung der Ehre des Reiches (honor Imperii). Heinrichs Verhalten durfte nicht ungesühnt bleiben. Es erging daraufhin auf dem Wormser Hoftag vom Januar 1179 ein „Feststellungsurteil“, wonach ihm im Wiederholungsfall die Acht angedroht werde. Auch auf einem Hoftag am 24. Juni 1179 in Magdeburg erschien Heinrich nicht. Das Herzogtum Sachsen wurde auf dem Hoftag in Gelnhausen Ende März 1180 aufgeteilt. Heinrich der Löwe wurde als Majestätsverbrecher verurteilt und seine Reichslehen wurden eingezogen. In der für Erzbischof Philipp von Köln ausgestellten Gelnhäuser Urkunde von 1180 werden die Vorwürfe, die zur Verurteilung führten, aufgelistet: die Unterdrückung der Freiheit (libertas) der Kirchen Gottes und der Adligen, die Missachtung der nach Lehnrecht ergangenen dreimaligen Ladung vor das Hofgericht und die mehrfache Verachtung der kaiserlichen Majestät (pro multiplici contemptu nobis exhibito). In der Narratio der Urkunde werden die Einmütigkeit, der Rat und die Zustimmung der Gesamtheit der Fürsten und des Hofes betont. Barbarossa wurde dabei das traditionelle Vorrecht, bei einer Unterwerfung Gnade walten zu lassen, genommen. Die Fürsten wollten damit möglichen Vergeltungsmaßnahmen eines später durch Barbarossa restituierten und weiterhin übermächtigen Doppelherzogs vorbeugen. Als Nutznießer dieses Konfliktes erhielt „für die gesamte Zukunft“ Erzbischof Philipp von Köln am 13. April 1180 das westliche Sachsen als neu geschaffenes Herzogtum Westfalen-Engern. Der östliche Teil des Herzogtums Sachsen fiel an Graf Bernhard von Anhalt, der Herzog von Sachsen wurde. Ende September 1180 wurde auf einem Hoftag in Altenburg auch über das Herzogtum Bayern entschieden. Die Steiermark wurde zum Herzogtum erhoben und dem bisherigen Markgrafen Ottokar von Steier verliehen, Graf Berthold IV. von Andechs erhielt die Herzogswürde für Meranien. Mit dem verkleinerten Herzogtum Bayern wurde der bisherige bayerische Pfalzgraf Otto von Wittelsbach belehnt, die Wittelsbacher regierten in Bayern fortan bis 1918. Mit der Teilung Sachsens und Bayerns ging die Geschichte der großen karolingerzeitlichen regna des ostfränkischen Reiches endgültig zu Ende; an ihre Stelle traten fürstliche Herrschaftsbereiche, von denen sich einige zu Landesherrschaften entwickelten. Die Neuordnung begrenzte aber auch die Königsgewalt und begünstigte sowohl in Bayern als auch in Sachsen regionale Adelsdynastien. Der fehlende Konsens mit dem sächsischen Adel ließ Heinrichs Herrschaft schnell zusammenbrechen. Im November 1181 unterwarf Heinrich sich auf dem Hoftag von Erfurt dem Kaiser. Dem Löwen verblieben nur noch seine Allodialgüter um Braunschweig und Lüneburg. Für drei Jahre musste er ins Exil gehen. Friede von Konstanz (1183) Vor Ablauf des in Venedig für sechs Jahre geschlossenen Waffenstillstands wurden 1182 Verhandlungen aufgenommen. Ungeklärt waren die Anerkennung Alessandrias als Stadt (status civitatis) und die Anerkennung der Rechtsgewohnheiten in den einzelnen Städten, die den roncalischen Gesetzen widersprach. Im Juni 1183 wurde der Vertrag von Konstanz geschlossen. Alessandria wurde unter dem Namen Caesarea („die Kaiserliche“) formal neu gegründet und so aus einem Symbol des Widerstands in ein Symbol der Herrschaft umgewandelt. Friedrich sprach dem Bund die Regalien gegen eine einmalige oder jährliche Geldzahlung zu und erkannte die städtische Selbstverwaltung an. Die Städte verpflichteten sich im Gegenzug zur Leistung des Fodrum, einer besonderen Steuer in Reichsitalien bei jedem Italienzug. Die Rechtsgewohnheiten der Kommunen und des Lombardenbundes wurden von Barbarossa anerkannt. Die Konsuln wurden von den Einwohnern bestimmt. Der Kaiser konnte dafür alle fünf Jahre die freie Wahl der Konsuln bestätigen. Damit scheiterte Barbarossas Versuch, eine Sonderentwicklung der Verfassung in Reichsitalien zu verhindern. Die Kommunen waren nun selbstständige Rechtssubjekte und ihre Verfassungen waren legitimiert. Ritterlich-höfische Gesellschaft des 12. Jahrhunderts Der Hof Barbarossas Seit dem 12. Jahrhundert entwickelte sich der Hof zu einer zentralen Institution königlicher und fürstlicher Macht. Die wichtigsten Aufgaben waren die Vergegenwärtigung der Herrschaft durch Feste, Kunst und Literatur. Der Begriff „Hof“ kann als „Präsenz beim Herrscher“ aufgefasst werden. Zu den wichtigsten Funktionen des Hofes zählte die Reglementierung des Zugangs zum Herrscher. Die Großen konkurrierten miteinander um Ansehen und Rang beim Herrscher. Vom Herrscher gehört und in ihrer Ansicht beachtet wurden jedoch nur bestimmte Große. Die Präsenz am Königshof gab den Fürsten die Möglichkeit, den eigenen Rang öffentlich zu demonstrieren. Der wichtigste Bestandteil des Hofes war die Kanzlei, die für die Ausstellung der Urkunden zuständig war. Aus Friedrichs Herrschaftszeit sind rund 1200 Urkunden erhalten. In der staufischen Kanzlei Barbarossas wurden verstärkt ritterliche Tugenden wie Tapferkeit im Kampf (virtus und fortitudo), Treue im Dienst und das Streben nach irdischem Ruhm (gloria) und weltlicher Ehre (honor) propagiert. Diese Veränderungen in der Herrscherdarstellung vollzogen sich wohl als Reaktion auf die Krise des Königtums im 11. Jahrhundert und vor der Entstehung der ritterlich-höfischen Kultur im 12. Jahrhundert. 1157 findet sich in der Kanzlei erstmals die Bezeichnung „heiliges Kaiserreich“. Es wurde jedoch kein offizieller Sprachgebrauch zu Barbarossas Zeiten. Der Begriff sacrum imperium kam lediglich in weniger als 32 von über 1200 ausgestellten Urkunden vor. Der Hof Barbarossa zog Experten des gelehrten Rechts, Belagerungstechniker oder Vertreter der neu entstehenden höfischen Dichtung an. Durch die Nähe zur Macht und den Dienst für den Herrscher erhofften sie sich einen Gewinn an Reputation. Die Anziehungskraft des Hofes ließ jedoch in der Spätzeit Barbarossas stark nach. Die Präsenz der weltlichen Reichsfürsten am Hof ging deutlich zurück. Der Hof wurde seit den 1180er Jahren vor allem ein staufischer „Familien- und Freundestreff“. Eine überdurchschnittliche Präsenz am Königshof besaßen nur noch Erzbischof Konrad von Salzburg, Bischof Otto II. von Bamberg und Bischof Hermann II. von Münster. Sie stammten aus den staufernahen Familien der Wittelsbacher, Andechser und Katzenelnbogener. Anders als in der Frühzeit Barbarossas ging der Dienst der Fürsten für Kaiser und Reich zurück. Das Engagement der Fürsten in den italienischen Konflikten ließ durch die Überbeanspruchung menschlicher und materieller Ressourcen zunehmend nach. Zwei Strategien werden sichtbar: Einige Fürsten versuchten in der Nähe des Königs durch geleistete Dienste ihre Vorteile zu suchen und mussten dafür hohe Kosten auf sich nehmen, während sich andere Fürsten königsfern auf den Ausbau ihrer Territorien konzentrierten. Korrespondierend dazu stieg mit der Wende der kaiserlichen Italienpolitik seit 1177 der Anteil der Ministerialen im Umfeld des Kaisers. Die Ministerialen übernahmen Aufgaben in Diplomatie, Kriegsführung und Reichsgutverwaltung. Mainzer Hoffest (1184) Auf dem Mainzer Hoffest zu Pfingsten 1184 erhielten Barbarossas Söhne Heinrich und Friedrich die Schwertleite. Sie wurden damit für volljährig und mündig erklärt. Zum Hoffest erschienen sechs Erzbischöfe, neunzehn Bischöfe, zwei Äbte der Reichsklöster, neun Herzöge, vier Markgrafen, drei Pfalzgrafen, der thüringische Landgraf, viele Grafen und Ministerialen. Die hochmittelalterlichen Betrachter schätzten die Zahl der Besucher auf mehrere Zehntausend und gaben damit einen Eindruck von den ungeheuren Menschenmassen aus den verschiedenen Ländern wieder, die sich an der Mainmündung einfanden. Die Verausgabung von großen Summen auf dem Hoffest durch Kaiser und Fürsten war keine nutzlose Verschwendung, sondern galt dem Erwerb von Ruhm und Ehre sowie der höfischen Selbstdarstellung und Repräsentation. Die Anwesenheit so vieler Reichsfürsten erhöhte aber auch die Konkurrenz untereinander um ihren beanspruchten Rang in der Öffentlichkeit. Am ersten Pfingsttag entstand ein Rangkonflikt zwischen dem Kölner Erzbischof Philipp und dem Abt Konrad von Fulda um den linken Platz neben dem Kaiser. Die Sitzordnung besaß für die Visualisierung der Rangordnung im Reich große Bedeutung. Barbarossa bat Philipp daraufhin mit Rücksicht auf den friedlichen Verlauf des Festes nachzugeben. Philipp musste damit auf die Position des zweitwürdigsten Reichsfürsten nach dem zur Rechten sitzenden Mainzer Erzbischof öffentlich verzichten. Dadurch verschlechterte sich das kaiserliche Verhältnis zum Kölner Erzbischof Philipp. Auf dem Mainzer Hoffest war ebenfalls der frühere Doppelherzog Heinrich der Löwe anwesend. Sein Begnadigungsgesuch scheiterte jedoch an der fehlenden Zustimmung der Fürsten. Sechster Italienzug (1184) Den sechsten Italienzug unternahm Barbarossa erstmals ohne Heer und vollzog einen Umritt durch die einst feindlichen Städte des Lombardenbundes. Im September 1184 besuchte er demonstrativ den bisherigen Hauptgegner Mailand. In Piacenza nahm er im Januar 1185 erstmals an einer Versammlung des Städtebundes teil. Auf dem Weg nach Piacenza warfen sich dem Kaiser bei Lodi Cremasken kreuztragend und fast nackt zu Boden, um sich über die Bedrückungen Cremonas zu beschweren. Sie wurden jedoch von den Cremonesen vertrieben. In aller Öffentlichkeit wurde Barbarossa mit der Rechtsprechung seine wichtigste Herrschaftspflicht genommen. Mit Hilfe von Mailand wurde Cremona im Juni 1186 unterworfen und verlor seine Hoheit über Crema. Die neue Bedeutung Mailands für den Kaiser zeigte sich auch bei der Verehelichung von Barbarossas Sohn Heinrich VI. mit Konstanze von Sizilien im Kloster S. Ambrogio am 27. Januar 1186. Konstanze war eine Tochter des ersten normannischen Königs Roger II. und die Tante des regierenden Königs Wilhelm II. Über die Vorgeschichte zum Heiratsbündnis ist nichts überliefert. Das Heiratsbündnis schuf die Möglichkeit einer Vereinigung des Imperiums mit dem Normannenreich (unio regni ad imperium). Für den Normannenkönig brachte die Ehe seiner Tante einen erheblichen Prestigegewinn. Die Eheschließung belastete jedoch erneut das Verhältnis von Kaiser und Papsttum, da Papst Urban III. Konsequenzen für die päpstliche Lehnshoheit über das normannische Königreich befürchtete. Die Gegensätze zwischen Kaiser und Papst verschärften sich durch das im Frühjahr 1183 ausgebrochene Schisma auf dem Trierer erzbischöflichen Stuhl, als Urban III. im Mai 1186 mit Rudolf von Wied den kaiserlichen Kandidaten absetzte und dessen Gegner Folmar weihte. Kreuzzug und Tod (1190) Im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft konzentrierte sich Barbarossas Wirkungsbereich auf Rhein- und Ostfranken, Schwaben, Elsass und den bayerischen Nordgau. Nach der Niederlage des Königs von Jerusalem gegen Saladin am 4. Juli 1187 in der Schlacht bei Hattin und der Einnahme Jerusalems am 2. Oktober 1187 rief Papst Gregor VIII. am 29. Oktober 1187 zum Kreuzzug auf. Kaiser und Papst verpflichteten sich zu einträchtiger Zusammenarbeit. So investierte der Papst bei der Besetzung des Trierer Bistums mit Johann I. den bisherigen Kanzler Friedrichs und ließ den von ihm favorisierten Folmar von Karden fallen. Am 27. März 1188 ließ Barbarossa auf einem Hoftag in Mainz den Kreuzzug beschwören. Nach damaliger Vorstellung konnte man mit seiner Teilnahme am Kreuzzug die vollständige Vergebung aller Sünden erlangen und Ruhm im Kampf für den Glauben erwerben. Für den Kreuzzug war der Frieden im Reich notwendige Voraussetzung. Im Konflikt zwischen dem aus England zurückgekehrten Heinrich dem Löwen und seinem Nachfolger im sächsischen Herzogtum wurde auf einem Hoftag in Goslar entschieden, dass Heinrich abermals für drei Jahre ins Exil gehen muss. Am 11. Mai 1189 brach Barbarossa von Regensburg als einziger europäischer Herrscher zu einem zweiten Kreuzzug auf. Sein Heer war mit etwa 15.000 Teilnehmern das größte, das je zu einem Kreuzzug aufbrach. Über Bayern, Wien und das Königreich Ungarn erreichte das Heer byzantinisches Gebiet. Byzanz sah in dem Kreuzfahrerheer eine Bedrohung, die Bewohner Adrianopels flohen aus der Stadt, die Kreuzfahrer plünderten Thrakien. Kaiser Isaak II. gestand Friedrich den Titel „Kaiser des alten Rom“ zu, um eine Annäherung zu erreichen. Nach zähen, zunächst gescheiterten Verhandlungen bot er 70 Lastschiffe und 150 Schiffe für die Überfahrt des Heeres nach Kleinasien an, dazu 15 Galeeren. Nach weiteren Konfrontationen brach das Heer Anfang März nach 14 Wochen Aufenthalt auf, drei Wochen später setzte es nach Asien über. Schon hinter Philadelphia kam es zu ersten Kämpfen mit Turkmenen. Kılıç Arslan II., der Sultan von Konya, knüpfte Verhandlungen an und versprach einen friedlichen Durchzug. Doch hatte er sein Reich unter elf Söhnen aufgeteilt, von denen ihm sein ältester Sohn Kutheddin nicht folgte und die Kreuzfahrer bekämpfte. Nachdem sein Heer Konya geplündert hatte, siegte Friedrich in der Schlacht bei Iconium (Iconium ist der lateinische Name Konyas). Ende Mai erreichte das Heer das christliche Königreich Kleinarmenien und schließlich den Fluss Saleph (Göksu bei Silifke) in der heutigen Südosttürkei. Dort ertrank Barbarossa am 10. Juni 1190. Barbarossas Eingeweide wurden in Tarsos beigesetzt. Das Fleisch wurde entsprechend dem Verfahren des „Mos teutonicus“ durch Kochen von den Knochen abgelöst und Anfang Juli in Antiochia beigesetzt. Seine Gebeine fanden ihre Ruhestätte möglicherweise in der Kathedrale von Tyrus, die heute nur noch als archäologisches Ausgrabungsfeld existiert. Barbarossa ist der einzige Herrscher des Mittelalters, dessen Grablege bis heute unbekannt ist. Nach der Rückkehr der Kreuzfahrer entstanden die unterschiedlichsten Nachrichten über Barbarossas Tod. Bereits die Zeitgenossen wussten nicht, ob der Kaiser den Fluss schwimmend oder zu Pferde überqueren wollte, ob er allein oder in Begleitung schwamm, ob er nur ein Erfrischungsbad nehmen oder an das andere Ufer gelangen wollte, ob er überhaupt im Wasser oder erst am Ufer starb. In der ab 1225 erstellten Sächsischen Weltchronik wird berichtet, er habe nach dem Mittagessen zur Abkühlung ein Bad nehmen wollen und sei dabei ertrunken; träfe dies zu, käme auch ein Herzinfarkt als Todesursache in Frage. Der Übergang der Herrschaft auf Heinrich VI. verlief reibungslos. Heinrich war bereits als dreijähriges Kind zum König gewählt worden. Erstmals seit 1056 stand damit ein allgemein akzeptierter Nachfolger bereit. Das Barbarossa-Bild der Nachwelt Beurteilung im Mittelalter In der historiographischen Überlieferung vollzog sich ein Wandel der Leitbilder und Normen. Neben traditionellen christlichen Normvorstellungen (clementia, misericordia, humilitas) trat in der stauferfreundlichen Geschichtsschreibung das sich im 12. Jahrhundert ausbildende ritterliche Herrscherideal stärker hervor. In den Kämpfen Barbarossas mit den italienischen Städten werden die heldenhafte Tapferkeit und die überlegene Kampfkraft des Herrschers als ritterlicher Held demonstriert. Die gegnerischen italienischen Städte werden als hochmütig (superbia) beurteilt und als Gegenpart zu dem im göttlichen Auftrag kämpfenden Herrscher Barbarossa porträtiert. Die Städte scheinen sich als Gegner des Kaisers gegen die gottgewollte Ordnung zu erheben und Barbarossa ist der „Vollzieher“ der göttlichen Rache. Auf der Gegenseite wird Barbarossa in der italienischen Stadtgeschichtsschreibung der Treulosigkeit, Bestechlichkeit und Parteilichkeit bezichtigt. Für den italienischen Rhetor Boncompagno da Signa war Barbarossas ruhmloser Tod die verdiente Strafe Gottes für die Kriege gegen die italienischen Städte. Die Grausamkeit der Kriege führte aber auch dazu, dass erstmals der aus dem antiken Rom stammende Begriff furor teutonicus (teutonische Wut) nach fast völliger Vergessenheit wieder in der Geschichtsschreibung auftauchte. Die Chronik des Bischofs Otto von Freising gilt als Höhepunkt mittelalterlicher Weltchronistik. Der Freisinger Bischof gehörte bis zu seinem Tod nicht zu den engsten Vertrauten des Königs. Otto erhoffte sich durch sein Geschichtswerk über „die Taten Friedrichs“ (Gesta Frederici) königliche Unterstützung für die Freisinger Kirche. Mit Barbarossas Herrschaft sah Otto eine neue Zeit anbrechen. Nach Ottos Tod 1158 führte sein Freisinger Kapellan, Notar und Privatsekretär Rahewin das Werk fort und schloss es vor Ende Juli 1160 ab. Neben den Auseinandersetzungen mit den italienischen Städten prägte der Konflikt zwischen Kaiser und Papst das Bild Barbarossas in der Historiographie. Das Papstschisma wurde bei dem in den 1180er Jahren entstandenen panegyrischen Heldengedicht Ligurinus weitgehend ausgeblendet. Sein Autor Gunter stand offenbar in enger Beziehung zur kaiserlichen Familie und konzipierte sein Werk für den staufischen Herrscherhof. Ebenfalls schilderte der Dichter des Carmen de gestis Frederici I. imperatoris in Lombardia das Verhältnis von Kaiser und Papst als harmonisch und verheimlichte das Schisma. Die wachsende Distanz Barbarossas zum Kölner Erzbischof wird in der Kölner Königschronik deutlich. In ihr wird bis zum Jahr 1174 der Aufschwung des Reiches unter Barbarossa beschrieben und die kaiserliche Autorität gerühmt. Mitte der 1180er Jahre wurde die Chronik von einem anderen Verfasser unter veränderter Konzeption fortgesetzt. Es ging nun um Kölner Bistums- und Herrschaftsgeschichte. Barbarossas zweiter Kreuzzug, der Dritte Kreuzzug nach üblicher Zählung, erschien in zeitgenössischer Sicht als unheilvoll und unwürdig. Sein ruhmloser Tod erfuhr jedoch schon bald eine Umdeutung: als kaiserlicher Kreuzritter im Kampf gegen die Heiden an der Spitze. Rezeption In der Erinnerung war zunächst Friedrich II. bedeutsamer als sein Großvater Friedrich I. Barbarossa. Der Kaiser werde am Ende der Zeiten zurückkommen und Reich und Kirche erneuern. Zum Ende des Mittelalters wurde diese Vorstellung allmählich von den Humanisten auf Friedrich I. Barbarossa übertragen, denn Friedrich II. verbrachte mit 28 von 39 Herrschaftsjahren die meiste Zeit in Italien und konnte daher kein geeigneter Repräsentant Deutschlands sein. Im Volksbuch von Kaiser Friedrich Barbarossa 1519 eroberte Barbarossa entgegen den historischen Tatsachen Jerusalem und starb nicht im Saleph, sondern ging nur verloren und kehrte nach einiger Zeit zurück. Barbarossa entwickelte sich im 19. Jahrhundert nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1806, den Befreiungskriegen gegen Napoleon 1813/14 und der „Kleinstaaterei“ Deutschlands zum Bezugspunkt des nationalen Macht- und Einheitsgedankens. Diese Rolle fiel Barbarossa nicht zuletzt durch den Umstand zu, dass dieser Kaiser im Reich keine Grabstätte hatte. Barbarossa wurde zum schlafenden, aber wiederkehrenden Kaiser im Kyffhäuser und damit zur erhofften Symbolfigur der nationalen Sehnsüchte der Deutschen. Durch die Sagensammlung der Brüder Grimm Friedrich Rotbart im Kyffhäuser aus dem Jahr 1816 und das Gedicht Barbarossa von Friedrich Rückert von 1817 wurde die Kyffhäusersage für ein größeres Publikum erschlossen. Julius Schnorr von Carolsfeld malte 1832 den Tod Barbarossas als Folge eines Badeunfalls; sein Werk erinnert an das Bild Grablegung Christi von Raffael. Damit konnte Barbarossas Tod mit dem Tod eines nationalen Erlösers verglichen werden. Im 19. Jahrhundert wurde Barbarossas Fußfall vor Heinrich dem Löwen ein häufig auftauchendes Motiv in der Historienmalerei. Die Szene inspirierte in der Historienmalerei Hermann Wislicenus, Wilhelm Trautschold und Philipp von Foltz. Am Fußfall des Kaisers in Chiavenna ließ sich das Scheitern der mittelalterlichen Zentralgewalt und die Kontroverse über die kaiserliche Italienpolitik als Bestandteil kleindeutscher oder großdeutscher Debatten über die nationale Frage anschaulich illustrieren. Durch die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 mit einem Hohenzollernkaisertum an der Spitze wurde nach damaliger Vorstellung das mittelalterliche Reich wieder aufgerichtet. Mit Kaiser Wilhelm I. „Barbablanca“ (Weißbart) sei Friedrich Barbarossa (Rotbart) endlich wiedererstanden. Der Hohenzollerkaiser vollendete mit der Reichsgründung, was der Staufer Barbarossa im 12. Jahrhundert begann. 1875 wollte der Münchener Professor Johann Nepomuk Sepp mit der erfolgreichen „Zurückführung der Überreste des alten Barbarossa“ „die deutsche Nation in heilige Begeisterung setzen“. Für dieses Projekt gewann er Otto von Bismarck. Sepp und mit ihm Hans Prutz, der Verfasser der ersten wissenschaftlichen Biografie Barbarossas, reisten auf Kosten des Reichskanzleramtes per Schiff in den Orient, jedoch blieb die „Meerfahrt nach Tyrus“ erfolglos. Mit der Einweihung des Kyffhäuserdenkmals 1896 erreichte die Barbarossaverehrung als Nationalmythos einen Höhepunkt. Der Mythos Barbarossa überstand die politischen Einschnitte 1918 und 1933 unbeschadet. Im Nationalsozialismus musste Barbarossa für die aggressive Ostpolitik herhalten. Adolf Hitler nannte den Angriffskrieg gegen Russland im Juni 1941 „Unternehmen Barbarossa“. Erst 1945 endete der Nationalmythos Barbarossas. In der Folgezeit setzte eine Regionalisierung und Entpolitisierung seiner Person ein. Seitdem bezeichnen sich Sinzig, Kaiserslautern, Gelnhausen, Altenburg und Bad Frankenhausen/Kyffhäuser als Barbarossastadt oder es gibt eine Touristikregion Stauferland. In Italien verlief die politische und nationale Entwicklung ähnlich wie in Deutschland. Die Konflikte Barbarossas mit den italienischen Kommunen wurden in nationale Geschichtsbilder eingebettet. In der Epoche des Risorgimento stand in Italien auch das Ringen um eine nationale Einigung im Vordergrund. Die Stadt erschien als wichtige Vorbedingung der modernen Welt und vor allem der Demokratie. Die Kämpfe zwischen Barbarossa und den oberitalienischen Kommunen wurden als Konflikt zwischen Demokratie und Monarchie verklärt. Der national motivierte Freiheitskampf städtischer Bürger gegen einen tyrannischen Fremdherrscher galt als ein Vorläufer im Kampf, sich der deutschen Kaiserherrschaft der Habsburger zu entledigen. Die Niederlage Barbarossas bei Legnano wurde im italienischen Geschichtsbewusstsein zum Sinnbild von nationaler Selbstbestimmung gegen Fremdherrschaft. In Mailand gilt Barbarossa bis heute als Symbol einer drückenden Fremdherrschaft. Neben staufischen Feindbildern gibt es in der Lombardei aber auch eine sehr positive Erinnerungskultur an Barbarossa. In kaiserfreundlichen Kommunen wie Como, Lodi und Pavia gilt der Staufer als Förderer der eigenen Stadtentwicklung. Der staufische Herrschaftsanspruch gab ihnen die Möglichkeit, sich gegenüber dem mächtigen Mailand kommunale Autonomie zu sichern. Als Reaktion auf das 2008 gefeierte 850. Jubiläumsjahr ihrer Gründung wurde in Lodi Ende 2009 ein Barbarossa-Reiterdenkmal eingeweiht. Eine moderne Rezeption ist der Historienroman Baudolino aus dem Jahr 2000 von Umberto Eco und der 2009 von Renzo Martinelli gedrehte Film Barbarossa. Geschichtsbilder und Forschungsperspektiven Die Historiker des 19. Jahrhunderts fragten nach den Gründen für die verspätete Entstehung des deutschen Nationalstaats. Sie suchten im Mittelalter nach den Gründen für dieses Geschehen und insbesondere nach den Ursachen für die Schwäche des Königtums. Die national gestimmten Historiker beschrieben die Geschichte des mittelalterlichen deutschen Reiches unter dem Gesichtspunkt der Macht. Die mittelalterlichen Könige und Kaiser wurden als frühe Repräsentanten einer auch für die Gegenwart ersehnten starken monarchischen Gewalt angesehen. Das Urteil über einzelne Herrscher orientierte sich an Modernisierungstendenzen, deren Ziel der moderne Staat und seine Verfassung mit einer starken monarchischen Zentralgewalt war. Die Fürsten mit ihren egoistischen Partikularinteressen und das machtversessene Papsttum mit seinem Streben nach Vorrangstellung über die weltlichen Herrscher galten für die nationalliberalen Historiker als „Totengräber“ der Kaisermacht. Ganz entscheidend wurde das historische Urteil von der Frage bestimmt, ob einzelne Könige gegenüber den beiden Gewalten die Machtbasis zu bewahren und zu steigern verstanden oder ob sie zum Niedergang der Zentralgewalt beigetragen haben. Unter dieser Perspektive kam Barbarossa eine entscheidende Rolle zu. In seinem 5. Band der 1880 erschienenen „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ hob Wilhelm von Giesebrecht die Bedeutung des Staufers „für unsere nationale Entwicklung“ hervor. Nach diesem Geschichtsbild habe die politische Aufgabe Barbarossa vornehmlich in der Stärkung der monarchischen Zentralgewalt bestanden. Der mittelalterliche Herrscher wurde in der historischen Meistererzählung zu einem „kühl kalkulierenden Kabinettpolitiker“, der im Reich so verfährt, als ob er gewusst und gewollt hätte, dass es einmal der spätere deutsche Nationalstaat sein werde. Sein jahrzehntelanger Kampf gegen Papst Alexander III. galt als Nachweis für sein Bestreben, eine starke monarchische Gewalt gegenüber dem päpstlichen Überordnungsanspruch zu bewahren. Der von Barbarossa lange betriebene Sturz Heinrichs des Löwen und die Zerschlagung seiner beiden Herzogtümer wurden aus einem Dualismus zwischen Kaiser und Fürst erklärt. Heinrichs Sturz galt zugleich als Gipfel- und Wendepunkt im staufisch-welfischen Konflikt. Die Italienzüge wurden durch die Erschließung finanzieller Mittel für das Königtum im wirtschaftlich weiter entwickelten und wohlhabenderen südlichen Reichsteil gerechtfertigt. Die Gegenmeinung deutete die Italienzüge als die Ursache für die Zersplitterung Deutschlands und sah die jahrelangen Konflikte mit dem Papst und den oberitalienischen Städten als hinderlich für die nationale Einigung im Norden an. Im daran anschließenden Sybel-Ficker-Streit wurde über Vor- und Nachteile der Italienpolitik für die deutsche Nation gestritten und die mittelalterlichen Kaiser wurden danach beurteilt, ob ihr Verhalten die nationale Entwicklung späterer Zeit gefördert oder gehemmt hätte. Den Hintergrund bildete die damals aktuelle Kontroverse über die Gestaltung eines deutschen Nationalstaats, in der kleindeutsche und großdeutsche Lösungsvorschläge einander gegenüberstanden. Erst nach 1945 veränderte sich das Geschichtsbild von Barbarossa. Die Mediävistik kam zu realistischeren Vorstellungen über die politische und soziale Wirklichkeit und in den folgenden Jahrzehnten zu neuen Einsichten über die Funktionsweise mittelalterlicher Staatlichkeit und Königsherrschaft, die personalen Bindungen, die symbolische Kommunikation und die konsensuale Herrschaft. Im Jahr 1977 rückte die Stuttgarter Staufer-Ausstellung Barbarossa in abendländische Bezüge. Sein Kaisertum aus schwäbischen Wurzeln wurde als Erfüllung höfischer Kultur in europäischer Weite gefeiert. Seit den 1980er Jahren wurden von Gerd Althoff die symbolischen Verhaltensweisen nicht mehr nur als anekdotische Ausschmückung in den Quellen gedeutet, sondern als wichtige Aussagen über die Funktionsweise der mittelalterlichen Königsherrschaft. Anlässlich seines 800. Todesjahrs 1990 widmete der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte ihm eine Doppeltagung. Dabei standen die „Handlungsspielräume und Wirkungsweisen“ des Kaisers im Blickpunkt. In der 1990 erstmals erschienenen und bis heute mehrfach aufgelegten Biografie von Ferdinand Opll wird Barbarossa weder als Staatsmann noch als Reaktionär verstanden. Werner Hechberger konnte 1996 nachweisen, dass der staufisch-welfische Gegensatz, der lange für das 12. Jahrhundert als die grundlegende politische Konstellation betrachtet wurde, keine zeitgenössische politische Koordinate, sondern ein modernes Forschungskonstrukt war. Dadurch entwickelten sich neue Perspektiven auf das Ausmaß welfischer Unterstützung bei Barbarossas Herrschaftsantritt und das Verhältnis zwischen Barbarossa und Heinrich dem Löwen. Der Sturz des Löwen wird nicht mehr als ein von Barbarossa zielstrebig verfolgter Plan eingeordnet. Die jüngere Forschung betont bei Heinrichs Sturz vielmehr die Teilhabe der Fürsten an der Königsherrschaft, die „zum selbstverständlich praktizierten konsensualen Entscheidungsgefüge“ gehörte. Barbarossa wird beim Sturz des Löwen nicht mehr als „Jäger des Löwen“, sondern vielmehr als „Getriebener der Fürsten“ charakterisiert. Mit dem Begriff der „konsensualen Herrschaft“ wird aber auch Barbarossas Königsherrschaft grundsätzlich charakterisiert. Die Suche nach dem Konsens und das enge Zusammenarbeiten mit den Großen ist für die Forschung ein zentrales Merkmal seiner Herrschaftsausübung, weshalb er auch als „Fürstenkönig“ bezeichnet wurde. In der jüngeren Forschung gewinnen „Ehre“ und „Treue“ in einem epochenspezifischen Sinne als Motive für Herrschaftspraxis und Politik Barbarossas eine große Rolle. Knut Görich versteht Ehre dabei nicht als moralischen Wert, sondern als „die rein äußerlich gezeigte Ehre einer öffentlich gezeigten Anerkennung von Rang und Herrschaft des Kaisers.“ Er sah in der „unbedingten Wahrung“ des „honor imperii“ (Ehre des Reiches) eine wesentliche „handlungsleitende Vorstellung“. Mit der Verteidigung, Wahrung und Demonstration des honor imperii versuchte er die politischen Einstellungen und Handlungsweisen des Kaisers zu begründen. Als Ursache für politische Konflikte gelten nicht mehr große politische Ideen und Konzeptionen, sondern gegenläufige Ansprüche auf Status und Ehre in einer ranggeordneten Gesellschaft. Im Jahr 2011 lieferte Görich mit einer umfassenden Biografie eine Synthese des derzeitigen Forschungsstandes. Danach war „Barbarossas Handeln vom Habitus des mittelalterlichen Kriegeradels bestimmt, in dem Ehre, Gewalt und das Bedürfnis nach rühmendem Andenken ganz nahe beieinander lagen“. Er war also in den Konflikten mit dem Papst und den italienischen Städten uns heute fremd erscheinenden „Handlungserwartungen und Handlungszwängen ausgesetzt“. Zum 900. Geburtstag Barbarossas widmete ihm das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster eine große internationale Sonderausstellung, die vom 28. Oktober 2022 bis 5. Februar 2023 zu sehen war. Die Ausstellung entwirft ein Bild von Barbarossa, das ihn als Netzwerker und Moderator der an ihn gerichteten Erwartungen und weniger als souveränen Alleinherrscher zeigt. Quellen MGH, Diplomata regum et imperatorum Germaniae, Bd. X/1–5, Friderici I. Diplomata. Bearbeitet von Heinrich Appelt, Hannover 1975–1990. Otto von Freising und Rahewin, Gesta Frederici seu rectius Cronica (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe.) Bd. 17. Übersetzt von Adolf Schmidt, herausgegeben von Franz-Josef Schmale. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1965. Das Geschichtswerk des Otto Morena und seine Fortsetzer über die Taten Friedrichs I. in der Lombardei (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Nova Series. Bd. 7). Herausgegeben von Ferdinand Güterbrock. Berlin 1930, ND 1964. Literatur Allgemeine Darstellungen Knut Görich: Die Staufer. Herrscher und Reich. 4., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-73805-0. Werner Hechberger, Florian Schuller (Hrsg.): Staufer & Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter. Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2168-2. (Rezension) Hagen Keller: Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250 (= Propyläen-Geschichte Deutschlands. Bd. 2). Propyläen-Verlag, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8. Wolfgang Stürner: Die Staufer. Eine mittelalterliche Herrscherdynastie. Bd 1: Aufstieg und Machtentfaltung (975 bis 1190). Kohlhammer, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-035365-7. Stefan Weinfurter (Hrsg.): Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas (= Mittelalter-Forschungen. Bd. 9). Thorbecke, Stuttgart 2002, ISBN 3-7995-4260-4 (online) Biografien Joachim Ehlers: Friedrich I. In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters, Historische Porträts von Heinrich I. bis Maximilian I. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 232–257 (online). John B. Freed: Frederick Barbarossa. The Prince and the Myth. Yale University Press, New Haven u. a. 2016, ISBN 978-0-300-12276-3. Knut Görich: Friedrich Barbarossa: Eine Biographie. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-59823-4. (Francia-Recensio 2012/3, Rezension H-Soz-Kult, Rezension bei Sehepunkte) (maßgebliches Werk) Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Der erste Stauferkaiser. Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-78197-1. Johannes Laudage: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. Pustet, Regensburg 2009. ISBN 978-3-7917-2167-5. (Aus dem Nachlass Laudages herausgegeben von Lars Hageneier und Matthias Schrör und daher für die 1170er Jahre teils lückenhaft.) (Rezension) Ferdinand Opll: Friedrich Barbarossa. 4. bibliographisch vollständig aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-22880-5. (1. Auflage 1990) Darstellungen Holger Berwinkel: Verwüsten und Belagern. Friedrich Barbarossas Krieg gegen Mailand (1158–1162) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Band 114). Niemeyer, Tübingen 2007, ISBN 978-3-484-82114-9. (Rezension) Evamaria Engel, Bernhard Töpfer (Hrsg.): Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau – Aspekte seiner Politik – Wirkung (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte. Band 36). Böhlau, Weimar 1994, ISBN 3-7400-0923-3. Wolfgang Georgi: Friedrich Barbarossa und die auswärtigen Mächte. Studien zur Außenpolitik 1159–1180 (= Europäische Hochschulschriften. Band 442). Lang, Frankfurt am Main u. a. 1990, ISBN 3-631-42513-9. Knut Görich: Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Mexiko-Stadt
Mexiko-Stadt
Mexiko-Stadt ( [], kurz: CDMX; bis 2016 México D.F.) ist die Hauptstadt von Mexiko. Sie gehört zu keinem Gliedstaat, sondern bildet eine eigene Gebietskörperschaft, in der 9,2 Millionen Menschen (2020) leben. Die Metropolregion Zona Metropolitana del Valle de México (ZMVM), zu der Mexiko-Stadt, der östliche Teil des Bundesstaates México und eine Gemeinde aus dem Bundesstaat Hidalgo gehören, ist mit über 21 Millionen Einwohnern eine der größten der Erde. Die Stadt ist politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Mittelpunkt sowie größter Verkehrsknotenpunkt des Landes. Sie ist Sitz des Erzbistums Mexiko sowie zahlreicher Universitäten und Fachschulen. Die UNESCO hat ihr historisches Zentrum mit den Überresten der Azteken­hauptstadt Tenochtitlan sowie die Wassergärten im Stadtteil Xochimilco 1987 und den zentralen Universitätscampus der Universidad Nacional Autónoma de México im Jahr 2007 zum Weltkulturerbe erklärt. Der Name der Stadt Die Mexikaner nennen ihre Hauptstadt meist el D.F. („el De-Efe“, Abkürzung von Distrito Federal, „Bundesbezirk“). Wenn also von México die Rede ist, ist normalerweise der Staat gemeint. Weniger häufig und meist in offiziellem Zusammenhang ist von La Ciudad de México die Rede. Das Land Mexiko erhielt wiederum seinen Namen von der jetzigen Hauptstadt. Einwohner der Stadt werden als capitalinos („Hauptstädter“), defeños (abgeleitet von D.F.) oder chilangos bezeichnet, das Wort mexicano bezieht sich wiederum vorwiegend auf die Republik. Der Name México geht ursprünglich auf die Azteken zurück, die sich selbst als „Mexica“ bezeichneten. Teilweise wird im deutschsprachigen Raum für „Mexiko-Stadt“ auch die englischsprachige Bezeichnung Mexico City verwendet. Am 29. Januar 2016 wurde der spanische Name der Stadt auch offiziell in Ciudad de México (= Mexiko-Stadt), abgekürzt „CDMX“, geändert. Geographie Geographische Lage Mexiko-Stadt liegt am südlichen Ende des 60 Kilometer langen und 100 Kilometer breiten Tals von Mexiko auf einer Höhe von durchschnittlich 2.310 Metern über dem Meeresspiegel und ist auf drei Seiten von Bergen umgeben – unter anderem von den berühmten Zwillingsvulkanen Popocatépetl und Iztaccíhuatl sowie der Sierra Nevada. Die Kombination dieser Lage und einer Metropole mit ihren Emissionen insbesondere des motorisierten Verkehrs lässt oft Smog entstehen. Seit Jahrhunderten ist dieses Becken der Mittelpunkt des Landes, lange bevor von einer mexikanischen Nation die Rede sein konnte. Die Stadt hat eine Fläche von 1.499,03 Quadratkilometern. Sie grenzt im Norden, Osten und Westen an den Bundesstaat México und im Süden an den Bundesstaat Morelos. Zur Metropolregion von Mexiko-Stadt gibt es drei verschiedene Definitionen: „Megalópolis del Centro de México“ (MCM) Dazu gehören neben Mexiko-Stadt weitere 249 Gemeinden in der Umgebung der Hauptstadt, einschließlich der Zonas Metropolitanas von Cuernavaca-Cuautla, Pachuca, Puebla-Tlaxcala und Toluca. Die Gemeinden in der MCM verteilen sich auf die Bundesstaaten wie folgt: México (99), Tlaxcala (52), Puebla (36), Hidalgo (31) und Morelos (31). Das Gebiet erstreckt sich über eine Fläche von 9.763 Quadratkilometer. „Zona Metropolitana de la Ciudad de México“ (ZMCM) Zu ihr gehören die 16 Stadtbezirke (Delegaciones) der Hauptstadt, 40 Gemeinden (Municipios) des Bundesstaates México und eine Gemeinde des Bundesstaates Hidalgo. Sie hat eine Bodenfläche von 4.986 Quadratkilometer. „Zona Metropolitana del Valle de México“ (ZMVM) Zu dieser Region zählen neben Mexiko-Stadt 58 Gemeinden des Bundesstaates México und eine Gemeinde des Bundesstaates Hidalgo. Sie hat eine Fläche von 7.815 Quadratkilometer. Hydrologie Das präkolumbische Ökosystem, wie es die Azteken vorfanden, als sie nach Zentralmexiko vordrangen, lässt sich aufgrund von Grabungen recht genau rekonstruieren: Sie deuten auf eine Landschaft, die durch zahlreiche Seen mit dazwischen liegenden Sümpfen geprägt war. Von den umliegenden Gebirgen, die vorwiegend mit Kiefern- und Eichenwäldern bedeckt waren, strömten zahlreiche Bäche und Flüsse, deren größte in den nördlichen Zumpango-See mündeten. Während die kleineren nördlichen und südlichen Seen Süßwasser enthielten, war das Wasser des tiefer gelegenen Texcoco-Sees wegen des salpeterhaltigen Untergrunds, des fehlenden Abflusses und der hohen Verdunstung stark salzhaltig. Auffälligerweise ist in Mexiko-Stadt kein Fluss. Als die Azteken im Tal von Mexiko eintrafen, fanden sie eine hoch entwickelte Hydrokultur vor: Mais, Bohnen, Tomaten, Kürbis und andere Lebensmittel wurden auf bewässertem Land und schwimmenden Gärten, sogenannten Chinampas, angebaut; auch Eindeichungen, Flussumleitungen und Trinkwasserleitungen waren im Valle de México üblich. Im 15. Jahrhundert begannen die Azteken, selbst Deiche zu bauen, welche die Insel mit dem Festland verbanden. Sie dienten gleichzeitig als Aquädukte. Ein 16 Kilometer langer Deich, unterbrochen nur von einigen Schleusen, war östlich von Tenochtitlán durch den Texcoco-See gebaut worden, um die Stadt vor Überschwemmungen zu schützen. In den ersten Jahren ihrer Herrschaft verkannten die Spanier die Wichtigkeit der Anlagen und ließen sie verfallen. Als es aber ab 1540 zu immer verheerenderen Überschwemmungen kam, entschloss man sich zu ihrer Rekonstruktion. Die Abholzung der Hänge in Verbindung mit dem Waldweidegang des Viehs hatte aber die steilen Hänge schon stark erodiert. Die Erde konnte die Niederschläge nicht mehr aufnehmen und war in den Texcocosee geschwemmt worden (der zur Zeit der Eroberung 14 Meter tiefer war als heute). Die alten Anlagen waren den nun zu bewältigenden Wassermassen nicht mehr gewachsen. So starben beispielsweise während der großen Überschwemmungen zwischen 1629 und 1633 circa 50.000 Menschen. 1789 war schließlich ein Kanal durch die Randgebirge vollendet, mit dem man das Tal nach außen entwässerte. Die Erosion führte dazu, dass die Quellen, die die Stadt früher mit Trinkwasser versorgt hatten, versiegten. Die Trinkwasserversorgung erfolgte nun aus Tiefbrunnen (1886 bereits über 1000). Da nun aber das Abwasser (ungeklärt) aus dem Tal herausgebracht wurde, sank der Grundwasserspiegel immer weiter. Die vielen Seen, die das Tal einst füllten, fielen trocken. Den feinkörnigen, bentonitischen Tonen im Untergrund der Stadt wurde das Wasser entzogen, so dass sie schrumpften. In der Folge senkten sich einige Gebiete der Innenstadt zwischen 1891 und 1970 um bis zu 8,50 Meter, bis 1998 um bis zu 9,10 m. Im Zeitraum Oktober 2014 bis Mai 2015 wurden Sinkraten von typisch bis zu 12,70 bis 22,86 cm/Jahr in weiten Gebieten der Stadt vermessen. Neben den Auswirkungen auf die Bausubstanz beeinträchtigt das auch die Kanalisation: Die Anlagen sind zum Teil zerrissen, Gefälle haben sich umgekehrt. Abwasser dringt mitunter in die ebenfalls undichten Leitungen für Trinkwasser ein und macht dieses infektiös. Der neue Abwassertunnel Túnel Emisor Oriente (Bauzeit 2008 bis 2019) hilft mit seinem Innendurchmesser von sieben Metern und einem Durchfluss von bis zu 150 m³ Abwasser pro Sekunde, die Situation zu verbessern. Der Leiter von Mexikos Wasserversorgung, Ramón Aguirre Díaz rechnet 2017 damit, dass die Wasserquellen unter der Stadt in 40–50 Jahren versiegen werden. Das große Cutzamala-System versorgt mehrere Bezirke und Gemeinden im Bundesstaat Mexiko mit rund 485 Millionen Kubikmeter Trinkwasser pro Jahr. 20 % der Stadtbevölkerung werden nur unzuverlässig und mit krankmachendem Wasser aus der Leitung versorgt; Lieferungen mit Tankwagen sind teuer. 41,4 % des Trinkwassers versickert aus undichten Leitungen. Klimaerwärmung und eine allfällige Abnahme der Niederschläge belasten die Versorgungssicherheit. Ein nachhaltiger Umbau der Wasserversorgung und -entsorgung würde 200 Milliarden Pesos (ca. 9,5 Milliarden Euro) kosten, weshalb die aktuelle Regierung im Jahr 2017 zur Privatisierung der Wasserversorgung tendierte. Geologie Mexiko-Stadt befindet sich in einer durch Erdbeben gefährdeten Region, die regelmäßig von Erdstößen geringer bis mittlerer Intensität erschüttert wird. Am 19. September 1985 tötete ein verheerendes Erdbeben der Stärke 8,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala mit Epizentrum im 350 Kilometer entfernten Bundesstaat Michoacán offiziell 10.000 Menschen, rund 250.000 wurden obdachlos. Nach Angaben der Rettungsmannschaften starben bis zu 45.000 Menschen. Insgesamt kam es an 2.800 Gebäuden zu Schäden, 880 von ihnen brachen zusammen. Die große Zahl der Opfer war unter anderem durch die mangelhafte Bauweise vieler Gebäude bedingt, zudem verstärkte der größtenteils weiche Untergrund der Hauptstadt die Stoßwellen. Am 19. September 2017 richtete ein Beben mit der Stärke 7,1 in der Stadt große Schäden an. Im Mittelpunkt eines ursprünglich abflusslosen Beckens liegt die Landeshauptstadt, die heute durch einen Entwässerungskanal mit dem Flusssystem des Pánuco in Verbindung steht. Das Tal befindet sich im südlichen Teil des Mexikanischen Hochlandes, das als Mesa Central bezeichnet wird. Es ist auch orografisch vom nördlichen sehr verschieden. Im Landschaftsbild überwiegt Gebirgscharakter. Waldbedeckte Vulkankegel, riesige Krater erloschener Vulkane, jähe Felsabstürze, die die Erosion in die Flanken des Gebirges gerissen hat, wechseln mit fruchtbaren, von vulkanischem Schutt erfüllten Hochebenen und Tälern. Dort liegt das Zentrum des Ackerbaus, dessen wichtigste Anbaufrüchte infolge der Lage in der Tierra Templada Bohnen, Mais, Weizen, Gemüse und Obst sind. Das gesamte Mexikanische Hochland birgt große Reichtümer an Blei, Kupfer, Zinn, Zinnober, Schwefel, Gold und Silber. Aus den Edelmetallen schufen die Azteken prächtigen Schmuck und andere Kunstgegenstände. Die Bitumenkohle, die in der Fortsetzung der Lignite von Texas und Coahuila auftritt, deckt den gesamten Kohlebedarf Mexikos. Stadtgliederung Mexiko-Stadt gliedert sich in 16 Stadtbezirke (delegaciones), die ihrerseits weiter in Stadtteile (colonias) untergliedert sind, sowie auf der untersten Regionalebene in barrios. In der folgenden Tabelle sind die Bezirke, deren Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte nach der Volkszählung des Jahres 2010 aufgeführt. Klima Die Stadt befindet sich in den Tropen, genauer gesagt in den Kalttropen wegen ihrer hohen Lage. Tagsüber ist es im Winter mit 20 bis 25 °C recht warm, nachts jedoch deutlich kühler, teils sogar frostig. Im Sommer zwischen April und Juni wird es um die Mittagszeit mit 25 bis 30 °C sehr warm. Von Oktober bis Mai ist Trockenzeit und von Juni bis September Regenzeit, in der es meist nachmittags und abends, manchmal aber bis in den Morgen hinein, zu heftigen Schauern kommt. Dann ist es sehr schwül. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 15,9 °C, die jährliche Niederschlagsmenge 816,2 Millimeter im Mittel. Der wärmste Monat ist der Mai mit durchschnittlich 18,9 °C, die kältesten Monate sind Dezember und Januar mit 12,5 °C und 12,2 °C im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt im Monat Juli mit durchschnittlich 175,1 Millimetern, der wenigste im Februar mit 4,3 Millimetern im Mittel. Umweltprobleme Die größte mexikanische Metropole hat mit zahlreichen Umweltproblemen zu kämpfen. Dazu gehören die hohe Luftverschmutzung, Probleme bei der Trinkwasserversorgung, unzureichende Strukturen in der Abfallbeseitigung, Defizite im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und eine übermäßige Verkehrsbelastung. Etwa 1,3 Millionen Menschen in Mexiko-Stadt leben (Stand 2020) ohne direkten Trinkwasserzugang. Das Wasser für Mexiko-Stadt kommt aus anderen Teilen des Landes oder aus unterirdischen Wasserspeichern, die oft ausgetrocknet sind – die Stadt muss immer tiefer bohren, um Grundwasser zu erreichen. Die Leitungen sind rissig, so dass viel versickert; Abwasser und Industrieabfälle verunreinigen das Wasser. Dennoch haben Bewohner, die Zugang zu Trinkwasser haben, einen hohen Verbrauch. So lag dort der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr 2018 bei 314 Litern täglich. Die Luftqualität von Mexiko-Stadt galt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lange als eine der schlechtesten der Welt. Bei den Parametern Schwefeldioxid, Feinstaub, Kohlenstoffmonoxid und Ozon werden die empfohlenen Grenzwerte der WHO deutlich überschritten. Ursache sind vor allem die mehr als vier Millionen Personenkraftwagen, 120.000 Taxen, 28.000 Omnibusse und mehrere zehntausend Lastkraftwagen, die täglich in der Metropolregion verkehren. Bedingt durch die schnelle Verstädterung, das stark gestiegene Verkehrsaufkommen und die Industriekonzentration im Ballungsraum stellen die übermäßige Emissionsbelastung und der Smog eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Der International Council on Clean Transportation (ICCT) schätzten für das Jahr 2007, dass jedes Jahr im Großraum Mexiko-Stadt rund 4000 Menschen an der Luftverschmutzung sterben. Die Stadt liegt im Tal von Mexiko, einer abflusslosen Hochebene in etwa 2000 Metern Höhe, die von Westen, Süden und Osten von Bergen eingeschlossen wird. Während Inversionswetterlagen nehmen besonders Atemwegserkrankungen unter der Bevölkerung der Hauptstadt zu. Warme Luftmassen in einigen hundert Metern Höhe und der fehlende Wind über dem Erdboden verhindern dann die Luftzirkulation. Die Regierung verstärkte seit Jahren den Kampf gegen die Umweltverschmutzung. So wurden Fahrverbote für Privatfahrzeuge mit zu hohen Emissionen erlassen, nachdem tageweise nur Fahrzeuge mit geraden oder ungeraden Nummern fahren durften. Der Einsatz von blei- und schwefelarmen Kraftstoffen wurde gefördert sowie die Industrie und Privathaushalte zum Einbau von Katalysatoren verpflichtet. Auch mussten viele alte Industriebetriebe schließen und die bestehenden Werke verschärfte Umweltschutzmaßnahmen umsetzen. Geschichte Präkolumbianische Zeit Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung auf dem Gebiet von Mexiko-Stadt sind die der „Frau von Peñón“ und anderer Funde in San Bartolo Atepehuacan (Gustavo A. Madero). Man geht davon aus, dass sie dem unteren Zänolithikum (9500–7000 v. Chr.) zuzuordnen sind. 2003 wurde das Alter der Frau von Peñón jedoch auf 12 700 Jahre (Kalenderalter) festgelegt, eine der ältesten menschlichen Überreste, die in Amerika entdeckt wurden. Die Untersuchung ihrer mitochondrialen DNA legt nahe, dass sie asiatischer oder europäischer. Herkunft war. In den ersten drei Jahrtausenden v. Chr. entwickelten sich hier unter dem Einfluss oder im Schatten der Olmekenkultur mehrere bedeutende Völker wie Cuicuilco. Gegen Ende der vorklassischen Periode wich die Vorherrschaft von Cuicuilco dem Aufstieg von Teotihuacan, das nordöstlich des Texcoco-Sees liegt. Während der klassischen Periode war diese Stadt ein Zentrum, in dem sich die meisten Bewohner des Seebeckens konzentrierten, während Azcapotzalco als einer ihrer Trabanten am Westufer von Völkern der Otomí bewohnt wurde. Im Osten des Sees befand sich auf dem Hügel Cerro de la Estrella ein kleines Dorf von Teotihuacan. Der Niedergang Teotihuacans begann um das 8. Jahrhundert. Ein Teil der Bewohner zog an die Ufer des Texcoco-Sees, wo sie Städte wie Culhuacan, Coyoacán und Copilco gründeten. Zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert war die Region Schauplatz der Teochichichimek-Migrationen, aus denen die toltekische und die aztekische Kultur hervorgingen. Letztere kamen um das 14. Jahrhundert und ließen sich zunächst an den Ufern des Sees nieder. Aufgrund ihrer mythologischen Ursprünge gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens darüber, wann die Stadt Mexiko-Tenochtitlan gegründet wurde, aber es ist möglich, dass dies im frühen. Quellen aus dem sechzehnten Jahrhundert, die antike und westliche Kalender miteinander in Beziehung setzen, datieren ihn auf das Jahr 1325. -2 Häuser im mexikanischen Kalender - oder auf das Jahr 1345, auf einer kleinen Insel in der Mitte der Seezone. Einige Jahre später soll ein Teil der aus dem Norden des Landes einwandernden Mexica die Stadt Mexiko-Tlatelolco auf einer anderen Insel im Nordwesten gegründet haben. Später, im Jahr 1428, gründeten Tenochtitlan, Tetzcoco und Tlacopan den von den Mexica dominierten Dreibund und schufen ein Reich mit einer Fläche von etwa 300 000 Quadratkilometern. Im Rahmen dieser Expansion eroberte Tenochtitlan 1473 die andere mexikanische Stadt Tlatelolco, die aufgrund ihrer Nähe zu einem einzigen Stadtgebiet zusammengefasst wurde. Zur Zeit der Ankunft der Spanier war Mexiko-Tenochtitlan eine der größten Städte der antiken Welt und hatte nach modernen Schätzungen 300.000 Einwohner. Die Gründung der Stadt unter dem Namen Tenochtitlan geht aztekischen Aufzeichnungen zufolge auf das Jahr 1345 zurück, als sich eine Schar von Nomaden aus dem Norden auf einer Insel im Texcoco-See ansiedelte. Die Azteken (eigentlich Méxica) ließen sich dort nach langen Jahren des Umherziehens nieder, während derer sie sich von dem ernährt hatten, was in festen Siedlungen freiwillig oder unfreiwillig zu bekommen gewesen war. Ihrer Überlieferung zufolge hatten sie von ihrem Gott Huitzilopochtli den Auftrag erhalten, an der Stelle eine Stadt zu gründen, wo sie einen Adler fänden, der auf einem Kaktus sitzend eine Schlange verspeiste. Sie fanden ihn – auf einer Insel mitten im See. Adler, Schlange und Kaktus bilden das Zentralmotiv der heutigen mexikanischen Flagge. Die tatsächliche Siedlungsgeschichte verlief jedoch vermutlich anders. Für die von Ort zu Ort getriebenen Méxica bedeuteten die kleinen Inseln inmitten des flachen Sees in erster Linie einen guten strategischen Rückzugspunkt. Die Stelle war gut gewählt, denn der See versorgte sie mit Fisch, und der Boden der Chinampas, der schwimmenden Gärten, die sie angelegt hatten, war überaus fruchtbar. Das wenige vorhandene Land hätte nicht ausgereicht, um die große Stadt zu ernähren, also wurden große Flöße gebaut und mit Erde beladen. Auf diesen im See gelegenen Nutzflächen züchtete man Blumen und Gemüse. Zwischen den Inseln und dem Festland wurden Dämme errichtet, die den Wasserstand des Sees regelten und so gebaut waren, dass die durch Brücken und Kanäle miteinander verbundenen Inseln im Notfall überflutet werden konnten. Zugbrücken schützten vor Angriffen (und verhinderten die Flucht). Die Stadt auf der Insel erstreckte sich bald über mehr als 13 Quadratkilometer. Die Azteken gingen daran, ihren Machtbereich auszudehnen. Zuerst unterwarfen sie mit Waffengewalt, Intrigen und mit Hilfe wechselnder Verbündeter das Hochtal. Hundert Jahre vor der Conquista geboten die Azteken bereits über ein riesiges Reich, in dem ein reger Warenaustausch herrschte und dem selbst einige der entlegensten Gebiete des Landes tributpflichtig waren. Die Conquista Im Jahr 1519 gründete der spanische Konquistador Hernán Cortés im Auftrag des Gouverneurs von Kuba, Diego Velázquez de Cuéllar, die Stadt Veracruz und marschierte mit 300 Spaniern und 800 Totonaken in Richtung Mexiko-Tenochtitlan, um Mexiko zu erkunden und Kontakte zu knüpfen. Mehrere Umstände kamen ihm zugute: der Besitz von Feuerwaffen, die Unterstützung durch Stämme, die mit den Azteken im Krieg lagen oder von diesen unterdrückt wurden, und das Zögern ihres Herrschers Moctezuma II., offenen Widerstand zu leisten. Im Juli 1519 erreichten die Spanier über Iztapalapan das Gebiet des heutigen Mexiko-Stadt. Sie setzten ihre Reise über den Damm von Iztapalapan zur Hauptstadt Tenochca fort. Er kam am 9. November in der Hauptstadt an und wurde von Moctezuma II. gut empfangen. Moctezuma hieß die Spanier willkommen; sie tauschten Geschenke aus, aber die Kameradschaft hielt nicht lange an. Cortés stellte Moctezuma unter Hausarrest, in der Hoffnung, durch ihn regieren zu können. Doch in den folgenden Monaten wurden die Beziehungen schwierig, und nach der Ermordung aztekischer Würdenträger im Mai 1520 erhob sich die Stadt und belagerte die Spanier in dem ihnen vom Kaiser zugewiesenen Palast. Im Jahr 1520 griff Pedro de Alvarado (in Abwesenheit von Cortés) die Azteken beim Massaker von Toxcatl an. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Azteken mit den Feindseligkeiten gegen die europäischen Eindringlinge. Nachdem ein Feldherr Moctezumas mehrere Spanier in seine Gewalt gebracht hatte und deren abgeschnittene Köpfe überall herumschickte, nahm Cortés Moctezuma am 17. November 1519 in seinem eigenen Palast gefangen und ließ ihn im spanischen Lager festhalten. Doch wenn man den spanischen Berichten glauben will, hat ihn letztlich sein eigenes Volk zu Tode gesteinigt, als er einen Aufstand wegen der ungebetenen Gäste zu verhindern suchte. In der Folge wurden die Spanier unter großen Verlusten aus der Stadt vertrieben. Cortés und einige seiner Männer entkamen und fanden bei ihren engsten Verbündeten unter den Einheimischen in Tlaxcala Schutz. Dort bauten sie neue Schiffe und konnten ihre Truppe neu formieren. Mit Unterstützung ihrer indianischen Partner hielten sie Tenochtitlán drei Monate lang belagert, bis sie schließlich am 13. August 1521 den verzweifelten Widerstand der Azteken brachen und die Stadt einnehmen konnten. Während der Eroberung hatte Hernán Cortés Malintzin, bekannt als La Malinche, als Assistentin und Übersetzerin, die ihm bei der Kommunikation mit den Azteken half. Anstelle von Montezuma, der von seinem Volk gelyncht wurde, nachdem er von den Spaniern zur Einstellung der Feindseligkeiten gezwungen worden war, wurde Cuitláhuac zum tlatoani von Mexiko-Tenochtitlan gewählt. Er führte den Widerstand gegen die spanische Besatzung an und besiegte die Eindringlinge und ihre einheimischen Verbündeten am 30. Juni, 1520 besiegte er die Eindringlinge und ihre einheimischen Verbündeten in der als „La Noche Triste“ (Die traurige Nacht) bekannten Episode - die Azteken erhoben sich gegen das spanische Eindringen und schafften es, die Europäer und ihre tlaxcaltekischen Verbündeten gefangen zu nehmen oder zu vertreiben, was am 7. Juli durch den Sieg bei Otompan ausgeglichen wurde. Cortés sammelt sich wieder in Tlaxcala. Die Azteken glauben, dass die Spanier für immer verschwunden sind. Im Mai 1521 begann Cortés mit der Belagerung von Tenochtitlan. Drei Monate lang litt die Stadt unter Nahrungs- und Wassermangel sowie unter der Verbreitung der von den Europäern eingeschleppten Pocken. Cortés und seine Verbündeten landeten ihre Truppen im Süden der Insel und arbeiteten sich langsam durch die Stadt vor. Zu dieser Zeit brach auch eine verheerende Pockenepidemie aus, die Tausende von Opfern forderte, darunter auch Cuitláhuac selbst. Cuitláhuacs Nachfolger wurde Cuauhtémoc, der von den mit den Eingeborenen des Puebla-Tlaxcala-Tals verbündeten Spaniern belagert wurde. Nachdem er seine Streitkräfte mit Unterstützung seiner indianischen Verbündeten (Totonaken und Tlaxcalteken), wieder aufgebaut hatte, kehrte Cortés im Mai 1521 zurück, um die Stadt zu belagern, die am 13. August 1521 fiel: Die aztekische Hauptstadt wurde weitgehend zerstört, wobei Zehntausende getötet wurden. Cuauhtémoc kapitulierte nach mehreren Niederlagen der Azteken und Tlatelolcas durch Pocken und Hungersnot am 13. August 1521, als er in Tlatelolco gefangen genommen wurde. Koloniale Epoche Die Stadt wurde zur Hauptstadt Neuspaniens und während dieser Zeit zur bevölkerungsreichsten Stadt des amerikanischen Kontinents. Alle Gebäude der Azteken wurden zerstört, außer den Palästen des Kaisers Moctezuma, den Cortés zu seiner Residenz machte. 1521 beschloss Cortés, Tenochtitlan zur Hauptstadt Neuspaniens zu machen, und ordnete den Wiederaufbau an, da die Stadt während des Eroberungskriegs zerstört worden war. Während des Wiederaufbaus siedelte er die spanische Regierung in der Stadt Coyoacán südlich des Texcoco-Sees an. Von dort aus regierte er vorübergehend mit dem Titel Generalkapitän, der von Kaiser Karl V. (HRR). ratifiziert wurde. Von Coyoacán aus machten sich die Eroberungsexpeditionen des ehemaligen Aztekenreichs daran, die indigenen Völker in den verschiedenen Regionen des späteren Vizekönigreichs Neuspanien zu unterwerfen. Im Jahr 1528 wurde die erste Audiencia de México mit Nuño de Guzmán an der Spitze gegründet, und 1535 wurde das Vizekönigreich Neuspanien mit seinem ersten Vizekönig Antonio de Mendoza gegründet, der die territoriale Expansion der spanischen Eroberung fortsetzte. Die Städte rund um den See (wie Tacuba und Xochimilco) erhielten im 16. Jahrhundert häufig Encomiendas, waren aber allmählich nur noch von den Beamten des Königs abhängig. Mexiko-Stadt wurde in Barrios unterteilt (die sich auf den territorialen Strukturen der calpultin mexicas niederließen). Diese indianischen Barrios befanden sich ursprünglich in den Außenbezirken, aber mit dem Wachstum der Stadt und der Arbeitsmigration wurden die Grenzen immer unklarer, und die Indianer lebten schließlich im Zentrum der Stadt. Gleichzeitig fand ein Prozess der kulturellen Assimilierung und Erziehung der Eingeborenen in Schulen statt, die in Klöstern und Pfarreien untergebracht waren. Die Ausbildung der Indianer war Gegenstand einer intensiven Kampagne, die vor allem von den Franziskanern geleitet wurde, die neben der Lehre auch Kunst und Handwerk unterrichteten. Die Franziskaner gründeten auch das Kolleg vom Heiligen Kreuz in Tlatelolco für die Kinder des einheimischen Adels, wo die Schüler neben anderen Sprachen auch Latein lernten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde diese Schule nicht mehr genutzt. Unter dem Vizekönigreich war Mexiko-Stadt voll von prächtigen Bauten, sei es für religiöse Kulte, Verwaltungsgebäude oder die Residenzen der Elite, umgeben von armen Vierteln. Die Vorstellung von zwei Republiken -der indianischen und der spanischen- wird von der Realität einer Mestizenbevölkerung überholt, bei der die Kategorien Spanisch oder Indio nicht allein von der ethnischen Herkunft abhängen. Wir können also nicht von einer reichen „Stadt der Spanier“ und einer armen „Stadt der Indianer“ sprechen. Die vizekönigliche Stadt wurde mehrfach von Überschwemmungen heimgesucht, vor allem in den Jahren 1555, 1580, 1607, 1629, 1707, 1714 und 1806. Beeindruckend ist, dass Tenochtitlan im Durchschnitt alle 64 Jahre überflutet wurde, während die Hauptstadt des Vizekönigreichs alle 14 Jahre überflutet wurde. Aus diesem Grund beschlossen die Spanier, das Seebecken des Mexikotals durch den Bau eines Entwässerungskanals und einer Schleuse zu entwässern und das Wasser über den Fluss Tula abzuführen, wobei sie die aztekische Methode der Dämme, Deiche und Schleusen außer Acht ließen. Der Vizekönig von Mexiko oder Vizekönig wohnte im Vizekönigspalast auf dem Hauptplatz oder Zócalo. Die Metropolitankathedrale von Mexiko-Stadt, Sitz der Erzdiözese Neuspanien, wurde auf der anderen Seite des Zócalo erbaut, ebenso wie der Erzbischofspalast und das gegenüberliegende Gebäude der Stadtverwaltung (ayuntamiento). Ein Gemälde des Zócalo aus dem späten 17. Jahrhundert von Cristóbal de Villalpando zeigt den Hauptplatz als das alte aztekische Zeremonialzentrum. Der bestehende aztekische Hauptplatz wurde während der Kolonialzeit tatsächlich und dauerhaft in ein zeremonielles Zentrum und einen Sitz der Macht umgewandelt und ist bis heute im modernen Mexiko der zentrale Platz des Landes. Der Wiederaufbau der Stadt nach der Belagerung von Tenochtitlan wurde durch die zahlreichen einheimischen Arbeitskräfte ermöglicht. Der Franziskanermönch Toribio de Benavente Motolinia, einer der Zwölf Apostel Mexikos, der 1524 in Neuspanien eintraf, beschrieb den Wiederaufbau der Stadt als eine der Plagen der ersten Periode: 1551 eröffnete in der Hauptstadt die erste Universität des Landes (UNAM). 1737 wurde die „Jungfrau von Guadalupe“ von der katholischen Kirche zur Schutzpatronin von Mexiko-Stadt erklärt. Im 18. Jahrhundert baute man zahlreiche Kirchen und Gebäude im Stil des Barock, woraus sich später der mexikanische Churriguera-Stil entwickelte. Vor der Eroberung wurde Tenochtitlan im Zentrum des Binnenseesystems errichtet, das mit dem Kanu und über breite Dammwege zum Festland erreichbar war. Die Dämme wurden unter spanischer Herrschaft mit Hilfe indigener Arbeitskräfte wiederaufgebaut. Die spanischen Kolonialstädte wurden nach einem Rasterplan gebaut, sofern keine geografischen Hindernisse im Weg waren. In Mexiko-Stadt war der Zócalo (Hauptplatz) der zentrale Platz, von dem aus das Raster dann nach außen hin erweitert wurde. Die Spanier lebten in dem Bereich, der dem Hauptplatz am nächsten lag, in der so genannten traza, in geordneten, gut angelegten Straßen. Die Wohnsitze der Einheimischen lagen außerhalb dieser exklusiven Zone, und die Häuser waren willkürlich angeordnet. Die Spanier versuchten, die Eingeborenen auszusondern, aber da der Zócalo ein Handelszentrum für die Indianer war, hielten sie sich ständig in der zentralen Zone auf, so dass eine strikte Trennung nie durchgesetzt wurde. In regelmäßigen Abständen war der Zócalo Schauplatz großer Feierlichkeiten und Hinrichtungen. Er war auch Schauplatz zweier großer Unruhen im 17. Jahrhundert, eine im Jahr 1624, die andere im Jahr 1692. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung wuchs auch die Größe der Stadt, und sie stieß an das Wasser des Sees. Da die Tiefe des Sees schwankte, wurde Mexiko-Stadt periodisch überflutet. Während der Kolonialzeit wurden Tausende von Ureinwohnern gezwungen, an der Infrastruktur zu arbeiten, um Überschwemmungen zu verhindern, und zwar im Rahmen eines großen Arbeitsprojekts, das als desagüe bekannt ist. Überschwemmungen waren nicht nur lästig, sondern auch gesundheitsgefährdend, da während der Überschwemmungsperioden menschliche Abfälle die Straßen der Stadt verschmutzten. Durch die Trockenlegung des Gebiets wurden die Mückenpopulation und die Häufigkeit der von ihnen übertragenen Krankheiten reduziert. Die Trockenlegung der Sümpfe veränderte jedoch auch den Lebensraum von Fischen und Vögeln sowie die Anbauflächen für einheimische Pflanzen in der Nähe der Hauptstadt. Im 16. Jahrhundert entstanden zahlreiche Kirchen, von denen viele noch heute im historischen Zentrum zu sehen sind. Wirtschaftlich florierte Mexiko-Stadt dank des Handels. Anders als Brasilien und Peru hatte Mexiko einen einfachen Zugang zum Atlantik und zum Pazifik. Obwohl die spanische Krone versuchte, den Handel in der Stadt vollständig zu regulieren, war sie nur teilweise erfolgreich. Das Konzept des Adels entwickelte sich in Neuspanien in einer Weise, die in anderen Teilen Amerikas unbekannt war. Die Spanier trafen auf eine Gesellschaft, in der sich das Konzept des Adels mit ihrem eigenen deckte. Die Spanier respektierten und ergänzten den einheimischen Adelsstand. In den folgenden Jahrhunderten bedeutete der Besitz eines Adelstitels in Mexiko nicht die Ausübung großer politischer Macht, da diese Macht begrenzt war, auch wenn die Anhäufung von Reichtum dies nicht war. Das Konzept des Adels in Mexiko war nicht politisch, sondern eher ein sehr konservatives spanisches Gesellschaftskonzept, das auf dem Nachweis des Familienwerts beruhte. Die meisten dieser Familien bewiesen ihren Wert, indem sie in Neuspanien außerhalb der Stadt selbst ein Vermögen erwarben und den Erlös dann in der Hauptstadt ausgaben, indem sie Kirchen bauten, Wohltätigkeitsorganisationen unterstützten und extravagante Paläste errichteten. Die Begeisterung für den Bau möglichst opulenter Residenzen erreichte in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Viele dieser Paläste sind noch heute zu sehen und brachten Mexiko-Stadt den Spitznamen „Stadt der Paläste“ von Alexander von Humboldt ein. Unabhängigkeit Nach der Besetzung der Halbinsel durch die Franzosen sprach sich der mexikanische Stadtrat für die Schaffung einer souveränen Junta aus, die Neuspanien für die Dauer der Besetzung regieren sollte. Die radikalsten Mitglieder, wie Francisco Primo de Verdad und Melchor de Talamantes, vertraten die Ansicht, dass die Unabhängigkeit endgültig sein sollte. Die mexikanische Junta wurde vom Vizekönig José de Iturrigaray unterstützt. Eine reaktionäre Bewegung verhaftete jedoch 1808 Mitglieder des Stadtrats, was zur Absetzung des Vizekönigs führte. Nach dem Beginn der Unabhängigkeitsrevolution in Dolores, Guanajuato, war es das Ziel der aufständischen Truppen, die Hauptstadt zu erobern. Ihr Weg führte sie in die Außenbezirke von Mexiko-Stadt. Hidalgo und seine Armee erreichten San Pedro Cuajimalpa kurz nach der Ausrufung der Unabhängigkeit in Dolores. Sie besiegten die Royalisten in der Schlacht von Monte de las Cruces und trotzdem beschlossen die Aufständischen, ohne die Hauptstadt einzunehmen, in den Bajío zurückzukehren. Von da an war das Mexiko-Tal kein militärisches Ziel mehr für die Unabhängigkeitskämpfer und wurde zur Hochburg der royalistischen Armee. Im Jahr 1820, als die Volksrevolution fast erloschen war, kam es in Mexiko-Stadt zu neuen Bewegungen gegen die vizekönigliche Regierung. Diesmal waren die Verschwörer dieselben, denen es gelungen war, Iturrigaray zu stürzen, dessen Privilegien nach der Verabschiedung der Verfassung von Cádiz bedroht waren. Unter ihnen schloss Agustín de Iturbide einen Pakt (Plan von Iguala) mit Vicente Guerrero (Anführer der Revolution in Südmexiko) und zwang Juan O’Donojú zur Unterzeichnung der Verträge von Córdoba, in denen die Unabhängigkeit Mexikos erklärt wurde. Am 27. September 1821 zog die Armee der drei Garantien im Triumph in Mexiko-Stadt ein, woraufhin Agustín de Iturbide vom Kongress zum Kaiser des Ersten Mexikanischen Reiches ausgerufen und in der Kathedrale von Mexiko-Stadt gekrönt wurde. 19. Jahrhundert Nach der Unabhängigkeit wurde Mexiko-Stadt die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates. Am 18. November 1824 beschloss der Kongress die Schaffung eines Bundesdistrikts, in dem die Bundesbehörden angesiedelt werden sollten. Das Gebiet des Bundesdistrikts bestand aus Mexiko-Stadt und sechs weiteren Gemeinden: Tacuba, Tacubaya, Azcapotzalco und Mixcoac, am 20. Februar 1837. Diese Zeit war geprägt von internen Kämpfen, zwei ausländischen Invasionen (französisch und amerikanisch) und einem Bürgerkrieg, der mit dem Triumph der Liberalen und der Regierung von Benito Juárez endete. Unter seinem Regime wurden die Reformgesetze umgesetzt, die eine Überprüfung der historischen und philosophischen Grundlagen der mexikanischen Gesellschaft vorsahen. Sie leugneten die indigene Vergangenheit und den europäischen Katholizismus und förderten die Auflösung der religiösen Vereinigungen und des indigenen Gemeinschaftseigentums; sie schlugen die Trennung von Kirche und Staat, die Aufhebung des kirchlichen Eigentums und die Freiheit des Bildungswesens (durch Auflösung der religiösen Orden, die dieses monopolisiert hatten) vor. Im 19. Jahrhundert stand der Föderationskreis im Mittelpunkt aller politischen Auseinandersetzungen des Landes. Zweimal war er kaiserliche Hauptstadt (1821–1823 und 1864–1867), und zwei föderalistische und zwei zentralistische Staaten lösten sich nach zahlreichen Staatsstreichen innerhalb eines halben Jahrhunderts ab, bevor die Liberalen nach dem Reformationskrieg triumphierten. Es war auch das Ziel einer der beiden französischen Invasionen in Mexiko (1861–1867) und wurde im Rahmen des amerikanischen Interventionskriegs (1847–1848) ein Jahr lang von amerikanischen Truppen besetzt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschloss die mexikanische Regierung im Rahmen des Porfirieren eine Reihe von Stadtentwicklungsprojekten, die sich zwar auf Mexiko-Stadt konzentrierten, aber schließlich das gesamte Gebiet des Bundesdistrikts betreffen sollten. Dazu gehörte der Bau des Großen Entwässerungskanals, der um 1878 begonnen und 1900 abgeschlossen wurde. Durch diese Arbeiten wurden die Seen, die einen großen Teil des Hauptstadtgebiets bedeckten, fast vollständig beseitigt. Für den Transport auf den Kanälen in den Tälern wurden Dampfschiffe und für den Überlandverkehr Straßenbahnen eingeführt. Die Porfirische Ära (1876–1911) Ereignisse wie der Mexikanisch-Amerikanische Krieg, die französische Intervention und der Reformkrieg ließen die Stadt relativ unberührt und sie entwickelte sich weiter, vor allem unter der Herrschaft von Präsident Porfirio Díaz. In dieser Zeit wurde die Stadt mit moderner Infrastruktur wie Straßen, Schulen, Transportsystemen und Kommunikationssystemen. Allerdings konzentrierte das Regime die Ressourcen und den Reichtum in der Stadt, während der Rest des Landes in Armut schmachtete. Unter der Herrschaft von Porfirio Díaz wurde Mexiko-Stadt massiv umgestaltet. Díaz' Ziel war es, eine Stadt zu schaffen, die mit den großen europäischen Städten konkurrieren konnte. Er und seine Regierung kamen zu dem Schluss, dass sie Paris als Vorbild nehmen würden, wobei ein Großteil der indianischen und spanischen Gebäude erhalten bleiben sollte. Dieser mexikanisch-französische Fusionsarchitekturstil wurde umgangssprachlich als Porfirianische Architektur bekannt. Die Porfirian-Architektur wurde stark von der Haussmannisierung von Paris beeinflusst. In dieser Zeit wurde die Stadt umfassend modernisiert. Einige Gebäude im spanischen Kolonialstil wurden abgerissen und durch neue, viel größere porfirische Einrichtungen ersetzt, und viele abgelegene ländliche Gebiete wurden in städtische oder industrialisierte Bezirke umgewandelt, von denen die meisten bis 1908 mit Elektrizität, Gas und Kanalisation versorgt wurden. Während anfangs der Schwerpunkt auf der Entwicklung von Krankenhäusern, Schulen, Fabriken und massiven öffentlichen Bauvorhaben lag, waren die nachhaltigsten Auswirkungen der Modernisierung in Porfiria zweifellos die Schaffung des Viertels Colonia Roma und die Entwicklung des Paseo de la Reforma. Französische Architektur aus der Zeit des Porfiriato, deren architektonisches Erbe noch heute in den Stadtvierteln Condesa, Roma, Benito Juárez, Zona Rosa und Chapultepec zu sehen ist. Eines der besten Beispiele ist das Monument der mexikanischen Revolution. Ursprünglich war es als Hauptkuppel von Diaz' neuem Senatssaal gedacht, doch als die mexikanische Revolution ausbrach, wurden nur die Kuppel des Senatssaals und ihre Stützpfeiler fertiggestellt. Dies wurde von vielen Mexikanern als Symbol für das endgültige Ende der porfirianischen Ära gesehen und daher in ein Denkmal für den Sieg über Diaz umgewandelt. Im Jahr 1910 begann die mexikanische Revolution mit dem Triumph von Francisco Madero und der Verbannung von Präsident Porfirio Díaz nach Paris. Während der kurzen Amtszeit Maderos erlebte die Stadt das als „Tragisches Jahrzehnt“ bekannte Ereignis, eine zehntägige Periode von Kämpfen, die die Stadt im Februar 1913 erschütterte, als eine Gruppe von Rebellen unter der Führung von Bernardo Reyes, Félix Díaz und Manuel Mondragón und einem Teil der mexikanischen Armee-Präsident Madero stürzte und ermordete. Die neuzeitliche Stadt Über das Gebiet des trockengelegten Sees hinaus dehnte sich die Stadt allmählich aus. Für eine moderne Stadt war die Lage in vieler Hinsicht ungünstig. In den unzureichend trockengelegten Sümpfen breiteten sich Krankheitserreger aus. Viele Gebäude sackten über die Jahrzehnte wegen des gesunkenen Grundwasserspiegels ab. Im Zentrum stößt man auf alte, z. T. mehrere Meter abgesackte Kirchen und Wohnhäuser (vgl. oben unter Hydrologie). Außerdem gibt es häufig Erdbeben, so zuletzt am 18. April 2014 und am 19. September 2017. Während der Revolution verloren fast zwei Millionen Mexikaner ihr Leben und eine noch viel größere Zahl ihr Eigentum und ihre Existenzgrundlage. Tausende Verzweifelter flüchteten in die schnell wachsende Hauptstadt auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen. Zwischen 1920 und 1940 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der Stadt auf 1,8 Millionen, in der Infrastruktur klafften riesige Löcher und die sozialen Probleme verschärften sich. An der Plaza de las Tres Culturas zeigte sich am 2. Oktober 1968 der Staat von seiner grausamsten Seite. Truppen und Panzer gingen gegen fast 250.000 demonstrierende Studenten vor. Es war der Höhepunkt monatelanger Studentenproteste gegen die schlechten sozialen Verhältnisse, miserablen Unterrichtsbedingungen und demokratischen Defizite der de facto diktatorischen Regierung der Einheitspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional). Da zehn Tage später die Olympischen Sommerspiele in Mexiko-Stadt eröffnet werden sollten, wurde der Aufruhr mit brutaler Gewalt unterdrückt. Die Zahl der Todesopfer belief sich nach offiziellen Verlautbarungen auf 30, nach Aussagen der Studenten auf über 500. Das Ereignis ging als „Massaker von Tlatelolco“ in die Geschichte ein. 1968 hatte die Stadt eine Einwohnerzahl von sechs Millionen erreicht. Der Bau von Häusern konnte nicht mit dem jährlichen Bevölkerungswachstum von sieben Prozent mithalten. Da sich zudem viele Menschen keine Häuser leisten konnten, entstanden riesige Slums mit selbst gezimmerten Elendshütten. Die meisten hatten weder Wasser noch ausreichende Sanitäranlagen. Auch konnte das öffentliche Verkehrsnetz mit dem Wachstum der Stadt nicht Schritt halten, obwohl Ende der 1960er Jahre mit dem Bau einer U-Bahn begonnen wurde. Im Jahre 2000 wurde der 175. U-Bahnhof eingeweiht. Weitere U-Bahn-Stationen sind geplant. Das Wachstum hält an: Laut Schätzungen kommen jeden Tag tausend Zuzügler in die Metropole, deren Grenzen inzwischen die des offiziellen Stadtgebiets gesprengt haben und weit in den Bundesstaat México hineinreichen. Als eine der am dichtesten besiedelten Metropolregionen der Welt wird sie von zahlreichen sozialen und strukturellen Problemen geplagt. Einwohnerentwicklung Mexiko-Stadt ist mit 8,9 Millionen Einwohnern (2015) nach São Paulo die zweitgrößte Stadt Lateinamerikas und mit 21,6 Millionen Menschen (2019) in der Agglomeration eine der zehn größten Metropolregionen der Welt. 2015 betrug die Bevölkerungsdichte in der Stadt 5.967 Einwohner pro Quadratkilometer, im Ballungsraum 2.683. Mexiko-Stadt war seit der Stadtgründung im Jahre 1521 der Sitz der spanischen Vizekönige und erhielt dadurch ihre Stellung als Primatstadt: Sie ist noch heute gleichzeitig Hauptstadt und Knotenpunkt für die bedeutendsten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse des Landes. Doch erst durch eine bessere Versorgung der Menschen (zum Beispiel im Gesundheitswesen) und die Ansiedlung zahlreicher Industriebetriebe seit den 1930er-Jahren begann der Zustrom von Menschen aus dem Umland in die Stadt. Noch 1950 hatte die Stadt 3,1 Millionen Einwohner. 1970 waren es schon 6,9 Millionen Menschen und die Zuwachsrate des Ballungsgebietes lag bei etwa einer Million Menschen pro Jahr. Bevölkerungsentwicklung der Stadt Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1889 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1895 bis 2010 um Volkszählungsergebnisse. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die eigentliche Stadt ohne den Vorortgürtel. Bevölkerungsentwicklung der Metropolregion Der Ballungsraum Mexiko-Stadt erlebte in den letzten Jahrzehnten eine enorme Expansion der Einwohnerzahl. In den letzten Jahren war allerdings auch hier eine Abschwächung festzustellen. Für das Jahr 2035 wird eine Bevölkerung von 25,4 Millionen erwartet. Entwicklung der Wohnsituation Im Jahre 1824 unterteilte man Mexiko-Stadt in die eigentliche Stadt und den darum liegenden Bezirk, genannt „Zona Metropolitana de la Ciudad de México“ (ZMCM). Dieser Bezirk hatte zum damaligen Zeitpunkt eine Größe von 1.479 Quadratkilometer, über dessen Grenzen die Stadt aber schon längst wieder hinaus gewachsen ist. Mexiko-Stadt selbst umfasst die im Stadtkern dicht besiedelten Gebiete mit einem Wachstum von 1,8 Prozent pro Jahr. Die ZMCM beinhaltet die Randgebiete, hauptsächlich im Staat México, in die zahlreiche Menschen aus dem Stadtkern abwandern. Das jährliche Wachstum in diesen Stadtbezirken liegt bei unter vier Prozent pro Jahr. Sehr deutlich fällt in Mexiko-Stadt die Verteilung der Bevölkerung in wohlhabende und sozial schwache Stadtviertel auf: Schon früh siedelten sich im Westen und Süden der Stadt die Menschen der Oberschicht an. Der Süden, erst die Colonia Roma und später Coyoacán und San Ángel waren beliebt beim mexikanischen Adel. Heute ist der Süden eine beliebte Wohngegend. Der Westen wurde zum bevorzugten Wohngebiet für Wohlhabende durch Kaiser Maximilian, der im 400 Hektar großen Park von Chapultepec 1864 ein Schloss baute. Viele Hotels, Banken und Versicherungen haben sich in der Gegend um den Chapultepec Park niedergelassen. Der Norden zählt als großes Industriegebiet: zahlreiche Industriebetriebe und mehrere Arbeiterviertel sind hier zu finden. Nordwestlich entstand nach dem Zweiten Weltkrieg das gutbürgerliche Wohnviertel Ciudad Satélite. Es gehört politisch zur Stadt Naucalpán, einer direkten Nachbargemeinde von Mexiko-Stadt mit 844.000 Einwohnern (Volkszählung 2015). Im Osten leben vor allem Menschen aus der Mittelschicht. Die östlichen Vororte sind das Wohngebiet der sozial schwachen Bevölkerung bis zu den Pepenadores, welche den Müll nach verwertbaren Resten durchsuchen. Die Unterschicht lebt auf dem Boden des trockengefallenen Texcoco-Sees, von dem oft durch den ungünstigen Wind sehr viel Staub in die armen Wohnviertel getragen wird. Städtebaulich handelt es sich dabei um informelle Siedlungen, wobei sich viele der älteren Siedlungen trotz fehlender wichtiger Infrastrukturen (zum Beispiel Leitungswasser) gegenwärtig in einem Prozess der allmählichen Konsolidierung befinden. Die dort lebenden Menschen sind durch verschiedene Infektionserkrankungen gefährdet, die durch unzureichende hygienische Bedingungen verbreitet werden. In dieser Gegend liegt die Stadt Nezahualcóyotl, in der 1,1 Millionen Menschen leben (Volkszählung 2010). Die politisch selbständige Gemeinde zählt zu den ärmsten Großstädten Mexikos. Politik Stadtregierung Regierungschefin von Mexiko-Stadt ist seit dem 5. Dezember 2018 Claudia Sheinbaum Pardo vom Movimiento Regeneración Nacional (MORENA). Sie wurde am 1. Juli 2018 als Teil der Juntos Haremos Historia Koalition gewählt und ist die erste Frau in diesem Amt. Ihr Vorgänger war seit dem 5. Dezember 2012 Miguel Ángel Mancera von der Movimiento Progresista (PRD, PT, Convergencia). Er gewann die Wahlen am 1. Juli 2012 mit 46,37 Prozent der abgegebenen Stimmen. Regierungschef von Mexiko-Stadt war seit 5. Dezember 2006 gewesen Marcelo Ebrard von der Coalición Por el Bien de Todos (PRD, PT, Convergencia). Dieser hatte die Wahlen am 2. Juli 2006 mit 46,37 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen, vor Demetrio Sodi (PAN) mit 27,26 Prozent und Beatriz Paredes Rangel von der Unidos por la Ciudad (PRI, PVEM) mit 21,59 Prozent. Ebrard übernahm das Amt von seinem Vorgänger Alejandro Encinas (PRD), der seit Juli 2005 regiert hatte. Das Stadtoberhaupt wird seit der Änderung der Verfassung im Jahre 1996 von der Bevölkerung frei gewählt. Seit 1. Januar 1929 gibt es einen Regierungschef. Vorher wurde Mexiko-Stadt seit der Schaffung des Bundesdistrikts am 18. November 1824 von einem Gouverneur regiert, zwischen 1837 und 1848, als die Stadt administrativ zum Bundesstaat México gehörte, von einem Präfekten. Im Jahre 1903 umfasste der Bundesbezirk neben Mexiko-Stadt noch 22 weitere Gemeinden, diese wurden 1928 zu anfänglich zwölf, aktuell 16 Verwaltungsbezirken „Delegaciones“ aufgeteilt. Die Bezirke sind die eigentlichen Verwaltungskörper in Mexiko-Stadt. Sie werden durch gewählte „Jefes Delegacionales“ repräsentiert und geführt. Ihre Einrichtung geht auf eine Verwaltungsreform aus dem Jahre 1982 zurück, deren Ziel es war, durch Dezentralisierung eine effizientere Verwaltung zu erreichen. Die Verwaltungsbezirke integrieren die historischen Gemeindezentren des Distrito Federal. Die oberste Regierungsgewalt im Bundesbezirk lag bis in die 1990er Jahre in den Händen des „Departamento del Distrito Federal“ (DDF), eines durch die mexikanische Bundesregierung kontrollierten Amtes. Seit 1997 gibt es jedoch einen direkt gewählten „Jefe del Gobierno del Distrito Federal“ (Regierungschef des Bundesdistrikts, umgangssprachlich auch als Bürgermeister von Mexiko-Stadt bezeichnet, seit 2016 „Jefe del Gobierno de la Ciudad de México“) und ein „Asamblea Legislativa del Distrito Federal“ (Parlament des Bundesdistrikts, seit 2016 „Asamblea Legislativa de la Ciudad de México“). Die Hauptstadt ist damit den mexikanischen Bundesstaaten gleichgesetzt. Sollte eine andere Stadt Hauptstadt der Vereinigten Mexikanischen Staaten werden, würde Mexiko-Stadt zu einem Bundesstaat mit dem Namen Valle de México umgewandelt werden. Der erste frei gewählte Regierungschef von Mexiko-Stadt war Cuauhtémoc Cárdenas von der PRD. Er übernahm das Amt am 5. Dezember 1997 von seinem Vorgänger Óscar Espinosa Villarreal von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Nachfolger Cárdenas wurde am 29. September 1999 Rosario Robles Berlanga (PRD). Die Partei der Demokratischen Revolution regiert seit 1997 die Hauptstadt des Landes. Cárdenas trieb während seiner Regierung die Demokratisierung voran und erzielte Erfolge in der Bekämpfung der Korruption. Seit 5. Dezember 2000 war Andrés Manuel López Obrador Regierungschef des Bundesdistrikts. Von diesem Posten trat er am 29. Juli 2005 zurück, um im Jahr 2006 für das Amt des Präsidenten von Mexiko zu kandidieren. Die Bürgermeisterwahlen in Mexiko-Stadt gewann er nur sehr knapp. Hohes Ansehen unter den Bürgern verschaffte er sich aber mit umfassenden sozialen Maßnahmen, die in vielen Bereichen die größte Not lindern sollten und ihn zum beliebtesten Politiker Mexikos machten. Weniger erfolgreich waren die Politiker in der Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität: Eigentumsdelikte wie beispielsweise Überfälle auf Fußgänger, Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel und Autofahrer, Diebstahl von Personenkraftwagen, Einbrüche in Wohnungen/Gebäude und Betrugsfälle, sowie Gewaltkriminalität wie beispielsweise Raubüberfälle, Raubmorde, Totschlag, Drogenkriminalität, Entführung, Erpressung, Bedrohung und Vergewaltigung gehören zum Alltag in Mexiko-Stadt. Städtepartnerschaften Mexiko-Stadt unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: Berlin, Deutschland (seit 1. September 1993) Cuzco, Peru (seit 7. Juli 1987) Dolores Hidalgo, Mexiko (seit 1. September 2008) Havanna, Kuba (seit 25. September 1997) Los Angeles, USA (seit 11. Dezember 1969) Madrid, Spanien (seit 17. November 1983) Nagoya, Japan (seit 15. Februar 1978) San Salvador, El Salvador (seit 14. September 1979) São Paulo, Brasilien (2011) Seoul, Südkorea (seit 30. August 1993) Kultur und Sehenswürdigkeiten Theater Mexiko-Stadt besitzt eine der reichsten Theaterszenen weltweit. Das mexikanische Theater übernimmt eine aufklärerische und gesellschaftspolitische Funktion, die durch ein breites Spektrum von zeitgenössischen Dramatikern repräsentiert wird. Eines der bekanntesten Theater der Stadt ist der „Palacio de Bellas Artes“ (Palast der Schönen Künste), erbaut zwischen 1904 und 1934 an der Ostseite des Parks „Alameda Central“. Der mit Bronzeschmuck verzierte klassische Kuppelbau aus Carrara-Marmor und Art-déco-Inneneinrichtung ist das wichtigste Kulturzentrum im Herzen der Stadt (Theater, Tanz, Konzert, Oper, Kunstausstellungen). Im Palast sind Wandmalereien (Murales) von Diego Rivera, José Clemente Orozco, David Alfaro Siqueiros, Rufino Tamayo und Jorge González Camarenazu zu sehen. Die dortigen Darbietungen des von Nellie Campobello gegründeten nationalen Folkloreballetts (Ballett Nacional Folklórico) sind ein wichtiger Bestandteil des Kulturlebens der Stadt. Das Ballett hat bereits weltweiten Ruhm erlangt. Es besteht aus Tänzern aus allen Landesteilen, und seine hervorragende Choreografie ist durchsetzt mit mexikanischen Tänzen, Musik und Gesang. Zum Programm gehören einige der bekanntesten traditionellen Tänze. Auf dem Paseo de la Reforma am Chapultepec Park befindet sich das „Auditorio Nacional“ (Nationales Auditorium). Eröffnet 1952, wurde es erst als Ausstellungsraum benutzt, später gab es auch Ballettaufführungen, Darbietungen klassischer Musik und Popkonzerte. Monatlich treten hier zahlreiche nationale und internationale Künstler auf. Museen Mexiko-Stadt hat zahlreiche Museen, darunter das Museo Nacional de Antropología (Anthropologisches Nationalmuseum), das Museo Nacional de Arte (Nationales Kunstmuseum), das Museo Rufino Tamayo und das Museo de Arte Moderno (Museum für Moderne Kunst) und das Museo Frida Kahlo. Museo de Arte Moderno Das Museo de Arte Moderno (MAM) wurde 1964 nach Plänen der Architekten Rafael Mijares Alcérreca und Pedro Ramírez Vázquez fertiggestellt. Es beherbergt neben wechselnden Ausstellungen eine Sammlung moderner mexikanischer Malerei mit Werken von David Alfaro Siqueiros, José Clemente Orozco, José María Velasco Gómez, Diego Rivera und Juan O’Gorman. Dieses Museum beherbergt auch die besondere surrealistische Kollektion von Remedios Varo. Museo Nacional de Antropología Das Anthropologische Nationalmuseum befindet sich im Chapultepec-Park und beherbergt die wichtigste Sammlung des präkolumbischen Erbes Mexikos und zählt zu den bedeutendsten archäologischen Sammlungen weltweit. Das 1964 eröffnete Gebäude entwarfen die Architekten Pedro Ramírez Vázquez und Jorge Campuzano. Die Ausstellungshallen sind rings um einen Innenhof angelegt, der zur Hälfte von einem gewaltigen, rechteckigen „Regenschirm“ aus Leichtmetall überdacht wird. Eine einzige Betonsäule inmitten eines künstlichen Wasserfalls bildet die Stütze des Daches. Die Hallen sind von Gärten umgeben, die als Ausstellungsfläche unter freiem Himmel ins Museumsgeschehen einbezogen sind. Museo Nacional de Arte Das Museo Nacional de Arte wurde 1982 mit Beständen verschiedener Museen gegründet, um an einem einzigen Ort einen Überblick über die mexikanische Kunst vom 16. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre zu vermitteln. Es liegt an einer kleinen Plaza, dort, wo auch das bekannteste Standbild der Stadt aufgestellt ist: El Caballito, die Darstellung Karls IV. von Spanien, das Werk von Manuel Tolsá. Ursprünglich (die Figur entstand 1803) zierte die wuchtige Bronzestatue den Zócalo, danach wechselte sie mehrmals den Standort. Museo Rufino Tamayo Das Museo de Arte Contemporáneo Internacional Rufino Tamayo eröffnete 1981 mit mehr als 300 Werken einer Schenkung des Malers Rufino Tamayo (1899–1991) aus Oaxaca. Sie enthielt eigene Werke und Arbeiten anderer berühmter Künstler des 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind beispielsweise Werke von Francis Bacon, Salvador Dalí, Giovanni Giacometti, René Magritte, Joan Miró und Pablo Picasso. Im Museum finden Wechselausstellungen internationaler und mexikanischer Kunst, Vorträge, Theater- und Tanzdarbietungen sowie Konzerte statt. Es enthält ein auf Rufino Tamayo spezialisiertes Dokumentationszentrum. Für den Entwurf des Gebäudes erhielten Teodoro González de León und Abraham Zabludovsky im Jahre 1981 den Nationalen Architekturpreis. Museo Frida Kahlo Das Haus von Frida Kahlo steht in der Vorstadt Coyoacán. Das farbenfrohe Gebäude, das wegen seiner in Blautönen gehaltenen Außenwände Casa Azul („Blaues Haus“) genannt wurde, ist als Museum hergerichtet. Im typischen kolonialen Stil erbaut, beherbergt das Museum außer einer besonderen Auswahl von Frida Kahlos Bildern, ihre Möbel, Kleider und Bücher. Sie lebte dort zusammen mit ihrem Mann Diego Rivera von 1929 bis 1954. Ein Haus ganz in der Nähe bewohnte während seines Exils Leo Trotzki (1879–1940), dort wurde er auch in seinem Arbeitszimmer ermordet. Es ist als Museum eingerichtet und wird von vielen Menschen gemeinsam mit dem Haus von Frida Kahlo besucht. Etwas weiter vom Museo Frida Kahlo entfernt, in San Angel, befindet sich das „Casa Museo Estudio de Diego Rivera y Frida Kahlo“, wo auch beide Künstler gewohnt haben. Es sind zwei Häuser, eines in rosa und eines in blau, ein Haus für jede Person mit der eigenen Persönlichkeit, entworfen und gebaut 1927 vom Maler Juan O’Gorman. Für Mexiko war es der Anfang der modernen Architektur. Weitere Museen Auf einem Hügel in der Altstadt steht das 1540 fertiggestellte „Convento de San Francisco“, ein früheres Franziskanerkloster, das heute das historische Regionalmuseum („Museo Regional de Querétaro“) beherbergt. In der dazugehörigen Kirche San Francisco taufte Hernán Cortés die ersten Aztekenherrscher. Das Gebäude wurde in typisch churriguereskem Stil erbaut. In der Avenida Madero, am Westrand des Zócalo, befindet sich der barocke „Palacio de Iturbide“, in dem Kunstausstellungen stattfinden. Dort befindet sich auch „Antiguo Colegio de San Ildefonso“, ein noch gut erhaltenes koloniales Gebäude, wo außer Wechselausstellungen auch die Wandmalerei von Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco gezeigt wird. Südlich des Zócalo liegt das „Museo de la Ciudad de México“ mit Ausstellungsstücken zur Stadtgeschichte und des Hochtales. Im Westen des 1592 angelegten Parks „Alameda Central“, beim Hotel Cortés, ist in einer früheren Klosterkirche die „Pinacoteca Virreynal“ (Vizekönigliche Gemäldesammlung) mit Bildern der wichtigsten Künstler der spanischen Kolonialzeit untergebracht. In der Umgebung des Parks „Alameda Central“ befinden sich weitere Museen: das Museo Franz Mayer, mit einer Sammlung verschiedener Möbel, Silberwaren und mexikanischer Malerei; das „Museo de Artes e Industrias Populares“ (Nationalmuseum für Volkskunst und Handwerk) und das „Museo Mural Diego Rivera“ mit einer Ausstellung der zahlreichen Werke des Malers, darunter auch eines seiner berühmtesten Kunstwerke: „Traum an einem Sonntagnachmittag im Alameda-Park“. Zwei weitere Kunstmuseen in der Gegend von San Ángel sind das „Museo de Arte Carrillo Gil“, wo hauptsächlich mexikanische Gegenwartskunst zu sehen ist, darunter Wechselausstellungen moderner Kunst und das erst 1994 eröffnete „Museo Soumaya“ in der „Plaza Loreto“. Das Museo Soumaya ist bekannt unter anderem wegen der Ausstellung der 100 Skulpturen Rodins und ist das einzige Museum in Mexiko-Stadt, wo permanent die Werke europäischer Künstler, darunter einige Impressionisten, aber auch Werke von Pablo Picasso, Joan Miró und Salvador Dalí, zu sehen sind. Die in Xochimilco gelegene ehemalige Hacienda La Noria aus dem 16. Jahrhundert ist seit 1994 als Museo Dolores Olmedo der Öffentlichkeit zugänglich. Hier sind unter anderem Werke von Diego Rivera, Frida Kahlo und Angelina Beloff ausgestellt. Besonders zum Tag der Toten ist das Museum ein Anziehungspunkt in diesem Stadtbezirk. In der ehemaligen Bischofsresidenz befindet sich heute das Museo de la Secretaría de Hacienda y Crédito Público. Musik In der Hauptstadt finden täglich zahlreiche Konzerte unterschiedlicher musikalischer Richtungen statt. Die Veranstaltungsorte liegen im Süden, in den Stadtteilen Coyoacán und San Ángel, aber auch die Zona Rosa und Condesa haben musikalisch einiges zu bieten. Wer sich unter die Oberschicht der Stadt mischen möchte, kann das in Del Valle und Polanco tun. Manchmal finden die interessantesten Konzerte auch an abgelegenen Orten statt. Rock und Latin sowie die neuesten Hits aus den USA sind häufig vertreten, Europop wird immer beliebter, auch kubanische Klänge und sogar Live-Jazz sind zu hören. Bekannte ortsansässige Bands sind beispielsweise Café Tacuba, weniger bekannte La Vieja Estacion (Blues), Señoritas de Aviñon (Jazz, Blues) oder Work in Progress (WiP) (Rock, Blues, Pop). Eine besondere Veranstaltung findet auf der Plaza Garibaldi statt. Dort versammeln sich jeden Abend hunderte von um die Wette musizierenden Mariachi-Gruppen. Eine Kapelle besteht in der Regel aus vier Geigern, drei sich etwas abseits haltenden Trompetern, drei bis vier Gitarristen und einem Sänger. Ein echter Caballero mietet jedoch nur die Musiker und singt selbst. Ihren Namen haben die Mariachis vermutlich aus der Zeit der französischen Invasion im 19. Jahrhundert, als es üblich wurde, für Hochzeiten – mariage – eine Musikgruppe zu engagieren. Auf der Plaza hört man auch Norteño-Gruppen, die eine Tex-Mex-Country-Mischung darbieten, oder die weicheren Marimbaklänge aus dem Süden Mexikos. Es gibt auch Musikgruppen, wie z. B. Mexican Institute of Sound, die die klassischen und traditionellen lateinamerikanischen Musikstile mit modernen Musikrichtungen wie Electro mischen. Bauwerke Mexiko-Stadt Die Straßen der Hauptstadt sind schachbrettartig angelegt. Das Muster wird unterbrochen von einigen breiten Boulevards, an denen moderne Geschäftsgebäude und Appartementhochhäuser liegen, sowie von mehreren Parkanlagen und großen Plätzen, die beliebte Treffpunkte der Stadtbewohner sind. Zócalo Das historische Zentrum von Mexiko-Stadt ist der Platz der Verfassung oder Zócalo. Er befindet sich an dem Ort, wo einst der Palast des Aztekenherrschers Moctezuma II. (1465–1520) stand. Der Platz wird umrahmt von der monumentalen Kathedrale von Mexiko-Stadt, dem „Palacio Municipal“ (Stadtpalast) von 1720 und dem „Palacio Nacional“ (Nationalpalast) von 1792, dem Sitz des Präsidenten. Im „Palacio Nacional“ sind Wandmalereien (Murales) von Diego Rivera zu sehen. Die barocke Kathedrale wurde von 1573 bis 1667 erbaut und gehört zu den amerikaweit ältesten und größten Sakralbauten. Die Fassade hat drei Portale. Im Inneren befindet sich der reich geschnitzte Altar de los Reyes (‚Altar der Könige‘). Wie zahlreiche andere Gebäude der Stadt versinkt auch die Kathedrale langsam im sumpfigen Boden. Der im churrigueresken Stil errichtete Mittelteil der Fassade des Sagrario (Pfarrkirche) wird von seitlichen Wandflächen aus rötlichem Tezontle-Gestein begleitet. Nördlich des Zócalo befindet sich die Ausgrabungsstätte „Templo Mayor“, wo Reste des früheren Tempelbezirkes von Tenochtitlán gefunden wurden. Das Kolonialgebäude im Westen beherbergt seit dem 19. Jahrhundert die Monte de Piedad (Pfandleihe). Nahe dem Zócalo liegt auch die von Kolonialgebäuden und Palästen aus Tezontle gesäumte Calle Moneda mit der im churrigueresken Stil erbauten Kirche La Santísima und dem barocken Erzbischöflichen Palais. In Richtung des Palacio de Bellas Artes befindet sich ein kleiner Park, die Alameda Central. Hier steht ein Denkmal des mexikanischen Präsidenten Benito Juárez (1806–1872). Paseo de la Reforma Eine der Hauptschlagadern der Stadt, der Paseo de la Reforma, wurde unter Kaiser Maximilian gebaut. Sie fand ihren Anfang am Rande der Altstadt, an der nordwestlichen Ecke des Alamedaparks, und führte zur Sommerresidenz des mexikanischen Kaisers, Schloss Chapultepec. Sie wurde nach europäischem Vorbild als breiter Boulevard angelegt. Einige der villenartigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert sind erhalten geblieben. In dem historischen Mittelteil dominieren allerdings immer mehr Wolkenkratzer, darunter das höchste Gebäude Lateinamerikas, der Torre Mayor und typische Geschäftsbauten. Die Straße wurde sowohl in nordöstliche als auch westliche Richtung verlängert und ist eine der längsten Straßen der Welt. In nordöstlicher Richtung reicht die transversal angelegte Prachtstraße „Paseo de la Reforma“ bis zum Platz der drei Kulturen, dem Hauptplatz der im Jahre 1963 freigelegten präkolumbischen Stadt Tlatelolco. Dort vereinigen sich Zeugnisse aus drei Epochen: Neben freigelegten aztekischen Bauwerken und der Barockkirche Santiago de Tlatelolco aus der spanischen Kolonialzeit befinden sich hier auch moderne Gebäude. Am Denkmal des letzten Aztekenherrschers Cuauhtemoc kreuzt sie die Nord-Süd-Verbindung der Hauptstadt, die Avenida de los Insurgentes. In südlicher Richtung erstreckt sich der Chapultepec-Park mit verschiedenen Museen, einem Zoo, dem Schloss Chapultepec, das früher Amtssitz des Präsidenten war und auch Kaiser Maximilian als Residenz diente und das Stadtviertel „Zona Rosa“, wo sich zahlreiche Gaststätten, Bars und Einkaufszentren befinden. Auf dieser Höhe befindet sich das Unabhängigkeitsdenkmal, eine 45 Meter hohe Säule mit dem Siegesengel auf der Spitze (El Ángel de la Independencia). Mexiko war das einzige Land, das 1938 den Überfall auf Österreich politisch nicht anerkannte und als Mitglied des Völkerbundes Einspruch erhob. Als Erinnerung daran steht am „Paseo de la Reforma“ heute ein von der österreichischen Regierung unter Bruno Kreisky aufgestelltes kleines Denkmal. In Wien erinnert daran der Mexikoplatz, der 1956 von Erzherzog-Karl-Platz umbenannt wurde. Weitere Bauwerke Sehenswert ist auch der aus Kalkstein erbaute monumentale Palacio Postal (Hauptpostamt). Das neugotisch dekorierte Gebäude an der Calle Tacuba liegt gegenüber vom „Palacio de Bellas Artes“ und wurde zwischen 1902 und 1907 nach Plänen des Architekten Adamo Boari errichtet. Das Treppenhaus ist im Jugendstil erbaut und mit Glas- und Eisenschmuck ausgestattet. Im ersten Stock befindet sich ein kleines Postmuseum. In der Nähe befindet sich auf der Avenida Madero auch die „Casa de los Azulejos“ (Haus der Kacheln). Im barocken Stil erbaut ist die Außenseite mit tausenden von Kacheln aus Puebla dekoriert. Das Haus beherbergt das bekannte Restaurant und Geschäft „Sanborns“. In den 1940er Jahren wurde die Synagoge Nidjei Israel erbaut. An der Avenida Madero und gegenüber vom Palacio de Bellas Artes steht auch die „Torre Latinoamericana“. Das ehemals höchste Gebäude Lateinamerikas (182 Meter) wurde zwischen 1948 und 1956 erbaut. Der 45-stöckige Wolkenkratzer entstand nach Plänen des Architekten Augusto H. Álvarez. An mehreren Plätzen der Stadt befinden sich Wandgemälde von Diego Rivera, Monumentalfresken sind im Nationalpalast unter dem Thema „Mexiko im Laufe der Jahrhunderte“ ausgestellt. Auch bekannt sind die Wandgemälde von José Clemente Orozco, darunter das Gemälde „Omnisciencia“, zu sehen in der Casa de los Azulejos. Zahlreiche Vorstädte und die verschiedenartigsten Nachbarschaftsgefüge sind durch die Ausdehnung der Stadt entstanden: vom eleganten Wohnviertel Pedregal mit seiner modernen Architektur bis zum bevölkerungsreichen Netzahualcóyotl, einem einfachen Wohnviertel, das im trockenen Tal des Texcoco-Sees liegt. Zum Weltkulturerbe seit 2004 gehört die Casa Barragán, das Haus und Atelier des Architekten Luis Barragán. Es wurde 1947/1948 im Vorort von Mexiko-Stadt, Tacubaya, gebaut und stellt ein hervorragendes Beispiel eines Bauwerks nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Das Betongebäude besteht aus einem Erdgeschoss und zwei oberen Geschossen, die wie ein kleiner Privatgarten aussehen. In dem nördlichen Vorort Villa de Guadalupe steht auf dem Berg Tepeyac die Basilika Unserer Lieben Frau von Guadalupe (Basilica de Nuestra Señora Guadalupe). Sie ist das wichtigste Heiligtum Mexikos und eines der bedeutendsten Marienheiligtümer der Welt und mit 20 Millionen jährlichen Pilgern größter Wallfahrtsort der Welt. 1531 soll dem getauften Azteken Juan Diego auf dem Berg Tepeyac die Jungfrau Maria erschienen sein. An der Stelle der Erscheinung wurde dann eine Kirche errichtet. Da der Untergrund absank, musste die Basilika für Besucher und Pilger gesperrt werden. Die neue Basilika, entworfen vom mexikanischen Architekt Pedro Ramírez Vázquez, die 1974 geweiht und 1975 eröffnet wurde, ist von ihrer Größe und ihrer offenen Architektur sehr beeindruckend. Sie hat 10.000 Sitzplätze und kann insgesamt bis zu 40.000 Besuchern Platz bieten. Somit ist sie eine der größten Kirchen weltweit. Das ist auch deshalb von Bedeutung, da es in Mexiko zu dieser Zeit noch verboten war, Messen unter freiem Himmel abzuhalten. Teotihuacán Teotihuacán, die Ruinenstadt mit den mächtigen Pyramiden, etwa 50 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt, war die beherrschende Kultur der „klassischen“ Periode und der eigentliche Vorgänger des Aztekenreiches. Dort wohnten circa 300.000 Menschen, deren Einfluss sich über das ganze Land und weit nach Süden bis in das Gebiet der Maya auf der Halbinsel Yucatán und bis nach Guatemala erstreckte. Zu ihrer Glanzzeit war Teotihuacán mit etwa 75 Tempeln und 600 Werkstätten vermutlich die gewaltigste präkolumbische Ansiedlung von ganz Amerika. Um 200 v. Chr. bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung erhielt die Stadt ihre wichtigsten Merkmale: die gewaltige Pyramide der Sonne und die Pyramide des Mondes wurden erbaut sowie die Calzada de los Muertos (Straße der Toten) angelegt. Die Ausdehnung der Stadt umfasst 23 Quadratkilometer, wovon allein das Zeremonialzentrum vier Quadratkilometer einnimmt. Die Pyramiden sind so gigantisch, dass man sie vor ihrer Freilegung für Berge hielt. Die wuchtige „Pirámide del Sol“ (Sonnenpyramide) ist das alles überragende Wahrzeichen von Teotihuacán. Ihre Höhe von 70 Meter wurde, was die antiken Bauwerke Mexikos angeht, nur noch von Cholula übertroffen. Zweieinhalb Millionen Tonnen Steine wurden für ihre Errichtung bewegt, ohne Radwagen oder Lasttiere und ohne dass Metallwerkzeuge verwendet werden konnten – beides war den alten Kulturen Mexikos unbekannt. Ihre Grundfläche reicht an die der Cheops-Pyramide heran, aber wegen ihrer terrassenförmigen Bauweise und der flacheren Seitenpartien ist sie bei weitem nicht so hoch. Am Ende der Straße der Toten erhebt sich die „Pirámide de la Luna“ (Mondpyramide). Sie ist kleiner und wurde etwas später, jedoch noch während der Periode von Teotihuacán I., erbaut und ist damit eine der ältesten des Landes. Die Bauweise ist ähnlich: vier schräge Stockwerke, die man über eine gewaltige Rampe betritt. Die Ruinen von Teotihuacán stehen seit 1987 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Parks Xochimilco-Park Zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören seit 1987 die sogenannten „schwimmenden Gärten“ von Xochimilco (auf Nahuatl „Ort, wo die Blumen wachsen“). Im Jahre 1990 wurden die Wassergärten zum städtischen Ökologie-Park (Parque Ecológico de Xochimilco) ausgerufen. Kein anderes Stadtviertel erinnert so stark an die alte Stadt (wenn auch in idealisierter Form) wie Xochimilco mit seinen schwimmenden Kaufläden, Märkten und Farben. Blumengeschmückte Boote mit Ausflüglern fahren durch die Kanäle. Frauen verkaufen von winzigen Kanus aus Blumen, Obst und warme Speisen, und ab und zu kommen auch größere Boote mit Marimba-Musikern und ganzen Mariachi-Gruppen vorbei, um gegen einen kleinen Obolus längsseits festzumachen und ein kleines Ständchen zu bringen. In den letzten Jahren wurden erhebliche Anstrengungen zur Reinigung der Kanäle und zur Aufrechterhaltung des sinkenden Wasserspiegels unternommen. Somit bleiben die Kanäle auch in Zukunft jedes Wochenende ein beliebtes Ausflugsziel für tausende Hauptstädter. Der Markt – „mercado de xochimilco“ – ist wohl einer der buntesten, dichtesten und lautesten der Welt. Täglich entsteht ein Verkehrsstillstand durch Busse – „peseros“ – für die Xochimilco die Endstation unzähliger Routen ist. Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Puppeninsel touristisch erschlossen. In den Bäumen der Insel sind tausende teils verstümmelte Puppen aufgehängt worden. Chapultepec-Park Der Chapultepec-Park oder Bosque de Chapultepec umfasst eine Grünfläche von vier Quadratkilometern und ist die „grüne Lunge“ der Hauptstadt. Er besteht aus drei Abschnitten. Im größten und am weitesten östlich Gelegenen befinden sich die interessantesten Einrichtungen, darunter das „Museo Nacional de Antropologia“, das „Museo de Arte Moderno“, das „Museo Rufino Tamayo“ und der Zoo. An der Südseite der Reforma, gegenüber dem „Museo de Antropologia“, liegt der Lago Chapultepec. Am Hügel von Chapultepec befindet sich das Schloss Chapultepec („Castillo de Chapultepec“). Davor steht das „Monumento a los Niños Héroes“, ein Ehrenmal für die Kadetten, die das Schloss gegen die US-Armee im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg 1847 zu verteidigen suchten. Der Legende nach haben sich die letzten sechs Überlebenden in die Nationalflagge gehüllt von den Klippen zu Tode gestürzt, um nicht den feindlichen Truppen in die Hände zu fallen. Das Castillo selbst wurde 1785 als Sommerresidenz des spanischen Vizekönigs erbaut. Bis dahin war es eine Einsiedelei, die nach dem Verschwinden des Aztekenherrschers errichtet worden war. Als Militärakademie wurde es bis zur Unabhängigkeit genutzt, die heutige Gestalt erhielt das Schloss auf Wunsch von Kaiser Maximilian, der es nach dem Muster seiner italienischen Villa umbauen ließ. Jetzt beherbergt es auf zwei Stockwerken das „Museo Nacional de Historía“ (Geschichtsmuseum). Am westlichen Seeufer befindet sich der Haupteingang zum Zoo der Stadt, dem Zoológico de Chapultepec, der einen Großteil des Parkinneren einnimmt und in verschiedene Klimazonen aufgeteilt ist, darunter Wüste, Tropen, gemäßigte Mischwaldzone. Die meisten Käfige sind relativ geräumig und tiergerecht. Am interessantesten sind die Zooabteilungen, in denen die in Mexiko heimischen Tiere untergebracht sind, und das Gelände, das den Xoloitzcuintle, den unbehaarten und einzigen Nachkommen der vier präkolumbischen Hundearten, vorbehalten ist. Daneben sind weitere Tierarten aus aller Welt vertreten: Tiger, Bären, Löwen, Elefanten und Pandabären. Der Parque Zoológico war der erste Zoo der Welt, in dem Große Pandas Nachwuchs bekamen. Im Laufe der Jahre kam am Westrand des ursprünglichen „Bosque de Chapultepec“ neue Parkabschnitte hinzu. Diese wurden manchmal noch als „Nuevo Bosques de Chapultepec“ bezeichnet, üblicherweise jedoch meistens als Segunda Sección, das heißt zweiter Abschnitt und Tercera Sección, das heißt dritter Abschnitt. In der Segunda Sección befinden sich das „Museo Tecnológico“, das „Papalote Museo del Niño“, das „Museo de Historía Natural de la Ciudad de México“, und „La Feria Chapultepec Mágico“ (größter Vergnügungspark der Stadt) und ein weiterer Vergnügungspark namens „Planeta Azul“. Vom Museum für Naturgeschichte fährt der „Tren Escénio“ ab, eine Parkeisenbahn, die eine kurze Runde durch den Park dreht, vorbei an einigen Breiapfelbäumen und der Zeremonialstätte „Fuente Xochipilli“. In der Tercera Sección befindet sich der Panteón Civil de Dolores mit den Gräbern von Diego Rivera, José Clemente Orozco und anderen Persönlichkeiten. Auch befindet sich in diesem Abschnitt „El Rollo“ (ein Wasserpark mit Rutschen und Wellenbad) sowie „Atlantis“ (eine Art Zoo-Zirkus mit Meeressäugetieren und Seevögeln, von denen manche Dressurakte vorführen). Naturdenkmäler Südöstlich von Mexiko-Stadt befinden sich die beiden schneebedeckten Vulkane Popocatépetl (5.452 Meter) und Iztaccíhuatl (5.285 Meter). Seit Beginn der vulkanischen Aktivität am 21. Dezember 1994 herrschte in der Region immer wieder Alarmstufe Gelb, und in den Orten der Umgebung wurden Verhaltensmaßregeln für den Fall einer Evakuierung angeschlagen. Am 19. Dezember 2000 kam es dann zum größten Ausbruch des Popocatépetl seit 1802. Glühende Gesteinsbrocken wurden aus dem Krater geschleudert, Staubwolken senkten sich auf die Hauptstadt nieder und einige Male musste der über 60 Kilometer entfernte Flughafen von Mexiko-Stadt für einige Stunden geschlossen werden. Lavaströme rückten nicht weit vor, und so hatten nur die Bauern unter der Situation zu leiden, deren Gehöfte für mehrere Wochen evakuiert werden mussten, während das Vieh sich selbst überlassen blieb. Das Gebiet um den Popocatépetl bleibt zwar in einem Radius von zwei Kilometer für die Öffentlichkeit gesperrt, doch der „Parque Nacional de Volcanes“, der die beiden Vulkane umgibt, hat wieder geöffnet. Die 14 Klöster an den Hängen des Popocatépetl, von den spanischen Conquistadoren im 16. Jahrhundert errichtet, wurden 1994 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Die Namen der beiden Vulkane gehen auf eine aztekische Liebesgeschichte zurück: Popocatépetl („rauchender Berg“) war ein Krieger, Iztaccíhuatl („weiße Dame“) seine Geliebte, die Tochter des Kaisers. Als sie Popocatépetl im Kampf getötet glaubte, starb sie vor Kummer. Ihr Liebster kam aber unversehrt zurück; er legte ihren Leichnam auf einen Berg und blieb dort, um mit einer brennenden Fackel bis in alle Ewigkeit Wache zu halten. Sport Fußball (fútbol) ist die beliebteste mexikanische Sportart. Die wichtigsten Spiele werden im Aztekenstadion („Estadio Azteca“) mit 87.000 Plätzen ausgetragen, dem Heimatstadion des erfolgreichsten mexikanischen Teams América („Las Aguilas“). Auch der Universitätsklub UNAM („Los Pumas“) kann mit zahlreichen Zuschauern rechnen, wenn er im 72.000 Zuschauer fassenden Olympiastadion („Estadio Olimpico“) gegenüber der Universität spielt. Cruz Azul (seit vielen Jahren von einer Zementfabrik gesponsert, daher „Los Cementeros“ genannt) spielt im „Estadio Azul“ mit 39.000 Plätzen. Es werden jährlich zwei Meisterschaften ausgespielt, da es, im Unterschied zur Bundesliga, keine Hin- und Rückrunde, sondern zwei Turniere (Apertura und Clausura) mit Play-offs (Liguilla) gibt. Dabei entspricht die Apertura der Hinrunde und die Clausura der Rückrunde der Bundesliga. Die Apertura wird zwischen August und Dezember und die Clausura zwischen Januar und Ende Mai/Anfang Juni ausgespielt, so dass, in der Regel (und vor den Play-offs), jedes Wochenende zwei Spiele in Mexiko-Stadt ausgetragen werden. Zu den ganz großen Spielen gehört das Aufeinandertreffen von América aus Mexiko-Stadt und Chivas aus Guadalajara, der zweitgrößten Stadt des Landes. Lucha libre, die mexikanische Form des Wrestling, zählt immer noch zu den begehrtesten Zuschauersportarten. An mehreren Abenden in der Woche finden allein in der Hauptstadt in über einem Dutzend Arenen vor einem fanatischen Publikum Ringkämpfe statt. Die größten Wettkampfstätten sind die „Arena Coliseo“ und die „Arena México“. Der Stierkampf ist integraler Bestandteil des mexikanischen Lebens, und keine andere Veranstaltung schafft es, die Barrieren innerhalb der mexikanischen Gesellschaft so aufzuheben wie eine corrida de toros. Während der Stierkampfsaison (Ende Oktober bis Anfang April) finden jeden Sonntag in der riesigen Plaza México, mit 48.000 Plätzen die größte Stierkampfarena der Welt, Corridas statt. 1981 fand hier die Dreiband-Weltmeisterschaft für Nationalmannschaften statt, Sieger wurde Japan mit den Spielern Nobuaki Kobayashi und Jun’ichi Komori. Gastronomie Für die Küche der Hauptstadtregion typisch sind „Antojitos Mexicanos“, kleine Häppchen, die überwiegend aus Masa – dem Teig für Tortillas, einem dem Pfannkuchen ähnlichen Brotersatz aus Mais – hergestellt werden. Dazu gehören beispielsweise Tacos, kleine Tortillas mit Füllungen in allen möglichen Variationen, aber auch „Tortas“ (gefüllte Weizenbrötchen) und „Tostadas“ (frittierte, flache Tortillas mit Belag). Dazu werden dem Gast verschiedene Saucen wie Salsa Verde, Salsa Mexicana und Salsa Ranchera oder auch Guacamole gereicht. Verkauft werden die Antojitos in vielen Straßen der Hauptstadt an kleinen Ständen, wo es meistens Tacos in zahlreichen Variationen gibt. Besondere Tacofüllungen sind „Carne al Pastor“, Schweinefleisch, das wie Gyros oder Döner Kebab an einem Drehspieß zubereitet wird, und „Carnitas“, gebratenes und in Milch gekochtes Schweinefleisch, sowie „Chicharrón“, frittierte Schweineschwarte. Gern gegessen werden auch „Tamales“. Diese sind eine Mischung aus Masa, die meist mit Rindfleisch oder Huhn gefüllt und zum Teil auch mit verschiedenen pikanten Saucen begossen wird, um sie schließlich in Mais- oder Bananenblätter gewickelt zu garen. Statt eines frühen Frühstücks, bei dem typischerweise nur Kaffee getrunken wird, essen Mexikaner meist zum „Almuerzo“, dem reichhaltigeren zweiten Frühstück, entweder Eiergerichte oder Chilaquiles, getrocknete und frittierte, meist dreieckige Tortillastücke („Totopos“) in einer milden roten oder grünen Chilisauce, zubereitet mit Zwiebeln, Sahne und Käse. Typisch ist mittags die „Comida corrida“, bestehend aus Suppe, Reis, Hauptspeise und gewöhnlich einem kleinen Dessert. Es ist ein preiswertes Mittagessen, das von Arbeitern und Angestellten genutzt wird. Das Abendessen ist dann einfach, meist nur ein Taco oder ein „Pan Dulce“ (süße Backware) mit einem Glas Milch oder Kaffee. In der Stadt ist Essen aus allen Regionen des Landes erhältlich. Schmackhaft sind die berühmten „Chiles en Nogada“ aus der Gegend von Puebla, mit Rinder- und Schweinehackfleisch und Trockenfrüchten gefüllte große Pfefferschoten (chile poblano), die in einer Sauce aus Sahne und gehäuteten Walnüssen serviert und mit Granatapfelkernen bestreut werden. Aus Puebla und Oaxaca kommt „Mole“, eine reichhaltige Sauce, die meist mit Huhn serviert wird. Auch beliebt ist aus Jalisco der „Pozole“, ein eintopfartiges Gericht, mit Huhn oder Schweinefleisch und großen nixtamalisierten Maiskörnern. Neben den zahlreichen einheimischen Restaurants beherbergt Mexiko-Stadt auch Lokale mit chinesischer, US-amerikanischer, argentinischer, französischer und italienischer Küche. Preiswerte Restaurants, Cafés, Taquerias und Stände, an denen auch Getränke verkauft werden, befinden sich an fast jeder Straßenecke. Eine Spezialität stellen die mexikanischen Süßwaren dar, die seit über 140 Jahren in der Dulcería de Celaya angeboten werden. Handel In der Hauptstadt findet sich alles, was im Land angeboten wird, darunter Märkte für Kunsthandwerk und traditionelle Gegenstände sowie Läden für Kunsthandwerk („Artesanía“). Eine Eigenart der Stadt sind die „Zunftgassen“: ganze Häuserblocks, die einem bestimmten Gewerbe vorbehalten sind. Diese Anordnung ist ein Beispiel für das aztekische Erbe – ihre Märkte waren nach Waren sortiert, und die Kolonialherren folgten diesem Beispiel. Der „Bazar Sábado“ ist ein Kunsthandwerksmarkt in einer alten Hacienda in San Ángel. Hier kann besonderes Kunsthandwerk erstanden werden. Unmittelbar dabei, an der Plaza San Jacinto und der Plaza del Carmen, ist auch eine Malereiausstellung unter freiem Himmel zu sehen. Markt und Ausstellung werden fast den ganzen Sonnabend hindurch abgehalten. Am Sonntag ziehen die Maler und Künstler in den Parque Sullivan, unmittelbar nördlich der Zona Rosa. Interessant sind auch die „Coyoacán-Märkte“. Von den beiden Märkten findet ein Markt – mit vor allem Lebensmitteln im Angebot – täglich drei Querstraßen oberhalb der Plaza Hidalgo statt; auf dem anderen Markt wird Kunsthandwerk verkauft. Er wird sonntags direkt um den Zócalo aufgebaut und ist ein Treffpunkt der einheimischen Jugend. Unter anderem werden typisch mexikanische Kleidungsstücke und Silberschmuck angeboten. „La Merced“, Izazaga San Pablo, ist der größte Markt der Stadt. Er besteht aus verschiedenen modernen Gebäuden, die trotz ihrer Größe dem Ansturm der Händler nicht gewachsen sind, die einen Stand aufstellen möchten. Den meisten Raum nehmen Lebensmittel ein, aber auch alles andere, was ein mexikanischer Markt anzubieten hat, ist dort zu finden. „Mercado de Sonora“, drei Querstraßen vom La Merced, ist bekannt für pflanzliche, magische Heil- und Wundermittel und die Curanderos (Schamanen), die dorthin kommen und ihre Dienste anbieten. Auf dem „Mercado San Juan“ werden kulinarische Spezialitäten aus aller Welt verkauft. Einer der größten Märkte in Mexiko-Stadt ist der Markt „Tepito“, der sich im Norden des Stadtzentrums befindet. Das Angebot an Waren ist außergewöhnlich groß und reicht von Textilien über Elektrogeräte bis zu Plagiaten und Schwarzkopien aller Art. Allerdings ist die Kriminalitätsrate im Stadtteil Tepito mit seiner meist ärmeren Bevölkerung sehr hoch und alle paar Tage finden Großeinsätze der Polizei statt, die oft nur in Mannschaftsstärke in Tepito einrückt. Im Sommer 2002 starb auf dem Markt beispielsweise bei Schießereien rivalisierender Händler eine Besucherin und im Frühjahr 2003 kamen bei Bandenkämpfen 35 Menschen ums Leben. Im Mai 2003 kam es bei dem Versuch der Polizei, ein Labor für Produktpiraterie auszuheben, in Tepito zu blutigen Straßenschlachten zwischen den Sondereinheiten der mexikanischen Polizei und meist jugendlichen Händlern des Marktes. Nordöstlich der Plaza Garibaldi liegt der Markt „La Lagunilla“. Er bietet hauptsächlich Antiquitäten, Kleidungsstücke und Süßwaren („chucherias“). Ein weiterer Markt, der sowohl von Einheimischen als auch von Touristen besucht wird, findet sich in der Nähe zur Zona Rosa. Dieser „Mercado de la Ciudadela“ verkauft nicht nur Kunsthandwerk aus ganz Mexiko, sondern auch „Artesanias“. Diese sind teilweise aus Oaxaca (beispielsweise Lehmkrüge) und zum Teil aus den anderen Regionen Mexikos. Ebenfalls im Stadtzentrum befindet sich der sogenannte „Chopo“. Hier treffen sich jeden Sonnabend Punks, Hippies, Goths und Angehörige weiterer Jugendsubkulturen, um Bücher, Accessoires, Musik, Kunst und Kleidung einzukaufen. Auf dem Chopo finden regelmäßig kleinere Punkkonzerte statt, der Eintritt ist frei. Ende des 20. Jahrhunderts entstanden auch die typischen Einkaufszentren aus den USA („Malls“) mit Kaufhäusern und Boutiquen (Avenida Presidente Masaryk, Polanco) sowie einem Warenangebot aus aller Welt. Beispiele sind Plaza Satélite im Norden, Perisur im Süden und Centro Comercial Santa Fé im Westen der Stadt. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte die weitere Region Mexiko-Stadt ein Bruttoinlandsprodukt von 404 Milliarden US-Dollar (KKP). In der Rangliste der leistungsstärksten Metropolregionen weltweit belegte sie damit den 19. Platz. Mehr als die Hälfte der Industrieproduktion des Landes entsteht in Mexiko-Stadt selbst oder in der näheren Umgebung. Arzneimittel, Chemikalien, Textilien und Elektronikartikel, Stahl und Transportausrüstungen werden hier hergestellt sowie die verschiedensten Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter der Leichtindustrie. Mexiko-Stadt ist das Zentrum eines sich herausbildenden Industriegürtels, der sich von Guadalajara im Westen bis nach Veracruz an der Küste des Golfs von Mexiko im Osten erstreckt. Die Börse der Stadt ist eine der größten in Lateinamerika. Sie wurde 1886 als „Bolsa Mercantil de México“ gegründet, 2001 erhielt sie ihren heutigen Namen Bolsa Mexicana de Valores. Etwa 8,4 Prozent der Bevölkerung Mexikos lebte 2005 in der Hauptstadt und erzeugte 21,1 Prozent des nationalen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das Wirtschaftswachstum der Stadt betrug 2,0 Prozent (Mexiko = 3,0 Prozent). Das BIP pro Kopf lag bei 18.381 US-Dollar (Mexiko = 7.348 US-Dollar). Von den in Mexiko registrierten 7.754 Großunternehmen hatten 1.393 (18,0 Prozent) ihren Sitz in der Hauptstadt. Die Wirtschaft wurde in den letzten Jahren stark dereguliert und privatisiert. Die Dominanz privater Firmen wächst ständig und die Privatisierung von Eisenbahn, Flughäfen und Banken geht ihrem Ende entgegen. Die Liberalisierung des Energiesektors schreitet weiter voran. In den Bereichen Telekommunikation und Petrochemie stehen noch Reformen aus. Die Haushaltslage ist fast ausgeglichen und die Verschuldung konstant. Die offizielle Arbeitslosenquote lag 2008 im Jahresdurchschnitt bei 5,8 Prozent und damit deutlich über dem nationalen Durchschnitt von 3,8 Prozent. Die Entwicklung in der Hauptstadt verlief in den letzten Jahren folgendermaßen: 2001 (3,8 Prozent); 2002 (3,9 Prozent); 2003 (4,6 Prozent); 2004 (5,9 Prozent); 2005 (5,6 Prozent); 2006 (5,5 Prozent), 2007 (6,0 Prozent) und 2008 (5,8 Prozent). Es besteht eine starke Unausgewogenheit in der Reallohnverteilung. So lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das schnelle Wachstum von Mexiko-Stadt hat zahlreiche Schwierigkeiten hervorgerufen, wie unter anderem eine bedrohliche Luftverschmutzung, bedingt durch die große Anzahl der Autos und Industriebetriebe sowie eine immer unzureichendere Wasserversorgung. Die Stadt steht seit Jahren vor dem großen Problem der Befriedigung der exorbitanten Wassernachfrage von 300 Liter pro Tag und Kopf. Durch die übermäßige Entnahme von Grundwasser unterhalb der Stadt senkte sich der Boden um teilweise bis zu zehn Meter. Das führte zu Schäden an Gebäuden und an Wasser- und Abflussleitungen, aber auch zu einer erhöhten Überschwemmungsgefahr. Des Weiteren verliert die Stadt etwa 40 Prozent ihres Wassers durch das völlig marode Röhrennetz. Mexiko-Stadt wird heute von weit entfernt liegenden Quellen außerhalb des Hochtales zusätzlich mit Wasser versorgt. Moderne mehrstöckige Gebäude werden gegenwärtig auf riesigen Stahl- und Betonpfeilern erbaut, um ihr Absinken zu verhindern. Verkehr Fernverkehr Autobahnen Die Hauptstadt ist über Autobahnen (Autopista) mit allen großen Städten des Landes verbunden. Die Trassen führen nach Santiago de Querétaro (211 Kilometer) im Nordwesten, Toluca (65 Kilometer) im Westen, sowie Cuernavaca (85 Kilometer), Cuautla (120 Kilometer) und Oaxtepec (80 Kilometer) im Süden. Weitere Strecken verbinden Mexiko-Stadt mit Puebla (127 Kilometer) im Osten, sowie Texcoco (15 Kilometer), Tulancingo (100 Kilometer) und Pachuca de Soto (91 Kilometer) im Nordosten. Die Autobahnen sind meistens gebührenpflichtig (de cuota) und werden von privaten Investoren zusammen mit dem Staat gebaut und betrieben. Da die Maut sehr hoch ist, sollen in Zukunft neue Projekte, darunter die Nordumgehung von Mexiko-Stadt, generell mit niedrigerer Maut betrieben werden. Das Autobahnnetz der Hauptstadt ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich erweitert worden. Bereits in den 1950er Jahren war der westliche Teil des Anillo Periférico, einer Ringautobahn, in Betrieb, die inzwischen völlig fertiggestellt wurde. Über einem Teil des westlichen Abschnitts des Periférico wurde ein zweites Stockwerk errichtet. Die Agglomeration ist mittlerweile über den früher außerhalb der Stadt gelegenen Periférico hinausgewachsen und hat die teilweise achtspurige Autobahn vereinnahmt. Im Stadtgebiet wurden ferner noch vorhandene Wasserläufe in unterirdische Röhren verlegt, die Flussbetten in Schnellstraßen (Circuito Interior, Viaducto) umgewandelt. Große Straßenzüge im Stadtgebiet wurden zu Einbahnstraßen erklärt und werden als Achsen (Ejes) bezeichnet, die nach Richtung und einer Nummer unterschieden werden. Sie weisen zwischen 6 und 8 Fahrbahnen auf. Eisenbahnverkehr Infolge der Privatisierung der mexikanischen Bahngesellschaft Ferrocarriles Nacionales de México haben alle Reisezüge von und nach Mexiko-Stadt ihren Dienst eingestellt. Den einzigen Hinweis darauf, dass sie jemals verkehrten, gibt eine Dampflokomotive vor dem ehemaligen Bahnhof in der Buenavista. Dem Eisenbahngüterverkehr dient der Rangierbahnhof Terminal Valle de México (TVM) im Norden der Stadt. Flugverkehr Der internationale Flughafen Mexiko-Stadt ist der geschäftigste in Lateinamerika und zählt weltweit zu den bedeutendsten nach Flugbewegungen und Frachtumsatz. In Bezug auf den Passagierdurchsatz belegte er 2006 weltweit Platz 44. Obwohl er keinen offiziellen Namen hat, wird er umgangssprachlich nach Benito Juárez benannt, dem Staatsmann und Präsidenten Mexikos von 1861 bis 1872. Inzwischen hat der Flughafen die Grenzen seiner Kapazität erreicht. Er liegt fünf Kilometer östlich des Zócalo, weit innerhalb der Stadtgrenzen und ist mit Abstand der größte Flughafen des Landes. Zu seiner Entlastung war der Bau eines weiteren Flughafens im Einzugsgebiet der Stadt vorgesehen. Im Juli 2002 wurde nach heftigen Protesten durch die Bewohner betroffener Siedlungen dieser Plan fallen gelassen. Ende 2014 wurde der Plan neu aufgenommen, der Bau des neuen Flughafen Mexikos wurde im Lago de Texcoco begonnen. Die Bauarbeiten wurden im Jahr 2018 jedoch überraschend eingestellt und nicht weiter verfolgt. Als Ausweichflughafen ist der Flughafen von Puebla in der Nähe von Huejotzingo vorgesehen, der jedoch kaum eigenen Flugverkehr aufweist. Der Flughafen Felipe Ángeles ist der zweite Flughafen von Mexiko-Stadt. Der Flughafen eröffnete 2022, auf dem Gebiet des ehemaligen Militärflughafens Santa Lucía. Beim Flugunfall einer Boeing C-97 Stratofreighter 1987 stürzte diese im Stadtgebiet ab. Fünf Insassen kamen ums Leben, am Boden gab es 44 Todesopfer. Überlandbusverkehr Mexiko-Stadt besitzt vier große Überlandbusbahnhöfe, einen für jede Himmelsrichtung. Zahllose konkurrierende Busgesellschaften fahren die Busbahnhöfe an. Der größte Busbahnhof ist der „Terminal del Norte“, im Norden der Stadt, der die Grenze zu den USA und alles, was nur ungefähr in nördlicher Richtung liegt, einschließlich Guadalajara und Morelia, bedient. Vom „Terminal de Autobuses de Pasajeros de Oriente“, kurz TAPO, im Osten, fährt man nach Puebla, an die Golfküste im Staat Veracruz, aber auch nach Oaxaca, Chiapas und zur Halbinsel Yucatán; sogar nach Guatemala gelangt man von dort. Der Busbahnhof „Central de Autobuses del Sur“ liegt im Süden. Von dort fahren die Überlandbusse Richtung Pazifikküste – insbesondere nach Cuernavaca, Taxco de Alarcón, Acapulco und Ixtapa Zihuatanejo – ab. Der westliche Busbahnhof, der „Terminal Central Poniente“ ist der kleinste von allen und verbindet Mexiko-Stadt in erster Linie mit Toluca. Weitere langsamere Busse verkehren via Toluca nach Morelia, Guadalajara, und zu anderen Zielen in Jalisco und Michoacán. Auch nach Pátzcuaro, Uruapán, Valle de Bravo und Querétaro. Alle Busbahnhöfe haben eine U-Bahn-Station in unmittelbarer Nähe. Bei längeren Fahrten ins Umland der Stadt oder weiter weg halten die Busse am Stadtrand und werden von bewaffneten Organen (Armee, Polizei, private Firmen) kontrolliert. Dabei laufen Beamte durch den Bus und filmen jeden Fahrgast, fordern dazu auf, dass jeder in die Kamera sieht. Die großen Busbahnhöfe sind mit Sicherheitskontrollen wie Flugplätze ausgestattet, die Kontrollen sind jedoch etwas weniger streng. Personen, die offensichtlich Touristen sind, werden auch bei piependen Detektoren durchgewinkt. Nahverkehr Schienenverkehr Die erste Pferdestraßenbahn in Mexiko-Stadt fuhr am 12. Dezember 1857 und die erste elektrische Straßenbahn am 15. Januar 1900. Das früher umfangreiche Netz wurde auf einen 18 Kilometer langen Streckenabschnitt reduziert. Die Straßenbahn Tren Ligero („leichter Zug“) fährt zwischen dem U-Bahnhof Tasqueña (der südlichsten Endhaltestelle der Linie 2) hinweg über der Erde Richtung Süden bis Xochimilco. Die Bahn wird von einer anderen Gesellschaft als die Metro betrieben und darf nicht mit einem U-Bahnfahrschein benutzt werden. Der Verkehr in der Stadt ist vor allem in der Hauptverkehrszeit oft blockiert – teilweise bedingt durch die engen Straßen. Um den Straßenverkehr zu entlasten, wurde am 5. September 1969 der erste Streckenabschnitt der U-Bahn in Betrieb genommen. Der Bau sorgte nur anfangs für eine Besserung der Verkehrsprobleme. Die Metro verkehrt heute auf elf Linien und einem Gesamtnetz von 201,7 Kilometern und wurde einst zu einem der größten und leistungsfähigsten U-Bahnsysteme der Welt entwickelt. Heutigen Standards kann das U-Bahnsystem jedoch nicht im Ansatz genügen. Die Nahverkehrsdichte ist in den letzten 20 Jahren nicht proportional mit der Bevölkerung gewachsen, was als Ergebnis ein vollkommen überfordertes Metronetz hervorbrachte. Dennoch stellt die U-Bahn – bei Einhaltung gewisser Vorsichtsmaßnahmen – auch für Touristen das effizienteste Fortbewegungsmittel dar. Mit einer Fahrkarte kann unter Benutzung mehrerer Linien die komplette Stadt in etwa einer Stunde durchquert werden, was in Anbetracht des starken Autoverkehrs und den enormen Ausdehnungen der Metropole sehr schnell ist. Einzigartig ist das System der Zuordnung von aussagekräftigen farbigen Symbolbildern zu jeder der 175 U-Bahn-Stationen, das ursprünglich der hohen Rate an Analphabetismus in Mexiko-Stadt Rechnung tragen sollte. Präsentationen archäologischer Ausgrabungsfunde sind in den Bahnhöfen teilweise zu besichtigen. Da das Metro-System die Grenzen der politischen Einheit Mexiko-Stadt nicht überschreitet, fehlten lange Zeit jegliche schnelle und leistungsfähige Massenverkehrsmittel in die anschließende Metropolregion. Zum 1. Juni 2008 wurde ein erster Teil eines Schnellbahnnetzes „Ferrocarril Suburbano de la Zona Metropolitana del Valle de México“ eröffnet, der den aufgegebenen Hauptbahnhof Buenavista mit Cuauhtitlan verbindet und eine Länge von 27 Kilometern hat. Die Bahn verkehrt auf der Trasse der seit 1978 in Bau befindlichen ersten doppelgleisigen, elektrifizierten Bahnstrecke nach Santiago de Querétaro, die aber nie wirklich effektiv betrieben wurde. Nach der Aufgabe des Personenverkehrs in Mexiko im Zusammenhang mit der Privatisierung der Eisenbahnen 1996 kam es zu zahlreichen Projekten, die diese Strecke nutzen wollten, aber alle nicht realisiert wurden. Am 3. Mai 2021 kam es zu einem schweren U-Bahn-Unglück, bei dem mindestens 23 Menschen ums Leben kamen und rund 70 Menschen verletzt wurden. Beim Einsturz einer U-Bahnbrücke fielen mehrere Waggons auf eine befahrene Straße. Straßenverkehr Im Stadtgebiet verkehren zahlreiche große Omnibusse, darunter auch moderne Elektrobusse. Auf der „Avenida Insurgentes“ verkehrt der staatlich geförderte Metrobus und auf der Lázaro Cárdenas, zwischen der Terminal del Norte und der Central del Sur, verkehren auch in beiden Richtungen Trolleybusse. Der Obusbetrieb in der Stadt wurde am 6. April 1952 eröffnet, nachdem es schon 1948 und 1951 Versuchsbetriebe gegeben hatte. Ein großer städtischer Busbahnhof befindet sich zwischen dem U-Bahnhof Chapultepec und dem Eingang zum Park. Von dort fahren Busse in alle Teile der Stadt. Des Weiteren verkehren zahlreiche Peseros (Colectivos), Busse mit 30 Sitzplätzen oder VW-Busse für circa acht bis zehn Passagiere in der Stadt. Sie sind oft hellgrün mit einem weißen Dach, die Fahrziele stehen auf der Windschutzscheibe. Die Peseros besitzen zwar auch Liniennummern, doch nicht jedes Fahrzeug befährt die gesamte Route, sondern kehrt vielleicht auf halbem Wege wieder um, daher sind die Aufschriften die besten Orientierungspunkte. Peseros sind schneller und etwas teurer als die Stadtbusse, aber viel preiswerter als die zahlreichen Taxen, und lassen Passagiere an jedem Punkt ihrer festen Route ein- und aussteigen. Da viele Straßennamen mehrfach vergeben wurden, sollte der Fahrgast vor einer Fahrt mit dem Taxi dem Fahrer die Adresse mit Stadtbezirk (Delegacion), Stadtteil (Colonia) und Straßenname nennen sowie auf den nächstgelegenen Platz, Straße, Denkmal oder ähnliches hinweisen. Herzstück der innerstädtischen Verkehrsreformen ist der Aufbau eines Schnellbusnetzes. Ein Busnetz ist schneller und billiger aufzubauen, als eine U-Bahn. 70 Kilometer sind bereits in Betrieb, 200 Kilometer sollen es werden; die roten Gelenkbusse bedienen auf eigenen Spuren die Hauptrouten. Die Stadt hat den Ausbau des Schnellbusnetzes trotz vieler Widerstände aus Kreisen der Privatbusbesitzer vorangetrieben. So hat sie durchgesetzt, dass Volvo und Mercedes den Mexikanern ihre modernsten Busse mit Abgaswerten der Euro-4-Norm liefern – normalerweise übernehmen Firmen in Schwellenländern aus der ersten Welt nur alte Fahrzeuge. Zudem wird das Netz der Oberleitungsbusse ausgebaut und mit fast 300 Bussen von Yutong modernisiert. In der Innenstadt bzw. dem historischen Zentrum sowie an anderen besonders verkehrsreichen Punkten der Stadt wird der Straßenverkehr üblicherweise von Polizisten geregelt, der Policía de Tránsito. Insbesondere im morgendlichen Berufs- und im abendlichen Feierabend- und Einkaufsverkehr werden die circa 2500 Verkehrspolizisten eingesetzt. Mit ihrer nicht ganz ungefährlichen Arbeit, jeden Tag werden zehn bis zwölf von ihnen von Autofahrern angegriffen, versuchen sie, den trotz des schon seit 25 Jahren geltenden Fahrverbots für Privatfahrzeuge „hoy no circula“ extrem ausgeprägten Individualverkehr zu bändigen. Im Dezember 2015 ist eine neue Straßenverkehrsordnung in Kraft getreten, mit der die Höchstgeschwindigkeit in der Stadt von 70 km/h auf 50 km/h reduziert wird, Tempo-30-Zonen vorsieht und die Führerscheinpflicht zurückkehren lässt. Das Führerscheingebot gilt allerdings nicht rückwirkend und es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Hauptstadtbewohner die Führerscheinprüfung nicht bestehen würde. Medien In Mexiko-Stadt sind das Fernsehen und der Rundfunk, bedingt durch den hohen Analphabetismus, die am meisten genutzten Medien. Zeitungen und Magazine werden überwiegend von den Menschen der Mittel- und Oberschicht gelesen. Rund 80 Prozent der zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsender gehören dem Konzern Televisa, der größte private Anbieter von Fernsehprogrammen in spanischer Sprache. Der größte private Mitbewerber ist Televisión Azteca. 45 Prozent der Bewohner informieren sich über das Fernsehen, ebenfalls 45 Prozent über das Radio und nur zehn Prozent über die Printmedien. In der Hauptstadt werden gegenwärtig 32 Tageszeitungen herausgegeben. Die größte und einflussreichste ist die während der Mexikanischen Revolution (1910–1929) gegründete El Universal. Sie steht wie die Excelsior der ehemaligen Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional) nahe. Die zweitgrößte Tageszeitung in der Hauptstadt ist die 1993 gegründete Reforma. Sie ist eher der amtierenden rechtsliberalen Regierungspartei PAN (Partido Acción Nacional) zugeneigt. Weitere wichtige Tageszeitungen sind die 1984 gegründete linksgerichtete und der Oppositionspartei PRD (Partido de la Revolución Democrática) nahestehende La Jornada und der ihr entgegengesetzte rechtskatholische El Heraldo. Die dominierenden Wirtschaftszeitungen sind El Financiero und die 1988 gegründete El Economista. Das bedeutendste politische Magazin ist das seit 1976 herausgegebene Proceso. In der Metropole gibt es auch deutschsprachige Medien, darunter das Monatsmagazin mitt. (abgeleitet von „Mitteilungsblatt“) und das Internetportal treff3.net. Das seit 1932 erscheinende mitt. gehört zu den ältesten Publikationen der Stadt. Bildung Die Hauptstadtregion beherbergt zahlreiche Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Forschungsinstitute und Bibliotheken. Das Studium in Mexiko-Stadt und im ganzen Land wird von der riesigen, im Jahre 1551 gegründeten „Universidad Nacional Autónoma de México“ (UNAM) mit 286.484 Studierenden bestimmt. Sie ist mit Abstand sowohl die älteste als auch größte Universität des amerikanischen Kontinents. Die Bibliothek auf dem Universitätscampus ist mit Mosaikdarstellungen aus der Geschichte und Kultur des Landes – dem größten Natursteinmosaik der Welt – geschmückt und ein Musterbeispiel für moderne Architektur eines Landes, das sich wieder seiner Historie bewusst wird. Der zentrale Universitätscampus steht seit 2007 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Private Universitäten in Mexiko-Stadt sind die Universidad Tecnológica de México, die Universidad del Valle de México, die Universidad Iberoamericana (U.I.A.), die Universidad La Salle A.C., die Universidad Intercontinental, die Universidad del Claustro de Sor Juana, die Universidad Anáhuac México und die Universidad Panamericana. Weitere bedeutende Bildungseinrichtungen in der Region sind die Universidad Autónoma Metropolitana (UAM), das Instituto Politécnico Nacional (IPN), die Universidad Pedagógica Nacional (UPN), das Instituto Tecnológico y de Estudios Superiores de Monterrey (I.T.E.S.M.), Instituto Tecnológico Autónomo de México (I.T.A.M.), die Escuela Bancaria y Comercial, das Centro Universitario Grupo Sol S.C., die Escuela Nacional de Artes Plásticas, das Instituto de Estudios Superiores del Colegio Holandés, das Instituto Nacional de Antropología e Historia, das Centro Cultural Universitario Justo Sierra und die Grupo Cultural I.C.E.L. In Mexiko-Stadt gibt es mehrere deutsche Grundschulen und Gymnasien, die zum deutschen und zum mexikanischen Abitur führen. Die größte deutsche Auslandsschule weltweit ist das Colegio Alemán Alexander von Humboldt. Es wurde 1894 von deutschen Einwanderern gegründet. Namensgeber ist der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Bischöfe und Erzbischöfe der Stadt Literatur Juan Villoro: Horizontal Vertigo: A City Called Mexico. Ballantine, New York 2021, ISBN 978-1-5247-4888-3 (aus dem Spanischen von Alfred MacAdam). Ana Álvarez (Hrsg.), Citámbulos (Mexiko), DAZ (Berlin): Citámbulos – Mexico City: Reise in die mexikanische Megacity. Jovis Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-939633-76-1. Christof Parnreiter: Historische Geographien, verräumlichte Geschichte. Mexico City und das mexikanische Städtenetz von der Industrialisierung bis zur Globalisierung. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-515-09066-7. York Lohse: Mexiko-Stadt im 18. Jahrhundert. Das Bild einer kolonialen Metropole aus zeitgenössischer Perspektive. Peter Lang, Frankfurt 2005, ISBN 3-631-53603-8. Hans G. Hofmeister: Mexico-City – Eine Metropole des Südens im globalen Restrukturierungsprozess. Kassel University Press, Kassel 2002, ISBN 3-89958-016-8. Eckhart Ribbeck: Die informelle Moderne – Spontanes Bauen in Mexiko-Stadt „Informal Modernism – Spontaneous Building in Mexico-City“. AWF, Bensheim 2002, ISBN 3-933093-25-2. Martin Heintel, Heinz Nissel, Christof Parnreiter, Günter Spreitzhofer, Karl Husa, Helmut Wohlschlägl (Hrsg.): Megastädte der Dritten Welt im Globalisierungsprozess. Mexico City, Jakarta, Bombay – Vergleichende Fallstudien in ausgewählten Kulturkreisen. Institut für Geographie, Wien 2000, ISBN 3-900830-40-1. Oscar Lewis: Die Kinder von Sanchez. Selbstporträt einer mexikanischen Familie. Lamuv, Göttingen 1992, ISBN 3-921521-62-9. Uwe Schmengler: Umweltprobleme in Mexiko-Stadt. Schmengler, Berlin 1992, ISBN 3-9801643-0-6. (Kopie der ursprünglichen Examensarbeit: , , , , .) Dieter Klaus, Wilhelm Lauer, Ernesto Jauregui: Schadstoffbelastung und Stadtklima in Mexiko-Stadt. F. Steiner, Stuttgart 1988, ISBN 3-515-05410-3. Anne Becker, Olga Burkert, Anne Doose, Alexander Jachnow, Marianna Poppitz (Hrsg.): Verhandlungssache Mexiko-Stadt. Umkämpfte Räume, Stadtaneignungen, imaginarios urbanos. b-books, Berlin 2008, ISBN 978-3-933557-89-6. Weblinks Internetpräsenz der Stadt (spanisch) Tourismusbüro der Stadt (spanisch und englisch) Goethe-Institut Mexiko-Stadt Stadtführer (englisch) Routenplaner des öffentlichen Verkehrs in Mexiko-Stadt Welten der Kunst: Mexiko Bilder von Mexiko-Stadt (spanisch und englisch) Mexiko-Stadt Werden und Transformation einer Megastadt Einzelnachweise Mexikanischer Bundesstaat Hauptstadt in Nordamerika Welterbestätte in Amerika Welterbestätte in Mexiko Weltkulturerbestätte Millionenstadt Wikipedia:Artikel mit Video Hochschul- oder Universitätsstadt Ort in Nordamerika
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https://de.wikipedia.org/wiki/Japanische%20Schrift
Japanische Schrift
Die japanische Schrift besteht aus mehreren Schriften. Im japanischen Schriftsystem nutzt man Kanji, Kana und Romaji funktional gleichberechtigt nebeneinander als Schreibschrift. Die Kanji () entstammen der chinesischen Schrift (chin. ) und bilden als Logogramme meist den Wortstamm ab. Kana, d. h. Hiragana ( oder ) und Katakana ( oder ), sind dagegen Silbenschriften (genauer Morenschriften) aus dem historischen Man’yōgana, die sich von der chinesischen „Grasschrift“ (auch Konzeptschrift) herleitet. Diese drei Schriften werden im ISO-15924-Code mit dem Kürzel Jpan zusammengefasst. Als weitere Schrift wird in der modernen japanischen Sprache das lateinische Alphabet verwendet, das in Japan als Rōmaji () bezeichnet wird. Zahlen werden unter Verwendung von Kanji oder arabischen Ziffern geschrieben. Die verschiedenen Schriftarten haben spezifische Funktionen (z. B. Hiragana oft für grammatikalische Formen, Katakana hauptsächlich für Fremdwörter, Kanji oft für den Sinninhalt). Diese historisch gewachsene komplexe Schriftkultur mit den verschiedenen Schriften werden in Alltagstexten parallel verwendet. Schreibweise und -richtung Im Japanischen werden Wörter gewöhnlich ohne Leerzeichen aneinandergereiht und am Zeilen- oder Spaltenende an fast beliebigen Stellen ohne Trennstrich getrennt (je nach „Regel“ allerdings nicht direkt vor einem Satzzeichen oder einem kleinen Kana). Die Zeichen werden in gleich große gedachte Quadrate geschrieben: Anders als z. B. in der lateinischen Schrift, wo ein „i“ viel schmaler ist als ein „m“, erhält jedes Zeichen (einschließlich Satzzeichen) gleich viel Platz, rund um schmalere oder kleinere Zeichen bleibt also etwas mehr Leerraum. Allerdings werden im Schriftsatz auch oft proportionale Schriften verwendet, sodass ein im vertikalen Satz beispielsweise kein Quadrat mehr einnimmt. Im traditionellen Japanisch wird, wie auch im klassischen Chinesisch, von oben nach unten geschrieben, wobei die Spalten von rechts nach links aneinandergereiht werden (tategaki, ). Diese Schreibrichtung findet heutzutage bei literarischen Texten, Zeitungsartikeln und Manga Anwendung. Waagerechte Überschriften in historischen Texte werden ebenso von rechts nach links geschrieben. (Sach-)Texte, die viele Rōmaji (lateinische Zeichen) enthalten, sowie (waagerechte) Hinweisschilder werden heutzutage meist nach westlichem Vorbild in horizontalen Zeilen von links nach rechts geschrieben (yokogaki, ). Nur bei historischer (waagerechter) Namensbeschilderung von alten Gebäuden o. Ä. – meist über dem Eingang – sowie sehr alten Spruchbannern in Kanji (z. B. beim Shurei-mon) sieht man heute gelegentlich noch die traditionelle horizontale Schreibung von rechts nach links. Fahrzeuge und Schiffe sind mitunter auf der rechten Seite linksläufig und auf der linken rechtsläufig beschriftet. In Zeitungen kommt sowohl die horizontale als auch die vertikale Schreibrichtung vor, teils auch gemischt. Schriftarten Kanji Kanji () bedeutet Han-Zeichen, wobei „Han“ (chin. ), japanische Lesung „Kan“ (), als Synonym für China bzw. Chinesen steht. Zum Verständnis des Folgenden ist es hilfreich zu wissen, dass die japanische und die chinesische Sprache weder verwandt noch typologisch ähnlich sind. Die Schrift an sich, in der Form der chinesischen Zeichen, kam spätestens ab dem 5. Jahrhundert über Korea nach Japan. Ursprünglich wurden Texte in reinem Chinesisch aufgezeichnet, dem sogenannten Kanbun, ein Stil, der mit Lesehilfen, beginnend mit der Setsuwa-Literatur des 9. Jahrhunderts, für offizielle Dokumente in modifizierter Form bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verwendet wurde. Die Kanji haben (im Gegensatz zu den Kana) eine eigenständige Bedeutung und werden auch als Logogramme bezeichnet, die wiederum in drei Gruppen aufgeteilt werden können: Piktogramme, Ideogramme und Phonogramme. Viele Kanji sind dabei aus mehreren (oft zwei) verkleinerten Zeichen zusammengesetzt. Diejenigen Ideogramme unter diesen Bestandteilen, die oft für die Kernbedeutung der jeweiligen Kanji stehen und nach denen sie in Kanji-Lexika geordnet werden, nennt man Radikale bzw. Bushu; das andere Element in zweiteiligen Zeichen bezeichnet oft die originale chinesische Aussprache, die im Allgemeinen nicht identisch ist mit der oder den japanischen Aussprachen. In der Folge wurde auch eine relativ kleine Zahl eigener japanischer Kanji entwickelt, die so genannten „Landeszeichen“ (genauer: „Landeseigene Schriftzeichen“) oder Kokuji, wie z. B. (dō, ), (tsuji, ) und (tōge, ). Viele Kanji haben zwei oder noch mehr unterschiedliche Lesungen, die man in zwei Gruppen zusammenfassen kann: Die on-yomi (wörtlich: „Klang-Lesung“) nennt man auch sino-japanische Lesung (bei der drei Untergruppen, nach dem Zeitpunkt der Rezipierung, unterschieden werden). Sie wurde aus dem Chinesischen abgeleitet (es ist eine an das japanische Lautsystem angepasste Variante der originalen chinesischen Aussprache des Zeichens) und wird daher auch oft chinesische Lesung genannt. Die ON-yomi wird meistens verwendet, wenn ein Zeichen zusammen mit anderen Kanji steht, um ein zusammengesetztes Wort (genauer: Kompositum oder Silbenwort) zu ergeben. ON-yomi werden in Aussprachelisten (etwa in Lexika) meist mit Katakana angegeben, bei lateinischer Schreibung solcher Listen oft in Großbuchstaben. Die kun-yomi (wörtlich: „Begriff-Lesung“) heißt auch reinjapanische Lesung. Bei einer solchen Lesung handelt es sich in der Regel um ein japanisches Erbwort (das also nicht aus dem Chinesischen stammt), für das das Schriftzeichen nur von seiner Bedeutung her übernommen wurde, aber nicht vom Klang her. Diese Lesung wird meistens (aber nicht immer) benutzt, wenn ein Kanji alleine steht und selbst ein ganzes Wort bildet. kun-yomi werden in Aussprachelisten meist mit Hiragana wiedergegeben, bei lateinischer Schreibung der Listen oft in Kleinbuchstaben. Fast alle Kanji, mit Ausnahme einiger weniger Kokuji, haben eine oder mehrere On-Lesungen, aber nicht alle haben Kun-Lesungen. Die oft mehreren verschiedenen On-Lesungen eines einzigen Zeichens entstanden dadurch, dass viele Zeichen mehrmals zu verschiedenen Zeiten bzw. Epochen aus verschiedenen Landesteilen Chinas übernommen wurden, und damit auch die verschiedenen Aussprachen des Zeichens in den unterschiedlichen chinesischen Sprachen. Welche der Lesungen jeweils zu verwenden ist, richtet sich nach der Kanji-Kombination, in der das Zeichen jeweils auftaucht. Es heißt in japanischen Legenden (10. Buch des Nihon Shoki), dass ein in Baekje (jap. Kudara), einem Staat im heutigen Korea, wirkender chinesischer Gelehrter namens Achiki (, kor. Ajikgi) im 15. Jahr des Kaisers Ōjin (berichtigtes Datum: 404) nach Japan geschickt wurde und Lehrer des Thronfolgers Uji no Waka-iratsuko () wurde. Auf Achikis Empfehlung hin wurde der Gelehrte Wani (, koreanisch Wang-in, chin. Wang-ren) an den Hof des Yamato-Reiches eingeladen und von Aredawake und Kamu-nagi-wake im Frühling des zweiten Monats des 16. Jahres (unter Ōjin) aus Baekje herübergeholt. Wani brachte so im späten 4. Jahrhundert die chinesischen Schriftzeichen nach Japan, um den Konfuzianismus zu lehren, und dabei die chinesischen Bücher Analekten des Konfuzius und den Tausend-Zeichen-Klassiker nach Japan zu bringen. Wani wird im Kojiki und im Nihon Shoki erwähnt. Ob Wani wirklich lebte oder nur eine fiktive Person ist, ist unklar, denn die heute bekannte Version des Tausend-Zeichen-Klassikers ist erst später, zur Zeit der Regentschaft von Kaiser Liang Wu Di (502–549) entstanden. Es wird von einigen Wissenschaftlern für möglich gehalten, dass bereits im 3. Jahrhundert chinesische Werke ihren Weg nach Japan fanden. Als gesichert gilt, dass spätestens ab dem 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung die Kanji in mehreren Wellen aus verschiedenen Teilen Chinas importiert wurden. Heute nennt man die klassische Schreibweise der chinesischen Texte für Japan Kanbun. Nach dem Zweiten Weltkrieg (1946) wurde die Anzahl der „Schriftzeichen für den täglichen Gebrauch“ () vom Bildungsministerium (MEXT) – genauer „Amt für kulturelle Angelegenheiten“, Bunka-chō, Unterabteilung des „MEXT“ – auf zuerst 1850 Zeichen reduziert und im Jahre 1981 wurde deren Nutzung durch den Ersatz und Adaptierung in die Jōyō-Kanji () auf 1945 Zeichen etwas erweitert. 2010 wurde die Anzahl der Jōyō-Kanji auf 2136 festgelegt, die auch in der Schule gelehrt werden. Amtliche Texte und viele Zeitungen beschränken sich auf diese Zeichen und geben alle anderen Begriffe in Kana wieder. Daneben gibt es weitere ca. 580 so genannte Jinmeiyō Kanji, die nur für die Verwendung in japanischen Eigennamen offiziell sind. Grundsätzlich entsprechen die Kanji den traditionellen chinesischen Langzeichen. Einige Zeichen aber wurden mit der Schriftreform in Japan („Problem der nationalen Schriftzeichen der japanischen Sprache“, ) (siehe Tōyō-Kanji vom 1946) vereinfacht, in einer ähnlichen Weise, aber weniger radikal als die Kurzzeichen bei der chinesischen Schriftreform von 1955. Insgesamt gibt es mehr als 50.000, in der Mehrzahl aber ungebräuchliche Kanji. Gebildete Japaner beherrschen nicht selten (zumindest passiv) über 5000 Kanji, was vor allem zum Lesen von literarischen Texten notwendig ist. In manchen seit alters her bestehenden gelehrten Berufsfeldern, etwa Jura, Medizin oder buddhistischer Theologie, wird die Beherrschung von bis zu 1000 weiteren Kanji, die in diesem Bereich eine Rolle spielen, vorausgesetzt. Dabei handelt es sich jedoch um Fachbegriffe. Moderne Berufsfelder wie Naturwissenschaft und Technik schreiben ihre Fachbegriffe üblicherweise in Katakana oder gleich in lateinischer Schrift. Japanische Texte für Erwachsene lassen sich bei Bedarf mit hoher Geschwindigkeit „querlesen“. Da der wesentliche Inhalt mit Kanji geschrieben wird und auch komplexe Begriffe mit nur wenigen Kanji dargestellt werden können, kann man durch Springen von Kanji zu Kanji unter Nichtbeachtung der anderen Zeichensysteme den Sinn eines Textes rasch erfassen. Andererseits kann man am Gesamtanteil und dem Schwierigkeitsgrad der Kanji eines Textes erkennen, für welche Alters- bzw. Bildungsgruppe er vorzugsweise geschrieben wurde. Durch den starken chinesischen Einfluss auf Korea waren chinesische Schriftzeichen (kor. Hanja) traditionell auch in Korea gebräuchlich, seit der Kabo-Reform Ende des 19. Jh. sind diese aber weitgehend (in Nordkorea vollständig) durch die Hangeul-Zeichen ersetzt worden. Insgesamt geht die Anzahl der verwendeten Kanji immer mehr zurück, was möglicherweise auch daran liegt, dass aufgrund der heute vorhandenen elektronischen Schreibhilfen japanischer Textverarbeitungssysteme die jüngeren Japaner sie zwar noch lesen, aber besonders die selteneren Kanji immer öfter nicht mehr handschriftlich schreiben können. In zahlreichen Printmedien werden inzwischen über komplizierten Kanji die dazugehörigen Kana (Furigana) abgedruckt. Man’yōgana Die Entwicklung einer eigenen japanischen Schrift durch Schreiber und Gelehrte begann um 600 durch die Reduzierung der chinesischen Schriftzeichen auf ihren Lautwert. Die Aussprache der chinesischen Worte wurde verwendet, ihr Sinn dagegen vernachlässigt. Dies kam zunächst zur Wiedergabe von japanischen Orts- und Personennamen zum Einsatz. Um 760 wurde die erste Sammlung japanischsprachiger Dichtkunst, das Man’yōshū, fertiggestellt, in dem man die chinesischen Schriftzeichen oft auch entsprechend ihrem Klang, also als Lautschrift verwendete. In Anlehnung an diese Anthologie wird diese Schreibart als Man’yōgana bezeichnet. Kana bzw. in Zusammensetzungen -gana stammt von kari na ‚geliehene Namen‘. Zu diesem Zeitpunkt traten jedoch auch die Probleme dieser Schrift zutage. Die teilweise sehr ähnlich klingenden Lautzeichen wurden nicht nach einem bestimmten System verwendet, sondern nach ihrem Äußeren. Die Gestaltung der Schrift und die damit erzielten ästhetischen Effekte spielten für die Dichter eine entscheidende Rolle. Aufgrund dessen wurden nicht nur die Man’yōgana nach Gefühl verwendet, es kam darüber hinaus auch zu einer Mischung von Man’yōgana und chinesischen Ideogrammen. Da beide sich von der äußeren Form her nicht unterscheiden, ist es für den Leser problematisch zu erkennen, ob die Zeichen in ihrer phonetischen oder inhaltlichen Bedeutung zu interpretieren sind. Des Weiteren war diese Schreibart sehr aufwendig und kompliziert. Für die oft vielsilbigen japanischen Wörter benötigte man jeweils mehrere komplizierte chinesische Zeichen. Der damalige Hofstaat sah jedoch trotz dieser nicht von der Hand zu weisenden Probleme des noch unausgereiften Schriftsystems keine Notwendigkeit für die Entwicklung eines einheitlichen und einfachen Schriftsystems. Noch immer war die chinesische Dichtung großes Vorbild für die Gebildeten, so dass es zum guten Stil der Zeit gehörte, seine Gedichte in chinesischer Sprache zu verfassen. Die Man’yōgana waren bei der Elite nicht angesehen und nach ihrer Auffassung von Poesie nur dazu tauglich, Tagebücher, Notizen oder Liebesbriefe zu schreiben. Kana Erst im 9. Jahrhundert kam es zur Herausbildung einer eigenen japanischen Silben- oder genauer Morenschrift, den sogenannten Kana (, früher auch ). Sie sind Silbenalphabete, bei denen die einzelnen stark vereinfachten Zeichen keine eigenständige Bedeutung haben, sondern Laute und Lautkombinationen wiedergeben. Die Unterteilung japanischer Silben in Zeiteinheiten (Moren) zeigt sich in der Schrift dadurch, dass neben Silben aus einem Vokal oder einem Konsonanten mit folgendem Vokal auch der zweite Teil eines Langvokals oder Diphthongs, der Silbenschlusslaut n und der Stopflaut durch eigene Kana wiedergegeben werden. Ein Kana-Zeichen entspricht damit genau einer More. Durch den buddhistischen Mönch Kūkai kam es in Japan zu den benötigten Veränderungen, welche die Entwicklung der Kana, also der Silbenschrift, einleiteten. Kūkai war einer der bedeutendsten religiösen Lehrmeister. Er wird auch heute noch von den Japanern verehrt, denn er hatte nicht nur einen großen religiösen Einfluss auf die Entwicklung Japans, sondern war darüber hinaus noch ein begabter Dichter und einer der ersten Sprachwissenschaftler Japans. Japan hat seine eigene Schrift Kūkai zu verdanken. Kūkai ließ sich 804 von zwei indischen Meistern in Sanskrit unterrichten, um die Sutren, die in Japan bis heute vor allem in der chinesischen Übersetzung studiert werden, in der Originalsprache lesen zu können. Während dieser Zeit erlernte er auch die Siddham-Schrift, in der die Sutren geschrieben worden sind. Nach seiner Rückkehr nach Japan begann er damit, die Sanskrit-Texte so genau wie möglich ins Japanische zu übertragen. Die Aussprache der Sutren kann jedoch durch die chinesische Umschrift nur sehr ungenau wiedergegeben werden; die japanischen Silben sind für eine exaktere Aussprache eher geeignet, da das Japanische durch viele mehrsilbige Wörter eine größere Silbenvielfalt aufweist. In seiner Shingon-Schule, einer der bedeutendsten buddhistischen Strömungen in Japan, vermittelte er sein Wissen über die Sanskrit-Texte mit Hilfe der Lautzeichen. Nach seinem Tod 835 wurde seine Lehre fortgeführt. Infolgedessen kam es dazu, dass die Lautzeichen zunehmend häufiger beim Schreiben verwendet wurden. Üblich wurde das Schreiben in der Lautschrift um 900, begünstigt durch japanische Dichter, die ihre Werke mit Lautzeichen niederschrieben. Dies sorgte wiederum dafür, dass sich die japanische Literatur von der chinesischen zu lösen begann. In dieser Zeit kam es auch zur Vereinfachung der Man’yōgana, die bis dahin immer noch die Form der komplexen chinesischen Zeichen hatten. Die Schriftzeichen wurden verkürzt und abgeschliffen. Da sich für jede More des Japanischen ein bestimmtes Zeichen durchgesetzt hatte, kam es Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts dazu, dass die Morenzeichen durch Mönche in einem Alphabet angeordnet wurden. Diese Fünfzig-Laute-Tafel ist heute noch üblich. Im 12. Jahrhundert wurden die chinesischen Zeichen und die Silbenzeichen miteinander verknüpft, so dass sie sich gegenseitig ergänzten und den grammatischen Bedingungen der Sprache entsprachen. Das japanische Schriftsystem in seiner heute üblichen Form entstand. Für den Wortstamm der Substantive, Verben und Adjektive werden die Kanji verwendet, die grammatikalische Form der Worte wird durch das Anhängen von japanischen Lautzeichen verdeutlicht. Die entstandenen Silbenschriften werden unter dem Begriff Kana zusammengefasst und lassen sich aufgrund von gewissen Unterschieden im Schriftbild sowie in der Entstehung und Verwendung in die so genannten Hiragana und Katakana einteilen. Der ISO-15924-Code für die zusammengefassten Kana lautet Hrkt, während Kana der Code für die Katakana und Hira jener für die Hiragana ist. Siehe auch: Ableitungstafel der Kana-Zeichen Hiragana Hiragana ( oder auch ) wurden im 9. Jahrhundert entwickelt und zuerst vor allem von adeligen Frauen verwendet, da für Frauen sowohl das Studium der chinesischen Sprache als auch das Erlernen der Kanji als unangemessen galt. Bei Hiragana handelt es sich um abgeschliffene Kursivformen der oben beschriebenen Man’yōgana, daher wirken sie relativ einfach geformt und abgerundet. Im Laufe der Jahre setzte sich jeweils ein einziges Zeichen für jede mögliche japanische Silbe durch. Dieses wurde in ein Alphabet eingeordnet, das man nach dem Vorbild der Siddham-Schrift des damaligen Sanskrit systematisch aufbaute, der einzigen alphabetischen Schrift, die durch den Buddhismus in Japan einigen Gelehrten bekannt war. Dieses Alphabet, die Fünfzig-Laute-Tafel, dient auch heute noch in Japan zur alphabetischen Anordnung, etwa in Wörterbüchern; in Kanji oder Katakana geschriebene Wörter werden dabei entsprechend ihrer Hiragana-Umschrift eingeordnet. Daneben gab es historisch weiterhin Schreibvarianten der Hiragana, die als Hentaigana (abweichende Kana) bezeichnet werden. Japanische Kinder lesen und schreiben alles zuerst in Hiragana, die schon in der Vorschule gelernt werden, bevor sie ab der ersten Schulklasse allmählich und schrittweise zum Lernen der Kanji übergehen (Beispiel: bedeutet Hiragana in Hiragana geschrieben und bedeutet Hiragana in Kanji geschrieben). Bei Texten für Erwachsene werden Hiragana vor allem für Prä- und Suffixe, für grammatikalische Partikeln (Okurigana) und für solche japanischen Wörter verwendet, für die es kein Kanji gibt oder für die das Kanji so selten ist, dass man es mit Rücksicht auf die Leser nicht benutzen möchte. Auch in Privatbriefen werden viele Hiragana verwendet, da es gegenüber dem Empfänger als unhöflich gilt, diesen durch die eigene Bildung beeindrucken zu wollen. Bei Verwendung von wenig bekannten oder noch nicht gelernten Kanji (z. B. in Schulbüchern) sowie irregulärer Aussprache wird die korrekte Aussprache in Form von kleinen Hiragana über (bei senkrechter Schreibweise rechts neben) das entsprechende Zeichen geschrieben. Solche Hiragana werden als Furigana () bezeichnet. Katakana Katakana ( oder auch ) wurden von buddhistischen Mönchen, besonders der Shingon-Sekte, entwickelt und dienten zunächst als Lesehilfe für chinesische religiöse Texte sowie als eine Art Stenografie, die zum Mitschreiben bei religiösen Lehrvorträgen verwendet wurde. Sie sind zumeist aus Einzelelementen komplizierter Kanji entstanden und fallen als besonders einfach geformt und eckig auf. Aufgrund ihres futuristischen Aussehens werden sie außerhalb Japans manchmal für Design-Effekte oder sogar für Science-Fiction-Filme verwendet (z. B. bestehen die grünen Zeichenkaskaden, die in den Filmen der Matrix-Trilogie über den Bildschirm laufen, neben Ziffern auch aus spiegelverkehrten Katakana). Heute dienen Katakana vor allem der Hervorhebung, ähnlich den Kursivbuchstaben im Deutschen. Werbung, Manga und Konsumgüterbeschriftungen benutzen entsprechend viele Katakana. Sie werden auch für Lehnwörter und Namen aus anderen Sprachen verwendet, für die es keine chinesischen Schriftzeichen gibt. Auch Künstler- und Ortsnamen aus dem Koreanischen und Chinesischen werden in den letzten Jahren überwiegend mit Katakana dargestellt, um bei der Aussprache dem Original zu folgen. Für meist im Schriftgebrauch bedeutende Personen des politischen Lebens und der Geschichte bleibt die Übernahme der chinesischen (Kanji) Schriftzeichen üblich – beispielsweise wird Máo Zédōng () in Japan als „Mō Takutō“ () bezeichnet, entsprechend der japanischen Aussprache der Kanji seines Namens. Hier der Name „Máo Zédōng“ der originalen hochchinesischen Aussprache folgend in – Katakana , Hiragana , nach Shinjitai–Kanji , jeweils mao-tsō-ton. Bei Verwendung von Katakana wird dagegen das fremdsprachige Wort nicht anhand der originalen Orthografie, sondern allein der Aussprache nach umgesetzt, sodass beispielsweise aus Toys “R” Us in Katakana (to-i-za-ra-su, toi-za-rasu) wird. Auch wissenschaftliche Namen von Tieren und Pflanzen werden mit Katakana geschrieben, wobei es in den letzten Jahren einen gewissen Trend zurück zur Kanji-Schreibweise gibt. In der Sprachlehre geben Katakana die On-Lesung eines Kanji an. Siehe auch: Gairaigo – jap. Transliteration bzw. Lehnwörter aus dem Ausland Rōmaji Bei den Rōmaji (, römische (=lateinische) Zeichen) handelt es sich um das lateinische Alphabet. Die lateinischen Schriftzeichen kamen hauptsächlich durch portugiesische Jesuiten-Missionare nach Japan, die bereits kurz nach der Landung der ersten Europäer im Jahr 1544 in das Land reisten, um ihren Glauben zu verbreiten. 1590 wurde die erste Druckpresse von Portugal nach Japan gebracht. Diese und weitere eingeführte Pressen brachten zwanzig Jahre lang die kirishitanban (Christen-Drucke) hervor, die in Latein, Portugiesisch oder romanisiertem Japanisch verfasst waren. Danach verschwanden die Rōmaji aufgrund der Abschließung Japans fast vollständig aus Japan und gewannen erst wieder nach der Öffnung des Landes an Bedeutung. Der US-amerikanische Arzt und Missionar James Curtis Hepburn verfasste 1867 das erste Japanisch-Englische Wörterbuch, das waei gorin shūsei (), und entwickelte dafür ein lateinisches Transkriptionssystem, das nach ihm benannte Hepburn-System. Rōmaji werden heute zu Marketing-Zwecken benutzt, weil in Rōmaji geschriebenes Japanisch besonders modern und international wirken soll, und zur Umschrift von japanischen Schildern verwendet, damit sich Ausländer besser zurechtfinden. Da alle Schüler in Japan auch Englisch lernen, lernen so auch alle Rōmaji. Es gibt drei anerkannte Transkriptionssysteme von japanischen Schriftsätzen nach Rōmaji: Neben dem in der Praxis meistverwendeten Hepburn-System gibt es noch das Nippon-System sowie das Kunrei-System. Das Nippon-System ist eine modifizierte Form des Hepburn-Systems und nach ISO 3602 Strict standardisiert. Das Kunrei-System ist wiederum eine modifizierte Form des Nippon-Systems und nach ISO 3602 standardisiert. Daneben gibt es noch einige andere Transkriptionssysteme, die geringere Bedeutung haben, z. B. JSL. Da sich diese in der Regel von einem der anerkannten Systeme ableiten, können sie ohne große Probleme von Kundigen eines anderen Systems gelesen werden. Vokale mit Dehnungszeichen (ā, ī, ū, ē, ō) sind erst seit der Verbreitung von Unicode problemlos an Rechnern darstellbar. In den meisten davor verwendeten Zeichensätzen wie ISO 8859-1 waren sie nicht enthalten. Ebenso unterstützen die meisten Computersysteme keine native Eingabe dieser Zeichen, weshalb sie im nichtprofessionellen Bereich praktisch nicht verwendet werden. Im Internet hat sich daher eine Schreibweise etabliert, die zwar auf Hepburn basiert, anstatt der Vokale mit Dehnungszeichen aber konsequent Vokalverdopplung nutzt. Hierdurch bleibt phonetisch eine eindeutige Zuordnung der Worte möglich, die beim reinen Weglassen der Dehnungszeichen nicht mehr gegeben wäre. Rōmaji sind für die Japaner mittlerweile zur Standardmethode für Computer-Eingaben geworden, da in Japan fast alle Computer englische Tastaturen haben. Um auf einem japanischen Computer japanisch zu schreiben, buchstabiert man die einzelnen Silben gewöhnlich in Rōmaji, die auf dem Bildschirm zunächst als Kana erscheinen. Diese Romanisierung wird als wāpuro rōmaji (von engl. word processor) bezeichnet. Dabei werden im Wesentlichen sowohl Hepburn- als auch Kunrei- und Nippon-Romanisierungen akzeptiert. Besonderheiten dieses Systems sind, dass lange Vokale gemäß ihrer Kana-Schreibweise mit zwei Vokalzeichen eingegeben werden und dass kleine Kana durch ein vorangestelltes x eingegeben werden können. Für die eingegebenen Silben bietet der Computer eine Liste mit möglichen Kanji bzw. Kanji-Kombinationen an, aus der man den richtigen Begriff auswählen kann. Nach der Bestätigung werden die Silben durch den ausgewählten Begriff ersetzt. Fünfzig-Laute-Tafel Die alphabetische Reihenfolge der Silben, wie sie etwa in japanischen Telefonbüchern oder Lexika benutzt wird, folgt den Zeilen der „50-Laute-Tafel“, die auf Japanisch gojūon genannt wird und die ihrerseits auf die Anordnung der Laute im Sanskrit und der Brahmi-Schrift zurückgeht. Es gibt sowohl bei Hiragana als auch bei Katakana nicht genau 50, sondern je 46 Grund-Kana (gerade Laute). Bis 1945 waren es je 48; da ein anlautendes w- außer in der Silbe wa nicht mehr artikuliert wurde, wurden die Zeichen für wi und we ( und bzw. und ) abgeschafft und durch die Vokale i und e ( und bzw. und ) ersetzt. Einzig das wo ( bzw. ) blieb trotz gleicher Aussprache wie der Vokal o erhalten, allerdings nur in seiner Funktion als Partikel für das Akkusativobjekt, da es hier einen wertvollen Dienst zum schnellen Erfassen der Satzgliederung leistet; da diese Partikel immer in Hiragana () geschrieben wird, ist das Katakana-wo () in der Praxis ebenfalls abgeschafft, es erscheint praktisch nur noch in Katakana-Tabellen. Alle anderen Verwendungen von wo wurden durch o ersetzt. Die seit 1945 nicht mehr üblichen Zeichen sind in der folgenden Tabelle in runde Klammern gesetzt. Die eingeklammerten (w) zeigen an, dass dort früher ein (englisches) w gesprochen wurde, im heutigen Japanisch aber nicht mehr. Diakritika Etwa seit 1945 werden zwei Akzentzeichen und kleinere angehängte Vokalbuchstaben systematisch verwendet, vorher nur in Zweifelsfällen und nach Laune des Schreibers. Bei alphabetischer Anordnung werden sie den entsprechenden unakzentuierten Zeichen beigeordnet. Stimmhaftigkeit – Trübung Einige Kana können durch Hinzufügen zweier kleiner Striche () – dakuten oder nigori , ugs. ten ten – oder eines kleinen Kreises () – handakuten oder maru – in der Aussprache verändert werden, um weitere Silben zu erhalten. Dakuten (Nigori) macht den Laut stimmhaft oder „getrübt“. Handakuten (Maru) verwandelt h (f) in p und wird daher nur mit Zeichen aus der h-Reihe verwendet. So wird mittels Dakuten aus k→g, s (ts)→z ¹, t → d, h (f)→b und ch (sh)→j. Mit Handakuten (Maru) wird dagegen in der h-Reihe aus h (f) ein p. Beispiele Mittels Dakuten (Nigori) von k → g – Beispiel: = = ka → = = ga, beispielsweise in „hiragana“ – – () Mittels Dakuten (Nigori) von h (f) → b – Beispiel: = = hu (fu) → = = bu, beispielsweise in „konbu“ – – () Mittels Dakuten (Nigori) von h (f) → b – Beispiel: = = ho → = = bo, beispielsweise in „sanbo“ – – () Mittels Handakuten (Maru) von h (f) → p – Beispiel: = = hu (fu) → = = pu, beispielsweise in „onpu“ – – () Mittels Handakuten (Maru) von h (f) → p – Beispiel: = = ho → = = po, beispielsweise in „ho ippo“ – – () Mittels Dakuten (Nigori) von s (ts) → z ¹– Beispiel: = = su → = = zu, beispielsweise in „suzume“ – – () Mittels Dakuten (Nigori) von t → d – Beispiel: = = ta → = = da, beispielsweise in „haneda“ – – () Mittels Dakuten (Nigori) von ch (sh) → j – Beispiel: = = si (shi) → = = ji (di, zi), beispielsweise in „kyūji“ – – () Anmerkung ¹ S – wie das s in Ast und Z – wie das s in Saft gesprochen Palatalisierung – Brechung (Ligatur) Bei den palatalen oder so genannten gebrochenen Lauten (Digraphen oder yō·on) – sie kommen bei der Wiedergabe chinesischer Lehnwörter vor – folgt auf eine auf i auslautende Silbe (i·kō, zweite Spalte) eine (verkleinerte) mit y beginnende (ya·dan, achte Zeile). Zusammen bilden sie eine gemeinsame Silbe, so dass entweder nur ein einziger j-Laut gesprochen wird oder dieser ganz entfällt: aus pi und kleinem yu ( / ) wird pyu, ein s(h)i gefolgt von kleinem yo ( / ) würde ein Deutscher „scho“ schreiben. Katakana bietet darüber hinaus weitere Möglichkeiten für Fremdwörter, im Japanischen nicht vorkommende Silben abzubilden, indem auch Silben auf andere Vokale mit kleinen Versionen der Vokale (, , , , ) kombiniert werden. Die 1945 weggefallenen (wi) und (we) können so bspw. durch (u) plus Vokal ersetzt werden ( und ), wenn die Laute in einer anderen Sprache vorkommen; außerdem wird bei im Gegensatz zu das w ausgesprochen. Mit Nigori wird aus dem Vokal endgültig eine Konsonantensilbe: = vu (dt. wu), die wiederum mit den anderen Vokalen kombiniert werden kann, z. B. = vi. Aus su und zu (, ) plus i wird si und zi. Sche/she/še, –/je/že und tsche/che/če werden aus den Silben auf i ( = s(h)i, = z(h)i/ji, = ti/chi) mit kleinem e () gebildet. Bei t und d werden einerseits die Silben auf e (, ) mit kleinem i zu ti bzw. di verbunden, andererseits die auf o (, ) mit kleinem u () zu tu und du. Die Silben (tsu, dt. zu) und (fu/hu) können schließlich mit a, i, e und o kombiniert werden, so dass das u wegfällt. Letztere kann außerdem auch vom kleinen yu gefolgt werden: (fyu). Iroha-jun Neben der Fünfzig-Laute-Tafel wird zur Festlegung einer Reihenfolge gelegentlich noch die iroha-jun () verwendet. Sie ist ein aus der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts stammendes „Alphabet“ in Form eines Liedes, in dem jede mögliche Silbe genau einmal vorkommt (): Die angegebenen Katakana geben dabei die damalige Originalaussprache wieder, im heutigen Japanisch klingen einige der Wörter etwas anders. Das Zeichen fehlt, da es erst vor relativ kurzer Zeit als eigenständiges Zeichen eingeführt wurde; früher schrieb man für ein gesprochenes n als Behelf , was auch in diesem Gedicht der Fall ist. Dafür finden sich aber die beiden nach 1945 abgeschafften Zeichen und . Reformgedanken Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die japanische Schrift zu dem wohl kompliziertesten Schriftsystem der Welt entwickelt. Viele Kanji können mehr als fünf verschiedene, selten bis zu fast einem Dutzend unterschiedliche Lesungen haben. Zudem kann ein gesprochenes Wort, ohne dass es hierfür allgemeine Regeln gäbe, sowohl mit verschiedenen Kanji als auch mit verschiedenen Okurigana-Varianten (Kana für die „Endungen“ eines Wortes) geschrieben werden. Schließlich gibt es noch Wörter, die rebusartig aus verschiedenen Kanji zusammengesetzt werden können: Zum Beispiel wurde das aus dem Portugiesischen übernommene Wort tabako (Zigarette, Tabak) mit den Kanji für Rauch und Gras wiedergegeben, aber nicht so ausgesprochen, wie diese Kanji normalerweise gelesen werden. Diese Entwicklung erreichte in der Meiji-Zeit ihren Höhepunkt, wobei es damals verbreiteter war als heutzutage, den Kanji Furigana (kleine Kana neben oder über den Kanji zur Ausspracheanleitung) beizufügen, um die Schrift lesbar zu halten. Seit der Meiji-Ära hat es in Japan daher mehrmals Überlegungen gegeben, die japanische Schrift radikal zu reformieren. Die Vorschläge reichen von einer Beschränkung auf die Silbenschriften (wie z. B. im Koreanischen) mit weitgehendem Verzicht auf Kanji bis zu einer vollständigen Umstellung auf die lateinische Schrift (ähnlich wie es z. B. im Türkischen geschehen ist). Dies scheiterte bisher an zahlreichen Faktoren: Japan hat seit mehreren Jahrhunderten eine weitreichende Alphabetisierung, weshalb die japanische Schrift tief in der Kultur verwurzelt ist. Japan war im 19. Jahrhundert sogar eine Zeit lang das am stärksten alphabetisierte Land der Welt. Die großen Bibliotheken und die jahrtausendealte umfangreiche Schriftkultur wären nur noch wenigen Gelehrten zugänglich und/oder müssten alle in ein neues System übertragen werden. Denn bei einem Wechsel bestünde die Gefahr, dass nachfolgende Generationen das alte Schriftsystem nicht mehr lesen können. Beim Schreiben beispielsweise nur mit Kana würde ein Text länger werden. Die japanische Sprache hat, vor allem bei den aus dem Chinesischen übernommenen Wörtern, ungewöhnlich viele Homonyme, die sich in Lateinschrift oder in Kana nicht mehr unterscheiden lassen würden. Die japanische Sprache ist mit nur etwas mehr als 100 verschiedenen möglichen Silben relativ „arm“ an Lauten – im Gegensatz z. B. zum Chinesischen, das etwa 400 verschiedene Silben kennt. Oft ist deswegen im Japanischen der Kontext eines Wortes wichtig, um dessen Bedeutung zu bestimmen. Auch manche Eigenheiten der japanischen Kultur würden so verloren gehen. So gibt es etwa für viele Vornamen mehrere verschiedene Schreibweisen, aus denen die Eltern meist nach ästhetischen Überlegungen eine auswählen: Beispielsweise kann der japanische Vorname Akira in Hiragana als , in Katakana als und in Kanji u. a. als , , , , , , , , , , oder geschrieben werden. Dieser Name ist zwar ein Extrembeispiel, aber die meisten Namen haben zumindest zwei oder drei verschiedene Schreibweisen. (Vergleiche z. B. im Deutschen die verschiedenen Schreibweisen von Philipp oder Meier.) Im Jahr 1946 wurden im Zuge einer Schriftreform die Anzahl der Kanji („Kanji für den täglichen Gebrauch“, ) auf 1850 reduziert (1981 kamen 95 wieder hinzu als Jōyō-Kanji, ), die Schreibweise vieler Kanji vereinfacht, die Zahl der Lesungen eines Kanji deutlich verringert und neue Regeln für die Verwendung von Hiragana, Katakana, Okurigana und Furigana aufgestellt. Seit 2010 gilt eine neue Jōyō-Kanji-Liste mit 2136 Zeichen, bei der 196 Kanji hinzugefügt und fünf aus der alten Liste entfernt wurden. Zum Lernaufwand im Schulunterricht siehe Schule in Japan. Siehe auch Jindai Moji japanische Brailleschrift Kumihan Quellen Literatur Weblinks Allgemein: Japanisch lernen. – auf nihongo4u.de Japanese Phonetic Database. – Allgemeine Information zur Umschrift – auf cjk.org (englisch) Reading Japanese Signs. – die Schrift in der freien Wildbahn – auf manythings.org (englisch) (englisch) – übersetzt japanische Webseiten und Texte zum besseren Verständnis und Lesen in drei verschiedene Formate: Furigana, Kana oder Romaji Kotobank. – Online-Lexikon – auf kotobank.jp (japanisch) Linksammlung und Onlineressourcen der Fakultät für Ostasienwissenschaften. von der Ruhr-Universität Bochum Helferlein: Japanisch-Umschriftkonverter. – Kana in Romaji, IPA, X-SAMPA auf shioya.fr (englisch) Japanisch-Umschriftkonverter. – Kanji in Kana, Romaji, IPA auf easypronunciation.com (englisch) Materialien für Lehrende und Lernende: Henrik Theilings Schriftenlehrer: Hiragana und Katakana online lernen bei theiling.de Thomas J. Golniks Japan-Seiten: Materialien für Lehrende und Lernende bei thomas-golnik.de Benri Nihongo – Kana – Ein Ausübungsbuch (PDF) (1,87 MB) bei brng.jp (chinesisch, englisch, japanisch) EMBJAPAN – bei embjapan.de Wörterbücher: Wadoku: freies japanisch-deutsches Wörterbuch mit mehr als 230.000 geprüften Einträgen, wadoku.de Hans-Jörg Bibiko (basiert auf Daten von Wolfgang Hadamitzky): Japanisch-Deutsches Kanji-Lexikon, lingweb.eva.mpg.de Jim Breens WWWJDIC: Online Japanese Dictionary Service, edrdg.org (englisch, japanisch) Kim, Miwa und Andrew: Online Japanese Dictionary Service, jisho.org (englisch, japanisch) Gregory Bober und Archie Preston: Online Japanese Dictionary Service, tangorin.com (englisch, japanisch) Computerprogramme: , spezielle Textverarbeitung für Japanisch als Fremdsprache, inkl. Wörterbücher (freie Software, GPL, für Windows) (auch für Mac OS X) Moji ist eine Erweiterung für Mozilla Firefox, mit der man Wörter und Kanji nachschlagen kann. Wörterbücher sind u. a. für Deutsch und Englisch verfügbar (freie Software, GPL, englisch). – Wörterbuch Kanji-Deutsch, Deutsch-Kanji mit Übersetzungs- und TTS-Modul („Text To Speech“) Kanji Gold (Freeware) zum Erlernen der Kanji (für Windows, englisch) Kanji-Trainer – kostenloses Online-Programm zum Kanji-Lernen mit Handschrifterkennung und Merksätzen zu jedem Zeichen – Freeware (für Java-Plattform) zum Üben von Bedeutung und Schreibweise der Kanji nach dem Heisig-System, s. o. Heisig/Rauther: Kanji lernen und behalten
19200
https://de.wikipedia.org/wiki/Organell
Organell
Ein Organell (Diminutiv zu Organ, also „Orgänchen“) ist ein strukturell abgrenzbarer Bereich einer Zelle mit einer besonderen Funktion. Die Definition ist uneinheitlich: Manche Autoren bezeichnen nur Strukturen mit Membran als Organellen, also beispielsweise Zellkern, Mitochondrien, Plastiden (mit Chloroplasten), den Golgi-Apparat und das Endoplasmatische Retikulum. Andere fassen den Begriff weiter und schließen auch andere Strukturen ein, beispielsweise Centriolen. Bei Einzellern wird „Organell“ in diesem Sinn als Bezeichnung für komplexe Strukturen wie Geißel und Augenfleck verwendet. Einzellige Lebewesen ohne Zellkern (Prokaryoten) haben in der Regel keine Membranen im Inneren der Zelle und demnach auch keine Organellen nach der ersten Definition. Es gibt jedoch prokaryotische Strukturen, die als Organellen im weiteren Sinn aufgefasst werden können, beispielsweise Geißeln. Zum Auffinden weiterer zellulärer Strukturen (wie Organellen) kommen heute auch KI-gestützte Methoden zum Einsatz. Man schätzt, dass derzeit nicht einmal die Hälfte aller solcher Strukturen bekannt ist (Stand November 2021). Begriffsgeschichte und Definitionen Als Organ wird in der Biologie eine abgegrenzte Funktionseinheit innerhalb eines Lebewesens bezeichnet. Die Analogie zu den mikroskopischen Strukturen innerhalb einer Zelle ist für Autoren entsprechender Lehrbücher anscheinend so offensichtlich, dass sie nicht näher erläutert wird. Der erste, der für entsprechende zelluläre Strukturen eine Verkleinerungsform des Wortes ‚Organ‘ benutzte, war vermutlich der deutsche Zoologe Karl August Möbius (1884): Organulum (Plural: Organula) ist die Verkleinerungsform zum lateinischen Organum. In einer Fußnote, die als Berichtigung in der folgenden Ausgabe der Zeitschrift erschien, erklärte Möbius: „Die Organe der Heteroplastiden [= Mehrzeller] bestehen aus vereinigten Zellen. Da die Organe der Monoplastiden [= Einzeller] nur verschieden ausgebildete Teile Zelle sind schlage ich vor, sie ‚Organula‘ zu nennen“. [die geklammerten Erklärungen kommen im Originaltext nicht vor]. Die ursprünglichste Definition des Begriffs beschränkte sich demnach ausschließlich auf Zellbestandteile von Einzellern. Einige etwas später erschienene Arbeiten nennen Möbius namentlich als Urheber. Es dauerte noch etliche Jahre, bis die Bezeichnung Organulum oder die neuere Entsprechung Organell sich generell durchsetzten und in einer erweiterten Bedeutung damit auch Bestandteile von Zellen mehrzelliger Organismen bezeichnet wurden. Bücher und Lehrbücher um 1900, von Valentin Häcker, Edmund Wilson und Oscar Hertwig, sprachen noch von den Organen der Zelle. Später wurden beide Bezeichnungen wohl eine Zeit lang nebeneinander verwendet: Bengt Lidforss schrieb 1915: „Eine Neubildung dieser Organe oder Organellen findet wenigstens bei höheren Pflanzen nicht statt“. Gegen 1920 wurde der Ausdruck Organell benutzt für die Antriebsstrukturen („motor organelle complex“, Flagellen und deren Verankerung) und andere Strukturen von Einzellern. Alfred Kühn schrieb 1920 von den Centriolen als Teilungsorganellen, für welche allerdings bei den Vahlkampfien gelte, dass „die Alternative: Organell oder Produkt der Strukturbildung“ noch nicht entschieden sei – ohne aber darauf einzugehen, worin der Unterschied zwischen beiden Alternativen läge. Max Hartmann benutzte den Ausdruck 1953 in einem Lehrbuch für extrazelluläre (Pellicula, Schalen, Zellwände) und intrazelluläre Skelette der Einzeller. Erst später bildete sich die heute weit verbreitete Definition heraus, nach der nur von einer Membran umgebene Zellbestandteile als Organellen angesehen werden. Manchmal wird dies noch weiter eingeschränkt und nur Mitochondrien und Plastiden, die ein eigenes Genom haben, werden als Organellen bezeichnet. Aber auch die ursprünglichere Definition der subzellulären Funktionseinheiten im Allgemeinen ist weiterhin in Benutzung. Der Ursprung der Bezeichnung Organell im deutschen Sprachraum scheint vergessen worden zu sein. Albert Frey-Wyssling schrieb 1978 vom „englischen Terminus ‚the organelle‘“, der häufig falsch mit ‚die Organelle‘ statt mit ‚das Organell‘ übersetzt würde. Frey-Wyssling schlug vor, dass sämtliche Energie verbrauchenden Strukturelemente der Zelle und nur diese als Organellen bezeichnet werden sollten, also beispielsweise auch Centrosomen, Ribosomen und Nucleoli. Diese Energie-abhängige Definition hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Im Gegensatz zur Bezeichnung Organell, welche sich immer auf ein einzelnes Objekt bezieht (etwa ein Mitochondrium), wird die Bezeichnung Kompartiment für die Summe aller gleichartigen zellulären Räume verwendet. Eine Zelle kann demnach viele Mitochondrien haben, aber nur ein mitochondriales Kompartiment. Auch das Cytoplasma ist ein Kompartiment, aber kein Organell. Membranbegrenzte Organellen Mitochondrien, der Zellkern und Plastiden (Chloroplasten und deren Verwandte) sind von einer doppelten Membran umgeben. Andere membranbegrenzte Organellen haben eine einfache Membran. Hierzu zählen die Komponenten des Endomembransystems und bei Pflanzen die Zellsaftvakuole. Daneben gibt es einige spezielle membranbegrenzte Organellen, die nur in bestimmten Zelltypen oder bestimmten eukaryotischen Artengruppen, meist Einzellern, auftreten. Semiautonome Organellen Die bei fast allen Eukaryoten vorkommenden Mitochondrien und die für Algen und höhere Pflanzen spezifischen Plastiden haben ein eigenes Genom (Mitogenom bzw. Plastom) und eine eigene Maschinerie zur Proteinbiosynthese (Mitoribosomen bzw. Plastoribosomen). Sie werden daher als ‚semiautonome Organellen‘ bezeichnet. Nach der Endosymbiontentheorie handelt es sich bei ihnen stammesgeschichtlich gesehen um Abkömmlinge von Bakterien, die von frühen eukaryotischen Zellen aufgenommen wurden. Diese Bakterien wurden im Lauf der Evolution in die Zelle integriert. Durch die Anwesenheit der Mitochondrien-Vorläufer (von α-Proteobakterien abstammend) war es der frühen eukaryotischen, zuvor anaeroben, Zelle erstmals möglich, die sehr viel effektivere sauerstoffabhängige Energiegewinnung zu nutzen. Durch die Aufnahme von Cyanobakterien, die sich zu den Plastiden entwickelten, war die Nutzung des Sonnenlichts zur Energiegewinnung möglich: Es entstanden eukaryotische Algen und damit die Vorläufer aller Pflanzen. Semiautonome Organellen haben eine Doppelmembran: Die äußere wird von der Wirtszelle gebildet, ist also eukaryotischen Ursprungs. Sie leitet sich ab von der bei der Aufnahme der Organell-Vorgänger abgeschnürten Plasmamembran. Die innere Membran ist prokaryotischen Ursprungs. Hierbei handelt es sich um die modifizierte Plasmamembran des Symbionten. Sie stellt eine Diffusions­barriere für den Austausch von Molekülen und Elektronen dar. Überflüssige Strukturen der Bakterienzellen gingen verloren, die meisten Gene wurden in den Zellkern der Wirtszelle transferiert oder gingen ebenfalls verloren. Einige Gene wurden aber auch zum Genom der Organellen zugefügt, z. B. Gene für den Austausch von Proteinen und Aminosäuren mit der Wirtszelle. Übrig blieben die heute noch vorhandenen Reste des aus einem ringförmigen DNA-Molekül bestehenden prokaryotischen Genoms und Strukturen, die für die Funktion der Organellen wichtig sind. Semiautonome Organellen vermehren sich eigenständig durch Teilung. Bei der Teilung der Wirtszelle werden sie auf die Tochterzellen aufgeteilt. Ebenfalls semiautonome komplexe Plastiden entstehen durch Aufnahme einer Algenzelle, deren Plastiden eine verschachtelte Struktur wie eine Matrjoschka-Puppe mit insgesamt 3 oder 4 Membranen zeigen, außen mit einer oder zwei eukaryotischen Membranen. Andere häufige membranbegrenzte Organellen Neben den semiautonomen Organellen hat nur der Zellkern eine doppelte Membran, die Kernhülle. Die in diesem Abschnitt beschriebenen Organellen kommen in der Regel in allen Zellen eines Organismus vor. Hierzu gehören bei Pflanzen die Zellsaftvakuole und bei allen Eukaryoten verschiedene Komponenten des Endomembransystems: das Endoplasmatische Retikulum (ER), der Golgi-Apparat, Lysosomen und Peroxisomen. Eine Kurzbeschreibung dieser Organellen findet sich im Artikel Zelle an dieser Stelle.Transport-Vesikel, die für Stoffaustausch zwischen den anderen Komponenten sorgen, gehören ebenfalls zum Endomembransystem. Deren Einschluss in die Definition eines Organells ist uneinheitlich: Manchmal werden einzelne Vesikel als Organellen bezeichnet, manchmal nicht. Tierische Zellen Pflanzliche Zellen In Pflanzenzellen fehlen Endosomen. Dafür haben sie Plastiden und eine Zellsaftvakuole. Eine Pflanzenzelle hat mindestens einen der Plastidtypen Chloroplast, Chromoplast und Leukoplast. Während der Differenzierung kann sich ein Plastidtyp in einen anderen umwandeln. Plastiden enthalten mit eigener DNA auch eigene Ribosomen (Plastoribosomen). Spezielle membranbegrenzte Organellen Zelltyp-spezifische Organellen von Mehrzellern Die hier gelisteten Organellen kommen nur in einigen Zelltypen von bestimmten mehrzelligen Lebewesen vor, in anderen Zelltypen derselben Lebewesen aber nicht. Taxonspezifische Organellen Hier sind Organellen aufgeführt, die in eukaryotischen Einzellern oder bei bestimmten mehrzelligen Arten in allen Zellen auftreten. Komplexe Plastiden wie die Apicoplasten können eigene Organellen besitzen (Nucleomorph, ein reduzierter Zellkern) und verschiedene Arten von Ribosomen. Die Plastiden der Rotalgen werden auch als Rhodoplasten, die der Glaucophyten und der photosynthetisch aktiven Arten von Paulinella (wegen ihrer Ursprünglichkeit) als Cyanellen (cyanobakterienartige Organellen) bezeichnet. Weitere komplexe Organellen sind die Augenflecken zumeist photosynthetisierender, begeißelter Protisten und vor allem die Ocelloide einzelliger Dinoflagellaten der Familie Warnowiaceae (Warnowiiden), die der Phototaxis dienen. Erworbene temporäre Organellen Werden semiautonome Organellen aus der Beute aufgenommen, so sind diese (per Definition) nicht auf Dauer funktionsfähig. Insbesondere sind sie in der Zelle bzw. den Zellen des Räubers nicht vermehrungsfähig und müssen daher – spätestens bei dessen Vermehrung – durch die Aufnahme (Phagocytose) weiterer Beute ersetzt werden. Handelt es sich bei den Organellen um Plastiden, spricht man von Kleptoplastidie. Bei Dinoflagellaten bleiben offenbar auch die Zellkerne der Beute eine Zeit lang funktionell (Karyokleptie). Beim Wimpertierchen Mesodinium rubrum wurde auch die Aufnahme von Beute-Mitochondrien beobachtet. Eukaryotische Organellen ohne Membran Eine neuere Definition setzt voraus, dass eine umgebende Membran vorhanden ist. Die ältere Bedeutung des Begriffs, die ebenfalls noch verwendet wird, kennt jedoch keine solche Voraussetzung. Nach dieser Bedeutung werden alle zellulären Strukturen, die als Organ-ähnlich angesehen werden, als Organell bezeichnet. Die Abgrenzung von derart definierten Organellen zu größeren Molekülkomplexen ist schwierig. Wenn beispielsweise Ribosomen als Organellen bezeichnet werden, warum dann nicht auch Spliceosomen oder die großen Enzym­komplexe der DNA-Replikation und Transkription? Dementsprechend ist die Zuordnung kleinerer Strukturen zu den Organellen nicht einheitlich. Bei einer Zuordnung von Ribosomen oder Nucleoli zu den Organellen würde sich ergeben, dass Organellen, und zwar Mitochondrien und Plastiden bzw. der Zellkern, selbst Organellen haben können. Der weitere Organell-Begriff erlaubt auch den Einschluss von extrazellulären Strukturen wie der pflanzlichen Zellwände oder Schalen von Einzellern. Eine der bekanntesten Formen der membranlosen Organellen ist das Zentrosom (auch Centrosom). Zentrosomen sind lichtmikroskopisch zu erkennen und wurden daher schon im 19. Jahrhundert entdeckt. Sie werden nicht neu gebildet, sondern entstehen durch Verdopplung und Teilung. Nach einer Zellteilung hat jede Zelle ein Zentrosom, welches sich während des Zellzyklus verdoppelt. 2006 erschien eine Arbeit, die nahelegt, dass Zentrosomen ein eigenes Genom haben. Dieses besteht nicht aus DNA, sondern aus RNA und codiert unter anderem für eine reverse Transkriptase. Sollten sich diese an der Muschel Spisula solidissima erhobenen Befunde bestätigen, müssen vielleicht auch Zentrosomen als semiautonome Organellen bezeichnet werden. Bei der großen Vielfalt von intra- und extrazellulären Strukturen, die als Organellen gelten könnten, gibt es unter diesen Strukturen keine allgemeingültigen strukturellen oder funktionellen Gemeinsamkeiten. Die folgende, unvollständige Tabelle gibt einige Beispiele an. Prokaryotische Organellen Nach herkömmlicher Ansicht haben Prokaryoten in der Regel in ihren Zellen keine durch Membranen abgegrenzte Bereiche und damit auch keine Organellen nach der engeren Definition. Fortschritte in der Bildgebungstechnik geben aber immer mehr Hinweise darauf, dass membranbegrenzte Organellen auch in Bakterienzellen eher die Regel und nicht die Ausnahme sind. Beispiele sind etwa Magnetosomen von magnetotaktischen Bakterien und Thylakoide der Cyanobakterien. Nach der weiter gefassten Definition des Organell-Begriffs können darüber hinaus zahlreiche weitere Strukturen so bezeichnet werden. Mesosomen, Einstülpungen der Plasmamembran von Bakterien, wurden dagegen eine Zeit lang für Organellen gehalten. Es stellte sich jedoch heraus, dass es sich um Artefakte handelte. Die folgende Tabelle listet eine Reihe dieser Organellen im engeren und in weiteren Sinn: Weblinks Elektronenmikroskopische Originalabbildungen von Zellorganellen Organellen der Zellen, kurze Beschreibung mit Zellphysiologie Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Obergermanisch-Raetischer%20Limes
Obergermanisch-Raetischer Limes
Der Obergermanisch-Raetische Limes (ORL) ist ein 550 Kilometer langer Abschnitt der ehemaligen Außengrenze des Römischen Reichs zwischen Rhein und Donau. Er erstreckt sich von Rheinbrohl bis zum Kastell Eining an der Donau. In nachantiker Zeit wurde der Limes vielerorts als Steinbruch genutzt und ist daher heute größtenteils nicht mehr sichtbar. Der Obergermanisch-Raetische Limes ist ein Bodendenkmal und seit 2005 Weltkulturerbe der UNESCO. Begriff Der lateinische Begriff Limes bedeutete ursprünglich Grenzweg bzw. Schneise. In Deutschland sind mit Limes in der Regel der Raetische Limes und der Obergermanische Limes gemeint, gemeinsam als Obergermanisch-Raetischer Limes bezeichnet. Die beiden Limesabschnitte sind nach den angrenzenden römischen Provinzen Raetia (Rätien) und Germania superior (Obergermanien) benannt. Die römischen Limites stellten in der Geschichte erstmals räumlich klar definierte und visuell im Gelände für Freund und Feind eindeutig erkennbare Außengrenzen eines Herrschaftsbereichs dar. Der Obergermanisch-Raetische Limes hält sich dabei wenig an Flüsse oder Gebirgszüge, die eine natürliche Abgrenzung des Gebietes darstellen könnten. Er umfasst die längste Landgrenze im europäischen Abschnitt des Limes, unterbrochen nur auf wenigen Kilometern durch eine Strecke, die zwischen Großkrotzenburg und Miltenberg dem Main folgt. Der Limes wird in Europa sonst weitgehend durch die Flüsse Rhein (Niedergermanischer Limes) und Donau (Donaulimes) gebildet. Funktion Die Funktion der römischen Militärgrenzen wird seit geraumer Zeit verstärkt diskutiert. Die neueste Forschung geht zumeist davon aus, dass zumindest der Obergermanisch-Raetische Limes entgegen älteren Vorstellungen nicht primär eine militärische Demarkations- und Defensivlinie war, sondern eher eine überwachte Wirtschaftsgrenze zum nichtrömischen Raum darstellte. Der Limes sollte die Macht des Imperiums demonstrieren, Schmuggel unterbinden und eine Überwachung des friedlichen Grenzverkehrs und die Erhebung von Zöllen und Steuern ermöglichen. Zur Abwehr größerer äußerer Angriffe war der Limes hingegen nicht geeignet, da die dort stationierten Truppen nicht für eine Verteidigung genügten. Das römische Imperium dehnte durch eine geschickte Wirtschaftspolitik seinen Einflussbereich weit nach Nordosten, über die Grenze hinaus, aus. Zeugnis davon geben die vielen Grenzübergänge, die zwar von römischen Soldaten kontrolliert wurden, aber dennoch einen regen wirtschaftlichen Austausch ermöglichten, und die zahlreichen römischen Funde auch im „freien Germanien“ (bis nach Jütland und Skandinavien). Auch versuchte man mitunter, jenseits des Limes ehemalige römische Legionäre anzusiedeln oder, sehr viel häufiger, Auxiliarsoldaten anzuwerben und Bündnisses zu schließen. Damit reichte die Romanisierung der Bevölkerung weit über den Limes hinaus. Forschungsgeschichte Das Interesse am Limes als Rest einer Anlage aus römischer Zeit wurde in Deutschland in der Zeit der Renaissance und des Humanismus wieder lebendig. Gefördert wurde dies durch die Wiederauffindung der Germania und der Annales des Tacitus in Klosterbibliotheken im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Gelehrte wie Simon Studion (1543–1605) erforschten Inschriften und entdeckten Kastelle, Studion leitete archäologische Ausgrabungen des Kastells Benningen an der Neckarlinie des Neckar-Odenwald-Limes. Regionale Limes-Kommissionen wurden gegründet, blieben aber aufgrund der politischen Gegebenheiten auf kleine Gebiete beschränkt, zum Beispiel im Großherzogtum Hessen oder im Großherzogtum Baden. Johann Alexander Döderlein berichtete als Erster vom Verlauf des Limes im Raum Eichstätt. Im Jahre 1723 deutete er die Bedeutung des Limes als Erster richtig und veröffentlichte 1731 eine erste wissenschaftliche Schrift darüber. Reichs-Limeskommission Erst nach der Reichsgründung konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Archäologen damit beginnen, den zuvor nur rudimentär bekannten Verlauf genauer aufzunehmen und erste systematische Ausgrabungen vorzunehmen. 1892 wurde zu diesem Zweck die Reichs-Limeskommission (RLK) unter der Leitung des Althistorikers Theodor Mommsen mit Sitz in Berlin gegründet. Die Arbeit dieser Kommission gilt als Pioniertat zur Aufarbeitung provinzialrömischer Geschichte. Besonders produktiv waren die ersten zehn Jahre der Forschung, in denen der Verlauf des Obergermanisch-Raetischen-Limes festgestellt und die Kastelle entlang der Grenze benannt wurden. Die Forschungsberichte über die Ausgrabungen erschienen von 1894 bis zur Auflösung der Kommission im Jahr 1937. Die einzelnen Lieferungen wurden unter dem Titel Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches (ORL) in fünfzehn Bänden zusammengefasst, von denen sich sieben mit der Strecke und acht mit den einzelnen Kastellen befassen. Die Unterlagen der Reichs-Limeskommission befinden sich heute in der Obhut der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts. Die RLK nummerierte neben den Strecken die Kastelle fortlaufend sowie die Wachtürme (Wp) der einzelnen Strecken. Streckenverlauf Im Verlauf dieser Arbeiten wurde der 550 Kilometer lange Verlauf des Limes vermessen, in Strecken eingeteilt und beschrieben. Diese Aufteilung folgte den im Deutschland des 19. Jahrhunderts vorhandenen Verwaltungsgrenzen, nicht antiken Vorgaben: Strecke 1: Rheinbrohl – Bad Ems Strecke 2: Bad Ems – Adolfseck bei Bad Schwalbach Strecke 3: Adolfseck bei Bad Schwalbach – Taunus – Köpperner Tal Strecke 4: Köpperner Tal – Wetterau – Marköbel (westlicher Wetterau-Limes) Strecke 5: Marköbel – Großkrotzenburg am Main (östlicher Wetterau-Limes) Strecke 6a: Hainstadt – Wörth am Main (ältere Mainlinie) Strecke 6b: Trennfurt – Miltenberg Strecke 7: Miltenberg – Walldürn – Buchen-Hettingen (Rehberg) Strecke 8: Buchen-Hettingen (Rehberg) – Osterburken – Jagsthausen (neuere Odenwaldlinie) Strecke 9: Jagsthausen – Öhringen – Mainhardt – Welzheim – Alfdorf-Pfahlbronn (Haghof) Strecke 10: Wörth am Main – Bad Wimpfen (ältere Odenwaldlinie/ Neckar-Odenwald-Limes) Strecke 11: Bad Wimpfen – Köngen (Neckarlinie) Strecke 12: Alfdorf-Pfahlbronn (Haghof) – Lorch – Rotenbachtal bei Schwäbisch Gmünd (Ende des obergermanischen Limes, Beginn des raetischen Limes) – Aalen – Stödtlen Strecke 13: Mönchsroth – Weiltingen-Ruffenhofen – Gunzenhausen Strecke 14: Gunzenhausen – Weißenburg – Kipfenberg Strecke 15: Kipfenberg – Kastell Eining Baugeschichte Historische Entwicklung Die Vorgeschichte des Limes geht bis in das Jahr 9 n. Chr. zurück, als die Römer unter ihrem Feldherrn Varus in der so genannten Varusschlacht eine vernichtende Niederlage durch Germanen unter ihrem Anführer Arminius erlitten. Insgesamt drei römische Legionen gingen bei diesem Versuch der Römer unter, die Reichsgrenze in Richtung Elbe auszudehnen. Nach dieser Katastrophe zogen sich die Römer auf die linke Seite des Rheins und die rechte Seite der oberen Donau zurück. Ein Jahrhundert später entschloss Rom sich aber, die Grenzlinie zwischen Rhein und Donau zu verkürzen und dabei auch (land)wirtschaftlich interessantes Territorium, etwa die Wetterau, zu annektieren. Der Obergermanisch-Raetische Limes entwickelte sich in mehreren Stufen aus einem reinen Postenweg innerhalb einer Schneise, die in die germanischen Wälder geschlagen wurde. Im Odenwald wurden zwischen den Jahren 107/110 beziehungsweise 115 hölzerne Wachtürme errichtet. Diese etwa zehn Meter hohen Holzwachtürme waren von Erdwällen umgeben und hatten zueinander Sichtverbindung. Der durchschnittliche Abstand betrug rund 800 Meter. Der Ausbau des Limes erfolgte keineswegs einheitlich. So wurde der Limes in Obergermanien rund 40 Jahre früher ausgebaut als in Rätien. Die ältesten dendrochronologischen Befunde, die aus der Gründungsphase des rätischen Lagerdorfs von Kastell Buch stammen, sind für Mai/Juni 161 n. Chr. veranschlagt worden. Möglicherweise wurde das römische Militär erst um diese Zeit mit dem Bau der ersten Befestigungen in Rätien und am „Vorderen Limes“ beauftragt. Am Limestor Dalkingen entstand in dieser ersten Ausbaustufe zunächst ein einfacher Flechtwerkzaun aus einzelstehenden Pfosten. An gleicher Stelle wurde ein Grabenkarree festgestellt, das einem Holzturm zugeordnet wird. Der Ausgräber, Dieter Planck, ordnete den Zaun sowie den Turm derselben Zeitstellung zu. Für die Wissenschaftler stellt sich nun die Frage, ob diese einfache Hürde bei den früheren Beobachtungen, zumeist noch zu Zeiten der Reichs-Limeskommission (RLK), nicht vielfach übersehen worden ist. Einige Wissenschaftler ordneten diesen Zaun jedoch einer völlig anderen Zeitstellung zu. Ihrer Meinung nach soll dieser erst nach Schadhaftwerdung der Palisade errichtet worden sein. Dies widerspricht aber den Befunden am Limestor. Dort überschneidet laut Planck der Palisadengraben die Pfostengruben teilweise. Dendrochronologische Untersuchungen an Palisadenhölzern aus dem nahe am Limestor gelegenen Schwabsberg im Ostalbkreis ergaben, dass die nächste Ausbaustufe dort bereits 165 n. Chr. vonstattenging. In der Wetterau hingegen konnte bei dem Kastell Marköbel die Palisade wahrscheinlich schon auf das Jahr um 120 n. Chr. festgeschrieben werden. Weitere wichtige dendrochronologische Datierungen zu den Bauaktivitäten zwischen 120 und 169 bietet die folgende Tabelle: Die ursprünglich errichteten, verwitterungsanfälligen Holztürme wurden später durch Steinbauten ersetzt. Auch der Limes selber machte mehrere Ausbauperioden durch. Analog entwickelte sich der raetische Limes. Nur wurde dort während der Regierungszeit des Kaisers Septimius Severus statt Palisade, Wall und Graben eine durchgehende massive, bis zu drei Meter hohe Mauer errichtet. Aufgrund der gleichlautenden dendrochronologischen Untersuchungen an drei Eichenholzpfählen eines sehr gut erhaltenen Pfahlrosts, auf dem die rätische Mauer nahe dem Kastell Dambach gründet, konnte festgestellt werden, dass das dort verbaute Holz in den Wintermonaten 206/207 n. Chr. geschlagen wurde. Anschließend kann es bereits im Frühjahr 207 verbaut worden sein. Somit scheint deutlich zu werden, dass die hölzerne Palisade in Rätien rund 45 Jahre bestand. Aus dem baulichen Unterschied der Grenzanlagen leitet die Forschung ab, dass deren Bauunterhalt offensichtlich bei der jeweiligen Provinzverwaltung lag. Der Obergermanisch-Raetische Limes erfuhr verschiedene größere und kleinere Verlegungen des Grenzverlaufs und wurde entsprechend an mehreren Stellen umgebaut. Die Ursachen für diese Grenzverschiebungen sind nicht überliefert. Es wird vermutet, dass es sich zum Teil um nachträgliche Begradigungen handelt. So wurde etwa die Grenze des rund 60 Jahre als römische Grenzbefestigung genutzten „Odenwaldlimes“ nachträglich um einige Kilometer nach Osten verschoben. Vermessungstechnische Besonderheiten Am Obergermanischen Limes existieren mehrere Abschnitte, die durch einen exakt gradlinigen Streckenverlauf auffallen und wie mit dem Lineal durch die Landschaft gezogen wirken. Die dazu erforderliche außergewöhnliche Präzision wird der Verwendung der Groma durch römische Landvermesser zugeschrieben. Der längste dieser Abschnitte reicht, mit nur einer kurzen, dem Geländerelief bei Pfedelbach-Gleichen geschuldeten Abweichung, von einem ansonsten unbedeutenden Wachturm bei Walldürn (Strecke 8) bis zum Haghof südlich von Welzheim und erreicht eine Länge von 81,259 km. Damit handelt es sich um die längste geradlinige Trasse der gesamten Antike. Auf einer Strecke von 50 km beträgt die Abweichung, bezogen auf die Mitte des Grabens, nur 90 cm. Als Motiv vermutet man eine Machtdemonstration gegenüber der germanischen Bevölkerung. Eine Besonderheit in diesem Bereich stellt der Sechseckturm (WP 9/51) in Pfedelbach-Gleichen dar. Es handelt sich hierbei um den einzigen derartigen Turm an diesem Limesabschnitt. Seine einen Meter breiten und damit ungewöhnlich starken Fundamente besitzen als zusätzliche Verstärkung einen außen 0,5 Meter weit vorspringenden Sockel. Sechseckform und Grundmauern sprechen dafür, dass die Turmhöhe sicherlich weit über dem Normalmaß lag. Die Gestaltung des Turmes und sein Standort lassen vermuten, dass er ein Hauptpunkt für die optische Vermessung der schnurgeraden Strecke gewesen war. Begleitende Infrastruktur Der Obergermanisch-Raetische Limes war im römischen Hinterland von einem Netz militärischer Stützpunkte und ziviler Versorgungseinrichtungen begleitet und von einem Straßen- und Wegenetz verbunden. Im Abstand von etwa zehn Kilometern entstanden kleinere Kastelle für Hilfstruppen (Auxiliartruppen), die die Besatzungen der Wachttürme stellten und von diesen bei Zwischenfällen an der Grenze benachrichtigt werden konnten. Erste Kastelle entstanden am Neckar und im Taunus, zuerst als Holz-Erde-Konstruktionen, ab 150 dann auch in Stein ausgeführt. Herausragende Beispiele für derartige Kastelle sind die Saalburg, das Kastell Kleiner Feldberg und das Kastell Kapersburg, alle drei im Taunus gelegen. Ein besonders großes Kastell für eine berittene Einheit (lat.: Ala) lag im heutigen Stadtgebiet von Aalen. Diese Kastelle wiederum konnten von den Legionsstandorten, den Provinzhauptstädten, bei Bedarf Verstärkung anfordern. Um die Kastelle bildeten sich in aller Regel größere und kleinere Zivilsiedlungen (lat.: vici). In diesen lebten u. a. die Angehörigen der stationierten Auxiliare. Händler, Handwerker und Schenken sorgten zudem für Möglichkeiten der Versorgung und der Zerstreuung der zahlungskräftigen Truppe. Einige der frühen vici entwickelten sich zu größeren und florierenden Civitas-Hauptorten, auch nachdem das Militär abgezogen war, wie zum Beispiel das römische Nida auf dem Gebiet des heutigen Frankfurt-Heddernheim. Eine Besonderheit stellt die römische Stadtgründung von Waldgirmes im Lahntal dar, jenseits des späteren Limes. Die Stadt besaß ein repräsentatives Forum und war offenbar als lokales Verwaltungszentrum gedacht, wahrscheinlich als Hauptort einer civitas, vielleicht sogar als künftige Hauptstadt der von Augustus ursprünglich angedachten großen Provinz Germania magna, die vom Rhein bis zur Elbe reichen sollte. Nach der Varusschlacht (9 n. Chr.), spätestens jedoch mit der Abkehr von der augusteischen Expansionspolitik unter Tiberius (17 n. Chr.), wurden alle diesbezüglichen Pläne verworfen und die Stadt aufgegeben. Als Wirtschaftsgrenze besaß der Limes eine Reihe von bewachten Durchlässen, an denen das Militär den Grenzverkehr kontrollieren konnte. Untergang Über die Epoche des Niedergangs des Obergermanisch-Raetischen Limes sind nur wenige schriftliche Quellen überliefert. Von den Historikern wurde daher lange Zeit angenommen, dass der Limes in einem einzigen Ansturm der Germanen in den Jahren 259 und 260 n. Chr. überrannt worden und zusammengebrochen sei. Neuere archäologische Untersuchungen und Funde zeigen jedoch, dass der Verfall im 3. Jahrhundert n. Chr. langsam und in verschiedenen Abstufungen erfolgte und es zudem Unterschiede zwischen dem obergermanischen und dem raetischen Abschnitt gab. Das Zusammentreffen einer ganzen Reihe von inneren und äußeren Ursachen bedingte einen Prozess des kontinuierlichen Niederganges. Kämpfe unter Severus Alexander Bereits seit dem späten 2. Jahrhundert stieg der Druck auf die römische Nordgrenze; neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass dies unter anderem auf neu zugewanderte Gruppen aus dem Inneren Germaniens zurückzuführen sein könnte, die nicht romanisiert waren und gegenüber dem Imperium aggressiver auftraten. Kaiser Commodus ließ um 185 mehrere Grenzanlagen erneuern und erweitern. 213 führte Kaiser Caracalla einen Straffeldzug jenseits des Limes durch. Der Hauptgrund für den Untergang bzw. die Aufgabe des Limes ist aber zum einen in der zunehmenden Inanspruchnahme der militärischen Kräfte durch Auseinandersetzungen in den orientalischen Provinzen zu suchen. Dort sah sich das Römische Reich einer wachsenden Herausforderung durch seinen östlichen Nachbarn, das im Jahr 224 n. Chr. gegründete persische Sassanidenreich, gegenüber. Als Reaktion darauf wurden immer mehr Truppen, besonders die Reitereien der Alen, vom Limes abgezogen. Der junge Kaiser Severus Alexander leitete im Jahr 232 n. Chr. zusammen mit seiner Mutter Julia Mamaea einen Feldzug gegen die Sassaniden. Die an den Grenzen im Osten stationierten Truppen hatten sich durch Meuterei als unzuverlässig erwiesen, so dass der Kaiser weitere Truppen vom Limes abkommandieren musste. In den folgenden verlustreichen Kämpfen konnte keiner der beiden Gegner einen Sieg erringen, auch ein Friedensvertrag wurde nicht geschlossen. Zum anderen nutzten inzwischen die Germanen, namentlich die Alamannen, im Jahr 233 n. Chr. die Schwächung der römischen Verteidigungslinien zu Plünderungen und Zerstörungen. Entlang des Limes befand sich damals wahrscheinlich nur noch Auxiliarinfanterie, die den Germanen, die mittlerweile anders als früher in größeren Stammesverbänden organisiert waren und daher nun leichter kampfstärkere Einheiten aufzubieten wussten, kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Die Plünderungszüge führten die Germanen an den Rhein und in das Alpenvorland. Mehrere Lager, darunter das Kastell Saalburg, wurden zerstört. Archäologisch lassen sich Zerstörungshorizonte aus dieser Zeit, etwa im Kastell Osterburken, nachweisen. In Osterburken fanden sich im Grabenbereich der Garnison die Überreste von mindestens drei Menschen, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Die römischen Truppen, die im Osten gegen die Perser kämpften, sollen sich um ihre Verwandten in Gallien gesorgt haben. All dies veranlasste Severus Alexander und seine Mutter, im Jahr 235 an den obergermanisch-rätischen Limes aufzubrechen. Ihr Hauptquartier schlugen sie in der Legionsstadt Mogontiacum auf. Die Legionäre erhofften sich Beute, Vergeltung und einen leichten Sieg über die Germanen. Die sparsame Mamaea begann jedoch mit den Germanen zu verhandeln, um einen teuren Feldzug zu vermeiden. Daher revoltierten die römischen Truppen und erhoben den Offizier, der für die Ausbildung der neu ausgehobenen Truppen zuständig war, Maximinus Thrax, zum Kaiser. Mamaea und Severus Alexander wurden im März 235 vermutlich in Bretzenheim ermordet. Mit Alexander starb der letzte Kaiser aus der Dynastie der Severer während des Kampfes um den Limes, und die Zeit der Soldatenkaiser begann. Maximinus versprach eine Erhöhung des Solds, Sonderzuwendungen (Donativen) und eine Amnestie bei allen Disziplinarstrafen. Im Sommer 235 n. Chr. führte er einen Feldzug bis tief in die germanischen Siedlungsgebiete hinein an (siehe auch Harzhornereignis). Die Gefahr konnte damit für einige Zeit gebannt werden, Befestigungen wurden wieder aufgebaut und teilweise verstärkt. Wirtschaftlicher Niedergang Die Befestigungsanlagen wurden nach den Erfahrungen der Plünderungen des Jahres 233 erneuert und vermutlich an die neuen Verhältnisse angepasst. Es ist wahrscheinlich, dass das Wall-Graben-System als Sperre gegen Reiterheere erst jetzt an den Wehranlagen des obergermanischen Limes zusätzlich oder als Ersatz für die Palisaden ausgebaut wurde. Viele der zerstörten Zivilsiedlungen wurden jedoch nicht mehr in vollem Umfang wieder aufgebaut. Archäologische Funde bestätigen rasche notdürftige Reparaturen an Wirtschaftsgebäuden. Nicht nur Wohngebäude und Badeanstalten wurden nicht mehr in alter Größe aufgebaut, sondern auch einzelne Kastelle scheinen damals in ihrer Bausubstanz reduziert worden zu sein. So ergaben Ausgrabungen innerhalb der Kastelle Kapersburg und Miltenberg-Ost eine Verkleinerung der Innenbebauung. Es wurde vielleicht schon damals mit einer dauerhaft reduzierten Besatzung gerechnet. Grund für den zögerlichen Wiederaufbau war vielleicht der verringerte Geldfluss in die Grenzregion. Hatte Kaiser Caracalla im Jahr 213 n. Chr. die Unterstützung seiner Soldaten auf dem Feldzug gegen die Alamannen und andere Germanen am Main noch mit stark erhöhtem Sold und mit häufigen üppigen Sonderzuwendungen erkaufen können, so war dessen Haltung für die Geldwertstabilität und die Wirtschaftspolitik seiner Nachfolger verhängnisvoll. Schon Severus Alexander konnte die maßlose Erwartungshaltung der Soldaten nicht mehr befriedigen. Bürgerkriege und ein rascher Wechsel der Kaiser waren die Folge. Immer wieder wurden die Limes-Truppen zur Regelung innenpolitischer Konflikte abgezogen. So zog Kaiser Maximinus Thrax bereits im Jahre 236 n. Chr. mit seinen Truppen nach Pannonien, im Sechskaiserjahr 238 n. Chr. wurde er auf dem Weg nach Rom während der Belagerung der Stadt Aquileia von seinen eigenen Leuten ermordet. Der Ausbau des Limes und die hohe Kaufkraft der anwesenden Truppen waren der wirtschaftliche Antrieb für Handwerk, Handel und Dienstleistungen in der Grenzregion gewesen. Nun zog der Schwund an Truppen auch einen Bevölkerungsschwund nach sich. Der Mangel an Geld und Arbeitskräften behinderte den Wiederaufbau des Limes. Andererseits scheint sich der Druck aus einer Bevölkerungsverschiebung aus dem eurasischen Raum heraus auf die Rhein- und Donaugrenze verstärkt zu haben. Drittens dürften auch innerrömische Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Vor allem aber war es wohl nie die Absicht der Römer gewesen, den ORL als militärische Verteidigungsanlage zu nutzen – entsprechende Initiativen mögen nach 235 erwogen worden sein, doch war und blieb der Limes eine Friedensgrenze. Germanenzüge im Jahr 259/260 n. Chr. Numismatische und dendrochronologische Untersuchungen legen nahe, dass der raetische Teil des Limes bereits bald nach 254 n. Chr., während der Regierungszeit des Kaisers Valerian (253–260), aufgegeben worden ist. Beispielsweise wurde im Frühsommer 254 n. Chr. das Lagerdorf des raetischen Kastells Buch in Schutt und Asche gelegt. Im Gegensatz dazu blieb der südliche obergermanische Abschnitt des Vorderen Limes vielleicht zunächst noch einige Jahre bestehen. Darauf deuten die späten Münzfunde bis zur Zeit des Gallienus hin, wie sie am Kleinkastell Haselburg und am Kleinkastell Rötelsee geborgen wurden. Der Archäologe Markus Scholz ging davon aus, dass der Limes am Taunus und in der Wetterau früher fiel als im Süden. Zahlreiche Hortfunde belegen dann die Germaneneinfälle der Jahre 259 und 260 n. Chr., welche letztlich zur Aufgabe des gesamten Obergermanisch-Raetischen Limes führten. Diese Einfälle fielen in die Zeit der römischen Reichskrise. Bekannt wurde der Hortfund von Neupotz, welcher in den Jahren 1967–1997 bei der Kiesförderung aus einem Altrheinarm bei Neupotz ans Tageslicht befördert wurde. Er gehört damit zum selben Fundhorizont wie der Hortfund von Hagenbach oder der Hortfund von Otterstadt. Insgesamt sind inzwischen 18 Baggerfunde des 3. Jahrhunderts aus dem Rhein zwischen Seltz und Mannheim bekannt. Ein massiver Vorstoß der Juthungen nach Italien in den Jahren 259/260 ist durch den Augsburger Siegesaltar bekannt geworden. Allerdings hat man nur in sehr wenigen Limeskastellen Spuren von Kämpfen und gewaltsamer Zerstörung finden können, weshalb heute viele Forscher annehmen, dass der Grenzwall selbst nicht überrannt und erobert, sondern mehr oder weniger planmäßig geräumt wurde: Die drastisch veränderte militärische Lage hatte die Anlage überflüssig gemacht. Viele Kastelle dürften von den kaiserlichen Truppen daher selbst niedergebrannt worden sein, um sie nicht den Feinden zu überlassen. Bald nach den schweren germanischen Angriffen um das Jahr 260 entschied man sich zum Rückzug auf die linke Seite des Rheines und das Südufer der Donau mit der neuen Verteidigungslinie des Donau-Iller-Rhein-Limes. Die Flussgrenzen waren als Defensivposition weitaus günstiger. Damit wurde der ORL faktisch aufgegeben, wenn auch in einigen Lagerdörfern am ehemaligen Limes das Leben weiterging. So fanden am aufgelassenen Kastell Buch nach den Zerstörungen um 254 n. Chr. großflächige Planierungen über dem Brandhorizont des Lagerdorfes statt, auf denen in reduziertem Umfang mit dem Wiederaufbau begonnen wurde. Teils vergruben die abziehenden römischen Truppen Gerätschaften und Werkzeuge bei ihren Kastellen, da sie offenbar planten, zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren, sobald die Region wieder befriedet wäre. Vielfach wird heute ein Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen dem Usurpator Postumus, der 260 in Gallien ein römisches „Sonderreich“ begründete, und dem legitimen Kaiser Gallienus vermutet: Man benötigte die Truppen an anderer Stelle und überließ die Grenze daher vielleicht sich selbst. Dass dabei zusammen mit dem Limes auch das ganze rechtsrheinische Gebiet (Dekumatland) von den Römern geräumt wurde, dass also die Zivilbevölkerung deportiert wurde, ist nicht nachzuweisen. Ein systematischer Abzug der letzten verbliebenen römischen Soldaten war wohl erst um 275 möglich, als sich die Lage des Imperium Romanum wieder stabilisierte. Zumindest ein Teil der römischen Bevölkerung blieb im Land und vermischte sich mit den einwandernden Germanen. Um 300 sprechen römische Quellen dann nicht mehr von den agri Decumates, sondern von der Alamannia. Die römischen Kaiser hielten aber mindestens bis ins späte 4. Jahrhundert an ihren prinzipiellen Ansprüchen auf diese Gebiete fest – den letzten Feldzug im ehemaligen Dekumatland unternahm Kaiser Gratian im Jahr 377. Zu einem Feldzug des Unterkaisers Julian im Jahr 357 schreibt der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus, der Herrscher habe ein Befestigungswerk (munimentum) des Kaisers Trajan, das in früher stark umkämpft gewesen sei, nun in aller Eile wieder repariert und mit Truppen besetzt. Ob aus dieser Passage hervorgeht, dass Julian Teile des Obergermanisch-Raetischen Limes wieder in Nutzung nahm, oder Ammianus mit dem munimentum eine kleinere Einzelanlage meinte, ist jedoch in der Forschung umstritten. Die ungarische Limesforschung deutet das munimentum als das nie vollendete Großkastell Göd-Bócsaújtelep im Grenzgebiet der germanischen Quaden und der Sarmaten in der Nähe des Donauknies. Spätere Bedeutung Der bauliche Verfall des Obergermanisch-Raetischen Limes dauerte Jahrhunderte. So waren laut einem bayerischen Chronisten noch im Jahre 1780 Mauerabschnitte auf weiten Strecken zu sehen. Als jedoch immer mehr Gebäude aus Stein statt aus Holz errichtet wurden, „holten sich die Anwohner fuderweise Steine“ von den Mauerresten. In Köln standen noch im frühen 19. Jahrhundert Türme der römischen Stadtmauer. Auch das Nordtor der römischen Stadtmauer von Köln wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts abgebrochen, weil es zu eng für den wachsenden Verkehr geworden war. Die Funktion der meisten Bauten entlang des ehemaligen Limes geriet jedoch in Vergessenheit. So deutete die Bevölkerung den großteils an der Oberfläche verlaufenden, von Südwesten kommenden römischen Aquaedukt der Stadt Köln als „geheimen Verbindungsgang“ zwischen den Städten Köln und Trier. Die verfallenen Befestigungen des raetischen Limes hingegen, deren Funktion sich ebenfalls niemand erklären konnte, wurden im Volksmund als „Teufelsmauer“ bezeichnet. Bezeichnenderweise diente der Verlauf der Anlage über Jahrhunderte auch als Grundstücksgrenze (oft gleichzeitig Gemeinde- oder Verwaltungsgrenze). Die Flurbereinigung hob diese Grenzen teilweise im 20. Jahrhundert auf, teilweise bestehen sie aber bis heute. Der Limes heute Der Limes stellt in Deutschland ein Bodendenkmal von internationaler Bedeutung dar. Einige bauliche Anlagen am Obergermanisch-Raetischen Limes wurden rekonstruiert. Beispiele sind die Saalburg bei Bad Homburg vor der Höhe, das Kastell Aalen, die jeweils bedeutende römische Museen in ihren Mauern bergen, sowie zahlreiche Wachtürme. Von der eigentlichen Grenzbefestigung haben sich am obergermanischen Limes Wall und Graben am besten erhalten. Das gilt vor allem für die Waldgebiete des Westerwaldes und des Taunus. Beim rätischen Limes markiert dagegen ein breiter Streifen aus Gesteinsschutt, in der Feldgemarkung oft als gradlinig verlaufendes Feldgehölz auszumachen, den Verlauf der Befestigung. Kleine Hügel aus Erde und Schutt finden sich entlang der beiden Limites an den Stellen, an denen ein Wachturm gestanden hat. Beim Bau des Westwalles spielte der Name Limes eine Rolle: Das größte Programm zum Bau dieser den Zweiten Weltkrieg vorbereitenden Festungsanlage trug den Namen Limesprogramm. In mehrjährigem Turnus findet ein internationaler Limeskongress statt, auf dem sich Wissenschaftler, die sich der Erforschung des Limes widmen, treffen und Forschungsergebnisse austauschen. Entlang des Obergermanisch-Raetischer Limes verlaufen als touristische Routen die Deutsche Limes-Straße für Autofahrer, der ausgeschilderte Deutsche Limes-Radweg sowie der Limeswanderweg (= Limesweg) im Westerwald und Taunus, der Östliche Limesweg (HW 37) des Odenwaldklubs, der Limes-Wanderweg (HW 6) des Schwäbischen Albvereins, der Limesweg (Weg 46) des Fränkischen Albvereins und der Limeswanderweg im Naturpark Altmühltal. Die Europäische Kommission (Generaldirektion Unternehmen und Industrie) fördert in den Jahren 2011 bis 2013 die Entwicklung digitaler Dienstleistungen für den Kulturtourismus entlang des Limes in den zehn europäischen Anrainerstaaten. Die Modellregionen befinden sich in Rheinland-Pfalz (Deutschland), Niederösterreich (Österreich) und der Stadt Ruse (Bulgarien). Weltkulturerbe Am 15. Juli 2005 wurde der Obergermanisch-Raetische Limes durch die UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen, am 5. Juli 2006 in Aalen die entsprechenden Urkunden der UNESCO an die Vertreter der vier beteiligten Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern übergeben. Die beteiligten Bundesländer haben zu ihrer Koordination die Deutsche Limeskommission (DLK) gegründet. Bestandteil des Welterbes ist nur die Hauptlinie des Obergermanisch-Raetischen Limes in ihrem umfassenden Ausbauzustand. Sie schließt einen Teil der dahinter liegenden Infrastruktur mit ein. Der Obergermanisch-Raetische Limes ist kein selbständiges Weltkulturerbe, sondern zweite Position der Welterbestätte „Grenzen des Römischen Reiches“, dessen erste Position der Hadrianswall in England einnimmt, der 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Ziel des Projekts „Grenzanlagen des Römischen Reichs“ ist, – zunächst – alle europäischen Staaten, durch die der Limes verläuft, mit den auf ihrem Territorium befindlichen Anlagen, in das Welterbe einzubinden. 2008 wurde der Antoninuswall in Schottland aufgenommen. Mit Unterstützung der Deutschen Limeskommission und des baden-württembergischen Landesamtes für Denkmalpflege gründete sich im Februar 2005 der Verband der Limes-Cicerones, dessen Mitglieder als qualifizierte Gästeführer am Obergermanisch-Raetischen Limes tätig sind und so eine Aufgabe im Rahmen des Limesentwicklungsplans erfüllen. Literatur Obergermanisch-Raetischer Limes insgesamt Dietwulf Baatz: Der römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. 4. Auflage, Gebrüder Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-1701-2. Thomas Becker, Stephan Bender, Martin Kemkes, Andreas Thiel: Der Limes zwischen Rhein und Donau. Ein Bodendenkmal auf dem Weg zum UNESCO-Weltkulturerbe. (= Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg. Heft 44). Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-927714-60-7. Ernst Fabricius, Friedrich Leonhard, Felix Hettner, Oscar von Sarwey u. a.: Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches. Hrsg. v. d. Reichs-Limeskommission mind. 15 Bände. O. Petters, Heidelberg/Berlin/Leipzig 1894–1937 (teilweiser Nachdruck Codex-Verlag, Böblingen 1973; vollständiger Nachdruck: Greiner, Remshalden 2005ff., ISBN 3-935383-72-X, ISBN 978-3-935383-61-5). Anne Johnson: Römische Kastelle des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. in Britannien und in den germanischen Provinzen des Römerreiches. (= Kulturgeschichte der antiken Welt. Bd. 37). Zabern, Mainz 1987, ISBN 3-8053-0868-X. Martin Kemkes: Der Limes. Grenze Roms zu den Barbaren. 2., überarbeitete Auflage. Thorbecke, Ostfildern 2006, ISBN 3-7995-3401-6. Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Gestürmt – Geräumt – Vergessen? Der Limesfall und das Ende der Römerherrschaft in Südwestdeutschland. Württembergisches Landesmuseum, Stuttgart 1992, ISBN 3-8062-1056-X. Wolfgang Moschek: Der Limes. Grenze des Imperium Romanum. Primus, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-86312-729-9. Jürgen Oldenstein (Hrsg.): Der obergermanisch-rätische Limes des Römerreiches. Fundindex Fundindex. Zabern, Mainz 1982, ISBN 3-8053-0549-4. Rudolf Pörtner: Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit. Econ, Düsseldorf 1959, 1965; Moewig, Rastatt 1980, 2000 (div. weitere Ausgaben), ISBN 3-8118-3102-X. Britta Rabold, Egon Schallmayer, Andreas Thiel (Hrsg.): Der Limes. Die Deutsche Limes-Straße vom Rhein zur Donau. Theiss, Stuttgart 2000, ISBN 3-8062-1461-1. Marcus Reuter, Andreas Thiel: Der Limes. Auf den Spuren der Römer. Theiss, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-8062-2760-4. Egon Schallmayer: Der Limes. Geschichte einer Grenze. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-48018-7 (Knappe, aktuelle Einführung.) Hans Schönberger: Die römischen Truppenlager der frühen und mittleren Kaiserzeit zwischen Nordsee und Inn. 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Hrsg.: Landesamt für Vermessung und Geobasisinformation Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Archäologische Denkmalpflege, Amt Koblenz. – Koblenz: Landesamt für Vermessung und Geobasisinformation Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, Archäologische Denkmalpflege, Amt Koblenz 2006, ISBN 3-89637-378-1. Offizielle Karte UNESCO-Weltkulturerbe obergermanisch-raetischer Limes in Rheinland-Pfalz von Rheinbrohl bis zur Saalburg (Hessen). Gemeinschaftlich hrsg. v. Deutsche Limeskommission, Generaldirektion Kulturelles Erbe – Direktion Archäologie, Verein Deutsche Limes-Straße, Landesamt für Vermessung und Geobasisinformation Rheinland-Pfalz. – Koblenz: Landesamt für Vermessung und Geobasisinformation Rheinland-Pfalz 2007, ISBN 978-3-89637-384-7. Weblinks Limesinformationszentrum Baden-Württemberg, abgerufen am 16. Juli 2010 Links und Literatur zum Thema Limes (Diplomarbeit im Studiengang Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt) Der Limes: früher und heute – archaeologie-online.de UNESCO-Welterbe: Grenzen des Römischen Reiches Frontiers of the roman empire (engl. Webseite) die-roemer-online.de Umfangreiche Arbeit über den römischen Limes in Deutschland Deutsche Limeskommission Deutsche Limesstraße Saalburg, einziges rekonstruiertes Limeskastell Der Obergermanisch-Raetische Limes im Kulturportal Hessen Taunus-Wetterau-Limes: umfangreiche Darstellung des Limes in Hessen Antikefan – Obergermanisch-Raetischer Limes (private Seite) Limesseiten – Die Römer in Baden-Württemberg (private Seite) Impressionen einer Grenze – Der Limes in Deutschland. Eine Bildergalerie zu rekonstruierten Limesanlagen Der Obergermanisch-Rätische Limes SPIEGEL-Artikel vom 27. Januar 2009. AG Limes Öhringer Agenda-Gruppe Limes mit den Gemeinden Schöntal, Jagsthausen, Forchtenberg, Zweiflingen, Pfedelbach und Mainhardt Darstellung der LIMES Action der Europäischen Kommission Virtuelle Limeswelten Limes in Bayern Seite von Bayerischer Rundfunk Anmerkungen Ruine in Deutschland Römische Befestigungsanlage (Raetia) Geschichte (Rheinland) Welterbestätte in Europa Welterbestätte in Deutschland Weltkulturerbestätte Germania superior Archäologischer Fundplatz in Rheinland-Pfalz Römisches Bauwerk in Hessen Römisches Bauwerk in Baden-Württemberg Römisches Bauwerk in Bayern Kulturdenkmal (Rheinland-Pfalz) Bodendenkmal in Hessen Kulturdenkmal (Baden-Württemberg) Denkmalgeschütztes Bauwerk in Bayern Bodendenkmal in Bayern Erbaut im 1. Jahrhundert Mauer in Deutschland Archäologischer Fundplatz in Europa
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Jim Morrison
James Douglas „Jim“ Morrison (* 8. Dezember 1943 in Melbourne, Florida; † 3. Juli 1971 in Paris) war ein US-amerikanischer Sänger, Songwriter und Lyriker. Er war der Frontmann der Rockband The Doors. Jim Morrison gilt als Rockmusiker, der die Fantasien, Visionen, Ängste und die Selbstdestruktivität der Generation der späten 1960er Jahre artikulierte und exemplarisch auslebte. Er zählt zu den charismatischsten Persönlichkeiten der Rockmusik dieser Zeit. Gemeinsam mit den Doors erweiterte er das Repertoire der Rockmusik um mehrschichtige Konzeptstücke und Formen des Rocktheaters. Morrison, von dem zu Lebzeiten drei Gedichtbände veröffentlicht wurden, nutzte die Doors-Konzerte regelmäßig für spontane Rezitationen poetischer Texte. Er produzierte einen Dokumentarfilm über die Doors sowie einen experimentellen Spielfilm. Morrison zählt zu den zentralen Symbolfiguren der Hippiezeit und -kultur. In seiner Schaffenszeit wurde er als Sexsymbol wahrgenommen. Obwohl sich Morrison durch seinen Rock-Bariton und poetische Songtexte einen Namen gemacht hat, wurde er in späteren Jahren meist mit einem aufrührerischen und selbstzerstörerischen Lebensstil assoziiert. Sein früher Tod, dessen nähere Umstände nicht mit Sicherheit geklärt werden konnten, trug erheblich zur Legendenbildung um seine Person bei. Im Jahr 1993 wurde Morrison als Mitglied der Doors in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Leben Kindheit und Jugend Jim Morrison wurde als erstes Kind von George Stephen Morrison (1919–2008) und Clara Virginia Morrison (geb. Clarke, 1919–2005) geboren. Er hatte zwei Geschwister, Anne Robin (* 1947) und Andrew Lee (* 1948). Morrisons Vater war Marineoffizier. Deshalb zog Morrisons Familie häufig um. Bis zu seinem Schulabschluss lebte er in verschiedenen Städten der US-Bundesstaaten Florida und Kalifornien sowie jeweils zweimal in Washington, D.C. und Albuquerque. Als prägende Erfahrung seiner Kindheit schilderte Morrison später, wie er als Vierjähriger auf einer Fernverkehrsstraße südwestlich Albuquerques aus dem Wagen seiner Eltern heraus einen schweren Autounfall von Pueblo- oder Hopi-Indianern beobachtet habe. Auf dieses Schlüsselerlebnis nahm Morrison regelmäßig in Songtexten, Gedichten und Interviews Bezug. In seinen Texten spielte sich das Erlebnis an einem verunglückten Lastwagen ab, vor dem verletzte und tote Indianer auf der Straße lagen. Die Eltern hielten an, und Morrisons Vater sah nach, ob er helfen könne. Bei einer Tankstelle in der Umgebung verständigte sein Vater die Highway-Polizei und einen Krankenwagen. Da sein Sohn von der Konfrontation mit dem Tod verstört war, versuchte der Vater ihm einzureden, dass er den Vorfall bloß geträumt habe. In späteren Interviews erklärte Jim Morrison, dass in diesem Moment die Seelen toter Indianer in seinen Körper gewandert seien. Bei der bekanntesten Umsetzung der Geschehnisse in dem Lied Peace Frog von der Doors-LP Morrison Hotel (1970) brachte Morrison das erlittene schwere Trauma dieser Unfallszene mit einer vermeintlichen Seelenwanderung in Verbindung: Morrisons Interesse an der Kultur der indianischen Völker des US-amerikanischen Südwestens entwickelte sich während seiner Schulzeit weiter, als Morrisons Familie zeitweilig erneut in Albuquerque in New Mexico lebte und er dort Gelegenheit hatte, die Lebensräume der Ureinwohner näher kennenzulernen. Infolge der beruflich bedingten Abwesenheit des Vaters, der regelmäßigen Umzüge der Familie quer durch die Vereinigten Staaten und einer strengen Erziehung fiel Morrison als Heranwachsender trotz guter schulischer Leistungen durch ausgeprägtes Problemverhalten gegenüber Lehrern und Mitschülern auf. 1958 besuchte er die Alameda High School in Alameda (Kalifornien). Seinen Schulabschluss machte er im Juni 1961 an der George Washington High School in Alexandria (Virginia). Als Jugendlicher zog Morrison auf Wunsch seiner Eltern im September 1961 zu seinen presbyterianischen und streng abstinenten Großeltern väterlicherseits nach Clearwater (Florida). Morrison besuchte dort das St. Petersburg Junior College. Morrisons Vater wurde 1963 zum Kapitän des Flugzeugträgers USS Bon Homme Richard befördert. Bis zum Frühjahr 1964 versuchte der Vater vergeblich, seine Söhne für eine Karriere bei der Marine zu interessieren. Um Jim Morrisons Sprachempfinden zu schulen, schenkte sein Vater ihm bei seinen Besuchen daheim häufig Bücher. Früh begriff Morrison die Sprache als mächtiges Werkzeug, unter anderem um sich gegen missliebige Autoritäten aufzulehnen. Im Alter von zwölf Jahren verfasste Morrison in Notizbüchern seine ersten, zum Teil aggressiv satirischen Gedichte, die er „Radio Essays“ nannte. Er las früh die unkonventionellen Bücher der Beat Generation. Dazu gehörten insbesondere Jack Kerouacs Schlüsselroman Unterwegs, aber auch Werke der Schriftsteller Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti, dessen „City Lights Bookstore“ Morrison 1958 in San Francisco nach der Lektüre Kerouacs mehrfach aufsuchte. Morrison studierte die Werke von Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Jean Cocteau, James Joyce und Arthur Rimbaud. Rimbaud war für Morrison „einer, der den Göttern das Feuer stahl und dafür bestraft werden würde.“ Morrison setzte sich mit Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie auseinander. Plutarchs Biografie von Alexander dem Großen beeindruckte ihn so, dass er den renommierten Friseur Jay Sebring darum bat, seine Haare nach der Vorlage einer Alexander-Büste zu schneiden. Bei späteren Aufnahmen des Fotografen Joel Brodsky, die dieser unter anderem für das Album The Doors anfertigte, orientierte sich Morrison an der Kopfhaltung dieser Büste. Studium und Bandgründung Das Studium, das er in Saint Petersburg, Florida, aufgenommen hatte, setzte Morrison zwischen 1962 und 1963 an der Florida State University in Tallahassee fort, wo ein kurzer Hochschulmarketingfilm mit ihm aufgezeichnet wurde. Morrison, der ursprünglich „Schriftsteller oder Soziologe werden“ wollte, interessierte sich zunehmend für eine Arbeit im Filmsektor. Gegen den Willen seiner Eltern bewarb er sich im Oktober 1963 für ein Studium der Film- und Theaterwissenschaft in Kalifornien. Im Januar 1964 ließ er sich am Theater Arts Department der University of California, Los Angeles, (UCLA) einschreiben und belegte dort Kurse beim österreichisch-amerikanischen Regisseur Josef von Sternberg. An der UCLA produzierte er auf der Grundlage von Aufnahmen eines Kommilitonen den Kurzfilm First Love, der ebenso wie ein zweiter Film voller abrupter Brüche zu kontroversen Reaktionen und vehementer Ablehnung in den Filmseminaren führte. Im Juni 1965 schloss Morrison sein Studium erfolgreich mit einem Bachelor of Science der „Kinematographie“ ab. Die beruflichen Absichten Morrisons, der bereits während seines Studiums Gedichte und Songtexte verfasst hatte, waren bei seinem Vater seit geraumer Zeit auf scharfe Ablehnung gestoßen. Auf eine briefliche Rüge seines Vaters hin brach Morrison den Kontakt zu seinen Eltern ab. Seiner Mutter verweigerte er noch im November 1967 bei einem Konzert eine direkte Begegnung. Nach dem Kontaktabbruch musste Morrison aus finanziellen Gründen seine Studentenwohnung aufgeben. Der in seiner Kindheit durch ständige Umzüge entwurzelte UCLA-Absolvent sollte zeitlebens keine eigene Wohnung mehr besitzen. Im Frühjahr 1965 fand Morrison eine neue Bleibe bei einem vormaligen Kommilitonen auf dem Dach eines alten Bürogebäudes in Venice, verlor unter Drogeneinfluss erheblich an Körpergewicht und verfasste weitere Gedichte und Songtexte. Er hoffte auf eine Möglichkeit, seine Texte mit bass- und blueslastigen Klängen, indianischen Trommeln, Räucherwerk und multimedialen Elementen wie Filmprojektionen in Szene setzen zu können. Während seines Studiums hatte Morrison den Kommilitonen und Organisten Ray Manzarek kennengelernt. Manzarek forderte ihn und andere ehemalige Kommilitonen am 5. Juni 1965 während eines Auftritts im Turkey Joint West in Santa Monica erstmals auf, ihn spontan als Sänger bei dem Rhythm-and-Blues-Lied Louie Louie zu unterstützen. Nachdem Morrison Manzarek im Juli 1965 einige seiner eigenen Songtexte vorgetragen hatte, lud der Organist Morrison ein, bei seiner Band mitzuwirken. Die Band, in der zwei Brüder Manzareks mitspielten, nannte sich „Rick and the Ravens“. Nachdem Manzareks Band im September 1965 mit Morrison in den World Pacific Studios in Los Angeles eine erfolglose Demoaufnahme im Folk-Rock-Stil produziert hatte, verließen Manzareks Brüder die Gruppe. Bereits im August 1965 war der Schlagzeuger John Densmore hinzugekommen. Zwei Monate später folgte der Gitarrist Robby Krieger. Manzareks Band, die nach einem Vorschlag Morrisons in „The Doors“ umbenannt wurde, hatte sich als Quartett von Grund auf neu formiert. Der neue Name der Gruppe leitete sich von dem Titel von Aldous Huxleys Essay The Doors of Perception (1954) ab, das unter anderem die Auswirkung von Halluzinogenen wie Mescalin und LSD auf das menschliche Bewusstsein schilderte. Frontmann der Doors Als Sänger war Morrison anfangs so in sich gekehrt, dass er bei ersten Auftritten der Doors dem Publikum den Rücken zuwandte. Ein erster Plattenvertrag, den die Gruppe nach frühen Auftritten als Vorband oder auf kleinen Festen im Oktober 1965 bei Columbia Records unterzeichnete, wurde nach kurzer Zeit in beiderseitigem Einvernehmen wieder aufgelöst. Im Frühjahr 1966 spielten die Doors als Clubband im „London Fog“ am Sunset Strip im späteren West Hollywood. Dort lernte Morrison im April 1966 die Kunststudentin Pamela Courson (1946–1974) aus Orange County kennen, die seine dauerhafte Lebensgefährtin werden sollte. Im November 1966 bezog Courson eine Wohnung im Laurel Canyon, 8021 Rothdell Trail, in die auch Morrison einzog. Beide nannten die Straße „Love Street“. Dort experimentierten Morrison und Courson weiter mit Substanzen wie LSD, Amphetaminen und Mescalin, die Morrison als Katalysator und Inspirationsquelle für zahlreiche Texte dienten. Zwischen Mai und Juli 1966 waren Morrison und die Doors die erste Band, die abends im Whisky a Go-Go am Sunset Strip auftrat. Zu dieser Zeit spielte dort auch Van Morrisons Band Them. Ein Biograf machte einen deutlichen Einfluss von Van Morrisons impulsiver Bühnenpräsenz auf Jim Morrison aus: „Jim Morrison lernte rasch von der Bühnenkunst seines Beinahe-Namensvetters, seinem augenscheinlichen Draufgängertum, der Pose gedämpfter Bedrohung, seiner Art, Gedichte zu einem Rockbeat zu improvisieren, sogar von seiner Angewohnheit, sich während instrumentaler Passagen bei der Basstrommel niederzukauern.“ In der letzten Nacht, in der Them im Whisky auftrat, spielten die beiden Morrisons während einer Jam-Session beider Bands gemeinsam Van Morrisons Song Gloria. In den folgenden Wochen traten Morrison und die Doors im „Whisky“ gemeinsam mit weiteren Bands wie The Byrds, Love und Frank Zappas Mothers of Invention auf. Morrison betrachtete die frühe Club-Phase der Doors rückblickend als eine der schöpferischsten der Band, weil sich viele Stücke durch die zahlreichen Auftritte in kleinem Rahmen kontinuierlich weiterentwickeln ließen: Landesweit bekannt wurden die Doors, nachdem sie im August 1966 mit Jac Holzman von Elektra Records einen Plattenvertrag über sieben Alben vereinbart hatten, der am 15. November 1966 unterzeichnet wurde. Holzman hatte vor allem die Coverversion des Alabama Song gefallen. Im September und Oktober 1966 machte die Band in den „Sunset Recording Studios“ auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles Aufnahmen für eine erste Schallplatte. Nachdem erste Auftritte Morrisons und der Doors außerhalb von Los Angeles bereits im Juli 1966 stattgefunden hatten, traten sie zum November 1966 erstmals in einem kleinen Kellerclub in New York auf. In New York bewegte sich der Sänger im Umkreis der „The Factory“ und Andy Warhols, den Morrison ein halbes Jahr zuvor in Los Angeles kennengelernt hatte. Warhol wollte Morrison als Hauptdarsteller für einen seiner Avantgardefilme gewinnen. Das Debütalbum der Band veröffentlichte Elektra im Januar 1967 unter dem Titel The Doors und bewarb dieses, für damalige Zeit unüblich, durch eine Plakatwand am Sunset Strip. Bereits für ihre erste Singleauskopplung Break On Through (To the Other Side) produzierten Morrison und die Doors 1967 einen Promotionclip, dem bald weitere folgten (Moonlight Drive, People Are Strange, The Unknown Soldier). Die zweite Single Light My Fire wurde im Juli 1967 zum Nummer-eins-Hit in den amerikanischen Billboard-Singles-Charts. Seit ersten Fernsehauftritten in der Sendung „Shebang“ (KTLA-TV Channel 5) am 6. März 1967 und bei „American Bandstand“ auf ABC am 22. Juli 1967 mit Playback wurden Fernsehsender zunehmend auf die neue Gruppe aufmerksam. Unter anderem wurden die Doors zur Ed Sullivan Show am 17. September 1967 eingeladen, einer beliebten, live ausgestrahlten Late-Night-Show am Sonntag bei CBS, die ein breiteres amerikanisches Publikum 1956 mit Elvis Presley und 1964 mit den Beatles bekannt gemacht hatte. Die Doors sollten zwei Titel spielen, verärgerten die Redaktion jedoch, weil Morrison eine zuvor abgesprochene Änderung des Songtextes von Light My Fire nicht einhielt. Wenngleich sich dieser Vorfall nicht nachhaltig auf Morrisons Fernsehpräsenz auswirkte, zeigten solche Ereignisse doch die Unberechenbarkeit des Rocksängers, der schon zu Jahresbeginn in einer Pressemitteilung seiner Plattenfirma diffus gegen etablierte Autoritäten Stellung bezogen hatte: Mit Rocksongs voller „erhabener Verheißungen, faszinierender Metaphorik, hypnotischer Gebärden und zorniger Äußerungen“ und seiner rigorosen Lebensmaxime „Die Zeit ist knapp, also macht am besten was draus!“ traf Morrison das Lebensgefühl einer Generation aufbegehrender junger Menschen, die sich unter anderem gegen den Vietnamkrieg wandten oder bewusstseinserweiternde Drogen zu sich nahmen. Mit 24 Jahren – der Fotograf Joel Brodsky hatte Morrison im Januar 1967 in einer Serie von Schwarzweiß-Aufnahmen erotisch in Szene gesetzt – war der charismatische Rock-Sänger das neue Sexsymbol Amerikas. Als die Doors im Oktober 1967 ihr zweites Album, Strange Days, veröffentlichten, das 500.000 Vorbestellungen verzeichnet hatte, und ihre Singles People Are Strange und Love Me Two Times in den US-Charts erschienen, waren sie mit ihrem psychedelisch grundierten Musikstil aus Blues und Rock eine der beliebtesten Rockbands der Vereinigten Staaten. Die Zeitschrift Vogue schrieb in ihrer Ausgabe vom 15. November 1967, beeindruckt von Morrisons und Kriegers Songtexten: „Jim Morrison schreibt, als wäre Edgar Allan Poe in Gestalt eines Hippies zurückgekehrt“. Im November 1967 wurden die Doors vom Verband der amerikanischen Musikindustrie erstmals für die Single Light My Fire und ihr Debütalbum mit je einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet. Starruhm und Konflikte mit den Behörden Die von Morrison betriebene Selbstmythisierung als Rockidol war von einer wachsenden Fangemeinde bereitwillig nachvollzogen worden, verselbständigte sich jedoch zunehmend. Thomas Collmer zufolge entwickelte sich Morrison immer stärker zur Kristallisationsfigur für unterschwellige Sehnsüchte vieler Doors-Anhänger, die eigene Rollenerwartungen stellvertretend auf der Bühne ausgelebt sehen wollten („Stellvertreter-Imago“). Auch angesichts des auf dem Frontmann der Doors lastenden Drucks und der Schar sensationslüsterner Anhänger suchte Morrison Erleichterung, indem er erhebliche Mengen Alkohol trank und unbeeindruckt von dem 1966 ergangenen LSD-Verbot in den USA zeitweilig weiter regelmäßig Drogen konsumierte. Für die einseitige Wahrnehmung seiner Person machte Morrison in besonderem Maß die Massenmedien verantwortlich: Wiederholt kam es Ende 1967 zu Tumulten vor, während und nach Konzerten. Oft waren Polizisten und Fans darin verwickelt, wie bei einem Konzert am 9. Dezember 1967 in der New Haven Arena in New Haven (Connecticut), wo Morrison nach dem Einsatz von Reizgas durch einen übereifrigen Ordnungshüter zur offenen Provokation gegen Polizisten auf der Bühne überging. Er wurde wegen Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen. Neben Morrison wurden an diesem Abend zwei Musikjournalisten und ein Fotograf von Life-Magazin und The Village Voice sowie diverse Doors-Fans von der Polizei von New Haven verhaftet. Während der Nacht kam es zur Inhaftierung weiterer Morrison-Anhänger, die gegen die Festnahme des Sängers protestiert hatten. Während die lokale Polizeibehörde die Vorwürfe gegen den Sänger einige Wochen später wieder fallenließ, begann die Bundespolizei, in Übereinstimmung mit der Cointelpro-Strategie den Sänger belastendes Material zu sammeln. Das FBI hatte Morrison als Galionsfigur einer Jugendrevolte identifiziert und – als das FBI in den folgenden Monaten Beschwerden aufgebrachter Radiomoderatoren erreichten – als potenzielle Gefahr für die staatliche Ordnung der USA. Seit Dezember 1967 spielten die Doors zunehmend in großen Konzerthallen wie dem Shrine Auditorium in Los Angeles oder dem Fillmore East in New York sowie in Mehrzweckarenen wie dem Madison Square Garden. Diese konnten auch Morrisons mehrteilige Rocktheater-Kompositionen wie The Celebration of the Lizard besser zur Geltung bringen. Morrison und die Doors begannen, nach neuen Formen wie Theaterelementen und Filmeinspielungen zur Anpassung der Konzerte an größere räumliche Dimensionen zu suchen: Mitte März 1968 zeigten die Doors im Back Bay Theater in Boston erstmals den Kurzfilm zu ihrem Vietnamkriegssong The Unknown Soldier. Als der Kurzfilm veröffentlicht wurde, war in Vietnam seit geraumer Zeit die Tet-Offensive der nordvietnamesischen Armee und des Vietcong im Gang, die in der amerikanischen Öffentlichkeit zunehmend den Eindruck eines verlorenen und sinnlos gewordenen Kriegs vermittelte. Für Morrison hatte der Song durch die Beteiligung seines Vaters am Vietnamkrieg auch einen familiären Hintergrund: George Stephen Morrison war 1964 mit seinem Flugzeugträger maßgeblich am Tonkin-Zwischenfall sowie an den anschließenden Kampfhandlungen zu Beginn des Vietnamkriegs beteiligt gewesen. 1967 hatte Morrisons Vater den Dienstgrad des Admirals erlangt. Auf stetes Drängen seiner Lebensgefährtin Courson hin verkündete Morrison im Juni 1968 während der Fertigstellung eines weiteren Albums in den neu angemieteten Aufnahmeräumen des „Doors Workshop“ in Los Angeles seine Absicht, nicht länger mit den Doors zusammenzuarbeiten. Manzarek konnte ihn jedoch von diesem Schritt abbringen. Anfang Juli 1968 erhielt Morrison Besuch von Mick Jagger, der mit ihm über Konzertauftritte vor großem Publikum sprechen wollte; weitere Begegnungen ergaben sich im Folgejahr. Im Juli 1968 erschien das dritte und kürzeste Studioalbum der Doors, Waiting for the Sun. Im selben Monat wurde der Morrison-Titel Hello, I Love You zum Nummer-eins-Hit in den amerikanischen „Billboard Hot 100“, zwei Monate später kletterte auch das Studioalbum an die Spitze der Plattencharts („Billboard Top 200“). Bei anschließenden Konzerten wie dem in der Singer Bowl in Queens, New York, kam es am 2. August 1968 auf einer teilweise defekten Bühne zu weiteren Ausschreitungen des Publikums, zu einer Zerstörung der Hallenbestuhlung, Prügeleien von Konzertbesuchern mit dem Sicherheitspersonal, demolierten Instrumenten und zahlreichen Verhaftungen. Seit dem Vorfall in New Haven war Morrison zunehmend ein Dorn im Auge, dass zahlreiche Fans von Doors-Konzerten, die er selbst als „Séance, in einer Umgebung, die lebensfeindlich geworden ist – kalt und restriktiv –,“ verstanden wissen wollte, weitere Gewalt und Krawalle geradezu erwarteten. Doch lotete der Sänger bei Live-Auftritten selbst regelmäßig Toleranzgrenzen seiner Umwelt aus, wollte herausfinden, zu welchen Schritten der Selbstentgrenzung er das Publikum bringen konnte, und regte Zuhörer zum Stürmen der Bühne an: Zu den professioneller gewordenen Aufnahmesessions erschien Morrison zunehmend angetrunken und verspätete sich zu Live-Auftritten. Zur Besänftigung des Publikums spielten die anderen Doors-Mitglieder Instrumentalstücke. Am 3. September 1968 begannen die Doors ihre Europa-Tournee in London. Zum Gelingen der Konzerte trug sicherlich auch der Veranstaltungsort bei. Das Roundhouse, eine 1846 errichtete Ruhehalle für Lokomotiven, bot mit seinen Eisensäulen und dem eigenartigen Kuppeldach eine ähnliche Atmosphäre wie die kleinen Hallen in San Francisco. In Frankfurt a. M. kam es am 14. September 1968 zu einem Zwischenfall. Einige anwesende GIs kamen mit der grünen Fahne ihrer kalifornischen Division bis zur Bühne vor. Jim Morrison entriss ihnen die Flagge, rupfte sie von der Bambusstange und warf das zerknüllte und zerfetzte Stoffstück von sich. Die Doors waren verwirrt und beendeten schleunigst das Konzert. Fast alle Zuschauer verließen die Kongresshalle. Nur wenige blieben zurück. Tatsächlich kamen die Doors wieder zurück und setzten vor den ca. 40 Leuten überraschend da ein, wo sie aufgehört hatten. Sie verausgabten sich, legten alles hinein, was an Energiereserven noch vorhanden war. Jim Morrison war völlig erschöpft und verschwitzt, aber glücklich. Gegen 1 Uhr nachts endete die Zugabe, und die Doors gaben bereitwillig Autogramme. Die nächste Station ihrer Tournee war Amsterdam. Am Abend vor dem Auftritt ging es Morrison so schlecht, dass er sofort in ein Krankenhaus eingeliefert wurde und dort bis zum Morgen durchschlief. Ein Fan hatte Jim in Frankfurt einen Brocken Haschisch zugesteckt. Aus Angst vor dem niederländischen Zoll festgehalten zu werden, schluckte er ihn hinunter. Auf Drängen des Publikums fand das Konzert aber trotzdem statt. Ray Manzarek meisterte die Vocals auf erstklassige Weise. Die beiden Stockholmer Konzerte verliefen entspannt. Am 21. September 1968 flogen die Doors nach Los Angeles zurück. Am Rande der Europa-Tournee besuchte Morrison am 23. September 1968 die Beatles in den Abbey Road Studios, die dort mit Aufnahmen des Lennon-Songs Happiness Is a Warm Gun für ihr Weißes Album beschäftigt waren. Da Morrison mittlerweile nur noch an Wochenenden live auftreten wollte und die Einnahmen der Doors wegen negativer Schlagzeilen und seltener Konzerte hinter den Erwartungen zurückblieben, gab die Band im Oktober 1968 die Rechte an dem Song Light my Fire ohne Morrisons Einverständnis für 60.000 Dollar für einen Buick-Werbespot frei. Als die Band das Angebot erreichte, war Morrisons Aufenthaltsort nicht bekannt. Er war seiner On-off-Partnerin Courson nachgereist, die in London eine Affäre mit dem US-Schauspieler Christopher Jones hatte. Nach Morrisons Rückkehr war der Sänger über den „Ausverkauf“ der Doors aufgebracht, doch ließ sich der Vertrag mit dem Automobilkonzern nicht mehr revidieren. Der Werbespot wurde in begrenztem Umfang in den Bundesstaaten des Südens und Mittleren Westens ausgestrahlt. Im Februar 1969 verzeichneten die Doors in der amerikanischen „Cash Box Top 100“-Hitparade ein letztes Mal einen Nummer-eins-Hit in den USA mit dem Krieger-Song Touch Me. Der Miami-Vorfall Im Frühjahr 1969 wollten die Doors zu einer ersten großen Tournee durch die Vereinigten Staaten aufbrechen. Zum ersten Konzert in Miami reiste Morrison aus Kalifornien an, wo er gerade mehrere Aufführungen der kontroversen New Yorker Theatergruppe Living Theatre an der University of Southern California besucht hatte. Noch unter dem Eindruck der Theater-Performances stehend und über Manipulationen des lokalen Konzertveranstalters beim Ticketverkauf aufgebracht, versuchte Morrison bei dem Konzert am 1. März 1969 im „Dinner Key Auditorium“ in Miami, Aufruhr unter den 13.000 Konzertbesuchern zu stiften („There are no rules! […] Let’s see some action out there. […] You wanna see my cock, don’t you?“). Außerdem simulierte er an Kriegers Gitarre kniend Fellatio. Unter dem von Morrison provozierten Ansturm des Publikums brach die unzulängliche Bühne des „Auditorium“ zusammen. Nach einem „Sensations-Aufmacher über Anstiftung zum Aufruhr“ in der lokalen Presse erließ die Dade-County-Polizeidirektion am 5. März 1969 Haftbefehl gegen Morrison wegen „unzüchtigen und lasziven Verhaltens“ sowie mehrerer kleinerer Delikte („unzüchtige Entblößung“, „vulgäre Sprache in der Öffentlichkeit“, „öffentliche Trunkenheit“). Gegenüber dem Musikjournalisten Jerry Hopkins deutete Morrison das entglittene Konzert als spielerisches Ereignis: Morrison hatte bereits bei einem Konzert im November des Vorjahres diffuse Drohungen gegen den designierten US-Präsidenten Richard Nixon ausgesprochen („We’re gonna get him…“). Auf Ersuchen des FBI erließ ein Bundesrichter wegen vermeintlicher „Landesflucht“ Morrisons nach dem Miami-Vorfall – der Sänger hatte einen schon geraume Zeit geplanten Urlaub auf Jamaika angetreten – einen Steckbrief. Schon kurz nach Beginn der Nixon-Ära bildeten sich nunmehr Initiativen empörter Eltern und ehemaliger Fans gegen die Doors wie die „Kundgebung für den Anstand“ in der Orange Bowl in Miami am 23. März 1969, die der erst wenige Wochen amtierende US-Präsident Nixon brieflich unterstützte. 16 US-Bundesstaaten verhängten einen Bann über die Doors, zahlreiche Konzerte wurden abgesagt, und in die Konzertverträge der Doors wurde eine Regressklausel aufgenommen für den Fall, dass die Band weiterhin öffentlich Ärgernis erregte. Im Juni 1969 spielte die Band in Mexiko-Stadt. Im folgenden Monat erschien das Album The Soft Parade. Die Aufnahmesessions, denen George Harrison von den Beatles einen Besuch abgestattet hatte, hatten sieben Monate gedauert und etwa 200.000 Dollar gekostet. Die Hälfte der Liedtexte hatte Krieger verfasst. Das Album, das mit Blas- und Streichinstrumenten arrangiert war, verkaufte sich verhältnismäßig schlecht. Weil Morrison Freiluftkonzerte ablehnte, nahmen die Doors im August 1969 nicht am Woodstock-Festival teil. Ende 1969 war Morrison mit einem weiteren Prozess wegen Belästigung von Flugpersonal in Phoenix sowie Vaterschaftsklagen konfrontiert. Angesichts des drastischen öffentlichen Stimmungsumschwungs gegen die Doors zog Morrison sich zunehmend zurück. Der Miami-Vorfall hatte zugleich die Abkehr Morrisons vom Sexsymbol-Image bedeutet, das ihn zwei Jahre lang umgeben hatte. Er ließ sich einen Bart wachsen, nahm deutlich zu und trennte sich von dem Look mit Lederhose und Conchagürtel, den der Modedesigner January Jansen für ihn entworfen hatte. Im Februar 1970 erschien die von rauen Rhythm-and-Blues-Songs geprägte Schallplatte Morrison Hotel. Zu den vielfältigen Turbulenzen in Morrisons Leben seit dem Miami-Vorfall zählte, der Musikkritikerin Patricia Kennely zufolge, eine informelle, rechtlich unwirksame Eheschließung mit ihr am 24. Juni 1970. Acht Jahre nach Morrisons Tod änderte die Kritikerin und Schriftstellerin ihren Namen infolgedessen in Patricia Kennealy Morrison. Auf Einladung der französischen Filmemacherin Agnès Varda bereiste Morrison im Juni 1970 gemeinsam mit dem PR-Berater der Doors, Leon Barnard, erstmals Frankreich. Er gab an, sich auf eine zu dieser Zeit für den August und September geplante zweite Europa-Tournee der Doors durch die Schweiz, Dänemark, Deutschland, Italien und Frankreich vorbereiten zu wollen. Am 18. Juli 1970 besuchte er in London das Pink-Floyd-Konzert im Hyde Park. Auf der Suche nach seiner verschollenen Lebensgefährtin Courson fuhr Morrison im selben Monat auch nach Tanger. Nach seiner Rückkehr nach Los Angeles war der Sänger aufgrund einer Lungenentzündung gesundheitlich stark angeschlagen. Von der geplanten zweiten Europa-Tournee blieb aufgrund der zeitlichen Verzögerung von Morrisons Miami-Prozess schließlich nur ein Auftritt beim Isle of Wight-Festival übrig, den die Doors im August 1970 vor über einer halben Million Zuschauern spielten. In dem Gerichtsprozess, der auf den Miami-Vorfall des Vorjahres folgte, wurde Morrison, der gefürchtet hatte, in seinem Heimatstaat Florida „gekreuzigt“ zu werden, im Oktober 1970 zu der von der Staatsanwaltschaft geforderten Höchststrafe verurteilt. Diese umfasste sechzig Tage harter Arbeit im Miami-Dade-County-Gefängnis für den Tatbestand der vulgären Sprache in der Öffentlichkeit, sechs Monate harter Arbeit an selber Stelle sowie eine Geldstrafe von 500 Dollar aufgrund von öffentlicher Entblößung – ein Tatbestand, der von den Anklagevertretern nicht hatte bewiesen werden können. Beide Haftstrafen sollten nacheinander abgeleistet werden. Für die Verurteilung aufgrund von öffentlicher Entblößung wurde Morrison bei guter Führung eine Entlassung nach zwei Monaten und die Aussetzung der verbleibenden viermonatigen Haftstrafe auf Bewährung in Aussicht gestellt. Darüber hinaus wurde eine weitere zweijährige Bewährungsstrafe über ihn verhängt. Der Doors-Sänger blieb nach Hinterlegung einer Kaution von 50.000 Dollar in Freiheit, und Morrisons Anwalt Max Fink kündigte eine Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils vor dem Berufungsgericht von Florida an. Morrison deutete den Prozess als gegen den von ihm verkörperten Lebensstil gerichtet: Dennoch bedeutete die Verurteilung für Morrison, „dass sein gesamtes weiteres Leben einem juristischen Drahtseilakt gleichkommen würde.“ Erst vier Jahrzehnte später erfolgte eine Revision des Urteils durch den Begnadigungsausschuss des Staates Florida in Tallahassee. Der republikanische Gouverneur von Florida Charlie Crist hatte sie beantragt, weil es so ausgesehen habe, „als ob eine Ungerechtigkeit korrigiert werden“ musste. Das Urteil wurde am 9. Dezember 2010 aufgehoben. Im Oktober 1970 kamen die Doors zusammen, um ihr letztes gemeinsames Album, L.A. Woman, aufzunehmen, das starke Blues-Einflüsse aufwies. Bei einer Show am 11. Dezember 1970 in der State Fair Music Hall in Dallas spielten die Doors das einzige Mal den Song Riders on the Storm live. Am folgenden Abend gab Morrison im The Warehouse in New Orleans ein letztes unmotiviertes Konzert gemeinsam mit den Doors. Nachdem er seine Gesangseinsätze wiederholt verpasst, nach einem Tritt des Schlagzeugers einen Wutanfall erlitten und Teile der Holzbühne zerstört hatte, beschlossen die Doors einvernehmlich, weitere Konzerte auszusetzen. Bei einem Sturz vom Dach eines zweigeschossigen Bungalows des Chateau Marmont Hotel im späteren West Hollywood zog Morrison sich im Januar 1971 Rippenprellungen zu. Auszeit in Paris und Tod Pamela Courson hatte sich im Zusammenhang mit der erfolglosen Boutique Themis, deren Einrichtung Morrison ihr zum Dezember 1968 in West Hollywood finanziert hatte, bereits zuvor in Paris aufgehalten. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit Morrison wegen ihres Heroinkonsums war sie Ende September 1970 nach Paris verreist und kehrte dorthin erneut im Februar 1971 zurück. Seiner Rolle bei den Doors überdrüssig und unter dem Eindruck des Miami-Urteils stehend folgte Morrison seiner Langzeitfreundin nach Paris. Nach der umstrittenen Einschätzung des Morrison-Biografen Stephen Davis verstieß Morrison mit seinem Fortgang aus den Vereinigten Staaten gegen gerichtliche Kautionsvereinbarungen. Im März 1971 wohnte er mit Courson zunächst im Hotel Georges V. im 8. Arrondissement. Anschließend lebten sie zur Untermiete in Paris, 17 Rue Beautreillis, dritter Stock, einem luxuriös eingerichteten Appartement des französischen Fotomodells Elisabeth Larivière. Morrison führte in Paris ein zurückgezogenes Leben. Er wollte vor allem an Gedichten und Drehbüchern arbeiten und eine Gedicht-LP vorbereiten. Da weder Courson noch Morrison Französisch sprachen, stellten sie eine kanadische Sekretärin, Robin Wertle, ein. Der Sänger klagte in Paris wiederholt über starke Atembeschwerden. Ärztlich verordnete Asthma-Medikamente führten zu keiner Linderung. Im April unternahmen Morrison und Courson auf den ärztlichen Rat hin, Morrison solle sich in einer warmen Region erholen, eine Reise in den Südwesten Frankreichs, nach Spanien und Marokko. Im Mai bereisten sie Korsika und Anfang Juni London. In den ersten Julitagen führte Morrison eine Selbstmedikation gegen seine ausgeprägten Atembeschwerden durch, indem er gemeinsam mit Courson Heroin schnupfte, das neben der narkotischen und schmerzbetäubenden Wirkung auch eine ausgeprägte hustenstillende Wirkung hat. Am Morgen des 3. Juli 1971 starb Jim Morrison im Alter von 27 Jahren. Als Todesursache attestierte der offizielle gerichtsärztliche Bericht vom 3. Juli 1971 einen Herzstillstand, doch konnten die genauen Umstände von Morrisons Tod in Paris nicht mit Sicherheit ermittelt werden. Da Courson den Tod Jim Morrisons später auf eine Überdosis Heroin zurückführte, Morrisons Leiche nicht obduziert und die Nachricht von seinem Tod erst am 9. Juli 1971, zwei Tage nach seiner Beerdigung, offiziell bekannt gegeben wurde, kam es zu umfangreichen Legendenbildungen um die Umstände seines Ablebens. Die Morrison-Biografen Hopkins/Sugerman hielten es 1980 unter anderem für möglich, dass Morrison seinen Tod vorgetäuscht hatte, um „Frieden zum Schreiben zu finden“, und wollten auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Morrison ermordet worden oder „Opfer einer politischen Verschwörung geworden“ war. Danny Sugerman machte 1989 in seiner Autobiografie Wonderland Avenue bekannt, dass Courson davon überzeugt war, ihr Freund sei an einer Heroinüberdosis gestorben. Im Anschluss an Sugermans Buch kursierten vermehrt Berichte von einem Drogentod Morrisons. Die Biografen Riordan/Prochnicky wiesen 1991 die Möglichkeit von Morrisons Überleben zurück und nahmen in Übereinstimmung mit Sugermans Autobiografie an, dass Morrison in seiner Pariser Wohnung an einer Heroin-Überdosis gestorben war. Der Biograf Davis ließ 2004 die eigentliche Todesursache offen, gab jedoch an, dass Pamela Courson am 3. Juli nach Morrisons Tod in der gemeinsamen Wohnung Unterstützung bei ihrem Heroindealer Jean de Breteuil sowie bei Morrisons Freunden Alain Ronay und Agnès Varda gesucht habe, bevor die Polizei eintraf. Marianne Faithfull äußerte 2014 die Überzeugung, dass ihr damaliger Partner, Jean de Breteuil, Morrison mit Heroin, das angesichts dessen Alkoholismus und Herzerkrankung zu stark für diesen gewesen sei, versorgt habe; sie sieht Morrisons Tod als Unfall, nicht als Mord an. Rekonstruktion der Todesumstände und Beerdigung Trotz zahlreicher Abweichungen im Detail geben Jim Morrisons Biografen mehrheitlich als „offizielle Lesart“ den auf Pamela Courson zurückgehenden Bericht wieder, dass Courson Jim Morrison am Morgen des 3. Juli 1971 in ihrer Pariser Wohnung aufgeweckt habe, da sie wahrnahm, dass er starke Atembeschwerden hatte. Sie brachte Morrison in die Badewanne, um ihn kalt abzuduschen. In der Badewanne erbrach sich Morrison mehrmals und blutete aus der Nase. Schließlich setzte seine Atmung aus. Als der wegen Asphyxie zu Hilfe gerufene Rettungsdienst der Pariser Feuerwehr am 3. Juli 1971 wenige Minuten nach dem Hilferuf um 9:24 Uhr eintraf, war Morrison tot. Da der Rockstar nicht erkannt worden war und der untersuchende Kriminalbeamte mutmaßte, dass Drogen im Spiel waren, verzichtete der Gerichtsmediziner auf eine Obduktion, weil er annahm, dass eine Obduktion den Verdacht des Drogenkonsums bestätigen würde. Die Untersuchungsbeamten gingen davon aus, dass Morrison im Fall einer Drogenüberdosis seinen Tod selbst verschuldet hatte. Zahlreiche Publikationen sind vorrangig Morrisons letzten Lebenswochen und den näheren Umständen seines Todes gewidmet. Die relevanten Dokumente zu Morrisons Tod veröffentlichte erstmals Bob Seymore 1991 in seinem Buch The End – The Death Of Jim Morrison. Am stärksten von der „offiziellen Lesart“ wich Sam Bernett ab, der in einem anderweitig nicht bestätigten Bericht angab, Morrison sei in seinem Pariser Nachtklub, dem „Rock ’n’ Roll Circus“, auf der Toilette an einer Überdosis Heroin gestorben. Nach Heinz Gerstenmeyer ist Morrisons Tod – aufgrund eines Lungenversagens nach einer länger anhaltenden Lungenblutung – erst wenige Minuten vor dem Eintreffen des Rettungsdienstes der Pariser Feuerwehr in Morrisons Wohnung eingetreten. Entgegen Coursons dringlicher Bitte verständigten Alain Ronay und Agnès Varda, zwei Freunde Morrisons, die Courson aufgrund ihrer Sprachprobleme telefonisch um Unterstützung gebeten hatte, den Rettungsdienst erst mit halbstündiger Verzögerung. Da Ronay fürchtete, mit Coursons und Morrisons Heroinkonsum in Verbindung gebracht zu werden, habe er sich zunächst selbst einen Eindruck vom Gesundheitszustand seines ehemaligen Studienfreundes verschaffen wollen. Am Tag nach Morrisons Tod entdeckte Courson, die in der Wohnung bis zur Erteilung der Bestattungserlaubnis zwei Nächte lang Totenwache hielt, in einem Notizbuch Morrisons die Zeilen: Morrison wurde am Morgen des 7. Juli 1971 auf dem Pariser Ostfriedhof Père Lachaise in der 6. Division, 2. Reihe, Grab 5 beigesetzt. An der Beerdigung nahmen nur Pamela Courson, der Doors-Manager Bill Siddons, Alain Ronay, Agnès Varda und Morrisons Sekretärin Robin Wertle teil. Nach dem Diebstahl einer kleinen Steintafel 1973 wurde erst im Juni 1981 ein Grabstein, den die drei verbliebenen Doors-Musiker finanziert hatten, errichtet. Im Dezember 1990 ließen Morrisons Eltern einen neuen monumentalen Grabstein mit einer Bronzeplatte errichten; diese trägt die altgriechische Grabinschrift „ΚΑΤΑ ΤΟΝ ΔΑΙΜΟΝΑ ΕΑΥΤΟΥ“, die „gemäß seinem Dämon“ oder „gemäß seinem Schicksal“ bedeutet. Die Außenmauer des Friedhofs wurde kurz darauf um eine mit Eisenspitzen bewehrte Mauerkrone ergänzt, um Morrison-Fans vom nächtlichen Vordringen auf den Friedhof abzuhalten. Das Grab zog gerade während der 1990er Jahre zu Morrison-Gedenktagen wiederholt auch gewalttätige Randalierer an. Nach jahrzehntelangen Gerüchten um eine mögliche Verlegung oder Auflösung des Grabs erklärte der vormalige französische Kulturminister und seinerzeitige Justizminister Jacques Toubon im März 1996 im französischen Fernsehen, dass Jim Morrisons Grab Bestandteil des Kulturdenkmals Père Lachaise sei und deshalb zeitlich unbegrenzt bestehen bleibe. Angaben der Friedhofsverwaltung aus dem Jahr 2004 zufolge handelt es sich bei dem Grab des Rocksängers um eine der populärsten Pariser Touristenattraktionen und um das meistbesuchte der 70.000 Gräber des Père Lachaise, auf dem zahlreiche bekannte Persönlichkeiten ruhen. Die Pariser Stadtverwaltung schätzte die Anzahl der Besucher des Grabs im Jahr 2001 auf etwa 1,5 Millionen. Nach einer ersten zeitweiligen Sperrung von Morrisons Grab 1988/1989, die keinen Rückgang des Besucherzustroms bewirkte, ist die Grabstelle seit 2004 erneut durch ein Metallgitter abgesperrt. In einer ethnologischen Feldstudie wurde das Grab als modernes Wallfahrtsziel und „polymorphe heilige Stätte“ beschrieben, an der zumindest eine der unterschiedlichen Kategorien von Besuchern spirituelle Inspiration bei Morrison als einer „Gestalt von transzendenter Bedeutung“ suche. Bei seiner Verklärung wird oft übersehen, dass der massive Alkoholkonsum und auch der Drogenmissbrauch schon nach den ersten Erfolgen sein schöpferisches Talent beschädigte. Nach den ersten Erfolgen 1967 behinderten die hohen Mengen Alkohol zunehmend seine Fähigkeit, kreative Inspirationen auszuarbeiten. In einem Teufelskreis führte der Verlust seiner kreativen Ausdrucksmöglichkeiten zu einer Steigerung des Alkoholkonsums und Drogenmissbrauchs und letztlich zu seinem Tod. Künstlerisches Werk und Wirkung Zu Morrisons raschem Aufstieg als Rockstar und seiner außerordentlichen Popularität in den späten 1960er Jahren trugen zahlreiche Faktoren bei, darunter die von den Doors verkörperte Antithese zu den verklärten Traumwelten, für die Teile der Folkszene und die Flower-Power-Musik der 1960er Jahre standen, Morrisons „etwas raue Baritonstimme“ und seine erotische Ausstrahlung, seine dunklen, anspruchsvollen Texte und seine spektakulären Auftritte. Morrisons Selbstinszenierung, Selbstmythisierung und seine Manipulation der Medien mit griffigen Schlagwörtern, sein rebellischer und gegen etablierte Autoritäten gerichteter Habitus, sein selbstzerstörerischer Lebensstil und seine skandalösen Grenzüberschreitungen boten einem vorwiegend jugendlichen Publikum auf der Suche nach Orientierung und persönlicher Freiheit vielfältige Projektionsflächen. Unter Rückgriff auf indigen beeinflusste Chiffren wie den Rock-„Schamanen“ oder „Echsenkönig“ hatte Jim Morrison sich darauf verstanden, mit einem betont männlichen Erscheinungsbild aus Lederhose, weißem Hemd und dem Conchagürtel der Navajo-Indianer einen Mythos um die eigene Person zu bilden. Binnen weniger Jahre drohte er dauerhaft auf die Rolle des mysteriösen, erotischen und skandalösen Rockstars festgelegt zu werden. Je stärker das Bühnen-Image des dionysisch-rauschhaften „Weltenkünstlers“ im Sinne Nietzsches, dem Morrison sich auch durch Alkohol- und Drogenkonsum nicht entziehen konnte, außer Kontrolle zu geraten drohte, desto wichtiger wurde ihm „alles, was Leute zum Denken bringt“ und die inhaltliche Auseinandersetzung des Publikums mit seinem künstlerischen Schaffen. Auch seine Aneignung der Figur des „Schamanen“ ging weit über einen Marketingtrick hinaus; Morrison begründete seine Identifikation mit dieser Figur dadurch, dass bei einem Autounfall, dessen Zeuge er als Vierjähriger zufällig wurde, die Seelen zweier dabei verstorbener Indianer in ihn eingedrungen seien. Er beschäftigte sich eingehend mit der ethnologischen und religionswissenschaftlichen Literatur zum Schamanismus und fügte die Idee eines „Mittlers zwischen den Welten“ in sein von Nietzsches apollinisch-dionysischer Kunstkonzeption, der Psychologie Norman O’Browns und Antonin Artauds Theaterkonzeption geprägtes Weltbild ein. Die Figur des Schamanen ging dabei eine Synthese mit der des Dionysos, des Hitchhikers und Vatermörders ein. Zugleich fügte er auch Elemente der schamanischen Séance in seine Bühnenauftritte ein. Wenngleich Morrison vor allem durch seine Songs bekannt wurde, hinterließ er ein künstlerisches Gesamtwerk von insgesamt über 1600 Manuskriptseiten, darunter Gedichte, Anekdoten, Epigramme, Essays, Erzählungen, Songtexte, szenische Texte und Drehbuchentwürfe. Morrison versuchte, verschiedene Kunstformen miteinander in Einklang zu bringen und zu vereinen: Als verbindendes Element von Morrisons musikalischen Arbeiten und seinen literarischen und filmischen Versuchen deutete Collmer Morrisons persönliche Befreiungsversuche und seine Absicht, „die Kontrolle über das eigene Leben so weit wie möglich zurückzugewinnen.“ Als Hintergrund seiner künstlerischen, insbesondere seiner literarischen Ambitionen nannte Morrison die Absicht zur Förderung eines neuen Bewusstseins: Morrison äußerte sich ungern über eigene Texte und warnte in einem Interview 1967 davor, seine vieldeutigen Arbeiten auf einfache Botschaften zu reduzieren. Nach Auffassung des Sängers – dem nach der im Elternhaus erlebten autoritären Erziehung die Vorstellung von eigener Autorität, die Übernahme von persönlicher Verantwortung und von Führungsrollen ohnehin fremd geblieben waren – sollten Leser und Zuschauer seine Arbeiten auf ihre eigenen Kontexte übertragen: „Ich biete Bilder an. Ich beschwöre Erinnerungen an … Freiheit. Doch können wir nur Türen öffnen; wir können Leute nicht hindurchschleifen.“ Der Rolling Stone listete Morrison 2008 auf Rang 47 der 100 größten Sänger aller Zeiten. Musik und Live-Auftritte Nach dem Verfall des Rock ’n’ Roll hatte an der US-Westküste in den frühen 1960er Jahren neben dem poppigen Soul des Motown-Labels und der Surfmusik die fast ausschließlich akustisch instrumentierte Folkmusik um Künstler und Bands wie Bob Dylan oder Simon and Garfunkel dominiert. Parallel zur British Invasion durch Gruppen wie die Beatles, die Rolling Stones, The Who oder The Kinks hatten US-Bands wie die Byrds und The Beau Brummels die Elektrifizierung der US-Folkszene betrieben. Damit einher ging die Entwicklung zum Psychedelic Rock mit seinen experimentelleren Songstrukturen und neuen Bands wie Jefferson Airplane und Grateful Dead. Im Gegensatz zu Teilen der „Flower Power“-Musik, bei der jedermann gemäß der „Love, Peace and Happiness“-Maxime „von Räucherstäbchen, Pfefferminz und orangefarbenen Himmeln zu singen schien,“ strahlten die Songs der Doors eine ungewöhnlich düstere und aggressive Atmosphäre aus. Zugleich hoben die Doors sich durch ihren attraktiven Frontmann, poetische Songtexte, ihre psychedelischen Konzeptstücke und eine provokative Bühnenshow deutlich vom Auftreten anderer Gruppen der späten 1960er Jahre ab, was Morrison und seiner Band ab 1967 in den USA eine Sonderstellung im noch jungen Rockmusik-Genre verschaffte. Morrison verfasste den größten Teil der Songtexte der Doors, und er konzipierte die Grundmelodie zahlreicher Lieder. Da Morrison eine Ausbildung am Klavier nach wenigen Monaten abgebrochen hatte und keine Notationstechniken beherrschte, bereitete es ihm anfangs Schwierigkeiten, die Melodien seiner Songs zu fixieren: Erst in der gemeinsamen Kompositions- und Probenarbeit mit den anderen Doors-Mitgliedern ließ sich das Problem der vergänglichen Melodien lösen, wie Manzarek sich erinnerte: „Jim sprach-sang die Wörter immer wieder, und währenddessen entwickelten sich langsam die dazu passenden Töne.“ Seine Bandkollegen regte Morrison 1965 dazu an, eigene Songtexte zu verfassen, die sich auf Elementarkräfte und -bilder wie Erde, Luft, Feuer und Wasser beziehen sollten. Dem intensiven gemeinsamen Schaffensprozess trug der Sänger Rechnung, indem er die Urheberschaft an den Liedern meist der gesamten Gruppe zuschrieb („All Songs Written by The Doors“). Auch andere Künstler unterstützte er beim Songschreiben wie die deutsche Sängerin Nico, deren Album The Marble Index (1968) zahlreiche Anregungen Morrisons enthält. Morrison schrieb über hundert Lieder mit einer großen Bandbreite musikalischer Stile: Blues, Rocksongs, Psychedelic Rock, Hard Rock, Balladen, Seemannslieder oder A-cappella-Gesang. Der Sänger betrachtete die Doors als weiße Bluesband und machte als Einflüsse neben Blues und Rock ’n’ Roll auch Jazz und einen kleinen Anteil klassischer Einflüsse geltend. Das musikalische Spektrum Morrisons und der Doors umfasste auch Elemente des epischen Theaters der zwanziger Jahre (Coverversion des Alabama Song aus Brechts und Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny) oder Barockmusik, wie ein postum veröffentlichtes Lied belegt (Woman in the Window, 1971), das auf einer Melodie von Johann Sebastian Bach basiert. Zahlreiche von Morrisons Songtexten enthalten literarische Anspielungen und Zitate wie etwa End of the Night (1967), das im Wesentlichen auf Versen Louis-Ferdinand Célines und William Blakes beruht. Auf der Bühne setzte Morrison die Doors-Songs als Sänger, Performer und Perkussionsspieler in Szene. Morrison hatte in seinen Schul- und Collegejahren mehrfach an Theateraufführungen mitgewirkt. Beeinflusst von den Konzeptionen Antonin Artauds oder von Julian Becks „Living Theatre“, dessen Improvisationsstück Paradise Now den Doors-Sänger im Februar 1969 mehrfach spontan zum Mitspielen angeregt hatte, erweiterte Morrison das Repertoire der Rockmusik um Formen eines „Rocktheaters“. Besondere Bedeutung kam dabei epischen Konzeptstücken wie The End (1967), When the Music’s Over (1967), The Unknown Soldier (1968), The Celebration of the Lizard (1965–68), Rock is Dead (1969) oder The Soft Parade (1969) zu, die sowohl gesprochene als auch gesungene Passagen und Soundeffekte enthielten. Diese Stücke eigneten sich besonders für improvisatorische Variationen und zielten auf eine intensive Interaktion mit dem Publikum ab: Bei Livekonzerten nutzte der Sänger die offenen Konzeptstücke der Doors regelmäßig als „erweiterbares Gewebe für seine poetischen Stücke, Fragmente, kleinen Couplets und die Dinge, die ihm gerade auf der Zunge lagen.“ In einem Interview hob Morrison im Juni 1969 die Unabgeschlossenheit der Doors-Songs und die Möglichkeit hervor, bei Live-Auftritten unterschiedliche Versatzstücke assoziativ aneinanderreihen und ineinander übergehen lassen zu können: Die für Morrison charakteristische Technik der Verknüpfung von Musik mit literarischen Texten fand in Gestalt rezitativer Beiträge wie Horse Latitudes (1967) in die Studioalben der Doors Eingang. Zu den theatralen Einlagen von Morrisons Bühnenauftritten zählte ein indianischer Geistertanz, der an die vielfältigen Anspielungen seiner Songtexte auf indianische Lebenswelten (Eidechsen, Schlangen, Wüsten etc.) anknüpfte. Nach Riordan/Prochnicky war Morrison 1966 zudem der erste Rock-Performer, der sich in das Publikum fallen ließ (Stagediving). Lyrik Neben Morrisons Gesang und Songtexten fanden seine literarischen und filmischen Arbeiten nur geringe Beachtung. Der Rockstar gab an, die besondere Stärke der Poesie liege in ihrer Dauerhaftigkeit begründet: In seiner umfangreichen Studie zum Dichter Jim Morrison urteilte Collmer, im Vergleich zu seinen literarischen Vorbildern sei Morrison „überhaupt nicht als literarisches Genie [zu] bezeichnen“, doch habe er, „vereinzelt, beachtenswerte literarische Leistungen“ hervorgebracht. Auf der Grundlage von Tageseindrücken habe Morrison in seinen Texten regelmäßig mehrschichtige Bedeutungsgehalte aufgebaut. Die Einflüsse auf Morrisons literarisches Schaffen sind vielfältig. Neben Versatzstücken der Kulturen der amerikanischen Ureinwohner spiegeln seine Texte Anregungen von Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie dem Naturmystiker William Blake oder den französischen Symbolisten Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud wider. Deutliche Spuren hinterließen die Autoren der Beat Generation der 1950er Jahre wie Jack Kerouac (vor allem die „Beat-Romane“ Unterwegs und Doctor Sax) oder Michael McClure, deren Arbeiten von spontanen Schaffensformen und offenen Kompositionsprinzipien geprägt waren. Aus Kerouacs Werken übernahm Morrison indianische, aztekische oder ägyptische Chiffren. Die Werke des Mythenforschers Joseph Campbell und des Sozialanthropologen James Frazer fanden Niederschlag in Arbeiten wie The Celebration of the Lizard. Morrison war Autor des aphoristischen Lyrikbands The Lords / Notes on Vision, der sich auf „ein romantisches Geschlecht von Menschen, die einen Weg gefunden haben, ihre Umwelt und ihr eigenes Leben zu kontrollieren“, und auf filmästhetische Fragen konzentrierte. Sein zweiter Band The New Creatures (1969) griff im Titel ein Paulus-Zitat () auf. Beide Lyrikbände erschienen im April 1970 gemeinsam als Hardcover bei Simon & Schuster. Im selben Jahr ließ Morrison in einem Privatdruck bei Western Lithographers den Lyrikband An American Prayer drucken. Einzelne Gedichte wurden in diversen amerikanischen und britischen Zeitschriften („16 Spec“, „Circus“, „Disc“, „Eye“, „The Los Angeles Image“, „Rolling Stone“) abgedruckt. Zu öffentlichen Lesungen kam es kaum, weil Morrison es „ziemlich hart [fand], etwas einfach so trocken vorzulesen.“ Während seiner Collegezeit in St. Petersburg hatte Morrison 1961/62 erstmals im Contemporary-Café eigene Texte vorgetragen und sich selbst auf der Ukulele begleitet. Im Mai 1969 trug der sichtlich nervöse Doors-Frontmann seine Lyrik sowohl in der Sacramento State College Gallery (SacSC Gallery) als Gast Michael McClures als auch an zwei Abenden im Kino „Cinematheque 16“ in Los Angeles bei einer Benefiz-Veranstaltung des US-Schriftstellers Norman Mailer vor. Auch während eines Jimi-Hendrix-Konzerts im The Village Gate in New York soll Morrison am 4. Mai 1970 eigene Texte vorgetragen haben. Mehrfach zeichnete der Sänger eigene Lyrik in Tonstudios auf. Die erste Aufnahme von 40 Gedichten entstand wohl am 8. Juni 1969 im Elektra Sound Recorders-Studio in Los Angeles und wurde auszugsweise 1978 auf der Lyrik-LP An American Prayer der Doors veröffentlicht. Eine zweite Studio-Session, die 22 teilweise unvollendete Texte Morrisons umfasste, wurde am 8. Dezember 1970 im Village Recorders-Studio aufgezeichnet. Der Ruf Morrisons als amerikanischer Poète maudit wurde durch die nach dem Tod des Sängers veröffentlichten Lyriksammlungen Wilderness – The Lost Writings of Jim Morrison (1988) und The American Night (1990) weiter gefestigt (zuvor auf Deutsch bereits Ein Amerikanisches Gebet, 1978, und Far Arden, 1985). In Zusammenhang mit der allmählichen Publikation von Nachlasstexten seit den 1980er Jahren wurden Morrisons metaphernreiche Songtexte und Gedichte wiederholt zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Zugleich nahm der Marktwert von Morrison-Autographen zu: Eine Handschrift von The Celebration of the Lizard erzielte bei einer Auktion von Christie’s in New York am 4. Februar 1998 einen Preis von 40.000 Dollar, ein L.A.-Woman-Autograph wechselte bei einer Auktion in Berkshire am 4. August 2010 für 13.000 Pfund Sterling (etwa 16.000 Euro) den Besitzer und zwei seiner Pariser Notizhefte erzielten 2007 und 2013 Preise von 140.000 bzw. 200.000 Dollar. Filmprojekte Morrison hatte zunächst Filmregisseur werden wollen. Während seiner Studienzeit produzierte er 1964/65 mit seinen Kommilitonen Phil O’Leno und John DeBella zwei unkonventionelle Kurzfilme in Montagetechnik. In seinem Gedichtband The Lords (1969), der von den Schriften des klassischen Philologen Norman O. Brown inspiriert ist, stellte Morrison das Kino als „totalitärste aller Kunstformen“ dar. Das Kino vermittle dem Zuschauer den Eindruck, dass der Schmerz der Individualität vorübergehend aufgehoben sei. Darüber hinaus entspreche der Film am stärksten der Alltagswahrnehmung: Gemeinsam mit dem Beat-Schriftsteller Michael McClure, den Morrison im Mai 1967 in Los Angeles kennengelernt hatte, arbeitete der Sänger später an verschiedenen, nicht realisierten Filmprojekten. Im September 1968 planten beide in London eine Verfilmung von McClures Stück The Beard (1965), in der Morrison die Rolle des Gesetzlosen und Serienmörders Billy the Kid spielen sollte. Im selben Jahr trat Morrison als Statist in Agnès Vardas US-Filmkomödie Lions Love auf. Weitere Filmpläne Morrisons betrafen McClures mystischen Abenteuerroman The Adept (veröffentlicht erst 1971). Gemeinsam erstellten McClure und Morrison 1970 für MGM eine Drehbuchfassung des Romans, die mehrere hundert Seiten umfasste. Der von Morrison und den Doors als „Dokument dieser Ära“ produzierte kurze Konzertfilm A Feast of Friends wurde im Mai 1969 auf dem „Atlanta International Film Festival“ mit dem ersten Preis in der Kategorie „Dokumentarfilm“ ausgezeichnet und im selben Jahr bei zahlreichen anderen Filmfestivals gezeigt, hatte beim Publikum und den Kritikern allerdings nur begrenzt Erfolg. Manzarek, Krieger und Densmore distanzierten sich zur Enttäuschung Morrisons von dem Film. Morrisons bekanntestes, aber öffentlich nur am 27. März 1970 im Queen Elisabeth Theatre in Vancouver und erneut in Paris 1993 gezeigtes Filmprojekt ist HWY: An American Pastoral. Das zwischen Frühjahr und Sommer 1969 entstandene, wenig strukturierte Spielfilmfragment im Stil des Direct Cinema weist starke Abweichungen vom unvollendeten Drehbuch auf. Morrison finanzierte durch die eigens dafür gegründete Produktionsgesellschaft „HiWay Productions“ sein Low-Budget-Projekt über einen Anhalter, der in einer unwirtlichen Gegend seinen Fahrer tötet und dessen Auto stiehlt. Als Collegestudent war Morrison 1962 regelmäßig per Anhalter von Tallahassee 450 Kilometer zu einer Freundin nach Clearwater gefahren. Die bei Palm Springs in der Mojave-Wüste und in Los Angeles gedrehten Filmsequenzen über den Highway-Mörder – eine Vatermörder-Chiffre – sollten der Einholung weiterer Gelder dienen, mit denen das Projekt hätte abgeschlossen werden können. Unterstützt wurde Morrison bei HWY von seinen Freunden Paul Ferrara, Frank Lisciandro und Babe Hill. Den Soundtrack produzierte der mit Morrison befreundete Pianist Fred Myrow. Im Oktober 1969 wurde die Filmhandlung durch die von besonderer Grausamkeit gekennzeichneten Tate-/LaBianca-Morde, die Mitglieder der Manson Family in Los Angeles begingen, von der Wirklichkeit eingeholt. Auszüge aus dem HWY-Filmmaterial wurden erst 2009 in Tom DiCillos Kino-Dokumentation When You’re Strange (deutsch: The Doors: When You’re Strange) veröffentlicht. 1971 wollte Morrison während seines zweiten Paris-Aufenthalts A Feast of Friends und HWY zur Aufführung bringen. Morrison arbeitete an weiteren Filmprojekten. Wie seit 1968 mehrfach geschehen, erreichten ihn auch in Paris Anfragen zur Übernahme von Rollen in Spielfilmen. Nach Morrisons Tod Trotz seiner nur wenige Jahre andauernden Karriere mit den Doors hat der Rockstarmythos um Morrison in Zusammenhang mit mehreren Kinofilmen (darunter Apocalypse Now 1979, The Doors 1991, Forrest Gump 1994 und When You’re Strange 2009) und Buchpublikationen mehrere Renaissancen erlebt. Die verbliebenen Bandmitglieder der Doors haben sechs Jahre nach Morrisons Tod eine Auswahl hinterlassener Gedichtaufnahmen mit Musik unterlegt, sie um alte Doors-Livemitschnitte und eine Sequenz aus dem Morrison-Film HWY ergänzt und diese 1978 auf dem Spoken-Word-Album An American Prayer veröffentlicht. Das Album klang mit Remo Giazottos von Tomaso Albinoni inspirierter Komposition Adagio g-Moll aus. An American Prayer wurde im Juni 1995 zum Nummer-eins-Album auf dem „Billboard’s Top Pop Catalogue Albums“ und war das einzige Doors-Album, das in den USA für einen Grammy (als Best Spoken Word Album) nominiert war. Ebenfalls im Jahr 1978 entstand der Dokumentarfilm 20 Stunden mit Patti Smith, in dem sich die Punksängerin Patti Smith beim Lesen von Morrison-Gedichten filmen ließ. Neben Patti Smith beeinflusste Morrison mit seinem Erscheinungsbild und dem Habitus des revoltierenden Rockstars in den folgenden Jahrzehnten unterschiedliche Musiker und Bands wie Scott Stapp von Creed, Iggy and the Stooges, Ian Curtis von Joy Division oder Scott Weiland von den Stone Temple Pilots. Der US-Regisseur Francis Ford Coppola, der gemeinsam mit Morrison das Filminstitut der UCLA besucht hatte, griff 1979 für den Soundtrack seines Antikriegsfilms Apocalypse Now neben Richard Wagners Walkürenritt auch auf Doors-Musik zurück. Die Eingangssequenz des Films unterlegte Coppola mit dem Song The End. Die erste Morrison-Biografie No One Here Gets Out Alive (deutsch: Keiner kommt hier lebend raus) von Jerry Hopkins und Danny Sugerman wurde 1980 mit weltweit mehr als vier Millionen verkauften Exemplaren zu einem Kassenschlager und führte zu einem Wiederaufleben des Interesses an dem verstorbenen Doors-Sänger. Der Titel von Hopkins/Sugermans Rockstarbiografie war dem Doors-Song Five To One (1968) entlehnt. In Zusammenhang mit Hopkins/Sugermans Spekulationen über ein Überleben Morrisons entstand auch das Genre der fingierten Morrison-Biografien und -Romane, deren Gegenstand frei erfundene Abenteuer des „weiterlebenden“ Doors-Frontmanns sind. Der US-amerikanische Filmregisseur und Oscar-Preisträger Oliver Stone verfilmte 1990 die Morrison-Biografie und die Geschichte der Band unter dem Titel The Doors. Der Film, der hauptsächlich auf der Morrison-Biografie von Hopkins und Sugerman basierte, trug maßgeblich zur posthumen Imagebildung und -verfestigung Morrisons bei. Schauspieler wie Richard Gere, Michael O’Keefe oder John Travolta hatten Interesse an der Rolle Morrisons gezeigt, die schließlich von Val Kilmer übernommen wurde. Meg Ryan spielte Pamela Courson. In Cameo-Auftritten traten die britischen Rockmusiker Eric Burdon und Billy Idol und zudem Robbie Krieger, John Densmore sowie Patricia Kennealy auf. Die Authentizität von Stones cineastischem Porträt Morrisons als modernen Schamanen war umstritten. Stone hatte die Doors zu Morrisons Lebzeiten nicht live erlebt. Während Kilmers schauspielerische Leistung von der Kritik gelobt wurde, griffen vor allem die Doors-Mitglieder und Freunde Morrisons die Darstellung des Sängers als außer Kontrolle geratenen Soziopathen an. Manzarek sagte nach der Filmpremiere, dass es ein guter Film sei, der eine amerikanische Rock-Band zeige, niemals aber die Doors und schon gar nicht Jim Morrison. Der Film endet mit einer Aufnahme des Grabs auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise, für die kurzzeitig eine neue Morrison-Büste am Grab aufgestellt worden war. Stones Spielfilm machte eine neue Generation von Anhängern mit Jim Morrison vertraut, deren Begeisterung für die Rock-Ikone in den 1990er Jahren zeitweilig bizarre Formen annahm. Am 20. Todestag Jim Morrisons mussten 1991 am Friedhof Père Lachaise die Compagnies Républicaines de Sécurité, eine kasernierte Spezialeinheit der Nationalpolizei Frankreichs, einschreiten. Die Spezialeinheit hinderte Morrison-Fans, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vermehrt aus den ehemaligen Ostblock-Staaten angereist waren, an einem Durchbrechen der verriegelten Friedhofstüren mit einem gestohlenen Wagen und am gewaltsamen Vordringen auf den Friedhof. Nach dem frühen Tod des Nirvana-Sängers Kurt Cobain im Frühjahr 1994 wurde von Publikumsmedien das Konstrukt eines Klub 27 geprägt, dem mehrere populäre Musiker mit exzessivem Lebensstil und frühem Todeszeitpunkt wie Jim Morrison und Cobain zugerechnet wurden; eine statistisch signifikante Häufung von Todesfällen bei 27-jährigen Musikerinnen und Musikern konnte empirisch hingegen nicht belegt werden. In der Horrorkomödie American Werewolf in Paris von 1997 gibt sich in einer Szene ein junges Liebespaar auf dem Grab von Rocksänger Jim Morrison auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise der körperlichen Liebe hin, bis sich der Mann plötzlich im Schein des Vollmonds in einen Werwolf verwandelt. Auch Jahrzehnte nach dem Tod des Doors-Sängers hält die Rezeption von Morrisons Songs und Texten an, wie ein 2003 in Berlin-Baumschulenweg eingeweihtes Morrison-Denkmal, der späte Erfolg einer US-Initiative zur Revision des Miami-Urteils vor dem Begnadigungsausschuss des Staates Florida im Dezember 2010, eine Reihe neuer Veröffentlichungen in verschiedenen Sprachen, zahlreiche Samples aus Doors-Songs durch andere Bands, Fanclubs, Coverbands und der regelmäßige Besucherstrom an Morrisons Grabstätte dokumentieren. 2009 erschien unter dem Titel When You’re Strange die erste abendfüllende Kino-Dokumentation über Morrison und die Doors. Der Film des US-amerikanischen Regisseurs Tom DiCillo erzählt die Geschichte der Band von den Anfängen am Strand von Venice Beach im Jahr 1965 über die sechs Studioalben bis zu Jim Morrisons Tod im Jahr 1971 (Sprecher: Johnny Depp). Die Feuilletons der deutschsprachigen Zeitungen besprachen den „sensationelle[n] Dokumentarfilm“ überwiegend positiv. Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung grenzte DiCillos Ansatz deutlich von dem seines Vorgängers ab: „Bei den Aufnahmen legendärer Songs, von ‚Light my Fire‘ bis ‚People are Strange‘, ist man so nah dabei, dass Oliver Stones 1991 entstandene Spielfilmversion dagegen reichlich exaltiert, lächerlich und künstlich wirkt.“ Im November 2010 wurde in Frankreich eine Graphic Novel zu Morrisons Biografie veröffentlicht. Im Mai 2011 choreographierte und inszenierte der Leipziger Ballettdirektor Mario Schröder am Opernhaus Leipzig ein Ballett über Jim Morrison. Die Leipziger Neuinszenierung knüpfte an ein früheres Morrison-Ballett vom Januar 2001 an, das Schröder am Mainfranken Theater Würzburg produziert hatte. Nach Jim Morrison wurde im Jahr 2013 eine vor 40 Millionen Jahren existierende Riesenechse Barbaturex morrisoni genannt. Literatur Morrison-Texte The Collected Works of Jim Morrison. Poetry, Journals, Transcripts, and Lyrics. Harper Design, New York 2021, ISBN 978-0-06302-897-5. Jim Morrison & The Doors – Die kompletten Songtexte. Bearbeitet und übersetzt von Heinz Gerstenmeyer. Schirmer/Mosel, München 1992 (Neuauflagen: 2000, 2004), ISBN 3-88814-467-1. The American Night. Deutsche Übersetzung von Barbara Jung und Sabine Saßmann. Maro, Augsburg 1991, ISBN 978-3-87512-206-0. Ein amerikanisches Gebet/An American Prayer und andere Gedichte. Hrsg. und übersetzt von Reinhard Fischer und Werner Reimann. Kramer, Berlin 1996, ISBN 3-87956-098-6 Fernes Arden. Far Arden. Hrsg. und übersetzt von Werner Reimann. Kramer, Berlin 1985, ISBN 3-87956-173-7. Die Herren und die neuen Geschöpfe. Texte und Gedichte zu Film, Sehen, Alchemie und Magie. Hrsg. und übersetzt von Reinhard Fischer und Werner Reimann. Kramer, Berlin 1977, ISBN 3-87956-078-1. The Lords – Die Herrengötter. Notes on vision – Notizen zum Sehen. Neuübersetzung, Berlin 2018, ISBN 978-3-945980-09-5 (PDF). Wildnis. Die verlorenen Schriften von Jim Morrison. Übersetzt von Karin Graf, Nachwort von Arman Sahihi. Schirmer/Mosel, München 1989, ISBN 3-88814-337-3. Sekundärliteratur Thomas Collmer: Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison und seine Vorbilder. Maro-Verlag, Augsburg 1994, ISBN 3-87512-148-1; überarbeitete, aktualisierte & erweiterte Neuausgabe ebd. 1997, ISBN 3-87512-149-X; 2. (…) Neuausgabe ebd. 2002, ISBN wie zuvor; 3. überarbeitete und um ein langes Nachwort ergänzte Ausg. in 2 Bänden ebd. 2009, ISBN 978-3-87512-154-4 Stephen Davis: Jim Morrison – Life, Death, Legend. Gotham, New York 2004, ISBN 1-59240-099-X (Paperback), ISBN 1-59240-064-7 (Hardcover) John Densmore: Riders on the Storm: Mein Leben mit Jim Morrison und den Doors. Hannibal, Innsbruck 2001, ISBN 3-85445-066-4 (Englisch: Riders on the Storm – My Life With Jim Morrison And The Doors. Delacorte Press, New York 1990, ISBN 0-385-30033-6) The Doors mit Ben Fong-Torres: The Doors: Die illustrierte autorisierte Biographie der Band. 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Bloomsbury Publishing, London 1990; Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotografien und Bibliographie) Patricia Kennealy-Morrison: Strange Days, mein Leben mit Jim Morrison. Egmont, Kopenhagen 1998, ISBN 3-8025-2522-1 (Englisch: Strange Days – My Life With And Without Jim Morrison. Dutton Books / Plume / Penguin Group, New York 1992) Frank Lisciandro: Stunde der Magie. Schirmer/Mosel, München 1994, ISBN 3-88814-715-8 (Englisch: Jim Morrison – An hour for magic. Delilah Communications, New York. 1982 ISBN 0-933328-22-2) Ray Manzarek: Die Doors, Jim Morrison und ich: Mein Leben mit den Doors. Hannibal, Wien 1999, ISBN 978-3-85445-165-5 (Englisch: Light My Fire – My Life with The Doors. G. P. Putnam’s Sons, New York 1998, ISBN 0-399-14399-8) Rainer Moddemann: The Doors. 2. überarbeitete Auflage. Heel, Königswinter 2001 (Erstauflage: Heel, Königswinter 1991), ISBN 3-89365-927-7 James Riordan, Jerry Prochnicky: Break on Through. The Life and Death of Jim Morrison. William Morrow, New York 1991, ISBN 0-688-08829-5 Filme Morrison-Filmografie A Feast of Friends (1968/69, DVD 2014), Regie: Paul Ferrara HWY: An American Pastoral (1969), Regie: Jim Morrison, Paul Ferrara Dokumentationen The Doors Are Open (1968, DVD 2014), Regie: John Sheppard The Doors: Live in Europe 1968 (1968, DVD 1998), Regie: Paul Justman, Ray Manzarek et al. Live at the Hollywood Bowl (1968, DVD 2001), Regie: Ray Manzarek The Doors: A Tribute to Jim Morrison (1981) The Doors: Dance on Fire (1985, DVD 2001), Regie: Ray Manzarek The Soft Parade, a Retrospective (1991, DVD 2001), Regie: Ray Manzarek The Doors – Legends (1997), VH1, Produzentin: Mary Wharton, Erzähler: Henry Rollins Jim Morrison: The Final 24 (2006), Discovery Channel, Global Television Network, Oprah Winfrey Network, Regie: Mike Parkinson The Doors: When You’re Strange (2009), Regie: Tom DiCillo The Doors: R-Evolution (2013) Jim Morrison: Die letzten Tage in Paris (Jim Morrison, derniers jours à Paris, 2021), Arte und RTBF, Regie: Olivier Monssens Doors-Spielfilm The Doors (1991, DVD 2002), Spielfilm von Oliver Stone mit Val Kilmer und Meg Ryan Weblinks Früher Studienwerbefilm der Florida State University mit Jim Morrison (englisch) doors-online.de, älteste deutschsprachige Doors-Seite Doors Fanclub/Doors Quarterly Magazine Online (37 Ausgaben zwischen 1983 und 1999) (englisch und deutsch) seelenkueche.com, Deutsches Doors-Fanprojekt Einzelnachweise The Doors Rockmusiker Rocksänger Singer-Songwriter Autor Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigte Staaten) Literatur (20. Jahrhundert) Lyrik Person (Hippiebewegung) US-Amerikaner Geboren 1943 Gestorben 1971 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rudi%20Dutschke
Rudi Dutschke
Alfred Willi Rudi Dutschke, Rufname Rudi (* 7. März 1940 in Schönefeld, Landkreis Jüterbog-Luckenwalde; † 24. Dezember 1979 in Aarhus, Dänemark), war ein deutscher marxistischer Soziologe und politischer Aktivist. Er gilt als Wortführer der Studentenbewegung der 1960er Jahre in West-Berlin und in Westdeutschland. Ein Rechtsextremist fügte ihm am 11. April 1968 mit Pistolenschüssen schwere Hirnverletzungen zu, an deren Spätfolgen er 1979 starb. Leben Jugend und Studium Rudi Dutschke war der jüngste von vier Söhnen des Ehepaars Elsbeth und Alfred Dutschke, eines Postbeamten in Schönefeld bei Luckenwalde. Er verbrachte seine Jugendjahre in der DDR und war in der evangelischen Jungen Gemeinde von Luckenwalde aktiv, wo er seine „religiös sozialistische“ Grundprägung erhielt. Als Leistungssportler (Zehnkampf) wollte er zunächst Sportreporter werden. Um seine Chancen für eine entsprechende Ausbildung in der DDR zu erhöhen, trat er 1956 in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ein. Durch den Ungarischen Volksaufstand 1956 wurde Dutschke politisiert. Er ergriff Partei für einen demokratischen Sozialismus, der sich gleichermaßen von den USA und der Sowjetunion distanzierte, und lehnte auch die SED ab. Entgegen deren antifaschistischem Anspruch sah er die Strukturen und Mentalitäten der NS-Zeit im Osten wie im Westen fortdauern. 1956 stellte die DDR die Nationale Volksarmee auf und warb an den Oberschulen für den Wehrdienst in ihr. Darauf schrieb Dutschke seinem Schuldirektor, als Pazifist und religiöser Sozialist lehne er den Wehrdienst mit der Waffe ab. Seine Mutter habe ihre vier Söhne nicht für den Krieg geboren. Trotz seines Glaubens an Gott und seiner Wehrdienstablehnung glaube er, ein guter Sozialist zu sein. Der Direktor rügte Dutschkes „falsch verstandenen Pazifismus“ vor einer Schülerversammlung. Dutschke zitierte daraufhin pazifistische Gedichte aus DDR-Schulbüchern, die kurz zuvor noch üblicher Lehrstoff gewesen waren, und betonte, nicht er, sondern die Schulleitung habe sich geändert. Darauf wurde seine Abiturgesamtnote 1958 auf „befriedigend“ herabgestuft, so dass er nicht sofort studieren durfte. Auch nach seiner Ausbildung zum Industriekaufmann in einem Luckenwalder Volkseigenen Betrieb verwehrten ihm die DDR-Behörden das gewünschte Sportjournalistikstudium. Um in West-Berlin studieren zu können, besuchte er von Oktober 1960 bis Juni 1961 einen Abiturkurs am Askanischen Gymnasium in Berlin-Tempelhof. Danach bewarb er sich erfolgreich als Sportreporter bei der im Axel Springer AG erscheinenden Boulevardzeitung B.Z. Von ihm signierte Artikel sind nicht erhalten, aber seine neunmonatige Tätigkeit wurde von anderen Journalisten öffentlich erwähnt. Am 10. August 1961 zog er nach West-Berlin und vollzog damit die Flucht aus der DDR. Als drei Tage später die Berliner Mauer gebaut wurde, ließ er sich aus Protest im Notaufnahmelager Marienfelde als politischer Flüchtling registrieren. Am 14. August versuchte er mit einigen Freunden, ein Teilstück der Mauer mit einem Seil einzureißen, und warf Flugblätter hinüber. Dies war seine erste politische Aktion. An der Freien Universität Berlin (FU) begann Dutschke ein Studium der Fächer Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft. Der FU blieb er bis zu seiner Promotion 1973 verbunden. Zunächst studierte er den Existentialismus von Martin Heidegger, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre, bald auch Marxismus und die Geschichte der Arbeiterbewegung. Er las die Frühschriften von Karl Marx, Werke der marxistischen Geschichtsphilosophen Georg Lukács und Ernst Bloch sowie der Kritischen Theorie (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse). Angeregt durch die US-amerikanische Theologiestudentin Gretchen Klotz las er auch Werke der sozialistischen Theologen Karl Barth und Paul Tillich. Sein früherer religiöser Sozialismus wandelte sich zu einem fundierten Marxismus. Dabei betonte er jedoch immer die Handlungsfreiheit des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Studentenbewegung Im Herbst 1963 trat Dutschke mit Bernd Rabehl in die Gruppe Subversive Aktion ein, die Gesellschafts- und Kulturkritik mit Protestaktionen verband. Er gab deren Zeitschrift Anschlag mit heraus und verfasste Artikel zur marxschen Kritik am Kapitalismus, zur Lage vieler Länder der „Dritten Welt“ und zu neuen politischen Organisationsformen. Der seit 1961 unabhängige Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) hielt die Gruppe damals für „aktionistisch“ und „anarchistisch“. Im Februar 1964 verteilte Dutschkes Anschlag-Gruppe ein Flugblatt gegen schlagende Studentenverbindungen, die damals an der FU Fuß fassten. Er wurde wissenschaftliche Hilfskraft am Osteuropa-Institut der FU und erklärte Gaststudenten aus Lateinamerika in einem Seminar die Lage ihrer Herkunftsländer mit marxschen Grundbegriffen. Im Dezember 1964 demonstrierte Dutschkes Gruppe mit dem SDS und anderen gegen den Staatsbesuch des kongolesischen Premierministers Moïse Tschombé. Als dieser an den Demonstranten vorbeigelotst wurde, organisierte er spontan eine unangemeldete „Spaziergänger“-Demonstration zum Rathaus Schöneberg. Dabei soll Tschombé laut Dutschkes Tagebucheintrag als „imperialistischer Agent und Mörder“ mit Tomaten „voll in die Fresse“ getroffen worden sein. Im Rückblick bezeichnete Dutschke diese Aktion als „Beginn unserer Kulturrevolution“. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt empfing die Demonstranten und genehmigte ihre Versammlung nachträglich. Dutschke erläuterte sein Konzept gezielter Regelverletzungen ausführlich in der Subversiven Aktion und schlug vor, in den SDS einzutreten, um diesen zu radikalisieren. Die Münchner Teilgruppe um Dieter Kunzelmann und Frank Böckelmann lehnte dies ab. Sie kritisierten Dutschkes bisherige Aktionen als „oberflächliche“ Tagespolitik, Irrglauben an die „Mythe des Proletariats“ und verlangten eine „kulturrevolutionäre Tiefendimension“. Klassenkampf sei generell veraltet, da alle Menschen früher oder später der „Entpersönlichung“ durch das Diktat der „Ökonomisierung des ganzen Lebens“ unterworfen seien. Von Januar 1965 bis Ende 1966 veranstaltete Dutschke mit Harry Ristock ein Seminar zur Geschichte der Sozialdemokratie, in dem er die SPD scharf angriff. Trotz Vorbehalten des SDS-Vorsitzenden Tilman Fichter nahm der Berliner SDS die Anschlag-Gruppe im Januar 1965 auf und wählte Dutschke im Juni 1965 in den politischen Beirat. Wegen seiner Kenntnis marxistischer Theorie wurde er im SDS rasch anerkannt und erreichte, dass dieser sich antiautoritären Aktionsformen öffnete. Er brachte politisch interessierte und aktionsbereite Jugendliche und Jungarbeiter zu SDS-Treffen mit, etwa aus dem Ça Ira-Club, so dass die verschiedenen Milieus streitend voneinander lernten. Ab Februar 1965 veranstaltete er Informationsabende des SDS zum Vietnamkrieg mit. Im April 1965 reiste er mit einer SDS-Gruppe in die Sowjetunion, die er im Anschlag als nichtsozialistische, antikapitalistische Diktatur analysiert hatte, kritisierte das Töten der Opfer der Oktoberrevolution und die auf bloße Produktivitäts- und Leistungssteigerung ausgerichtete Industriepolitik der KPdSU. Die Gastgeber bezeichneten ihn dafür in diffamierender Absicht als Trotzkisten. Im Mai 1965 protestierte die Anschlag-Gruppe mit einem Flugblatt gegen eine damalige Militärinvasion der USA in der Dominikanischen Republik. Dass der SDS sich aus dem Impressum des Flugblatts streichen ließ, löste Debatten um fehlende Solidarität aus. Dutschke beteiligte sich an Protesten an der FU gegen ein Redeverbot für Erich Kuby und besorgte einem ausweisungsbedrohten Gaststudenten den Rechtsanwalt Horst Mahler. Er engagierte sich vor der Bundestagswahl 1965 gegen die geplanten Notstandsgesetze und gründete im Februar 1966 einen Arbeitskreis zur Kritik der „formierten Gesellschaft“, die Bundeskanzler Ludwig Erhard damals propagierte. Zum 5. Februar 1966 klebte die Anschlag-Gruppe ohne Wissen des SDS ein Plakat, das den Vietnamkrieg der USA als Völkermord beschrieb und für eine internationale antikoloniale Revolution warb. Die West-Berliner Tageszeitungen, die den Krieg seit August 1965 mit einer Spendenkampagne unterstützten, verdächtigten den SDS. Dieser solidarisierte sich nach außen mit einigen inhaftierten Plakatklebern und führte ein Sit-in vor dem Amerikahaus durch, das die Polizei mit Knüppeln auflöste. Intern wollten die älteren SDS-Mitglieder Dutschkes Gruppe ausschließen. In der folgenden Debatte verteidigte er die Plakataktion erfolgreich und gewann damit an Einfluss im SDS. Seit der Kuby-Affäre stellte sich der FU-Rektor Hans-Joachim Lieber gegen streikende Studenten und verweigerte ihnen Räume für Diskussionsveranstaltungen. Dutschke war sein Assistent und wollte mit einer Arbeit über Lukács bei ihm promovieren. Nach Konflikten um das politische Mandat des Berliner Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) und Mitspracherechte der Studierenden in Hochschulgremien, die sich bis Frühjahr 1967 zuspitzten, verlängerte Lieber Dutschkes Assistentenvertrag an der FU Berlin nicht. Später leitete er Disziplinarverfahren gegen mehrere SDSler ein, darunter Dutschke. Damit schied eine akademische Laufbahn für diesen vorerst aus. Am 23. März 1966 heirateten Dutschke und Gretchen Klotz bei einer Privatfeier in einer Berliner Gastwirtschaft. Sie hatten die Heirat nach einem Gruppentreffen der Subversiven Aktion beschlossen, deren patriarchale Strukturen sie abstießen. Im April 1966 reisten sie nach Ungarn und besuchten Georg Lukács. Obwohl dieser sich von seinen frühen Aufsätzen distanzierte, verteidigte Dutschke seine Positionen im SDS. Das Ehepaar Dutschke hielt vorläufig an Plänen einer politischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft fest und studierte dazu Kommune-Projekte der 1920er Jahre. Kunzelmanns Konzept, jede feste Paarbeziehung aufzuheben, lehnten sie jedoch als „bürgerliches Tauschprinzip unter pseudorevolutionären Vorzeichen“ ab und zogen nicht in die 1967 gegründete Kommune I und Kommune 2. Im Mai 1966 bereitete Dutschke den bundesweiten Vietnamkongress in Frankfurt am Main mit vor. Hauptreferate dort hielten bekannte Professoren der Neuen Linken (Herbert Marcuse, Oskar Negt) und der „traditionalistischen“ Linken (Frank Deppe, Wolfgang Abendroth). Im Juli war Dutschke an einer Aktion späterer Kommunarden gegen die Aufführung des rassistischen Films Africa Addio in Berliner Kinos beteiligt. Im September forderte er bei der Delegiertenkonferenz des SDS „die Organisierung der Permanenz der Gegenuniversität als Grundlage für die Politisierung der Hochschulen“. Seine Rede machte ihn über Berlin hinaus bekannt. Kurz darauf veröffentlichte er gegen ein „Schulungsprogramm“ von Frank Deppe und Kurt Steinhaus eine Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart. In diese nahm er auch Frühsozialisten, Syndikalisten und Bolschewisten (Leninisten) auf. Er wollte sie im Anschluss an Karl Korsch nicht als Abweichler von der „reinen Lehre“, sondern ambivalente Antworten auf die jeweiligen historischen Veränderungen verstanden wissen. So regte er den SDS zum Diskutieren von Fragen an, die in der Arbeiterbewegung meist unterdrückt worden waren. Viele dieser Schriften besorgte er sich bei Auslandsreisen, etwa im IISG in Amsterdam, in Buchläden von Chicago und New York City. In die USA reiste er im September 1966 mit seiner Frau, als ihr Vater verstorben war. Als seine Bibliographie im SDS Anklang fand, traten Deppe und Steinhaus als Schulungsreferenten des SDS-Bundesvorstands zurück. Die im November 1966 ohne Wahlen gebildete erste bundesdeutsche Große Koalition begriff Dutschke als demokratiegefährdende Folge des Machtstrebens der SPD seit deren Einbindung in den Kapitalismus. Vor SPD-Linken in West-Berlin rief er mit Zitaten Rosa Luxemburgs zur Bildung einer Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf. Am 6. Dezember fragte er Südvietnams Botschafter nach dessen Vortrag in der FU, ob ihm die starke Unterstützung der südvietnamesischen Landbevölkerung für die NLF bekannt sei. Medien berichteten nur, „Mikrofonstürmer“ und Hồ-Chí-Minh-Rufe der Zuhörer hätten den Botschafter niedergeschrien. Seither überwachte der Berliner Verfassungsschutz die Dutschkes und andere SDS-Mitglieder mit mehreren Informanten. Bei zwei „Spaziergangsdemonstrationen“ gegen den Vietnamkrieg auf dem Kurfürstendamm am 10. und 17. Dezember nach dem Vorbild der Amsterdamer Provo-Bewegung sollte Dutschke reden. Auf Befehl des damaligen Innensenators Heinrich Albertz löste die Polizei die Demonstrationen mit Knüppeln auf, zerstörte Spruchbänder und verhaftete 86 Anwesende, darunter Rudi und Gretchen Dutschke. Presseberichte darüber erwähnten ihn erstmals als „Sprecher des SDS“ oder „des pekingfreundlichen SDS-Flügels“ und nannten ihn fortan „Rädelsführer“ oder „Initiator der Krawalle“. Über eine Podiumsdiskussion Dutschkes mit dem Trotzkisten Ernest Mandel zur Kulturrevolution in China berichtete Springers B.Z. unter dem Titel: „Der Führer der Berliner ‚Provos‘ verteidigte das Treiben der Roten Garden – Dutschke dreht an einem dollen Ding“. Tatsächlich grenzte er sich fortan vom Maoismus ab. Zudem wies er den SDS erstmals auf die hohe bundesdeutsche Arbeitslosigkeit hin und brachte sie mit den Hochschulproblemen der Studenten in Zusammenhang. Seit Frühjahr 1967 war Dutschke mit Ulrike Meinhof befreundet, der Redakteurin der Zeitschrift konkret. Für deren Juni-Ausgabe gab er ein langes Interview, in dem er den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze und die stalinistischen Bürokratien des Ostblocks als verschiedene „Glieder der weltweiten Kette der autoritären Herrschaft über die entmündigten Völker“ erklärte. Der Chefredakteur Klaus Rainer Röhl ordnete ihn wie die Springermedien jedoch als Maoisten ein. Dutschke, Meinhof und der Exiliraner Bahman Nirumand informierten die Studenten mit Flugblättern, Zeitungsartikeln und Vorträgen über Verbrechen des persischen Schahs und Diktators Mohammad Reza Pahlavi, um Proteste gegen dessen bevorstehenden Staatsbesuch vorzubereiten. Im Stil der Springermedien, die damals vor einem möglichen Attentat auf den Schah warnten, schrieben Dutschke und der Chilene Gaston Salvatore im Oberbaumblatt eine Satire mit dem Titel Der Schah ist tot – Farah geschändet! Darin äußerten sie Verständnis für ein Attentat, betonten aber zugleich, weder in Persien noch der Bundesrepublik lägen die notwendigen Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution vor. Bei der Demonstration am 2. Juni 1967 in West-Berlin, wo der Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, war Dutschke nicht anwesend. Am Folgetag nahm er an einer spontanen Demonstration zum Rathaus Schöneberg teil, die die West-Berliner Polizei gewaltsam beendete. Abends verlangte er bei einer Versammlung in der FU mit Klaus Meschkat die Enteignung des Verlegers Axel Springer. Am 9. Juni, nach Ohnesorgs Beerdigung, rief er beim Kongress „Hochschule und Demokratie“ in Hannover vor etwa 7000 Teilnehmern zu bundesweiten Sitzblockaden auf, um die Aufklärung der Todesumstände Ohnesorgs, den Rücktritt der Verantwortlichen, die Enteignung Springers und die „Entfaschisierung“ der von ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzten West-Berliner Polizei durchzusetzen. Nach seiner Abreise bezeichnete der Sozialphilosoph Jürgen Habermas seine Begründung dieser Aktionsvorschläge als „linken Faschismus“ und prägte damit eine Sicht vieler Medien auf die 68er-Revolte. Dutschke betonte dagegen, gezielte Regelverletzungen könnten weitere Morde gerade verhindern. Nur wenige Journalisten und Professoren teilten seine Sicht und solidarisierten sich mit den protestierenden Studenten, darunter Margherita von Brentano, Jacob Taubes, Dutschkes Freund Helmut Gollwitzer, Wolfgang Abendroth, Peter Brückner und Johannes Agnoli. Im Juli 1967 hörte er Herbert Marcuses Vorlesungen in Berlin, übernahm viele von dessen Ideen und schlug eine Kampagne der APO in West-Berlin zur Gegenaufklärung gegen die Springerzeitungen vor. Mit Gaston Salvatore übersetzte er Che Guevaras einflussreiche Schrift Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams ins Deutsche und schrieb ein Vorwort dazu. Aus den Erfahrungen mit SPD und Gewerkschaften folgerte er, sie seien für eine „Demokratisierung von unten absolut untauglich“. Deshalb wollte er den SDS zu einer politischen Kampforganisation machen. Dazu hielt er bei der SDS-Bundeskonferenz vom 4. bis 8. September 1967 zusammen mit dem Frankfurter SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl ein „Organisationsreferat“. Es fand breite Zustimmung, so dass sich Dutschkes antiautoritäre Linie im gesamten SDS durchsetzte. Danach besuchte er den italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli, erhielt von ihm Schriften für seine Dissertation und finanzielle Unterstützung für die geplante Enteignet-Springer-Kampagne des SDS, den Vietnamkongress und das Internationale Nachrichten- und Forschungs-Institut (INFI). Ende September fuhr das Ehepaar Dutschke mit Röhl und Meinhof für einige Tage nach Sylt. In Westerland diskutierte Dutschke mit Unternehmern über die Enteignet-Springer-Kampagne und überzeugte sie nicht politisch, aber als „anständiger Mensch“. Die am 1. November 1967 in der FU gegründete „Kritische Universität“ wollte Dutschke nach dem Vorbild ähnlicher Versuche an der University of California, Berkeley und der Pariser Sorbonne zu einer „Gegenuniversität“ für basisdemokratisches Lernen weiterentwickeln. Am 21. Oktober demonstrierte Dutschke mit rund 10.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg, während in den USA 250.000 Kriegsgegner das Pentagon belagerten. Am 24. November diskutierte er in der Universität Hamburg mit Rudolf Augstein und Ralf Dahrendorf. Drei Tage zuvor war Kurras vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung Ohnesorgs freigesprochen worden, während der Kommunarde Fritz Teufel weiter in Haft blieb. Zum Auftakt seines Strafprozesses am 28. November rief Dutschke rund 1000 Demonstranten zum unbewaffneten Sturm auf das Gerichtsgebäude auf, wurde als „Rädelsführer einer ungenehmigten Zusammenrottung“ festgenommen und angeklagt. Am 3. Dezember zeigte die Sendung „Zu Protokoll“ Günter Gaus im Gespräch mit Rudi Dutschke. Dadurch wurde er bundesweit bekannt. Am Heiligabend 1967 führte er mit einigen SDS-Mitgliedern ein „Go-in“ in die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche durch, um eine Diskussion über den Vietnamkrieg herbeizuführen. Ihre Transparente zeigten die Fotografie eines gefolterten Vietnamesen mit dem Bibelzitat . Als die Gottesdienstbesucher die Studenten aus der Kirche prügelten, bestieg Dutschke die Kanzel, wurde aber sofort am Reden gehindert. Der ehemalige Mensur-schlagende Burschenschafter und selbsterklärte „uralte Nazi“ Friedrich Wilhelm Wachau fügte ihm mit einem Schlag seiner Krücke eine blutige Kopfverletzung zu. Ein anwesender Polizist erklärte, Wachau habe richtig gehandelt. Im Januar 1968 wurde Dutschkes erster Sohn geboren; er war bei der Geburt dabei. Hass und Angriffe häuften sich. Drohende Graffiti („Vergast Dutschke!“) wurden in seinen Hausflur gesprüht, Rauchbomben in den Eingang geworfen, Kot vor seine Tür gelegt. Darum zog die Familie zeitweise in das Haus des Ehepaars Gollwitzer. Im Februar 1968 bezeichnete der CSU-Bundestagsabgeordnete Franz Xaver Unertl Dutschke als „ungewaschene, verlauste und verdreckte Kreatur“. Um den internationalen Protest gegen den Vietnamkrieg zu unterstützen, gründete Dutschke mit Gaston Salvatore und Feltrinellis Finanzmitteln im Februar 1968 das INFI. Damals besuchte Feltrinelli die Dutschkes in Berlin und brachte mehrere Stangen Dynamit mit. Dutschke schmuggelte den Sprengstoff im Kinderwagen, in dem sein wenige Wochen alter Sohn lag, aus der Wohnung. 1978 erklärte er, mit dem Sprengstoff habe man im Fall einer Verschärfung des Vietnamkriegs amerikanische Schiffe sprengen wollen, die Kriegsmaterial nach Vietnam bringen sollten. Dies war laut der Historikerin Petra Terhoeven „Teil einer auch von Dutschke aktiv mitgetragenen Strategie […], die auf die Errichtung eines transnationalen Netzwerks zur Durchführung militanter, wenngleich ausdrücklich nicht gegen Personen gerichteter Aktionen zielte“. Im selben Monat kritisierte Dutschke bei einem Streitgespräch mit Johannes Rau (SPD Nordrhein-Westfalen) parlamentarische Rituale und Institutionen und forderte eine „Einheitsfront von Arbeitern und Studenten“. Den Internationalen Vietnamkongress vom 17. und 18. Februar 1968 an der Berliner TU bereitete er maßgeblich mit vor. Bei der Abschlussdemonstration von mehr als 12.000 Menschen rief er die Teilnehmer zur „Zerschlagung der NATO“ und die US-amerikanischen Soldaten zur massenhaften Desertion auf. Ursprünglich wollte er die Demonstration nach Berlin-Lichterfelde führen und die dortige McNair-Kaserne besetzen. Da die US-Militärs dann Schusswaffengebrauch angekündigt hatten, gab er den Plan nach Gesprächen mit Günter Grass, Landesbischof Kurt Scharf und Heinrich Albertz auf. Nach späterer Aussage Rabehls erwog Dutschke mit anderen Kongressteilnehmern damals inoffiziell den Aufbau von Partisaneneinheiten in Europa, an denen auch die ETA und die IRA beteiligt sein sollten. Jedoch unternahm er praktisch nichts für deren Aufbau, weil er (so die Biografin Michaela Karl) vor Gewalt gegen Menschen zurückscheute. Bei einer vom Berliner Senat mitorganisierten „Pro-Amerika-Demonstration“ am 21. Februar 1968 trugen Teilnehmer Plakate mit der Aufschrift „Volksfeind Nr. 1: Rudi Dutschke“. Ein Passant wurde mit Dutschke verwechselt, Demonstrationsteilnehmer drohten, ihn totzuschlagen. Nach dem Vietnamkongress reiste Dutschke nach Amsterdam und sprach sich dort für eine aktive Opposition gegen die NATO aus, etwa für Angriffe gegen NATO-Schiffe. Im März 1968 reiste er mit seiner Familie nach Prag und erlebte den Prager Frühling mit. In zwei Vorträgen für die Christliche Friedenskonferenz (CFK) bestärkte er die tschechischen Studenten darin, Sozialismus und Bürgerrechte zu verbinden. Dies begründete er mit den Feuerbachthesen von Karl Marx. Daraufhin forderten einige deutsche orthodoxe Marxisten seinen Ausschluss aus dem SDS, der mehrheitlich abgelehnt wurde. Danach wollte Dutschke mit seiner Frau für ein bis zwei Jahre in den USA leben und lateinamerikanische Befreiungsbewegungen studieren. Er hatte den Umzug schon vorbereitet. Hauptgrund war, dass er zur Identifikationsfigur der 68er-Revolte gemacht worden war und diese Rolle als Widerspruch zur antiautoritären Grundhaltung ablehnte. Die APO sollte ihre Aktivität auch ohne seine Präsenz zeigen können. Für den 1. Mai 1968 war er als Hauptredner nach Paris eingeladen, hätte also die Proteste des Mai 1968 in Frankreich beeinflussen können. Attentat und Genesung Am 11. April 1968 schoss der junge Hilfsarbeiter Josef Bachmann mit dem Ruf „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ vor dem SDS-Büro am Kurfürstendamm dreimal auf Dutschke. Er traf ihn zweimal in den Kopf, einmal in die linke Schulter. Dutschke erlitt lebensgefährliche Gehirnverletzungen und überlebte nur knapp nach einer mehrstündigen Operation im Klinikum Westend. Bachmann hatte die Deutsche National-Zeitung bei sich, die unter der Schlagzeile Stoppt Dutschke jetzt! fünf Porträtfotos von Dutschke zeigte. Erst 2009 wurde bekannt, dass Bachmann entgegen früherer Berichte kein Einzeltäter gewesen war, sondern Kontakte zu einer aktenkundigen Neonazi-Gruppe gehabt und dies in seinen Verhören zugegeben hatte. 1968 machten viele Studenten die Springerpresse für das Attentat mitverantwortlich, da diese monatelang gegen Dutschke und die Demonstranten gehetzt hatte. Die Bildzeitung hatte Dutschke seit Dezember 1966 immer wieder als „Rädelsführer“ dargestellt und am 7. Februar 1968 neben seinem Foto unter dem Titel Stoppt den Terror der Jungroten jetzt verlangt, man dürfe „nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“. Bei den folgenden, teils gewaltsamen „Osterunruhen“ bewarfen einige das Berliner Springer-Verlagsgebäude mit Steinen und zündeten mit Brandsätzen, die der Spitzel des Berliner Verfassungsschutzes Peter Urbach verteilt hatte, Auslieferungsfahrzeuge der Bildzeitung an. Deren Auslieferung verhinderten sie nicht. Dutschke eignete sich Sprache und Gedächtnis in monatelanger täglicher Sprachtherapie mühsam wieder an. Dabei half ihm der befreundete Psychologe Thomas Ehleiter. Der enorme Medienhype störte die Lernfortschritte, so dass Dutschke mit seiner Familie und Ehleiter die Bundesrepublik im Juni 1968 verließ. Zur Genesung hielt er sich zunächst in einem Sanatorium in der Schweiz, ab Juli 1968 auf dem Landgut des Komponisten Hans Werner Henze südlich von Rom in Italien auf. Dort besuchte ihn im August 1968 Ulrike Meinhof. Dutschke zeigte ihr sein neues Buch Briefe an Rudi D. und erlaubte ihr, Auszüge daraus in konkret zu veröffentlichen. Im Vorwort entlastete er Bachmann und gab westdeutschen Medien, vor allem „Springer- und NPD-Zeitungen“, die Hauptschuld an dem Attentat. Er nahm auch Anteil an den zunehmenden Konflikten im SDS. Weil westdeutsche und italienische Medien Dutschkes Aufenthaltsort entdeckt hatten und ihn mit Interviewforderungen bedrängten, floh er ab September 1968 zunächst in Feltrinellis Landhaus bei Mailand. Kanada, die Niederlande und Belgien lehnten Dutschkes Visumsanträge ab. Mit Hilfe von Erich Fried und dem Labour-Abgeordneten Michael Foot erhielt er eine befristete, alle sechs Monate zu verlängernde Aufenthaltserlaubnis für Großbritannien. Dafür musste er auf alle politischen Aktivitäten verzichten. Trotz wiederholter epileptischer Anfälle, einer Folge des Attentats, lernte er Englisch, las Werke der Kritischen Theorie neu und erlangte die Zulassung zur Promotion. Die Idee, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, ließ er auf Rat seines Besuchers Herbert Marcuse fallen. Im Mai 1969 besuchte er erstmals wieder die Bundesrepublik und diskutierte zehn Tage lang mit Linken, darunter Ulrike Meinhof, über die Zukunft der APO. Er begrüßte, dass viele linke Gruppen ihren eigenen Weg gehen wollten, vermisste aber eine gemeinsame politische Zielrichtung und Strategie. Er wollte die Entwicklung mitbestimmen, musste aber seine gesundheitliche und sprachliche Schwäche berücksichtigen. Nach vorübergehender Ausweisung aus Großbritannien durfte er 1970 ein Studium an der University of Cambridge beginnen und erhielt auf dem Campus eine Familienwohnung. Die Umzugskosten trug Bundespräsident Gustav Heinemann. Nach dem Regierungswechsel 1970 hob der neue britische Innenminister Reginald Maudling die Aufenthaltserlaubnis jedoch auf und begrenzte Dutschkes rechtliche Einspruchsmöglichkeiten dagegen, indem er ihn als Gefahr für die „nationale Sicherheit“ einstufte. Dabei erfuhr Dutschke, dass er seit Jahren geheimdienstlich überwacht worden, seine frühen Aufsätze von 1968 und jeder Kontakt zu Linken gegen ihn vermerkt worden waren. Obwohl Heinrich Albertz, Gustav Heinemann und Helmut Gollwitzer beim Einwanderungsappellationstribunal für ihn eintraten, musste Familie Dutschke Großbritannien bis Ende Januar 1971 verlassen. Sie zog nach Dänemark, wo ihn die Universität Aarhus als Soziologiedozenten anstellte. Bachmann wurde wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Dutschke erklärte ihm in mehreren Briefen, er habe keinen persönlichen Groll gegen ihn, und versuchte, ihm ein sozialistisches Engagement nahezubringen. Bachmann beging jedoch am 24. Februar 1970 im Zuchthaus im sechsten Versuch Suizid. Dutschke bedauerte das und schrieb in sein Tagebuch: „Er repräsentierte die Beherrschung von unterdrückt gehaltenen Menschen […] der Kampf für die Befreiung hat gerade erst begonnen; leider kann Bachmann daran nun nicht mehr teilnehmen […]“. Spätzeit Ab Mai 1972 bereiste Dutschke wieder die Bundesrepublik. Er suchte Gespräche mit Gewerkschaftern und Sozialdemokraten, darunter Gustav Heinemann, dessen Vision eines blockfreien, entmilitarisierten Gesamtdeutschlands er teilte. Im Juli 1972 besuchte er mehrmals Ost-Berlin und traf dort Wolf Biermann, mit dem er fortan befreundet blieb. Auch mit anderen SED-Dissidenten wie Robert Havemann und Rudolf Bahro nahm er später Kontakt auf. Am 14. Januar 1973 sprach er auf einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Bonn erstmals nach dem Attentat wieder öffentlich. Im gleichen Jahr kehrte er nach Berlin zurück, um seine unter dem Titel „Zur Differenz des asiatischen und europäischen Weges zum Sozialismus“ begonnene Dissertation abzuschließen, an der er seit 1971 schrieb. Die Arbeit wurde von den Soziologen Urs Jaeggi und Peter Furth betreut. Mitte 1973 wurde Dutschke zum Dr. phil. promoviert, das Buch erschien im August 1974 leicht überarbeitet als „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“. 1975 gab die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Dutschke ein Stipendium an der FU Berlin. Jedoch schloss er keins seiner verschiedenen Buchprojekte ab, sondern wandte sich wieder verstärkt der Politik zu. Im Februar 1974 leitete er eine Podiumsdiskussion über Solschenizyn und die Linke, in der er für Menschenrechte in der Sowjetunion und im Ostblock eintrat. Seit 1976 war er Mitglied im Sozialistischen Büro, das beim Zerfall des SDS entstanden war. Dort engagierte er sich für den Aufbau einer Partei, die grün-alternative und linke Initiativen ohne die K-Gruppen vereinen sollte. Ab Januar 1976 nahm Dutschke Kontakt zu Atomkraftgegnern auf, besuchte Walter Mossmann und nahm an Großdemonstrationen gegen Atomkraftwerke in Wyhl am Kaiserstuhl, Bonn und Brokdorf teil. 1977 wurde er freier Mitarbeiter verschiedener linksgerichteter Zeitungen und Gastdozent an der Reichsuniversität Groningen in den Niederlanden. Er unternahm Vortragsreisen über die Studentenbewegung und nahm am „Internationalen Russell-Tribunal“ gegen Berufsverbote teil. Er begann einen Briefwechsel mit dem Schriftsteller Peter-Paul Zahl, besuchte ihn am 24. Oktober 1977 in Haft und verabredete ein gemeinsames Buchprojekt mit ihm. Nachdem Rudolf Bahro in der DDR zu acht Jahren Haft verurteilt worden war, organisierte und leitete Dutschke im November 1978 den Bahro-Solidaritätskongress in West-Berlin. 1979 trat er in die Bremer Grüne Liste ein und beteiligte sich an deren Wahlkampf. Nach ihrem Einzug in das Stadtparlament wurde er zum Delegierten für den für Mitte Januar 1980 geplanten Gründungskongress der Partei Die Grünen gewählt. Im Oktober 1979 nahm Dutschke als Vertreter der taz an einer Pressekonferenz von Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Staatsgast Hua Guofeng aus China teil und kritisierte Schmidts autoritäres Verhalten: „Herr Bundeskanzler, Sie sind hier bei der freien Presse, nicht bei der Bundeswehr, wo kommandiert wird, nicht in Peking, in Moskau oder in Ostberlin.“ Daraufhin verweigerte Regierungssprecher Klaus Bölling ihm das Fragerecht. Dutschke hatte fragen wollen, warum Schmidt gegenüber dem Staatsgast die Menschenrechte in China unerwähnt gelassen und damit missachtet habe. Am 24. Dezember 1979 erlitt Dutschke einen epileptischen Anfall und ertrank in seiner Badewanne. Der Anfall war Spätfolge des Attentats und der Gehirnoperation danach. Andere Todesursachen wurden gerichtsmedizinisch ausgeschlossen. Am 3. Januar 1980 wurde er auf dem St.-Annen-Kirchhof in Berlin feierlich beigesetzt. Weil dort zunächst kein Grabplatz frei war, hatte der Theologe Martin Niemöller ihm seine Grabstelle überlassen. Helmut Gollwitzer erinnerte die tausenden Trauergäste in seiner Ansprache an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der Niemöller und Dutschke verbunden habe. Der Senat von Berlin widmete Dutschkes Grab (R-28-3) 1999 zum Ehrengrab des Landes Berlin. Die Widmung wurde 2021 wie bei Berliner Ehrengräbern üblich um zwanzig Jahre verlängert. Dutschkes zweiter Sohn Rudi-Marek wurde im April 1980 in Dänemark geboren. Sein erster Sohn Hosea Ché war 1968, seine Tochter Polly Nicole 1969 geboren worden. Dutschke hat sieben Enkelkinder. Denken Grundposition Dutschke vertrat seit 1956 einen herrschaftskritischen demokratischen Sozialismus und berief sich dazu seit 1962 oft auf Rosa Luxemburgs Schrift Die Russische Revolution (1918). Durch die Lektüre der Frühschriften von Karl Marx und Georg Lukács (1962/63) wurde er ein überzeugter Marxist und distanzierte sich fortan vom Existentialismus. Er hielt die Marxsche Analyse des Kapitalismus im 19. Jahrhundert für große Teile Europas, Lateinamerikas und Asiens für weiterhin zutreffend, nicht aber die Marxsche Prognose eines wachsenden proletarischen Klassenbewusstseins. Dieses fehle in den Ländern mit höherem Lebensstandard und entwickle sich nicht von selbst. Er bejahte einen kritischen historischen Materialismus, lehnte aber jeden Determinismus der historischen Entwicklung ab. Unabhängig von deren objektiven Tendenzen müsse der kritische Materialist immer auf der Seite eines revolutionären, die konkreten Menschen befreienden Widerstands stehen. Demzufolge suchte er ständig Anschluss an vergessene herrschaftskritische Traditionen der Arbeiterbewegung und anderer Widerstandsbewegungen. Er lehnte den Reformismus, den Stalinismus und den Marxismus-Leninismus als „Legitimationsmarxismus“ ab, der bestehende Unterdrückungszustände als unveränderbar rechtfertige. Diese Kritik vertrat er auch gegenüber damaligen Reformkommunisten wie Georg Lukács, Wolf Biermann und Robert Havemann. Dabei blieb er seinen christlichen Anfängen treu. Am 14. April 1963 (Ostern) in seinem Tagebuch bezeichnete er die Auferstehung Jesu Christi als „entscheidende Revolution der Weltgeschichte“ durch „die alles überwindende Liebe“. Am 27. März 1964 (Karfreitag) schrieb er über „der Welt größten Revolutionär“: Er könne Jesu Aussage 'Mein Reich ist nicht von dieser Welt' () nur als Aussage über die noch zu schaffende, diesseitige neue Wirklichkeit verstehen, „eine Hic-et-Nunc-Aufgabe der Menschheit“. 1978 betonte er rückblickend: Im selben Jahr bekannte er sich bei einem Treffen mit Martin Niemöller als „Sozialist, der in der christlichen Tradition steht“, und auf diese Tradition sei er stolz. Das Christentum sehe er „als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der Menschheit“. Beim Ohnesorg-Kongress am 9. Juni 1967 erklärte Dutschke die „Abschaffung von Hunger, Krieg und Herrschaft“ durch eine „Weltrevolution“ zum politischen Ziel, das durch die Entwicklung der Produktivkräfte gegenwärtig „materiell möglich geworden“ sei. Deshalb grenzte er sich von jedem aktionsfeindlichen, nur analytisch-theoretischen Marxismusverständnis ab. Als Triebfeder seines politischen Handelns nannte er im Dezember 1967, „dass die Menschen als Brüder wirklich miteinander leben“. Als entscheidende Komponenten dieses Zusammenlebens galten ihm „Selbstätigkeit, Selbstorganisation, Entfaltung der Initiative und der Bewusstheit des Menschen und kein Führerprinzip“. Seine Grundposition wird darum als „antiautoritärer Sozialismus“ oder als „libertärer Kommunismus“ bezeichnet. Ökonomische Analyse Dutschke versuchte, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie auf die Gegenwart anzuwenden und weiterzuentwickeln. Er sah das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik als Teil eines weltweiten komplexen Kapitalismus, der alle Lebensbereiche durchdringe und die lohnabhängige Bevölkerung unterdrücke. Die soziale Marktwirtschaft beteilige das Proletariat zwar am relativen Wohlstand der fortgeschrittenen Industrieländer, binde es dadurch aber in den Kapitalismus ein und täusche es über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinweg. In der Bundesrepublik erwartete Dutschke nach dem Wirtschaftswunder eine Periode der Stagnation: Die Subventionierung unproduktiver Sektoren wie Landwirtschaft und Bergbau werde künftig nicht mehr finanzierbar sein. Der dadurch absehbare massive Abbau von Arbeitsplätzen im Spätkapitalismus werde eine Strukturkrise erzeugen, die den Staat zu immer tieferen Eingriffen in die Wirtschaft veranlassen und in einen „integralen Etatismus“ münden werde. Dieser Zustand sei nur mit Gewalt gegen die aufbegehrenden Opfer der Strukturkrise zu stabilisieren. Den Begriff Etatismus für einen Staat, der die Wirtschaft lenkt, aber das Privateigentum formal beibehält, übernahm er aus einer Analyse Max Horkheimers von 1939. Wie der ganze SDS bejahte Dutschke den technischen Fortschritt, besonders die Kernenergie, als Prozess der Verwissenschaftlichung, die eine „Revolution der Produktivkräfte“ und damit eine grundlegende Gesellschaftsveränderung ermögliche. Die Automatisierung der Produktion werde Arbeitsteilung und Spezialisierung verringern, die Arbeitszeit verkürzen und so den Industriearbeitern immer mehr Selbstentfaltung und umfassendes Lernen in einer Rätedemokratie erlauben. Für den nötigen Umsturz fehle der Bundesrepublik jedoch ein „revolutionäres Subjekt“. Im Anschluss an Herbert Marcuse (Der eindimensionale Mensch) führten Dutschke und Krahl im Organisationsreferat 1967 aus: Ein „gigantisches System von Manipulation“ entschärfe die sozialen und politischen Widersprüche und mache die Massen unfähig, sich von sich aus zu empören. Die deutschen Proletarier lebten im Monopolkapitalismus so verblendet, dass „die Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche geschichtlich unmöglich geworden ist“. Wie viele seiner Mitstreiter im SDS betrachtete Dutschke den Vietnamkrieg der USA, die Notstandsgesetze in der Bundesrepublik und die stalinistischen Bürokratien im Ostblock als „Glieder der weltweiten Kette der autoritären Herrschaft über die entmündigten Völker“ (so im konkret-Interview vom Juni 1967). Jedoch seien die Bedingungen für die Überwindung des weltweiten Kapitalismus in den reichen Industriestaaten und der „Dritten Welt“ verschieden. Anders als Marx es erwartet habe, werde die Revolution von den verarmten und unterdrückten Völkern der „Peripherie“ des Weltmarkts ausgehen, nicht vom hochindustrialisierten Mitteleuropa. Dort hindere der relative Wohlstand und der Sozialstaat das Proletariat daran, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. Voraussetzung dafür aber sei, dass die Länder der Dritten Welt zu Lieferanten billiger Rohstoffe und Abnehmern teurer Fertigwaren degradiert würden. Daher hoffte Dutschke auf revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika und Afrika, die auch im reichen Westen zu Änderungen führen würden. Diesen Zusammenhang betonte etwa das Plakat der Anschlag-Gruppe vom Februar 1966. Unter der Überschrift „Amis raus aus Vietnam! Internationale Befreiungsfront“ hieß es dort: „Kuba, Kongo, Vietnam – die Antwort der Kapitalisten ist Krieg. Mit Waffengewalt wird die alte Herrschaft aufrechterhalten. Mit Kriegswirtschaft wird die Konjunktur gesichert“. Verhältnis zum Parlamentarismus Dutschke vertrat seit seiner Schulzeit in der DDR einen ethisch-moralischen Antifaschismus. In seinem Abituraufsatz von 1961 über Grundgesetzartikel 21 schrieb er, die Alliierten und die bundesdeutschen Parteien hätten die historische Chance vergeben, „die Deutschen zum demokratischen Bewusstsein zu erziehen“. Die meisten NS-Verbrecher und ihre Mitläufer seien rasch von der notwendigen tiefgreifenden Abkehr vom Faschismus befreit und in ihrer Schlussstrich-Mentalität bestätigt worden. Die wirkliche Demokratisierung Deutschlands stehe noch aus. Nur individuelle politische Verantwortung und Selbsterziehung könne wirkliche Freiheit realisieren. In den 1960er Jahren lehnte er die repräsentative Demokratie ab, weil er den Bundestag nicht als funktionsfähige Volksvertretung ansah. 1967 erläuterte er dies: Der Parlamentarismus war für Dutschke Ausdruck einer „repressiven Toleranz“ (Herbert Marcuse), die die Ausbeutung der Arbeiter verschleiere und die Privilegien der Besitzenden schütze. Diese Strukturen sah er als nicht reformierbar an; sie müssten vielmehr in einem langwierigen, international differenzierten Revolutionsprozess umgewälzt werden, den er als „Marsch durch die Institutionen“ bezeichnete. Um die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten zu überwinden, entwarf er das Modell einer „Räterepublik in Westberlin“ und stellte es in einem „Gespräch über die Zukunft“ im Oktober 1967 im Kursbuch vor. Wie in der Pariser Kommune sollten sich auf der Basis selbstverwalteter Betriebe Kollektive von höchstens dreitausend Menschen bilden, um ihre Angelegenheiten im herrschaftsfreien Diskurs, mit Rotationsprinzip und imperativem Mandat ganzheitlich selbst zu regeln. Polizei, Justiz und Gefängnisse, so hoffte Semler, würden dann überflüssig werden. Auch werde man nur fünf Stunden täglich arbeiten müssen. Die Räterepublik sollte nach einer Übernahme der politischen Macht in ganz Berlin errichtet, die Mauer beseitigt, dafür „Lebenszentren“ und „Räteschulen“ eingerichtet werden, die einen Lernprozess durch alle Produktionsbereiche in Gang setzen sollten. Schule, Universität und Fabrik sollten als „Assoziation freier Individuen“ (Karl Marx) zu einer einzigen produktiven Einheit verschmelzen. Später kommentierte Dutschke diesen Plan mit den Worten „Was für eine Illusion!“, ließ aber offen, ob er ihn prinzipiell oder unter den damaligen Umständen für nicht realisierbar hielt. Einige Aspekte seines Plans fand er durch spätere Bürgerinitiativen und Neue Soziale Bewegungen realisiert. Der Faschismus wirkte für Dutschke auch in seiner Gegenwart fort. In seiner Rede vor dem Vietnamkongress vom 18. Februar 1968 sagte er: Aus Erich Fromms und Adornos Studien zur autoritären Persönlichkeit folgerte er: Sein Aktionskonzept zielte daher entscheidend darauf, „die autoritäre Struktur des bürgerlichen Charakters in uns selbst zu zerstören, Momente der Ich-Stärke, der Überzeugung aufzubauen, das System als Ganzes in Zukunft doch stürzen zu können.“ Politik ohne diese Selbstveränderung sei „Manipulation von Eliten“. 1974 sah Dutschke rückblickend die früheren APO-Aktionen als wirksam an und meinte, nach dem Vietnam-Kongress sei „der Höhepunkt der faschistoiden Tendenz bald beseitigt“ gewesen. Vor wie nach dem Attentat grenzte sich Dutschke von fast allen bestehenden Parteien ab und suchte ständig nach neuen, unmittelbar wirksamen Aktionsformen. Bei einigen italienischen Eurokommunisten fand er Geistesverwandte und erwog schon früh die Gründung einer neuen Linkspartei. Doch seine Skepsis gegen eine verselbständigte „revisionistische“ Partei-Elite überwog. Seit 1976 engagierte Dutschke sich für den Aufbau einer ökosozialistischen Partei, die die neuen außerparlamentarischen Bewegungen bündeln und parlamentarisch wirksam werden lassen sollte. Ab 1978 setzte er sich mit anderen für eine grünalternative Liste ein, die an den kommenden Europawahlen teilnehmen sollte. Im Juni 1979 gewann Joseph Beuys ihn für gemeinsame Wahlkampfauftritte. Mit seinem Eintritt in die Bremer Grüne Liste, die als erster grüner Landesverband die Fünf-Prozent-Hürde übersprang, hatte er sich schließlich dem Parlamentarismus zugewandt. Auf dem Programmkongress der Grünen in Offenbach am Main trat er in Verbindung mit der „Deutschen Frage“ für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und damit für ein Widerstandsrecht gegen die Militärblöcke in West wie Ost ein. Dieses Thema warf sonst niemand auf, da es der Mehrheitsposition einer strikten Gewaltlosigkeit und eines strengen Pazifismus widersprach. Verhältnis zum Realsozialismus Für Dutschke waren Demokratie und Sozialismus seit seiner Jugendzeit untrennbar. Deshalb solidarisierte er sich mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 und dem Ungarischen Volksaufstand 1956. Seitdem grenzte er sich bewusst gegen den sowjetischen Marxismus-Leninismus ab und betonte in einem seiner ersten Anschlag-Artikel: „Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde“, dieser müsse erst im Weltmaßstab gesellschaftlich verwirklicht werden. Wie Rosa Luxemburg kritisierte er Lenins Diskussions- und Fraktionsverbote innerhalb der Bolschewiki und wollte mit der Verfügung der Arbeiter über die Produktionsmittel die Bürgerrechte bewahren: Die Kommunistische Internationale vertrat für ihn einen doktrinären „Legitimationsmarxismus“, den jeder kritische Marxist als Ausdruck alter und neuer Klassenverhältnisse kritisieren müsse. Darum fragte er beim Moskaubesuch des SDS im Sommer 1965 nach dem Kronstädter Matrosenaufstand 1921. Dessen gewaltsame Niederschlagung sah er als Abkehr Lenins vom echten Marxismus zu einer neuen „bürokratischen“ Herrschaftsform an. Im SDS setzte er sich seit 1965 intensiv mit DDR-Anhängern und „Traditionalisten“ und ihrem an Lenins Konzept einer Kaderpartei angelehnten Revolutionsverständnis auseinander. Ein Spitzel im SDS meldete daraufhin dem Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit, Dutschke vertrete „eine völlig anarchistische Position“. Der IM Dietrich Staritz meldete im Dezember 1966: „Dutschke spricht ausschließlich vom Scheißsozialismus in der DDR.“ Nach anfänglichem Interesse an der chinesischen Kulturrevolution, von der er sich eine Entbürokratisierung und Überwindung der „Asiatischen Produktionsweise“ erhoffte, übernahm Dutschke ab Dezember 1966 Ernest Mandels Kritik: „‘Echte Selbsttätigkeit der Massen ist bei Mao nicht gestattet’ – eine verdammt kritische Bemerkung.“ Seit dem 17. Juni 1967 forderte er bei einer Diskussion im Republikanischen Club Westberlin im Ostblock eine „zweite Revolution“ zu einem Sozialismus sich frei vergesellschaftender Individuen. Die „dritte Front“ im internationalen Befreiungskampf blieben für ihn der Vietcong in Vietnam und die an Che Guevara angelehnten Befreiungsbewegungen Lateinamerikas. Den von der Bevölkerung getragenen reformkommunistischen Kurs Alexander Dubčeks im Prager Frühling begrüßte er vorbehaltlos. Bei seinem Pragbesuch verlangte er am 4. April 1968 trotz Redeverbots eine „internationale Opposition […] gegen alle Formen autoritärer Strukturen“ und fuhr fort: Dies konkretisierte er am Folgetag bei einer Vorlesung in der Karls-Universität als „Produzentendemokratie der Betroffenen in allen Lebensbereichen“. Nach dem Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 übte Dutschke Selbstkritik an der bisherigen Zusammenarbeit des SDS mit der FDJ gegen den Vietnamkrieg: In seiner Dissertation (erschienen 1974) erklärte er die Ursachen der sowjetisch-chinesischen Fehlentwicklung im Gefolge Karl August Wittfogels mit der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution hätten in Russland nie bestanden: Dort habe keine feudalistische und kapitalistische, sondern eine „asiatische“ Produktionsweise vorgeherrscht. Daraus habe sich unvermeidlich eine „asiatische Despotie“ entwickelt, die in ungebrochener Kontinuität von Dschingis Khan bis zu Josef Stalins Zwangskollektivierung und Zwangsindustrialisierung bestanden habe. Während Lenin 1905 noch für die Entfaltung des Kapitalismus in Russland plädiert habe, damit dort eine echte Arbeiterklasse heranwachsen könne, sei schon die „Machtergreifung der Bolschewiki“ beim „Oktoberputsch“ 1917 als Rückfall in die „allgemeine Staatssklaverei“ anzusehen. Die Erziehungsdiktatur der Bolschewiki sei dann zwangsläufig gefolgt, um der rückständigen Bevölkerung den Sozialismus nahezubringen. Die Entwicklung von Lenins Parteien- und Fraktionsverbot über diese Erziehungsdiktatur zu Stalin sei folgerichtig gewesen. Stalins brutale Zwangsindustrialisierung, um die Produktivität zu steigern, habe die Abhängigkeit der Sowjetunion vom kapitalistischen Weltmarkt nie beseitigen können, sondern nur einen neuen Imperialismus hervorgebracht. Daher stellten militärische Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Unterdrückung von selbstbestimmten Sozialismusversuchen im Ostblock eine logische Einheit dar. Für die westliche Linke könne die Sowjetunion kein Modell sein, da sie Ergebnis völlig anderer sozialökonomischer Voraussetzungen sei. Der Stalinismus sei manifester „Anti-Kommunismus“, der eine „Monopolbürokratie“ geschaffen habe, die nicht minder aggressiv sei als die „Monopolbourgeoisie“, die Stalin für den deutschen Faschismus verantwortlich machte. Somit sei es kein Zufall, dass seine Gulags und Konzentrationslager nach 1945 aufrechterhalten worden seien. Diesen systembedingten, nicht als „Entartung“ der Politik Lenins zu begreifenden Charakter der Sowjetunion hätten auch Leo Trotzki, Nikolai Iwanowitsch Bucharin, Karl Korsch, Rudolf Bahro, Jürgen Habermas und andere marxistische Kritiker und Analytiker nicht voll erkannt. Der isolierte „Sozialismus in einem Land“ sei eine „antidynamische Sackgassenformation“, die sich nur noch durch Kredite und Importe aus dem Westen am Leben erhalten könne. Alle ihre scheinbaren inneren Reformanläufe seit Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 seien nur Mittel zum Überleben der ZK-Bürokratie gewesen: Wegen dieser eindeutigen Haltung galt Dutschke für die DDR-Staatssicherheit bis 1990 als Autor jenes „Manifests des Bundes Demokratischer Kommunisten“, das die Zeitschrift Der Spiegel im Januar 1978 veröffentlichte. Es forderte wie seine Dissertation den Übergang von der asiatischen Produktionsweise des bürokratischen „Staatskapitalismus“ zur sozialistischen Volkswirtschaft, von der Einparteiendiktatur zu Parteienpluralismus und Gewaltenteilung. Erst 1998 stellte sich Hermann von Berg, ein Leipziger SED-Dissident, als Autor heraus. Die 1968 gegründete DKP, ihr Vertreter Robert Steigerwald und ihre Zeitschrift Unsere Zeit rezensierten Dutschkes Dissertation, sein Solschenizyn-Buch und weitere seiner Texte zur Sowjetunion und DDR stets negativ, bezeichneten ihn als „Antikommunisten“ und als „nützlichen Idioten in der ideologischen Strategie der Großbourgeoisie“. Dutschke wiederum schloss seit dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei (21. August 1968) jede Zusammenarbeit des SDS mit der DKP, der SED und ihrem Ableger SEW aus. Er betrachtete die DKP-Gründung als Versuch, die antiautoritäre Linke erneut in das reformistische Lager zu integrieren, weil sie zu gefährlich für das System geworden sei. Von den ab 1968 entstehenden K-Gruppen, die sich kritiklos an die Volksrepublik China oder Albanien anlehnten, distanzierte er sich ebenfalls. Seit seiner Mitarbeit in der Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung (ab 1978) setzte er sich für deren scharfe Abgrenzung von den K-Gruppen ein. Gleichzeitig verlangte er einen Klärungsprozess zum Verhältnis von Ökologie und Ökonomie, Demokratie und Sozialismus. Antiimperialistische Gewalt und antiautoritäre Provokation Im militärischen Guerillakampf des Vietcong sah Dutschke den Beginn einer weltweiten revolutionären Entwicklung, die auf andere Dritte-Welt-Länder übergreifen könne. Im Vorwort zu seiner Übersetzung von Che Guevaras Schrift Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams bejahte er militärische Gegengewalt seitens des Vietcong: Er teilte hier die antiimperialistische Theorie von Frantz Fanon im Anschluss an Lenin, wonach der von „revolutionärem Hass“ geleitete Befreiungskampf der Völker zuerst die „schwächsten Glieder“ in der Kette des Imperialismus zerreißen werde und dies unterstützt werden müsse. Er unterschied also „befreiende“ von „unterdrückender“ Gewalt, rechtfertigte erstere im Kontext nationaler Befreiungskämpfe in der Dritten Welt und betonte: Aus Che Guevaras Buch Der Partisanenkrieg entnahm Dutschke 1966 die Annahme, eine Revolution hänge nicht unbedingt von einer Wirtschaftskrise und einem klassenbewussten Proletariat ab, sondern die subjektive Tätigkeit könne die „objektiven Bedingungen für die Revolution“ auch erst herstellen. Für die Bundesrepublik lehnte Dutschke gewaltsamen Guerillakampf nicht prinzipiell, aber in der gegebenen Situation ab. Sein Aktionskonzept war seit 1965 auf „subversive“, „antiautoritäre“ und auch illegale Regelverletzung ausgerichtet, um Unterdrückung und Systemkritik in der Öffentlichkeit überhaupt erfahrbar und wahrnehmbar werden zu lassen: „Es galt, durch systematische, kontrollierte und limitierte Konfrontation mit der Staatsgewalt und dem Imperialismus in Westberlin die repräsentative 'Demokratie' zu zwingen, offen ihren Klassencharakter, ihren Herrschaftscharakter zu zeigen, sie zu zwingen, sich als 'Diktatur der Gewalt’ zu entlarven“. „Die etablierten Spielregeln dieser unvernünftigen Demokratie können nicht unsere Spielregeln sein.“ „Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich.“ Die Regelverstöße des antiautoritären Protests sollten die Gewalt, auf der die bürgerliche Gesellschaft Dutschkes Ansicht nach beruhte, aufdecken, entlarven, sinnlich erlebbar machen und so breitenwirksam darüber aufklären. Benno Ohnesorgs Erschießung und die Reaktion des Staates auf die Proteste machten Dutschkes Aktionskonzept plausibel. Er wollte die zugespitzte Lage nutzen, um eine erfolgreiche Revolution herbeizuführen, deren objektive Bedingungen seines Erachtens vorlagen: Jürgen Habermas dagegen kritisierte, die der Gesellschaft inhärente „sublime Gewalt in manifeste Gewalt umzuwandeln“, sei regelrecht Masochismus und bedeute letztlich „Unterwerfung unter eben diese Gewalt.“ Die Revolution nur von der Entschlossenheit der Revolutionäre abhängig zu machen, statt wie Marx auf die Eigenentwicklung der Produktionsverhältnisse zu setzen, sei eine „voluntaristische Ideologie“, die er „linken Faschismus“ nenne. Dutschkes Vorhaben werde faschistische Tendenzen in Staat und Volk wecken, statt sie zu verringern. Dieser glaubte dagegen, Im Juli 1967 nannte er in einem Interview Beispiele für die geforderte „direkte Aktion“: Unterstützen streikender Arbeiter durch Solidaritätsstreiks und Information über ihre objektive Rolle etwa in Rüstungsbetrieben, die die US-Armee belieferten, Verhindern der Auslieferung von Springerzeitungen, verbunden mit einer Enteignungskampagne, Gründen einer Gegen-Universität zur umfassenden Aufklärung der Bevölkerung: über Konflikte in der Dritten Welt und ihren Zusammenhang mit innerdeutschen Problemen ebenso wie über Rechtsfragen, Medizin, Sexualität usw. Das Werfen von Eiern, Tomaten und Steinen hielt er nicht für wirksamen Protest, lehnte es aber im Anschluss an Mario Savio (Studentenführer in Berkeley) auch nicht ab. In ihrem „Organisationsreferat“ (5. September 1967) erklärten Dutschke und Krahl: Nur revolutionäre Bewusstseinsgruppen könnten die passiv leidenden Massen noch aufklären und „durch sichtbar irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewissheit“ werden lassen. Sie bezogen sich auf die Fokustheorie Che Guevaras: 1968 nannte Dutschke weitere Aktionsziele: Dutschke unterschied Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen; letztere lehnte er zwar nicht prinzipiell, aber für die bundesdeutsche Situation ab. Auch an Gewalt gegen Sachen beteiligte er sich nicht aktiv, obwohl er Sprengstoffanschläge auf einen Sendemast des Soldatensenders American Forces Network oder ein Schiff mit Versorgungsgütern für die US-Armee in Vietnam mit vorbereitete. Beide Anschläge blieben unausgeführt. Er betonte weiterhin: „Wir haben eine prinzipielle Differenz in der Anwendung der Methoden in der Dritten Welt und in den Metropolen.“ Doch er hielt auch in Deutschland eine Situation für möglich, die bewaffnete Gegengewalt erfordere, etwa bei einer Beteiligung der Bundeswehr an NATO-Einsätzen gegen Dritte-Welt-Revolutionen. Dabei wies er schon im Vorwort zu seiner Che-Guevara-Übersetzung auf die Gefahr hin: Das Problem revolutionärer Gewalt sei „der Umschlag von revolutionärer Gewalt in eine Gewalt, die die Ziele der Gewalt – die Emanzipation des Menschen, die Schaffung des neuen Menschen – vergißt“. Auf die Frage von Günter Gaus (Dezember 1967), ob er notfalls selbst mit der Waffe in der Hand kämpfen würde, antwortete er: In weiteren Interviews um die Jahreswende 1967/68 antwortete Dutschke auf die Frage, ob er Tomaten- und Steinwürfe ablehne, klar „Nein“ und ergänzte: Beim Vietnamkongress im Februar 1968 verlangte er daher verstärkte, zielgerichtete und auch illegale Aktionen zur Unterstützung des Vietcong. Dabei verknüpfte er dessen militärischen Kampf in der damaligen Tet-Offensive direkt mit dem Kampf des SDS bzw. der APO gegen autoritäre Gesellschaftsstrukturen: Er forderte aber keinen bewaffneten Guerillakampf in der Bundesrepublik, sondern einen bundesweiten Aufruf an Bundeswehr-Soldaten zur Desertion, um „mit unserem eigenen Herrschaftsapparat zu brechen.“ Er selbst rief in der Bundesrepublik stationierte US-Soldaten öffentlich und mit über die Kasernenzäune geschleuderten Flugblättern zur massenhaften Desertion auf; diese Aufrufe hatte er 1967 vorgeschlagen. Sie wurden seit Januar 1968 vom SDS, später auch von der Gewerkschaftsjugend und einigen Universitätsdozenten übernommen. Im Vorwort zu den Briefen an Rudi D. (Sommer 1968) schrieb Dutschke über die „Osterunruhen“ vom April 1968: Spontane, direkte Aktionen gegen den Springerkonzern seien unzureichend. Man habe nur einige Lastwagen zerstören, aber „die Maschinerie der Lüge und Bedrohung“ nicht aufhalten können. Der 'Staat der Ruhe und Ordnung' habe die „völlig unerwartete, tief menschliche Wut gegen diese Maschinerie“ rasch wieder aufgefangen. Weder geeignete Organisationen noch geeignete Waffen seien rechtzeitig vorhanden gewesen. „Molotowcocktails kamen zu spät.“ Eine „lächerliche Gewaltdiskussion“ sei gefolgt: „Die Phrase der Gewaltlosigkeit ist immer die Integration der Auseinandersetzung. […] Unsere Alternative zu der herrschenden Gewalt ist die sich steigernde Gegengewalt. Oder sollen wir uns weiter ununterbrochen kaputtmachen lassen? Nein, die Unterdrückten in den unterentwickelt gehaltenen Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas haben bereits ihren Kampf begonnen.“ Er betonte aber zugleich: „Wir kämpfen in den Metropolen nicht gegen einzelne Charaktermasken dadurch, dass wir sie erschießen; es wäre meiner Meinung nach konterrevolutionär. Das System wird freilich so etwas mal wünschen, um uns härter, für Jahre vollständig niederschlagen zu können.“ Für den Schah Persiens wünschte er sich jedoch nachträglich eine Ausnahme: Dass die Revolutionäre der Metropolen den Schahbesuch in Europa nicht genutzt hätten, um ihn zu erschießen, zeige „die Niveau-Losigkeit unseres bisherigen Kampfes“. Um Revolutionär zu werden, müssten die APO-Anhänger die Universitäten verlassen und sich in die Institutionen begeben, um sie „aufzubrechen“ und als „Permanenzrevolutionäre“ immer wieder in sie einzudringen. Dies bezeichnete er als „revolutionäre Globalstrategie im antiautoritären Sinne“. Seine kontrolliert gewaltbereite Militanz wurde später in einen „Marsch durch die Institutionen“ umgedeutet. 1971 erklärte Dutschke selbstkritisch, die von ihm und einigen anderen damals angenommene revolutionäre Situation sei eine Illusion gewesen. 1977 nach der Ermordung von Elisabeth Käsemann, die 1968 mit ihm Prag besucht hatte, verteidigte er ihre Teilnahme am bewaffneten Kampf gegen die Militärjunta in Argentinien. Er erinnerte daran, dass die Junta sämtliche Bürgerrechte außer Kraft gesetzt und die linke Opposition „mit allen Mitteln des militärischen Terrors angegriffen“ hatte, so dass den Verfolgten nur noch bewaffnete Gegenwehr übrig geblieben sei. Verhältnis zum Terrorismus Dutschke bejahte auch Terror im Kampf gegen den Imperialismus, unterschied dabei aber seit 1964 zwischen „notwendigem und zusätzlichem Terror“. Ersterer sei in revolutionären Situationen legitim, da auch der bürgerlich-kapitalistische Staat zur Aufrechterhaltung seiner Ordnung Gesinnungsterror und physischen Terror anwende. In seinem Vorwort zu Che Guevaras Schrift Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams erklärte er, Hass auf jede Form von Unterdrückung sei einerseits militanter Humanismus, andererseits vom Umschlag in „verselbständigten Terror“ gefährdet. Wie alle „Kader“-Konzepte, die sich von der Bevölkerung isolierten und deren Bewusstwerdung verhinderten, lehnte Dutschke als antiautoritärer Marxist auch den individuellen Terror ab, den einige linksradikale Gruppen wie die „Tupamaros West-Berlin“ oder die Rote Armee Fraktion seit 1970 nach dem Zerfall des SDS verübten. Bei der Beerdigung des RAF-Mitglieds Holger Meins am 9. November 1974 rief Dutschke mit erhobener Faust: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Auf die heftige Kritik daran antwortete er nach dem Mord an Günter von Drenkmann in einem Leserbrief: In einem Brief an Freimut Duve (SPD) vom 1. Februar 1975 erklärte Dutschke sein Auftreten an Meins’ Grab als zwar „psychologisch verständlich“, politisch aber „nicht angemessen reflektiert“. Er besuchte das RAF-Mitglied Jan-Carl Raspe direkt nach der Beerdigung von Meins im Gefängnis und erwartete danach die Selbstzerstörung der RAF als Resultat ihrer „falschen Konzeption“ und der Isolationshaft. Am 7. April 1977 wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet. Dutschke sah nun eine Partei links von der SPD als notwendige Prävention gegen Linksterrorismus an: „Der Bruch der linken Kontinuität im SDS, die verhängnisvollen Auswirkungen werden erkennbar. Was tun? Die sozialistische Partei wird immer unerlässlicher!“ Im Deutschen Herbst 1977 wurde vielen Linksintellektuellen vorgeworfen, sie hätten den „geistigen Nährboden“ der RAF geschaffen. In der Zeit vom 16. September gab Dutschke diesen Vorwurf an die „herrschenden Parteien“ zurück und stellte in Frage, dass es der RAF überhaupt noch um sozialistische Ziele gehe: Dennoch griff ihn die Stuttgarter Zeitung am Folgetag persönlich als Wegbereiter der RAF an, der gefordert habe, Dagegen erklärte Dutschke 1978, die RAF sei nach den Attentaten auf Ohnesorg und ihn selbst aus dem gesellschaftlichen „Klima der Unmenschlichkeit“ entstanden, das rechtsgerichtete Politiker und die Springermedien geschürt hätten. Er betonte im Rückblick auf seine Entwicklung im Dezember 1978 nochmals: Verhältnis zur deutschen Nation Die Teilung Deutschlands war für Dutschke schon seit seiner DDR-Jugend ein Anachronismus: „Der Faschismus ist weg, warum wird Deutschland nun auch noch gespalten?“ Seine Weigerung, Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee zu leisten, begründete er 1957 auch damit, dass er nicht auf Landsleute schießen wollte. 1968 erklärte er dazu: Nach der Forderung einer sozialistischen Revolution im Ostblock am 17. Juni 1967 trug Dutschke am 24. Juni zunächst im engsten Freundeskreis, ab Juli im „Oberbaumblatt“ in einer Auflage von 30.000 Stück seinen Plan zu einer Räte-Revolution in West-Berlin vor, die auf die DDR ausstrahlen und so langfristig die Spaltung Deutschlands beenden sollte: „Ein von unten durch direkte Rätedemokratie getragenes West-Berlin […] könnte ein strategischer Transmissionsriemen für eine zukünftige Wiedervereinigung Deutschlands sein.“ Im Oktober 1967 vertiefte er diese Idee einer Wiedervereinigung unter sozialistischen Vorzeichen in einem Gespräch: Danach trat dieses Thema in seinen Äußerungen zurück. Erst 1977 griff er es mit einer Artikelserie wieder auf und fragte, warum die deutsche Linke nicht national denke. Er mahnte eine Zusammenarbeit der jeweiligen sozialistischen Opposition in der DDR und der Bundesrepublik an, denn „die DDR ist zwar nicht das bessere Deutschland. Aber sie ist ein Teil Deutschlands“. Um die westdeutsche Linke für die von ihr vernachlässigte „nationale Frage“ zu interessieren und die Behandlung dieses Themas nicht den Nationalisten zu überlassen, verwies er auf den von Karl Marx selbst betonten dialektischen Zusammenhang mit der sozialen Frage: „Unter solchen Bedingungen fängt der linke Deutsche an, sich mit allem möglichen zu identifizieren, aber einen Grundzug des kommunistischen Manifestes zu ignorieren: Der Klassenkampf ist international, in seiner Form aber national.“ Diese Ansichten stießen jedoch damals auf fast einhellige Ablehnung und manchmal Empörung. Rezeption Nachrufe Nach Rudi Dutschkes Tod erschien eine große Zahl positiver Nachrufe. Helmut Gollwitzer erinnerte in seiner Trauerrede an das letzte Telefonat Dutschkes an seinem Todesabend. Der Anrufer Heinz Brandt habe ihn an seine Anfänge bei der christlichen Gemeinde in Luckenwalde erinnert: „Rudi, du hast nie verlassen, wovon du ausgegangen bist, deine Anfänge bei der Jungen Gemeinde in der DDR und bei der Kriegsdienstverweigerung…“ Dem habe Dutschke zugestimmt. Er habe nicht „Führer, Chefideologe, Autorität“ sein wollen, aber zu den Revolutionären gehört, die „auf dieser Erde nicht alt geworden sind“. Jürgen Habermas bezeichnete Dutschke als „wahrhaften Sozialisten“. Er sei „… Charismatiker einer Intellektuellenbewegung, der unermüdliche Inspirator, ein hinreißender Rhetor, der mit der Kraft zum Visionären durchaus den Sinn fürs Konkrete, für das, was eine Situation hergab, verbunden hat.“ Wolf Biermann sang in seinem Trauerlied am 3. Januar 1980 mit Bezug auf persönliche Begegnungen: Dieses Bild bestimmte fortan die Wahrnehmung Dutschkes bei vielen Zeitgenossen. So meinte Walter Jens 1981, er sei „ein friedliebender, zutiefst jesuanischer Mensch“ gewesen. Für Ulrich Chaussy begann die „Konstruktion eines Mythos“ schon zu Dutschkes Lebzeiten. Dieser habe seiner Idolisierung zu widerstehen versucht und nur Tage vor dem Attentat auf ihn für einen geplanten Fernsehfilm von Wolfgang Venohr seinen Rückzug aus der Studentenbewegung angekündigt, um der Personalisierung gesellschaftlicher Konflikte entgegenzuwirken. Chaussy erklärt das Misslingen dieser Absicht wie folgt: Erinnerung Vor dem ehemaligen Büro des SDS am Haus Kurfürstendamm 141, dem Ort des Attentats, wurde am 23. Dezember 1990 eine in den Gehweg eingelassene Steintafel enthüllt. Am 30. April 2008 wurde ein Teil der Kochstraße in Berlin offiziell zur Rudi-Dutschke-Straße umbenannt. Sie grenzt direkt an die Axel-Springer-Straße. Der Umbenennungsvorschlag von 2005 löste einen jahrelangen öffentlichen Konflikt aus. Mehrere Klagen von Anwohnern und des in der Kochstraße ansässigen Axel-Springer-Verlags wurden abgewiesen. Am 7. März 2008, Dutschkes 68. Geburtstag, wurde der Vorplatz des stillgelegten Bahnhofs in seinem Geburtsort Schönefeld (Nuthe-Urstromtal) in „Rudi-Dutschke-Platz“ umbenannt. Auf dem Campus der FU Berlin verläuft ein „Rudi-Dutschke-Weg“. Mit Rudi Dutschke befassen sich die Dokumentarfilme Aufrecht gehen, Rudi Dutschke – Spuren (1988) von Helga Reidemeister und Dutschke, Rudi, Rebell (1998) von Jürgen Miermeister. Rainer Werner Fassbinders Spielfilm Die dritte Generation von 1979 verwendet Archivaufnahmen, auf denen Dutschke zu sehen ist. In dem Spielfilm Der Baader Meinhof Komplex des Regisseurs Uli Edel aus dem Jahr 2008 wird Dutschke von Sebastian Blomberg dargestellt. Das Doku-Drama Dutschke (2009) von Stefan Krohmer und Daniel Nocke verbindet Interviewpassagen und inszenierte Szene aus Dutschkes Leben. Christoph Bach wurde dafür 2010 mit dem Deutschen Fernsehpreis als Bester Schauspieler ausgezeichnet. Wolf Biermann veröffentlichte 1968 das Lied Drei Kugeln auf Rudi Dutschke. 1969 erschien es in seinem Lyrikband Mit Marx- und Engelszungen. Thees Uhlmann besingt die Geburt Rudi Dutschkes und die Straßenbenennung in seinem Song Am 7. März (2013). 1967 entstand das Bild Dutschke von Wolf Vostell, eine Verwischung einer Fotografie von Rudi Dutschke. Das Bild ist Bestand der Kunstsammlung im Haus der Geschichte. Dutschkes Bild wandelte sich mit dem Bild der 1968er-Revolte insgesamt. 2008 zum 40-jährigen Jubiläum der „68er“ verglich der frühere APO-Aktivist Götz Aly ihn in einem Zeitungsartikel vom 30. Januar 2008 zum Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung mit Joseph Goebbels. Eine dazu abgedruckte Fotografie verglich den Kampf der APO gegen den Springerkonzern mit den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten; weitere Fotografien verglichen eine Hochschulkundgebung von NS-Studenten mit einer von Dutschke mit angeführten Antikriegsdemonstration. Die Bildunterschrift behauptete „ähnliche Ziele“. Diskurs um die Gewaltfrage Seit den 1970er Jahren wird besonders Dutschkes Verhältnis zu revolutionärer Gewalt und dessen möglicher Einfluss auf den Terrorismus der RAF intensiv diskutiert. 1986 stellte Jürgen Miermeister an Dutschkes Selbstzeugnissen dar, dass er jede Aktionsform reflektierte und mit einer politischen Situationsanalyse verknüpfte. Er habe theoretisch auch Attentate auf Tyrannen für legitim gehalten, aber nur als unmittelbaren Auslöser für eine Volksrevolution. Wegen dieser fehlenden Voraussetzung habe er Anschlagspläne auf Diktatoren ebenso wie Terror für die Bundesrepublik abgelehnt. Er sei „zwar kein Pazifist, aber in letzter Konsequenz weder Anarchist noch putschistischer Marxist-Leninist, sondern Christ“ gewesen und habe daher vor Gewalt gegen Menschen zurückgeschreckt. 1987 dokumentierte Wolfgang Kraushaar in seiner dreibändigen Chronik der westdeutschen Studentenbewegung auch Dutschkes und Krahls „Organisationsreferat“ von 1967. Er betonte: In ihrer 1996 erschienenen Biografie stellte Gretchen Dutschke-Klotz auch Dutschkes widersprüchliche Haltung zu bewaffneter Gewalt dar: Er habe Angriffsplänen mit Molotowcocktails auf eine britische Fluggesellschaft damals nicht widersprochen, nur die eigene Teilnahme abgelehnt. Klar sei für ihn gewesen, dass auch illegaler Widerstand nicht von der Bevölkerung isolieren und keine Menschen gefährden sollte. Die 2003 von Gretchen Dutschke-Klotz herausgegebenen Tagebücher Dutschkes ermöglichten neue Einblicke in seine politische Entwicklung. Michaela Karl zeichnete Dutschkes gewandeltes Verhältnis zu revolutionärer Gewalt in verschiedenen Lebensphasen nach und erklärte es aus dem jeweiligen historischen Kontext. Rudolf Sievers veröffentlichte 2004 Dutschkes Aufsatz Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf, in dem dieser auch die Rolle von revolutionärer Gegengewalt erörterte. Gerd Langguth hatte Dutschke in seiner 2001 erschienenen Studie Mythos ’68 für eine theoretische und praktische „Enttabuisierung“ von Gewalt in der Bundesrepublik verantwortlich gemacht, die zur RAF geführt habe. Wolfgang Kraushaar spitzte Langguths These 2005 in seinem Aufsatz Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf zu. Er kritisierte, Zeitgenossen hätten Dutschke als „Ikone“ und „grün angehauchten, christlichen Pazifisten“ dargestellt. Dies sei im Blick auf zuvor unveröffentlichte Aussagen Dutschkes in seinem Nachlass unhaltbar. Er sei der „Erfinder des Konzepts Stadtguerilla in Deutschland“ gewesen, habe dieses konsequent bis 1969 vertreten und Sprengstoffanschläge mit vorbereitet, obwohl diese unausgeführt blieben und er sich vom späteren RAF-Terrorismus distanzierte. Dies löste eine erneute Diskussion aus. Thomas Medicus folgerte, „dass Dutschke propagierte, was Baader und die RAF praktizierten“. Lorenz Jäger begrüßte, Kraushaars Aufsatz habe vor allem Erich Frieds „Dutschke-Legende“ eines „pazifistischen Revolutionärs“ in Frage gestellt, der Ulrike Meinhof bei längerem Kontakt vom Weg in die Illegalität abgehalten hätte. Dutschke sei schon vor Beginn der Studentenbewegung gewaltbereit gewesen. Seine „Sprengstoff-Episoden“ seien Ausdruck und Folge seines Aktionskonzepts gewesen. Jürgen Treulieb zufolge wurde Dutschke weder bei seiner Beerdigung noch bei der Gedenkveranstaltung in der Freien Universität Berlin am 3. Januar 1980 als Ikone und Pazifist dargestellt. Diese Sicht hätten vielmehr ausdrücklich auch die abgelehnt, die an Dutschkes frühen christlichen Pazifismus erinnert hätten. Diese Nachrufe übergehe Kraushaar. Rainer Stephan warf Kraushaar vor, Begriffe wie „antiautoritär“, „außerparlamentarisch“, „Bewegung“, „Revolte“, „direkte Aktion“, „Stadtguerilla“ usw. nicht zu definieren, sodass mögliche Bedeutungsunterschiede nicht sichtbar würden. Es sei nicht plausibel, dass schon der frühe Dutschke die Theorie für den Terror geliefert haben solle, von dem er sich später scharf abgrenzte: Klaus Meschkat erinnerte an Kraushaars frühere Unterscheidung zwischen Dutschkes und Baaders Verständnis von Stadtguerilla und kritisierte: Kraushaars „kriminalistische Enthüllungsübungen“ hätten mit keinem Wort die historische Situation berücksichtigt, aus der Dutschkes Haltung sich erkläre. Diesen Kontext zu erklären sei aber eigentlich „die Pflicht eines gewissenhaften Zeithistorikers“. Gewalt seitens der Studenten zu verurteilen, ohne an den Vietnamkrieg zu erinnern, habe Oskar Negt schon 1972 als Heuchelei erklärt. Claus Leggewie dagegen folgte Kraushaar: Susanne Kailitz zufolge hatte Dutschke kein in sich schlüssiges Gewaltkonzept. Zum einen habe er antiautoritäre Gewalt als Präventionsmittel verstanden, um einen vermeintlich gewaltsamen Charakter des Staates aufzudecken, zum anderen als Reaktion auf erwartete staatliche Unterdrückung. Einerseits habe er vertreten, diese Repression werde die Revolution beinahe naturgesetzlich herbeiführen, andererseits, diese sei vom Willen der revolutionären Avantgarde, nämlich der demonstrierenden Studenten, abhängig. Kailitz folgert aus dieser Ambivalenz, Dutschke habe Terror und bewaffneten Kampf in den Metropolen nur „aus strategischen Gründen“ abgelehnt. 2006 betonte Stefan Reinecke im Aufsatzband Dutschke und Du der taz zur Gewaltdebatte des Vorjahres, „warum Dutschke nicht Vordenker der RAF war“. Jutta Ditfurth beschrieb Dutschkes dreijährige politische Freundschaft mit Ulrike Meinhof (2008) und belegte mit Originalaussagen beider sowie Zeitzeugenaussagen, dass Dutschke bis zum Attentat auf ihn 1968 radikaler als Meinhof gewesen war und früher als sie Anschläge auf Kriegsinfrastruktur bejaht hatte. Ditfurth beschrieb im Nachwort zur Neuauflage des Buchs (2018), wie gerade ehemalige 68er oder deren Kinder diese bis 1969 gültige politische Übereinstimmung Dutschkes mit Meinhof in Abrede zu stellen versucht hatten: „Der 'heilige, angeblich gewaltfreie Rudi' darf nicht durch die schmutzige, terroristische Meinhof befleckt werden.“ Diskurs um die nationale Frage Wolfgang Kraushaar nannte Dutschke 2000 einen „nationalen Linken“, der diese Haltung aus Rücksicht auf eine Tabuisierung alles Nationalen in der westdeutschen Linken öffentlich meist zurückgehalten habe. Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker belegten 2011 Dutschkes leidenschaftliches Eintreten für die Wiedervereinigung Deutschlands auch mit bisher unbekannten Dokumenten. Bernd Rabehl versuchte seit 1998, seine eigene Hinwendung zum Rechtsextremismus zu rechtfertigen, indem er Aussagen Dutschkes nachträglich zu einer „nationalrevolutionären“ Position umdeutete. So behauptete er damals in der neurechten Zeitschrift Junge Freiheit, die „nationale Frage“ habe schon bei der Bildung der APO eine wichtige Rolle gespielt; diese sei vor allem antiamerikanisch und antirussisch gewesen. „So gesehen gehörten die 'Nationalrevolutionäre' Dutschke und Rabehl zu keinem Zeitpunkt zur traditionellen Linken.“ Horst Mahler, Reinhold Oberlercher und Günter Maschke griffen Rabehls Umdeutung 1999 in einer gemeinsam verfassten Kanonischen Erklärung zur Bewegung von 1968 auf und behaupteten, beim Vietnamkongress hätten Dutschke und andere Redner eine nationalrevolutionäre Befreiung Mitteleuropas von den Großmächten einleiten wollen. Johannes Agnoli, der neben Dutschke, Erich Fried und Peter Weiss beim Vietnamkongress geredet hatte, widersprach dem 1999: „Von einem nationalrevolutionären Aufbruch haben wir nichts gewusst. Kein Wunder, zwei Juden und ein Italiener dachten an alles Mögliche, nur nicht an die deutsche Nation.“ Diese sei auch bei seinen häufigen Debatten mit Dutschke kein Thema gewesen. Wie Dutschkes Tagebuch belegt, hatte er mit Rabehl seit 1966 nicht mehr politisch zusammengearbeitet, ihn seit Mitte 1967 im SDS zu seinen Gegnern gezählt, nicht in seine Zukunftspläne eingeweiht und ihn ab 1974 für einen unsolidarischen und zynischen Plagiator aus seiner Dissertation und Opportunisten gehalten. Gegen Kraushaar und Rabehl zeigte Gretchen Dutschke-Klotz 2003 an Dutschkes Tagebuchnotizen: Aktualität Klaus Meschkat sah Dutschkes bleibende Bedeutung 2005 in seiner Suche nach wirksamen Widerstandsformen: Ralf Dahrendorf dagegen urteilte 2008 über Dutschkes Theorien und sozialwissenschaftliche Forschung: Ulrich Chaussy verweigerte in der Neuauflage seiner Dutschkebiografie (2018) Antworten auf die Frage nach Dutschkes Aktualität und aktuellen politischen Präferenzen. Chaussy betont, Dutschke sei optimistisch geblieben und man könne ihn sich auch heute nur als hoffnungsvollen Menschen vorstellen. Jutta Ditfurth betont die nicht zuletzt durch Dutschkes Überzeugungs- und Integrationskraft erreichte Einigkeit und Radikalität der APO bis zum Vietnamkongress 1968 und deren Einfluss auf viele folgende gesellschaftskritische soziale Bewegungen. Weiterführende Informationen Schriften Gretchen Dutschke-Klotz (Hrsg.): Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963–1979. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, ISBN 3-462-03224-0. Jürgen Miermeister (Hrsg.): Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens. Klaus Wagenbach, Berlin 1991, ISBN 3-8031-2198-1. Karola Bloch, Welf Schröter (Hrsg.): Rudi Dutschke: „Lieber Genosse Bloch …“ Briefe Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch. 1968–1979. Talheimer, Mössingen 1988, ISBN 3-89376-001-6. Ulf Wolter (Hrsg.): Rudi Dutschke: Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie. Eingeleitet von Gretchen Dutschke-Klotz. Bibliographie: Jürgen Miermeister. Olle und Wolter, Berlin 1981, ISBN 3-88395-427-6. Auszüge: Gretchen Dutschke-Klotz, Helmut Gollwitzer, Jürgen Miermeister (Hrsg.): Rudi Dutschke: Mein langer Marsch. Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren. Rowohlt, Reinbek 1981, ISBN 3-499-14718-1. Rudi Dutschke: Warum ich Marxist bin – doch Marx sagte: „Ich bin kein Marxist“. In: Fritz Raddatz (Hrsg.): Warum ich Marxist bin. Kindler, München 1978, ISBN 3-463-00718-5, S. 95–135. Rudi Dutschke: Gekrümmt vor dem Herrn, aufrecht im politischen Klassenkampf: Helmut Gollwitzer und andere Christen. In: Andreas Baudis und andere (Hrsg.): Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Für Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag. Christian Kaiser, München 1978, ISBN 3-459-01186-6, S. 544–577. Rudi Dutschke: Wider die Päpste. Über die Schwierigkeiten, das Buch von Bahro zu diskutieren. Ein offener Brief an den Stasi Chef. In: Ulf Wolter (Hrsg.): Antworten auf Bahros Herausforderung des „realen Sozialismus“. Olle & Wolter, Berlin 1978, ISBN 3-921241-51-0. Frank Böckelmann, Herbert Nagel (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Neue Kritik, Frankfurt am Main 1976 / 2002, ISBN 3-8015-0142-6. Rudi Dutschke, Manfred Wilke (Hrsg.): Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke. Rowohlt, Reinbek 1975, ISBN 3-499-11875-0. Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukács und die Dritte Internationale. (1974) Klaus Wagenbach, Berlin 1984, ISBN 3-8031-3518-4. Rudi Dutschke: Pamphlet. In: Stefan Reisner: Briefe an Rudi D. Voltaire Flugschrift 19. Edition Voltaire, Berlin 1968 (Vorwort). Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre, Bernd Rabehl: Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition. Eine Analyse. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1968. Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart. sds-korrespondenz sondernummer. (1966) Paco Press, Amsterdam 1970, ISBN 3-929008-93-9. Tondokumente Rudi Dutschke: Das Problem der Revolution in Deutschland – Reden, Streitgespräche und Interviews. CD 1: Rudi Dutschke, Günter Gaus: Zu Protokoll: Rudi Dutschke. CD 2: Rudi Dutschke: Das Problem der Revolution in Deutschland. CD 3: Rudi Dutschke: Vortrag an der Karlsuniversität Prag. CD 4: Rudi Dutschke: Gespräch mit Brigitte und Helmut Gollwitzer und Interview mit Ulrich Chaussy. Produktionen des Südwestrundfunks SWR2, Hrsg. Ulrich Chaussy, Quartino GmbH, München 2008, ISBN 978-3-86750-033-3. Literatur Biografien Ulrich Chaussy: Rudi Dutschke: Die Biographie. Droemer, München 2018, ISBN 978-3-426-27752-2. Michaela Karl: Rudi Dutschke – Revolutionär ohne Revolution. Neue Kritik, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-8015-0364-X. Ulrich Chaussy: Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie. (1983) Pendo, Zürich 1999, ISBN 3-85842-532-X. Gretchen Dutschke: Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1996, ISBN 3-462-02573-2. Jürgen Miermeister: Rudi Dutschke. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986, ISBN 3-499-50349-2. Einzelthemen Jutta Ditfurth: Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof: Geschichte einer Freundschaft. Erweiterte, aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe, konkret Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3-930786-83-1. Gretchen Dutschke: 1968. Worauf wir stolz sein dürfen. kursbuch.edition, Hamburg 2018, ISBN 978-3-96196-006-4. Carsten Prien: Dutschkismus – die politische Theorie Rudi Dutschkes. Ousia Lesekreis Verlag, Seedorf 2015, ISBN 978-3-944570-58-7. Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo: Rudi Dutschke: Aufrecht Gehen. 1968 und der libertäre Kommunismus. Laika, Hamburg 2012, ISBN 978-3-942281-81-2. Tilman P. Fichter, Siegward Lönnendonker: Dutschkes Deutschland. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links. Klartext, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0481-1. Tilman P. Fichter, Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke. Klartext, Essen 2008, ISBN 978-3-89331-868-1. Rudi-Marek Dutschke: Spuren meines Vaters. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2001, ISBN 3-462-03038-8. Friedrich-Wilhelm Marquardt: Rudi Dutschke als Christ. Theologischer Verlag, Tübingen 1996, ISBN 3-929128-17-9. Jürgen Miermeister: Ernst Bloch, Rudi Dutschke. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1996, ISBN 3-434-50207-6. Rainer Rappmann (Hrsg.), Joseph Beuys: Denker, Künstler, Revolutionäre. Beuys, Dutschke, Schilinski, Schmundt: vier Leben für Freiheit, Demokratie und Sozialismus. FIU-Verlag, Wangen 1996, ISBN 3-928780-13-1. Weblinks Biografisches , Stand 25. Mai 2016. Attentat auf Rudi Dutschke vor 50 Jahren. Drei Schüsse am Kurfürstendamm. Deutschlandradio, 10. April 2018. Rudis Brüder: Manfred und Helmut Dutschke. WDR 5-Podcast „Erlebte Geschichte“, 7. März 2010. Texte, Vorträge und Interviews Dutschkes Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart. Rudi Dutschke: Mallet, Marcuse „Formierte Gesellschaft“ und politische Praxis der Linken hier und anderswo 1965. Archivalische Sammlung Rudi Dutschke im Hamburger Institut für Sozialforschung. Günter Gaus: Interview mit Rudi Dutschke – Eine Welt gestalten, die es noch nie gab. (Gesendet am 3. Dezember 1967). Tagebuch-Rezensionen 2003 Rudi Dutschke: Vater, Ehemann und Studentenführer. (Mit weiteren Links). Fritz J. Raddatz: Der gehetzte Revolutionär. Rudi Dutschkes Tagebücher sind vor allem eines: Ein Dokument des Scheiterns. Die Zeit, Nr. 13/2003. Gewaltdebatte 2005 Dirk Knipphals: Nach den Projektionen. taz, 23. Februar 2005. Klaus Meschkat: Fantasievolle Überraschungen. taz, 1. März 2005. Wolfgang Kraushaar: Der Eskalationsstratege. taz, 8. März 2005 Claus Leggewie: Entmystifiziert euch! taz, 3. Mai 2005. Gerd Langguth: Rudi Dutschke stand für Gewalt. Der Tagesspiegel, 26. Januar 2005. Politische Theorie Gretchen Dutschke-Klotz: Was Rudi Dutschke zu den Irrwegen der abgefallenen Achtundsechziger sagen würde. Christoph Jünke: Rudi Dutschke und die Theorie der antiautoritären Revolte. Videos Club 2, ORF, 1978, Zehn Jahre nach 1968, dreistündige Diskussion mit Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Günther Nenning, Matthias Walden und Kurt Sontheimer Einzelnachweise Aktivist Soziologe (20. Jahrhundert) Person der 68er-Bewegung Absolvent der Freien Universität Berlin BGL-Mitglied Bestattet in einem Ehrengrab des Landes Berlin Essay Literatur (Deutsch) Marxistischer Theoretiker (Deutschland) Mitglied des Sozialistischen Büros Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund Opfer eines Attentats Person (Religiöser Sozialismus) Politische Literatur Sachbuchautor Ziviler Ungehorsam Deutscher Emigrant aus der DDR Geboren 1940 Gestorben 1979 Mann
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Paarhufer
Die Paarhufer, auch Paarzehige Huftiere oder Paarzeher (Artiodactyla, früher auch Paraxonia), sind in der klassischen Systematik eine Ordnung der Säugetiere (Mammalia). Es handelt sich um überwiegend pflanzenfressende Tiere, die im Gegensatz zu den Unpaarhufern meist durch eine gerade Anzahl von Zehen (zwei oder vier) charakterisiert sind. Zu dieser Gruppe zählen einige der wirtschaftlich bedeutendsten Säugetiergruppen wie Rinder, Schweine, Kamele, Ziegen und Schafe, aber auch andere bekannte Tiere wie Giraffen, Flusspferde, Hirsche oder Antilopen. Molekularbiologische Untersuchungen haben ergeben, dass die Paarhufer wahrscheinlich paraphyletisch in Bezug auf die Wale sind. Das heißt, dass einige Gruppen (insbesondere die Flusspferde) näher mit den Walen als mit den übrigen Vertretern dieser Ordnung verwandt sind. Moderne phylogenetische Systematiken fassen entsprechend Paarhufer und Wale zum gemeinsamen Taxon der Cetartiodactyla zusammen. Die Paarhufer bilden demnach ein Formtaxon, also eine Gruppe, die zwar keine geschlossene Abstammungsgemeinschaft darstellt, aber durch gemeinsame Merkmale charakterisiert wird. Paarhufer lassen sich in vier Unterordnungen einteilen: Die Schweineartigen (Suina) bestehen aus den Echten oder Altweltlichen Schweinen und den Nabelschweinen oder Pekaris. Die Flusspferde gehören in eine eigene Unterordnung, die Ancodonta (unter Einbeziehung der Wale als nächstverwandte Gruppe auch Cetancodonta genannt). Die Kamele – einschließlich der neuweltlichen Arten – sind die einzigen rezenten Vertreter der Unterordnung der Schwielensohler (Tylopoda). Die Wiederkäuer (Ruminantia) bestehen unter anderem aus Giraffenartigen, Hirschen und Hornträgern, zu denen beispielsweise die Rinder, die Ziegenartigen und die als Gazellen und Antilopen bezeichneten Tiere zählen. Körperbau Die Paarhufer haben einige gemeinsame Merkmale insbesondere im Bau der Gliedmaßen, die sich bei den heute lebenden (rezenten), hochgradig an das Wasserleben angepassten Walen nicht finden. Als gemeinsame abgeleitete Merkmale (Synapomorphien) der Paarhufer galten ein spezieller Bau des Sprungbeins mit zwei Gelenkrollen (Trochlea tali proximalis und distalis) und der verlängerte letzte untere Vormahlzahn. Allerdings hat die Entdeckung dieses speziellen Sprungbeins bei fossilen Walen im Jahr 2001 den Diskussionen über die Systematik neue Nahrung gegeben (siehe unten). Allgemeiner Körperbau und Fell Die Paarhufer sind mittelgroße bis große Tiere, die sich vierfüßig (quadruped) fortbewegen. Es gibt zwei Gestalttypen, die sich deutlich im Körperbau unterscheiden. So zeichnen sich etwa Schweineartige und Flusspferde durch einen stämmigen Rumpf, kurze Beine und einen großen Kopf aus. Schwielensohler und Wiederkäuer weisen hingegen einen eher schlanken Körperbau und lange dünne Beine auf. Die Größe der Paarhufer variiert beträchtlich. Als kleinste Vertreter gelten die Hirschferkel, die oft nur 45 Zentimeter Kopfrumpflänge und ein Gewicht von 1,5 Kilogramm erreichen. Die größten Vertreter sind – mit bis zu 5 Metern Kopfrumpflänge und 4,5 Tonnen Gewicht – das Flusspferd beziehungsweise – mit bis 5,5 Meter Höhe und 4,7 Meter Kopfrumpflänge – die Giraffe. Hinsichtlich der Größe herrscht bei fast allen Arten ein Sexualdimorphismus: Die Männchen werden durchweg größer und schwerer als die Weibchen. Geschlechtsunterschiede gibt es auch bei den Stirnwaffen: so haben bei Hirschen in der Regel nur die Männchen ein Geweih und die Hörner der Hornträger sind bei den Weibchen meist deutlich kleiner oder fehlen gänzlich. Auch hinsichtlich anderer Aspekte wie der der Bezahnung oder der Fellfärbung kann es Sexualdimorphismen geben. So etwa bei der Hirschziegenantilope, bei der das Fell der Männchen dunkelbraun, das der Weibchen hingegen ockerfarben ist. Bis auf die nahezu unbehaarten Flusspferde sind alle Vertreter dieser Ordnung mit einem dichten Fell bedeckt, dessen Länge und Färbung je nach Lebensraum variieren. Arten in kühleren Regionen können einen Fellwechsel durchmachen. Es überwiegen unscheinbare, tarnende Fellfärbungen wie Gelb-, Grau-, Braun- oder Schwarztöne. Gliedmaßen und Bewegungsapparat Äußerer Bau der Gliedmaßen Paarhufer tragen ihren Namen, weil sie meist eine gerade Anzahl von Zehen (zwei oder vier) haben – lediglich bei einigen Nabelschweinen ist es bei den Hinterbeinen zu einer Reduktion der Zehenanzahl auf drei gekommen. Die Mittelachse eines Beins liegt bei Paarhufern zwischen der dritten und vierten Zehe. Diese beiden Mittelzehen sind am besten ausgebildet. Die ursprünglich vorhandene erste Zehe fehlt bei heutigen Paarhufern immer, sie ist nur bei fossilen Vertretern belegt. Die zweite und fünfte Zehe sind unterschiedlich ausgebildet: Bei den Flusspferden sind sie nach vorne gerichtet und voll funktionsfähig. Bei den übrigen Paarhufern sind sie rückwärts angeordnet (und werden als „Afterzehe“ bzw. „Afterklaue“ bezeichnet) oder vollständig reduziert. Bei den Schweineartigen und Hirschferkeln werden die Afterzehen bei weichem, schlammigen Untergrund noch mitbenutzt und vergrößern die Auftrittsfläche. In den meisten Fällen berühren sie den Boden jedoch nicht mehr. Bei manchen Gruppen wie bei den Kamelen und den Giraffenartigen ist die Rückbildung so weit fortgeschritten, dass die zweite und fünfte Zehe nicht einmal mehr als Rudimente vorhanden sind. Trotz der Bezeichnung „Paarhufer“ ist die Bezeichnung Huf für das Zehenendorgan genau genommen den Pferden vorbehalten, im Falle der Paarhufer spricht man korrekterweise von Klauen. Diese Klauen sind aus Hornsubstanz gebildet und setzen sich ursprünglich aus drei Teilen zusammen: der Platte (oben und an den Seiten), der Sohle (unten) und dem Ballen (hinten), die jedoch in unterschiedlichem Ausmaß verwachsen sein können. Generell sind die Klauen der Vorderbeine breiter und stumpfer als die der Hinterbeine und klaffen stärker auseinander. Bis auf die Kamele sind alle Paarhufer Zehenspitzengänger, das heißt, sie setzen nur die Spitze des vordersten Zehengliedes auf den Boden auf. Bei Kamelen sind die Horngebilde an den Füßen zu Nägeln reduziert, die Zehen ruhen auf einem elastischen Polster aus Bindegewebe, das eine breite Sohlenfläche bildet. Daher stammt auch die Bezeichnung der Unterordnung der Schwielensohler (Tylopoda), deren einzige rezente Vertreter die Kamele sind. Bewegungsapparat Bei den Paarhufern herrscht eine Tendenz zur Verwachsung der Metapodien (Mittelhand- und Mittelfußknochen). Bei den Schweineartigen und Flusspferden sind sie noch getrennt und nur durch ein straffes Bindegewebe gekoppelt. Bei den Kamelen und Wiederkäuern sind 3. und 4. Metapodium zu einer Einheit, dem Hauptmittelfußknochen, verschmolzen, dessen Ursprung aus zwei Knochen oft durch Längsrinnen an der Vorder- und Hinterseite (Sulcus longitudinalis dorsalis und palmaris bzw. plantaris) noch sichtbar ist. Die Knochen des Stylopodiums (Oberarm- bzw. Oberschenkelknochen) und Zygopodiums (Elle und Speiche bzw. Schien- und Wadenbein) sind meist langgestreckt. Die Muskulatur der Gliedmaßen ist vorwiegend rumpfnah lokalisiert, was dafür sorgt, dass Paarhufer oft sehr schlanke Beine haben. Ein Schlüsselbein ist nie vorhanden, das Schulterblatt ist sehr beweglich, sein Vor- und Zurückschwingen sorgt für zusätzliche Beweglichkeit bei schnellem Lauf. Der spezielle Bau der Beine sorgt für eine steife Stellung der unteren Gliedmaßenglieder. Drehbewegungen der Beine sind kaum mehr möglich, die Unbeweglichkeit bewirkt aber eine höhere Stabilität bei schneller Fortbewegung. Zusätzlich haben viele kleinere Paarhufer einen sehr flexiblen Rumpf, dessen Biegsamkeit bei der Flucht zur Vergrößerung der Schrittlänge beiträgt. Neben dem Selektionsdruck zur Erlangung hoher Geschwindigkeiten bei der Flucht erhöht der spezialisierte Bau der Gliedmaßen auch die Energieersparnis bei langsamen Bewegungen, etwa bei der Nahrungsaufnahme. Kopf und Zähne Allgemeines Viele Paarhufer haben einen verhältnismäßig großen Kopf. Der vordere (präorbitale) Teil des Schädels ist oft langgestreckt und schmal, die Nasenbeine laufen nach vorn in einer oder zwei Spitzen aus. Das Stirnbein ist nach hinten (caudad) vergrößert und verdrängt das Scheitelbein, das bei einigen Wiederkäuern (z. B. bei vielen Hornträgern) gar keinen Anteil mehr an der oberen (dorsalen) Partie des Schädeldaches hat. Die Lippen sind beweglich und stark muskularisiert. Bei einigen Gruppen wie den Schweineartigen, aber auch manchen Wiederkäuern wie der Saiga und den Dikdiks, ist es durch Verlängerung der Oberlippe zu einer Rüsselbildung gekommen. Stirnwaffen Vier Familien der Paarhufer, die Giraffenartigen, Hirsche, Gabelhornträger und Hornträger, haben Stirnwaffen. Die Gruppe der Stirnwaffenträger (Pecora) umfasst mit den Moschustieren und Wasserrehen aber auch stirnwaffenlose Vertreter. Bei den (meist als Horn oder Geweih bezeichneten) Stirnwaffen handelt es sich meist um Auswüchse des Stirnbeins, die unterschiedlich gebaut sind. Die Giraffenartigen haben Knochenzapfen, die mit behaarter Haut umkleidet sind. Hirsche sind durch ein Geweih gekennzeichnet, das aus zapfenförmigen Knochengebilden („Rosenstöcken“) wächst. Es besteht aus Knochensubstanz und wird jedes Jahr nach der Paarungszeit abgestoßen und neu gebildet. Die Hörner der Hornträger bestehen im Gegensatz dazu aus Hornsubstanz auf einem Knochenzapfen und werden meist ein Leben lang beibehalten. Die Haut, die den Knochenzapfen bedeckt, scheidet Hornzellen ab, die schließlich eine harte Hornscheide bilden. Die ältesten Hornschichten werden dabei immer weiter Richtung Hornspitze verschoben. Mit Ausnahme der Vierhornantilope (und einzelner Haustierrassen, z. B. Jakobschaf) haben alle Hornträger zwei Hörner. Bei den Gabelhornträgern schließlich werden die Hörner ähnlich wie die der Hornträger gebildet, im Gegensatz dazu werden die Hornscheiden aber jährlich abgeworfen. Die Stirnwaffen können dem Imponiergehabe, dem Kampf um das Paarungsvorrecht und der Verteidigung dienen. In fast allen Fällen sind sie geschlechtsdimorph ausgebildet, das heißt bei Männchen größer als bei Weibchen. Bei einigen Arten wie nahezu allen Hirschen, einigen Waldböcken und dem Okapi fehlen sie den Weibchen generell. Zähne Die Bezahnung der Paarhufer ist variabel, es lassen sich jedoch zwei Trends erkennen. Die Schweineartigen und Flusspferde haben relativ viele Zähne (bei einigen Echten Schweinen ist sogar die ursprüngliche Zahnzahl der Höheren Säugetiere (44) erhalten geblieben). Das Gebiss ist eher an einen quetschenden Kauvorgang angepasst, was der tendenziell allesfressenden Ernährung dieser Tiere entspricht. Bei den Kamelen und Wiederkäuern ist die Zahnzahl reduziert, es klafft oft eine als Diastema bezeichnete Lücke im Gebiss, und die Backenzähne sind auf eine mahlende Zerkleinerung der Pflanzennahrung ausgerichtet. Die Schneidezähne sind oft reduziert, bei den Wiederkäuern fehlen sie am Oberkiefer vollständig, stattdessen pressen die unteren Schneidezähne gegen eine Dentalplatte. Die Eckzähne sind unterschiedlich ausgeprägt: Bei den Schweineartigen sind sie vergrößert und hauerartig entwickelt, sie dienen dem Graben im Erdreich und zur Verteidigung. Bei den Wiederkäuern ist der obere Eckzahn bei Männchen von Arten ohne Stirnwaffen (Hirschferkel, Moschustiere, Wasserreh) vergrößert und wird als Waffe beim Kampf um das Paarungsvorrecht eingesetzt. Bei Arten mit Stirnwaffen fehlt der obere Eckzahn hingegen meist. Die unteren Eckzähne der Wiederkäuer gleichen den Schneidezähnen, sodass diese Tiere acht gleichförmige Zähne im Vorderteil des Unterkiefers haben. Die Backenzähne der Schweineartigen sind niederkronig und mit wenigen Höckern versehen. Im Gegensatz dazu sind die der Kamele und Wiederkäuer hochkronig und die Höcker sind zu halbmondförmigen Schmelzleisten umgebildet (selenodont). Sinne Zur Wahrnehmung der Umwelt dient in erster Linie der Geruchssinn, der wie bei den meisten Säugetieren sehr gut entwickelt ist. Auch der Gehörsinn ist stark ausgeprägt, unterstützt wird dieser durch die bei vielen Arten vorhandenen beweglichen Ohrmuscheln. Im Gegensatz zu vielen anderen Säugern ist auch der Gesichtssinn zumindest bei Wiederkäuern und Kamelen ausgeprägt. Dabei ist vor allem das Bewegungssehen entwickelt, unbewegte Objekte werden eher nicht wahrgenommen. Analog zu vielen anderen Tieren, die ständig aufmerksam gegenüber Räubern sein müssen, sind die Augen seitlich am Kopf angebracht, was einem nahezu vollständigen Rundumblick und dem frühestmöglichen Erkennen von Bedrohungen dient. Weichteilanatomie Verdauungstrakt Als Anpassung an die schwer verdauliche Pflanzennahrung haben die Paarhufer einige Besonderheiten des Verdauungstraktes entwickelt, die vor allem bei den Wiederkäuern stark ausgeprägt sind. Im Bereich des Mundes sind oft zusätzliche Speicheldrüsen vorhanden und die Mundschleimhaut ist häufig stark verhornt, um Verletzungen durch harte Pflanzenteile zu vermeiden und den leichteren Transport der grob zerkauten Nahrung zu ermöglichen. Im Bau des Magens zeigen die Paarhufer die wohl höchsten Spezialisierungen unter allen Säugetieren, wobei es mehrfach unabhängig voneinander zur Entwicklung mehrerer Magenabschnitte gekommen ist. Am einfachsten ist er bei den Echten Schweinen gebaut, die noch einen einfachen, sackförmigen Magen besitzen. Bei Nabelschweinen und Flusspferden kam es zur Entwicklung mehrerer Blindsäcke, in denen die Nahrung durch Mikroorganismen zersetzt wird. Der Magen der Kamele ist dreigegliedert und teilt sich in zwei Vormägen, die aber im Gegensatz zu denen der Wiederkäuer mit Drüsen ausgestattet sind, und dem eigentlichen oder Labmagen. Kamele können wiederkäuen, werden aber nicht zum Taxon der Wiederkäuer gerechnet. Der Magen der Wiederkäuer schließlich teilt sich in drei oder vier Abschnitte: den Pansen (Rumen), den Netzmagen (Reticulum), den Blättermagen (Omasum) und den Labmagen (Abomasum). Den innerhalb der Wiederkäuer als besonders urtümlich eingestuften Hirschferkeln fehlt der Blättermagen, ansonsten zeigen alle Arten dieser Unterordnung den gleichen Bau und die gleiche Verdauungsweise. Die Vormägen sind drüsenfrei. Hier wird die grob zerkaute Nahrung durch Mikroorganismen zersetzt und in kleinen Portionen wieder in die Mundhöhle gefördert, wo sie wiedergekäut wird, bevor sie in den eigentlichen Magen kommt und weiter verdaut wird. (Ausführliches siehe im Artikel Wiederkäuer). Diese Verdauungsweise bietet zwei Vorteile: zum einen kann dabei die schwer verdauliche Pflanzennahrung bestmöglich aufgeschlossen und verwertet werden. Zum anderen wird die Dauer der eigentlichen Nahrungsaufnahme – zumal mit der für die Wahrnehmung der Umwelt ungünstigen Körperhaltung mit dem Kopf nahe beim Boden – verkürzt, was im Hinblick auf die Bedrohung durch Fressfeinde von Vorteil ist; das Wiederkäuen kann dann an geschützten Plätzen erfolgen. Der Darm der Paarhufer ist wie bei vielen pflanzenfressenden Säugetieren generell sehr lang, der Dünndarm ist stark in Schleifen gelegt. Im Gegensatz zu den Unpaarhufern, bei denen die Fermentation erst im Darm stattfindet, sind Blind- und Grimmdarm einfacher gebaut und weniger voluminös. Harn- und Geschlechtsapparat Der Bau des Harn- und Geschlechtsapparates der Paarhufer zeigt ebenfalls einige Auffälligkeiten. Der Penis ist im Ruhezustand s-förmig gebogen und ruht in einer Hauttasche am Bauch. Er ist fibroelastisch, das heißt die Schwellkörper sind nur gering entwickelt und die Erektion bewirkt vor allem eine Streckung dieser Krümmung und damit eine Verlängerung, kaum aber eine Verdickung des Penis. Dieser Bau des Penis findet sich in ähnlicher Weise bei den Walen und stellt ein Anzeichen für die nahe Verwandtschaft dar. Die Hoden liegen im Hodensack und damit außerhalb der Bauchhöhle. Die Eierstöcke vieler Weibchen machen einen Abstieg (Descensus ovarii) durch – vergleichbar dem Hodenabstieg vieler männlicher Säuger – und liegen nahe dem Beckeneingang auf Höhe des vierten Lendenwirbels. Die Gebärmutter ist zweihörnig ausgebildet (Uterus bicornis). Sonstiges Einige Paarhufer haben Besonderheiten im Kreislaufsystem entwickelt. Das Herz der Echten Schweine weist eine paarige Knorpeleinlagerung zwischen Vorhöfen und Kammern auf. Bei einigen Wiederkäuern sind zwei Herzknochen (Ossa cordis) ausgebildet, die die Aortenöffnung stabilisieren. Die Anzahl der Milchdrüsen ist variabel und korreliert wie bei allen Säugetieren ungefähr mit der Wurfgröße. Ursprünglich waren vermutlich zwei Reihen von Zitzen vom Achsel- bis in den Leistenbereich vorhanden. Diese ursprüngliche Anordnung findet sich noch bei einigen Echten Schweinen, die auch die höchste Wurfgröße aller Paarhufer haben. In den meisten Fällen ist es jedoch zu einer Reduktion der Zitzenanzahl gekommen, die übrigen Paarhufer haben nur noch ein oder zwei Paar Zitzen. Diese bilden bei einigen Arten ein Euter in der Leistenregion. Sekretdrüsen in der Haut sind bei nahezu allen Arten vorhanden und können an den unterschiedlichsten Stellen lokalisiert sein, etwa vor den Augen, hinter den Hörnern, am Nacken oder Rücken, an den Füßen oder in der Analregion. Verbreitung und Lebensraum Paarhufer sind mit Ausnahme des australisch-ozeanischen Raums, der Antarktis und vieler abgelegener Inseln weltweit verbreitet. Der Artenschwerpunkt liegt heute in Afrika und Asien. In Amerika ist die Gruppe relativ artenarm, insbesondere in Südamerika, wo nur Nabelschweine, Neuweltkamele (Lamas und Vikunjas) und Trughirsche vorkommen. Hier haben andere Gruppen wie die ausgestorbenen Südamerikanischen Huftiere und einige Nagetiere (zum Beispiel Capybaras, Pampashasen oder Agutis) ähnliche ökologische Nischen besetzt. Der Mensch hat verschiedene Paarhuferarten als Haus- oder Jagdtiere weltweit verbreitet, sodass diese Tiere heute fast überall zu finden sind, wo es Menschen gibt. Paarhufer bewohnen nahezu alle Lebensräume, von tropischen Regenwäldern und Steppen bis Wüstengebiete und Hochgebirgsregionen. Die größte Artenvielfalt herrscht aber in offenen Habitaten wie Grasländern und lichten Wäldern. Diese Tiere sind ausgesprochene Bodenbewohner, nur wenige Arten führen eine semiaquatische (teilweise im Wasser stattfindende Lebensweise), etwa die Flusspferde. Einige Arten haben das Hochgebirge besiedelt und können ausgezeichnet klettern. Lebensweise Sozialverhalten und Aktivitätszeiten Das Sozialverhalten der Paarhufer ist variabel. Generell herrscht aber eine Tendenz, sich zu größeren Gruppen zusammenzuschließen, es gibt aber auch einzelgängerisch oder dauerhaft in Paaren lebende Tiere (etwa bei den Hirschferkeln). Bei den in Gruppen lebenden Arten entwickelt sich oft eine Hierarchie, sowohl unter den Männchen als auch den Weibchen. Etliche Arten leben aber auch in Haremsgruppen, das heißt, dass ein einzelnes Männchen einige Weibchen und den gemeinsamen Nachwuchs um sich schart und keine Nebenbuhler duldet. Bei anderen Arten bilden die Weibchen und die Jungtiere während des größten Teils des Jahres eigene Gruppen, während die Männchen einzelgängerisch oder in Junggesellengruppen leben und nur zur Paarungszeit die Weibchengruppen aufsuchen. Bei vielen Paarhufern kommt es während der Paarungszeit zu erbitterten Kämpfen um das Paarungsvorrecht zwischen den Männchen, die mit den Stirnwaffen, den hauerartigen Eckzähnen oder auf andere Weise ausgetragen werden. Viele Paarhufer sind territorial und markieren ihr Revier beispielsweise mit Drüsensekreten oder Urin. Neben ganzjährig standorttreuen Arten gibt es auch Tiere, die jahreszeitliche Wanderungen auf der Suche nach besseren Nahrungsplätzen unternehmen. Über die Aktivitätszeiten lassen sich keine generellen Aussagen machen. Es gibt sowohl tag-, dämmerungs- und nachtaktive Vertreter als auch Arten, bei denen das Tag-Nacht-Schema je nach Jahreszeit oder Lebensraum variieren kann. Ernährung Die meisten Paarhufer sind Pflanzenfresser, deren Nahrungsspektrum je nach Art und Lebensraum variieren kann. Oft werden Gräser, Kräuter oder Blätter, aber auch andere Pflanzenteile wie Knollen oder Früchte verzehrt. Echte Schweine, Nabelschweine und in geringem Ausmaß auch Hirschferkel sind Allesfresser, die ihre Nahrung mit Insekten, Würmern und manchmal auch kleinen Wirbeltieren ergänzen. Die meisten Arten sind auf eine tägliche Wasseraufnahme angewiesen, einige in trockenen Habitaten lebende Arten können jedoch wochenlang überleben ohne zu trinken – bekanntestes Beispiel sind die Kamele. Fortpflanzung und Lebenserwartung Generell herrscht bei den Paarhufern eine Tendenz zu langer Trächtigkeitsdauer, geringer Wurfgröße und hohem Entwicklungsgrad der Neugeborenen. Wie bei vielen anderen Säugetieren haben Arten in gemäßigten oder polaren Regionen eine feste Paarungssaison, während es bei Arten in tropischen Gebieten oft ganzjährig zur Fortpflanzung kommen kann. Entsprechend der Lebensweise überwiegt ein polygynes Paarungsverhalten, ein Männchen paart sich also oft mit mehreren Weibchen. Die Begattung erfolgt üblicherweise durch das säugertypische „Aufreiten“, nur bei den Kamelen wird sie im Liegen vollzogen. Die Länge der Tragzeit variiert zwischen 4 und 5 Monaten bei Schweineartigen, Hirschferkeln und Moschustieren, 6 bis 10 Monaten bei Flusspferden, Hirschen und Hornträgern, 10 bis 13 Monaten bei Kamelen und 14 bis 15 Monaten bei den Giraffenartigen. In der Regel kommen ein bis zwei Jungtiere zur Welt, bei einigen Schweinen können es aber bis zu zehn sein. Die Neugeborenen aller Arten sind Nestflüchter und kommen mit geöffneten Augen und, mit Ausnahme der generell haarlosen Flusspferde, behaart zur Welt. Typisch für einige Paarhufer (etwa Schweine oder Hirsche) ist das gestreifte oder gepunktete Fellkleid der Jungtiere, das der Tarnung dient und sich im Aufwachsen verliert. Die Jungtiere einiger Arten verbringen ihre ersten Wochen mit der Mutter an einem geschützten Lagerort, andere können bald nach der Geburt laufen und der Herde binnen weniger Stunden oder Tage folgen. Die Lebenserwartung beträgt in der Regel 20 bis 30 Jahre, wie bei vielen Säugetieren haben kleinere Arten eine oft kürzere Lebensspanne als große Arten. Am ältesten werden Tiere wie Flusspferde, Rinder und Kamele, die 40 bis 50 Jahre erreichen können. Fressfeinde und Parasiten Je nach Größe und Lebensraum haben Paarhufer unterschiedliche natürliche Feinde, oft sind es jedoch Raubtiere, etwa Katzen, Hunde oder Bären, die Jagd auf diese Tiere machen. Andere Fressfeinde sind beispielsweise Krokodile, große Greifvögel und bei kleinen Arten und Jungtieren auch Riesenschlangen. Zu den bei Paarhufern parasitierenden Tieren zählen etwa Band- und Fadenwürmer, Dasselfliegen, Flöhe, Tierläuse oder Saugwürmer, die sich jedoch nur bei starkem Befall schwächend auf die Tiere auswirken. Mensch und Paarhufer Nutzung Schon seit frühester Zeit sind Paarhufer vom Menschen aus verschiedensten Gründen gejagt worden: um ihr Fleisch zu verzehren, ihr Fell zu Kleidung zu verarbeiten und ihre Stirnwaffen, Knochen und Zähne als Waffen oder Werkzeug zu verwenden. Später beschränkte sich der Mensch nicht nur auf die Jagd, sondern versuchte auch, einige Arten in seiner Nähe zu halten und nachzuzüchten. Die Domestizierung von Nutztieren begann spätestens im achten Jahrtausend v. Chr., als Wildziege, Wildschaf und Wildrind, etwas später auch das Wildschwein, zu Hausziege, Hausschaf, Hausrind und Hausschwein domestiziert worden sind. Nutztiere dienten zunächst vorwiegend als Nahrungsmittellieferanten, später wurden dann auch Tiere zur Arbeitstätigkeit eingesetzt, so seit rund 3000 v. Chr. das Dromedar und das Lama. Der Prozess der Domestizierung verlief vielschichtig, genetische Studien deuten an, dass bei vielen Haustieren in unterschiedlichen Regionen dieser Schritt mehrmals unabhängig voneinander vonstattenging. Heute werden Paarhufer aus verschiedensten Gründen gehalten. Dies sind vorrangig der Genuss ihres Fleisches, die Gewinnung von Milch und die Verarbeitung ihrer Haut oder ihres Felles zu Leder und anderer Bekleidung oder die Schur zur Gewinnung der Wolle. Auch als Arbeits-, Zug-, Reit- oder Tragtiere werden manche Arten eingesetzt, etwa das Hausrind, der Wasserbüffel, der Yak oder verschiedene Kamele. Hinsichtlich der Domestikation lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden. Zum einen sind das Tiere, die in verschiedenen Rassen gezüchtet wurden, die weltweit verbreitet sind und die sich teilweise erheblich von der Wildform unterscheiden, etwa Hausrind, Hausschwein, Hausziege und Hausschaf. Andere Haustiere sind weitgehend in ihrem Ursprungsgebiet geblieben und gegenüber der Wildform wenig verändert, etwa das Rentier, einige Rinder (wie der Wasserbüffel, der Banteng, der Gaur oder das Yak) und Kamele (wie das Dromedar, das Trampeltier, das Lama oder das Alpaka). Einige wildlebende Paarhuferarten werden nicht nur zum Nahrungserwerb, sondern auch aus jagdsportlichen Gründen erlegt. Solche Praktiken, die nicht aus Notwendigkeit, sondern zur Gewinnung von Trophäen durchgeführt werden, stehen unter teils heftiger Kritik und haben manche Arten, etwa den Alpensteinbock oder die Arabische Oryx, an den Rand der Ausrottung gedrängt. Bedrohung Der Gefährdungsgrad der einzelnen Paarhuferarten ist unterschiedlich. Einige Arten haben als Kulturfolger (wie etwa das Wildschwein) ihren Lebensraum ausbreiten können oder wurden vom Menschen als Parktiere oder entlaufene Haustiere in Regionen gebracht, in denen sie vorher nicht heimisch waren. Manche Paarhufer haben auch davon profitiert, dass ihre Fressfeinde (vorrangig Raubtiere) als Nahrungskonkurrenten der Viehzüchter von diesen teils erheblich dezimiert wurden. Im Gegenzug sind viele Paarhufer in ihrem Bestand deutlich zurückgegangen und einige Paarhufer wurden sogar ausgerottet. Die Gründe dafür liegen in der Bejagung und in jüngerer Zeit auch in der zunehmenden Zerstörung ihres Lebensraumes. Ausgestorben sind mehrere Gazellenarten (die Algerische Gazelle), mehrere madagassische Flusspferdarten, der Blaubock und der Schomburgk-Hirsch. Auch das Wildrind, die Stammform des Hausrindes, ist im 17. Jahrhundert verschwunden. Zwei Arten, die Arabische Oryx und die Saudi-Gazelle, werden von der IUCN als in freier Wildbahn ausgestorben (extinct in the wild) geführt, das heißt, dass nur noch die Bestände in Nachzuchtprogrammen oder Tiergärten existieren. 14 Arten gelten als „vom Aussterben bedroht“ (critically endangered), darunter die Mendesantilope, der Kouprey, die Wildform des Trampeltiers, der Davidshirsch, die Przewalski-Gazelle, die Saiga, das Vietnamesische Waldrind und das Zwergwildschwein. Weitere 24 Arten werden als stark gefährdet (endangered) und 36 Arten als gefährdet (vulnerable) gelistet. Systematik und Stammesgeschichte Die Systematik der Paarhufer wird heftig diskutiert. Grund dafür ist, dass sie einerseits eine morphologisch (von ihrem Körperbau) eindeutig definierte Ordnung sind, andererseits aber die Wale sich aus ihnen entwickelt haben und einige Gruppen (insbesondere die Flusspferde) näher mit diesen als mit den übrigen Paarhufern verwandt sind. Das macht die Paarhufer in phylogenetischen (über die Stammesentwicklung definierten) Systematiken – die in jüngerer Zeit maßgeblicher werden – zu einem paraphyletischen Taxon, das heißt zu einer Gruppe, die zwar von einer gemeinsamen Stammform abstammt, aber nicht alle Nachkommen dieses Vorfahren umfasst. Da die phylogenetische Systematik nach Möglichkeit nur monophyletische Taxa anerkennt, das heißt Gruppen, die von einer gemeinsamen Stammform abstammen und alle Nachkommen dieses Vorfahren umfassen, müssen die Paarhufer mit den Walen zu einem als Cetartiodactyla bezeichneten Taxon zusammengefasst werden. Hier soll zunächst die traditionelle Systematik vorgestellt und dann die phylogenetische Sicht der Paarhufer erläutert werden. Die traditionelle Systematik Die traditionelle Systematik der Paarhufer Schon Carl von Linné postulierte eine enge Verwandtschaft zwischen Kamelen und Wiederkäuern. Henri de Blainville erkannte den ähnlichen Bau der Gliedmaßen dieser Tiere mit denen der Schweine und Flusspferde und der englische Zoologe Richard Owen prägte 1848 die Bezeichnung „even-toed ungulates“ („Paarzehige Huftiere“) und den wissenschaftlichen Namen Artiodactyla. Seit dieser Zeit war die Zusammensetzung dieser Gruppe klar und wurde kaum jemals in Zweifel gezogen. Für die innere Systematik dienten der Bau des Magens und der Backenzähne. So haben Schweine, Pekaris und Flusspferde niederkronige Backenzähne und einen einfachen Magen, sie verdauen direkt, ohne wiederzukäuen. Darum wurden sie als Nicht-Wiederkäuer (Nonruminantia) oder Schweineartige im weiteren Sinn (Suina oder Neobunodontia) zusammengefasst. Alle anderen Paarhufer haben hochkronige Backenzähne mit selenodontem Bau (halbmondförmigen Schmelzleisten) und besitzen die Fähigkeit zum Wiederkäuen, sie bilden deshalb die Gruppe der Selenodontia. Unterschiede im Bau des Magens ließen erahnen, dass sich die Fähigkeit zum Wiederkäuen zweimal unabhängig voneinander entwickelt hat; deshalb werden die Kamele nicht zu den eigentlichen Wiederkäuern (Ruminantia) gezählt, sondern diesen als Schwielensohler (Tylopoda) gegenübergestellt. Innerhalb der Wiederkäuer stehen die urtümlichen, stirnwaffenlosen Hirschferkel allen anderen Gruppen gegenüber, die als Stirnwaffenträger (Pecora) zusammengefasst werden. Aus rein morphologischen Gesichtspunkten ergaben sich daher folgende vermutete Abstammungsverhältnisse, die bis Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend anerkannt waren: Die traditionelle Stellung der Wale Die rezenten Wale sind hochangepasste Meeresbewohner, die äußerlich wenig Gemeinsamkeiten mit anderen Säugetieren haben – Ähnlichkeiten mit anderen Meeressäugern wie Robben und Seekühen beruhen ausschließlich auf Konvergenz. Es liegt aber nahe, dass sie sich aus landbewohnenden Säugern entwickelt haben müssen. Als wahrscheinlichste Kandidaten für die Vorfahren der Wale galten lange Zeit die Mesonychia. Das waren zum Teil riesenhafte, fleischfressende Tiere aus dem frühen Känozoikum (Paläozän und Eozän), die an den Füßen Hufe statt Krallen trugen. Ihre Gliedmaßen wiesen nicht den paarhufertypischen Bau des Sprungbeins auf, der auch von fossilen Walen bis vor kurzem nicht bekannt war. Ihre Backenzähne waren an eine tierische Ernährung angepasst und ähneln den Zähnen heutiger Zahnwale, die für eine fischfressende Nahrung ausgerichtet sind und im Gegensatz zu den übrigen Säugetieren einen gleichförmigen (homodonten) Bau aufweisen. Man hielt die Mesonychia für nahe Verwandte der Paarhufer, sodass durchaus anerkannt war, dass Paarhufer und Wale die jeweils nächsten lebenden Verwandten voneinander sind. Diese nahe Verwandtschaft konnte auch durch morphologische Gemeinsamkeiten, etwa im Bau des Penis oder der Anordnung der Bronchien bestätigt werden. Die vermuteten Abstammungsverhältnisse lassen sich wie folgt wiedergeben: Die phylogenetische Systematik Forschungsgeschichte In den 1990er-Jahren wurde begonnen, die biologische Systematik nicht nur nach Gesichtspunkten des Körperbau und des Fossilbefundes, sondern auch mittels molekularbiologischer Studien zu erarbeiten. Dabei wird versucht, durch Sequenzierung der DNA und RNA genetische Informationen zu erlangen und mit den Daten anderer Lebewesen zu vergleichen, um anhand des Ähnlichkeitsgrades Hinweise auf den Verwandtschaftsgrad zu eruieren. Diese Methode wurde und wird bei zahlreichen Lebewesen angewandt und hat die Systematik vieler Taxa deutlich verändert. Auch bei den Paarhufern und Walen wurden diese Methoden durchgeführt, mit dem überraschenden Ergebnis, dass die nächsten Verwandten der Wale die Flusspferde und die Paarhufer somit eine paraphyletische Gruppe sind. Zu den ersten, die zu diesem Ergebnis kamen, zählten Dan Graur und Desmond Higgins mit einer 1994 veröffentlichten Studie. Allerdings berücksichtigten sie die Flusspferde noch nicht und hielten die Wiederkäuer für die Schwestergruppe der Wale. Nachfolgende Untersuchungen kamen dann zu dem Ergebnis, dass die Flusspferde die nächsten lebenden Verwandten der Wale darstellen, dies wurde unter anderem anhand von Caseingenen, SINEs, Fibrinogen-Sequenzen, Cytochrom- und rRNA-Sequenzen, IRBP- und vWF-Gensequenzen, Adrenorezeptoren und Apolipoproteinen bestätigt. In einer dieser Studien wurde von Claudine Montgelard, Francois M. Catzeflis und Emmanuel Douzery 1997 erstmals der Name Cetartiodactyla vorgeschlagen, der sich aus den wissenschaftlichen Bezeichnungen der Wale (Cetacea) und Paarhufer (Artiodactyla) zusammensetzt. Im Jahr 2001 sorgten zwei außergewöhnliche Fossilfunde für Aufsehen. In Pakistan fand man Teile des Gliedmaßenskeletts des etwa wolfgroßen Pakicetus und des fuchsgroßen Ichthyolestes, zwei urtümlichen Walen aus dem Eozän vor rund 48 Millionen Jahren, die als Pakicetidae zusammengefasst werden. Diese Funde zeigten nicht nur, dass die frühen Wale in stärkerem Ausmaß als bisher angenommen landgebunden waren, sondern wiesen eindeutig auch den speziellen Bau des Sprungbeins mit einer doppelt gerollten Gelenkfläche auf. Dieses Merkmal galt bislang als Exklusivmerkmal der Paarhufer und da es nun auch bei frühen Walen entdeckt wurde, konnte die enge Verwandtschaft beider Gruppen auch morphologisch belegt werden. Bei den späteren Walen kam es zu einer so umfassenden Reduktion der Hintergliedmaßen, dass aus dem Bau der Hinterbeine dieser Tiere keine Rückschlüsse auf mögliche Abstammungen mehr gezogen werden können. Die Mesonychia zeigen diesen speziellen Bau des Sprungbeins nicht, somit war eine Abstammung der Wale von ihnen ausgeschlossen. Der spezielle Bau des Sprungbeins belegte zwar eine enge Verwandtschaft zwischen Paarhufern und Walen, kann aber die Frage, ob die Paarhufer paraphyletisch sind, nicht beantworten. Darum wurden morphologische Untersuchungen durchgeführt, um den molekularbiologischen Befund der Nahverwandtschaft von Flusspferden und Walen zu unterstützen. In der Anordnung der Höcker der Backenzähne, im Bau der Mittelfußknochen und des Schädels konnten Übereinstimmungen gefunden werden, die ein Schwestergruppenverhältnis dieser zwei Taxa unterstützen. Ob die auffälligste Gemeinsamkeit, der Verlust des Felles und der Talgdrüsen, ein gemeinsames Merkmal oder eine unabhängig voneinander entwickelte Anpassung an die wasserbewohnende Lebensweise ist, ist umstritten. Als problematisch erweist sich dabei, dass der älteste Vertreter der Wale im frühen Eozän (vor rund 53 Millionen Jahren), das älteste bekannte Flusspferd aber erst im Miozän (vor rund 15 Millionen Jahren) gelebt hat. Da der gemeinsame Vorfahr von Walen und Flusspferden vor den ersten Walen gelebt haben muss, ergibt sich eine 40 Millionen Jahre lange Lücke der Fossilgeschichte der Flusspferde. In Anbetracht der vergleichsweise guten Fossilfundrate der Paarhufer erscheint es unwahrscheinlich, dass es ausgerechnet von Vorfahren der Flusspferde keine Überreste gibt. Manche Untersuchungen erklärten das späte Auftauchen der Flusspferde damit, dass sie sich aus Verwandten der Nabelschweine entwickelt hätten, was aber wegen des molekularen Befundes unwahrscheinlich erscheint. Das Augenmerk der Forschung richtete sich daher auf die Anthracotheriidae, einer vom Eozän bis in das Miozän verbreiteten Paarhufergruppe, die bereits bei ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert als „flusspferdähnlich“ beschrieben wurde. Eine Studie aus dem Jahr 2005 zeigte, dass vor allem die stammesgeschichtlich jüngeren Anthracotheriidae einen den Flusspferden sehr ähnlichen Schädelbau, allerdings eine abweichende Zahngestaltung aufweisen. Als mögliches Szenario wurde dennoch angenommen, dass die Wale und die Anthracotheriidae von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen und die Flusspferde sich aus den Anthracotheriidae entwickelten. Eine im Jahr 2015 veröffentlichte Untersuchung konnte dies bestätigen, ergab aber auch, dass sich die Flusspferde nicht wie damals vermutet aus stammesgeschichtlich deutlich weiter entwickelten, sondern aus eher ursprünglichen Vertretern der Anthracotherien ableiten lassen. Die dabei neu eingeführte Gattung Epirigenys aus dem östlichen Afrika stellt demzufolge die Schwestergruppe der Flusspferde dar. Innere Systematik Der überwältigende molekulare Befund und auch einige morphologische Hinweise sprechen dafür, dass die Paarhufer paraphyletisch in Bezug auf die Wale sind und mit ihnen ein Taxon Cetartiodactyla bilden, wobei die Monophylie der Cetartiodactyla insgesamt durch molekulare und anatomische Hinweise gut abgesichert ist. Moderne Systematiken teilen die Cetartiodactyla in fünf untergeordnete Taxa, die jeweils mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls monophyletisch sind: die Schwielensohler (Tylopoda), die Schweineartigen (Suina), die Wiederkäuer (Ruminantia), die Flusspferde (Ancodonta) und die Wale (Cetacea). Als Schwestergruppe der Wale gelten die Flusspferde – unter Einbeziehung fossiler Taxa dürfte eine Klade aus Flusspferden und Anthracotheriidae die nächste Verwandtschaftsgruppe dieser Meeressäuger darstellen. Auch die Wiederkäuer dürften näher mit Walen und Flusspferden als mit den übrigen Paarhufern verwandt sein – dies wurde bislang nur molekularbiologisch, aber nicht morphologisch untersucht und ist daher umstritten. Als älteste rezente Seitenlinie der Paarhufer gelten die Kamele, womit die Vermutung von der konvergenten Entwicklung der Fähigkeit zum Wiederkäuen bei Kamelen und Wiederkäuern bestätigt wird. Die vermuteten Abstammungslinien innerhalb der Cetartiodactyla lassen sich in folgendem Kladogramm wiedergeben: Die vier als Paarhufer zusammengefassten Taxa der Cetartiodactyla teilen sich in zehn rezente Familien: Die Schwielensohler (Tylopoda) umfassen nur eine Familie, die Kamele (Camelidae). Es handelt sich um eine artenarme Gruppe von Tieren, die gut an extreme Habitate angepasst sind – die Altweltkamele an Wüsten und die Neuweltkamele an Hochgebirgsregionen. Die Schweineartigen (Suina) setzen sich aus zwei Familien zusammen: Die Echten oder Altweltschweine (Suidae) sind auf die Alte Welt beschränkt. Dazu gehören das Wildschwein und dessen domestizierte Form, das Hausschwein. Die Nabelschweine oder Pekaris (Tayassuidae) sind nach Drüsen an ihrem Bauch benannt und kommen heute in Mittel- und Südamerika vor. Die Wiederkäuer (Ruminantia) bestehen aus sechs Familien: Die Hirschferkel (Tragulidae) sind die kleinsten Paarhufer und die urtümlichsten Wiederkäuer, sie bewohnen Wälder in Afrika und Asien. Die Giraffenartigen (Giraffidae) setzen sich aus zwei äußerlich unterschiedliche Gattungen zusammen, die Giraffen und das Okapi. Die Moschustiere (Moschidae) sind eine in Ostasien lebende Gruppe hirschähnlicher, aber geweihloser Tiere. Die Gabelhornträger (Antilocapridae) umfassen nur eine Art, den in Nordamerika lebenden Gabelbock. Die Hirsche (Cervidae) setzen sich aus rund 45 Arten zusammen, die durch ein Geweih charakterisiert sind, das in der Regel nur die Männchen tragen. Zu den auch in Europa verbreiteten Arten zählen unter anderem das Reh, Dam- und Rothirsch, der Elch und das Rentier. Die Hornträger (Bovidae) sind die artenreichste und vielgestaltigste Paarhufergruppe. Zu ihnen zählen die Rinder, die Ziegenartigen, die Gazellenartigen und mehrere als Antilopen bezeichnete Gruppen. Die Flusspferde (Hippopotamidae) umfassen zwei Arten, das (Eigentliche) Flusspferd und das Zwergflusspferd. Sie werden aus den oben genannten Gründen in einer eigenen Unterordnung, Ancodonta, geführt. Für die interne Systematik der Wale siehe Wale: Systematik. Das größte systematische Problem innerhalb der untergeordneten Taxa betrifft die Wiederkäuer. Allgemein anerkannt ist, dass die Hirschferkel die Schwestergruppe der übrigen fünf Familien sind, die als Stirnwaffenträger (Pecora) zusammengefasst werden. Innerhalb der Stirnwaffenträger ist die Systematik unübersichtlich. Zwar wurden traditionell Hirsche, Moschustiere und Gabelhornträger als Hirschartige (Cervioidea) zusammengefasst, verschiedene molekulare Untersuchungen liefern jedoch andere – und uneinheitliche – Ergebnisse, sodass die Frage nach einer phylogenetischen Systematik der Stirnwaffenträger zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden kann. Im Dezember 2007 stellte Hans Thewissen, Professor am Department of Anatomy der Northeastern Ohio Universities Colleges of Medicine and Pharmacy, eine alternative Stammbaumhypothese vor. Seinen Untersuchungen zufolge waren die nächsten Verwandten der frühen Wale eine ausgestorbene Paarhufergruppe namens Raoellidae und beide Taxa stellen zusammen die Schwestergruppe der restlichen Paarhufer dar, inklusive der Flusspferde: Seine Erkenntnisse stammen aus der Untersuchung eines neuen Skeletts aus der Kaschmir-Region in Pakistan. Dabei handelte es sich um einen Vertreter der Gattung Indohyus, welche den Raoellidae zugeordnet wird. Vor allem aufgrund eines knöchernen Rings am Felsenbein (Bulla tympanica), dem sogenannten Involucrum, das bislang nur von Walen bekannt war, sowie weiteren Merkmalen der Vorbackenzähne (Prämolaren) und der Knochenstruktur wurde die nahe Verwandtschaft begründet. Äußere Systematik Die Cetartiodactyla werden innerhalb der Höheren Säugetiere in die Überordnung der Laurasiatheria eingeordnet, eine Säugergruppe, die nach ihrem vermutlichen Ursprungsort, dem Kontinent Laurasia, benannt ist. Mit welchen Großgruppen innerhalb der Laurasiatheria die Cetartiodactyla näher verwandt sind, ist immer noch ungeklärt, als gesichert gilt allerdings, dass die früher vorgeschlagene Gruppe der „Huftiere“ (Ungulata) keine natürliche Gruppe darstellt. Verschiedene molekulare Untersuchungen lassen zumindest unterschiedliche mögliche Abstammungslinien erkennen: Nach einer Hypothese bilden die Cetartiodactyla gemeinsam mit den Unpaarhufern und den Ferae (Schuppentiere und Raubtiere) ein gemeinsames Taxon Fereuungulata – wobei unklar bleibt, ob die Unpaarhufer näher mit den Cetartiodactyla oder den Ferae verwandt sind. Eine andere, in jüngerer Zeit aufgestellte Hypothese fasst hingegen Unpaarhufer, Ferae und Fledertiere zu einem Taxon Pegasoferae zusammen und sieht die Cetartiodactyla als deren Schwestergruppe. Stammesgeschichte Die ältesten Fossilien der Paarhufer stammen aus dem frühen Eozän (vor rund 55 Millionen Jahren). Da diese Funde nahezu zeitgleich in Europa, Asien und Nordamerika auftauchten, ist es sehr schwierig, den Entstehungsort der Paarhufer genauer zu bestimmen. Diese frühen Formen werden in der Gruppe der Dichobunoidea zusammengefasst – ihr bekanntester und am besten erhaltener Vertreter ist Diacodexis aus der Familie der Diacodexeidae. Es handelt sich um kleine (anfangs nur etwa hasengroße) Tiere mit schlankem Körperbau, langen dünnen Beinen und einem langen Schwanz. Die Hinterbeine waren deutlich länger als die Vorderbeine, die typische Zehenstruktur noch nicht voll entwickelt und die Zähne niederkronig und einfach gebaut. Ebenfalls aus der frühen Phase der Entwicklung der Paarhufer stammt Herbertlutzius, das mit der Größe eines heutigen Igels der kleinste bisher bekannte Vertreter dieser Säugetierordnung ist und welches zu den mit den Diacodexeidae nahe verwandten Dichobunidae gehört. Schon im frühen bis mittleren Eozän kam es zur Radiation und zur Entstehung der Vorfahren der meisten heutigen Unterordnungen. Die frühesten Wale sind aus dem frühen Eozän (vor rund 53 Millionen Jahren) belegt und haben sich vermutlich auf dem indischen Subkontinent entwickelt. Von da an schlugen sie, bedingt durch die meeresbewohnende Lebensweise, eine gänzliche eigene Entwicklungslinie ein (siehe Evolution der Wale). Zwei einstmals verbreitete, heute aber ausgestorbene Gruppen der Paarhufer waren die Entelodontidae und die Anthracotheriidae. Die Entelodontidae existierten vom mittleren Eozän bis zum frühen Miozän in Eurasien und Nordamerika. Sie hatten einen stämmigen Körper mit kurzen Beinen und einen massiven Kopf, der durch zwei Knochenhöcker am Unterkiefer gekennzeichnet war. Die Anthracotheriidae wiesen einen großen, schweineartigen Körperbau auf, die Beine waren kurz und die Schnauze auffallend langgestreckt. Diese Gruppe erschien im mittleren Eozän und verbreitete sich über Eurasien, Afrika und Nordamerika. Sie lebte bis in das Miozän oder Pliozän – aus Asien gibt es allerdings noch einen unsicheren Fund aus dem frühen Pleistozän. Vermutlich waren die Anthracotheriidae die Vorfahren der Flusspferde, vielleicht führten sie eine ähnliche wasserbewohnende Lebensweise und wurden von diesen verdrängt. Die Flusspferde selbst erschienen im späten Miozän und sind aus Afrika und Asien belegt – Amerika haben sie nie erreicht. Die Schwielensohler (Tylopoda) waren während weiter Teile des Känozoikums auf Nordamerika beschränkt, Frühformen wie die Cainotheriidae sind aber auch aus Europa belegt. Zu den nordamerikanischen Schwielensohlern zählten Gruppen wie die stämmigen, kurzbeinigen Merycoidodontidae, die mit Stirnwaffen ausgestatteten Protoceratidae und die eigentlichen Kamele (Camelidae). Diese erschienen erstmals im späten Eozän und entwickelten in Nordamerika einen großen Artenreichtum. Erst im späten Miozän oder frühen Pliozän wanderten sie in Eurasien und im späten Pliozän in Südamerika ein. In diesen Kontinenten leben sie bis heute, in Nordamerika sind sie aus nicht genau bekannten Gründen vor rund 10.000 Jahren ausgestorben. Vertreter der Schweineartigen (Suina) sind seit dem Eozän bekannt. Im späten Eozän oder Oligozän bildeten sich die beiden heute noch bestehenden Familien, die Altweltschweine, die stets auf Eurasien und Afrika beschränkt blieben und die Nabelschweine, die in der Alten Welt ausstarben und heute nur noch in Amerika vorkommen. Auch die Wiederkäuer (Ruminantia) sind mit zahlreichen frühen Formen, die wohl den heutigen Hirschferkeln ähneln, seit dem Eozän bekannt. Diese Frühformen, die als Tragulina zusammengefasst werden, lebten bis zum Miozän in Afrika, Eurasien und Nordamerika, dann starben sie bis auf die rezenten Hirschferkel aus. Im Oligozän oder Miozän entwickelten sich die übrigen heute noch lebenden Vertreter, die mehrheitlich auf die Alte Welt beschränkt blieben. Eine große Radiation erfuhren die Hornträger (Bovidae), die ab dem frühen Miozän Afrika besiedelten, wo sie die früher dominanten Unpaarhufer und Schliefer weitgehend verdrängten und die ökologische Nische der großen Pflanzenfresser besetzten. Innerhalb der Giraffenartigen (Giraffidae) entstanden neben den heutigen Arten auch die Rindergiraffen, die hirschähnliche Stirnwaffen entwickelten. Auch die Hirsche (Cervidae) entwickelten zahlreiche Arten, blieben jedoch eher auf Eurasien beschränkt. Nach Nordamerika kamen Hornträger und Hirsche erst relativ spät (Spätmiozän oder Frühpliozän), auf diesem Kontinent hatte sich aber die Gruppe der Gabelhornträger mit zahlreichen Arten ausgebreitet, von welchen heute nur noch eine Art, der Gabelbock überlebt hat. Südamerika wurde von den Paarhufern erst im Pliozän vor rund drei Millionen Jahren besiedelt, als sich die Landverbindung beim Isthmus von Panama schloss. Mit Nabelschweinen, Neuweltkamelen und Trughirschen ist die südamerikanische Paarhuferfauna verglichen mit den anderen Kontinenten aber artenarm geblieben. Vom Aussterben der Großsäuger am Ende des Pleistozäns waren die Paarhufer weniger betroffen als andere Säugergruppen, ein Artensterben größeren Ausmaßes geschah nur bei den nordamerikanischen Kamelen. Ein Grund hierfür liegt darin, dass die größeren Vertreter der Paarhufer in Afrika vorkamen und dort im Gegensatz zu den anderen Kontinenten zur damaligen Zeit kaum Großsäuger ausstarben. Literatur Hubert Hendrichs: Artiodactyla (Paraxonia), Paarhufer. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin 2004, S. 608–630, ISBN 3-8274-0307-3 (vorwiegend Körperbau und Lebensweise). Thomas S. Kemp: The Origin & Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, 331 Seiten, ISBN 0-19-850761-5 (vorwiegend Systematik und Stammesgeschichte). Kenneth D. Rose und David Archibald: Rise of Placental Mammals: Origins and Relationships of the Major Extant Clades. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8022-X (vorwiegend Systematik und Stammesgeschichte). Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. 3. Ausgabe. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8221-4 (Artverzeichnis). Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, 2015 Seiten, ISBN 0-8018-5789-9 (allgemeine Informationen). Weblinks Artiodactyla und Cetartiodactyla auf Animal Diversity Web (allgemeine Informationen) Einzelnachweise Formtaxon
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https://de.wikipedia.org/wiki/Differentialrechnung
Differentialrechnung
Die Differential- oder Differenzialrechnung ist ein wesentlicher Bestandteil der Analysis und damit ein Gebiet der Mathematik. Zentrales Thema der Differentialrechnung ist die Berechnung lokaler Veränderungen von Funktionen. Während eine stetige Funktion ihren Eingabewerten kontinuierlich gewisse Ausgangswerte zuordnet, wird durch die Differentialrechnung ermittelt, wie stark sich die Ausgabewerte nach sehr kleinen Veränderungen der Eingabewerte ändern. Sie ist eng verwandt mit der Integralrechnung, mit der sie gemeinsam unter der Bezeichnung Infinitesimalrechnung zusammengefasst wird. Die Ableitung einer Funktion dient der Darstellung lokaler Veränderungen einer Funktion und ist gleichzeitig Grundbegriff der Differentialrechnung. Anstatt von der Ableitung spricht man auch vom Differentialquotienten, dessen geometrische Entsprechung die Tangentensteigung ist. Die Ableitung ist nach der Vorstellung von Leibniz der Proportionalitätsfaktor zwischen infinitesimalen Änderungen des Eingabewertes und den daraus resultierenden, ebenfalls infinitesimalen Änderungen des Funktionswertes. Eine Funktion wird als differenzierbar bezeichnet, wenn ein solcher Proportionalitätsfaktor existiert. Äquivalent wird die Ableitung in einem Punkt als die Steigung derjenigen linearen Funktion definiert, die unter allen linearen Funktionen die Änderung der Funktion am betrachteten Punkt lokal am besten approximiert. Entsprechend wird mit der Ableitung in dem Punkt eine lineare Näherung der Funktion gewonnen. Die Linearisierung einer möglicherweise komplizierten Funktion hat den Vorteil, dass eine einfacher behandelbare Funktion entsteht als die ursprüngliche Funktion oder überhaupt erst eine Handhabbarkeit. In vielen Fällen ist die Differentialrechnung ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Bildung mathematischer Modelle, die die Wirklichkeit möglichst genau abbilden sollen, sowie zu deren nachfolgender Analyse. Das Verhalten von Bauelementen mit nicht-linearer Kennlinie wird bei kleinen Signaländerungen in der Umgebung eines Bezugspunktes durch ihr Kleinsignalverhalten beschrieben; dieses basiert auf dem Verlauf der Tangente an die Kennlinie im Bezugspunkt. Die Ableitung nach der Zeit ist im untersuchten Sachverhalt die momentane Änderungsrate. So ist beispielsweise die Ableitung der Orts- beziehungsweise Weg-Zeit-Funktion eines Teilchens nach der Zeit seine Momentangeschwindigkeit, und die Ableitung der Momentangeschwindigkeit nach der Zeit liefert die momentane Beschleunigung. In den Wirtschaftswissenschaften spricht man auch häufig von Grenzraten anstelle der Ableitung, zum Beispiel Grenzkosten oder Grenzproduktivität eines Produktionsfaktors. In der Sprache der Geometrie ist die Ableitung eine verallgemeinerte Steigung. Der geometrische Begriff Steigung ist ursprünglich nur für lineare Funktionen definiert, deren Funktionsgraph eine Gerade ist. Die Ableitung einer beliebigen Funktion an einer Stelle kann man als die Steigung der Tangente im Punkt des Graphen von definieren. In der Sprache der Arithmetik schreibt man für die Ableitung einer Funktion an der Stelle . Sie gibt an, um welchen Faktor von sich ungefähr ändert, wenn sich um einen „kleinen“ Betrag ändert. Für die exakte Formulierung dieses Sachverhalts wird der Begriff Grenzwert oder Limes verwendet. Einführung Heranführung anhand eines Beispiels Fährt ein Auto auf einer Straße, so kann anhand dieses Sachverhalts eine Tabelle erstellt werden, in der zu jedem Zeitpunkt die Strecke, die seit dem Beginn der Aufzeichnung zurückgelegt wurde, eingetragen wird. In der Praxis ist es zweckmäßig, eine solche Tabelle nicht zu engmaschig zu führen, d. h. zum Beispiel in einem Zeitraum von 1 Minute nur alle 3 Sekunden einen neuen Eintrag zu machen, was lediglich 20 Messungen erfordern würde. Jedoch kann eine solche Tabelle theoretisch beliebig engmaschig gestaltet werden, wenn jeder Zeitpunkt berücksichtigt werden soll. Dabei gehen die vormals diskreten, also mit einem Abstand behafteten Daten, in ein Kontinuum über. Die Gegenwart wird dann als Zeitpunkt, d. h. als ein unendlich kurzer Zeitabschnitt, interpretiert. Gleichzeitig hat das Auto aber zu jedem Zeitpunkt eine theoretisch bekannte Strecke zurückgelegt, und wenn es nicht bis zum Stillstand abbremst oder gar zurück fährt, wird die Strecke kontinuierlich ansteigen, also zu keinem Zeitpunkt dieselbe sein wie zu einem anderen. Die Motivation hinter dem Begriff der Ableitung einer Weg-Zeit-Kurve oder -Funktion ist, dass nun angegeben werden kann, wie schnell sich das Auto zu einem momentanen Zeitpunkt bewegt. Aus einem Weg-Zeit-Verlauf soll also der passende Geschwindigkeit-Zeit-Verlauf abgeleitet werden. Hintergrund ist, dass die Geschwindigkeit ein Maß dafür ist, wie stark sich die zurückgelegte Strecke im Laufe der Zeit ändert. Bei einer hohen Geschwindigkeit ist ein starker Anstieg in der Kurve zu sehen, während eine niedrige Geschwindigkeit zu wenig Veränderung führt. Da jedem Messpunkt auch eine Strecke zugeordnet wurde, sollte eine solche Analyse grundsätzlich möglich sein, denn mit dem Wissen über die zurückgelegte Strecke innerhalb einem Zeitintervall gilt für die Geschwindigkeit Sind also und zwei unterschiedliche Zeitpunkte, so lautet „die Geschwindigkeit“ des Autos im Zeitintervall zwischen diesen Die Differenzen in Zähler und Nenner müssen gebildet werden, da man sich nur für die innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls zurückgelegte Strecke interessiert. Dennoch liefert dieser Ansatz kein vollständiges Bild, da zunächst nur Geschwindigkeiten für Zeitintervalle mit auseinander liegendem Anfangs- und Endpunkt gemessen wurden. Eine momentane Geschwindigkeit, vergleichbar mit einem Blitzerfoto, hingegen bezöge sich auf ein unendlich kurzes Zeitintervall. Dementsprechend ist der oben stehende Begriff „Geschwindigkeit“ durch „durchschnittliche Geschwindigkeit“ zu präzisieren. Auch wenn mit echten Zeitintervallen, also diskreten Daten, gearbeitet wird, vereinfacht sich das Modell insofern, als für ein Auto innerhalb der betrachteten Intervalle keine schlagartige Ortsänderung und keine schlagartige Geschwindigkeitsänderung möglich ist. (Auch eine Vollbremsung benötigt Zeit, und zwar länger als die Zeit, in der die Reifen quietschen.) Damit ist auch in der Zeichnung der stillschweigend durchgehend eingetragene Kurvenzug ohne Sprung und ohne Knick gerechtfertigt. Soll hingegen zu einem „perfekt passenden“ Geschwindigkeit-Zeit-Verlauf übergegangen werden, so muss der Terminus „durchschnittliche Geschwindigkeit in einem Zeitintervall“ durch „Geschwindigkeit zu einem Zeitpunkt“ ersetzt werden. Dazu muss zunächst ein Zeitpunkt gewählt werden. Die Idee ist nun, „ausgedehnte Zeitintervalle“ in einem Grenzwertprozess gegen ein unendlich kurzes Zeitintervall laufen zu lassen und zu studieren, was mit den betroffenen durchschnittlichen Geschwindigkeiten passiert. Obwohl der Nenner dabei gegen 0 strebt, ist dies anschaulich kein Problem, da sich das Auto in kürzer werdenden Zeitabschnitten bei stetigem Verlauf immer weniger weit bewegen kann, womit sich Zähler und Nenner gleichzeitig verkleinern, und im Grenzprozess ein unbestimmter Term „“ entsteht. Dieser kann unter Umständen als Grenzwert Sinn ergeben, beispielsweise drücken exakt dieselben Geschwindigkeiten aus. Nun gibt es zwei Möglichkeiten beim Studium der Geschwindigkeiten. Entweder, sie lassen in dem betrachteten Grenzwertprozess keine Tendenz erkennen, sich einem bestimmten endlichen Wert anzunähern. In diesem Fall kann der Bewegung des Autos keine zum Zeitpunkt gültige Geschwindigkeit zugeordnet werden, d. h., der Term „“ hat hier keinen eindeutigen Sinn. Gibt es hingegen eine zunehmende Stabilisierung in Richtung auf einen festen Wert, so existiert der Grenzwert und drückt die exakt im Zeitpunkt bestehende Geschwindigkeit aus. Der unbestimmte Term „“ nimmt in diesem Fall einen eindeutigen Wert an. Die dabei entstehende Momentangeschwindigkeit wird auch als Ableitung von an der Stelle bezeichnet; für diese wird häufig das Symbol benutzt. Mit dem Grenzwert wird die Momentangeschwindigkeit zu einem beliebigen Zeitpunkt definiert als Prinzip der Differentialrechnung Das Beispiel des letzten Abschnitts ist dann besonders einfach, wenn die Zunahme der zurückgelegten Strecke mit der Zeit gleichförmig, also linear verläuft. Dann liegt speziell eine Proportionalität zwischen der Veränderung der Strecke und der Veränderung der Zeit vor. Die relative Veränderung der Strecke, also ihre Zunahme im Verhältnis zur Zunahme der Zeit, ist bei dieser Bewegung immer gleichbleibend. Die mittlere Geschwindigkeit ist zu jedem Zeitpunkt auch die momentane Geschwindigkeit. Beispielsweise legt das Auto zwischen 0 und 1 Sekunden eine gleich lange Strecke zurück wie zwischen 9 und 10 Sekunden und die zehnfache Strecke zwischen 0 und 10 Sekunden. Als Proportionalitätsfaktor über den ganzen Weg gilt die konstante Geschwindigkeit , wobei sie im nebenstehenden Bild beträgt. Die zwischen beliebig weit auseinanderliegenden Zeitpunkten und zurückgelegte Strecke beträgt . Allgemein bewegt sich das Auto in der Zeitspanne um die Strecke vorwärts. Speziell bei ergibt sich ein Wegstück . Falls der Startwert bei nicht sondern beträgt, ändert dies nichts, da sich in der Beziehung die Konstante durch die Differenzbildung aus stets heraussubtrahiert. Auch anschaulich ist dies bekannt: Die Startposition des Autos ist unerheblich für seine Geschwindigkeit. Werden statt der Variablen und allgemein die Variablen und betrachtet, so lässt sich also festhalten: Lineare Funktionen: Bei Linearität hat die betrachtete Funktion die Gestalt . (Für eine lineare Funktion ist nicht notwendig eine Ursprungsgerade erforderlich!) Als Ableitung gilt hieran die relative Veränderung, mit einem anderen Wort der Differenzenquotient . Sie hat in jedem Punkt denselben Wert . Die Ableitung lässt sich aus dem Ausdruck direkt ablesen. Insbesondere hat jede konstante Funktion die Ableitung , da sich mit einer Änderung des Eingabewertes nichts am Ausgabewert ändert. Schwieriger wird es, wenn eine Bewegung nicht gleichförmig verläuft. Dann ist das Diagramm der Zeit-Strecken-Funktion nicht geradlinig. Für derartige Verläufe muss der Ableitungsbegriff erweitert werden. Denn es gibt keinen Proportionalitätsfaktor, der überall die lokale relative Veränderung ausdrückt. Als einzig mögliche Strategie ist die Gewinnung einer linearen Näherung für die nicht-lineare Funktion gefunden worden, zumindest an einer interessierenden Stelle. (Im nächsten Bild ist das die Stelle .) Damit wird das Problem auf eine wenigstens an dieser Stelle lineare Funktion zurückgeführt. Die Methode der Linearisierung ist die Grundlage für den eigentlichen Kalkül der Differentialrechnung. Sie ist in der Analysis von sehr großer Bedeutung, da sie dabei hilft, komplizierte Vorgänge lokal auf leichter verständliche Vorgänge, nämlich lineare Vorgänge, zu reduzieren. Die Strategie soll exemplarisch an der nicht-linearen Funktion erläutert werden. Die Tabelle zeigt Werte für diese Funktion und für ihre Näherungsfunktion an der Stelle , das ist . Darunter enthält die Tabelle die Abweichung der Näherung von der ursprünglichen Funktion. (Die Werte sind negativ, weil in diesem Fall die Gerade immer unter der Kurve liegt – außer im Berührpunkt.) In der letzten Zeile steht der Betrag der relativen Abweichung, das ist die Abweichung bezogen auf die Entfernung der Stelle vom Berührpunkt bei . Diese kann am Berührpunkt nicht berechnet werden. Aber die Werte in der Umgebung zeigen, wie sich die relative Abweichung einem Grenzwert nähert, hier dem Wert null. Diese Null bedeutet: Selbst wenn sich ein wenig (infinitesimal) vom Berührpunkt entfernt, entsteht noch kein Unterschied zwischen und . Die lineare Funktion ahmt das Verhalten von nahe der Stelle gut nach (besser als jede andere lineare Funktion). Die relative Veränderung hat überall den Wert . Die nicht so einfach zu ermittelnde relative Veränderung stimmt aber im Berührpunkt mit dem Wert überein. Es lässt sich also festhalten: Nicht-lineare Funktionen: Soll die relative Veränderung einer nicht-linearen Funktion in einem bestimmten Punkt ermittelt werden, so wird sie (wenn möglich) dort linear genähert. Die Steigung der linearen Näherungsfunktion ist die an dieser Stelle vorliegende Steigung der betrachteten nicht-linearen Funktion, und es gilt dieselbe Anschauung wie bei Ableitungen linearer Funktionen. Dabei ist nur zu beachten, dass sich die relative Veränderung einer nicht-linearen Funktion von Punkt zu Punkt ändert. Während im Beispiel oben (Fahrzeugbewegung) für die durchschnittliche Geschwindigkeit die Zeitspanne angemessen willkürlich gewählt werden kann, ist die momentane Geschwindigkeit, wenn sie veränderlich ist, nur für kleine angebbar. Wie klein gewählt werden muss, hängt ab von der Anforderung an die Qualität der Näherung. In mathematischer Perfektion wird sie infinitesimal. Bei dieser wird für die relative Veränderung (wie schon oben angegeben) anstelle des Differenzenquotienten der Differenzialquotient geschrieben (in vereinfachter Schreibweise oder ). Die Gewinnung der linearen Näherung einer nicht-linearen Funktion an einer bestimmten Stelle ist zentrale Aufgabe des Kalküls der Differentialrechnung. Bei einer mathematisch angebbaren Funktion (im Beispiel war das ) sollte sich die Ableitung ausrechnen lassen. Im Idealfall ist diese Berechnung sogar so allgemein, dass sie auf alle Punkte des Definitionsbereichs angewendet werden kann. Im Falle von kann gezeigt werden, dass an jeder Stelle die beste lineare Näherung die Steigung besitzen muss. Mit der Zusatzinformation, dass die lineare Funktion mit der Kurve im Punkt übereinstimmen muss, kann dann die vollständige Funktionsgleichung der linearen Näherungsfunktion aufgestellt werden. Der Ansatz zur Bestimmung des Differentialquotienten liegt in der Berechnung des Grenzwerts (wie oben bei der momentanen Geschwindigkeit): oder in anderer Schreibweise Bei einigen elementaren Funktionen wie Potenzfunktion, Exponentialfunktion, Logarithmusfunktion oder Sinusfunktion ist jeweils der Grenzwertprozess durchgeführt worden. Dabei ergibt sich jeweils eine Ableitungsfunktion. Darauf aufbauend sind Ableitungsregeln für die elementaren und auch für weitere Funktionen wie Summen, Produkte oder Verkettungen elementarer Funktionen aufgestellt worden. Damit werden die Grenzübergänge nicht in jeder Anwendung neu vollzogen, sondern für die Rechenpraxis werden Ableitungsregeln angewendet. Die „Kunst“ der Differentialrechnung besteht „nur“ darin, kompliziertere Funktionen zu strukturieren und auf die Strukturelemente die jeweils zutreffende Ableitungsregel anzuwenden. Ein Beispiel folgt weiter hinten. Berechnung von Grenzwerten Jeder Differenzialquotient an einer vorgesehenen Stelle erscheint als unbestimmter Ausdruck vom Typ „“. Zu seiner Berechnung wird vom Differenzenquotient ausgegangen, und dessen Verhalten in der Umgebung der vorgesehenen Stelle wird untersucht, ob er die Tendenz hat, einen bestimmten Wert anzunehmen. Einige Grenzwerte, die für Ableitungsregeln benötigt werden, werden nachfolgend hergeleitet. Selbstverständlich dürfen dazu keine Regeln der Differenzialrechnung verwendet werden, da diese erst nach der Kenntnis der Grenzwerte aufgestellt werden können. Ein einfacher Fall 1 Ausgangspunkt ist der Differenzenquotient für die vorgesehene Funktion. Wird die binomische Formel eingesetzt, so kürzt sich ein Summand heraus. Für ist dieser Bruch unbestimmt. Aber für (dann und nur dann!) können Zähler und Nenner durch dividiert werden. Für jedes ist dieser Ausdruck bestimmt, auch wenn man dem Wert nahe kommt. Er strebt im Grenzübergang nach Im Weiteren werden hier nur Grenzwerte berechnet, und ihre Einsetzung in Differenzenquotienten erfolgt weiter hinten im Abschnitt Ableitungsberechnung. Fall 2 Für ist dieser Bruch unbestimmt. Zur Berechnung bei wird die Fläche eines Kreissektors mit dem Bogen verglichen mit den Flächen eines innen liegenden und eines außen liegenden Dreiecks gemäß der Zeichnung. Im gezeigten Quadranten gilt offensichtlich Bei kann diese Ungleichung mit multipliziert werden. Für streben sowohl der linke als auch der rechte Ausdruck gegen eins. Damit muss auch der dazwischen liegende Ausdruck gegen eins streben. Für seinen Kehrwert gilt das ebenfalls. Für strebt er im Grenzübergang nach Zwischenüberlegung Der Logarithmus dieses Ausdrucks, das ist , strebt für gegen „“. Dieser Logarithmus ist dort unbestimmt und damit auch der Ausdruck selber. Es ist aber bewiesen, dass einen bestimmten endlichen Wert annimmt, der als Eulersche Zahl bezeichnet wird. Dieses wird unter dem verlinkten Stichwort behandelt und hier als bekannt vorausgesetzt. Fall 3 Für ist dieser Bruch unbestimmt. Aber für und ist die Substitution , zulässig. Aufgelöst nach unter Verwendung des natürlichen Logarithmus ergibt das Für streben und der Nenner gegen . Für jedes ist dieser Ausdruck bestimmt, auch wenn man dem Wert nahe kommt. Er strebt im Grenzübergang nach Als Voraussetzung für diese Herleitung muss positiv sein. Für ist dieses erfüllt mit negativem . Nähert man sich bei dem Wert von der Seite her, so gilt derselbe Grenzübergang. Fall 4 Für ist dieser Bruch unbestimmt. Aber für ist die Substitution zulässig. Für strebt . Für jedes ist dieser Ausdruck bestimmt, auch wenn man dem Wert nahe kommt. Er strebt im Grenzübergang nach Einordnung der Anwendungsmöglichkeiten Extremwertprobleme Eine wichtige Anwendung der Differentialrechnung besteht darin, dass mit Hilfe der Ableitung lokale Extremwerte einer Kurve bestimmt werden können. Anstatt also anhand einer Wertetabelle mechanisch nach Hoch- oder Tiefpunkten suchen zu müssen, liefert der Kalkül in einigen Fällen eine direkte Antwort. Liegt ein Hoch- oder Tiefpunkt vor, so besitzt die Kurve an dieser Stelle keinen „echten“ Anstieg, weshalb die optimale Linearisierung eine Steigung von 0 besitzt. Für die genaue Klassifizierung eines Extremwertes sind jedoch weitere lokale Daten der Kurve notwendig, denn eine Steigung von 0 ist nicht hinreichend für die Existenz eines Extremwertes (geschweige denn eines Hoch- oder Tiefpunktes). In der Praxis treten Extremwertprobleme typischerweise dann auf, wenn Prozesse, zum Beispiel in der Wirtschaft, optimiert werden sollen. Oft liegen an den Randwerten jeweils ungünstige Ergebnisse, in Richtung „Mitte“ kommt es aber zu einer stetigen Steigerung, die dann irgendwo maximal werden muss. Zum Beispiel die optimale Wahl eines Verkaufspreises: Bei einem zu geringen Preis ist die Nachfrage nach einem Produkt zwar sehr groß, aber die Produktion kann nicht finanziert werden. Ist er andererseits zu hoch, so wird es im Extremfall gar nicht mehr gekauft. Daher liegt ein Optimum irgendwo „in der Mitte“. Voraussetzung dabei ist, dass der Zusammenhang in Form einer (stetig) differenzierbaren Funktion wiedergegeben werden kann. Die Untersuchung einer Funktion auf Extremstellen ist Teil einer Kurvendiskussion. Die mathematischen Hintergründe sind im Abschnitt Anwendung höherer Ableitungen bereitgestellt. Mathematische Modellierung In der mathematischen Modellierung sollen komplexe Probleme in mathematischer Sprache erfasst und analysiert werden. Je nach Fragestellung sind das Untersuchen von Korrelationen oder Kausalitäten oder auch das Geben von Prognosen im Rahmen dieses Modells zielführend. Besonders im Umfeld sog. Differentialgleichungen ist die Differentialrechnung zentrales Werkzeug bei der Modellierung. Diese Gleichungen treten zum Beispiel auf, wenn es eine kausale Beziehung zwischen dem Bestand einer Größe und deren zeitlicher Veränderung gibt. Ein alltägliches Beispiel könnte sein: Je mehr Einwohner eine Stadt besitzt, desto mehr Leute wollen dort hinziehen. Etwas konkreter könnte dies zum Beispiel heißen, dass bei jetzigen Einwohnern durchschnittlich Personen in den kommenden 10 Jahren zuziehen werden, bei Einwohnern durchschnittlich Personen in den kommenden 10 Jahren usw. – um nicht alle Zahlen einzeln ausführen zu müssen: Leben Personen in der Stadt, so wollen so viele Menschen hinzuziehen, dass nach 10 Jahren weitere hinzukommen würden. Besteht eine derartige Kausalität zwischen Bestand und zeitlicher Veränderung, so kann gefragt werden, ob aus diesen Daten eine Prognose für die Einwohnerzahl nach 10 Jahren abgeleitet werden kann, wenn die Stadt im Jahr 2020 zum Beispiel Einwohner hatte. Es wäre dabei falsch zu glauben, dass dies sein werden, da sich mit steigender Einwohnerzahl auch die Nachfrage nach Wohnraum wiederum zunehmend steigern wird. Der Knackpunkt zum Verständnis des Zusammenhangs ist demnach erneut dessen Lokalität: Besitzt die Stadt Einwohner, so wollen zu diesem Zeitpunkt Menschen pro 10 Jahre hinzuziehen. Aber einen kurzen Augenblick später, wenn weitere Menschen hinzugezogen sind, sieht die Lage wieder anders aus. Wird dieses Phänomen zeitlich beliebig engmaschig gedacht, ergibt sich ein „differentieller“ Zusammenhang. Allerdings eignet sich die kontinuierliche Herangehensweise in vielen Fällen auch bei diskreten Problemstellungen. Mit Hilfe der Differentialrechnung kann aus so einem kausalen Zusammenhang zwischen Bestand und Veränderung in vielen Fällen ein Modell hergeleitet werden, was den komplexen Zusammenhang auflöst, und zwar in dem Sinne, dass zum Schluss eine Bestandsfunktion explizit angegeben werden kann. Setzt man in diese Funktion dann zum Beispiel den Wert 10 Jahre ein, so ergibt sich eine Prognose für die Stadtbewohneranzahl im Jahr 2030. Im Falle oberen Modells wird eine Bestandsfunktion gesucht mit , in 10 Jahren, und . Die Lösung ist dann mit der natürlichen Exponentialfunktion (natürlich bedeutet, dass der Proportionalitätsfaktor zwischen Bestand und Veränderung einfach gleich 1 ist) und für das Jahr 2030 lautet die geschätzte Prognose Mio. Einwohner. Die Proportionalität zwischen Bestand und Veränderungsrate führt also zu exponentiellem Wachstum und ist klassisches Beispiel eines selbstverstärkenden Effektes. Analoge Modelle funktionieren beim Populationswachstum (Je mehr Individuen, desto mehr Geburten) oder der Verbreitung einer ansteckenden Krankheit (Je mehr Erkrankte, desto mehr Ansteckungen). In vielen Fällen stoßen diese Modelle jedoch an eine Grenze, wenn sich der Prozess aufgrund natürlicher Beschränkungen (wie eine Obergrenze der Gesamtbevölkerung) nicht beliebig fortsetzen lässt. In diesen Fällen sind ähnliche Modelle, wie das logistische Wachstum, geeigneter. Numerische Verfahren Die Eigenschaft einer Funktion, differenzierbar zu sein, ist bei vielen Anwendungen von Vorteil, da dies der Funktion mehr Struktur verleiht. Ein Beispiel ist das Lösen von Gleichungen. Bei einigen mathematischen Anwendungen ist es notwendig, den Wert einer (oder mehrerer) Unbekannten zu finden, die Nullstelle einer Funktion ist. Es ist dann . Je nach Beschaffenheit von können Strategien entwickelt werden, eine Nullstelle zumindest näherungsweise anzugeben, was in der Praxis meist vollkommen ausreicht. Ist in jedem Punkt differenzierbar mit Ableitung , so kann in vielen Fällen das Newton-Verfahren helfen. Bei diesem spielt die Differentialrechnung insofern eine direkte Rolle, als beim schrittweisen Vorgehen immer wieder eine Ableitung explizit berechnet werden muss. Ein weiterer Vorteil der Differentialrechnung ist, dass in vielen Fällen komplizierte Funktionen, wie Wurzeln oder auch Sinus und Kosinus, anhand einfacher Rechenregeln wie Addition und Multiplikation gut angenähert werden können. Ist die Funktion an einem benachbarten Wert leicht auszuwerten, ist dies von großem Nutzen. Wird zum Beispiel nach einem Näherungswert für die Zahl gesucht, so liefert die Differentialrechnung für die Linearisierung denn es gilt nachweislich . Sowohl Funktion als auch erste Ableitung konnten an der Stelle gut berechnet werden, weil es sich dabei um eine Quadratzahl handelt. Einsetzen von ergibt , was mit dem exakten Ergebnis bis auf einen Fehler kleiner als übereinstimmt. Unter Einbezug höherer Ableitungen kann die Genauigkeit solcher Approximationen zusätzlich gesteigert werden, da dann nicht nur linear, sondern quadratisch, kubisch usw. angenähert wird, siehe auch Taylor-Reihe. Reine Mathematik Auch in der reinen Mathematik spielt die Differentialrechnung als ein Kern der Analysis eine bedeutende Rolle. Ein Beispiel ist die Differentialgeometrie, die sich mit Figuren beschäftigt, die eine differenzierbare Oberfläche (ohne Knicke usw.) haben. Zum Beispiel kann auf eine Kugeloberfläche in jedem Punkt tangential eine Ebene platziert werden. Anschaulich: Steht man an einem Erdpunkt, so hat man das Gefühl, die Erde sei flach, wenn man seinen Blick in der Tangentialebene schweifen lässt. In Wahrheit ist die Erde jedoch nur lokal flach: Die angelegte Ebene dient der (durch Linearisierung) vereinfachten Darstellung der komplizierteren Krümmung. Global hat sie als Kugeloberfläche eine völlig andere Gestalt. Die Methoden der Differentialgeometrie sind äußerst bedeutend für die theoretische Physik. So können Phänomene wie Krümmung oder Raumzeit über Methoden der Differentialrechnung beschrieben werden. Auch die Frage, was der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten auf einer gekrümmten Fläche (zum Beispiel der Erdoberfläche) ist, kann mit diesen Techniken formuliert und oft auch beantwortet werden. Auch bei der Erforschung von Zahlen als solchen, also im Rahmen der Zahlentheorie, hat sich die Differentialrechnung in der analytischen Zahlentheorie bewährt. Die grundlegende Idee der analytischen Zahlentheorie ist die Umwandlung von bestimmten Zahlen, über die man etwas lernen möchte, in Funktionen. Haben diese Funktionen „gute Eigenschaften“ wie etwa Differenzierbarkeit, so hofft man, über die damit einhergehenden Strukturen Rückschlüsse auf die ursprünglichen Zahlen ziehen zu können. Es hat sich dabei häufig bewährt, zur Perfektionierung der Analysis von den reellen zu den komplexen Zahlen überzugehen (siehe auch komplexe Analysis), also die Funktionen über einem größeren Zahlenbereich zu studieren. Ein Beispiel ist die Analyse der Fibonacci-Zahlen , deren Bildungsgesetz vorschreibt, dass eine neue Zahl stets aus der Summe der beiden vorangehenden entstehen soll. Ansatz der analytischen Zahlentheorie ist die Bildung der erzeugenden Funktion also eines „unendlich langen“ Polynoms (einer sog. Potenzreihe), dessen Koeffizienten genau die Fibonacci-Zahlen sind. Für hinreichend kleine Zahlen ist dieser Ausdruck sinnvoll, weil die Potenzen dann viel schneller gegen 0 gehen als die Fibonacci-Zahlen gegen Unendlich, womit sich langfristig alles bei einem endlichen Wert einpendelt. Es ist für diese Werte möglich, die Funktion explizit zu berechnen durch Das Nennerpolynom „spiegelt“ dabei genau das Verhalten der Fibonacci-Zahlen „wider“ – es ergibt sich in der Tat durch termweises Verrechnen. Mit Hilfe der Differentialrechnung lässt sich andererseits zeigen, dass die Funktion ausreicht, um die Fibonacci-Zahlen (ihre Koeffizienten) eindeutig zu charakterisieren. Da es sich aber um eine schlichte rationale Funktion handelt, lässt sich dadurch die für jede Fibonacci-Zahl gültige exakte Formel mit dem goldenen Schnitt herleiten, wenn und gesetzt wird. Die exakte Formel vermag eine Fibonacci-Zahl zu berechnen, ohne die vorherigen zu kennen. Der Schluss wird über einen sog. Koeffizientenvergleich gezogen und nutzt aus, dass das Polynom als Nullstellen und besitzt. Der höherdimensionale Fall Die Differentialrechnung kann auf den Fall „höherdimensionaler Funktionen“ verallgemeinert werden. Damit ist gemeint, dass sowohl Eingabe- als auch Ausgabewerte der Funktion nicht bloß Teil des eindimensionalen reellen Zahlenstrahls, sondern auch Punkte eines höherdimensionalen Raums sind. Ein Beispiel ist die Vorschrift zwischen jeweils zweidimensionalen Räumen. Das Funktionsverständnis als Tabelle bleibt hier identisch, nur dass diese mit „vier Spalten“ „deutlich mehr“ Einträge besitzt. Auch mehrdimensionale Abbildungen können in manchen Fällen an einem Punkt linearisiert werden. Allerdings ist dabei nun angemessen zu beachten, dass es sowohl mehrere Eingabedimensionen als auch mehrere Ausgabedimensionen geben kann: Der korrekte Verallgemeinerungsweg liegt darin, dass die Linearisierung in jeder Komponente der Ausgabe jede Variable auf lineare Weise berücksichtigt. Das zieht für obere Beispielfunktion eine Approximation der Form nach sich. Diese ahmt dann die gesamte Funktion in der Nähe der Eingabe sehr gut nach. In jeder Komponente wird demnach für jede Variable eine „Steigung“ angegeben – diese wird dann das lokale Verhalten der Komponentenfunktion bei kleiner Änderung in dieser Variablen messen. Diese Steigung wird auch als partielle Ableitung bezeichnet. Die korrekten konstanten Abschnitte berechnen sich exemplarisch durch bzw. . Wie auch im eindimensionalen Fall hängen die Steigungen (hier ) stark von der Wahl des Punktes (hier ) ab, an dem abgeleitet wird. Die Ableitung ist demnach keine Zahl mehr, sondern ein Verband aus mehreren Zahlen – in diesem Beispiel sind es vier – und diese Zahlen sind im Regelfall bei allen Eingaben unterschiedlich. Es wird allgemein für die Ableitung auch geschrieben, womit alle „Steigungen“ in einer sog. Matrix versammelt sind. Man bezeichnet diesen Term auch als Jacobi-Matrix oder Funktionalmatrix. Beispiel: Wird oben gesetzt, so kann man zeigen, dass folgende lineare Approximation bei sehr kleinen Änderungen von und sehr gut ist: Zum Beispiel gilt und Hat man im ganz allgemeinen Fall Variablen und Ausgabekomponenten, so gibt es kombinatorisch gesehen insgesamt „Steigungen“, also partielle Ableitungen. Im klassischen Fall gibt es wegen eine Steigung und im oberen Beispiel sind es „Steigungen“. Geschichte Die Aufgabenstellung der Differentialrechnung bildete sich als Tangentenproblem ab dem 17. Jahrhundert heraus. Hierunter versteht man die Aufgabe, bei einer beliebigen Kurve in einem beliebigen Punkt die Tangente zu bestimmen. Ein naheliegender Lösungsansatz bestand darin, die Tangente an eine Kurve durch ihre Sekante über einem endlichen (endlich heißt hier: größer als null), aber beliebig kleinen Intervall zu approximieren. Dabei war die technische Schwierigkeit zu überwinden, mit einer solchen infinitesimal kleinen Intervallbreite zu rechnen. Die ersten Anfänge der Differentialrechnung gehen auf Pierre de Fermat zurück. Er entwickelte um 1628 eine Methode, Extremstellen algebraischer Terme zu bestimmen und Tangenten an Kegelschnitte und andere Kurven zu berechnen. Seine „Methode“ war rein algebraisch. Fermat betrachtete keine Grenzübergänge und schon gar keine Ableitungen. Gleichwohl lässt sich seine „Methode“ mit modernen Mitteln der Analysis interpretieren und rechtfertigen, und sie hat Mathematiker wie Newton und Leibniz nachweislich inspiriert. Einige Jahre später wählte René Descartes einen anderen algebraischen Zugang, indem er an eine Kurve einen Kreis anlegte. Dieser schneidet die Kurve in zwei nahe beieinanderliegenden Punkten; es sei denn, er berührt die Kurve. Dieser Ansatz ermöglichte es ihm, für spezielle Kurven die Steigung der Tangente zu bestimmen. Ende des 17. Jahrhunderts gelang es Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz mit unterschiedlichen Ansätzen unabhängig voneinander, widerspruchsfrei funktionierende Kalküle zu entwickeln. Während Newton das Problem physikalisch über das Momentangeschwindigkeitsproblem anging, löste es Leibniz geometrisch über das Tangentenproblem. Ihre Arbeiten erlaubten das Abstrahieren von rein geometrischer Vorstellung und werden deshalb als Beginn der Analysis betrachtet. Bekannt wurden sie vor allem durch das Buch Analyse des Infiniment Petits pour l’Intelligence des Lignes Courbes des Adligen Guillaume François Antoine, Marquis de L’Hospital, der bei Johann I Bernoulli Privatunterricht nahm und dessen Forschung zur Analysis so publizierte. Darin heißt es: Die heute bekannten Ableitungsregeln basieren vor allem auf den Werken von Leonhard Euler, der den Funktionsbegriff prägte. Newton und Leibniz arbeiteten mit beliebig kleinen positiven Zahlen. Dies wurde bereits von Zeitgenossen als unlogisch kritisiert, beispielsweise von George Berkeley in der polemischen Schrift The analyst; or, a discourse addressed to an infidel mathematician. Erst in den 1960ern konnte Abraham Robinson diese Verwendung infinitesimaler Größen mit der Entwicklung der Nichtstandardanalysis auf ein mathematisch-axiomatisch sicheres Fundament stellen. Trotz der herrschenden Unsicherheit wurde die Differentialrechnung aber konsequent weiterentwickelt, in erster Linie wegen ihrer zahlreichen Anwendungen in der Physik und in anderen Gebieten der Mathematik. Symptomatisch für die damalige Zeit war das von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1784 veröffentlichte Preisausschreiben: Erst zum Anfang des 19. Jahrhunderts gelang es Augustin-Louis Cauchy, der Differentialrechnung die heute übliche logische Strenge zu geben, indem er von den infinitesimalen Größen abging und die Ableitung als Grenzwert von Sekantensteigungen (Differenzenquotienten) definierte. Die heute benutzte Definition des Grenzwerts wurde schließlich von Karl Weierstraß im Jahr 1861 formuliert. Definition Sekanten- und Tangentensteigung Ausgangspunkt für die Definition der Ableitung ist die Näherung der Tangentensteigung durch eine Sekantensteigung (manchmal auch Sehnensteigung genannt). Gesucht sei die Steigung einer Funktion in einem Punkt . Man berechnet zunächst die Steigung der Sekante an über einem endlichen Intervall der Länge : Sekantensteigung = . Die Sekantensteigung ist also der Quotient zweier Differenzen; sie wird deshalb auch Differenzenquotient genannt. Mit der Kurznotation für kann man die Sekantensteigung abgekürzt als schreiben. Der Ausdruck verdeutlicht also die beliebig klein werdende Differenz zwischen der Stelle, an der abgeleitet werden soll, und einem benachbarten Punkt. In der Literatur wird jedoch, wie auch im Folgenden, in vielen Fällen aus Gründen der Einfachheit das Symbol statt verwendet. Um eine Tangentensteigung zu berechnen, muss man die beiden Punkte, durch die die Sekante gezogen wird, immer weiter aneinander rücken. Dabei gehen sowohl als auch gegen Null. Der Quotient bleibt aber in vielen Fällen endlich. Auf diesem Grenzübergang beruht die folgende Definition. Differenzierbarkeit Eine Funktion , die ein offenes Intervall in die reellen Zahlen abbildet, heißt differenzierbar an der Stelle , falls der Grenzwert   (mit ) existiert. Dieser Grenzwert heißt Differentialquotient oder Ableitung von nach an der Stelle und wird als   oder      oder      oder    notiert. Gesprochen werden diese Notationen als „f Strich von x null“, „d f von x nach d x an der Stelle x gleich x null“, „d f nach d x von x null“ respektive „d nach d x von f von x null“. Im später folgenden Abschnitt Notationen werden noch weitere Varianten angeführt, um die Ableitung einer Funktion zu notieren. Im Laufe der Zeit wurde folgende gleichwertige Definition gefunden, die sich im allgemeineren Kontext komplexer oder mehrdimensionaler Funktionen als leistungsfähiger erwiesen hat: Eine Funktion heißt an einer Stelle differenzierbar, falls eine Konstante existiert, sodass Der Zuwachs der Funktion , wenn man sich von nur wenig entfernt, etwa um den Wert , lässt sich also durch sehr gut approximieren. Man nennt deshalb die lineare Funktion , für die also für alle gilt, auch die Linearisierung von an der Stelle . Eine weitere Definition ist: Es gibt eine an der Stelle stetige Funktion mit und eine Konstante , sodass für alle gilt . Die Bedingungen und dass an der Stelle stetig ist, bedeuten gerade, dass das „Restglied“ für gegen gegen konvergiert. In beiden Fällen ist die Konstante eindeutig bestimmt und es gilt . Der Vorteil dieser Formulierung ist, dass Beweise einfacher zu führen sind, da kein Quotient betrachtet werden muss. Diese Darstellung der besten linearen Approximation wurde schon von Karl Weierstraß, Henri Cartan und Jean Dieudonné konsequent angewandt und wird auch Weierstraßsche Zerlegungsformel genannt. Bezeichnet man eine Funktion als differenzierbar, ohne sich auf eine bestimmte Stelle zu beziehen, dann bedeutet dies die Differenzierbarkeit an jeder Stelle des Definitionsbereiches, also die Existenz einer eindeutigen Tangente für jeden Punkt des Graphen. Jede differenzierbare Funktion ist stetig, die Umkehrung gilt jedoch nicht. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war man überzeugt, dass eine stetige Funktion höchstens an wenigen Stellen nicht differenzierbar sein könne (wie die Betragsfunktion). Bernard Bolzano konstruierte dann als erster Mathematiker tatsächlich eine Funktion, die später Bolzanofunktion genannt wurde, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist, was in der Fachwelt allerdings nicht bekannt wurde. Karl Weierstraß fand dann in den 1860er Jahren ebenfalls eine derartige Funktion (siehe Weierstraß-Funktion), was diesmal unter Mathematikern Wellen schlug. Ein bekanntes mehrdimensionales Beispiel für eine stetige, nicht differenzierbare Funktion ist die von Helge von Koch 1904 vorgestellte Koch-Kurve. Ableitungsfunktion Die Ableitung der Funktion an der Stelle , bezeichnet mit , beschreibt lokal das Verhalten der Funktion in der Umgebung der betrachteten Stelle . In einigen Fällen ist es möglich, an jedem Punkt des Funktionsgraphen eine Linearisierung vorzunehmen. Dies erlaubt die Definition einer Ableitungsfunktion (oder kurz Ableitung) , die jedem Element des Definitionsbereichs der Ausgangsfunktion die Steigung der dortigen Linearisierung zuordnet. Man sagt in diesem Falle, „ ist in differenzierbar“. Beispielsweise hat die Quadratfunktion mit an einer beliebigen Stelle die Ableitung die Quadratfunktion ist also auf der Menge der reellen Zahlen differenzierbar. Die zugehörige Ableitungsfunktion ist gegeben durch mit . Die Ableitungsfunktion ist im Normalfall eine andere Funktion als die ursprünglich betrachtete. Einzige Ausnahme sind die Vielfachen der natürlichen Exponentialfunktion mit beliebigem – unter denen, wie die Wahl zeigt, auch alle Funktionen mit beliebigem enthalten sind (deren Graph aus dem der Exponentialfunktion durch „seitliche“ Verschiebung um entsteht und zu diesem daher kongruent ist). Ist die Ableitung stetig, dann heißt stetig differenzierbar. In Anlehnung an die Bezeichnung für die Gesamtheit (den Raum) der stetigen Funktionen mit Definitionsmenge wird der Raum der auf stetig differenzierbaren Funktionen mit abgekürzt. Notationen Geschichtlich bedingt gibt es unterschiedliche Notationen, um die Ableitung einer Funktion darzustellen. Lagrange-Notation In diesem Artikel wurde bisher hauptsächlich die Notation für die Ableitung von verwendet. Diese Notation geht auf den Mathematiker Joseph-Louis Lagrange zurück, der sie 1797 einführte. Bei dieser Notation wird die zweite Ableitung von mit und die -te Ableitung mittels bezeichnet. Newton-Notation Isaac Newton – neben Leibniz der Begründer der Differentialrechnung – notierte die erste Ableitung von mit , entsprechend notierte er die zweite Ableitung durch . Heutzutage wird diese Schreibweise häufig in der Physik, insbesondere in der Mechanik, für die Ableitung nach der Zeit verwendet. Leibniz-Notation Gottfried Wilhelm Leibniz führte für die erste Ableitung von (nach der Variablen ) die Notation ein. Gelesen wird dieser Ausdruck als „d f von x nach d x“. Für die zweite Ableitung notierte Leibniz und die -te Ableitung wird mittels bezeichnet. Bei der Schreibweise von Leibniz handelt es sich nicht um einen Bruch. Die Symbole und werden „Differentiale“ genannt, haben aber in der modernen Differentialrechnung (abgesehen von der Theorie der Differentialformen) lediglich eine symbolische Bedeutung und sind nur in dieser Schreibweise als formaler Differentialquotient erlaubt. In manchen Anwendungen (Kettenregel, Integration mancher Differentialgleichungen, Integration durch Substitution) rechnet man mit ihnen aber so, als wären sie gewöhnliche Terme. Euler-Notation Die Notation oder für die erste Ableitung von geht auf Leonhard Euler zurück. Dabei wird die Ableitung als Operator – also als eine besondere Funktion, die selbst auf Funktionen arbeitet, aufgefasst. Diese Idee geht auf den Mathematiker Louis François Antoine Arbogast zurück. Die zweite Ableitung wird in dieser Notation mittels oder und die -te Ableitung durch oder dargestellt. Ableitungsberechnung Das Berechnen der Ableitung einer Funktion wird Differentiation oder Differenziation genannt; sprich, man differenziert diese Funktion. Um die Ableitung elementarer Funktionen (z. B. , , …) zu berechnen, hält man sich eng an die oben angegebene Definition, berechnet explizit einen Differenzenquotienten und lässt dann gegen Null gehen. Dieses Verfahren ist jedoch meistens umständlich. Bei der Lehre der Differentialrechnung wird diese Art der Rechnung daher nur wenige Male vollzogen. Später greift man auf bereits bekannte Ableitungsfunktionen zurück oder schlägt Ableitungen nicht ganz so geläufiger Funktionen in einem Tabellenwerk nach (z. B. im Bronstein-Semendjajew, siehe auch Tabelle von Ableitungs- und Stammfunktionen) und berechnet die Ableitung zusammengesetzter Funktionen mit Hilfe der Ableitungsregeln. Ableitungen elementarer Funktionen Für die Berechnung der Ableitungsfunktion einer elementaren Funktion an einer vorgesehenen Stelle wird der zugehörige Differenzenquotient gebildet, der in der Umgebung mit gültig ist, und dann wird der Grenzübergang vollzogen. Natürliche Potenzen Der Fall ist bereits weiter oben behandelt worden. Der zugehörige Differenzenquotient ergibt sich zu Wenn ist, lässt sich kürzen, und die Annäherung führt auf Allgemein für eine natürliche Zahl mit wird der binomische Lehrsatz herangezogen: Wenn für alle endlichen Werte von endlich ist, ist auch endlich. Der in der letzten Gleichung vor stehende Faktor führt auf . Damit entsteht Zwei Ergänzungen: Ein konstanter Summand in kürzt sich in heraus noch bevor der Grenzübergang vollzogen wird. Ein konstanter Faktor in kann in ausgeklammert und vor den Bruch gezogen werden. Exponentialfunktion Mit der Exponentialfunktion ergibt sich der Differenzenquotient Für jedes gilt Damit kann im Zähler ausgeklammert werden. Mit dem oben hergeleiteten Grenzübergang entsteht Darin ist der natürliche Logarithmus von . Speziell für die Eulersche Zahl ist . Damit entsteht die auszeichnende Zusatzeigenschaft Logarithmus Mit der Logarithmusfunktion zur Basis ergibt sich der Differenzenquotient Für jedes gilt Mit dem oben hergeleiteten Grenzübergang und mit der Basisumrechnung entsteht Dieses existiert nur für . Für existiert die Funktion . Mit der Substitution und der Kettenregel ergibt ihre Ableitung Beide Ableitungen können zusammengefasst werden für zu Speziell für den natürlichen Logarithmus gilt Sinus und Kosinus Mit der Sinusfunktion ergibt sich der Differenzenquotient Mit dem Additionstheorem gilt Mit dem oben hergeleiteten Grenzübergang und mit entsteht Für die Kosinusfunktion führt eine entsprechende Rechnung mit auf Weitere elementare Funktionen Mit den vorstehenden Ableitungen können Ableitungsfunktionen für weitere Funktionen aufgestellt werden. Dazu werden zusätzlich die Ableitungsregeln für die Grundrechenarten, die Kettenregel und die Umkehrregel benötigt. Allgemeine Potenzen Die Funktion ist bisher nur für als natürliche Zahl abgeleitet worden. Die Anwendbarkeit der zugehörigen Ableitungsregel lässt sich bei auf reelle Exponenten erweitern. Mit der Substitution ist Wird dieses mit der Kettenregel differenziert, so entsteht das bekannte Ergebnis: Eine Anwendung ist die Ableitung der Wurzelfunktion. Für gilt mit Der Fall betrifft die Quadratwurzel: Für gilt Tangens und Kotangens Mit Hilfe der Quotientenregel und den Ableitungsfunktionen für Sinus und Kosinus können auch die Ableitungsfunktionen für Tangens und Kotangens aufgestellt werden. Es gilt Dabei wurde die als „Trigonometrischer Pythagoras“ bezeichnete Formel verwendet. Ebenso wird gewonnen Arkussinus und Arkuskosinus Arkussinus und Arkuskosinus sind als Umkehrfunktionen von Sinus und Kosinus definiert. Die Ableitungen werden mittels der Umkehrregel berechnet. Setzt man , so folgt im Bereich Für den Arkuskosinus ergibt sich mit ebenso Arkustangens und Arkuskotangens Arkustangens und Arkuskotangens sind als Umkehrfunktionen von Tangens und Kotangens definiert. Setzt man , so folgt mittels der Umkehrregel Für den Arkuskotangens ergibt sich mit ebenso Zusammengesetzte Funktion Zusammengesetzte Funktionen lassen sich so weit strukturieren, bis sich zu jedem Strukturelement die jeweils zutreffende elementare Ableitungsregel finden lässt. Dazu gibt es die Summenregel, die Produktregel, die Quotientenregel und die Kettenregel. Da diese in eigenen Artikeln erläutert werden, wird hier nur ein Beispiel vorgestellt. {| | || mit || ist ableitbar nach als Potenz || |- | || mit || ist ableitbar nach als Summe mit einer Konstanten || |- | || mit || ist ableitbar nach als trigonometrische Funktion || |- | || || ist ableitbar nach als Potenz mit konstantem Faktor   || |} Nach der Kettenregel ergibt sich Zusammenfassung Hier werden die Ableitungsregeln elementarer und zusammengesetzter Funktionen zusammengefasst. Eine ausführliche Liste findet sich unter Tabelle von Ableitungs- und Stammfunktionen. Höhere Ableitungen Ist die Ableitung einer Funktion wiederum differenzierbar, so lässt sich die zweite Ableitung von als Ableitung der ersten definieren. Auf dieselbe Weise können dann auch dritte, vierte etc. Ableitungen definiert werden. Eine Funktion kann dementsprechend einmal differenzierbar, zweimal differenzierbar etc. sein. Ist die erste Ableitung eines Weges nach der Zeit eine Geschwindigkeit, so kann die zweite Ableitung als Beschleunigung und die dritte Ableitung als Ruck interpretiert werden. Wenn Politiker sich über den „Rückgang des Anstiegs der Arbeitslosenzahl“ äußern, dann sprechen sie von der zweiten Ableitung (Änderung des Anstiegs), um die Aussage der ersten Ableitung (Anstieg der Arbeitslosenzahl) zu relativieren. Höhere Ableitungen können auf verschiedene Weisen geschrieben werden: oder im physikalischen Fall (bei einer Ableitung nach der Zeit) Für die formale Bezeichnung beliebiger Ableitungen legt man außerdem und fest. Höhere Differentialoperatoren Ist eine natürliche Zahl und offen, so wird der Raum der in -mal stetig differenzierbaren Funktionen mit bezeichnet. Der Differentialoperator induziert damit eine Kette von linearen Abbildungen und damit allgemein für : Dabei bezeichnet den Raum der in stetigen Funktionen. Exemplarisch: Wird ein durch Anwenden von einmal abgeleitet, kann das Ergebnis im Allgemeinen nur noch -mal abgeleitet werden usw. Jeder Raum ist eine -Algebra, da nach der Summen- bzw. der Produktregel Summen und auch Produkte von -mal stetig differenzierbaren Funktionen wieder -mal stetig differenzierbar sind. Es gilt zudem die aufsteigende Kette von echten Inklusionen denn offenbar ist jede mindestens -mal stetig differenzierbare Funktion auch -mal stetig differenzierbar usw., jedoch zeigen die Funktionen exemplarisch Beispiele für Funktionen aus , wenn – was ohne Beschränkung der Allgemeinheit möglich ist – angenommen wird. Höhere Ableitungsregeln Leibnizsche Regel Die Ableitung -ter Ordnung für ein Produkt aus zwei -mal differenzierbaren Funktionen und ergibt sich aus . Die hier auftretenden Ausdrücke der Form sind Binomialkoeffizienten. Die Formel ist eine Verallgemeinerung der Produktregel. Formel von Faà di Bruno Diese Formel ermöglicht die geschlossene Darstellung der -ten Ableitung der Komposition zweier -mal differenzierbarer Funktionen. Sie verallgemeinert die Kettenregel auf höhere Ableitungen. Taylorformeln mit Restglied Ist eine in einem Intervall -mal stetig differenzierbare Funktion, dann gilt für alle und aus die sogenannte Taylorformel: mit dem -ten Taylorpolynom an der Entwicklungsstelle und dem -ten Restglied mit einem . Eine beliebig oft differenzierbare Funktion wird glatte Funktion genannt. Da sie alle Ableitungen besitzt, kann die oben angegebene Taylorformel zur Taylorreihe von mit Entwicklungspunkt erweitert werden: Es ist jedoch nicht jede glatte Funktion durch ihre Taylorreihe darstellbar, siehe unten. Glatte Funktionen Funktionen, die an jeder Stelle ihres Definitionsbereichs beliebig oft differenzierbar sind, bezeichnet man auch als glatte Funktionen. Die Menge aller in einer offenen Menge glatten Funktionen wird meist mit bezeichnet. Sie trägt die Struktur einer -Algebra (skalare Vielfache, Summen und Produkte glatter Funktionen sind wieder glatt) und ist gegeben durch wobei alle in -mal stetig differenzierbaren Funktionen bezeichnet. Häufig findet man in mathematischen Betrachtungen den Begriff hinreichend glatt. Damit ist gemeint, dass die Funktion mindestens so oft differenzierbar ist, wie es nötig ist, um den aktuellen Gedankengang durchzuführen. Analytische Funktionen Der obere Begriff der Glattheit kann weiter verschärft werden. Eine Funktion heißt reell analytisch, wenn sie sich in jedem Punkt lokal in eine Taylorreihe entwickeln lässt, also für alle und alle hinreichend kleinen Werte von . Analytische Funktionen haben starke Eigenschaften und finden besondere Aufmerksamkeit in der komplexen Analysis. Dort werden dementsprechend keine reell, sondern komplex analytischen Funktionen studiert. Ihre Menge wird meist mit bezeichnet und es gilt . Insbesondere ist jede analytische Funktion glatt, aber nicht umgekehrt. Die Existenz aller Ableitungen ist also nicht hinreichend dafür, dass die Taylorreihe die Funktion darstellt, wie das folgende Gegenbeispiel einer nicht analytischen glatten Funktion zeigt. Alle reellen Ableitungen dieser Funktion verschwinden in 0, aber es handelt sich nicht um die Nullfunktion. Daher wird sie an der Stelle 0 nicht durch ihre Taylorreihe dargestellt. Anwendungen Eine wichtige Anwendung der Differentialrechnung in einer Variablen ist die Bestimmung von Extremwerten, meist zur Optimierung von Prozessen, wie etwa im Kontext von Kosten, Material oder Energieaufwand. Die Differentialrechnung stellt eine Methode bereit, Extremstellen zu finden, ohne dabei unter Aufwand numerisch suchen zu müssen. Man macht sich zu Nutze, dass an einer lokalen Extremstelle notwendigerweise die erste Ableitung der Funktion gleich 0 sein muss. Es muss also gelten, wenn eine lokale Extremstelle ist. Allerdings bedeutet andersherum noch nicht, dass es sich bei um ein Maximum oder Minimum handelt. In diesem Fall werden mehr Informationen benötigt, um eine eindeutige Entscheidung treffen zu können, was meist durch Betrachten höherer Ableitungen bei möglich ist. Eine Funktion kann einen Maximal- oder Minimalwert haben, ohne dass die Ableitung an dieser Stelle existiert, jedoch kann in diesem Falle die Differentialrechnung nicht verwendet werden. Im Folgenden werden daher nur zumindest lokal differenzierbare Funktionen betrachtet. Als Beispiel nehmen wir die Polynomfunktion mit dem Funktionsterm Die Abbildung zeigt den Verlauf der Graphen von , und . Horizontale Tangenten Besitzt eine Funktion mit an einer Stelle ihren größten Wert, gilt also für alle dieses Intervalls , und ist an der Stelle differenzierbar, so kann die Ableitung dort nur gleich Null sein: . Eine entsprechende Aussage gilt, falls in den kleinsten Wert annimmt. Geometrische Deutung dieses Satzes von Fermat ist, dass der Graph der Funktion in lokalen Extrempunkten eine parallel zur -Achse verlaufende Tangente, auch waagerechte Tangente genannt, besitzt. Es ist somit für differenzierbare Funktionen eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer Extremstelle, dass die Ableitung an der betreffenden Stelle den Wert 0 annimmt: Umgekehrt kann aber daraus, dass die Ableitung an einer Stelle den Wert Null hat, noch nicht auf eine Extremstelle geschlossen werden, es könnte auch beispielsweise ein Sattelpunkt vorliegen. Eine Liste verschiedener hinreichender Kriterien, deren Erfüllung sicher auf eine Extremstelle schließen lässt, findet sich im Artikel Extremwert. Diese Kriterien benutzen meist die zweite oder noch höhere Ableitungen. Bedingung im Beispiel Im Beispiel ist Daraus folgt, dass genau für und gilt. Die Funktionswerte an diesen Stellen sind und , d. h., die Kurve hat in den Punkten und waagerechte Tangenten, und nur in diesen. Da die Folge abwechselnd aus kleinen und großen Werten besteht, muss in diesem Bereich ein Hoch- und ein Tiefpunkt liegen. Nach dem Satz von Fermat hat die Kurve in diesen Punkten eine waagerechte Tangente, es kommen also nur die oben ermittelten Punkte in Frage: Also ist ein Hochpunkt und ein Tiefpunkt. Kurvendiskussion Mit Hilfe der Ableitungen lassen sich noch weitere Eigenschaften der Funktion analysieren, wie die Existenz von Wende- und Sattelpunkten, die Konvexität oder die oben schon angesprochene Monotonie. Die Durchführung dieser Untersuchungen ist Gegenstand der Kurvendiskussion. Termumformungen Neben der Bestimmung der Steigung von Funktionen ist die Differentialrechnung durch ihren Kalkül ein wesentliches Hilfsmittel bei der Termumformung. Hierbei löst man sich von jeglichem Zusammenhang mit der ursprünglichen Bedeutung der Ableitung als Anstieg. Hat man zwei Terme als gleich erkannt, lassen sich durch Differentiation daraus weitere (gesuchte) Identitäten gewinnen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Aus der bekannten Partialsumme der geometrischen Reihe soll die Summe berechnet werden. Dies gelingt durch Differentiation mit Hilfe der Quotientenregel: Alternativ ergibt sich die Identität auch durch Ausmultiplizieren und anschließendes dreifaches Teleskopieren, was aber nicht so einfach zu durchschauen ist. Zentrale Aussagen der Differentialrechnung einer Variablen Fundamentalsatz der Analysis Die wesentliche Leistung Leibniz’ war die Erkenntnis, dass Integration und Differentiation zusammenhängen. Diese formulierte er im Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, auch Fundamentalsatz der Analysis genannt, der besagt: Ist ein Intervall, eine stetige Funktion und eine beliebige Zahl aus , so ist die Funktion stetig differenzierbar, und ihre Ableitung ist gleich . Hiermit ist also eine Anleitung zum Integrieren gegeben: Gesucht ist eine Funktion , deren Ableitung der Integrand ist. Dann gilt: Mittelwertsatz der Differentialrechnung Ein weiterer zentraler Satz der Differentialrechnung ist der Mittelwertsatz, der 1821 von Cauchy bewiesen wurde. Es sei eine Funktion, die auf dem abgeschlossenen Intervall (mit ) definiert und stetig ist. Außerdem sei die Funktion im offenen Intervall differenzierbar. Unter diesen Voraussetzungen gibt es mindestens ein , sodass gilt – geometrisch-anschaulich: Zwischen zwei Schnittpunkten einer Sekante gibt es auf der Kurve einen Punkt mit zur Sekante paralleler Tangente. Monotonie und Differenzierbarkeit Ist und eine differenzierbare Funktion mit für alle , so gelten folgende Aussagen: Die Funktion ist strikt monoton. Es ist mit irgendwelchen . Die Umkehrfunktion existiert, ist differenzierbar und erfüllt . Daraus lässt sich herleiten, dass eine stetig differenzierbare Funktion , deren Ableitung nirgends verschwindet, bereits einen Diffeomorphismus zwischen den Intervallen und definiert. In mehreren Variablen ist die analoge Aussage falsch. So verschwindet die Ableitung der komplexen Exponentialfunktion , nämlich sie selbst, in keinem Punkt, aber es handelt sich um keine (global) injektive Abbildung . Man beachte, dass diese als höherdimensionale reelle Funktion aufgefasst werden kann, da ein zweidimensionaler -Vektorraum ist. Allerdings liefert der Satz von Hadamard ein Kriterium, mit dem in manchen Fällen gezeigt werden kann, dass eine stetig differenzierbare Funktion ein Homöomorphismus ist. Die Regel von de L’Hospital Als eine Anwendung des Mittelwertsatzes lässt sich eine Beziehung herleiten, die es in manchen Fällen erlaubt, unbestimmte Terme der Gestalt oder zu berechnen. Seien differenzierbar und habe keine Nullstelle. Ferner gelte entweder oder . Dann gilt unter der Bedingung, dass der letzte Grenzwert in existiert. Differentialrechnung bei Funktionenfolgen und Integralen In vielen analytischen Anwendungen hat man es nicht mit einer Funktion , sondern mit einer Folge zu tun. Dabei muss geklärt werden, inwieweit sich der Ableitungsoperator mit Prozessen wie Grenzwerten, Summen oder Integralen verträgt. Grenzfunktionen Bei einer konvergenten, differenzierbaren Funktionenfolge ist es im Allgemeinen nicht möglich, Rückschlüsse auf den Grenzwert der Folge zu ziehen, selbst dann nicht, wenn gleichmäßig konvergiert. Die analoge Aussage in der Integralrechnung ist hingegen richtig: Bei gleichmäßiger Konvergenz können Limes und Integral vertauscht werden, zumindest dann, wenn die Grenzfunktion „gutartig“ ist. Aus dieser Tatsache kann zumindest Folgendes geschlossen werden: Sei eine Folge stetig differenzierbarer Funktionen, sodass die Folge der Ableitungen gleichmäßig gegen eine Funktion konvergiert. Es gelte außerdem, dass die Folge für mindestens einen Punkt konvergiert. Dann konvergiert bereits gleichmäßig gegen eine differenzierbare Funktion und es gilt . Vertauschen mit unendlichen Reihen Sei eine Folge stetig differenzierbarer Funktionen, sodass die Reihe konvergiert, wobei die Supremumsnorm bezeichnet. Konvergiert außerdem die Reihe für ein , dann konvergiert die Folge gleichmäßig gegen eine differenzierbare Funktion, und es gilt Das Resultat geht auf Karl Weierstraß zurück. Vertauschen mit Integration Es sei eine stetige Funktion, sodass die partielle Ableitung existiert und stetig ist. Dann ist auch differenzierbar, und es gilt Diese Regel wird auch als Leibnizsche Regel bezeichnet. Differentialrechnung über den komplexen Zahlen Bisher wurde nur von reellen Funktionen gesprochen. Alle behandelten Regeln lassen sich jedoch auf Funktionen mit komplexen Eingaben und Werten übertragen. Dies hat den Hintergrund, dass die komplexen Zahlen genau wie die reellen Zahlen einen Körper bilden, dort also Addition, Multiplikation und Division erklärt ist. Diese zusätzliche Struktur bildet den entscheidenden Unterschied zu einer Herangehensweise mehrdimensionaler reeller Ableitungen, wenn bloß als zweidimensionaler -Vektorraum aufgefasst wird. Ferner lassen sich die euklidischen Abstandsbegriffe der reellen Zahlen (siehe auch Euklidischer Raum) auf natürliche Weise auf komplexe Zahlen übertragen. Dies erlaubt eine analoge Definition und Behandlung der für die Differentialrechnung wichtigen Begriffe wie Folge und Grenzwert. Ist also offen, eine komplexwertige Funktion, so heißt an der Stelle komplex differenzierbar, wenn der Grenzwert existiert. Dieser wird mit bezeichnet und (komplexe) Ableitung von an der Stelle genannt. Es ist demnach möglich, den Begriff der Linearisierung ins Komplexe weiterzutragen: Die Ableitung ist die „Steigung“ der linearen Funktion, die bei optimal approximiert. Allerdings ist darauf zu achten, dass der Wert im Grenzwert nicht nur reelle, sondern auch komplexe Zahlen (nahe bei 0) annehmen kann. Dies hat zur Folge, dass der Terminus der komplexen Differenzierbarkeit wesentlich restriktiver ist als jener der reellen Differenzierbarkeit. Während im Reellen nur zwei Richtungen im Differenzenquotienten betrachtet werden mussten, sind es im Komplexen unendlich viele Richtungen, da diese keine Gerade, sondern eine Ebene aufspannen. So ist beispielsweise die Betragsfunktion nirgends komplex differenzierbar. Eine komplexe Funktion ist genau dann komplex differenzierbar in einem Punkt, wenn sie dort die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt und total differenzierbar ist. Trotz (bzw. gerade wegen) des viel einschränkenderen Begriffs der komplexen Differenzierbarkeit übertragen sich alle üblichen Rechenregeln der reellen Differentialrechnung in die komplexe Differentialrechnung. Dazu gehören die Ableitungsregeln, also zum Beispiel Summen-, Produkt- und Kettenregel, wie auch die Umkehrregel für inverse Funktionen. Viele Funktionen, wie Potenzen, die Exponentialfunktion oder der Logarithmus, haben natürliche Fortsetzungen in die komplexen Zahlen und besitzen weiterhin ihre charakteristischen Eigenschaften. Von diesem Gesichtspunkt her ist die komplexe Differentialrechnung mit ihrem reellen Analogon identisch. Wenn eine Funktion in ganz komplex differenzierbar ist, nennt man sie auch eine in holomorphe Funktion. Holomorphe Funktionen haben bedeutende Eigenschaften. So ist zum Beispiel jede holomorphe Funktion bereits (in jedem Punkt) beliebig oft differenzierbar. Die daraus aufkommende Klassifizierungfrage holomorpher Funktionen ist Gegenstand der Funktionentheorie. Es stellt sich heraus, dass im komplex-eindimensionalen Fall der Begriff holomorph äquivalent zum Begriff analytisch ist. Demnach ist jede holomorphe Funktion analytisch, und umgekehrt. Ist eine Funktion sogar in ganz holomorph, so nennt man sie ganz. Beispiele für ganze Funktionen sind die Potenzfunktionen mit natürlichen Zahlen sowie , und . Differentialrechnung mehrdimensionaler Funktionen Alle vorherigen Ausführungen legten eine Funktion in einer Variablen (also mit einer reellen oder komplexen Zahl als Argument) zugrunde. Funktionen, die Vektoren auf Vektoren oder Vektoren auf Zahlen abbilden, können ebenfalls eine Ableitung haben. Allerdings ist eine Tangente an den Funktionsgraph in diesen Fällen nicht mehr eindeutig bestimmt, da es viele verschiedene Richtungen gibt. Hier ist also eine Erweiterung des bisherigen Ableitungsbegriffs notwendig. Mehrdimensionale Differenzierbarkeit und die Jacobi-Matrix Richtungsableitung Es sei offen, eine Funktion, und ein (Richtungs-)Vektor. Aufgrund der Offenheit von gibt es ein mit für alle , weshalb die Funktion mit wohldefiniert ist. Ist diese Funktion in differenzierbar, so heißt ihre Ableitung Richtungsableitung von an der Stelle in der Richtung und wird meistens mit bezeichnet. Es gilt: Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Richtungsableitung und der Jacobi-Matrix. Ist differenzierbar, dann existiert und es gilt in einer Umgebung von : wobei die Schreibweise das entsprechende Landau-Symbol bezeichnet. Es werde als Beispiel eine Funktion betrachtet, also ein Skalarfeld. Diese könnte eine Temperaturfunktion sein: In Abhängigkeit vom Ort wird die Temperatur im Zimmer gemessen, um zu beurteilen, wie effektiv die Heizung ist. Wird das Thermometer in eine bestimmte Raumrichtung bewegt, ist eine Veränderung der Temperatur festzustellen. Dies entspricht genau der entsprechenden Richtungsableitung. Partielle Ableitungen Die Richtungsableitungen in spezielle Richtungen , nämlich in die der Koordinatenachsen mit der Länge , nennt man die partiellen Ableitungen. Insgesamt lassen sich für eine Funktion in Variablen partielle Ableitungen errechnen: Die einzelnen partiellen Ableitungen einer Funktion lassen sich auch gebündelt als Gradient oder Nablavektor anschreiben: Meist wird der Gradient als Zeilenvektor (also „liegend“) geschrieben. In manchen Anwendungen, besonders in der Physik, ist jedoch auch die Schreibweise als Spaltenvektor (also „stehend“) üblich. Partielle Ableitungen können selbst differenzierbar sein und ihre partiellen Ableitungen lassen sich dann in der sogenannten Hesse-Matrix anordnen. Totale Differenzierbarkeit Eine Funktion mit , wobei eine offene Menge ist, heißt in einem Punkt total differenzierbar (oder auch nur differenzierbar, manchmal auch Fréchet-differenzierbar), falls eine lineare Abbildung existiert, sodass gilt. Für den eindimensionalen Fall stimmt diese Definition mit der oben angegebenen überein. Die lineare Abbildung ist bei Existenz eindeutig bestimmt, ist also insbesondere unabhängig von der Wahl äquivalenter Normen. Die Tangente wird daher durch die lokale Linearisierung der Funktion abstrahiert. Die Matrixdarstellung der ersten Ableitung von nennt man Jacobi-Matrix. Es handelt sich um eine -Matrix. Für erhält man den weiter oben beschriebenen Gradienten. Zwischen den partiellen Ableitungen und der totalen Ableitung besteht folgender Zusammenhang: Existiert in einem Punkt die totale Ableitung, so existieren dort auch alle partiellen Ableitungen. In diesem Fall stimmen die partiellen Ableitungen mit den Koeffizienten der Jacobi-Matrix überein: Umgekehrt folgt aus der Existenz der partiellen Ableitungen in einem Punkt nicht zwingend die totale Differenzierbarkeit, ja nicht einmal die Stetigkeit. Sind die partiellen Ableitungen jedoch zusätzlich in einer Umgebung von stetig, dann ist die Funktion in auch total differenzierbar. Rechenregeln der mehrdimensionalen Differentialrechnung Kettenregel Es seien und offen sowie und in bzw. differenzierbar, wobei . Dann ist mit in differenzierbar mit Jacobi-Matrix Mit anderen Worten, die Jacobi-Matrix der Komposition ist das Produkt der Jacobi-Matrizen von und . Es ist zu beachten, dass die Reihenfolge der Faktoren im Gegensatz zum klassischen eindimensionalen Fall eine Rolle spielt. Produktregel Mit Hilfe der Kettenregel kann die Produktregel auf reellwertige Funktionen mit höherdimensionalem Definitionsbereich verallgemeinert werden. Ist offen und sind beide in differenzierbar, so folgt oder in der Gradientenschreibweise Funktionenfolgen Sei offen. Es bezeichne eine Folge stetig differenzierbarer Funktionen , sodass es Funktionen und gibt (dabei ist der Raum der linearen Abbildungen von nach ), sodass Folgendes gilt: konvergiert punktweise gegen , konvergiert lokal gleichmäßig gegen . Dann ist stetig differenzierbar auf und es gilt . Implizite Differentiation Ist eine Funktion durch eine implizite Gleichung gegeben, so folgt aus der mehrdimensionalen Kettenregel, die für Funktionen mehrerer Variablen gilt, Für die Ableitung der Funktion ergibt sich daher mit und Zentrale Sätze der Differentialrechnung mehrerer Veränderlicher Satz von Schwarz Die Differentiationsreihenfolge ist bei der Berechnung partieller Ableitungen höherer Ordnung unerheblich, wenn alle partiellen Ableitungen bis zu dieser Ordnung (einschließlich) stetig sind. Dies bedeutet konkret: Ist offen und die Funktion zweimal stetig differenzierbar (d. h., alle zweifachen partiellen Ableitungen existieren und sind stetig), so gilt für alle und : Der Satz wird falsch, wenn die Stetigkeit der zweifachen partiellen Ableitungen weggelassen wird. Satz von der impliziten Funktion Der Satz von der impliziten Funktion besagt, dass Funktionsgleichungen auflösbar sind, falls die Jacobi-Matrix bezüglich bestimmter Variablen lokal invertierbar ist. Mittelwertsatz Über den höherdimensionalen Mittelwertsatz gelingt es, eine Funktion entlang einer Verbindungsstrecke abzuschätzen, wenn die dortigen Ableitungen bekannt sind. Seien offen und differenzierbar. Gegeben seien zudem zwei Punkte , sodass die Verbindungsstrecke eine Teilmenge von ist. Dann postuliert der Mittelwertsatz die Ungleichung: Eine präzisere Aussage ist indes für den Fall reellwertiger Funktionen in mehreren Veränderlichen möglich, siehe auch Mittelwertsatz für reellwertige Funktionen mehrerer Variablen. Höhere Ableitungen im Mehrdimensionalen Auch im Fall höherdimensionaler Funktionen können höhere Ableitungen betrachtet werden. Die Konzepte haben jedoch einige starke Unterschiede zum klassischen Fall, die besonders im Falle mehrerer Veränderlicher in Erscheinung treten. Bereits die Jacobi-Matrix lässt erkennen, dass die Ableitung einer höherdimensionalen Funktion an einer Stelle nicht mehr die gleiche Gestalt wie der dortige Funktionswert haben muss. Wird nun die erste Ableitung erneut abgeleitet, so ist die erneute „Jacobi-Matrix“ im Allgemeinen ein noch umfangreicheres Objekt. Für dessen Beschreibung ist das Konzept der multilinearen Abbildungen bzw. des Tensors erforderlich. Ist , so ordnet jedem Punkt eine -Matrix (lineare Abbildung von nach ) zu. Induktiv definiert man für die höheren Ableitungen wobei der Raum der -multilinearen Abbildungen von nach bezeichnet. Analog wie im eindimensionalen Fall definiert man die Räume der -mal stetig differenzierbaren Funktionen auf durch , und die glatten Funktion via Auch die Konzepte der Taylor-Formeln und der Taylorreihe lassen sich auf den höherdimensionalen Fall verallgemeinern, siehe auch Taylor-Formel im Mehrdimensionalen bzw. mehrdimensionale Taylorreihe. Anwendungen Fehlerrechnung Ein Anwendungsbeispiel der Differentialrechnung mehrerer Veränderlicher betrifft die Fehlerrechnung, zum Beispiel im Kontext der Experimentalphysik. Während man im einfachsten Falle die zu bestimmende Größe direkt messen kann, wird es meistens der Fall sein, dass sie sich durch einen funktionalen Zusammenhang aus einfacher zu messenden Größen ergibt. Typischerweise hat jede Messung eine gewisse Unsicherheit, die man durch Angabe des Messfehlers zu quantifizieren versucht. Bezeichnet zum Beispiel mit das Volumen eines Quaders, so könnte das Ergebnis experimentell ermittelt werden, indem man Länge , Breite und Höhe einzeln misst. Treten bei diesen die Fehler , und auf, so gilt für den Fehler in der Volumenberechnung: Allgemein gilt, dass wenn eine zu messende Größe funktional von einzeln gemessenen Größen durch abhängt und bei deren Messungen jeweils die Fehler entstehen, der Fehler der daraus errechneten Größe ungefähr bei liegen wird. Dabei bezeichnet der Vektor die exakten Terme der einzelnen Messungen. Lösungsnäherung von Gleichungssystemen Viele höhere Gleichungssysteme lassen sich nicht algebraisch geschlossen lösen. In manchen Fällen kann man aber zumindest eine ungefähre Lösung ermitteln. Ist das System durch gegeben, mit einer stetig differenzierbaren Funktion , so konvergiert die Iterationsvorschrift unter gewissen Voraussetzungen gegen eine Nullstelle. Dabei bezeichnet das Inverse der Jacobi-Matrix zu . Der Prozess stellt eine Verallgemeinerung des klassischen eindimensionalen Newton-Verfahrens dar. Aufwendig ist allerdings die Berechnung dieser Inversen in jedem Schritt. Unter Verschlechterung der Konvergenzrate kann in manchen Fällen die Modifikation statt vorgenommen werden, womit nur eine Matrix invertiert werden muss. Extremwertaufgaben Auch für die Kurvendiskussion von Funktionen ist die Auffindung von Minima bzw. Maxima, zusammengefasst Extrema, ein wesentliches Anliegen. Die mehrdimensionale Differentialrechnung liefert Möglichkeiten, diese zu bestimmen, sofern die betrachtete Funktion zweimal stetig differenzierbar ist. Analog zum Eindimensionalen besagt die notwendige Bedingung für die Existenz für Extrema, dass im besagten Punkt alle partiellen Ableitungen 0 sein müssen, also für alle . Dieses Kriterium ist nicht hinreichend, dient aber dazu, diese kritischen Punkte als mögliche Kandidaten für Extrema zu ermitteln. Unter Bestimmung der Hesse-Matrix, der zweiten Ableitung, kann anschließend in manchen Fällen entschieden werden, um welche Art Extremstelle es sich handelt. Im Gegensatz zum Eindimensionalen ist die Formenvielfalt kritischer Punkte größer. Mittels einer Hauptachsentransformation, also einer detaillierten Untersuchung der Eigenwerte, der durch eine mehrdimensionale Taylor-Entwicklung im betrachteten Punkt gegebenen quadratischen Form lassen sich die verschiedenen Fälle klassifizieren. Optimierung unter Nebenbedingungen Häufig ist bei Optimierungsproblemen die Zielfunktion lediglich auf einer Teilmenge zu minimieren, wobei durch sog. Nebenbedingungen bzw. Restriktionen bestimmt ist. Ein Verfahren, das zur Lösung solcher Probleme herangezogen werden kann, ist die Lagrangesche Multiplikatorregel. Diese nutzt die mehrdimensionale Differentialrechnung und lässt sich sogar auf Ungleichungsnebenbedingungen ausweiten. Beispiel aus der Mikroökonomie In der Mikroökonomie werden beispielsweise verschiedene Arten von Produktionsfunktionen analysiert, um daraus Erkenntnisse für makroökonomische Zusammenhänge zu gewinnen. Hier ist vor allem das typische Verhalten einer Produktionsfunktion von Interesse: Wie reagiert die abhängige Variable Output (z. B. Output einer Volkswirtschaft), wenn die Inputfaktoren (hier: Arbeit und Kapital) um eine infinitesimal kleine Einheit erhöht werden? Ein Grundtyp einer Produktionsfunktion ist etwa die neoklassische Produktionsfunktion. Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass der Output bei jedem zusätzlichen Input steigt, dass aber die Zuwächse abnehmend sind. Es sei beispielsweise für eine Volkswirtschaft die Cobb-Douglas-Funktion mit maßgebend. Zu jedem Zeitpunkt wird in der Volkswirtschaft unter dem Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital mithilfe eines gegebenen Technologielevels Output produziert. Die erste Ableitung dieser Funktion nach den Produktionsfaktoren ergibt: . Da die partiellen Ableitungen aufgrund der Beschränkung nur positiv werden können, sieht man, dass der Output bei einer Erhöhung der jeweiligen Inputfaktoren steigt. Die partiellen Ableitungen 2. Ordnung ergeben: . Sie werden für alle Inputs negativ sein, also fallen die Zuwachsraten. Man könnte also sagen, dass bei steigendem Input der Output unterproportional steigt. Die relative Änderung des Outputs im Verhältnis zu einer relativen Änderung des Inputs ist hier durch die Elastizität gegeben. Vorliegend bezeichnet die Produktionselastizität des Kapitals, die bei dieser Produktionsfunktion dem Exponenten entspricht, der wiederum die Kapitaleinkommensquote repräsentiert. Folglich steigt der Output bei einer infinitesimal kleinen Erhöhung des Kapitals um die Kapitaleinkommensquote. Weiterführende Theorien Differentialgleichungen Eine wichtige Anwendung der Differentialrechnung besteht in der mathematischen Modellierung physikalischer Vorgänge. Wachstum, Bewegung oder Kräfte haben alle mit Ableitungen zu tun, ihre formelhafte Beschreibung muss also Differentiale enthalten. Typischerweise führt dies auf Gleichungen, in denen Ableitungen einer unbekannten Funktion auftauchen, sogenannte Differentialgleichungen. Beispielsweise verknüpft das newtonsche Bewegungsgesetz die Beschleunigung eines Körpers mit seiner Masse und der auf ihn einwirkenden Kraft . Das Grundproblem der Mechanik lautet deshalb, aus einer gegebenen Beschleunigung die Ortsfunktion eines Körpers herzuleiten. Diese Aufgabe, eine Umkehrung der zweifachen Differentiation, hat die mathematische Gestalt einer Differentialgleichung zweiter Ordnung. Die mathematische Schwierigkeit dieses Problems rührt daher, dass Ort, Geschwindigkeit und Beschleunigung Vektoren sind, die im Allgemeinen nicht in die gleiche Richtung zeigen, und dass die Kraft von der Zeit und vom Ort abhängen kann. Da viele Modelle mehrdimensional sind, sind bei der Formulierung häufig die weiter oben erklärten partiellen Ableitungen sehr wichtig, mit denen sich partielle Differentialgleichungen formulieren lassen. Mathematisch kompakt werden diese mittels Differentialoperatoren beschrieben und analysiert. Differentialgeometrie Zentrales Thema der Differentialgeometrie ist die Ausdehnung der klassischen Analysis auf höhere geometrische Objekte. Diese sehen lokal so aus wie zum Beispiel der euklidische Raum , können aber global eine andere Gestalt haben. Der Begriff hinter diesem Phänomen ist die Mannigfaltigkeit. Mit Hilfe der Differentialgeometrie werden Fragestellungen über die Natur solcher Objekte studiert – zentrales Werkzeug ist weiterhin die Differentialrechnung. Gegenstand der Untersuchung sind oftmals die Abstände zwischen Punkten oder die Volumina von Figuren. Beispielsweise kann mit ihrer Hilfe der kürzestmögliche Weg zwischen zwei Punkten auf einer gekrümmten Fläche bestimmt und gemessen werden, die sogenannte Geodätische. Für die Messung von Volumina wird der Begriff der Differentialform benötigt. Differentialformen erlauben unter anderem eine koordinatenunabhängige Integration. Sowohl die theoretischen Ergebnisse als auch Methoden der Differentialgeometrie haben bedeutende Anwendungen in der Physik. So beschrieb Albert Einstein seine Relativitätstheorie mit differentialgeometrischen Begriffen. Verallgemeinerungen In vielen Anwendungen ist es wünschenswert, Ableitungen auch für stetige oder sogar unstetige Funktionen bilden zu können. So kann beispielsweise eine sich am Strand brechende Welle durch eine partielle Differentialgleichung modelliert werden, die Funktion der Höhe der Welle ist aber noch nicht einmal stetig. Zu diesem Zweck verallgemeinerte man Mitte des 20. Jahrhunderts den Ableitungsbegriff auf den Raum der Distributionen und definierte dort eine schwache Ableitung. Eng verbunden damit ist der Begriff des Sobolew-Raums. Der Begriff der Ableitung als Linearisierung lässt sich analog auf Funktionen zwischen zwei normierbaren topologischen Vektorräumen und übertragen (s. Hauptartikel Fréchet-Ableitung, Gâteaux-Differential, Lorch-Ableitung): heißt in Fréchet-differenzierbar, wenn ein stetiger linearer Operator existiert, sodass . Eine Übertragung des Begriffes der Ableitung auf andere Ringe als und (und Algebren darüber) führt zur Derivation. Siehe auch Formelsammlung Analysis Literatur Differentialrechnung ist ein zentraler Unterrichtsgegenstand in der Sekundarstufe II und wird somit in allen Mathematik-Lehrbüchern dieser Stufe behandelt. Lehrbücher für Mathematik-Studierende Henri Cartan: Differentialrechnung. Bibliographisches Institut, Mannheim 1974, ISBN 3-411-01442-3. Henri Cartan: Differentialformen. Bibliographisches Institut, Mannheim 1974, ISBN 3-411-01443-1. Henri Cartan: Elementare Theorien der analytischen Funktionen einer und mehrerer komplexen Veränderlichen. Bibliographisches Institut, Mannheim 1966, 1981, ISBN 3-411-00112-7. Richard Courant: Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung. 2 Bände. Springer 1928, 4. Auflage 1971, ISBN 3-540-02956-7. Jean Dieudonné: Grundzüge der modernen Analysis. Band 1. Vieweg, Braunschweig 1972, ISBN 3-528-18290-3. Gregor M. Fichtenholz: Differential- und Integralrechnung I–III. Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main 1990–2004, ISBN 978-3-8171-1418-4 (kompletter Satz). Otto Forster: Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einer Veränderlichen. 7. Auflage. Vieweg, Braunschweig 2004, ISBN 3-528-67224-2. Otto Forster: Analysis 2. Differentialrechnung im . Gewöhnliche Differentialgleichungen. 6. Auflage. Vieweg, Braunschweig 2005, ISBN 3-528-47231-6. Konrad Königsberger: Analysis. 2 Bände. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-41282-4. Wladimir I. Smirnow: Lehrgang der höheren Mathematik (Teil 1–5). Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 1995–2004, ISBN 978-3-8171-1419-1 (kompletter Satz). Steffen Timmann: Repetitorium der Analysis. 2 Bände. Binomi, Springe 1993, ISBN 3-923923-50-3, ISBN 3-923923-52-X. Serge Lang: A First Course in Calculus. Fifth Edition, Springer, ISBN 0-387-96201-8. Lehrbücher für das Grundlagenfach Mathematik Rainer Ansorge, Hans Joachim Oberle: Mathematik für Ingenieure. Band 1. Akademie-Verlag, Berlin 1994, 3. Auflage 2000, ISBN 3-527-40309-4. Günter Bärwolff (unter Mitarbeit von G. Seifert): Höhere Mathematik für Naturwissenschaftler und Ingenieure. Elsevier Spektrum Akademischer Verlag, München 2006, ISBN 3-8274-1688-4. Lothar Papula: Mathematik für Naturwissenschaftler und Ingenieure. Band 1. Vieweg, Wiesbaden 2004, ISBN 3-528-44355-3. Klaus Weltner: Mathematik für Physiker 1. Springer, Berlin 2011, ISBN 978-3-642-15527-7. Peter Dörsam: Mathematik anschaulich dargestellt für Studierende der Wirtschaftswissenschaften. 15. Auflage. PD-Verlag, Heidenau 2010, ISBN 978-3-86707-015-7. Weblinks Tool zur Bestimmung von Ableitungen beliebiger Funktionen mit einer oder mehreren Variablen mit Rechenweg (deutsch; benötigt JavaScript) Online-Rechner zum Ableiten von Funktionen mit Rechenweg und Erklärungen (deutsch) Anschauliche Erklärung von Ableitungen Beispiele zu jeder Ableitungsregel Einzelnachweise Analysis
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https://de.wikipedia.org/wiki/Toronto
Toronto
Toronto (englische Aussprache []; regional auch oder []) ist mit 2,96 Millionen Einwohnern die größte Stadt Kanadas und die Hauptstadt der Provinz Ontario. Sie liegt im Golden Horseshoe (Goldenes Hufeisen), einer Region mit über 8,1 Millionen Einwohnern, die sich halbkreisförmig um das westliche Ende des Ontariosees bis zu den Niagarafällen erstreckt. Rund ein Drittel der Bevölkerungszunahme des ganzen Landes lebte in den letzten Jahren in diesem Großraum. Die Einwohnerzahl der Metropolregion (Census Metropolitan Area) stieg von 4,1 Millionen im Jahr 1992 auf 5,6 Millionen im Jahr 2011. Die Greater Toronto Area hatte 2010 über 6,2 Millionen Einwohner. Die Stadt liegt am nordwestlichen Ufer des Ontariosees, dem mit 18.960 km² Fläche kleinsten der fünf Großen Seen. Durch die Eingemeindung einer Reihe von Vorstädten, die bereits mit Toronto verschmolzen waren (Etobicoke, Scarborough, York, East York und North York), wurde Toronto Ende der 1990er Jahre mehrfach vergrößert. Das Zentrum mit dem Einkaufs- und Bankendistrikt befindet sich in der Nähe des Sees. Die Haupteinkaufsstraße ist die Yonge Street. Toronto ist seit ungefähr den 1970er Jahren, nachdem Montreal über Jahrzehnte hinweg diese Rolle zugefallen war, Kanadas Wirtschaftszentrum und weltweit einer der führenden Finanzplätze. Geographie Lage Toronto liegt am Nordwestufer des Ontariosees und ist Teil des Québec-Windsor-Korridors, des am dichtesten besiedelten Gebiets Kanadas. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft liegen westlich die Orte Mississauga und Brampton, die zur Regional Municipality of Peel gezählt werden. Etwas weiter im Osten befindet sich die Regional Municipality of Halton mit ihrem Hauptsitz in Milton. Im Norden liegen Vaughan und Markham (Regional Municipality of York). Im Osten liegt die Stadt Pickering, die zur Regional Municipality of Durham gehört. Zur Metropolregion Greater Toronto Area (GTA) gehören außer dem Stadtgebiet diese vier Regionalverwaltungen (Regional Municipality). Das Stadtgebiet umfasst eine Fläche von 630,18 km² und erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung auf 21 und in Ost-West-Richtung auf 43 Kilometern. Die Fläche ist etwas kleiner als die von Hamburg (755 km²). Die Stadtgrenze bildet im Süden der Ontariosee, im Westen der Etobicoke Creek und der Highway 427, im Norden die Steeles Avenue und im Osten der Rouge River. Das Hafengebiet am Ufer des Sees bildet eine Küstenlinie von insgesamt 46 Kilometern Länge. Nördlich des Stadtgebiets erstreckt sich von der Niagara-Schichtstufe bis etwa nach Peterborough das rund 1900 km² umfassende Gebiet der Oak Ridges-Moräne, ein ökologisch bedeutsamer Grünzug. Topographie Toronto wird vom Humber River am westlichen Rand, vom Don River östlich der Downtown auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens und von zahlreichen Nebenflüssen durchflossen. Der Naturhafen hat sich durch Sedimentation herausgebildet, die auch die Toronto Islands entstehen ließ. Die Vielzahl von Bächen und Flüssen, die von Norden her durch das Gebiet fließen und in den Ontariosee münden, haben zahlreiche bewaldete Schluchten geschaffen. Diese Schluchten beeinflussen die Stadtplanung derart, dass manche Verkehrsstraßen wie die Finch Avenue, die Leslie Street, die Lawrence Avenue und die St. Clair Avenue auf der einen Seite der Schlucht enden und sich auf der anderen fortsetzen. Der fast 500 Meter lange Prince Edward Viaduct überspannt die vom Don River gebildete 40 Meter tiefe Schlucht. Während der letzten Eiszeit lag der niedrigere Teil des Stadtgebietes unter dem Glacial Lake Iroquois, einem Eisstausee. Geländeabbrüche, die auf diese Zeit zurückgehen, sind von der östlich der Stadtmitte verlaufenden Victoria Park Avenue an der Mündung des Highland Creek zu erkennen. Die Scarborough Bluffs sind schroffe Felsklippen bis zu einer Höhe von 65 Metern auf einer Länge von 14 Kilometern entlang der Uferlinie des Ontariosees. Toronto hat keine nennenswerten Erhebungen. Der niedrigste Punkt liegt am Ufer des Ontariosees auf 75 Metern über dem Meeresspiegel, der höchste auf 270 Metern nahe der York University im Norden der Stadt. Wasserversorgung Die Wasserwirtschaft Torontos basiert, ebenso wie die der Region York, auf dem Ontariosee. Von 1843 bis 1873 stellte ein privates Unternehmen die Wasserversorgung sicher, seit 1873 übernimmt die städtische Verwaltung diese Aufgabe. Sie lässt heute durchschnittlich 2,9 Millionen Kubikmeter Wasser pro Tag durch das Versorgungsnetz pumpen. Seit 1949 haben die Stahlrohre mindestens einen Durchmesser von 750 mm und sind mit Zement und Beton eingeschlossen. Da der See genügend Wasser führt, kommt Toronto mit wenigen Reservoiren aus. Der Großteil des Wassers wird im Leitungssystem selbst gelagert. Toronto hat mit dem DLWC-Projekt ein neues Verfahren für die Klimatisierung von Bürogebäuden entwickelt. Da die Wassertemperatur am Grund des sehr tiefen Ontariosees das ganze Jahr über konstant bei vier Grad Celsius liegt, lässt es sich zur Kühlung der Innenstadt verwenden. Klima Aufgrund seiner Lage im äußersten Süden Kanadas herrscht in Toronto ein für das Land sehr moderates Klima (effektive Klimaklassifikation: Dfa). Die vier Jahreszeiten sind sehr ausgeprägt mit beträchtlichen Temperaturunterschieden, besonders in den kalten Monaten. Aufgrund der Nähe zum Wasser schwanken die Temperaturen besonders in dicht bebauten und ufernahen Gebieten tagsüber wenig. In bestimmten Zeiten des Jahres kann das mäßigende Klima des Sees in extreme lokale und regionale Wettersituationen umschwenken, wie beispielsweise den sogenannten Lake effect snow, der den Frühlingsbeginn hinauszögert und für herbstliche Bedingungen sorgt. Die Winter in Toronto sind kalt, mit kurzen Phasen, die extreme Temperaturen von unter −10 °C mit sich bringen, die durch den Wind als noch kälter empfunden werden. Die tiefste Temperatur wurde am 10. Januar 1859 mit −32,8 °C gemessen. Mit Schnee muss in Toronto von November bis Mitte April gerechnet werden. Neben Schneestürmen und Eisregen sind milde Abschnitte mit Temperaturen zwischen 5 und 14 °C möglich. Die Sommer sind durch lange Phasen feuchten Klimas charakterisiert. Die durchschnittliche Tagestemperatur variiert zwischen 20 und 29 °C. Sie kann jedoch auch bis 35 °C ansteigen. Die höchste gemessene Temperatur betrug am 8. Juli 1936 40,6 °C. Herbst und Frühling überbrücken die Hauptjahreszeiten mit milden bzw. kühlen Temperaturen und wechselnden Trocken- und Feuchtperioden. Die Niederschläge verteilen sich auf das ganze Jahr. Der Schwerpunkt liegt für gewöhnlich im Sommer, der feuchtesten Jahreszeit; der Großteil des Niederschlags fällt in Gewittern. Durchschnittlich beträgt die jährliche Gesamt-Schneehöhe 133 Zentimeter. Die größte Schneemenge wurde am 11. Dezember 1944 mit 48,3 Zentimeter Höhe gemessen. Die jährliche Sonnenscheindauer beträgt im Durchschnitt 2038 Stunden. Stadtgliederung Siehe auch: Liste der Ortsteile von Toronto Aufgrund der Diversität und in vielen Fällen auch recht ausgeprägten Identität von Torontos zahlreichen Stadtteilen wird die Stadt mitunter als City of Neighbourhoods („Stadt der Stadtteile“) bezeichnet. Bis zu 240 Teile hatte das Alte Toronto (englisch: Old City of Toronto) oder Downtown bis 1997, als es in Metropolitan Toronto eingegliedert wurde. Die Old City ist der am dichtesten besiedelte davon; in ihr befindet sich auch das Geschäfts- und Verwaltungszentrum. Seit dem 1. Januar 1998 besteht die Metropole aus den sechs Stadtbezirken (Gemeinden) Old Toronto (untergliedert in Downtown Core (Central), North End, East End, West End), North York, Scarborough, Etobicoke, York und East York, die wiederum in insgesamt 140 Stadtteile (englisch: neighbourhoods, hier: „Viertel“ oder „Wohngegenden“) untergliedert sind. Die 140 Stadtteile werden in insgesamt 44 Verwaltungsbezirke (englisch ward) zusammengefasst, denen ein Ratsherr (englisch councillor) vorsteht. Für Sitzungen werden die 44 Wards in die vier Gemeinderäte Etobicoke York Council, North York Community Council, Toronto and East York Community Council und Scarborough Community Council gegliedert. Die Community Councils wurden 1997 im Rahmen der Neugliederung geschaffen und bilden ein Gremium des City Council. Die Aufgabe der Gemeinderäte besteht darin, dem Stadtrat Vorschläge zu unterbreiten, sofern diese ihre Stadtteile betreffen. Geschichte Voreuropäische Besiedlung Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung im Raum der heutigen Stadt Toronto sind 11.000 Jahre alt. Prä-indianische Völker zogen nach der letzten Eiszeit von Süden an das Nordufer des Ontariosees. Die Wyandot nannten den Ort Tarantua, abgeleitet von tkaronto aus der Sprache der Mohawk, die zu den Irokesen gehören. Es bedeutet Ort, an dem Bäume am Wasser stehen und später Ort der Zusammenkünfte oder Treffpunkt. Die Bezeichnung geht auf den Lake Simcoe, an dem die Wyandot Bäume pflanzten und fischten und auf eine viel genutzte Portageroute vom Lake Simcoe zum Lake Huron (Toronto Carrying-Place Trail) zurück. Das heutige Stadtgebiet war die Heimat einer Reihe von First Nations, die am Ufer des Ontariosees lebten. Zu Beginn der europäischen Besiedlung lebten in der Nähe von Toronto die Neutralen, die die Franzosen so nannten, weil sie sich zu dieser Zeit aus den Kriegen heraushielten. Sie wurden Mitte des 17. Jahrhunderts von den Irokesen vernichtet. Daher lebten im Großraum Toronto Seneca, Mohawk, Oneida und Cayuga, die zu den Irokesen zählten. Unmittelbare Nachbarn waren die Senecadörfer Teiaiagon und Ganatsekwyagon. Europäische Entdeckung und Besiedlung Französische Handelskaufleute gründeten an der Stelle des heutigen Exhibition Place 1750 Fort Rouillé, das bereits 1759 wieder abgerissen wurde. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges strömten britische Siedler in die Region. 1787 kam der sogenannte Toronto Purchase zu Stande, eine Vereinbarung zwischen der britischen Monarchie und der Mississaugas of the New Credit First Nation. Dabei tauschte die Mississaugas of New Credit 101.528 Hektar Land im Gebiet des heutigen Toronto gegen 140 Barrel an Gütern und 1700 britische Pfund. Dieser Handel wurde jedoch 1805 wieder rückgängig gemacht. Im 18. Jahrhundert nutzten die Pelzjäger den Treffpunkt recht erfolgreich für ihre Geschäfte, bis der britische Gouverneur Simcoe den wirtschaftlichen Umschlagplatz in ein Fort umbauen ließ und damit 1793 York gründete. Die Siedlung entwickelte sich nur langsam; der damalige Regierungssitz von Oberkanada war noch in Niagara-on-the-Lake. (→ Geschichte Ontarios) Erst 1797 wurde York Hauptstadt Oberkanadas. Während des Britisch-Amerikanischen Krieges kam es am 27. April 1813 zur Schlacht von York zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten. Rund 1700 Amerikaner fielen in York ein. Der sechsstündige Kampf endete, nachdem die britische Seite ihr Munitionslager in die Luft gesprengt und sich nach Kingston zurückgezogen hatte. Nach der für beide Seiten verlustreichen Schlacht besetzten die Amerikaner sechs Tage lang York. Dass sie sich nicht dauerhaft behaupten konnten, wird als ein Grund dafür gesehen, dass sich die Briten in Kanada halten konnten. In der Folge kam es zu weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen, die erst 1815 endeten. (→ Krieg und Einfluss mit den USA) Nach der Umbenennung von York in Toronto König Georg IV. gründete am 15. März 1827 das heute als University of Toronto bekannte King’s College, mit dem die Stadt weiter an Bedeutung gewann, nachdem bereits 1819 eine Bank geöffnet hatte, die Bank of Upper Canada, die bis 1866 bestand. Im Jahr 1832 wechselte der Regierungssitz Oberkanadas von Kingston nach York. Am 6. März 1834 wurde York zur besseren Unterscheidung von New York in Toronto umbenannt. Erster Bürgermeister wurde im selben Jahr William Lyon Mackenzie. Er war ein radikaler Reformer in Oberkanada. Dies gipfelte am 5. Dezember 1837 darin, dass er Rebellen gegen die Provinzregierung führte. Doch zwei Tage später musste er sich mit seinen Gefolgsleuten ergeben. Am 10. Februar 1841 entstand aus den britischen Kolonien Niederkanada und Oberkanada die Provinz Kanada, deren Hauptstadt 1849 bis 1852 und 1856 bis 1858 Toronto war. Mit der Gründung der kanadischen Konföderation am 1. Juli 1867 bildete sich die Provinz Ontario, deren Hauptstadt von Beginn an Toronto war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in der Stadt die Industrialisierung. So wurde am 19. Dezember 1846 von Toronto aus auch Kanadas erste telegrafische Nachricht verschickt, Ziel war das rund 60 Kilometer entfernte Hamilton. Zehn Jahre später, am 27. Oktober 1856, wurde die Eisenbahnverbindung zwischen Toronto und Montreal eröffnet. 1861 verkehrten die ersten Straßenbahnen entlang der Yonge Street, der King Street und der Queen Street. Um den wachsenden Bedarf zu decken, verkehrten vor der Elektrifizierung der öffentlichen Nahverkehrsmittel über 200 Straßenbahnwagen, die von rund 1000 Pferden gezogen wurden. Aufgrund der guten Verkehrsanbindung wurde die überregionale Landwirtschaftsmesse Canadian National Exhibition seit 1879 jährlich in Toronto abgehalten. In den 1850er Jahren stammten die Einwohner dieser britischen Kolonie überwiegend aus dem Vereinigten Königreich und mit rund 73 % waren die Einwohner damals mehrheitlich protestantisch. Die britische Dominanz hielt noch etwa ein weiteres halbes Jahrhundert an. Der Protestantismus war keine homogene Glaubensgemeinschaft, sondern teilte sich unter anderem in Anhänger der evangelischen Baptisten und der anglikanischen Gemeinschaft auf. Die religiösen Unterschiede führten zu heftigen Spannungen, die sich in den Jahren von 1867 bis 1892 in mehreren Unruhen niederschlugen. An den Auseinandersetzungen waren vor allem die Katholiken und die aus Irland stammenden Protestanten beteiligt. Aus der Volkszählung 1901 ging hervor, dass acht Prozent der Bevölkerung Torontos nicht aus dem Vereinigten Königreich stammten. Die größte Gruppe davon kam mit 6866 Einwanderern aus Deutschland, gefolgt von 3015 aus Frankreich; 3090 Personen hatten jüdische Vorfahren, 1054 kamen aus Italien, 737 aus den Niederlanden, 253 aus Skandinavien, 219 aus Asien und 142 aus Russland. Die Stadt hatte inzwischen gut 208.000 Einwohner. Die multikulturelle Gesellschaft Torontos war zur Wende ins 20. Jahrhundert bereits im Ansatz vorhanden. Wirtschaftlich hatte Toronto Quebec bereits in den 1870er Jahren überholt und war nach Montreal die zweitgrößte Kraft im Dominion Kanada. Am 19. April 1904 zerstörte der Großbrand von Toronto über 100 Gebäude in der Innenstadt. 1906 begann mit der Stromgewinnung an den Niagarafällen die Elektrifizierung der Stadt. Innerhalb von 20 Jahren stieg die Bevölkerung auf mehr als das Doppelte an und erreichte 1921 über 522.000 Einwohner. Danach schwächte sich die Wachstumsrate etwas ab. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine Reihe wichtiger Bauwerke und Einrichtungen. So wurde im Juni 1913 das Toronto General Hospital an der College Street eröffnet und zwei Jahre später, am 19. März 1914, das 1912 gegründete Royal Ontario Museum. Allerdings bereitete die Integration der Rückkehrer vom europäischen Kriegsschauplatz ab 1918 enorme Probleme; allein etwa 100.000 von ihnen stammten aus dem Großraum Toronto. Mit dem Vorwand des späten Kriegseintritts Griechenlands entlud sich die Wut auf die Griechen. Diese waren mit 3000 Personen eine kleine Gruppe, waren jedoch im Stadtbild mit Betrieben und Restaurants sehr präsent. Am 2. August kam es zu den Griechenfeindlichen Ausschreitungen in Toronto 1918. Mehrere 10.000 Torontoer stürmten das griechische Viertel in der Yonge Street und zerstörten allein 20 Restaurants. Etwa 50.000 Menschen waren an den Straßenkämpfen beteiligt, die erst nach drei Tagen endeten. Bis in die 1920er Jahre gab es zum Teil konkurrierende Gesellschaften für die öffentlichen Nahverkehrssysteme. Diese wurden 1921 von der Stadt unter der Toronto Transportation Commission zusammengefasst, der späteren Toronto Transit Commission. Gleichzeitig stieg auch der Individualverkehr stark an. 1910 gab es rund 10.000 Automobile – diese Zahl erhöhte sich bis 1928 auf das Achtfache. Im Juni 1929 wurde das Royal York Hotel eröffnet, dessen Gebäude mit 28 Stockwerken und 124 Metern damals das höchste Bauwerk der Stadt war. Von den 1930er Jahren an veränderte sich die Skyline durch eine Vielzahl von Hochhäusern erheblich. Während der Weltwirtschaftskrise stieg bis 1933 die Arbeitslosenquote auf bis zu 30 % an, Kapital und persönliche Vermögen wurden vernichtet. Gleichzeitig sanken die durchschnittlichen Monatslöhne um über 40 %. Die Zahl der Eheschließungen und die Geburtenrate sank ebenfalls um 40 %. Selbst 1939 erreichte die Wirtschaftskraft noch nicht wieder den Stand von vor 1929. 1934 feierte die Stadt, die damals 629.285 Einwohner zählte, dennoch ihren 100. Geburtstag. Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg war Kanada auch im Zweiten Weltkrieg Gegner des Deutschen Reiches, vor allem als Lieferant von Kriegsmaterial. Entbehrungen in Form von Lebensmittelrationierungen und Sperrzeiten für Strom und Wasser kennzeichneten die Kriegswirtschaft, die zahlreiche Arbeitsplätze in der Produktion von Kriegsmaterialien hervorbrachte. Nach 1945 musste die Wirtschaft wieder auf zivile Produkte umgestellt werden. Am 17. September 1949 kam es im Hafen von Toronto zu einer Katastrophe, als der Passagierdampfer Noronic, der während einer Große-Seen-Kreuzfahrt über Nacht an Pier 9 ankerte, in Flammen aufging und innerhalb kurzer Zeit ausbrannte. 122 Passagiere kamen ums Leben. Entwicklung zur Millionenstadt Bereits in den 1950er Jahren erreichte Torontos Bevölkerung die Millionengrenze. Die Zuwanderung aus dem europäischen und asiatischen Raum ist vor allem auf die dortigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zurückzuführen. Mit dieser Entwicklung verlagerten sich Wohn- und Arbeitsräume deutlich außerhalb der Stadtgrenzen: Bis 1946 befanden sich 90 % der Industriebetriebe von York County in der Stadt. 1954 waren es noch 77 %. Diesem Trend folgten die immer besser werdenden Verkehrs- und Transportwege und verstärkten ihn noch. Allerdings stand die Stadt in Kanada sowohl hinsichtlich der Bevölkerungszahl als auch der Wirtschaftskraft nach wie vor nur an zweiter Stelle hinter Montreal. Am 1. Januar 1954 wurde die Metropolregion Municipality of Metropolitan Toronto geschaffen. Das Gebilde bestand aus der Innenstadt, den Bezirken New Toronto, Mimico, Weston, Leaside, Long Branch, Swansea und Forest Hill sowie den Stadtgemeinden Etobicoke, York, North York, East York und Scarborough. Die neu gegründeten Verkehrsbetriebe Toronto Transportation Commission trieben den Ausbau des Torontoer U-Bahn-Netzes voran und eröffneten eine Reihe neuer Buslinien. Meilensteine in der Stadtentwicklung waren die Fertigstellung des letzten Abschnittes des Highway 401 und die Eröffnung des Gardiner Expressway. Bereits 1965 hatten in Toronto mehr nationale Behörden ihren Hauptsitz als in Montreal. Zudem förderte der Separatismus in Québec die Abwanderung von Wirtschaftsunternehmen nach Toronto. Die Einwohnerzahl der Metropolregion Toronto überflügelte 1976 nach den Ergebnissen der Volkszählung erstmals die von Montreal. Mit dem Eintritt Kanadas in die Gruppe der Acht (damals G7) im selben Jahr rückte die Stadt auch international auf die politische Bühne. 1988 war Toronto Austragungsort der 14. Konferenz der G7. Am 1. Januar 1998 wurden die Stadtbezirke tiefgreifend reformiert, wobei autonome Stadtgemeinden mit der Stadt Toronto verschmolzen wurden. Seitdem ist Toronto Kanadas bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Stadt. Sir Peter Ustinov bemerkte einmal, Toronto sei sauber und sicher wie ein von Schweizern geführtes New York. Toronto gilt als die sicherste Stadt Kanadas. (→ Kriminalität) Am 10. August 2008 ereignete sich im Stadtbezirk North York auf dem Gelände der Propangasanlage von Sunrise Propane Industrial Gases eine schwere Explosion. Rund 100 Häuser blieben in der Folge unbewohnbar. (siehe Explosion von Toronto 2008) Vom 26. bis zum 27. Juni 2010 fand der vierte G20-Gipfel in Toronto statt. Einen Tag zuvor wurde der 36. G8-Gipfel in Huntsville abgehalten, der ursprünglich auch das G20-Treffen hätte beherbergen sollen. Politik Politische Strukturen Torontos Stadtverwaltung ist einstufig, das Regierungssystem besteht aus Bürgermeister und Stadtverordneten. Diese Verwaltungsstruktur ist im City of Toronto Act festgeschrieben. Erst seit der Umbenennung von York in Toronto hat die Stadt offiziell einen Bürgermeister. Davor stand der Chairman of the General Quarter Session of Peace dem Ort vor. Der Bürgermeister wird durch die Stadtbevölkerung direkt gewählt und ist Vorsitzender der Stadtregierung. Der Toronto City Council ist eine aus einer Kammer bestehende Legislative mit 44 Stadträten, welche die Stadtbezirke repräsentieren. Der Bürgermeister und die Stadträte werden seit der Wahl im Jahr 2006 für eine vierjährige Legislaturperiode gewählt, vorher war sie dreijährig. Rob Ford war von 2010 bis 2014 der 64. Bürgermeister. Im November 2013 wurde Ford durch die Stadtverordneten der meisten seiner Amtsbefugnisse enthoben. Vorher waren seit Jahren Vorwürfe von Vetternwirtschaft erhoben worden, im Jahr 2013 wurde zudem bekannt, dass er Crack-Kokain konsumierte und im Kontakt zu bekannten Kriminellen stand. Ford blieb formal im Amt und konnte repräsentativen Aufgaben nachgehen, hat aber keine politischen Funktionen mehr. Von 2014 bis zum 17. Februar 2023 war John Tory der 65. Bürgermeister. Er wurde mit 40,27 % der Stimmen als Nachfolger von Rob Ford gewählt. Infolge einer außerehelichen Affäre trat er vorzeitig zurück. Am 26. Juni 2023 finden in Toronto Nachwahlen zum Stadtoberhaupt statt. Die Amtsgeschäfte bis zur Neuwahl führt einstweilen, allerdings mit eingeschränkten Befugnissen, die stellvertretende Bürgermeisterin Jennifer McKelvie. Olivia Chow gewann die Nachwahl, und am 12. Juli 2023 trat sie das Amt als Bürgermeisterin an. Seit Beginn der Legislaturperiode im Jahr 2007 besteht die Stadtregierung aus sieben Kommissionen mit je einem Vorsitzenden, einem Stellvertreter und vier Stadträten, die alle vom Bürgermeister benannt werden. Ein Exekutivkomitee besteht aus den Kommissionsvorsitzenden, dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter und vier anderen Stadträten. Die Räte überwachen auch die Verkehrsbetriebe der Stadt Toronto (Toronto Transit Commission) und den Polizeidienst der Stadt (Toronto Police Services Board). Die Stadtregierung hat ihren Sitz im Neuen Rathaus am Nathan Phillips Square. Es gibt rund 40 Unterkommissionen, Beratungsstäbe und Runde Tische, die ebenfalls der Stadtregierung angehören. Diese Institutionen werden von Stadträten und von freiwilligen Bürgern gebildet. Dazu kommen vier weitere Gemeinderäte, die den Stadträten Empfehlungen geben, allerdings keine eigenständigen Entscheidungsvollmachten haben. Jedem Stadtrat ist ein Mitglied aus dem Gemeinderat unterstellt. Toronto verfügte 2006 über einen Haushalt in Höhe von 7,6 Milliarden Dollar. Die Stadt wird von der Provinzregierung Ontario durch Steuern und Abgaben finanziert. Die Ausgaben der Stadt verteilen sich wie folgt: 36 % fließen in Programme der Provinz, 53 % dienen städtischen Aufgaben wie beispielsweise der öffentlichen Bücherei (Toronto Public Library) und dem Zoo von Toronto, elf Prozent werden für Fremdfinanzierungen und nicht zweckgebundene Aufwendungen verwendet. Wappen und Flagge Die Flagge der Stadt Toronto wurde vom damals 21-jährigen Studenten Rene De Santis entworfen. Dieser Entwurf gewann einen Designwettbewerb im Jahr 1974. Die Flagge zeigt stilisiert die beiden Türme der City Hall auf blauem Grund mit dem kanadischen Nationalsymbol, dem roten Ahornblatt, an seiner Basis. Nach der Gebietsreform 1997 hielt die Stadtregierung vergeblich nach einem neuen Design Ausschau. Daraufhin wurde der Vorschlag umgesetzt, kleinere Veränderungen an dem Entwurf von 1974 vorzunehmen, die im Oktober 1999 zur nun gültigen Flagge führten. Der Freiraum oberhalb und zwischen den Türmen stellt den Buchstaben „T“ dar, die Initiale der Stadt Toronto. Das Wappen der Stadt Toronto wurde von Robert Watt geschaffen und im Zuge der Gebietsreform 1998 eingeführt. Es zeigt auf der linken Seite einen Biber und auf der rechten einen Bären, die sich gegenüberstehen und den Stadtschild halten. Beide Tiere stehen auf einem begrünten Hügel mit einem blauen T für Toronto auf goldenem Grund. Auf dem Wappen befinden sich außerdem eine Krone und ein Adler. Unterhalb des Wappens symbolisieren drei blaue senkrechte Wellenlinien die Flüsse Humber, Don und Rouge. Darunter ist eine waagerechte Wellenlinie für den Ontariosee dargestellt, in den die drei Flüsse münden. Unter dem Stadtwappen befindet sich ein Band mit dem Motto „Diversity Our Strength“ (deutsch: „Vielfalt ist unsere Stärke“), von zwei kanadischen, roten Ahornblättern umrahmt. Das Motto wurde anlässlich der Gebietsreform 1998 eingeführt. Neben dem Wappen und der Flagge wird die Silhouette des Rathauses auch für das Stadtsignet verwendet. Partnerstädte Städtepartnerschaften bestehen mit: Chongqing, China. Chongqing und Toronto haben im Mai 2006 drei Handelsverträge im Wert von 50 Millionen US-Dollar geschlossen. Die Partnerschaft besteht seit dem 27. März 1986. Chicago, Illinois, Vereinigte Staaten. Der frühere Bürgermeister Art Eggleton und der Chicagoer Bürgermeister Richard M. Daley unterzeichneten in der Börse von Chicago 1991 den Partnerschaftsvertrag. Frankfurt am Main, Deutschland. Mit Frankfurt am Main werden seit Anbeginn der Partnerschaft regelmäßige Austauschprogramme betrieben, für die der Vertrag am 26. September 1989 vom damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff und dem Torontoer Bürgermeister Art Eggleton im Frankfurter Rathaus Römer unterschrieben wurde. Im Mai 1991 spielte beispielsweise das Toronto Symphony Orchestra in der Jahrhunderthalle. Neben dem kulturellen Austausch gibt es auch auf wissenschaftlicher Ebene Kooperationen durch Studienaufenthalte von Professoren und Studenten und gemeinsame Seminare. Die Universität von Toronto und die Goethe-Universität in Frankfurt am Main haben 2012 einen formalen Kooperationsvertrag abgeschlossen, um ihre Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Verwaltung zu intensivieren. Mailand, Italien, seit dem 30. Juni 2003 Nicht mehr bestehende Städtepartnerschaften hatte Toronto mit den Städten Amsterdam, Wuxi und Indianapolis. Freundschaftlich verbunden ist Toronto mit Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam), Kiew (Ukraine), Rostow am Don (Russland), Quito (Ecuador), Sagamihara (Japan) und Warschau (Polen). Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung 1820 hatte Toronto 1.250 Einwohner, viele Indianerdörfer waren erheblich größer. Doch gelang es Toronto zum einen, die starke Stellung Montreals im Bankenwesen zu brechen, zum anderen förderte die Stadt früh die Industrialisierung. 1833 wurden in Toronto mit 80 Beschäftigten erstmals Dampfmaschinen hergestellt, ab 1857 wurden Lokomotiven produziert und ein breites Spektrum an zuliefernden Betrieben entstand. Zugleich förderte die Regierung die Einwanderung, sodass die Bevölkerungszahl steil anstieg. Größter Gewinner war dabei Toronto, das um 1850 mit 31.000 Einwohnern bereits die größte Stadt im Westen war und in den folgenden zehn Jahren seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelte. Es konnte seine Waren unter Umgehung Kingstons nach Montreal bringen, und dabei den Weg über den Ontariosee nutzen. Gleichzeitig war es mit New York verbunden, wohin bereits 1847 eine Telegrafenverbindung bestand. Das Kapital zum Bau der Eisenbahnen, die Kanadas Metropolen zwischen Halifax und Vancouver verbanden, stammte überwiegend aus Großbritannien, woher auch die meisten Einwanderer stammten. Damit stemmten sich London und später Ottawa erfolgreich gegen den politischen Anschluss Kanadas an die USA. Toronto profitierte dennoch von den dortigen Absatzmöglichkeiten. Zugleich veranlasste der zunehmende Separatismus der frankophonen Kanadier viele Unternehmen, nach Toronto zu gehen. Als Montreal Zentrum der Eisenbahnindustrie wurde, begann die Hauptstadt Ontarios in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende auf Elektroindustrie und Autobau, später Flugzeugbau zu setzen. Damit war Toronto einer der Nutznießer der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Versandhäuser wie Eaton’s versorgten einen wachsenden, bald auch internationalen Markt, der Ausbau der Infrastruktur erforderte neue Arbeitskräfte. Nach dem Krieg sprengte die Zuwanderung die Stadtgrenzen und größere organisatorische Einheiten, wie die Metropolregion, entstanden. Die Kernstadt hatte von 1901 bis 1951 ihre Einwohnerzahl verfünffacht. Schließlich stieg der Anteil der Beschäftigten in den Dienstleistungsgewerben stark an, die bald zu den mit Abstand größten Arbeitgebern wurden. Da viele dieser Gewerbe ohne ausgebildetes Personal auskamen, zudem ausländisches Kapital in die Stadt floss, kamen zunehmend Einwanderer aus wirtschaftlich aufstrebenden Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum. Zwischen 1951 und 2001 vervierfachte sich die Zahl der Bewohner der Metropolregion. Ergebnisse der Volkszählung 2001 und Bevölkerungsentwicklung bis 2006 Bei der Volkszählung aus dem Jahr 2001 wurden 2.481.494 Einwohner ermittelt, 2006 wurde die Einwohnerzahl auf gut 2,6 Millionen geschätzt. Im Großraum Toronto lebten etwa 5,5 Millionen Menschen. Mit 2,5 Millionen lebt knapp die Hälfte in der Kernstadt, der Rest verteilt sich auf 24 Gemeinden mit einer Gesamtfläche von 7.125 Quadratkilometern. In den Jahren 1996 bis 2006 wuchs die Stadt jährlich um 1,8 % und gehört damit zu den am schnellsten wachsenden Ballungsräumen in Kanada. Absolut entspricht dies einem Zuzug von fast 100.000 Bewohnern jährlich. Wegen der hohen Dichte im Stadtkern wachsen vor allem die Gemeinden des Umlands. Brampton, Vaughan, Richmond Hill, Markham, Ajax, Whitby verzeichneten von 2001 bis 2006 insgesamt eine Zunahme von 20 %. Das starke Wachstum beruht vor allem auf der internationalen Zuwanderung. In den Jahren 2001 bis 2006 wanderten 447.900 Menschen aus dem Ausland in die Stadtregion ein. Der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner machte 45,7 % bzw. 2,32 Millionen (2006) aus; die Stadt ist damit das bedeutendste kanadische Zuwanderungsziel. Die größten Einwanderungsgruppen stammen aus Indien mit 77.800 und China mit 63.900 Menschen. Die hohe Zuwanderungsrate wirkt sich verteuernd auf den Wohnungsmarkt aus, weshalb Immigranten sich heute verstärkt in den umliegenden Städten niederlassen. Die höchsten Anteile an nicht in Kanada geborenen Bürgern haben die benachbarten Städte Markham mit 56,5 % und Mississauga mit 51,6 %. Laut einer Erhebung im Jahr 2001 stammen 43,7 % der Stadtbevölkerung nicht aus Kanada; dieser Anteil stieg in den letzten Jahren stetig – 1991 betrug der Anteil noch 38 %. Die Vielzahl der Bevölkerungsgruppen spiegelt sich in den vielen von einer Gruppe geprägten Stadtvierteln wie z. B. Chinatown, Little Italy, Greektown oder Koreatown wider. Dabei bilden die Einwohner, die aus Südasien stammen mit 12,0 % den größten Anteil; gefolgt von Chinesischstämmigen mit 11,4 % und Afroamerikanern mit 8,4 %. Volkszählungsergebnis 2011 Beim Zensus 2011 gaben 14,1 % der Stadtbevölkerung an, von englischen Einwanderern abzustammen. 13,2 % gaben als das Herkunftsland ihrer Familie Kanada an. Weitere bedeutende Abstammungsgruppen waren die Chinesisch- (10,8 %), Indisch- (10,3 %), Schottisch- (9,9 %), Irisch- (9,8 %) und Italienischstämmigen (8,6 %) sowie die Deutschstämmigen (4,8 %). Laut Zensus 2011 gehörten 42,9 % der Bevölkerung Torontos „visible minority groups“ (sichtbare Minderheit, d. h. alle Nicht-Weiße mit Ausnahme von First Nations, Inuit und Métis) an: 15,1 % der Gesamtbevölkerung waren südasiatischer Herkunft, 9,6 % chinesischer Herkunft, 7,2 % Schwarze und 4,2 % Filipinos. Sprachen Die vorherrschende Sprache in der Stadt ist Englisch. Kanadas zweite Amtssprache, Französisch, ist hingegen die Muttersprache von nur etwa 1,4 % der Bevölkerung. Weitere Sprachen mit einer bedeutenden Zahl von Sprechern in Toronto sind vor allem Chinesisch, Portugiesisch und Italienisch. Lediglich eine Minderheit von 2,1 % beherrscht die Zweisprachigkeit von Englisch und Französisch. Jüdische Immigranten und Flüchtlinge Juden lassen sich in Toronto seit den 1830er Jahren nachweisen, in den 1850er Jahren lebten 18 Familien in der Stadt. 1856 entstand die erste Synagoge. Pogrome veranlassten osteuropäische Juden, nach Kanada auszuwandern. Entsprechend den Herkunftsländern entstanden (ausschließlich orthodoxe) Kongregationen, Yiddish Theatres, Nachmittagsschulen und eine Zeitung. Dabei lebten die aus Großbritannien Eingewanderten östlich der Yonge Street, die Osteuropäer im wenig angesehenen Quartier St. John’s Ward. Bis in die 1950er Jahre blieb das Gebiet um Spadina Avenue/Kensington Market das Kerngebiet der zersplitterten jüdischen Gemeinde, viele zogen danach weiter nordwärts. Dennoch bleibt die jüdische Gemeinde in Downtown verankert, wo auch das Miles Nadal Jewish Community Centre entstand. Es besteht zudem ein eigenes Downtown Jewish Community Council. Mit der Weltwirtschaftskrise schränkte die konservative Regierung unter Richard Bedford Bennett Anfang der 1930er Jahre die Immigration, die vorher gefördert worden war, drastisch ein. Damit ging ein selektives Prinzip einher, nach dem Immigranten aus Nord- und Westeuropa sowie Bürger aus den USA bevorzugt wurden. 1931 waren von den 631.207 Bewohnern 45.305 Juden. Die allgemeine Beschränkung und ein latenter Antisemitismus in Kanada führten dazu, dass zwischen 1930 und 1940 nur rund 12.600 jüdische Immigranten in Kanada aufgenommen wurden; 4000 davon kamen aus Deutschland. In Toronto waren die Juden die größte ethnische Gruppe, die vor allem während der Krisenzeiten als Sündenbock diente. Ihnen wurde teilweise der Zugang zu Restaurants oder Veranstaltungen untersagt, es kam sogar zum Boykott jüdischer Geschäfte. Keine Universität war bereit, ihr Kursangebot auf Internierte auszuweiten, lediglich die Queen’s University in Kingston nahm eine kleine Gruppe auf, die vor allem an Ingenieurkursen interessiert war. Die Ablehnung hielt auch während des Krieges an. Noch im Oktober 1945 war der Status der Flüchtlinge und Internierten nicht abschließend geklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Kanada rund 3500 Flüchtlinge einschließlich 966 Internierter aufgenommen. Religion Entsprechend der multikulturellen Einwohnerstruktur gibt es in der Stadt eine Vielzahl von unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten. Die christlichen Konfessionen bilden dabei die größte Gruppe mit gut 50 %. Die römisch-katholische Kirche gehört zum Erzbistum Toronto. Der Anteil der Konfessionslosen beträgt 18,7 %. Die Religionszugehörigkeit verteilt sich nach Erhebungen des Jahres 2011 wie folgt: Katholische Kirche: 30,4 % Alle anderen christlichen Glaubensrichtungen: 9,1 % Islam: 7,7 % Hinduismus: 5,9 % Judentum: 3,0 % Buddhismus: 2,2 % Sikhismus: 2,9 % Keiner Religion angehörig: 21,1 % Siehe auch: Kirche Hl. Sava (Toronto), serbisch-orthodox Soziale Probleme In Toronto gab es 2003 rund 552.300 Haushalte unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als 250.000 Familien mussten über 30 % ihres Einkommens für die Miete ausgeben, 20 % zahlten mehr als 50 % ihres Einkommens. Diese Entwicklung ist auf die stark steigenden Mietpreise zurückzuführen, die sich allein zwischen 1997 und 2001 um 31 % erhöhten. Rund 71.000 Haushalte warteten auf die Errichtung von staatlich geförderten Wohnungen. Im Gegensatz zu den 1980er und frühen 1990er Jahren stagnierte trotz der steigenden Bevölkerung das Angebot an Mietwohnungen. Allein im Jahr 2002 waren 31.985 Menschen mindestens einmal in einem Obdachlosenasyl gemeldet. Seit den 1990er Jahren hat sich diese Zahl um 21 % erhöht und seit 1988 sogar um 40 %. 1988 waren dabei 91,3 % von ihnen Einzelpersonen, doch sank diese Zahl bis 1999 auf 81,3 %. Gleichzeitig stieg die Zahl der Familien von 1,7 % (1988) auf 9,6 % (1999). Die Provinzregierung und die Stadt versuchen durch Investitionen in den Wohnungsbau den Problemen entgegenzuwirken. Dazu wurde unter anderem das Wohnungsbauprojekt Let’s Build ins Leben gerufen, in das bis zum Jahr 2001 rund 10,6 Millionen Dollar flossen. Infolgedessen entstanden 384 erschwingliche Wohnungen für rund 660 Mieter mit geringem Einkommen. Nach Beendigung des Projekts setzte die Stadt Let’s Build mit rund 11,8 Millionen Dollar fort. Darüber hinaus gab es weitere Maßnahmen, welche die Bekämpfung von Armut und die flächendeckende medizinische Versorgung von Obdachlosen vorsahen. Kriminalität Eine niedrige Kriminalitätsrate hat der Stadt den Ruf als einer der sichersten Großstädte Nordamerikas eingebracht. 1999 lag die Rate der Tötungsdelikte bei 1,9 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich lag diese Rate im selben Jahr bei 34,5 in Atlanta, 5,5 in Boston, 7,3 in New York, 2,8 in Vancouver und 45,5 in Washington D. C. Das bisherige Maximum an Tötungsdelikten verzeichnete Toronto 1991 mit 3,9 pro 100.000 Einwohnern. Auch bei den Raubdelikten liegt die Stadt, verglichen mit anderen nordamerikanischen Großstädten, sehr niedrig mit 115,1 Überfällen pro 100.000 Einwohner. Dallas hatte im Vergleich 583,7 Delikte pro 100.000 Einwohner, 397,9 waren es in Los Angeles, 193,9 in Montreal. Die generelle Kriminalitätsrate lag bei 48 Delikten auf 100.000 Einwohner. Auch diese Vergleichsgröße liegt deutlich niedriger als in anderen Großstädten, wie beispielsweise Cincinnati mit 326, Los Angeles mit 283, New York mit 195 und Vancouver mit 239. Wirtschaft und Infrastruktur Finanz- und Wirtschaftshauptstadt Kanadas Bereits im 19. Jahrhundert war Toronto ein wichtiger Wirtschafts- und Handelsplatz. Die Stiefbrüder James Worts und William Gooderham gründeten 1830 am Hafen die Brennerei Gooderham and Worts, die neben Spirituosen auch Frostschutzmittel herstellte. Sie entwickelte sich zur größten Brennerei Kanadas und stieg in den 1860er Jahren zur weltweit größten Whiskeybrennerei auf. 1862 produzierte das Unternehmen zum ersten Mal das ganze Jahr und stellte rund 700.000 Imp.gal. her, was einem Viertel der damaligen Gesamtproduktion an Spirituosen in Kanada entsprach. In den Folgejahren wuchs die Produktion auf zwei Millionen Imp.gal., was das Unternehmen zum bekanntesten des Landes und zum größten im Britischen Empire werden ließ. 1987 wurde die Firma an einen britischen Konzern verkauft, 1990 die Brennerei geschlossen und das 52.000 Quadratmeter große Areal in die Fußgängerzone Distillery District verwandelt. Das historische Industriequartier, bestehend aus über 40 Backsteingebäuden und zehn Straßen, wurde restauriert und dient als Entertainment-Zentrum mit Lokalen, Musikkneipen und Galerien. Toronto ist Kanadas wichtigstes Handels- und Finanzzentrum und gehört auch weltweit zu den bedeutendsten. In der Stadt sind viele Banken und Investmentfirmen im Finanzdistrikt an der Bay Street konzentriert. Die Toronto Stock Exchange ist nach ihrer Marktkapitalisierung die achtgrößte Börse der Welt und in Nordamerika auf Platz drei. (→ Geschichte der Börse von Toronto) Die fünf größten Banken des Landes haben hier ihren Hauptsitz. Darüber hinaus betreiben über 40 ausländische Banken Niederlassungen in der Stadt. Im Bereich Medien, Verlagswesen, Telekommunikation (z. B. Telus Tower), Informationstechnologie und Filmindustrie hat die Stadt ebenfalls eine führende Rolle eingenommen. Eine eigene Behörde (Toronto’s Film and Television Office) hat die Aufgabe, die Film- und Fernsehproduktion zu fördern und zu unterstützen. Zu den bekanntesten Firmen gehören Thomson Corporation, CTVglobemedia, Rogers Communications, Alliance Films, Celestica, sowie die Hotelkette Four Seasons Hotels und Manulife Financial. Insgesamt haben über 80.000 Unternehmen ihren Sitz in der Stadt. Das Handelsunternehmen Hudson’s Bay Company ist das älteste eingetragene Unternehmen in Kanada und zählt auch weltweit zu den ältesten Unternehmen. Es verlegte 1957 seinen Hauptsitz von York Factory nach Toronto. Unter anderen haben folgende Unternehmen ihren Hauptsitz in Toronto: Hudson’s Bay Company, RioCan Investment Trust, Canadian Imperial Bank of Commerce, Manulife Financial, TD Canada Trust, Royal Bank of Canada, Scotiabank, Bank of Montreal, Celestica, Four Seasons Hotels and Resorts, Nortel, Citibank Canada, Fairmont Hotels and Resorts, Oxford Properties Group und Rogers Communications. Die meisten Industrien und Fertigungsbetriebe befinden sich zwar außerhalb der Stadtgrenzen, allerdings haben die meisten Großhändler und Distributoren dieser Wirtschaftszweige ihren Sitz in der Stadt. Die strategische Bedeutung der Stadt im Québec-Windsor-Korridor begünstigt die nahegelegenen Produktionsstandorte von Motorfahrzeugen, Eisen, Stahl, Lebensmitteln, Maschinen, Chemie und Papier. In Ergänzung dazu ist Toronto seit 1959 durch den Sankt-Lorenz-Strom vom Atlantischen Ozean aus erreichbar. Mit rund 8000 Fabriken ist die Stadt nicht nur führend im Dienstleistungsbereich, sondern auch im produzierenden Sektor. Die fünf größten privaten Arbeitgeber sind nach der Anzahl ihrer Beschäftigten (Zahlen aus dem Jahr 2001): Toronto-Dominion Bank (14.000), Canadian Imperial Bank of Commerce (12.000), Rogers Communications (11.600), Royal Bank of Canada (11.000) und Bank of Montreal (8400). Der veranschlagte Bruttobetriebsaufwand der Stadt belief sich im Jahr 2008 auf 8,17 Milliarden Dollar. Die Haushaltseinnahmen kamen überwiegend aus der Grundsteuer, mit 3,322 Milliarden Dollar. Die Arbeitslosenquote lag 2007 bei 7,87 % und war damit höher als der Durchschnitt in der Provinz Ontario, der bei 6,38 % lag. 2008 ist die Arbeitslosenquote auf 7,52 % leicht gesunken. Ein durchschnittlicher Haushalt hatte ein Jahreseinkommen von 68.120 Dollar. Bildungseinrichtungen In Toronto gibt es eine Reihe von Universitäten: Die auf verschiedene Zweigstellen im Stadtgebiet verteilte University of Toronto, die York University, die Ryerson University, das Ontario College of Art & Design sowie die University of Guelph-Humber. Die 1827 gegründete University of Toronto ist die größte Ontarios und zählt weltweit nach der Harvard University und Yale University zu den renommiertesten auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung. Außerdem beherbergt die Universität das drittgrößte Bibliothekensystem Nordamerikas, zu der auch die Robarts Library gehört. Die York University befindet sich in North York, im Norden Torontos. Sie verfügt über die größte Rechtsbibliothek im Commonwealth. Daneben hat Toronto eine Reihe weiterer Hochschulen, wie das Seneca College, das Humber College, das Centennial College und das George Brown College. In der Stadt unterhält auch das frankophone Collège Boréal eine Zweigstelle. In der Nähe von Oshawa, das zum Großraum Torontos gehört, ist das Durham College und das University of Ontario Institute of Technology beheimatet. Die Faculty of Music und das Royal Conservatory in Downtown bieten Konzert- und Opernprogramme an. Der Filmemacher Norman Jewison gründete 1988 das Kanadische Filmzentrum Canadian Film Centre, Kanadas größtes Institut für professionelle Ausbildung im Bereich Film, Fernsehen und Neue Medien. Das Tyndale University College and Seminary ist ein überkonfessionelles Institut und Kanadas größtes Predigerseminar. Die Schulbehörde Toronto District School Board (TDSB) unterhält insgesamt 558 öffentliche Schulen, davon 451 Grundschulen und 102 Schulen der Sekundarstufe. Damit ist die TDSB die größte Schulbehörde Kanadas. Die Schulbehörde erhielt 2008 für die Bemühungen um die Chancengleichheit und Integration den Carl-Bertelsmann-Preis verliehen. Konfessionell an die katholische Kirche gebundene Schulen werden von einer eigenen Behörde, dem Toronto Catholic District School Board, verwaltet. Darüber hinaus verfügt Toronto über mehrere private Schulen, wie beispielsweise Greenwood College School, Upper Canada College, Crescent School, Toronto French School, University of Toronto Schools, Havergal College, Bishop Strachan School, Branksome Hall oder St. Michael’s College School. Die Stadtbibliothek von Toronto ist die größte Bücherei im Land mit 99 Zweigstellen und über elf Millionen Medien. Tourismus Der Fremdenverkehr spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft von Toronto. Mit knapp 4,5 Millionen ausländischen Besuchern stand Toronto 2016 auf Platz 29 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 2,2 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus den USA und Asien. Medien Toronto ist Sitz einer Vielzahl von Printmedien. Der Toronto Star hat seinen Sitz in der Yonge Street 1 und ist mit rund 400.000 Exemplaren Kanadas auflagenstärkste Zeitung. Die Druckausgabe wird vornehmlich in Ontario gelesen. Weitere wichtige Zeitungen in Toronto sind die 1844 gegründete Tageszeitung The Globe and Mail, die konservative Zeitung National Post sowie die Toronto Sun. Darüber hinaus gibt es Zeitungen in chinesischer und hebräischer Sprache und eine Vielzahl von Magazinen und Zeitschriften. Neben dem lokalen Fernsehsender CITY-TV sind auch die landesweit ausstrahlenden Sender wie u. a. CFMT-TV, CFTO-TV, CTV Television Network und CBC Television in der Stadt ansässig. Weitere Fernsehsender sind der Nachrichtensender CP 24 – Toronto’s Breaking News, der Wirtschaftssender Business News Network (BNN) und der Musiksender MuchMusic. Zu den mehr als 30 Radiosendern, wie u. a. CHUM-FM, CKIS-FM gehören auch solche für den chinesischen Bevölkerungsanteil mit einem Programm in kantonesischer Sprache. Der englischsprachige Teil der staatlichen Rundfunkanstalt Canadian Broadcasting Corporation hat seinen Sitz in der Downtown von Toronto. Weitere größere Medienunternehmen sind Entertainment One sowie Rogers Media. Verkehr Flugverkehr Toronto verfügt mit dem Toronto Pearson International Airport über den größten Flughafen des Landes, auf dem ein Drittel des kanadischen Luftverkehrs abgewickelt wird. Ursprünglich weit außerhalb der Stadt, befindet er sich heute unmittelbar am nordwestlichen Stadtrand, rund 20 Kilometer vom Zentrum entfernt, überwiegend auf dem Gebiet der benachbarten Stadt Mississauga. Ein kleiner Flughafen, der Flughafen Toronto-City, liegt auf den der Stadt vorgelagerten Toronto Islands. Der Toronto/Downsview Airport, ein früherer Luftwaffenstützpunkt, wird seit 1994 überwiegend als Testflughafen von Bombardier Aerospace benutzt. Insgesamt liegen auf der Greater Toronto Area neun Flughäfen und zehn Heliports. Öffentliches Nahverkehrssystem Toronto besitzt nach New York City und Mexiko-Stadt das drittgrößte öffentliche Nahverkehrssystem Nordamerikas. Die Toronto Transit Commission (TTC) betreibt im Stadtgebiet drei U-Bahn-Linien (Subway), eine Stadtbahnlinie (Scarborough-Linie), elf Straßenbahnlinien (Toronto Streetcar) und ca. 140 Buslinien. Die Straßenbahn- und Buslinien sind überwiegend rasterförmig angeordnet. Die unmittelbar an das Stadtgebiet angrenzenden Vorstädte werden von Buslinien anderer Unternehmen bedient, die an das Netz der TTC anschließen. Ausgehend vom Hauptbahnhof Union Station gibt es ein aus sieben Linien bestehendes Schnellbahnsystem von GO Transit, ergänzt durch eigene Buslinien. Mit den doppelstöckigen Zügen erreicht man Entfernungen von rund 60 Kilometern im Umkreis der Downtown. Seit dem 6. Juni 2015 verbindet der Union Pearson Express (UP Express) den internationalen Flughafen Toronto Lester B. Pearson mit der Innenstadt. Die Dieseltriebzüge dieser Linie fahren im 15-Minuten-Takt mit einer Fahrzeit von 25 Minuten vom Terminal 1 über die Bahnstationen Bloor und Weston zum Hauptbahnhof der Stadt, der Union Station. Schiffs- und Fährverkehr Neben der Pendelfähre zum Flughafen Toronto-City existieren Fährverbindungen zu den Toronto Islands. Vom Queen’s Quay an der Bay Street steuern die Fähren die Stationen Hanlan’s Point, Centre Island und Ward’s Island an. Am 24. Juni 2004 wurde die Linie Toronto–Rochester (USA) eingeweiht. Das Boot Spirit of Ontario I absolvierte die 152 km lange Strecke in einer Geschwindigkeit von 83 km/h. Mangels Auslastung wurde diese Fährverbindung allerdings im Januar 2006 wieder eingestellt. Zugverkehr Toronto ist Ausgangspunkt des transkontinentalen Fernverkehrszuges The Canadian. Eisenbahn-Fernverkehrszüge der VIA Rail Canada verkehren ausgehend vom Hauptbahnhof Union Station in Richtung Montreal–Quebec, Ottawa, Windsor, Sarnia, Niagara Falls–New York (zusammen mit Amtrak betrieben) und Greater Sudbury–Winnipeg–Edmonton–Vancouver. Die Ontario Northland Railway setzt Fernzüge in Richtung Cochrane–Moosonee ein, Amtrak einen Zug nach New York. Individualverkehr Für den Individualverkehr existieren mehrere Autobahnen in Ost-West- und in Nord-Süd-Richtung. Die Hauptverkehrsader bildet der etwas nördlich des Stadtzentrums gelegene Highway 401, der in bestimmten Abschnitten die höchste Verkehrsdichte in Nordamerika aufweist. Am Ufer des Ontariosees verbindet die Stadtautobahn Gardiner Expressway die westlichen Vororte mit der Innenstadt. Am Ostende verbindet der Don Valley Parkway den Gardiner Expressway mit dem Highway 401. Parallel zum Highway 401 verläuft der mautpflichtige Highway 407 ETR. Die 108 km lange Autobahn verbindet die Städte Burlington mit Pickering; die Maut wird mit Hilfe von automatischer Nummernschilderkennung und Funksendern erhoben. 401 und 407 werden von den nordwärts verlaufenden Highways 400 und 404 gekreuzt. Ebenfalls in Nord-Süd-Richtung verläuft der 21 km lange Highway 427. Er leitet vom Gardiner Expressway nordwärts am Toronto Pearson International Airport vorbei bis nach Vaughan. Eine weitere Verzweigung des 427 an dessen Südende mündet in den Queen Elizabeth Way (QEW), der am Ostufer des Ontariosees nach Niagara Falls führt. Entlang der Yonge Street tragen zur besseren Orientierung in der Innenstadt die in Ost-West-Richtung verlaufenden Straßen den Zusatz East bzw. West. Öffentliche Einrichtungen Von den über 20 Krankenhäusern gehört seit 1999 rund die Hälfte zum Netzwerk des Universitätsklinikums. Das 1812 gegründete Toronto General Hospital ist das Hauptkrankenhaus der Unikliniken. Die Feuerwehr in Toronto, die Toronto Fire Services, wurde im Jahr 1874 eingerichtet. Vor dieser Zeit führten Freiwillige die Brandbekämpfung durch. Mit der Gebietsreform 1998 bilden die Feuerwehren der Stadtteile eine Organisationseinheit. Die Feuerwehr Torontos ist mit rund 3100 Einsatzkräften, 81 Stationen und weit über 100 Fahrzeugen die größte Kanadas und nach New York City, Chicago und Los Angeles die viertgrößte Nordamerikas. Torontos Polizei besteht seit 1834. Der Toronto Police Service ist in 17 Einheiten mit 5710 Polizisten gegliedert. Die Legislativversammlung von Ontario hat ihren Sitz im Parlamentsgebäude am Queen’s Park. Die 107 Mitglieder werden mit Mehrheitswahl in den einzelnen Wahlkreisen Ontarios bestimmt. Die Stadt hat drei Gerichte, die für Verstöße gegen das Provinzrecht von Ontario zuständig sind. Kultur und Sehenswürdigkeiten Toronto gilt als eines der drei größten Kulturzentren Kanadas. Stadtbild und Architektur Torontos Architekturtradition setzte Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Viele der führenden Architekten haben in Toronto Bauwerke gestaltet, wie beispielsweise der aus Toronto stammende Frank Gehry, Daniel Libeskind, Norman Foster, Will Alsop, Ieoh Ming Pei, Ludwig Mies van der Rohe und Santiago Calatrava. Einige architektonische Stile wurden in Toronto entwickelt, wie der sogenannte Bay-and-Gable-Stil. Dabei handelt es sich um sehr schmale, teilweise nur sechs Meter breite, halb freistehende Reihenhäuser aus rotem Backstein. Der Begriff bay-and-gable beschreibt zwei Charakteristika: Die Häuser besitzen einen Erker (englisch: bay window) und einen spitzen Giebel (englisch: gable). Die Häuser im viktorianischen Stil enthalten manchmal auch neogotische Elemente. Die meisten Bay-and-Gable-Häuser findet man in den Vierteln The Annex, Cabbagetown und Little Italy. Das Straßensystem ist größtenteils schachbrettförmig angelegt. Eine der wichtigsten Straßen ist die Yonge Street. Gedacht war sie als militärische Nachschublinie; heutzutage spielt sich das wirtschaftliche und kulturelle Leben hauptsächlich entlang dieser Straße ab. Sie beginnt in einer Entfernung von mehr als 1800 Kilometern im Hinterland, endet am Ontariosee und ist damit eine der längsten Straßen Nordamerikas. Das Stadtzentrum (Central Business District) dehnt sich im Norden bis zur Bloor Street, im Süden bis zum Viertel Harbourfront, im Westen bis zur Spadina Avenue und im Osten bis zur Parliament Street aus. Zwischen dem Hauptbahnhof Union Station und der Harbourfront verläuft die mehrspurige Stadtautobahn Gardiner Expressway. Im Bereich der Downtown verläuft die Stadtautobahn aus Platzgründen meist auf einer Brückenkonstruktion. Außerhalb des Stadtkerns prägen kleine Häuser das Stadtbild. Der Stadtkern besteht vor allem aus hohen Bauwerken. Im Metropolraum Greater Toronto Area gibt es nahezu 2000 Gebäude, die 30 Meter übersteigen; damit besitzt Toronto nach New York City die zweithöchste Anzahl an Hochhäusern auf dem nordamerikanischen Kontinent. Allein in Downtown Toronto gibt es über 100 Wolkenkratzer, die höher sind als 100 Meter. Der höchste Wolkenkratzer Torontos ist mit 298 Metern der First Canadian Place an der Ecke King Street und Bay Street. Anfang des Jahres 2009 stieg die Zahl der Wolkenkratzer deutlich an, außerdem befanden sich mehrere hundert Hochhäuser in der Planungs- oder Bauphase. Südlich der Innenstadt befinden sich die Toronto Islands, vier künstlich erweiterte Inseln im Ontariosee und schirmen den Hafen vom See ab. Auf der westlichsten Insel liegt ein kleiner Flughafen (Flughafen Toronto-City), der über eine Fährverbindung von der Innenstadt aus zu erreichen ist. Die übrigen Inseln sind als Park mit kleineren Seen, Wasserläufen, Seebrücke, Strand und Vergnügungseinrichtungen gestaltet. Die Inseln sind für den motorisierten Individualverkehr gesperrt und vom Queen’s Quay Terminal mit Personenfähren in etwa zehn Minuten erreichbar. CN Tower Höchstes freistehendes Bauwerk des amerikanischen Doppelkontinents, städtebauliche Dominante und Wahrzeichen ist der 1976 fertiggestellte Canadian National Tower, kurz CN Tower. Von seiner Fertigstellung bis zum Richtfest des Canton Tower im Mai 2009 war er mit 553 Metern der höchste Fernsehturm der Welt. Der Turm zählt mit jährlich rund zwei Millionen Besuchern zu den meistbesuchten Gebäuden Kanadas, wobei er ursprünglich nur für die Funkübertragung geplant worden war. Bis zum 12. September 2007 war der CN Tower auch das höchste freistehende Bauwerk der Erde. Diesen Rang nimmt mittlerweile der Burj Khalifa in Dubai mit 828 Metern ein. Neben einem Drehrestaurant und einer Aussichtsplattform auf 342 und 346 Meter Höhe hat der Turm eine zweite Aussichtsplattform (Sky Pod) unterhalb des Antennenmastes auf einer Höhe von 447 Metern, bis 2008 die höchste Aussichtskanzel der Welt. Sportstätten und Veranstaltungshallen Benachbart zum CN Tower ist das 1989 eröffnete und am 2. Februar 2005 in Rogers Centre umbenannte frühere SkyDome. Die 54.000 Plätze fassende Arena ist die Heimat der BlueJays (Baseball) und der Argonauts (Canadian Football) und verfügte bei seiner Eröffnung als erste Sportarena der Welt über ein komplett zurückfahrbares Dach und über die größte Videotafel der Welt. In dem Gebäude befinden sich das Renaissance Toronto Hotel Downtown (früher: SkyDome Hotel), das 70 zweigeschossige Suiten mit Sicht aufs Spielfeld anbietet und ein Restaurant (bis 2009 Hard Rock Cafe), gleichfalls mit Ausblick auf das Spielfeld. Östlich des Rogers Centre steht auf der Südseite der Bahnlinien die Mehrzweckhalle Air Canada Centre, die neben Konzerten und Theatervorführungen auch als Heimspielarena der Basketballmannschaft Toronto Raptors, der Eishockeymannschaft Toronto Maple Leafs, der Lacrossemannschaft Toronto Rock und der Footballmannschaft Toronto Phantoms dient. Je nach Veranstaltung bietet die Halle bis zu 19.800 Zuschauern Platz. Westlich der Downtown befindet sich das im April 2007 fertiggestellte, größte reine Fußballstadion Kanadas, das BMO Field, für rund 20.000 Zuschauer. Downtown Gegenüber der Union Station an der Front Street befindet sich das Luxushotel Fairmont Royal York. Das 1929 fertiggestellte Gebäude ist 124 Meter hoch, hat 28 Stockwerke und unterschiedlich hoch abgestufte Gebäudeteile. Es war bis 1931 das höchste Gebäude der Stadt. Unter dem Stadtteil befindet sich das über 28 Kilometer lange Tunnelnetz PATH, das unterirdisch Bürokomplexe und über 1200 Geschäfte und Ämter miteinander verbindet. Die Nord-Süd-Achse dieses Netzes reicht vom Royal York Hotel und der Union Station bis weit über die Queen Street West hinaus. In der Ost-West-Achse bilden die U-Bahn-Stationen der gelben Linie St. Andrew und King die äußersten Punkte dieser weltgrößten Untergrundstadt. Ebenfalls ans PATH angeschlossen ist der Brookfield Place (ehemals BCE Place), ein Büro- und Gewerbekomplex, der aus den zwei Wolkenkratzern Bay Wellington Tower (207 Meter) und TD Canada Trust Tower (261 Meter) besteht. Geplant wurde dieser Komplex von dem Torontoer Architekturbüro Bregman + Hamann Architects unter Mitwirkung von Santiago Calatrava, der die sechsstöckige Allen Lambert Galleria entwarf. Diese Galerie, einschließlich eines großen, lichtdurchfluteten Atriums, das von einer bogenartigen Strebenkonstruktion abgeschlossen wird, verbindet beide Wolkenkratzer. Östlich des Brookfield Place steht das 1892 errichtete Gooderham Building, ein markantes Bügeleisengebäude. Das Toronto-Dominion Centre ist ein von Ludwig Mies van der Rohe zwischen 1967 und 1969 erbauter Gebäudekomplex aus sechs Hochhäusern. Die markantesten Bauwerke sind zwei schwarze Wolkenkratzer, der höchste von ihnen ist mit 222 Metern der Toronto-Dominion Bank Tower. In der Nähe des IBM Tower befindet sich die Börse von Toronto. Das in den 1970er Jahren eröffnete Eaton Centre ist ein sechsstöckiges Einkaufszentrum mit über 300 Geschäften, 17 Kinos, Diskotheken und einem Luxushotel, das wöchentlich von bis zu einer Million Menschen frequentiert wird. Es wurde nach dem irischen Einwanderer Timothy Eaton benannt, der 1869 an dieser Stelle einen Gemischtwarenladen eröffnete. Aus diesem entstand ein in ganz Kanada bekanntes Versandhaus. Der südliche Eingang befindet sich an der Ecke Queen Street West und Yonge Street; das Einkaufszentrum zieht sich nördlich bis zum Dundas Square hin und ist unterhalb der Oberfläche auch mit dem PATH verbunden. Das Eaton Centre wurde unter Mitwirkung des deutschen Architekten Erhard Zeidler zusammen mit Bregman + Hamann Architects entworfen. Östlich vom Südeingang des Eaton Centre, an der Ecke von Queen Street West und Bay Street, befindet sich der von dem finnischen Architekten Viljo Revell Anfang der 1960er Jahre errichtete avantgardistische Gebäudekomplex des Neuen Rathauses von Toronto. Die beiden Gebäude sind 20- bzw. 27-geschossige Hochhäuser mit gebogenem Grundriss. Über einem unteren muschelförmigen Plenarsaal sind die zwei Hochhäuser miteinander verbunden. Das Gebäude dient seit 1965 als Rathaus und befindet sich gegenüber dem Alten Rathaus. Westlich des Rathauses schließt sich die Osgoode Hall an. Das ehemalige Gerichtsgebäude wurde zwischen 1835 und 1855 errichtet und ist nach dem ersten Oberrichter William Osgoode von Oberkanada benannt. Die St.-James-Kathedrale ist mit knapp 93 Metern höchster Kirchenbau Torontos und nach dem St.-Josephs-Oratorium in Montreal der zweithöchste Kanadas. Die 1844 fertiggestellte anglikanische Kirche gehört zur ältesten Kirchengemeinde der Stadt und steht etwas abseits der Innenstadt an der Church Street, an der sich viele weitere Kirchen Torontos befinden. Südlich des St.-James-Parks befindet sich der St. Lawrence Market mit einem Süd- und einem Nordbau. Das südliche Gebäude diente der Stadt zwischen 1845 und 1904 als Rathaus; heute informieren wechselnde Ausstellungen über die Stadtgeschichte. Der erste Stock war früher eine Polizeistation. Heute bieten vor allem in der nördlichen Markthalle über 120 Händler ihre Erzeugnisse an. Außerhalb Downtown Nördlich des Stadtzentrums befindet sich Casa Loma, ein Schloss in „europäischem“ Stil, das Sir Henry Pellatt Anfang 1900 baute. Es ist heute ein Museum mit 98 Zimmern, Geheimgängen, einem alten Schwimmbad und einem botanischen Wintergarten. Die Chinatown von Toronto gehört zu den größten in Nordamerika. Wie auch die anderen zeichnet sie sich durch zweisprachige Straßenschilder und zahlreiche chinesische Geschäfte und Restaurants aus. Sie befindet sich im Bereich der Dundas Street West und der Spadina Avenue unmittelbar westlich der Yonge Street. Das Viertel geht bis in das Jahr 1878 zurück. Damals halfen hunderte eingewanderte Chinesen den Canadian Pacific Railway zu bauen. Den größten Zuwachs an chinesischen Einwanderern verzeichnete Toronto in den Jahren 1947 bis 1960. Als 1961 der Bau des neuen Rathauses am Nathan Phillips Square begann, verlagerte sich das Chinesenviertel von der Kreuzung zwischen Queens Street und Bay Street in westliche Richtung. Östlich des Don Valley Parkway liegt Greektown (Toronto), ein Stadtviertel an der Danforth Avenue gelegen, in dem vornehmlich griechische Einwanderer leben. In den 1970er und 1980er Jahren galt das Viertel als das größte Griechenviertel Nordamerikas. In dem Viertel entlang der Danforth Avenue Ecke Pape befinden sich zweisprachige Straßenschilder auf Englisch und Griechisch. Mit rund 125.000 Griechen ist Greektown heute die zweitgrößte griechische Gemeinschaft außerhalb Griechenlands. An der mit griechischen und kanadischen Flaggen gesäumten Danforth Avenue sind zahlreiche Restaurants und Cafés mit griechischer Küche und Musik zu finden. Auf drei künstlichen Inseln im Ontariosee befindet sich der etwa 566.000 Quadratmeter große, am 22. Mai 1971 eröffnete Freizeitpark Ontario Place. Er liegt rund vier Kilometer westlich der Downtown. Neben verschiedenen Wildwasserbahnen und Wasserrutschen gehört ein großes IMAX-Kino zu den Attraktionen. Park- und Gartenanlagen Im Stadtgebiet befinden sich weit über 200 Parkanlagen und Gärten mit über 90 Kilometer Spazierwegen. Der mit 161 Hektar größte Park ist der High Park im Westen nördlich der Humber Bay. Er erstreckt sich südlich der Bloor Street West und westlich des Parkside Drive, östlich der Ellis Park Road. Er ist eine Mischung aus Naherholungsgebiet und Naturpark mit einem Zoo. Allan Gardens ist ein botanischer Garten, den der frühere Bürgermeister George William Allan stiftete. Sechs Gewächshäuser zeigen beispielsweise seltene tropische Pflanzen und Palmen. Die Universität verlegte 1931 ihr Gewächshaus in die Allan Gardens. Der rund 15 Hektar große Trinity Bellwoods Park zwischen dem Gebiet nördlich der Queen Street West und der Dundas Street enthält Spielflächen für diverse Sportarten wie Tennis, Fußball oder Volleyball. Der HTO Park in der Harbourfront südlich des Rogers Centre ist ein 2007 am Ufer des Ontariosees eröffneter Stadtstrand. Im Nordosten der Stadt befindet sich der 287 Hektar große Zoologische Garten, der Toronto Zoo. Der Neubau wurde 1970 aufgrund einer Bürgerinitiative begonnen und am 15. August 1974 eröffnet. Er ist flächenmäßig der drittgrößte Zoo der Welt mit über zehn Kilometer Fußwegen und beherbergt rund 5000 Tiere und 460 Arten. Sein Vorgänger, der Riverdale Zoo, wurde 1888 eröffnet. Jährlich verzeichnet der Zoo rund 1,2 Millionen Besucher. In unmittelbarer Nähe des Zoos befindet sich der Rouge National Urban Park, ein Nationalpark. Die mit Fähren erreichbaren vorgelagerten Toronto Islands bieten auf 230 Hektar weitläufige Spazierwege, Strände und Sportanlagen. Über 1,2 Millionen Besucher nutzen jährlich die Möglichkeiten des Toronto Island Parks. Musik und Theater Die Stadt besitzt eine Konzerthalle namens Roy Thomson Hall für das Toronto Symphony Orchestra, die Massey Hall (Vorgängerin der Roy Thomson Hall), weitere Konzertsäle sowie eine Anzahl von Gebäuden für Oper, Ballett, Operette und Schauspiel. Nach London und New York hat Toronto die drittgrößte Theaterszene im englischsprachigen Raum. Besondere Bekanntheit erlangte das 1907 eröffnete Royal Alexandra Theatre. In Anlehnung an den Hollywood Walk of Fame wurde 1998 in 13 Straßenzügen rund um das Royal Alexandra Theatre Canada’s Walk of Fame eröffnet. Dort werden derzeit 131 berühmte kanadische Sportler, Sänger und Stars aus der Medienwelt mit einem Gedenkstein im Bürgersteig gewürdigt. Am 14. Juni 2006 wurde das Four Seasons Centre eröffnet, ein über 2000 Sitze fassendes Opernhaus südlich des neuen Rathauses. Der für 181 Millionen Dollar errichtete Bau ersetzte das große Opernhaus aus dem Jahr 1874. Dort tritt das kanadische Nationalballett und die Canadian Opera Company auf. Toronto ist der Heimatort des renommierten Barockorchesters Tafelmusik. Neben einer weitgefächerten Musikindustrie ballt sich hier die englischsprachige Literaturszene. Viele Literaten studierten an der University of Toronto, wie Stephen Leacock, Margaret Atwood und Michael Ondaatje (Der englische Patient). Kunst und Museen Die Stadt besitzt mehrere bedeutende Museen. Die Art Gallery of Ontario (AGO) mit den Sammlungsschwerpunkten Kanadische Malerei, Europäische Malerei und Skulpturen von Henry Moore ist eines der größten Kunstmuseen Nordamerikas. Das meist nur ROM genannte Royal Ontario Museum ist das größte Museum Kanadas. Es verfügt über Sammlungen zur Naturwissenschaft, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte sowie zu den First Nations. Durch seine Kunstsammlung aus Fernost wurde es weltbekannt. Seit Juni 2007 wartet das ROM mit zehn erweiterten Galerien auf. Der Neubau und der Altbau wurden dabei ineinander verschachtelt. Die neue Außenfassade The Crystal hat eine dem Dekonstruktivismus zuzuordnende, zerklüftete, kristallähnliche Form, die zu 25 % aus Glas und zu 75 % aus Aluminium besteht. In der zur Bloor Street West zeigenden Fassade befindet sich der Haupteingang des Museums. Der von dem Architektenbüro Bregman + Hamann und Daniel Libeskind entworfene Neubau kostete 270 Millionen Dollar. Das Museum of Contemporary Canadian Art präsentiert zeitgenössische Kunst. Im 2012 eröffneten Ryerson Image Centre (RIC) werden Ausstellungen zu Fotografie, Neuen Medien, Installationskunst und Film gezeigt. Die internationale Hockey Hall of Fame (HHOF) ist eine Institution, die die besten Eishockeyspieler in einem Eishockeymuseum ehrt. An der Bloor Street West befindet sich das Bata Shoe Museum, ein Schuhmuseum, das zum Bata-Konzern gehört. Das 1979 gegründete Museum zeigt über 12.000 Schuhe, die ältesten Exponate stammen aus der Zeit von etwa 2500 v. Chr. Insgesamt zehn verschiedene Häuser, Schulen, Industriegebäude und sonstige Bauten sind zu historischen Stätten erklärt worden. Eine der bedeutendsten ist die Fort York National Historic Site. Sie befindet sich an dem Ort, an dem Toronto 1793 gegründet wurde und an dem am 27. April 1813 der Höhepunkt des Britisch-Amerikanischen-Krieges als Schlacht von York stattfand. Etwa elf Kilometer nordöstlich der Downtown befindet sich das Ontario Science Centre, ein 1969 eröffnetes Wissenschaftsmuseum. Es zeigt naturwissenschaftliche Zusammenhänge anhand von Experimenten, die von den Besuchern selbst durchgeführt werden können. Es verzeichnet jährlich rund 1,5 Millionen Besucher. Sport Toronto ist mit Ausnahme der National Football League (NFL) in allen großen nordamerikanischen Profisportligen mit jeweils einer Mannschaft vertreten. In der Eishockeyliga National Hockey League (NHL) zählen die Toronto Maple Leafs mit 13 Gesamtsiegen und 21 Finalteilnahmen beim Stanley Cup zu den erfolgreichsten Eishockeymannschaften Nordamerikas. Als Farmteam für die Toronto Maple Leafs fungieren die Toronto Marlies in der Eishockeyliga American Hockey League (AHL). In der Basketballliga der National Basketball Association (NBA) spielen die Toronto Raptors als einzige Basketballmannschaft außerhalb der Vereinigten Staaten. Wie auch die Toronto Maple Leafs, tragen die Toronto Raptors ihre Spiele in der Scotiabank Arena aus. Die Baseballmannschaft der Toronto Blue Jays, ebenfalls die einzige Mannschaft der Baseballliga Major League Baseball (MLB) außerhalb der Vereinigten Staaten, und die im Canadian Football aktiven Toronto Argonauts spielen im weithin sichtbaren und mitten im Stadtzentrum befindlichen Rogers Centre. Die Meisterschaft der Canadian Football League (CFL), der Grey Cup, fand bereits 48 Mal in Toronto statt. Aufgrund dieser Sonderstellung in den wichtigsten Profisportligen der Vereinigten Staaten gilt Toronto als die – sportlich gesehen – amerikanisierteste Stadt Kanadas. Weitere erwähnenswerte Mannschaften der Stadt sind die Toronto Rock, die in der National Lacrosse League (NLL) das in Kanada äußerst beliebte Lacrosse spielen, sowie der Toronto FC, der neben den ebenfalls aus Kanada stammenden Vancouver Whitecaps in der Fußballliga Major League Soccer (MLS) spielt. Darüber hinaus ist Toronto eine Hochburg des Rugby in Kanada. Im gesamten Ballungsraum existieren über 70 traditionsreiche Rugbyclubs. Überregionale Bedeutung besitzen die Ontario Blues, die im heimischen Canadian Rugby Championship (CRC) sowie dem internationalen Americas Rugby Championship (ARC) gegen Mannschaften aus Nord- und Südamerika antreten und mit den Toronto Arrows ein eigenes Franchiseteam innerhalb der Rugbyliga Major League Rugby (MLR) stellen. Mit insgesamt sieben Traditionsvereinen und weiteren akademischen Riegen ist Toronto überdies ein Zentrum des kanadischen Rudersports, der an der sogenannten Hanlanbucht im Ontariosee seinen Ursprung hat. Toronto war Austragungsort zahlreicher internationaler Sportveranstaltungen. Nachdem die Olympischen Sommerspiele 1976 nach Montreal vergeben worden waren, war die Stadt Ausrichter der Paralympischen Sommerspiele 1976. Für die Olympischen Sommerspiele 1996 und 2008 bewarb sich die Stadt, unterlag allerdings gegen Atlanta bzw. Peking. Das Kanadische Olympische Komitee (COC) mit Sitz in Toronto erwog daraufhin, sich ein drittes Mal zu bewerben. Die Stadt richtete 1997 zusammen mit Collingwood die 6. Special Olympics World Winter Games aus. Die 6. Special Olympics World Winter Games fanden vom 1. bis 8. Februar 1997 in Toronto und Collingwood statt. Dies war das erste und bislang einzige Mal, dass Kanada Gastgeber für Special-Olympics-Weltspiele war. Bis dahin hatten alle Spiele mit Ausnahme der Special Olympics World Winter Games 1993 in den USA stattgefunden. Fast 2.000 Athleten aus 73 Ländern und mehr als 5.000 Freiwillige waren an den Spielen beteiligt. Bei der Veranstaltung waren fünf Wettkampfsportarten und eine Demonstrationssportart vertreten: Eiskunstlauf: Toronto, Hallenhockey: Toronto, Ski Alpin: Blue Mountain Resort, Collingwood, Skilanglauf: Highlands Nordic, Collingwood, Eisschnelllauf: Toronto. Als Demonstrationssportart war Schneeschuhlaufen dabei. Auch Eisstockschießen wurde laut einer anderen Quelle angeboten. Seit 1990 findet im jährlichen Wechsel mit Montreal das Rogers Masters in Toronto statt, das zu den Turnieren der ATP Masters Series zählt. 1993 fanden dort die 4. Leichtathletik-Hallenweltmeisterschaften statt. Ein Jahr später war Toronto neben Hamilton Austragungsort der Basketball-Weltmeisterschaft. 2000 wurden die Du Maurier Open 2000 in Toronto abgehalten. Ebenfalls seit 2000 findet im Herbst jährlich der Toronto Waterfront Marathon im Stadtzentrum statt. Toronto war ferner gemeinsam mit der Region des Golden Horseshoe Austragungsort für die Panamerikanischen Spiele 2015. Regelmäßige Veranstaltungen Das Toronto International Film Festival Anfang September ist eines der größten Filmfestivals Nordamerikas. Es findet seit 1976 mit der Verleihung der Genie Awards (seit 1980) und der Gemini Awards (seit 1986) statt. Das an unterschiedlichen Orten stattfindende internationale Filmfestival IFCT Festival fand 2002 in Toronto statt. Im Februar findet seit 1974 jährlich die Canadian International AutoShow im Metro Toronto Convention Centre und im Rogers Centre statt. Sie ist mit 79.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche die größte Automobilausstellung Kanadas. Die seit 1981 im März (ab 2014: im Mai) stattfindende viertägige Canadian Music Week ist ein Musikfestival und eine Musikkonferenz. Seit 1968 findet Anfang Juni in Toronto das ethnisch-kulturelle Volksfest International Caravan statt. Es besteht aus musikalischen und folkloristischen Veranstaltungen in Form von Konzerten und Theateraufführungen in mehr als 30 Pavillons im Stadtgebiet. Die Pride Week Ende Juni jeden Jahres gehört zu den größten Gay-Pride-Festivals weltweit. Höhepunkte sind der Dyke March und die Pride Parade, an der bis zu über eine Million Menschen teilnehmen. Seit 1989 findet jährlich im Sommer viertägige Beaches International Jazz Festival als Freiluft-Veranstaltung im Viertel The Beaches von Old Toronto statt, der Hauptact jeweils auf einer Bühne im Kew Garden. Parallel dazu spielen Bands auf einer Strecke von zwei Kilometern entlang der Queen Street East. Außerdem gibt es seit 1987 das Toronto Jazz Festival im Juni/Juli. Im Juni gibt es seit 1995 das Musik- und Kulturfestival North by Northeast (NXNE). Seit 1994 findet in der Greektown jährlich im August das Festival Taste of the Danforth statt. Einst nur ein lokales Straßenfest mit griechischen Spezialitäten, zieht es heute weit über 1,5 Mio. Besucher an. Das Canadian National Exhibition ist eine Mischung aus Jahrmarkt und Landwirtschaftsmesse. Die Veranstaltung findet seit 1879 von Mitte August bis zum Labour Day auf dem Exhibition Place, einem Platz westlich der Downtown statt. Sie ist mit jährlich etwa 1,3 Millionen Besuchern Nordamerikas fünftgrößte Messe. Neben den Ausstellungen gibt es auch Sport- und Musikveranstaltungen sowie eine Flugschau. Die Toronto Santa Claus Parade ist eine seit 1905 stattfindende Weihnachtsparade Mitte November. Mehr als eine halbe Million Menschen schauen jeweils der Parade auf sechs Kilometer der Innenstadt Torontos zu. Sie wird seit 1952 landesweit im Fernsehen übertragen. Toronto in den Medien Wegen seiner wichtigen Stellung im Bereich Medien und Film wird Toronto auch als das „Hollywood des Nordens“ bezeichnet. So ist die Stadt häufig Dreh- oder Handlungsort von internationalen Filmen. Im Jahr 2007 gaben Filmproduktionsgesellschaften insgesamt 791 Millionen Dollar für Dreharbeiten in Toronto aus. Die für Film und Fernsehen zuständige städtische Behörde Toronto Film and Television Office berichtet von etwa 200 Produktionen im Jahr 2005, darunter 39 Spielfilme, 44 Fernsehfilme und 84 Fernsehserien. Besonders das aus den 1960er Jahren stammende, futuristisch anmutende Rathaus (Toronto City Hall) diente schon vielen Filmen als Kulisse. In dem amerikanischen Thriller The Sentinel – Wem kannst du trauen? ist das Rathaus Schauplatz eines G8-Gipfels, daneben spielt der Film u. a. am Nathan Phillips Square, wo das Finale stattfindet. In dem Horrorfilm Resident Evil: Apocalypse (2004) dient die Toronto City Hall als Rathaus der fiktiven Stadt Raccoon City, das Exhibition Place wird in dem Film als National Trade Centre bezeichnet. In der Episode All Our Yesterdays (1969) aus der Science-Fiction-Fernsehserie Raumschiff Enterprise ist das Rathaus ein Portal der Außerirdischen. Und in der Actionkomödie The Tuxedo – Gefahr im Anzug dient es als Hauptquartier eines Nachrichtendienstes. Die Filmdramen M. Butterfly (1993) von Regisseur David Cronenberg und Das süße Jenseits (1997) unter der Regie von Atom Egoyan spielten teilweise in Toronto ebenso wie Take This Waltz von Sarah Polley (2011). M. Butterfly hatte beim Toronto Film Festival seine Weltpremiere. Die Kinokomödienreihe Police Academy wurde teilweise in Toronto gedreht, der dritte Teil fast vollständig. Der Film soll zwar offenbar in einer US-amerikanischen Großstadt spielen, man sieht aber mehrfach die markante Skyline Torontos. Der Titel des Films Am Highpoint flippt die Meute aus bezieht sich auf den Turmkorb des CN Tower, wo der Showdown stattfindet. Um den Absturz des Antagonisten darzustellen, sprang der Stuntman Dar Robinson mit einem Fallschirm vom Turm. Die aus Toronto stammenden Cowboy Junkies haben den Stil des Alternative Country maßgeblich geprägt. Am 27. November 1987 nahmen sie das Album The Trinity Session in der Torontoer Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit (Church of the Holy Trinity) auf. Die erfolgreiche Alternative-Rock-Band Barenaked Ladies wurde 1988 in Scarborough gegründet und nahm auch ihre Alben in Toronto auf. Der Rapper Snow beschreibt in seinem bekanntesten Song Informer Anfang der 1990er Jahre seine Herkunft aus Toronto. Der Film Rot spielt in Toronto. Persönlichkeiten Toronto ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten, zu denen der für die Gründung Kanadas wichtige Politiker Robert Baldwin (1804–1858) zählt. Als kanadische Hauptstadt für Film, Musik und Medien sind besonders viele Persönlichkeiten aus diesem Bereich vertreten. In Toronto sind folgende Filmschaffende geboren: Raymond Massey, Michael Ironside, Mike Myers, Harland Williams, Will Arnett, die Schauspielerin Jessica Steen und der Regisseur David Cronenberg, der vor allem für seine Horrorfilme bekannt geworden ist. Weltweit bekannt ist vor allem der gebürtige Torontoer Rockmusiker Neil Young. Nicht aufgewachsen in Toronto ist der Komiker und Schauspieler Jim Carrey. Er trat bereits mit 15 Jahren auf verschiedenen Bühnen von Clubs in Toronto auf. Zum Teil in Toronto aufgewachsen ist die portugiesisch-kanadische Sängerin Nelly Furtado. Aus Toronto stammt die Rockband Rush und ihr Sänger und Bassist Geddy Lee. Der bedeutende Pianist und Musikautor Glenn Gould wurde in Toronto geboren und starb dort mit 50 Jahren nach einem Schlaganfall. Der weltweit als Architekt und Designer tätige Frank Gehry wurde 1929 ebenfalls in Toronto geboren. Der Pritzker-Preis-Träger erhielt 1998 von der University of Toronto die Ehrendoktorwürde. Die Universität benannte sogar einen eigenen Lehrstuhl für jährlich wechselnde Gastprofessoren nach ihm. Das einzige Werk Gehrys in Toronto ist die Neugestaltung des Art Gallery of Ontario im Jahr 2008. Der frühere Premierminister Lester Pearson wurde 1897 in dem heutigen Torontoer Bezirk Newtonbrook geboren und wuchs in Toronto auf. Er studierte am Victoria College und an der University of Toronto. 1957 erhielt er als Initiator der Beendigung der Sueskrise den Friedensnobelpreis. Der von 2006 bis 2015 amtierende kanadische Premierminister Stephen Harper wurde in Toronto geboren und ist in der Stadt aufgewachsen. Ebenfalls aus Toronto stammt Newcomer Shawn Mendes. Dieser lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem Vorort Torontos. In Toronto wirkte auch eine Reihe berühmt gewordener Wissenschaftler. Der Arzt Frederick Banting studierte und arbeitete dort. Für die Entdeckung des Insulins erhielt er 1923 zusammen mit dem ebenfalls in Toronto forschenden John James Richard Macleod den Nobelpreis für Medizin. Arthur L. Schawlow, der 1941 sein Studium der Mathematik und Physik an der University of Toronto abschloss, erhielt 1981 wegen seiner Mitwirkung an der Entwicklung des Lasers den Nobelpreis für Physik. Ebenfalls den Physik-Nobelpreis erhielt Bertram Brockhouse, der an der Universität in Toronto diplomierte. John C. Polanyi ist Hochschullehrer in Toronto und erhielt 1986 den Nobelpreis für Chemie. Der Physiker Walter Kohn wurde 1946 Master in Angewandter Mathematik an der University of Toronto und erhielt 1998 den Nobelpreis für Chemie. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway wohnte Anfang der 1920er Jahre in Toronto und begann seine Karriere als Journalist beim Toronto Star. Die in Montreal geborene Journalistin und Ikone der Globalisierungskritik Naomi Klein lebt mit Familie in Toronto. Literatur Englischsprachige Literatur A. Rodney Bobiwash: The History of Native People in the Toronto Area. An Overview, in: Frances Henderson, Heather Howard-Bobiwash (Hrsg.): The Meeting Place. Aboriginal Life in Toronto, Native Canadian Centre of Toronto, Toronto 1997, S. 5–24 ISBN 978-0-9682546-0-8. G.P. deT. Glazebrook: Story of Toronto. University of Toronto Press, Toronto 1971, ISBN 0-8020-1791-6. Derek Hayes: Historical Atlas of Toronto, Douglas & McIntyre 2008, ISBN 978-1-55365-290-8. Key Porter Books Limited (Hrsg.): Toronto: A City Becoming, Key Porter Books 2008, ISBN 978-1-55263-949-8. Sean Stanwick, Jennifer Flores: Design City Toronto, Academy Press 2007, ISBN 978-0-470-03316-6. E. R. A. Architects: Concrete Toronto, Univ. of Chicago Press 2007, ISBN 978-1-55245-193-9. Ronald F. Williamson: Toronto: A Short Illustrated History of Its First 12,000 Years, James Lorimer & Company Ltd., 2008, ISBN 978-1-55277-007-8. Julie-Anne Boudreau, Roger Keil, Douglas Young: Changing Toronto Governing Urban Neoliberalism, University of Toronto Press 2009, ISBN 978-1-4426-0133-8. Deutschsprachige Literatur Heike Schiewer: Stadtplanung in einer multikulturellen Gesellschaft: Planerisches Rollenverständnis und Planungsprozesse in Toronto/Kanada, Informationskreis f. Raumplanung 1999, ISBN 978-3-88211-108-8. Julia Czerniak: Downsview Park Toronto, Prestel 2002, ISBN 978-3-7913-2536-1. Genevieve Susemihl: '… and it became my home.'. Die Assimilation und Integration der deutsch-jüdischen Hitlerflüchtlinge in New York und Toronto, Lit-Verlag 2004, ISBN 978-3-8258-8035-4. Detlev Ipsen: Toronto – Migration als Ressource der Stadtentwicklung, Universität Kassel 2005, ISBN 978-3-89117-152-3. Marc Degens: Toronto. Aufzeichnungen aus Kanada, Mairisch Verlag 2020, ISBN 978-3-938539-59-0. Reiseführer Leonie Senne: Kanada Osten, Iwanowski’s Reisebuchverlag 2007, ISBN 978-3-923975-40-2. Helmut Linde: Kanada, Osten, Baedeker Allianz Reiseführer, ISBN 978-3-8297-1125-8. Christian Heeb, Margit Brinke, Peter Kränzle: Highlights Kanada, Bruckmann Verlag 2008, ISBN 978-3-7654-4760-0. Kurt Ohlhoff: Kanada und seine Provinzen, Komet Verlag Köln, ISBN 978-3-89836-767-7. Sara Benson: Toronto, Lonely Planet 2004, ISBN 978-1-74104-179-8. Natalie Karneef, Charles Rawlings-Way: Toronto. City Guide, Lonely Planet 2007, ISBN 978-1-74059-835-4. Weblinks Toronto (englisch) – Offizielle Website der Stadt Toronto. Toronto Info Center (englisch) – Toronto Informationszentrale Toronto Reiseinformationen (englisch) Toronto – Fototour (englisch) NZZ Online (13. September 2008): Toronto: Baukünstlerische Neuerfindung Einzelnachweise Ort in Ontario Ort mit Seehafen Millionenstadt Kanadische Provinzhauptstadt Ehemalige Hauptstadt (Kanada) Hochschul- oder Universitätsstadt in Kanada
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https://de.wikipedia.org/wiki/Transall%20C-160
Transall C-160
Die Transall C-160 ist ein in den 1960er Jahren vom deutsch-französischen Firmenkonsortium Transporter Allianz entwickeltes taktisches Transportflugzeug, das von den Französischen Luftstreitkräften und den Türkischen Luftstreitkräften eingesetzt wird. Deutschland musterte die C-160 Ende 2021 aus. Die Typenbezeichnung des von zwei Propellerturbinen angetriebenen Schulterdeckers setzt sich aus dem Einsatzzweck (C für Cargo) und der Flügelfläche (160 m²) zusammen. Bekannt wurde das für militärische Einsätze entworfene Flugzeug unter anderem durch Hilfsflüge, die die Luftwaffe insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren nach Afrika durchführte. In kleinerem Umfang wurde die Transall auch zivil eingesetzt. Bei den Luftstreitkräften der zwei aktuellen Nutzerstaaten wird sie seit 2013 nach und nach durch den Airbus A400M abgelöst. Geschichte Entwicklung Im Jahr 1957, als sich der Lizenzbau der Nord 2501 Noratlas noch im Vorbereitungsstadium befand, begannen in Frankreich und Deutschland unabhängig voneinander erste Planungen für die Entwicklung eines Nachfolgemusters. Während sich in Frankreich Nord Aviation und Sud-Aviation/Hurel-Dubois mit dem Projekt befassten, waren dies in Deutschland Weserflug und Hamburger Flugzeugbau (HFB). Die deutschen Entwürfe mit vier Triebwerken zeigten bei der Auslegung deutlich die Einflüsse der Lockheed C-130 Hercules. Die französischen Vorschläge tendierten dagegen mehr zu einer zweimotorigen Lösung, die für strategische Langstreckeneinsätze geeignet sein sollte. Aus deutscher Sicht sollte dagegen die Beschaffung eines taktischen Transporters mit relativ geringer Reichweite im Vordergrund stehen. Beide Länder waren sich jedoch bei der Forderung von STOL-Eigenschaften und der Einsatzfähigkeit auf unvorbereiteten Pisten einig. Die vom HFB durchgeführten Studien führten Anfang 1958 zum Entwurf HFB P.311, der die Möglichkeit des gleichzeitigen Beladens und Entladens über Ladeklappen unter dem Bug und am Heck vorsah. Der geplante Antrieb bestand aus vier Allison-T56-Turboprops und die Flügelfläche sollte 150 m² betragen. Weserflug schlug ebenfalls eine viermotorige Auslegung, aber eine größere Flügelfläche von 180 m² und einen voluminöseren Rumpf mit Heckklappen vor. Eine Eigentümlichkeit, die beide Konzepte aufwiesen, war das geteilte Seitenleitwerk mit obenliegendem Höhenleitwerk. Ein zweiter Entwurf von Weserflug betraf ein kleineres zweimotoriges Flugzeug mit 150 m² und einem Zentralleitwerk. Zugunsten der beiden von Weserflug ausgearbeiteten Vorschläge wurde die HFB P.311 schließlich gestrichen. Nach Bildung der ersten provisorischen „Arbeitsgemeinschaft Transporter“ erhielten die beiden Weserflugprojekte die Bezeichnungen AT 180 und AT 150. Die in Frankreich von Nord-Aviation vorgeschlagene C 40 war in ihrer zweimotorigen Auslegung der AT 150 sehr ähnlich. Hurel-Dubois entwickelte in Zusammenarbeit mit Sud Aviation die SA-HD 120, bei der eine weitspannende Tragfläche mit großer Streckung vorgesehen wurde. Ende April 1958 war die erste Projektierungsphase in beiden Ländern abgeschlossen. Auch Italien interessierte sich als drittes Partnerland für eine Projektbeteiligung, um seine Fairchild C-119 zu ersetzen. Ein aus Mitgliedern der drei Staaten gebildeter Ausschuss erarbeitete ein Lastenheft und übergab dieses am 12. Juni 1958 an Vertreter der deutschen und französischen Luftfahrtindustrie. Der Ausschuss erörterte die vorgelegten Konzepte und empfahl schließlich, die Entwürfe von Nord-Aviation und Weserflug weiter zu verfolgen. Auf deutscher Seite stieß das Ingenieurbüro Blume zur Planungsgruppe hinzu, während in Frankreich Sud-Aviation und Hurel-Dubois ausschieden. Frankreich und Deutschland entschieden, die weitere Planung gemeinsam unter der Federführung von Weserflug fortzuführen, während Italien wegen Finanzierungsbedenken aus dem Programm ausschied. Am 28. Januar 1959 schlossen die vier nunmehr in der „Transporter-Allianz“ zusammengeschlossenen Firmen (Weserflug, HFB, Blume und Nord-Aviation) in Bonn einen Grundsatzvertrag für die geplante Gemeinschaftsentwicklung. Im Februar 1959 wurde anschließend die deutsch-französische Arbeitsgemeinschaft TRANSALL (Transporter Allianz) durch Nord Aviation (Nord) (Paris), Weser-Flugzeugbau (Lemwerder), Hamburger Flugzeugbau (HFB) (Hamburg) und W. Blume – Leichtbau und Flugtechnik (Blume) (Duisburg) gegründet, die das mittlerweile als C-160 bezeichnete Luftfahrzeug in den Versionen F (Frankreich) und D (Deutschland) bauen sollte. Im Dezember 1959 folgte auf Regierungsebene die Unterzeichnung eines Vorvertrags, der den Bau und die Erprobung von drei fliegenden Prototypen, sowie den Bau je einer Bruchzelle für die statische und dynamische Erprobung vorsah. Jedes Land sollte dabei 50 % der Kosten übernehmen. Im Januar 1960 begann die eigentliche Entwicklung der C-160 Transall. Als Antrieb standen mittlerweile die gegenüber den T56 wesentlich leistungsstärkeren Rolls-Royce Tyne mit annähernd 5000 WPS zur Verfügung. Der von beiden Regierungen genehmigte Beschaffungsplan sah 50 Maschinen für die französische und 110 für die deutsche Luftwaffe vor. Im Jahr 1962 kam ein zusätzlicher Auftrag zum Bau von sechs Nullserienflugzeugen hinzu. Der Auftrag zum Bau der 160 Serienflugzeuge erteilten die beiden Länder am 24. September 1964. Nach dem Produktionsplan sollten die drei Hauptwerke Nord-Aviation, Weserflug (inzwischen VFW) und HFB je ein Drittel liefern. Die Entwicklung und Produktion der Baugruppen war wie folgt verteilt: Nord-Aviation: Tragflächen und Triebwerksgondeln VFW: Hauptrumpf, Höhenleitwerk HFB: Rumpfbug, Rumpfheck und Leitwerksteile Montiert und eingeflogen wurden die einzelnen Segmente und Flugzeuge von allen drei Herstellern. Die britische Industrie war durch die Lieferung der Rolls-Royce-Triebwerke und der De-Havilland-Propeller ebenfalls beteiligt. Außerdem lieferte Normalair die Druck- und Klimaanlagen. Das Fahrwerk entwickelte die französische Firma Messier. Der Beschaffung der Transall gingen kontroverse Sitzungen im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestags voraus. Einigkeit bestand darüber, dass die Nord Noratlas schnellstmöglich ersetzt werden müsse, allerdings stand neben der Entwicklung und Fertigung eines eigenen Flugzeuges durch die Transporter-Allianz auch der Kauf oder der Lizenzbau der Lockheed C-130 Hercules in der E-Version zur Diskussion. Für den amerikanischen Transporter sprach bei den Verhandlungen im Jahr 1963 vor allem, dass er durch seinen Einsatz im Vietnamkrieg bereits seine Einsatztauglichkeit bewiesen hatte, während von der Transall nur die Prototypen existierten. Die C-130 bot zudem größere und preisgünstigere Transportleistungen. Letztlich fiel die Entscheidung aber zugunsten der Transall, wenn auch vor allem aus politischen Gründen, weil die deutsche Regierung den Verbündeten Frankreich nicht brüskieren wollte und auch, weil die Bundesregierung nach den aufkommenden Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit der Beschaffung der Lockheed F-104 Starfighter (Starfighter-Affäre) Lockheed nicht mit einer weiteren Bestellung in dieser Größe beauftragen wollte. Prototypen und Vorserienmaschinen Das Erprobungsprogramm wurde mit drei Transall durchgeführt, die als Versuchsmuster (V) 1 bis 3 bezeichnet wurden. Die C-160 V1 startete als erster der drei Prototypen ihren 55-minütigen Erstflug am 25. Februar 1963 in Melun-Villaroche (Frankreich) mit Testpilot Jean Lanvario am Steuer. Am 25. Mai 1963 folgten die V2 in Lemwerder bei Bremen und am 19. Februar 1964 die V3 in Hamburg-Finkenwerder. Neben diesen Maschinen wurden zwei Bruchzellen für Bodenversuche und sechs Vorserienflugzeuge A-01 bis A-06 hergestellt. Aufgrund der Erfahrungen bei den Testflügen wurde der Rumpf der Transall bei Vorserien- und Serienmaschinen gegenüber den Prototypen um einen Spant, etwa 51 cm, vergrößert, zudem wurden die Flügel um 2° 10″ gepfeilt. Nach dem Erstflug wurden die Maschinen am deutsch-französischen Testzentrum Istres stationiert, wo sich neben der französischen Testpilotenschule EPNER lange Zeit eine Außenstelle der Erprobungsstelle 61 (heute Wehrtechnische Dienststelle 61) befand und das Testflugprogramm größtenteils durchgeführt wurde. Auslieferung Die erste offizielle Auslieferung einer Serienmaschine fand am 2. August 1967 in Lemwerder an die französischen Luftstreitkräfte (Armée de l’air) statt. Am 30. April 1968 erhielt die Luftwaffe ihre erste Transall C-160 mit dem taktischen Kennzeichen 50+06. Im ersten Los wurden 169 Transall C-160 hergestellt, von denen 50 an die Armée de l’air, 9 nach Südafrika und 110 an die Luftwaffe geliefert wurden. Die französische Endmontagelinie befand sich in Bourges (Nord), die deutschen in Finkenwerder (HFB) und Lemwerder (VFW). Von den für Deutschland gebauten Flugzeugen wurden 1971/1972 20 Stück an die Türkei verkauft. Dem ging voran, dass die Bundeswehr schon 1967 plante, nicht mehr 110, sondern nur noch 60 Flugzeuge zu kaufen. Diese Idee, offiziell die Folge einer Verkleinerung von Bundeswehr und Wehretat, konnte von französischer Seite vereitelt werden, da zur Reduzierung der Stückzahl der Vertrag zwischen Frankreich und Deutschland beidseitig hätte geändert werden müssen, was aber von französischer Seite am 10. Mai 1967 im Gespräch zwischen den damals amtierenden Verteidigungsministern Gerhard Schröder (CDU) und Pierre Messmer abgelehnt wurde. Nouvelle Génération Nach einer Absichtserklärung über den Kauf von 25 weiteren Transall C-160 durch die Armée de l’air wurde im Jahr 1976 ein zweites Los aufgelegt. An diesem Programm beteiligten sich Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), Aérospatiale und VFW-Fokker, entstanden teilweise aus Fusionen der an der vorherigen Serie beteiligten Unternehmen. Die von Frankreich bestellten Transall erhielten die Bezeichnung C-160NG (Nouvelle Génération). Zu den 25 bereits von Frankreich bestellten Transall C-160NG kamen weitere vier Maschinen hinzu, die für Sondereinsätze speziell ausgerüstet wurden. Auch Indonesien bestellte sechs Maschinen der „Neuen Generation“. Die erste Transall C-160NG startete am 9. April 1981 mit Jean Franchi zu ihrem Erstflug. Die Endmontage der Serienflugzeuge fand im Werk Saint Martin du Touch in Toulouse statt. In der Halle werden heute Flugzeuge des Herstellers Avions de Transport Régional (ATR) montiert. Konstruktion Rumpf Der Rumpf der Transall ist in Ganzmetall-Halbschalenbauweise mit annähernd kreisförmigem Querschnitt konstruiert. Das Cockpit ist gegenüber dem Laderaumboden leicht erhöht und über eine kurze Treppe erreichbar. Der gesamte Innenraum ist als Druckkabine konstruiert. Diese wird von einem Normalair-Garrett-System mit 0,32 bar druckbelüftet, sodass bis zu einer Flughöhe von 8000 m die Kabinendruckhöhe 3500 m nicht überschreitet. Zwischen Cockpit und Laderaum befinden sich der Besatzungseinstieg sowie im vorderen Bereich des Laderaums auf der linken Seite das vordere Ladetor. Da dieses Ladetor einen Eingriff in die Struktur bedeutet, nur selten im Einsatz genutzt wurde und das Leergewicht gegenüber einem Rumpf ohne Tor erhöht, wurde bei der C-160NG darauf verzichtet. Im hinteren Bereich des Laderaums befinden sich vor dem Übergang zum Leitwerk auf beiden Seiten Fallschirmspringertüren. Laderampe und das hintere Ladetor können am Boden und im Flug geöffnet werden. Letzteres dient dem Absetzen größerer Lasten im Flug in festgelegten Verfahren. Die Rampe kann nach dem vorherigen Öffnen des hinteren Ladetors, das in den Rumpf nach oben eingezogen wird, bis zum Boden abgesenkt werden. Der Laderaum selbst, ausgelegt nach dem internationalen Eisenbahnprofil, ist 13,5 m lang sowie 3,15 m breit und weist eine Höhe von 2,98 m auf, damit liegt die Frachtfläche bei 42,5 m² und das Frachtvolumen bei 126,72 m³. Fracht kann auf Paletten oder in Containern bis maximal 16.000 kg geladen werden. Auch mehrere Fahrzeuge wie Lastwagen (ein Fünftonner oder zwei Dreitonner), Geländewagen oder mehrere Waffenträger Wiesel (vier Wiesel 1 oder zwei Wiesel 2) finden Platz. Lasten bis 8000 kg können abgeworfen werden. Beim Personentransport stehen maximal 93 Sitzplätze zur Verfügung. Bei einem MedEvac-Einsatz (Medical Evacuation) können bis zu zwölf Ärzte und Sanitäter drei Schwerverletzte auf sogenannten Patienten-Transport-Einheiten intensivmedizinisch versorgen. Zusätzlich finden 14 Leichtverletzte auf Tragen Platz. Ist die Maschine für das Absetzen von Fallschirmjägern ausgerüstet, können in Deutschland beim Absprung mit automatischen Fallschirmen 58 Springer mit Sprunggepäck oder 77 Springer ohne Sprunggepäck abgesetzt werden. Springen die beiden Absetzer mit ab, sind es jeweils zwei Mann mehr. Beim Absetzen von Freifallern können alle Plätze genutzt werden. Cockpit/Avionik Das Cockpit ist je nach Modell mit konventionellen Instrumenten oder Bildschirmen ausgestattet. Die Flugnavigationsinstrumente der deutschen Version wurden bei einem größeren Umbau von 1994 bis 1998 einer vollständigen Neuverkabelung sowie einer umfangreichen Erneuerung der Avionik unterzogen. Im Rahmen der sogenannten ANA/FRA-(Autonome Navigationsanlage/Flugregelanlage)-Umrüstung erhielten die Flugzeuge ein Flight Management System, militärische GPS-Empfänger, ein Trägheitsnavigationssystem mit Laserkreiseln, zwei elektronische Horizontal Situation Indicator zur bodenunabhängigen Navigation sowie zwei neue Autopiloten mit Flight Director für eine weitgehend automatisierte Flugdurchführung. Durch diese Neuerungen wurde der Bordnavigationsfunker (BNF) nicht mehr benötigt. Ihm oblag es bis dahin, die Position der Transall mit einem Sextanten, LORAN-C- und Dopplernavigation oder auch mit dem Wetter-/Navigationsradar zu bestimmen. Mit diesem Radar wurden auch Instrumentenanflüge, die sogenannten Airborne-Radar-Approaches (ARA) geflogen, bei denen das Navigationsradar neben einer Landebahn stehende Metallreflektoren anstrahlt und nach dem Echo die Position des Flugzeuges ermittelt. Ab Ende August 2011 testete die Luftwaffe für kurze Zeit beim LTG 63 in Hohn bei Rendsburg Tablet-Computer als Ergänzung der bestehenden Avionik und als Ersatz für herkömmliche Flugkarten. Tragwerk Das Tragwerk besteht aus einem dreiteiligen Ganzmetallschalenflügel mit zwei Holmen. An das rechteckige Mittelstück schließen sich zwei trapezförmige Außenflügel an. Für die Tragflächen wurden die NACA-Profile 632-A-218 (Mittelstück) und 633-A-314 (Flügelspitze) mit relativen Dicken zwischen 18 und 14 % verwendet. Als Landeklappen kommen hydraulisch bewegte Doppelspaltklappen zum Einsatz. Auf der Ober- und Unterseite befinden sich zudem zwei Luftbremsen. Die Querruder werden auf jeder Seite von einem Spoiler unterstützt, der automatisch bei Betätigung des Querruders ausgefahren wird. Leitwerk Das Leitwerk ist freitragend konstruiert und ebenfalls vollständig aus Metall. Die Seitenflosse hat drei Holme und ist über 16 Bolzen mit dem Rumpf verbunden. Die beiden Höhenruder bestehen jeweils aus einem Stück, sie werden wie Quer-, Seitenruder und Klappen hydraulisch betätigt. Die Vorderkanten von Seitenruder- und Höhenruderflossen werden elektrisch enteist. Fahrwerk Das Fahrwerk der Transall besteht aus einem zwillingsbereiften Bugfahrwerk sowie zwei in Gondeln untergebrachten, ebenfalls zwillingsbereiften Hauptfahrwerksachsen. Das Hauptfahrwerk wird hydraulisch über Scheibenbremsen gebremst, das Bugfahrwerk hat eine Auflaufbremse. Die Niederdruckreifen (3,0 bis 3,3 bar) und die Federbeine des Fahrwerks ermöglichen es auf unbefestigten Flugplätzen zu landen und zu starten. Triebwerk Angetrieben wird die Transall von zwei Turboprop-Triebwerken Rolls-Royce Tyne Mk.22, die jeweils über ein Planetengetriebe einen Vierblatt-Propeller antreiben. In der rechten Fahrwerksgondel befindet sich ein Wasser-Methanol-Tank, aus dem zum Start das Gemisch entnommen und in den Verdichter eingespritzt wird. Das Wasser-Methanol-Gemisch in der Ansaugluft erhöht durch Verdunstungskühlung deren Dichte, was die Verbrennung der maximalen Kerosinmenge und damit den gleichen Schub bis hin zu 19 Grad über der Standardtemperatur ermöglicht. Der Propeller, der hydromechanisch verstellbar ist und einen Durchmesser von 18 ft (5,486 m) hat, besteht in der D- und F-Version aus Duraluminium. Die hydromechanische Verstellung der Propeller erfolgt über einen Bereich von +86° (Segelstellung) bis zur Bremsschubstellung (Reversion, −14°) automatisch über die Leistungshebel. Neben den verwendeten Propellern aus Aluminium erprobte die Luftwaffe von 1969 an bis mindestens 1974 eine aus Holz gefertigte, abweichende Propellerform mit 5 und 5,4 Metern Durchmesser, mit dem Ziel, den Lärm im Laderaum und die Schwingungen der Zelle durch die Vibrationen der Triebwerke zu verringern; dabei wurden 427 Stunden lang Tests am Boden sowie 348 Flugstunden mit dem Prototyp V2 erflogen, abschließend konnte jedoch keine Verbesserung gegenüber dem noch heute verwendeten Propeller festgestellt werden. Von betroffenen Anwohnern an den Orten, die überflogen wurden, gab es immer wieder Beschwerden über Fluglärm, womit sich z. B. auch die Bürgerschaft in Bremen befasste. Bei den französischen Flugzeugen der NG- und R-Version kommt wahlweise ein Propeller aus Verbundmaterial zum Einsatz; dabei kann die Transall parallel mit beiden Propellertypen betrieben werden. Weitere Systeme Hydraulik und Stromversorgung An jedem Triebwerk ist ein Hilfsgeräteträger angebracht, der jeweils einen Generator mit 60 kVA, einen Generator mit 9 kVA, zwei Hydraulikpumpen und einen Kabinenlader für die Druckkabine antreibt. Unter einer Propellerdrehzahl von 2000 min−1 können die Propeller mit einer Propellerbremse zum Stehen gebracht werden. Hilfsaggregat Die Transall ist in der linken Fahrwerksgondel mit einer Hilfsturbine (genannt GTG = Gasturbinengenerator) vom Typ AiResearch GTCP 85-160A mit 203 PS ausgestattet. Der Auslass befindet sich vor den Rädern des Hauptfahrwerkes (siehe Bild oben). Sie versorgt das Flugzeug am Boden (insbesondere auf Behelfs- bzw. Feldflugplätzen) vor dem Anlassen der Triebwerke mit elektrischer Energie, Druckluft und Hydraulikdruck. In der Luft wird die Hilfsturbine nur in Notfällen betrieben, da im Flug die Energieversorgung von den Generatoren der Triebwerke sichergestellt wird. Bei niedrigen Temperaturen können unter Zuhilfenahme eines Gerätesatzes beide Triebwerke mittels GTG-Zapfluft vorgewärmt werden. Treibstoffsystem Die Versionen C-160D und F haben vier Tanks – jeweils zwei in der linken und rechten Tragfläche –, die zusammen maximal 16.410 Liter Kerosin fassen und die beiden Triebwerke und das Hilfsaggregat versorgen. Die NG-Version hat größere Flächentanks und einen zusätzlichen Tank im Tragflächenmittelstück mit einem Fassungsvermögen von 28.050 Litern. Zudem können die Maschinen der NG- und der R-Baureihe über eine Betankungssonde in der Luft betankt werden, was diese Maschinen eingeschränkt zum strategischen Lufttransport befähigt. Klimaanlage Eine Klimaanlage sorgt im Reiseflug für Temperaturen zwischen 16 und 18 Grad Celsius, bei höherer Außentemperatur ist eine Kühlung um bis zu 10 Grad Celsius möglich. Selbstschutzanlage Mit den Auslandseinsätzen auf dem Balkan und in Afghanistan wurde der Einbau einer Selbstschutzanlage für notwendig erachtet, insbesondere, nachdem ein italienischer Militärtransporter vom Typ Fiat G.222 im September 1992 im Anflug auf Sarajevo von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen worden war. Dazu erhielt ein Teil der deutschen Transall-Flotte das AN/AAR-54(V)-Raketenwarnsystem von Northrop Grumman, das von einem Taktischen Systemoffizier (TSO) bedient wird. Der TSO nimmt dabei den früheren Sitz des Bordnavigationsfunkers ein. Evolution der Versionen Realisierte Versionen Vorserie C-160A Das Herstellerkonsortium fertigte zunächst drei Prototypen der C-160, als V1 bis V3 bezeichnet, und aus den bei den folgenden Tests gewonnenen Erfahrungen eine als „Nullserie“ bezeichnete Version C-160A, die einen um einen halben Meter verlängerten Rumpf aufwies und mit den Kennzeichen A-01 bis A-06 registriert wurde. Auch hier teilten sich die drei Hersteller die Anzahl an Luftfahrzeugen zu gleichen Anteilen untereinander auf. Serienversion C-160D, C-160F, C-160NG, C-160T, C-160Z Nach dem Abschluss der Erprobung wurden für die Luftwaffe 110 Serienexemplare der Version C-160D gefertigt. Da für diese Anzahl an Luftfahrzeugen jedoch niemals auch nur annähernd genügend Flugzeugbesatzungen zur Verfügung standen, wurden bereits 1971 zwanzig Maschinen an die Türkei abgegeben. Dort bekamen sie die Typenbezeichnung C-160T, auch wenn sie sich nicht von den Maschinen der Luftwaffe unterschieden. Die Armée de l’air bestellte aus der ersten Generation 50 Maschinen, die bei Auslieferung C-160F genannt wurden. Vier für den Posttransport umgerüstete F-Exemplare wurden als C-160P bezeichnet. Ab 1981 erreichten die Staffeln der französischen Luftstreitkräfte die ersten von 25 Maschinen der Nouvelle Génération unter der Bezeichnung C-160NG. Einzelne vom F- auf den NG-Standard umgerüstete Flugzeuge fliegen als C-160R für die französische Bezeichnung Renové. Diese Maschinen können in der Luft betankt werden, sind mit einem weiteren Tank ausgerüstet und wurden mit modernerer Avionik ausgestattet. Zehn NG-Transall sind in der linken Fahrwerksgondel mit einer Vorrichtung ausgestattet, um in der Luft andere Luftfahrzeuge zu betanken. Die neun von Aérospatiale an Südafrika gelieferten Maschinen bekamen die Bezeichnung C-160Z. Sonderversionen C-160G, C-160H Aus diesen Standardversionen gingen in Frankreich zwei Untertypen für spezielle Aufgaben hervor, zum einen die C-160H Astarté, vier Maschinen umgebaut zu Relaisstationen für die französische Nuklearstreitmacht (Astarté: Avion Station Relais de Transmissions Exceptionnelles, auf deutsch etwa „Luftfunkstation für wichtige Übertragungen“), sowie die C-160G Gabriel, zwei mit zahlreichen Antennen für die elektronische Aufklärung bestückte NG-Maschinen. Die Astarté-Version war mit VLF-(Very Low Frequency, Längstwelle)-Empfängern und Sendern von Thales ausgestattet, die quasi nicht von feindlichen Kräften gestört werden können, um Informationen mit getauchten U-Booten mit nuklearer Bewaffnung austauschen zu können. Frankreich stellte diese Version 2002 außer Dienst. Die Aufklärungseinrichtungen der Gabriel-Flugzeuge mit den Kennzeichen „GT“ (Seriennummer F216) und „GS“ (Seriennummer F221) wurden ab 2008 von Thales modernisiert. Nicht realisierte Versionen Zwei Vorschläge für militärische Versionen kamen nicht über das Projektstadium hinaus – zum einen eine sogenannte C-160S (auch C-160ASF genannt), ein Vorschlag für eine Seeüberwachungsversion, und ein als C-160AAA bezeichneter Entwurf für eine Frühwarnversion mit je einem Radar des Typs Marconi APY-920 in Bug und Heck. Auch eine erste zivile Variante wurde bereits im Anfangsstadium des Transall-Programms ins Auge gefasst. Diese sollte als reines Frachtflugzeug, als Passagierflugzeug mit 130 Sitzen oder als kombiniertes Fracht-/Passagierflugzeug einsetzbar sein. Man ging bei den Studien davon aus, die Grundzelle der C-160 unverändert übernehmen zu können und lediglich die militärische Ausrüstung entfallen zu lassen. Nach der Begutachtung durch potentielle Betreiber des Musters ließ man diese Pläne jedoch als nicht realisierbar wieder fallen. Eine weitere untersuchte Variante, die insgesamt größere Unterschiede zum Ausgangsentwurf aufwies, war die Studie C-161 Transall. Hierbei sollte das Frachtraumvolumen, ohne wesentliche Änderung der äußeren Abmessungen, beträchtlich vergrößert werden. Im Wesentlichen war geplant Bug und Heck so zu verändern, dass statt 139 m³ nun 189 m³ Laderaum verfügbar waren. Der Bug sollte, ähnlich der Lockheed C-5-Lösung visierartig hochgeklappt werden können und das Cockpit hochgesetzt werden. Die Heckrampe sollte entfallen. Eine praktische Umsetzung erfolgte auch bei diesem Projekt nicht. Nutzer Militärisch Deutschland Die Luftwaffe übernahm ab April 1968 insgesamt 110 Maschinen, wovon später 20 an die Türkei abgegeben wurden. Sie flogen bei den Lufttransportgeschwadern 61 (Landsberg), 62 (Wunstorf), 63 (Hohn) sowie bei der Wehrtechnischen Dienststelle 61 (Manching). Das LTG 62, bei dem das Flugzeug seit 1969 stationiert war (bzw. bis 1978 beim Vorgängerverband, der Flugzeugführerschule „S“), gab seine letzten drei Transall zum 3. Juli 2015 nach Hohn ab. Die Zahl der im Einsatz befindlichen Maschinen wurde noch vor der Einführung des Airbus A400M von 80 (Stand Okt. 2011) auf etwa 60 Flugzeuge reduziert. Im August 2014 waren noch 56 Transall in Dienst. Für größere Überholungen (sogenannte periodische Inspektionen, ähnlich einem C-Check bei zivilen Luftfahrzeugen) wurden alle Transall der Luftwaffe in Dreijahresintervallen nach Landsberg geflogen, wo diese Arbeiten durch den Abgesetzten Bereich des Systemzentrums Luftfahrzeugtechnik durchgeführt werden konnten. Grundüberholungen wurden zunächst in Lemwerder und seit Mitte der 1990er Jahre bei Airbus Defence and Space in Manching ausgeführt, die ehemaligen Transall-Hersteller sind im Laufe der Jahrzehnte in dem deutsch-französischen Konzern aufgegangen. Ersatzteile für die gesamte Flotte wurden unter anderem bei Premium Aerotec in Varel (bis 31. Dezember 2010 bei EADS Military Aircraft Lemwerder, hervorgegangen aus Weser Flugzeugbau) hergestellt, wo auch verschiedene größere Bauteile instand gesetzt werden. Die Luftwaffe beging den 40. Jahrestag der Einführung der Transall sowie die einmillionste Flugstunde der Gesamtflotte 2011 jeweils mit einem Festakt in Wunstorf bzw. Hohn. Anlässlich des 50. Jahrestages des Erstfluges fand am 24. Mai 2013 ein Festakt in Landsberg statt, an dem auch Abordnungen der französischen und türkischen Luftstreitkräfte teilnahmen. Zum 1. April 2014 wurde das Lufttransportgeschwader 63 zum Ausbildungsverband erklärt. Die 3. Staffel des LTG 62, die seit der Einführung des Musters die lehrgangsbezogene praktische und theoretische Transall-Ausbildung durchgeführt hatte, wurde von diesem Auftrag entbunden; die Schulung fand nun auf dem Fliegerhorst Hohn statt. Die Ausbildung auf dem Transall-C-160-Flugsimulator erfolgte weiter am Fliegerhorst Wunstorf, aber unter der Verantwortung des LTG 63 durchgeführt. Der Flugbetrieb der Transall wurde ab dem 3. Juli 2015 ausschließlich vom LTG61 (Fliegerhorst Landsberg/Lech) und LTG63 (Fliegerhorst Hohn) aus durchgeführt. Diese beiden Verbände sollten die C-160 bis etwa 2018/2019 fliegen, wobei Hohn den Transall-Betrieb am längsten aufrechterhalten und Maschinen aus Landsberg übernehmen sollte. Im Dezember 2015 entschied das Bundesministerium der Verteidigung, aufgrund der bis 2018 nicht zu erreichenden Einsatzbereitschaft der Airbus A400M im taktischen Lufttransport, die Transall in der Konfiguration mit erweitertem Selbstschutz (ESS-Version) im LTG 63 am Standort Hohn noch bis 2021 einzusetzen. Das LTG 61 aus Penzing wurde zum Ende des Jahres 2017 aufgelöst. Am 23. September 2021 wurden bei einem offiziellen „Fly Out“ die letzten sechs Transalls des Lufttransportgeschwaders 63 am Fliegerhorst Hohn feierlich verabschiedet. Der nach 54 Jahren letzte Flug einer Transall der WTD-61 war am 23. November 2021 die Überführung der 50+86 zur Luftlandeschule nach Altenstadt. Am 14. Dezember 2021 um 13 Uhr setzte mit der 50+36 zum letzten Mal eine deutsche C-160 auf dem Fliegerhorst Hohn auf. Damit endete nach 53 Jahren die Geschichte der Transall in der deutschen Luftwaffe. Frankreich Die Armée de l’air erhielt zunächst 50 Transall der Version F sowie später noch einmal 29 Maschinen der Version NG. Ausgestattet wurden ab Oktober 1967 die Transportstaffeln 1/61 „Touraine“ und 3/61 „Poitou“ des Escadre de Transport (ET) 61 in Orléans-Bricy mit der F-Version, die NG-Version ging an die Staffeln 1/64 „Bearn“ und 2/64 „Anjou“ des Escadre de Transport (ET) 64 in Évreux. Dort waren von 1988 bis 2001 auch die C-160H Astarté stationiert, seit 1992 im Dienst der Staffel 1/59 „Bigorre“. Darüber hinaus flogen noch die ebenfalls speziell ausgerüsteten Gabriel-Aufklärer bei der EE 1/54 „Dunkerque“. Diese Staffel war bis Ende 2011 in Metz-Frescaty stationiert; die 1/54 fliegt mittlerweile ebenfalls von Évreux aus. Vier C-160 waren zeitweise als Postflugzeuge mit Air-France-Bemalung und zivilen Kennzeichen im Einsatz. Neben den Staffeln und Geschwadern auf dem französischen Festland stellte die Armée de l’air auch Staffeln in Übersee auf, die als Escadron de Transport d' Outre Mer (ETOM) bezeichnet wurden und einen Zusatznamen nach ihrem Einsatzort trugen. Insgesamt gab es drei dieser Staffeln, ETOM 00.050 „Réunion“, ETOM 00.055 „Ouessant“ (stationiert in Dakar im Senegal) und ETOM 00.058 „Guadeloupe“. Die Maschinen für diese Staffeln wurden von den Geschwadern ET 61 und ET 64 bei Bedarf zur Verfügung gestellt. Die Ausbildung der französischen Transall-Besatzungen fand von 1969 bis 2008 in Toulouse-Francazal beim 340 Centre d' Instruction des Equipages de Transport (CIET 340) statt. Zunächst wurden dem CIET Flugzeuge des ET 61 für die Ausbildung zugeteilt, 1977 wurde dann das ET 62 aufgelöst und die ehemalige erste Staffel des Verbandes in die Schule integriert. Die Armée de l’air plante zunächst, ihre Transall-Flotte bis 2015 auf 15 Maschinen zu reduzieren, und wollte das Muster bis 2018 vollständig durch den seit 2013 zulaufenden Airbus A400M und die bereits vorhandenen C-130H-30 Hercules ersetzen. Im Verlauf des Jahres 2011 wurden bereits fünf Maschinen ausgemustert; 2012 sollten neun weitere folgen. 2013 wurde bekannt, dass die Beschaffung der A400M Atlas wegen Budgetproblemen gestreckt wird, deshalb sollten vierzehn Transall bis 2023 fliegen. Wenige Monate nach der Außerdienststellung in Deutschland erfolgte dann aber bereits im Frühjahr 2022 die Transall-Abschiedstour der Armée de l’Air & de l’Espace und am 20. Mai des Jahres wurde sie auf ihrer letzten Basis Évreux formell verabschiedet. Türkei 20 Flugzeuge wurden 1971 von der Luftwaffe an die Türkei verkauft, da die Bundeswehr für die Maschinen keinen Bedarf sah. Es handelte sich dabei um die Seriennummern D19 bis D24, D26 bis D36 und D38 bis D40. In der ersten Jahreshälfte 1971 wurde dazu bei den Herstellerfirmen und der Luftwaffe Schulungen türkischer Soldaten durchgeführt. Zur Überholung der Maschinen flog in mindestens drei Fällen ein Team von VFW in die Türkei und führte dort Grundüberholungen durch. Die Maschinen sind bei der 221 Filo in Kayseri im Einsatz. Auch die bei Auftritten der Turkish Stars mitfliegende rot-weiß lackierte Transall gehört der 221 Filo an. Als Ersatz führen die türkischen Luftstreitkräfte (Türk Hava Kuvvetleri) ebenfalls die A400M ein. Die Auslieferung des ersten A400M fand im April 2014 statt. Südafrika Neun Flugzeuge (Kennzeichen 331 bis 339) wurden zwischen Juli 1969 und Juli 1970 von Aérospatiale geliefert. Die Maschinen waren bei der No. 28 Squadron eingesetzt, ab 1996 wurden sie außer Dienst gestellt. Sie waren auf der AFB Waterkloof abgestellt und wurden bis auf eine (Kennzeichen 337) im Verlauf des Jahres 2009 verschrottet. Zivil – Balair Im Auftrag des Roten Kreuzes (IKRK) flog die Balair Hilfsflüge nach Biafra. Hierfür wurde von der Luftwaffe der dritte Prototyp der C-160, die V3, dem internationalen Roten Kreuz für die Dauer von vier Monaten zur Verfügung gestellt. Die Transall erhielt für den Hilfseinsatz eine Bemalung in den Farben des Roten Kreuzes und wurde zivil zugelassen. Mit der nun als HB-ILN registrierten Maschine wurden zwischen 1968 und 1969 insgesamt 198 Hilfsflüge von Cotonou in Benin aus durchgeführt. – Poste Française Zwischen 1973 und 1978 setzte die Air France vier umgebaute Militärmaschinen der Variante Transall C-160F zur Beförderung von Luftpost innerhalb Frankreichs ein. Dies war ein Dienst im Auftrag des Centre d’Exploitation Postal Métropolitain (CEPM), der sich durch außergewöhnliche Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit im Allwetterflugbetrieb auszeichnete. Zuvor verwendete Air France hierfür DC-3C, die dann von DC-4 und später von der Fokker F-27 abgelöst wurden. Für die Postbeförderung wurde die C-160 so modifiziert, dass die Flugzeuge innerhalb von zwölf Minuten be- und entladen werden konnten. Die vier Transall kamen exklusiv auf der Strecke Paris–Bastia (Korsika) zum Einsatz und transportierten jedes Mal ca. 13,5 Tonnen Luftpost. Jeweils zwei Flugzeuge wurden an den Endpunkten stationiert. Im Durchschnitt beförderten die Transalls jede Nacht 1,8 Millionen Briefe. Während der gesamten Einsatzdauer lag die Pünktlichkeitsrate bei nahezu 98 Prozent. Der Prototyp V3 wurde im Juli 1976 nach Gabun verkauft und bei Air Affaires Gabon eingesetzt. – Pelita Air Service Im Jahr 1980 wurde ein achtmonatiger Leihvertrag zwischen dem Transall-Konsortium und der indonesischen Regierung (Pelita Air Service) abgeschlossen. Das Bundesministerium der Verteidigung stellte zwei Transall für die Umsiedlung indonesischer Bevölkerung von Java auf andere Inseln zur Verfügung. Hierfür erhielten die beiden Maschinen eine formale zivile Zulassung, eine zivile Bemalung sowie Einstiegstreppen an den Springertüren und zusätzliche Navigationsausrüstung. Zwischen August 1981 und Mai 1982 konnten bei rund 1500 Einsätzen 38.000 Indonesier von Java auf andere Inseln umgesiedelt werden. Im Anschluss an dieses erfolgreiche Programm kaufte die indonesische Regierung sechs Transall NG für die weitere Umsiedlung der Bevölkerung von Java auf weniger dicht besiedelte Inseln. Später flog ein Teil der Maschinen bei Manunggal Air. – Wieland Aviation Nach ihrer Außerdienststellung wurden drei überlebende Exemplare des LTG 63 von der australischen Wieland Aviation Group, die in Jilliby (New South Wales) beheimatet ist erworben, die sie als Löschflugzeuge einsetzen will. Die Maschinen verließen Hohn im Dezember 2022. Aufgaben, Verfahren und Einsätze Die Hauptaufgaben der Transall sind der Transport von Material und Personal, das Absetzen von Fallschirmjägern und Lasten sowie der Transport von Verletzten mit ärztlicher Begleitung aus einer Gefahrenzone, auch als MedEvac bezeichnet. Die Transall ist ausgelegt, um auf kurzen und schlecht ausgebauten Pisten in schwierig anfliegbarem Gelände landen und starten zu können. Sie kann einen schnellen Sinkflug (Steilanflug) mit einem Winkel von bis zu 20° durchführen. Für den Steilanflug werden die Landeklappen und Luftbremsen voll ausgefahren, 185 km/h werden so nicht überschritten. Somit können Flugplätze mit Hindernissen nahe der Landebahn angeflogen werden, auch kann damit das Risiko des Beschusses vom Boden in der Nähe eines solchen Flugplatzes vermindert werden. Zum Abheben benötigt die C-160 eine Rollstrecke von 700 Metern, zum Landen sind es etwa 450 Meter. Für das Absetzen von Lasten in unwegsamem Gelände wurde das sogenannte Abwerfen aus extrem niedriger Höhe, umgangssprachlich Afrika-Verfahren genannt, geflogen. Dabei werden Güter (z. B. Reissäcke) aus ca. 20 Fuß Höhe ohne Fallschirm abgeworfen. Die Transall fliegt dabei mit einem so hohen Anstellwinkel, dass die Last nach dem Entfernen der Sicherung automatisch über die Rampe zu Boden fällt. Den Namen Afrika-Verfahren erhielt diese Möglichkeit der Versorgung, weil sie durch die Äthiopien-Hilfe 1984 bekannt wurde. Darüber hinaus wurde die Transall in Frankreich als Relaisstation verwendet und wird für die elektronische Kampfführung eingesetzt. Türkei Nachdem die Transall beim Hilfseinsatz 1968/69 in Biafra unter Schweizer Flagge flog und die Kritiker beruhigt waren, nahm die Luftwaffe das Erdbeben vom 28. März 1970 bei Gediz zum Anlass, die Transall in einer Luftbrücke zum Transport von Hilfsgütern der Bundeswehr, des THW, des DRK und weiterer NGO zu testen. Während die Boeing 707 und andere nur größere Flughäfen anflogen, wie den Militärflughafen in Çiğli bei Izmir, übernahm die Transall Direktflüge in die Krisenregion bzw. in einer gestaffelten Luftbrücke den Weitertransport zu den kleineren Flughäfen im Bergland. Die Schulung unter einsatzähnlichen Bedingungen wurde vom 30. März bis 10. April durchgeführt. Im Jahr darauf übernahm die Türkei 20 Transall (siehe oben). Afrika Humanitäre Einsätze Diverse Einsätze humanitärer Art der Luftwaffe wurden in Afrika durchgeführt, wo sich Besatzungen und Flugzeuge den Ruf als Engel der Lüfte erwarben. Beispiele für diese Einsätze sind 1974/75 die Flüge des Lufttransportgeschwaders 63 nach Äthiopien, in den Sudan und den Tschad. Die gleiche Region wurde zehn Jahre später noch einmal im Rahmen solcher Hilfseinsätze angeflogen (siehe Hungersnot in Äthiopien 1984–1985). Daneben waren auch Staaten in der Sahelzone (z. B. Mauretanien, Mali, Niger) Ziel für die mit Lebensmitteln beladenen Transportflugzeuge. Einsatz in Somalia 1993 Die Lufttransportgeschwader der Luftwaffe beteiligten sich mit der Transall 1993 auch am ersten bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland. Dabei wurden mehrere Flugzeuge in Beledweyne (in den Medien oft als Belet Huen transkribiert) stationiert. Die erste Maschine mit dem Vorauskommando an Bord wurde dabei vom damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe persönlich begrüßt. Katastrophenhilfe Mosambik 2000 Die deutsche Luftwaffe leistete in den Überschwemmungsgebieten mit dem Kontingent „Katastrophenhilfe Mosambik“ 500 Einsätze mit Transall C-160 und Bell UH-1D des Lufttransportgeschwaders 62. Unterstützung MONUC in der Demokratischen Republik Kongo 2003 Deutschland beteiligte sich durch Lufttransport mit Transall C-160 und mit der Bereitstellung der Fähigkeit zur Rückholung von Verwundeten. Evakuierungseinsatz Libyen 2011 Die Operation Pegasus war eine Evakuierungsoperation (EvakOp) deutscher und britischer Streitkräfte während der Aufstände in Libyen. Die Operation dauerte vom 26. Februar bis zum 3. März 2011. AFISMA und MINUSMA in Mali 2013–2014 Im Rahmen der Opération Serval verlegte die Armée de l’air im Januar 2013 neben anderen Transportflugzeugen auch eine C-160 nach Mali. Auch deutsche Transall wurden von Anfang 2013 bis Mitte 2014 in Mali eingesetzt, um Soldaten des ECOWAS-Bündnisses im Rahmen der Missionen AFISMA und MINUSMA nach Bamako zu bringen. Die mittlerweile verordneten Einschränkungen für Einsätze bei großer Hitze und bei Dunkelheit verringerten die Einsatzmöglichkeiten allerdings so stark, dass die Führung der UNO-Friedenstruppe in Mali, MINUSMA, seit Juli 2014 auf die Nutzung der Transall der Luftwaffe verzichtet. Bereits im Mai 2014 hatte die Bundeswehr die Durchführung eines Rettungsfluges für verletzte afrikanische Soldaten aus dem umkämpften Kidal abgelehnt, da es langsam dunkel wurde. Der „Lufttransportstützpunkt“ in Dakar wurde am 10. Juli 2014 offiziell aufgelöst; nach Angaben der Bundeswehr flog die Transall-Flotte von Beginn des Einsatzes am 19. Januar 2013 bis zum Ende in 1050 Flügen etwa 3000 Flugstunden, wobei 6500 Passagiere und 1650 Tonnen Fracht befördert wurden. 2015–2021 Ab 2016 waren wieder Transalls im Rahmen der MINUSMA-Mission eingesetzt, der vorerst letzte Auslandseinsatz deutscher „Tralls“ überhaupt. Sie waren in Niamey, der Hauptstadt des Niger stationiert und flogen bis 2021 von dort aus Ziele in Nordmali an. Ebolafieber-Hilfe 2014 Nachdem die Ebolafieber-Epidemie sich in der ersten Jahreshälfte 2014 in Sierra Leone, Liberia und Guinea ausbreitete, entschied die Bundesregierung im September, logistische Hilfe bei der Bekämpfung der Virus-Erkrankung zu leisten. Dazu flogen Transall von Dakar im Senegal und Accra in Ghana aus im Auftrag der Organisation United Nations Mission for Ebola Emergency Response (UNMEER) in die Hauptstädte der drei Länder, Freetown, Monrovia und Conakry. Dabei wurden vor allem Nahrung und medizinische Hilfsgüter transportiert. Im März 2015 wurde der Einsatz beendet. UNO-Shuttle 1978 Während des Libanesischen Bürgerkriegs waren Blauhelm-Soldaten aus Nepal im Süden des Landes eingesetzt, um den Konflikt zu beenden oder zumindest abzuschwächen. Um diese Truppen zu versorgen, wurde im April 1978 eine Luftbrücke zwischen dem damaligen Fliegerhorst Fürstenfeldbruck in Bayern und dem Flughafen Ben Gurion der israelischen Stadt Tel Aviv eingerichtet, über die Bundeswehr-Material, darunter auch Lastwagen und andere Fahrzeuge, nach Israel transportiert wurde, von wo es zu den zu versorgenden Einheiten an Brennpunkten im Libanon gebracht wurde. Lutrans Innerhalb Deutschlands und zu den Taktischen Ausbildungskommandos nach Decimomannu (Sardinien) und Beja in Portugal wurde ein Lufttransportsystem namens Lutrans eingerichtet, um Personal und Material schnell zu den zu versorgenden Standorten transportieren zu können. Nach einer Erprobungsphase wurde ab dem 4. März 1975 standardmäßig mit zwei C-160 die Route Hohn–Ahlhorn–Köln–Stuttgart–Landsberg geflogen. Von diesen Flugplätzen aus wurden die Güter weiter auf der Straße zu den Depots oder Einheiten transportiert, die sie benötigten. Bestimmte Güter konnten innerhalb von 24 Stunden zu ihrem Ziel transportiert werden. Diese Flüge deckten ein Viertel des Transportbedarfs der Luftwaffe ab. Bosnienkrieg Vom 4. Juli 1992 an versorgten die deutschen Lufttransportgeschwader zusammen mit den internationalen Partnern die durch den Bosnienkrieg betroffenen Gebiete im ehemaligen Jugoslawien. Die Anflüge wurden teilweise unter Beschuss durchgeführt, dabei kam es zu 277 Zwischenfällen, von denen 205 als „feindlich“ bewertet wurden. Bis zum Abschluss im Februar 1995 wurden teilweise bis zu 22 Konflikthandlungen im Monat registriert, nur im Dezember 1994 kam es zu keinen Zwischenfällen. 66,2 % der Zwischenfälle ereigneten sich dabei im Flug. Erst im September 1992 wurde die Schutzausrüstung der Transall durch die Einrüstung von Kevlarplatten im Bereich des Cockpits sowie den Einbau eines Abwehrsystems gegen hitzesuchende und radargelenkte Raketen an die Bedrohungslage angepasst. Ein taktisches Mittel gegen Beschüsse war der in diesem Szenario entwickelte Steilanflug, allgemein als Sarajevo-Approach bekannt. Neben den Flügen nach Sarajevo wurden die Transall der Bundeswehr eingesetzt, um über umkämpften Gegenden wie Srebrenica nachts Versorgungsgüter abzuwerfen. Auf 400 Einsätzen wurden dabei 2346 Flugstunden geflogen und 2194 Tonnen an Hilfsgütern abgesetzt. Afghanistan Die Luftwaffe beteiligte sich von 2001 bis 2014 unter anderem mit Lufttransportkapazitäten am Einsatz in Afghanistan (ISAF). Zu diesem Zweck waren mehrere Transall bis 2008 in Termiz in Usbekistan und von 2008 bis 2014 in Masar-e Sharif stationiert. Maximal acht Maschinen unterstanden dort dem Einsatzgeschwader Mazar-e Sharif auf dem Flughafen der nordafghanischen Stadt. Eine dieser Maschinen stand während des Einsatzes in MedEvac-Bereitschaft und konnte innerhalb von drei Stunden innerhalb Afghanistans eingesetzt werden. Ziele der deutschen Transall waren unter anderem die größeren Flughäfen Kabul, Bagram, Kandahar und Herat, aber auch kleinere Flugplätze wie Kundus zur Versorgung der dort stationierten Soldaten. Die Hitze und Höhenlage in Afghanistan brachte für den Betrieb der zweimotorigen Transall besondere Erschwernisse. Hohe Temperaturen können zwar bis etwa 35 °C auf Meeresniveau durch die Wasser-Methanol-Anlage ausgeglichen werden; die hoch gelegenen afghanischen Flugplätze wie Kabul (ungefähr 1800 Meter) beschränken allerdings das Abfluggewicht auf ungefähr 40 Tonnen und damit die Nutzlast auf gerade einmal 4 Tonnen. Die niedrige Gipfelhöhe mit nur einem laufenden Triebwerk (3000 Meter) im dort bis zu 5000 Meter hohen Hindukusch erfordert zudem Routen, die es den Besatzungen ermöglichen, auch bei Ausfall eines Triebwerks noch sicher zu einem Flughafen zu kommen, was wiederum mehr Kraftstoff erfordert und die Nutzlast weiter verringert. Feuerlöschrüstsatz Nachdem bei der Brandkatastrophe 1975 im Norden Niedersachsens große Heide- und Waldflächen zerstört wurden und ein Großaufgebot von Katastrophenschutzkräften wie Feuerwehr und Technisches Hilfswerk über Wochen im Einsatz waren, wurde überlegt, wie man in kurzer Zeit große Mengen Löschwasser an einem Brandherd ausbringen könnte. 1976 wurde deshalb MBB damit beauftragt, die Ausstattung der Transall mit einem entsprechenden Rüstsatz zu prüfen. Der vorlegte Entwurf sah vor, einen 12.000 Liter fassenden Tank im Laderaum zu befestigen, der über Feuerwehrschläuche am Boden in vier bis fünf Minuten aufgefüllt werden könnte und das Wasser über die geöffnete Laderampe ausbringen sollte. 1977 begann die Flugerprobung, u. a. in Frankreich, die durch einen Truppenversuch beim LTG 62 ab 1979 ergänzt wurden, wobei die Ergebnisse ähnlich zu denen der ebenfalls als Löschflugzeug verwendeten Canadair CL-215 waren, die das Wasser allerdings im Flug über einen See aufnimmt. Einsätze der zwei hergestellten Rüstsätze waren selten, bekannt sind ein Einsatz am 26. Juli 1983 auf dem Versuchsgelände Knesebeck von Volkswagen, ein Einsatz zweier C-160 im August 1983 auf Sardinien sowie beim Borstler Moorbrand im Frühjahr 1988. Messungen zur Ozonschicht in der Arktis Von 1991 bis 1995 führte das Bundesministerium für Forschung und Technologie Versuche mit der Maschine 50+89 der WTD 61 durch, um die Zusammensetzung der Erdatmosphäre, insbesondere der Ozonschicht, nahe der Arktis durchzuführen. Die Maschine flog zu diesem Zweck von Andøya in Norwegen oder Kiruna in Schweden aus in einem Gebiet, das sich von Grönland im Nordwesten und dem Ural im Nordosten bis zu den Kapverden und Nordafrika im Süden erstreckte. Insgesamt wurden 136 Flüge durchgeführt und knapp 750 Stunden erflogen. Unfälle und Zwischenfälle Vom Erstflug 1963 bis Dezember 2022 kam es mit Transall C-160 zu 15 Totalschäden. Bei sechs davon kamen 73 Menschen ums Leben. Die Luftwaffe hat drei C-160 bei Unfällen mit Todesfolge verloren. Darüber hinaus wurde eine weitere bei einem Unfall so stark beschädigt, dass sie nach ihrem Unfall abgeschrieben wurde. Im Betrieb bei der Armée de l’air wurden sieben Transall zerstört, die türkischen Luftstreitkräfte verloren ein Flugzeug. Dazu kommen noch zwei Unfälle des zivilen Betreibers Manunggal Air und ein Unfall eines weiteren. Auszüge: Luftwaffe Am 9. Februar 1975 flog die C-160D mit dem Luftfahrzeugkennzeichen 50+63 des Lufttransportgeschwaders 63 beim Landeanflug auf den Flughafen Chania bei dichtem Schneetreiben wegen eines Navigationsfehlers in einen Berg (Controlled flight into terrain). Keiner der 42 Insassen, neben der Besatzung Angehörige eines Flugabwehrraketengeschwaders auf dem Weg zu einer Übung nach Kreta, überlebte den Unfall (siehe auch Flugunfall einer Transall C-160 auf Kreta 1975). Am 2. Juli 1988 kollidierte die C-160D 50+80 des Lufttransportgeschwaders 61 nach einem Triebwerksausfall im Landeanflug auf den Flughafen Bordeaux-Mérignac mit einer Hochspannungsleitung. Die 6 Mann Besatzung überlebten den Absturz verletzt. Die Maschine befand sich auf einem Flug von Stuttgart-Echterdingen nach Bordeaux. Am 11. Mai 1990 wurde die 50+39 des Lufttransportgeschwaders 62 in der Nähe von Lohr am Main bei schlechten Wetterbedingungen in einen Hang im Spessart geflogen (Controlled flight into terrain). Die Maschine befand sich auf einem Flug vom Heimatstützpunkt Wunstorf nach Kaufbeuren. Bei diesem Unfall starben alle zehn Personen an Bord. Am 22. Oktober 1995 ereignete sich der bisher letzte Unfall mit Totalverlust einer deutschen Transall, als eine Maschine in den Atlantik stürzte. Die 50+43 des Lufttransportgeschwaders 61 war auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika. In Ponta Delgada auf den Azoren war die Maschine zum Auftanken gelandet, bevor sie nach St. John’s (Neufundland, Kanada) weiterfliegen sollte. Nach einem missglückten Startabbruch aufgrund eines Triebwerksausfalls berührte sie einen Hochspannungsmast und stürzte ins Meer. Alle sieben Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Bei einem Flug unter zunächst Instrumenten- und zum Zeitpunkt des Zwischenfalls Sichtflugregeln berührte die 50+50 der Luftwaffe am 22. September 2008 in der Nähe von Frielendorf in Hessen mehrere Baumwipfel, wobei Teile eines Höhenleitwerks abgetrennt wurden. Die Maschine des LTG 63 flog noch bis nach Wunstorf. Wegen der Beschädigungen wurde entschieden, das Flugzeug nicht zu reparieren, sondern brauchbare Teile auszubauen und die Zelle zu verschrotten. Armée de l’Air Am 23. November 1984 kollidierte eine Transall C-160NG der Französischen Luftstreitkräfte (FrAF 209/64-GI) mit einer Transall C-160F (FrAF 156/61-ZV) in der Nähe von Castres. Beide Maschinen waren auf dem Militärflugplatz Toulouse-Francazal gestartet. Beim Absturz der beiden Flugzeuge kamen alle 13 Besatzungsangehörigen ums Leben, vier in der C-160NG und neun in der C-160F. Am 6. April 1995 machte die Besatzung der C-160NG 64-GV eine Notlandung, als das Flugzeug nach dem Start vom Flughafen Calvi auf Korsika in rund 1000 Meter Höhe im steil ansteigenden Gelände am Col de Marsolino aufschlug. Alle sechs Besatzungsmitglieder überlebten. Am 6. Mai 2004 kam es bei einer Transall C-160R der Französischen Luftstreitkräfte (FrAF 209/61-ZR) auf dem Flughafen Martinique (Kleine Antillen) zu einem Brand im linken Treibstofftank, als die Maschine nach dem Anlassen gerade in Richtung Startbahn losgerollt war. Das Feuer war durch einen Kurzschluss eines im Tank verlegten Kabels entstanden, welches schon sehr alt war und dessen Verwendung vom Flugzeughersteller trotz bekannter Bedenken zugelassen war. Das Flugzeug wurde irreparabel beschädigt. Alle acht Insassen, drei Piloten und fünf Mechaniker, überlebten den Totalschaden. Türk Hava Kuvvetleri Am 14. November 1988 verunglückte die als 69-030 registrierte Transall, in Deutschland vorher als 50+22 registriert. Informationen zum Schicksal der Besatzung und zum Verbleib der Zelle gibt es nicht. Manunggal Air Am 15. Juni 2001 verunglückte die PK-VTP der Manunggal Air, deren Piloten eine Notlandung in Sentani (Indonesien) machten, nachdem Probleme mit den Triebwerken aufgetreten waren. Dabei kam die Maschine von der Landebahn ab und rammte einen Zaun, wobei einer der 16 Insassen getötet wurde. Die Maschine sollte nach Wamena fliegen. Am 6. März 2008 ereignete sich in Wamena auch der zweite Unfall dieses zivilen Betreibers. Die PK-VTQ ging nach der Landung in Flammen auf und brannte vollständig aus, Passagiere und Besatzung konnten sich unverletzt retten. Wilken Group Am 3. November 2021 verunglückte die letzte zivil genutzte C-160NG (Seriennummer MSN 233, Baujahr 1985) mit dem tadschikischen Luftfahrzeugkennzeichen EY-360 auf dem Flugfeld in Doolow (Somalia). Das Flugzeug aus Tadschikistan wurde von einer „Wilken Group“ in Kenia eingesetzt. Laut Presseberichten wurde die Maschine in einem zu steilen Anflugwinkel zu schnell und zu hart aufgesetzt. Die zweiköpfige Besatzung konnte sich retten, das Flugzeug brannte aus. Die vormals indonesische Maschine der Pelita Air Service (PK-PTO) und Mannungai Air wurde im April 2015 von der Wilken Group erworben. Technische Daten Vergleich mit anderen Typen Die C-160 Transall zählt neben der – in weitaus größerer Anzahl gebauten – C-130 Hercules zu den Standard-Transportern der NATO-Staaten. Bei vergleichbaren Ausmaßen und sogar größerem Laderaum ist sie der viermotorigen C-130 aufgrund der insgesamt schwächeren Antriebsleistung bei Nutzlast, Geschwindigkeit und Gipfelhöhe unterlegen. Kleinere vergleichbare Transportflugzeuge sind die Alenia C-27 und die CASA C-295. Die A400M als Nachfolger der C-160 und teilweise auch der C-130 kann eine deutlich größere Last tragen. Als Nachfolger der Transall in Deutschland war auch die ukrainische Antonow An-70 im Gespräch. Ältere vergleichbare Muster dieses Herstellers sind die Antonow An-12 (NATO-Codename Cub), die seit 1963 in sowjetischen und später russischen Militärdiensten steht, und die kleinere Antonow An-26 (Curl), die seit Anfang der 1970er-Jahre bei den Staaten des damaligen Warschauer Paktes im Einsatz ist. Ausblick Schon in den 1980er Jahren begann in den Betreiberstaaten der C-160 die Suche nach einem neuen Lufttransporter, der die Transall ablösen sollte, da Transall und Hercules nach damaliger Schätzung etwa im Jahr 2000 ihre maximale Lebensdauer erreicht hätten. Durch die nach dem Ende des Kalten Krieges geänderten Anforderungen in Deutschland an einen Militärtransporter wurde dies noch dringlicher. Die Transall war als Transporter für den Einsatz innerhalb eines Kampfschauplatzes gedacht (taktischer Transport, siehe auch Operation (Militär)) und noch dazu für das europäische Klima gebaut. Die Bundeswehr fordert hingegen schon seit den späten 1990er-Jahren, im Rahmen der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Truppenteile in entferntere Einsatzgebiete verlegen zu können (strategischer Lufttransport). Diese Anforderungen konnte sie mithin spätestens seit dem Beginn des Afghanistaneinsatzes 2001 nicht mehr so erfüllen, wie sie es in einem „heißen“ Kalten Krieg in Europa gekonnt hätte. Trotz der am Flugzeug in den 1990er-Jahren vorgenommenen Anpassungen, alleine um der Transall noch einmal etwa zehn Einsatzjahre bis zur Einführung der A400M zu geben, wurde die Instandhaltung immer aufwendiger. Wegen der Verzögerungen bei Airbus, speziell im Bereich Selbstschutzanlage, wurde die Transall bis Ende 2021 bei LTG 63 in Hohn betrieben. Einzelne Exemplare wurden allerdings schon zuvor verschrottet. Australien: Die Flugzeuge VH-RFW (Seriennummer D.125 ex 50+88), VH-RPR (D.120 ex 50+83) und VH-TIT (D.77 50+55) sollen bei Wieland Aviation als Löschflugzeuge weiterbetrieben werden. Erhaltene Maschinen in Museen und Kasernen Mit der langsamen Ausmusterung der Transall fanden bisher mehrere Exemplare den Weg zu den unterschiedlichsten Museen und Ausstellungsorten. Die 50+07 des LTG 61 steht seit 16. Oktober 2012 auf dem Flugplatz Ballenstedt und sollte in das Luftfahrtmuseum Wernigerode überführt werden. Auch nach der Landung der 51+01 am 18. Dezember 2017 in Ballenstedt verbleibt die 50+07 am Flugplatz Ballenstedt. Am 20. März 2012 wurde die 50+37 des LTG 62 von Wunstorf aus zum Flugplatz Damme überführt und wird dort vom Museum für Technik, Natur und Luftfahrt ausgestellt. Die 50+40 wurde am 20. Oktober 2021, nach ihrer Abschiedstour als „Retro-Brummel“ von Hohn über Nürnberg zum ehemaligen Heeresflugplatz Roth überführt. Sie wird künftig an der neuen Offizierschule der Luftwaffe ausgestellt. Die 50+54 wurde am 5. März 2019 von Hohn nach Hannover überführt und soll dort der Ausbildung von Mitarbeitern und Feuerwehr des Flughafens dienen. Die 50+56 des LTG 63 steht seit dem 19. September 2011 im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr auf dem ehemaligen Militärflugplatz Berlin-Gatow. Am 13. Mai 2014 wurde die 50+62 vom LTG 62 zum Airbus Werksflugplatz Hamburg-Finkenwerder überführt und soll dort an ihrer Produktionsstätte ausgestellt werden. Die 50+64 des LTG 63, die bis Ende 2017 als eine der letzten „Tralls“ des LTG 61 in Penzing stationiert war, soll zukünftig in der Flugwerft Schleißheim ausgestellt werden. Die 50+66 wurde am 24. August 2021 aus Hohn auf den Flugplatz Rotenburg (Wümme) überführt und wird dort ausgestellt, erstmals wird hier eine Maschine mit montierter Selbstschutzanlage (ESS) ausgestellt. Die 50+76 des LTG 63, die bis Mitte 2021 als eine der letzten „Brummelbienen“ des LTG 63 in Hohn stationiert war, befindet sich im Kasernenbereich des Heeresflugplatzes Celle, dem Platz, wo das Geschwader 60 Jahre zuvor aufgestellt wurde. Einer der letzten Flüge einer Transall war die Überführung der 50+79 des LTG 63 am 7. Dezember 2021, nach Zweibrücken, wo sie 2022 in ein „Trallotel“ umgebaut werden soll. Die 50+85 des LTG 63 steht seit 2015 als sogenannter „Gate Guard“ direkt an der Hauptwache des Fliegerhorstes Hohn. Sie trägt eine Sonderbemalung, die 2011 zum 50-jährigen Bestehen des LTG 63 angefertigt wurde. Der Niederländer Piet Smedts erwarb ebenfalls einen der Transporter und stellt ihn seit dem 6. Dezember 2011 in Baarlo aus. Die Maschine flog bei der Bundeswehr unter der Kennzeichen 50+98, zuletzt für das LTG 61 im bayerischen Landsberg. Diese Maschine wird seit 2015 im Kevelaer Freizeitpark Irrland als Attraktion ausgestellt. Die 50+86, zuletzt bei der WTD 61 im Einsatz, befindet sich als Ausstellungsstück seit November 2021 auf dem Heeresflugplatz Altenstadt. Die 50+99 des LTG 61 steht seit dem 13. April 2011 im Technik-Museum Speyer. Die 51+00, zuletzt beim LTG 62 eingesetzt, wurde am 22. Januar 2013 zum Lausitzflugplatz Finsterwalde/Schacksdorf überführt und soll dort der Ausbildung von Luftfahrzeugtechnikern dienen. Die 51+01 des LTG 61 wurde am 18. Dezember 2017 von Penzing auf den Flugplatz Ballenstedt überführt und am 9. Oktober 2018 in das Luftfahrtmuseum Wernigerode transportiert. Die 51+01 trägt die Sonderbemalung „Silberne Gams“. Sie ist auf dem Museumsdach zu besichtigen. Im Juli 2018 wurde die 51+01 erneut von Wernigerode zum Flugplatz Ballenstedt überführt und im Eingangsbereich des Musikfestivals Rockharz aufgestellt. Am 7. Oktober 2014 wurde die 51+02 vom LTG 61 zum Flugplatz Altenburg in das Museum Flugwelt Altenburg überführt. Eine Transall, die 51+06 des LTG 63, steht seit September 2018 hinter dem „Alten Bahnhof“ in Hohn. Die 51+07 des LTG 62 seit dem 20. Juni 2011 im Außengelände der Ju-52-Halle vor den Toren des Fliegerhorstes Wunstorf. Eine Besatzung des LTG 63 brachte am 8. Mai 2012 die Maschine mit dem Kennzeichen 50+94 vom Fliegerhorst Schleswig zum Österreichischen Luftfahrtmuseum auf dem Flughafen Graz-Thalerhof. Das Museum der South African Air Force in Pretoria beherbergt die 337. Die Türkei stellt die 69-022 (ehemals 50+14) in Istanbul und die 69-039 (ehemals 50+31) in Ankara/Etimesgut aus. Seit dem 22. August 2012 befindet sich die französische Transall R18 im Musée de l’air et de l’espace am Flughafen Le Bourget. Am 20. August 2021 wurde die Transall R223 als „Gate Guard“ auf dem Militärflugplatz Évreux-Fauville abgestellt. Der letzte Flug überhaupt war in Frankreich der der R212 von Orléans nach Toulouse-Blagnac am 27. Juni 2022, wo sie Teil der Ausstellung des Musée Aeroscopia wurde. Die 50+95 mit der Jubiläumsbemalung 55 Jahre LTG 63 ist seit dem 12. September 2016 in Eindhoven vor dem EATC ausgestellt. () Siehe auch Liste militärischer Transportflugzeuge Liste von Luftfahrzeugen der Bundeswehr Liste von Flugzeugtypen Literatur Weblinks Datenblatt der Bundeswehr zur Transall C-160 Bericht über eine ausrangierte Transall C-160, die als begehbare Kunstinstallation der Ruhrtriennale dient Einzelnachweise Transportflugzeug Luftfahrzeug der Luftwaffe (Bundeswehr) Wikipedia:Artikel mit Video Militärluftfahrzeug (Frankreich) Militärluftfahrzeug (Türkei) Militärluftfahrzeug (Südafrika) Erstflug 1963 Zweimotoriges Turbopropflugzeug
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dreyfus-Aff%C3%A4re
Dreyfus-Affäre
Die Dreyfus-Affäre war ein Justizskandal, der die französische Politik und Gesellschaft in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts tief spaltete. Er betraf die Verurteilung des Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus 1894 durch ein Kriegsgericht in Paris wegen angeblichen Landesverrats zugunsten des Deutschen Kaiserreichs, die in jahrelange öffentliche Auseinandersetzungen und weitere Gerichtsverfahren mündete. Die Verurteilung des aus dem Elsass stammenden jüdischen Offiziers basierte auf rechtswidrigen Beweisen und zweifelhaften Handschriftengutachten. Für die Wiederaufnahme des Verfahrens und den Freispruch Dreyfus’ setzten sich zunächst nur Familienmitglieder und einige wenige Personen ein, denen im Verlauf des Prozesses Zweifel an der Schuld des Angeklagten gekommen waren. Der Justizirrtum, der auch Elemente von Rechtsbeugung enthielt, weitete sich zu einem ganz Frankreich erschütternden Skandal aus. Höchste Kreise im Militär wollten die Rehabilitierung Dreyfus’ und die Verurteilung des tatsächlichen Verräters Major Ferdinand Walsin-Esterházy verhindern. Antisemitische, klerikale und monarchistische Zeitungen und Politiker hetzten Teile der Bevölkerung auf, während Menschen, die Dreyfus zu Hilfe kommen wollten, ihrerseits bedroht, verurteilt oder aus der Armee entlassen wurden. Der bedeutende naturalistische Schriftsteller und Journalist Émile Zola beispielsweise musste aus dem Land fliehen, um einer Haftstrafe zu entgehen. Er hatte 1898 mit seinem berühmt gewordenen Artikel J’accuse…! (Ich klage an …!) angeprangert, dass der eigentlich Schuldige freigesprochen wurde. Die im Juni 1899 neu gebildete Regierung unter Pierre Waldeck-Rousseau setzte auf einen Kompromiss, nicht auf eine grundsätzliche Korrektur des Fehlurteils, um die Auseinandersetzungen in der Affäre Dreyfus zu beenden. Wenige Wochen nach seiner zweiten Verurteilung wurde Dreyfus begnadigt. Ein Amnestiegesetz garantierte gleichzeitig Straffreiheit für alle mit der Dreyfus-Affäre im Zusammenhang stehenden Rechtsbrüche. Lediglich Alfred Dreyfus war von dieser Amnestie ausgenommen, was es ihm ermöglichte, sich weiter um eine Revision des Urteils gegen sich zu bemühen. Am 12. Juli 1906 hob schließlich das zivile Oberste Berufungsgericht das Urteil gegen Dreyfus auf und rehabilitierte ihn vollständig. Dreyfus wurde wieder in die Armee aufgenommen, zum Major befördert und darüber hinaus zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt. Der strafversetzte Major Marie-Georges Picquart, ehemals Leiter des französischen Auslandsnachrichtendienstes (Deuxième Bureau) und eine Schlüsselfigur bei der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus, kehrte mit dem Rang eines Brigadegenerals in die Armee zurück. Die Dreyfus-Affäre war nach dem Panamaskandal und parallel zur Faschoda-Krise der dritte große Skandal in dieser Phase der Dritten Republik. Mit Intrigen, Fälschungen, Ministerrücktritten und -stürzen, Gerichtsprozessen, Krawallen, Attentaten, dem Versuch eines Staatsstreiches (23. Februar 1899) und einem zunehmend offenen Antisemitismus in Teilen der Gesellschaft stürzte die Affäre das Land in eine schwere politische und moralische Krise. Insbesondere während des Kampfes um die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens war die französische Gesellschaft bis in die Familien hinein tief gespalten. Verlauf Das belastende Schriftstück Die Putzfrau Marie Bastian spionierte von Zeit zu Zeit für den französischen Nachrichtendienst, als sie im Palais Beauharnais, der damaligen deutschen Botschaft in Paris, arbeitete. Am 25. September 1894 entwendete sie unter anderem ein zerrissenes Schreiben aus dem Papierkorb des deutschen Militärattachés Oberstleutnant Maximilian von Schwartzkoppen. Der französische Nachrichtendienst setzte den Brief wieder zusammen; es war ein nicht unterschriebenes Begleitschreiben zu einer Sendung von fünf geheimen militärischen Dokumenten: Aus diesem sogenannten Bordereau, einem Verzeichnis beigefügter Dokumente, ging hervor, dass ein französischer Generalstabsoffizier dem deutschen Geheimdienst vertrauliche Informationen zugespielt hatte. Der französische Auslandsgeheimdienst leitete das Schriftstück direkt an das französische Kriegsministerium weiter. Verdächtigung Von den vier Abteilungsleitern des französischen Generalstabs konnte keiner die Handschrift des Bordereau einem der ihnen unterstellten Offiziere zuordnen. Oberstleutnant Albert d’Aboville schlug deshalb vor, sich auf das mögliche Täterprofil zu konzentrieren. Er war davon überzeugt, dass nur ein Artillerieoffizier Informationen über das 120-Millimeter-Geschütz liefern konnte. Wegen der Vielfalt der verzeichneten Dokumente müsse es sich bei dem Verfasser um einen Absolventen der École supérieure de guerre handeln, der Pariser Militärhochschule, die im Anschluss an die École polytechnique und die Militärschule Saint-Cyr einigen Auserwählten eine abschließende Ausbildung bot. Die Begrenzung auf diese Personengruppe engte den Kreis der Verdächtigen erheblich ein. Albert d’Aboville kam schließlich gemeinsam mit Oberst Pierre-Elie Fabre zu dem Schluss, dass die Handschrift derjenigen des Artillerie-Hauptmanns Dreyfus ähnele. Der Schreiber des Bordereau hatte allerdings in der letzten Zeile erwähnt, dass er zu einem Manöver aufbreche. Dreyfus hatte bislang niemals an einem Manöver teilgenommen. Diesen Umstand ignorierten beide. Der 1859 geborene Alfred Dreyfus entstammte einer Industriellenfamilie aus dem Elsass. Als 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg seine Geburtsregion an Deutschland fiel, hatten sich seine Eltern für die Beibehaltung der französischen Staatsbürgerschaft entschieden und waren mit Teilen der Familie nach Paris umgesiedelt. Seinen Dienst im Generalstab, wo er der erste und einzige Jude war, hatte Dreyfus am 1. Januar 1893 begonnen. Die École supérieure de guerre hatte er als einer der Besten seines Jahrgangs abgeschlossen, obwohl er bei seiner mündlichen Abschlussprüfung von seinem Prüfer General Pierre de Bonnefond schlechte Noten erhalten hatte. Der General begründete dies damit, dass Juden im Generalstab unerwünscht seien. Dreyfus war es nicht gelungen, im Generalstab Freunde zu gewinnen. Sein Vorgesetzter Oberst Pierre Fabre hatte ihm in einem Gutachten zwar Intelligenz und Begabung bescheinigt, aber auch Arroganz, mangelhaftes Verhalten und Charakterfehler, schrieb der Schriftsteller Louis Begley 2009. Hannah Arendt bezeichnet Dreyfus als jüdischen Parvenü, der Kameraden gegenüber mit Geld geprotzt und einen Teil davon mit Mätressen durchgebracht habe, während sein Biograf Vincent Duclert ihn als Ehrenmann und Patrioten beschreibt. Verhaftung Kriegsminister Auguste Mercier, ein gemäßigt katholischer Republikaner, der bis zu seinem Tod von Dreyfus’ Schuld überzeugt war, entschied, die Untersuchung voranzutreiben. In den höheren Kreisen von Regierung und Armee wurde dies nicht einhellig gebilligt. Der ranghöchste französische Offizier, General Félix Saussier, Republikaner des linken Zentrums, befürchtete Schaden für die französische Armee, sollte einer ihrer Offiziere wegen Landesverrats angeklagt werden. Laut dem Historiker Henri Guillemin protegierte er Walsin-Esterházy, ohne von seiner Schuld zu wissen. Der Historiker und Außenminister Gabriel Hanotaux warnte vor einer Belastung der deutsch-französischen Beziehungen, wenn bekannt würde, dass der französische Nachrichtendienst über Unterlagen verfügte, die aus der deutschen Botschaft gestohlen worden waren. Auch der gemäßigt republikanische Staatspräsident Jean Casimir-Perier mahnte zur Vorsicht, da er bezweifelte, dass der Bordereau als alleiniger Beweis für eine Verurteilung wegen Spionage reichte. Premierminister Charles Dupuy nahm Kriegsminister Mercier das Versprechen ab, ein Verfahren gegen Dreyfus nur dann anzustrengen, wenn es zusätzlich zum Bordereau andere Schuldbeweise gebe. Mercier, der sich auf die Auswertungen seiner Offiziere verließ, sah keinen Anlass, den eingeschlagenen Kurs zu ändern, und unterzeichnete am 14. Oktober 1894 den Haftbefehl gegen Alfred Dreyfus. Die weiteren Untersuchungen übertrug Mercier Major Armand du Paty de Clam. Am 15. Oktober wurde Dreyfus unter einem Vorwand zum Chef des Generalstabs gerufen, wo ihn du Paty erwartete und ihm Sätze und Satzfetzen aus dem abgefangenen Bordereau diktierte. Anschließend konfrontierte er ihn mit dem Vorwurf des Landesverrates, verhaftete ihn auf der Stelle, ließ ihn ins Gefängnis Cherche-Midi bringen und sein Haus durchsuchen. Du Paty teilte Dreyfus’ Ehefrau Lucie zwar mit, dass ihr Mann sich in Haft befinde, verweigerte ihr aber jegliche weiteren Auskünfte. Er verbot ihr, andere über die Festnahme zu informieren, und drohte ihr mit gravierenden Konsequenzen für ihren Ehemann, falls sie sich an diese Weisung nicht halte. Erst am 31. Oktober 1894 bekam sie die Erlaubnis, ihre Familie über die Verhaftung in Kenntnis zu setzen. Dreyfus sah den Bordereau das erste Mal einen Tag zuvor und war danach von der Haltlosigkeit der Vorwürfe überzeugt. Er hatte zu keinen der in dem Schreiben aufgeführten Unterlagen Zugang gehabt, und die Anklage konnte kein glaubwürdiges Motiv für einen Landesverrat nennen. Geldnot, häufiger Anlass für solche Handlungen, traf auf Dreyfus nicht zu. Sowohl Dreyfus als auch seine Frau stammten aus wohlhabenden Familien und verfügten über erhebliches Privatvermögen: Während ein Leutnant ein Jahresgehalt von weniger als 2.000 Franc erhielt, warf das Vermögen von Dreyfus allein ein jährliches Einkommen von 40.000 Franc ab. Ein Schriftgutachten des Kriminalisten Alphonse Bertillon, der ohne entsprechende Kenntnisse als Schriftsachverständiger herangezogen worden war, fiel zu Ungunsten von Dreyfus aus. Bertillon unterstellte Dreyfus, dass dieser beim Abfassen des Schriftstücks seine Handschrift verstellt habe. Auf Anweisung von Mercier wurde das Urteil weiterer Schriftsachverständiger eingeholt. Zwei kamen zu dem Schluss, es gebe Ähnlichkeiten zwischen den beiden Handschriften, und einer hielt die Übereinstimmung für ausreichend, um den Bordereau Dreyfus zuzuschreiben. Zwei weitere hielten die beiden Handschriften für nicht identisch. Erste Berichterstattung in der Presse Nur zwei Tage nachdem du Paty den Generalstabschef Raoul de Boisdeffre, der entschieden gegen Dreyfus eingestellt war, darüber informiert hatte, dass er Zweifel am Erfolg einer Klage hatte, ließ ein Informant aus dem Kriegsministerium der Presse Details über den Fall zukommen. Am 31. Oktober 1894 berichtete die Tageszeitung L’Eclair von der Verhaftung eines Offiziers, La Patrie sprach bereits von der Festnahme eines jüdischen Offiziers im Kriegsministerium, und Le Soir gab den Namen von Dreyfus, sein Alter und seinen Rang bekannt. Kriegsminister Mercier, der wegen anderer Sachverhalte bereits mehrfach scharf von der Presse attackiert worden war, befand sich nun in einer schwierigen Lage, einer Zwickmühle: Hätte er angeordnet, Dreyfus freizulassen, hätte die nationalistische und antisemitische Presse ihm Versagen und mangelnde Härte gegenüber einem Juden vorgeworfen. Käme es dagegen in einem Prozess zu einem Freispruch, hätte man ihm vorgehalten, leichtsinnige und entehrende Beschuldigungen gegen einen Offizier der französischen Armee erhoben und eine deutsch-französische Krise riskiert zu haben. Mercier hätte dann vermutlich, so Begley, zurücktreten müssen. In einer Sondersitzung des Kabinetts zeigte Mercier den Ministern eine Abschrift des Bordereau und behauptete, Dreyfus sei eindeutig der Verfasser. Die Minister stimmten daraufhin der Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung gegen Dreyfus zu. Der Fall fiel nun in die Zuständigkeit des ranghöchsten französischen Offiziers. General Saussier übertrug die weiteren Untersuchungen Hauptmann Bexon d’Ormescheville, einem Prüfungsrichter am Premier conseil de guerre, dem obersten Kriegsgericht in Paris. Der deutsche Botschafter erklärte am 10. November 1894 in der Zeitung Le Figaro, es habe zwischen dem deutschen Militärattaché Max von Schwartzkoppen und Dreyfus keine Kontakte gegeben. Zuvor hatte der italienische Militärattaché Panizzardi das italienische Armeehauptquartier in einem verschlüsselten Telegramm darüber informiert, dass er keine Verbindung zu Dreyfus gehabt hatte. Außerdem hatte er empfohlen, der italienische Botschafter sollte durch eine offizielle Erklärung weiteren Pressespekulationen vorbeugen. Die französische Postbehörde fing das Telegramm ab, der Übersetzungsdienst des Außenministeriums dechiffrierte es und übergab es am 11. November 1894 dem Nachrichtendienst. Jean Sandherr, Leiter des Nachrichtendiensts, fertigte eine Abschrift an und schickte das Original an das Außenministerium zurück. Die Kopie wurde in die Akten des Kriegsministeriums gelegt. Der ungarische Schriftsteller, Komponist und Dramatiker George R. Whyte, der sich vielfältig mit dem Skandal auseinandergesetzt hat, nimmt 2005 an, dass diese Kopie noch am selben Tag gegen eine falsche Version ausgetauscht wurde. Dieser Fälschung zufolge verfügte das französische Kriegsministerium über Beweise für Kontakte von Dreyfus zum Deutschen Reich. Die italienische Botschaft hatte demnach bereits alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen eingeleitet. Der Ton der Presseberichte wurde im Verlauf des Novembers deutlich schärfer. La Libre Parole, L’Intransigeant, Le Petit Journal und L’Éclair beschuldigten die Minister wiederholt, dass sie die Aufklärung des Falls nicht energisch vorantrieben, weil der Beschuldigte Jude sei. Am 14. November 1894 behauptete der führende katholische Antisemit und Verschwörungstheoretiker Édouard Drumont in der nationalistischen und antisemitischen Zeitung La Libre Parole, Dreyfus sei der Armee nur beigetreten, um Verrat zu begehen. Als Jude und Deutscher hasse er die Franzosen. Die katholische Tageszeitung La Croix bezeichnete am selben Tag die Juden als ein schreckliches Krebsgeschwür, das Frankreich in die Sklaverei führen würde. Kurz darauf erklärte Kriegsminister Mercier im Le Journal, dass die Untersuchung gegen Dreyfus innerhalb von zehn Tagen abgeschlossen werde. Elf Tage später erschien im Figaro ein Interview mit Mercier, dem zufolge er über eindeutige Beweise für den Landesverrat durch Dreyfus verfügte. Er deutete an, dass der deutsche Nachrichtendienst der Empfänger der Geheimdokumente gewesen sei. Noch am selben Tag veröffentlichte die Tageszeitung Le Temps auf Druck von Ministerpräsident Dupuy ein Dementi von Mercier. Trotzdem nahm der deutsche Botschafter Georg Herbert zu Münster das Interview zum Anlass, sich bei Außenminister Gabriel Hanotaux zu beschweren. Er nannte es eine Unterstellung, seine Regierung habe in irgendeiner Form Anlass für die Verhaftung von Dreyfus gegeben. Am 29. November 1894 brachte daraufhin die Nachrichtenagentur Havas eine zweideutig formulierte inoffizielle Stellungnahme heraus, wonach Merciers Interview im Figaro fehlerhaft wiedergegeben worden sei. Das Geheimdossier Hauptmann d’Ormescheville leitete am 3. Dezember 1894 den gemeinsam mit Major du Paty verfassten Untersuchungsbericht an General Saussier weiter. Die Beweise beschränkten sich auf den Bordereau, Dreyfus’ Deutschkenntnisse sowie eine negative Beurteilung von Dreyfus durch einige Offizierskollegen. Die Gutachten der Schriftsachverständigen, die keine Ähnlichkeit zwischen der Handschrift von Alfred Dreyfus und der des Bordereaus sahen, erwähnte D’Ormescheville nicht. Aufgeführt war lediglich das Gutachten von Bertillon. General Saussier befahl angesichts dieser dünnen Beweislage seinen Offizieren, alle Unterlagen in ihren Archiven, die mit Spionage zu tun hatten und gegen Dreyfus verwendet werden könnten, zu sammeln. Aus dieser Sammlung wurde ein Geheimdossier zusammengestellt, das zur Zeit des ersten Kriegsgerichtsprozesses folgende Dokumente enthielt: Schwartzkoppens fragmentarisches Memorandum an den Generalstab in Berlin, in dem er offensichtlich Vor- und Nachteile der Zusammenarbeit mit einem namentlich nicht genannten französischen Offizier erwog, der seine Dienste als Agent offerierte. Ein auf den 16. Februar 1894 datierter Brief des italienischen Militärattachés Panizzardi an seinen engen Freund Schwartzkoppen, aus dem herausgelesen werden kann, dass Schwartzkoppen an Panizzardi nachrichtendienstliche Informationen weitergab. Ein Brief Panizzardis an Schwartzkoppen, in dem dieser schrieb, dass „ce canaille de D.“ (diese Kanaille D.) ihm Pläne einer militärischen Einrichtung in Nizza übergeben habe, damit dieser sie an Schwartzkoppen weiterleite. Dieser Hinweis bezog sich – was der an der Zusammenstellung des Geheimdossiers beteiligte Hauptmann Hubert Henry sehr wohl wusste – auf einen Kartografen des Kriegsministeriums, der seit Jahren Pläne militärischer Einrichtungen an die beiden Militärattachés verkaufte und dessen Nachname gleichfalls mit D begann. Berichte des Geheimpolizisten Guénée über Gespräche mit Marquis de Val Carlos. Sie enthielten eine Textpassage, die nach Stand heutiger Forschung nachträglich eingefügt worden war. Es war die erfundene Behauptung, dass „die deutschen Attachés einen Offizier im Generalstab haben, der sie ausgesprochen gut auf dem Laufenden hält.“ Diesen Abschnitt hatte Guénée hinzugefügt. Jean Sandherr, der Leiter des dem Deuxième Bureau zugeordneten Nachrichtenbüros, wies außerdem an, dass das Geheimdossier durch einen Kommentar von du Paty zu ergänzen sei, der eine Verbindung zwischen diesen Dokumenten und Dreyfus herstellen sollte. Der genaue Inhalt dieses Geheimdossiers ist aber bis heute nicht bekannt, denn in keinem der Archive ist bisher die Auflistung aller Dokumente aufgetaucht. Neuere Recherchen haben Hinweise auf die Existenz von etwa 10 Dokumenten ergeben, darunter Briefe, die auf Dreyfus’ Homosexualität schließen lassen sollen. Verurteilung und Verbannung Der Prozess vor dem Kriegsgericht dauerte vom 19. bis 22. Dezember 1894 und fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Zu Gericht saßen Gerichtspräsident Émilien Maurel und sieben weitere Offiziere. Keiner dieser Militärrichter war Artillerie-Offizier und damit in der Lage, die Bedeutung der auf dem Bordereau genannten Dokumente einzuordnen oder ihre Zugänglichkeit einzustufen. Dreyfus wurde von Edgar Demange verteidigt, einem für seine Integrität bekannten Katholiken. Demange hatte zunächst gezögert, die ihm angetragene Verteidigung zu übernehmen; er hatte sie verbindlich zugesagt, als er die Akte gelesen und zu der Überzeugung gekommen war, dass Dreyfus unschuldig war. Dreyfus war sich zu Beginn seines Prozesses seines baldigen Freispruchs sicher. Der Ausgang des Prozesses war zunächst durchaus unsicher. Die Überzeugung der Richter von der Schuld des Angeklagten wankte laut Vincent Duclert aufgrund seiner glaubhaften und logischen Antworten auf alle Fragen. Auch die Charakterzeugen bürgten für Dreyfus. Zwei Ereignisse führten aber zu einer Wendung des Prozesses, der in einem kleinen und nüchternen Raum des Gefängnisses Cherche-Midi in Paris stattfand. Als den Beobachtern des Nachrichtendienstes Zweifel am Erfolg ihrer Klage kamen, wandte sich Major Henry heimlich und rechtswidrig an einen der Richter, mit der Bitte, ihn ein zweites Mal in den Zeugenstand zu rufen. Im Februar und März 1894 habe eine „ehrenhafte Person“ den Nachrichtendienst vor einem verräterischen Offizier gewarnt, brachte Henry bei dieser Gelegenheit vor, zeigte auf Dreyfus und bezeichnete ihn als diesen Verräter. Auf Verlangen von Dreyfus und Demange, diese „ehrenhafte Person“ zu benennen, verweigerte Henry die Antwort mit der Begründung, es gebe Geheimnisse im Kopf eines Offiziers, die nicht einmal sein Käppi zu wissen brauche. Gerichtspräsident Maurel stellte fest, es reiche aus, wenn Henry sein Ehrenwort als Offizier gebe, dass diese „ehrenhafte Person“ Dreyfus genannt habe. Henry bestätigte dies daraufhin erneut. Am dritten Tag des Gerichtsprozesses übergab du Paty während einer Verhandlungspause dem Gerichtspräsidenten heimlich einen versiegelten Umschlag, in dem sich das Geheimdossier befand. Du Paty richtete Maurel außerdem die Bitte von Mercier aus, bei der Urteilsberatung am nächsten Tag dieses Dossier auch den anderen Richtern vorzulegen. Damit sollte das Gericht – trotz des dürftigen Beweismaterials, des fragwürdigen Handschriftenvergleichs, des fehlenden Motivs des Angeklagten und seiner Unschuldsbeteuerungen – von Dreyfus’ Schuld überzeugt werden. Diese heimliche Übergabe von Dokumenten, die weder dem Angeklagten noch seinem Anwalt zur Kenntnis gebracht wurden, machte das Militärgerichtsverfahren ungültig. Am 22. Dezember 1894 wurde Dreyfus mit einstimmigem Votum der Militärrichter zu Degradierung, lebenslanger Haft und Verbannung verurteilt. Die Militärrichter hatten lediglich eine Stunde über das Urteil beraten. Während dieser Beratung hatten Maurel und ein weiterer Militärrichter Teile des Geheimdossiers vorgelesen. Ihr Urteil entsprach dem höchstmöglichen Strafmaß, da die Todesstrafe für politische Verbrechen, einschließlich Landesverrat, seit 1848 abgeschafft war. Auf Angebote einer Hafterleichterung, im Falle eines Geständnisses, ging Dreyfus nicht ein. Sein Revisionsantrag wurde am 31. Dezember abgelehnt. Am 5. Januar 1895 folgte die öffentliche Degradierung im Hof der École Militaire. Eine johlende Menschenmenge war Zeuge, wie Dreyfus die Epauletten von der Uniform gerissen, der Säbel zerbrochen und er anschließend gezwungen wurde, die Reihen der angetretenen Kompanien abzuschreiten. Im Januar 1895 war Alfred Dreyfus in die Festung auf der Île de Ré im Atlantik verlegt worden. Die französische Abgeordnetenkammer beschloss am 31. Januar 1895 auf Vorschlag von Kriegsminister Mercier, Dreyfus auf die Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana zu verbannen. Dort waren die Lebensbedingungen nicht zuletzt wegen des Klimas so hart, dass Verbannungen auf diese Insel seit Beginn der Dritten Französischen Republik unüblich geworden waren. Von April 1895 bis zu seiner Rückkehr 1899 verbrachte Dreyfus seine Isolationshaft in einer sechzehn Quadratmeter großen Steinhütte mit Wellblechdach, die von einem kleinen, mit Palisaden eingefriedeten Hof umgeben war. Seinen Wärtern, die ihn ständig zu beobachten hatten, war jegliche Unterhaltung mit ihm verboten. Die Haftbedingungen wurden nach und nach weiter erschwert. Nach Gerüchten über einen Fluchtversuch durfte er für lange Zeit seine Hütte nicht mehr verlassen. Nachts wurde er mit eisernen Fußfesseln an sein Bett gekettet. Sein Briefverkehr mit der Familie unterlag der Zensur. Briefe erhielt er häufig erst nach langer Zeitverzögerung. Von den Entwicklungen in seinem Fall erfuhr er erst Ende 1898. Reaktion der Familie Um die Wiederaufnahme des Prozesses bemühten sich anfangs vor allem Familienangehörige von Dreyfus, darunter vor allem seine Frau Lucie und sein Bruder Mathieu. Mathieu Dreyfus war zwei Jahre älter als Alfred und hatte ursprünglich geplant, ebenfalls Offizier der französischen Armee zu werden. Er war jedoch bei der Aufnahmeprüfung an der École polytechnique durchgefallen. Gemeinsam mit seinen Brüdern Jacques und Léon übernahm er stattdessen die Führung des Familienunternehmens in Mülhausen. Nachdem ihn Lucie Dreyfus telegrafisch über die Verhaftung Alfreds informiert hatte, war er sofort nach Paris geeilt und zog wenig später mit seiner gesamten Familie dorthin um, um sich ausschließlich um den Fall seines Bruders zu kümmern. Mathieu Dreyfus konzentrierte sich zunächst darauf, Freunde und einen möglichst großen Bekanntenkreis davon zu überzeugen, dass sein Bruder unschuldig sei. Er stand dabei selbst unter ständiger Beobachtung des französischen Geheimdienstes. Seine Briefe wurden geöffnet und die Concierge seiner Wohnung in Paris war offensichtlich von der Polizei bezahlt. Sie empfing nämlich in ihrer Eingangsloge Polizeiagenten. Eine Madame Bernard behauptete gegenüber Mathieu Dreyfus, sie sei eine Spionin des französischen Militärdienstes und habe Kontakt zu ihm aufgenommen, weil man sie unter der Drohung, ihre Tätigkeit als Spionin aufzudecken, zur Auflösung der Verlobung ihrer Tochter mit einem Offizier zwingen wolle. Als Rache für diesen Erpressungsversuch wolle sie ihm Dokumente zur Verfügung stellen, aus denen der wahre Verfasser des Bordereau hervorgehe. Dreyfus vermutete darin eine Falle, die der Polizei einen Vorwand liefern sollte, seine Wohnung zu durchsuchen und ihn selbst des Landesverrats anzuklagen. Als er Madame Bernard anbot, gegen Zahlung von 100.000 Francs die Dokumente bei einem Notar zu hinterlegen, ließ sie nichts mehr von sich hören. Mathieu Dreyfus beschloss schließlich, die in London ansässige Detektei Cook zu beauftragen, ihn bei seinen Recherchen zu unterstützen. Mit Hilfe der Detektei und des Pariser Korrespondenten der englischen Zeitung Daily Chronicle wurde die fingierte Nachricht in Umlauf gebracht, Alfred Dreyfus sei am 3. September 1895 von der Teufelsinsel entkommen. Daraufhin griff die Zeitung Le Figaro den Fall wieder auf und wies auf einige Ungereimtheiten im Prozessverlauf hin. Am 8. September erschien im Figaro ein Reisebericht, aus dem hervorging, welch unmenschlichen Haftbedingungen Dreyfus ausgesetzt war. Der Schriftsteller Louis Begley (2009) hält diesen Artikel für wesentlich, weil die Lektüre erstmals bei einem größeren Kreis von Personen Mitgefühl für den Verbannten auslöste. Die ersten Dreyfusarden Erste Unterstützung im Kampf um die Rehabilitierung seines Bruders fand Mathieu Dreyfus bei Major Ferdinand Forzinetti, dem Kommandanten des Militärgefängnisses, in dem Alfred inhaftiert gewesen war. Forzinetti war aufgrund des Verhaltens und der beharrlichen Unschuldsbezeugungen seines Häftlings zu der Überzeugung gekommen, dass dieser tatsächlich unschuldig sei. Im Januar 1895 übergab Forzinetti Mathieu die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die sein Bruder am Papierrand mit Kommentaren versehen hatte. Forzinetti empfahl Mathieu Dreyfus auch, den anarchistischen Journalisten und Literaturkritiker Bernard Lazare um Unterstützung zu bitten. Lazare hatte bereits zuvor in verschiedenen Veröffentlichungen den sozialen und politischen Schaden thematisiert, den offener und versteckter Antisemitismus der französischen Gesellschaft zufügte. Seine Kampfschrift Une erreur judiciaire, la vérité sur l’affaire Dreyfus (Ein Justizirrtum: Die Wahrheit über die Dreyfus-Affäre) erschien Ende 1895 und wurde in Belgien gedruckt, um eine Beschlagnahmung durch französische Behörden zu verhindern. Lazare kritisierte darin unter anderem die vom Generalstab angestoßene Pressekampagne gegen Dreyfus, die Regelverstöße der von du Paty durchgeführten Ermittlungen und die Verfahrensfehler im Prozessverlauf. Er widersprach außerdem Bertillons Gutachten, wonach Dreyfus absichtlich seine Handschrift verstellt hatte, und bestritt die Beweiskraft des Ce Canaille de D.-Briefes mit dem Hinweis, dass der deutsche Militärattaché einen nützlichen Agenten auf keinen Fall in so nachlässiger Weise kompromittiert hätte. Lazare beließ es nicht bei dieser Schrift. Der jüdische sozialistische Politiker und Schriftsteller Léon Blum, der später mehrmals französischer Ministerpräsident wurde, schildert in seinen 1935 veröffentlichten Erinnerungen an den Fall, wie Lazare mit „bewundernswürdiger Selbstverleugnung“ überall nach Unterstützung gesucht hatte, ohne sich um Zurückweisungen oder Verdächtigungen zu kümmern. Einer der ersten, die Lazare von Dreyfus’ Unschuld überzeugen konnte, war der gemäßigt republikanische liberale Abgeordnete Joseph Reinach, der einer wohlhabenden, ursprünglich in Frankfurt beheimateten jüdischen Bankiersfamilie entstammte. Reinachs Ambitionen auf ein Ministeramt waren durch seine familiären Verbindungen zu Personen, die in den Panamaskandal verwickelt waren, zunichtegemacht worden. Der US-amerikanischen Historikerin Ruth Harris (2009) zufolge agierte er aus diesem Grund in der Dreyfus-Affäre vorwiegend im Hintergrund. Marie-Georges Picquart Jean Sandherr, der Leiter des Deuxième Bureau, musste 1895 wegen einer schweren Erkrankung sein Amt aufgeben. Seine Stelle übernahm am 1. Juli der gerade zum Oberstleutnant beförderte Marie-Georges Picquart, der sich zu einer Schlüsselfigur bei der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus entwickelte. Der 1854 in Straßburg geborene Picquart entstammte einer Beamten- und Soldatenfamilie, gehörte seit 1890 dem Generalstab an, war bereits 1894 an der Untersuchung des Bordereau beteiligt gewesen und hatte als Beobachter des Prozesses gegen Alfred Dreyfus fungiert. Martin P. Johnson beschreibt ihn 1999 als kultiviert, ehrenhaft und intelligent. Er zählte zu den vielversprechendsten Offizieren des Generalstabs. Picquart war bei Amtsantritt des Deuxiéme Bureau der jüngste französische Oberstleutnant. Entdeckung von Entlastungsmaterial Picquart kam wenige Monate nach seinem Amtsantritt zu dem Schluss, dass der deutsche Nachrichtendienst nach wie vor über Kontakte zu einem französischen Offizier verfügte: Unter einer größeren Menge an Papieren, die aus der deutschen Botschaft entwendet worden waren und die der Nachrichtendienst im März 1896 untersuchte, entdeckte man auch eine kurze Mitteilung an den französischen Major Ferdinand Walsin-Esterházy, die mit „C.“ unterschrieben war, einem gelegentlich vom deutschen Militärattaché Schwartzkoppen verwendeten Kürzel. Wegen des hellblauen Schreibpapiers wird dieses für die Affäre wesentliche Beweisstück als Le petit bleu („Das kleine Blaue“) bezeichnet. In einem anderen Brief erwähnte Schwartzkoppen, seine Vorgesetzten seien unzufrieden, für so viel Geld bislang so wenig substantielle Informationen erhalten zu haben. Die nachfolgende Routineüberprüfung des Majors Walsin-Esterházy ergab, dass dieser wegen seiner Spielleidenschaft und seines aufwendigen Lebensstiles hoch verschuldet war. Reaktionen des Generalstabs auf Picquarts Entdeckung Im August 1896 informierte Picquart unter Umgehung seines direkten Vorgesetzten, des Brigadegenerals Charles Arthur Gonse, damals Leiter des Deuxième Bureau und von Dreyfus’ Schuld überzeugt, zunächst den Generalstabschef Boisdeffre und anschließend den neuen Kriegsminister General Jean-Baptiste Billot, der dem französischen Senat als republikanischer Linker angehörte, über diesen Hinweis auf fortgesetzte Spionage. Beauftragt, seine Untersuchung fortzusetzen, forderte Picquart Ende August die Dossiers im Fall Dreyfus an und stellte dabei fest, dass die Handschrift Walsin-Esterházys mit der des Bordereau identisch war. Picquart teilte dies erst mündlich und dann schriftlich sowohl Boisdeffre als auch Gonse mit. Insbesondere Gonse bestand jedoch darauf, dass Picquart die Fälle Walsin-Esterházy und Dreyfus als getrennte Angelegenheiten behandeln sollte. Die Presseberichterstattung über den angeblichen Fluchtversuch Dreyfus’ führte dazu, dass L’Éclair am 10. und 14. September 1896 in zwei Artikeln ausgewählte Inhalte des Geheimdossiers veröffentlichte. Picquart war davon überzeugt, die Familie Dreyfus stecke hinter diesen Veröffentlichungen und verfüge über ausreichend Informationen, um eine Wiederaufnahme des Prozesses zu erreichen. Nach heutigem Forschungsstand irrte Picquart hier. Die Berichte waren mit großer Sicherheit von einem Informanten aus dem Generalstab lanciert worden, um die Öffentlichkeit in dem Glauben zu bestärken, nicht allein das Bordereau sei Anlass für die Verurteilung von Dreyfus gewesen. Es war eine riskante Strategie, da sie gleichzeitig den rechtswidrigen Verlauf des Prozesses öffentlich machte, denn das Geheimdossier war den Verteidigern bisher nicht bekannt. Picquart legte seinem Vorgesetzten Gonse nahe, möglichst schnell zu handeln und Walsin-Esterházy verhaften zu lassen, um Schaden vom Generalstab abzuwenden. In einer Besprechung unter vier Augen am 15. September 1896, über die allerdings nur Aufzeichnungen Picquarts vorliegen, unterstrich Gonse, dass er bereit sei, die Verurteilung eines Unschuldigen hinzunehmen, um den Ruf Merciers und Saussiers zu schützen, die beide wesentlich den Prozess gegen Dreyfus vorangetrieben hatten. Gonse gab Picquart auch zu verstehen, dass sein Schweigen wesentlich sei, um diese Angelegenheit zu vertuschen, berichten Elke-Vera Kotowski und Julius H. Schoeps 2005. Dass Picquarts Handeln zunächst weniger auf die Entlastung des Unschuldigen, sondern die Wiederherstellung des Rufes der Armee abzielte zeigen neuere Forschungen, die auch die lange verschlossenen internen Aufzeichnungen in den Militärarchiven berücksichtigen und im Ergebnis Picquart als „falschen Freund“ bewerten. Zugleich bestätigen sie, dass die politischen Manöver Picquarts ihn konsequenterweise in das Amt des Kriegsministers führten. Die Fälschung von Major Hubert Henry Gemäß Begley reagierte die Familie Dreyfus, wie von Picquart vermutet, auf diese Hinweise hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Prozesses. Seit Anfang 1895 wussten die Angehörigen, dass ein Geheimdossier bei der Verurteilung eine Rolle gespielt hatte. Die Zeit zu handeln sahen sie jedoch erst gekommen, als die Darstellung in L’Éclair von Seiten der Regierung nicht dementiert wurde. Am 18. September 1896 bat Lucie Dreyfus in einem von mehreren Zeitungen veröffentlichten Brief die Abgeordnetenkammer um Wiederaufnahme des Prozesses. Den Kriegsminister forderte sie auf, das Geheimdossier zugänglich zu machen, damit die Öffentlichkeit erfahre, was zur Verurteilung ihres Mannes geführt hatte. Die Abgeordnetenkammer lehnte ihre Bitte ab. Picquart hatte befehlsgemäß über seinen Verdacht in Bezug auf Walsin-Esterházy geschwiegen. Der Personenkreis um General Gonse hielt Picquart, vermutet Begley, für das schwächste Glied in der Abwehrkette. Die in die Intrigen verwickelten Angehörigen des Generalstabs dürften davon ausgegangen sein, dass Picquart auch wusste, mit welchen Dokumenten des Geheimdossiers fälschlich ein Zusammenhang mit dem Fall Dreyfus hergestellt worden war. Dies setzte den ehemaligen Kriegsminister Mercier, General Boisdeffre und möglicherweise auch General Gonse dem Risiko einer Anklage aufgrund von Manipulation des Kriegsgerichtsprozesses aus. Gonse befahl Picquart am 27. Oktober, sich auf eine Inspektionsreise durch die französische Provinz zu begeben. Major Henry sah in Picquarts Abwesenheit vor allem eine Gelegenheit, sich dem Generalstab als dessen Nachfolger zu empfehlen. Entweder am 30. Oktober oder am 1. November 1896 verschaffte er sich einen Brief des italienischen Militärattachés Panizzardi an Schwartzkoppen, welchen er zerschnitt und auf den 14. Juni 1894 fehldatierte, bevor er zwischen Anrede und Unterschrift weiteren Text einfügte. Darin wurde Dreyfus unterstellt, Informationen an die beiden Militärattachés verkauft zu haben. Ruth Harris bezeichnet Henrys notdürftig geklebten Fälschungsversuch als nahezu grotesk amateurhaft. Nicht nur Henrys Handschrift, auch das Papier, das er für die Erstellung des heute als faux Henry (falscher Henry) bezeichneten Schriftstücks verwendete, unterschied sich bei genauerer Betrachtung deutlich vom Original Panizzardis. Dennoch lieferte Henry dieses Dokument am 2. November an General Gonse, der gemeinsam mit General Boisdeffre kurz darauf den Kriegsminister über Henrys neue „Entdeckung“ informierte. Picquarts Versetzung nach Tunesien Kurz nach dieser „Entdeckung“ ließ Mathieu Dreyfus 3.500 einflussreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Lazares Schrift zusenden, worin dieser die Verurteilung von Dreyfus als Justizirrtum anprangerte. Am 10. November 1896 druckte Le Matin außerdem ein Faksimile des Bordereau ab, wodurch es jedem Leser möglich war, selbst einen Schriftvergleich vorzunehmen. Wenige Tage später kam es in der Abgeordnetenkammer auf Antrag des Abgeordneten André Castellin zu einer Aussprache über die Affäre Dreyfus. Castellin griff in seiner wiederholt von Beifallsbezeugungen unterbrochenen Rede das „jüdische Syndikat“ an, das Zweifel am Beweismaterial säen wolle, und forderte die Regierung zur strafrechtlichen Verfolgung Lazares auf. Kriegsminister Billot beteuerte, Dreyfus habe zweifelsfrei Landesverrat begangen und der Prozess sei ordnungsgemäß verlaufen. Parallel zu den Diskussionen in der Abgeordnetenkammer bemerkten Gonse und Henry einige Fehler in Picquarts Beweisführung. Picquart hatte vor allem den Zeitpunkt vertuschen wollen, zu dem der „Petit bleu“ entdeckt worden war. Zu Picquarts Motiven für diesen Verschleierungsversuch schreibt Louis Begley, sein Verhalten lasse sich mit seiner „Vorliebe für selbstständiges Arbeiten“ erklären, er habe eine „interessante Spur“ selbst verfolgen wollen. Ruth Harris dagegen argumentiert, er habe zum Schutz seiner Karriere gehandelt. Die Untersuchungen hatte er gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Vorgesetzten fortgesetzt und anschließend versucht, diesen Sachverhalt durch Änderung verschiedener Daten zu verheimlichen. Unabhängig von seinen Motiven trug Picquarts Manipulation dazu bei, seine Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Entlastung von Dreyfus und der Anschuldigungen gegenüber Walsin-Esterházy zu schwächen. Zwar hatte einer der am Prozess beteiligten Schriftsachverständigen Le Matin den Bordereau zugespielt, doch war General Gonse davon überzeugt, dass Picquart an der Veröffentlichung beteiligt war. Picquart wurde seines Amts als Chef des Nachrichtendienstes enthoben, zunächst in die Provinz geschickt und später nach Tunesien beordert. Er nahm seine Versetzung nach Nordafrika an, fürchtete aber, in der dortigen Grenzgarnison ums Leben zu kommen. Im April 1897 ergänzte er während eines kurzen Urlaubsaufenthaltes in Paris sein Testament. Er beschrieb seine Rolle in der Affäre, bekräftigte seinen Verdacht gegenüber Walsin-Esterházy und unterstrich, dass er Dreyfus für unschuldig hielt. Diese Niederschrift sollte dem französischen Staatspräsidenten übergeben werden, falls ihm etwas zustoße. Ende Juni vertraute er sich zusätzlich seinem engsten Freund an, dem Anwalt Louis Leblois. Auf dessen Drängen autorisierte Picquart ihn, einen Regierungsvertreter über den Inhalt der Aufzeichnungen zum Fall Dreyfus zu informieren. Picquart wollte allerdings nicht zum Ankläger der Armee werden und untersagte Leblois, direkte Kontakte zur Familie Dreyfus oder deren Anwalt aufzunehmen oder den Namen Walsin-Esterházy zu nennen. Senator Auguste Scheurer-Kestners und Georges Clemenceaus Engagement für Dreyfus Leblois wandte sich am 13. Juli 1897 an Senator Auguste Scheurer-Kestner, seit Januar 1895 Vizepräsident des französischen Senats, außerdem Herausgeber der Zeitschrift La République Française (Die Französische Republik) und gemeinsam mit dem antiklerikalen Radikalsozialisten Georges Clemenceau Gründer der Union Républicaine (Republikanische Union). Der 1833 geborene Scheurer-Kestner stammte wie die Familie Dreyfus aus dem Elsass und galt als einer der Grandseigneurs der französischen Politik. Im Zweiten Kaiserreich hatte er wegen seiner Opposition gegen die autoritäre Herrschaft von Napoleon III. (1808–1873) im Gefängnis gesessen. Scheurer-Kestner bezweifelte anfangs nicht, dass das Kriegsgericht rechtmäßig geurteilt habe, wenn er auch den Ausschluss der Öffentlichkeit im Verfahren als Verstoß gegen grundlegende Rechtsprinzipien empfand. Merkwürdig fand er lediglich das Fehlen eines glaubwürdigen Motivs für Dreyfus’ angeblichen Landesverrat. Von einem Gespräch mit Mathieu Dreyfus zu Beginn des Jahres 1895 beeindruckt, begann er sich jedoch für den Fall zu interessieren. Seine Unterredungen mit verschiedenen hochrangigen Politikern mehrten seine Zweifel: Unter anderem machte ihn der frühere französische Justizminister Ludovic Trarieux, der ebenfalls zu den Gründern der Liga zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte gehörte, auf mögliche Ungereimtheiten bei der Prozessführung aufmerksam. Der italienische Botschafter Luigi Tornielli sprach davon, dass seiner Ansicht nach Beweise gefälscht worden waren, um eine Verurteilung von Dreyfus sicherzustellen. Nachdem ihn Leblois über den begründeten Verdacht Picquarts gegenüber Walsin-Esterházy informiert hatte, ließ Scheurer-Kestner im Juli 1897 Lucie Dreyfus mitteilen, dass er sich für eine Wiederaufnahme des Falls einsetzen werde. Schon seine erste Äußerung vor dem Senatspräsidium, er halte Dreyfus für unschuldig, sorgte für große öffentliche Aufmerksamkeit. Das Eintreten des für seine Integrität bekannten Scheurer-Kestner für Dreyfus vergrößerte den Kreis derer, die gleichfalls Zweifel äußerten oder wenigstens völlige Aufklärung der Angelegenheit forderten. Scheurer-Kestners Verhalten im Fall Dreyfus war bis zum November 1897 von vorsichtigem Taktieren geprägt, wobei er seine Beziehungen zu anderen Politikern zu nutzen suchte. Angesichts des zunehmenden Antisemitismus fürchtete er einen Rückfall in die Religionskriege der frühen Neuzeit und bemühte sich, die Zugehörigkeit Dreyfus’ zum Judentum vom Fall zu lösen. Leblois hatte Scheurer-Kestner gebeten, zum Schutze Picquarts erst dann an die Öffentlichkeit zu treten, wenn weitere, mit Picquart nicht in Zusammenhang stehende Beweise vorlägen. Dies trat Anfang November 1897 ein. Erst schrieb der Historiker Gabriel Monod in einem am 4. November veröffentlichten offenen Brief, er könne als anerkannter Schriftsachverständiger bestätigen, dass der Bordereau nicht von Dreyfus geschrieben worden sei. Am 7. November identifizierte ein Börsenmakler, der zufällig eines der Faksimiles des Bordereaus erworben hatte, die Handschrift als die seines Kunden Walsin-Esterházy. Als Beweis dafür übergab er Mathieu Dreyfus Briefe seines Klienten. Am 15. November 1897 trat Scheurer-Kestner mit einem offenen Brief in Le Temps an die Öffentlichkeit und verwies auf die neue Faktenlage, die seiner Meinung nach die Unschuld von Dreyfus belegte. Fast zeitgleich mit Scheurer-Kestners Stellungnahme beschuldigte Mathieu Dreyfus Walsin-Esterházy in einem offenen Brief an Kriegsminister Billot, der Verfasser des Bordereaus zu sein. Knapp ein Jahr, nachdem Kriegsminister Billot den Abgeordneten die rechtmäßige Verurteilung von Dreyfus bestätigt hatte, sah sich nun Premierminister Félix Jules Méline – ein Politiker der gemäßigten Rechten – genötigt, der Abgeordnetenkammer zu versichern, es gebe keine Affäre Dreyfus. Dieser Erklärung widersprach am 7. Dezember 1897 Scheurer-Kestner in einer Rede vor dem Senat. In seinen sehr sachlich gehaltenen Ausführungen nannte er die ihm bekannten Fakten und bezeichnete den Prozessverlauf als fehlerhaft, da geheime Dokumente an das Gericht übermittelt worden seien. Der frühere Justizminister Trarieux war der einzige Senator, der den Argumenten Scheurer-Kestners beipflichtete. Er verwies darauf, dass es nicht als Angriff auf die Armee zu werten sei, wenn nach schweren Fehlern ein Antrag auf Richtigstellung vorgebracht werde. Premierminister Méline dagegen betonte auch vor dem Senat, dass es keine Affäre Dreyfus gebe. Hannah Arendt schreibt Georges Clemenceau die größte Rolle im Kampf für Dreyfus zu. Er sei der einzige gewesen, der nicht allein gegen einen „konkreten“ Justizirrtum gekämpft habe, „sondern [sich] stets für „abstrakte“ Ideen wie Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, bürgerliche Tugend, Freiheit der Unterdrückten – kurz das ganze Arsenal des jakobinischen Patriotismus, das damals schon so verhöhnt und mit Dreck beworfen wurde wie vierzig Jahre später, in den Kampf warf.“ Freispruch Walsin-Esterházys, Verhaftung Picquarts Bereits im Oktober 1897 begannen die in die Intrige verstrickten Personen im Generalstab Maßnahmen zu ergreifen, um Walsin-Esterházy zu schützen. Zunächst behaupteten Gonse und Henry gegenüber du Paty, die Familie Dreyfus und ihre Anhänger schmiedeten ein Komplott, um Walsin-Esterházy zu beschuldigen. In du Patys Auftrag fälschte Henry einen von einer angeblichen Espérance unterzeichneten Brief, mit dem Walsin-Esterházy über Picquarts Ermittlungsstand informiert und gewarnt wurde, dass das „Syndikat“ ihn als den wahren Landesverräter beschuldigen werde. Bei einem heimlichen Treffen am 22. Oktober 1897 sicherten du Paty und ein weiterer Mitarbeiter des Generalstabs Walsin-Esterházy ihre Unterstützung zu. Während des anschließenden offiziellen Treffens mit General Millet versuchte Walsin-Esterházy, die Ähnlichkeit seiner Handschrift mit der des Bordereau damit zu erklären, dass Dreyfus seine Handschrift imitiert habe. Als Briefe an Kriegsminister Billot und Generalstabschef Boisdeffre, in denen Walsin-Esterházy diese um die Verteidigung seiner Ehre bat, unbeantwortet blieben, schrieb Walsin-Esterházy auch an den französischen Präsidenten Félix Faure, einen gemäßigten Republikaner, der sich gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Dreyfus ausgesprochen hatte. Er fügte seinem Schreiben unter anderem den von Henry gefälschten sogenannten Espérance-Brief bei, um zu beweisen, dass man ihm eine Falle stellen wollte. Wenige Tage später drohte Walsin-Esterházy in einem zweiten Brief an den Staatspräsidenten, im Falle seiner Anklage ein Dokument zu veröffentlichen, das für einige Diplomaten sehr kompromittierend sei. Walsin-Esterházy behauptete in seinem Brief, eine „verschleierte Dame“ habe die fotografische Kopie dieses Dokuments von Picquart gestohlen, der es wiederum in einer Gesandtschaft entwendet habe. Weder der anmaßende Stil seiner Briefe noch der erpresserische Inhalt oder der behauptete Besitz eines Geheimdokuments waren für die Regierung Anlass, Walsin-Esterházy zu belangen, unterstreichen Eckhardt und Günther Fuchs 1994 in ihrem Buch zur Dreyfus-Affäre. Stattdessen schenkte man seinen unwahrscheinlichen Erklärungen Glauben. Der Staatspräsident bat den Kriegsminister, den Vorfall zu untersuchen, was dazu führte, dass plötzlich Picquart wegen nachlässigen Umgangs mit Beweismaterial im Zentrum der Untersuchungen stand. In den ersten Novembertagen des Jahres 1897 schickte Walsin-Esterházy an Picquart zwei Telegramme und einen Brief. Diese Schreiben sollten Hinweise darauf geben, dass Picquart an einem Komplott beteiligt war. Wie Walsin-Esterházy erwartet hatte, fing die nationale Sicherheitspolizei beide Telegramme ab und leitete sie an Henry, Gonse und Kriegsminister Billot weiter. Am 12. November gab Billot die Weisung zu einer geheimen richterlichen Untersuchung gegen Picquart. Die dreyfusfeindliche Presse suggerierte derweil einer breiten Öffentlichkeit, die Kampagne Scheurer-Kestners diene nur dazu, einen überführten jüdischen Offizier durch einen unschuldigen Offizier der französischen Armee zu ersetzen. Die Voruntersuchungen gegen Walsin-Esterházy endeten am 3. Dezember 1897. Im Abschlussbericht kam der Untersuchungsleiter General de Pellieux zu dem Schluss, es gebe keine Beweise, die die Anschuldigungen von Dreyfus oder Picquart gegen Walsin-Esterházy stützten. Laut Pellieux war der Petit bleu, das Beweisstück für die fortgesetzte Spionage und Grundlage von Picquarts Anschuldigungen gegen Walsin-Esterházy, nicht echt. Er empfahl durch einen Untersuchungsausschuss zu klären, ob Picquart wegen Ehrverletzung oder zumindest wegen grober Pflichtverletzung im Dienst aus der Armee entlassen werden sollte. General Saussier setzte sich über die Empfehlung, das Verfahren gegen Walsin-Esterházy einzustellen, hinweg und ordnete eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht an, die am 10. und 11. Januar 1898 stattfand. Bei seiner Befragung sprach Walsin-Esterházy erneut von der „verschleierten Dame“, die ihn über das gegen ihn gerichtete Komplott informiert habe, und behauptete, Picquart habe den „Petit bleu“ gefälscht und im Bordereau seine Handschrift nachgeahmt. Dieser Auffassung schloss sich das Gericht an. Die Verhandlung endete für Walsin-Esterházy mit einem Freispruch. Picquart dagegen wurde am 13. Januar 1898 wegen eines Dienstvergehens verhaftet. Die Frage, warum sich das Oberkommando der französischen Armee weigerte, das falsche Urteil aufzuheben und so eng mit Walsin-Esterházy zusammenarbeitete, den Louis Begley als einen „amoralischen, zwanghaft lügenden und betrügenden Soziopathen“ bezeichnet, gehört zu den immer noch diskutierten Gegenständen der Dreyfus-Affäre. Bei einer Reihe der involvierten Personen spielte Begley zufolge die Angst des Verlustes von Amt und Würden eine erhebliche Rolle. Blum fand dies angesichts der „unglaublichen Verflechtungen von Intrigen und Fälschungen“ nicht hinreichend überzeugend. Er vermutete in seinen Erinnerungen, dass jemand im Generalstab an der Informationsweitergabe an die deutsche Botschaft durch Walsin-Esterházy beteiligt war, und schrieb diese Rolle Henry zu, der seiner Ansicht nach als bewährter und dienstältester Mitarbeiter des Nachrichtenbüros dafür prädestiniert war. Die neuere Forschung hat für diesen Standpunkt jedoch keine Grundlage gefunden. Henry wäre außerdem in der Lage gewesen, den Bordereau unmittelbar nach seiner Entdeckung zu unterschlagen. Sowohl Begley wie auch Blum verweisen darauf, dass sehr früh in der Affäre eine Folge von Täuschungen begann: Man täuschte, um die vorhergegangene Täuschung zu verdecken, und log, um die letzte Lüge glaubhaft zu machen. Intervention und Verurteilung des Schriftstellers Émile Zola J’Accuse…! Bernard Lazare hatte bereits im November 1896 versucht, die Unterstützung des bekannten französischen Schriftstellers Émile Zola zu gewinnen, was dieser zunächst aber ablehnte, weil er sich nicht in politische Fragen einmischen wollte. Laut Alain Pagès (1998) hatte Zola auf die zunehmend offene Manifestation von Antisemitismus mit Widerwillen reagiert. Er prangerte diese bereits im März 1896 in seinem Artikel Pour les Juifs (Für die Juden) an, den Fall Dreyfus erwähnte er jedoch nicht. Erst das fortwährende Engagement von Auguste Scheurer-Kestner bewog demnach Zola, sich mit der Dreyfus-Affäre intensiver auseinanderzusetzen. Der erste Artikel dazu erschien am 15. November 1897 in der Zeitung Le Figaro und handelte von Scheurer-Kestners Bemühen, den Justizirrtum zu bereinigen. Am 1. Dezember folgte unter der Überschrift Le Syndicat (Das Syndikat) ein weiterer Artikel, der den wiederholt geäußerten Vorwurf aufgriff, ein jüdisches Syndikat versuche, einen Freispruch von Alfred Dreyfus zu erkaufen. Zola wies dies als Ammenmärchen zurück und drängte seine Leser, die Familie Dreyfus nicht als einen Teil geheimnisvoller und diabolischer Kräfte zu sehen, sondern als französische Mitbürger, die alles in ihrer Macht Stehende täten, das Recht ihres unschuldigen Angehörigen wiederherzustellen. Am 5. Dezember gab Zola in dem Artikel Le Procès-verbal (Bestandsaufnahme) seiner Hoffnung Ausdruck, dass ein Militärgerichtsprozess gegen Walsin-Esterházy die Nation versöhnen und dem barbarischen Antisemitismus, der Frankreich um tausend Jahre zurückwerfe, ein Ende setzen werde. Kurz darauf beendete Le Figaro seine Zusammenarbeit mit Zola, da Anti-Dreyfusarden und rechtsextreme Nationalisten zu einem Subskriptionsboykott der Zeitung aufgerufen hatten. Nun ohne eine Zeitung, die bereit war, seine Artikel zu drucken, veröffentlichte Zola am 13. und 14. Dezember 1897 seine nächsten zwei Artikel als Broschüren, die sich aber wegen ihres hohen Preises von jeweils 50 Centimes schlecht verkauften. In Lettre à la Jeunesse (Brief an die Jugend) wandte er sich an die rechtsgerichteten Studenten, die im Quartier Latin eine gewalttätige Demonstration gegen Dreyfus organisiert hatten, und forderte sie auf, sich wieder der französischen Traditionen der Großzügigkeit und Gerechtigkeit zu besinnen. Am 6. Januar 1898 griff er in Lettre à la France (Brief an Frankreich) den Teil der Presse an, der seine Leser auf eine Reinwaschung Walsin-Esterházys einstimmte. Für seine nächste Veröffentlichung wandte sich Zola an die von Georges Clemenceau neu gegründete Literaturzeitschrift L’Aurore (Der Sonnenaufgang): Am 13. Januar 1898 erschien auf der Titelseite sein offener Brief an Staatspräsident Félix Faure J’accuse…! (Ich klage an…!), in dem er erneut den Freispruch Walsin-Esterházys anprangerte. Zola nahm in seinem Text rhetorisch die Rolle eines Staatsanwalts ein. Er klagte du Paty, Mercier, Billot, Gonse und Boisdeffre an, Drahtzieher eines Komplotts zu sein, warf der „Schmutzpresse“ antisemitische Propaganda vor und beschuldigte Walsin-Esterházy erneut, der wahre Landesverräter zu sein. Der Schriftsteller warf auch die für Pagès entscheidende und für den weiteren Fortgang der Affäre prophetische Frage auf, inwieweit diese Militärrichter noch zu einem unabhängigen Urteil in der Lage gewesen waren. Eine Verurteilung Walsin-Esterházys wäre ein Urteil über das Kriegsgericht gewesen, das Dreyfus des Hochverrats schuldig gesprochen hatte. Jedem der über Walsin-Esterházy urteilenden Militärrichter war bekannt, dass ihr Kriegsminister unter dem Beifall der Abgeordneten bekräftigt hatte, Dreyfus sei zu Recht verurteilt worden. Zola beschuldigte das erste Kriegsgericht, Innerhalb weniger Stunden waren mehr als 200.000 Exemplare der Zeitung verkauft. Es kam unmittelbar nach der Veröffentlichung des Artikels zu gewalttätigen Ausschreitungen der gegen Dreyfus gerichteten Kräfte, die besonders heftig in Algerien waren, wo verhältnismäßig viele sephardische Juden lebten. In Paris waren jüdische Läden, Kaufleute und bekannte Dreyfusarden Ziele von Angriffen. Auf dem Place Blanche in Montmartre, berichtet Ruth Harris, wurde von einer Versammlung – bestehend aus Künstlern, Studenten und Arbeitern – eine Stoffpuppe verbrannt, die ein Schild mit dem Namen von Mathieu Dreyfus trug. Plakate, die in ganz Paris aushingen, riefen zu anti-dreyfusardischen Bündnissen auf. Jules Guérin, der Gründer und Führer der Antisemitischen Liga Frankreichs, hetzte auf einer Versammlung die Menschenmassen noch weiter auf, worauf sich in den nächsten Tagen sowohl vor dem Haus von Mathieu Dreyfus als auch dem der Eltern von Lucie Dreyfus gewalttätige Mengen versammelten. Die Krawalle endeten erst nach mehreren Tagen; sie eskalierten erneut, als es zum Prozess gegen Zola kam. Zolas offener Brief gilt bis heute als eine der größten publizistischen Sensationen des 19. Jahrhunderts und wurde zum Wendepunkt in der Affäre Dreyfus, urteilt Ruth Harris. Der Mut, den er mit dieser Veröffentlichung bewies, ist nach Begley nicht hoch genug einzuschätzen. Er befand sich auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Erfolgs, seine Aufnahme in die Académie française schien vor dem Erscheinen des Artikels und dem darauf folgenden Skandal nur eine Frage der Zeit zu sein. Zola wollte mit seinem kämpferischen Text einen Prozess provozieren, da Dreyfus vor der Militärgerichtsbarkeit ein weiteres Verfahren vorerst verwehrt blieb. Er hoffte auf einen Freispruch durch die zivile Rechtsprechung, der zugleich eine Anerkennung der Unschuld des Offiziers Alfred Dreyfus dargestellt hätte. Er riskierte damit aber auch, selbst inhaftiert und verurteilt zu werden. Zwei Tage später, am 15. Januar 1898, veröffentlichte Le Temps eine Petition, in der die Revision des Fehlurteils gefordert wurde. Unterschrieben hatten neben Émile Zola unter anderen der Schriftsteller Anatole France, der Direktor des Institut Pasteur Émile Duclaux, der Historiker Daniel Halévy, der Lyriker und Literaturkritiker Fernand Gregh, der anarchistische Journalist und Kunstkritiker Félix Fénéon, der Schriftsteller Marcel Proust, der sozialistische Intellektuelle und einer der Gründer der Liga zur Verteidigung der Bürger- und Menschenrechte Lucien Herr, der Germanist Charles Andler, der Althistoriker und Politiker Victor Bérard, der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler François Simiand, der Syndikalist und Sozialphilosoph Georges Sorel, der Maler Claude Monet, der Schriftsteller Jules Renard, der Soziologe Émile Durkheim und der Historiker Gabriel Monod. Verurteilung und Exil Noch am Tag der Veröffentlichung forderten konservative Parlamentarier und der Generalstab ein Vorgehen gegen Zola. Am 18. Januar 1898 beschloss der Ministerrat, dass der Kriegsminister eine Verleumdungsklage gegen Zola und Alexandre Perrenx, den Geschäftsführer von L’Aurore, einreichen sollte. Anders als von Zola erwartet, konzentrierte sich die Staatsanwaltschaft bei ihren Beschuldigungen auf die Textpassage, wo Zola dem Kriegsgericht vorgeworfen hatte, Walsin-Esterházy auf Befehl freigesprochen zu haben. Damit war die Anklage gegen Zola ohne Bezug zur Verurteilung von Dreyfus. Der Prozess dauerte zwei Wochen. An jedem der Verhandlungstage warteten vor den Toren des Justizpalastes nationalistische Demonstranten auf Zolas Erscheinen, um ihn, wie Pagès drastisch beschreibt, mit Gejohle, Steinen und Todesdrohungen zu empfangen. Im Gerichtssaal gelang es seinen beiden Anwälten Fernand Labori, bekannter Anwalt, Journalist, Politiker und Dreyfusard der ersten Stunde, und Albert Clemenceau, dem Bruder von Georges Clemenceau, durch ihre geschickte Befragung den Zeugen immer wieder Aussagen zur Dreyfus-Affäre zu entlocken, obwohl der Vorsitzende Richter ständig versuchte, ihre Fragen auf Sachverhalte der Anklage zu beschränken. In die Enge getrieben, brachte General Pellieux erneut ein Dokument ins Spiel, das angeblich eindeutig die Schuld Dreyfus’ belegte, und zitierte den Wortlaut dieses faux Henry. Als Labori darum bat, dem Gericht das Schriftstück vorzulegen, griff General Gonse ein, dem anders als Pellieux bewusst war, dass es eine der Fälschungen im Geheimdossier war. Er bestätigte die Existenz des Dokuments, behauptete jedoch, es könne nicht öffentlich vorgelegt werden. Das Gericht ließ daraufhin Generalstabschef Boisdeffre als Zeugen auftreten. Boisdeffre bestätigte Pellieux’ Aussagen und wandte sich dann als Mahner an das Gericht: Nach Léon Blum machte der Prozess deutlich, dass die Behauptungen Zolas zutrafen. Boisdeffres Worte, mit denen er eine Entscheidung zwischen der Armee und Zola sowie den Dreyfusarden verlangte, hatten jedoch in der Öffentlichkeit und im Gerichtssaal einen starken Eindruck hinterlassen. Am 23. Februar 1898 wurden beiden Angeklagten eine Geldstrafe von 3.000 Franc – mehr als das anderthalbfache des Jahresgehalts eines Leutnants – auferlegt, Zola wurde zusätzlich zu einem Jahr Gefängnis und der Geschäftsführer von L’Aurore, Perrenx, zu vier Monaten verurteilt. Ministerpräsident Méline bezeichnete am nächsten Tag in der Abgeordnetenkammer die Fälle Zola und Dreyfus als abgeschlossen. Zwei Tage später wurde Picquart unehrenhaft aus der Armee entlassen. Das Oberste Berufungsgericht hob das Urteil gegen Zola jedoch wegen eines Verfahrensfehlers zunächst wieder auf. Am 18. Juli 1898 wurde Zola ein zweites Mal schuldig gesprochen. Labori und Clemenceau rieten ihm daraufhin, Frankreich sofort zu verlassen, damit das Urteil nicht zugestellt und nicht vollstreckt werden konnte. Noch am selben Tag reiste Zola nach London ab. Hubert Henrys Geständnis, Selbstmord und Reaktion Bei den Parlamentswahlen im Mai 1898 hatte die Regierung Méline ihre Unterstützung verloren und war am 15. Juni zurückgetreten. Am 28. Juni bildete der Führer der radikalen Republikaner Henri Brisson eine neue Regierung, Godefroy Cavaignac folgte Billot für kurze Zeit als Kriegsminister. Cavaignac zählte zu dem Personenkreis, der nach wie vor von einer rechtmäßigen Verurteilung Dreyfus’ ausging. Auf eine Anfrage eines Abgeordneten zur Dreyfus-Affäre bekannte er sich in einer langen Rede zu dieser Sicht und zitierte als Beweis für das rechtmäßige Urteil unter anderem Le faux henry, den Ce canaille de D.-Brief und einen weiteren Brief Panizzardis. Diesmal war es der sozialistische Abgeordnete Jean Jaurès, der den Kriegsminister in einem offenen Brief herausforderte und ankündigte, er werde Cavaignacs Beweisführung Punkt für Punkt widerlegen. Dies tat er in einer Serie von Artikeln, die im August und September 1898 in La Petite République erschienen. Kernpunkt seiner Argumentation war die Behauptung, dass Le faux henry eine im Generalstab fabrizierte Fälschung sei. Dies führte zu einer erneuten Untersuchung der Beweise, die zum Teil bei Lampenlicht erfolgte. Dabei fielen Hauptmann Cuignet die zwei unterschiedlichen Papiersorten auf, aus denen das Schriftstück bestand. Wie General Roget ging er davon aus, dass es tatsächlich eine Fälschung war, wie es Picquart bislang behauptet hatte. Cavaignac wurde am 14. August 1898 darüber informiert, aber erst am 30. August befragte er Hubert Henry in Anwesenheit der Generäle Boisdeffre und Gonse. Henry versuchte erst zu leugnen, gab aber dann unter dem Druck der Vernehmung zu, dass er den Brief gefälscht habe. Er wurde verhaftet und ins Militärgefängnis Mont Valérien gebracht. In einer kurzen Verlautbarung teilte die Regierung mit, dass man die Fälschung des Schriftstücks entdeckt habe. Am 31. August beging Henry Suizid, indem er sich mit seinem Rasiermesser die Kehle aufschlitzte. Anschließend stand in allen antisemitischen Zeitungen, Henry sei von den Juden für seine Aussage bezahlt worden. Boisdeffre trat nach Henrys Tod von seinem Amt zurück, Gonse wurde vom Generalstab zum aktiven Dienst versetzt und du Paty pensioniert. Walsin-Esterházy, der mittlerweile nach Belgien geflohen war, gab in Presseinterviews zu, dass er das Bordereau verfasst hatte. Am 3. September 1898 stellte Lucie Dreyfus erneut ein Revisionsgesuch, und auch die politisch neutrale Presse forderte nun eine Wiederaufnahme des Prozesses. Am 5. September trat Cavaignac von seinem Amt als Kriegsminister zurück. Sein Nachfolger Émile Auguste Zurlinden blieb nur zwölf Tage im Amt. Er legte sein Amt nieder, nachdem das Oberste Berufungsgericht die Wiederaufnahme des Falles beschlossen hatte, um nicht das Revisionsverfahren zugunsten Dreyfus’ einleiten zu müssen. Der neue Kriegsminister Charles Chanoine ernannte Zurlinden allerdings zum Militärgouverneur von Paris. Dessen erste Maßnahme war die Anstrengung eines Gerichtsverfahrens gegen Picquart, der seit dem 15. Juli 1898 in Untersuchungshaft saß. Auch Kriegsminister Chanoine versuchte – wie seine Vorgänger – ein Revisionsverfahren für Alfred Dreyfus zu verhindern. Am 1. November 1898 kam es deswegen zum Rücktritt des gesamten Kabinetts. Die Erwartung der Dreyfusarden, dass Henrys Eingeständnis der Fälschung und sein Selbstmord zu einem breiten öffentlichen Meinungsumschwung führen würde, erfüllte sich nicht. Der rechtsextreme Charles Maurras nannte die Fälschung und den Selbstmord von Henry ein heroisches Opfer im Dienst einer höheren Sache. Henry hatte eine bemerkenswerte militärische Karriere hinter sich, in deren Verlauf er mehrfach verwundet worden war. Laut Maurras standen dieser Lebensleistung lediglich eine Fälschung und eine Lüge gegenüber, für die Henry als echter Soldat mit seinem Leben bezahlt hatte. Die nationalistische Presse griff diese Heroisierung Henrys willig auf, und Édouard Drumont nannte in La Libre Parole Henrys Suizid „bewundernswert“. Picquart war nach Darstellung der nationalistischen und antisemitischen Presse dagegen der „wahre“ Fälscher, gegen dessen Fabrikationen und Lügengebilde Henrys Fälschung eine harmlose Grenzüberschreitung gewesen war. Auf Reinachs Artikelserie im Le Siècle, die die Verbindung zwischen Walsin-Esterházy und Henry thematisierte, antwortete die rechte Presse, dass dies Rufmord gegenüber einem Toten sei, der als Verteidiger nur noch seine Witwe und sein vierjähriges Kind habe. Drumont rief zu einer Spendenaktion auf, um es Berthe Henry zu ermöglichen, Reinach wegen Verleumdung zu verklagen. Bis zum 15. Januar 1899 spendeten mehr als 25.000 Personen 131.000 Francs. Zu den Spendern zählten laut Begley 3000 Offiziere und 28 pensionierte Generäle, von der Revolution entmachtete Adelige, darunter sieben Herzöge und Herzoginnen und fast fünfhundert Marquis, Grafen, Vicomtes und Barone. Viele der Spenden waren, wie Ruth Harris berichtet, von hasserfüllten Schreiben gegenüber den Verteidigern von Alfred Dreyfus begleitet, die Drumont veröffentlichte. Verhandlung vor der Strafkammer des Obersten Berufungsgerichts Nach der Weigerung der Abgeordnetenkammer, Lucie Dreyfus’ Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses stattzugeben, verblieb als einziges Rechtsmittel ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof. Ein Angeklagter hatte selbst kein Recht, hier einen Antrag auf Revision zu stellen; dazu war allein die Regierung berechtigt. Das Kabinett Brisson war für ein solches Revisionsverfahren offener als die vorherigen Regierungen und autorisierte mit sechs zu vier Ministerstimmen den Justizminister im September 1898, das Revisionsverfahren einzuleiten. Während die politische Diskussion parallel zunehmend von der Faschoda-Krise und damit der Konkurrenz zwischen Frankreich und Großbritannien bei der Kolonisierung Afrikas dominiert wurde, tagte seit November desselben Jahres die Strafkammer des obersten Berufungsgerichtes. Im Laufe der Verhandlung attackierten vor allem die rechten Zeitungen La Libre Parole und L’Intransigeant (Die Kompromisslose) die Richter und beschuldigten sie, vom „jüdischen Syndikat“ und dem Deutschen Reich bezahlt zu werden. Am 1. November 1898 trat der progressive Charles Dupuy an die Stelle von Brisson. Am Anfang der Affäre hatte er 1894 die Machenschaften Merciers noch gedeckt. Jetzt kündigte er an, er würde den Anordnungen des Berufungsgerichts folgen. Damit blockierte er diejenigen, die die Revision verhindern und den Gerichtshof für nicht zuständig erklären wollten. Während einer Debatte der Kammer am 5. Dezember 1898 über die Weitergabe des Geheimdossiers an das Gericht stieg die Spannung an. Die Beleidigungen, Beschimpfungen und andere Ausfälle seitens der Nationalisten kulminierten in Drohungen, einen Aufstand anzuzetteln. Paul Déroulède, Chauvinist und Antisemit, erklärte: „S’il faut faire la guerre civile, nous la ferons.“ (Wenn wir einen Bürgerkrieg entfesseln müssen, werden wir es tun.) Als Zeugen wurden unter anderem die ehemaligen Kriegsminister Mercier, Cavaignac, Billot, Chanoine und Zurlinden gehört. Mercier behauptete, Dreyfus habe 1894 gegenüber dem Offizier Lebrun-Renault ein Geständnis abgelegt, weigerte sich aber ansonsten, irgendwelche Fragen zu beantworten. Cavaignac zufolge hatten Dreyfus und Walsin-Esterházy zusammengearbeitet. Diese Auffassung teilte auch General Roget und begründete dies damit, Walsin-Esterházy habe auf anderem Weg die auf dem Bordereau erwähnten Informationen nicht beschaffen können. Vier Artillerieoffiziere widersprachen am 16. und 19. Januar 1899 dieser Position. Ihrer Auffassung nach war die Ungenauigkeit der im Bordereau genannten technischen Begriffe Beleg dafür, dass der Verfasser kein Artillerist war. Sie wiesen außerdem darauf hin, dass die Informationen, die gemäß dem Bordereau übergeben worden waren, ebenso gut aus der damaligen Militärpresse hätten stammen können. Vernommen wurden insgesamt zehn Schriftsachverständige. Vier davon sagten für Dreyfus aus, ein fünfter blieb verhalten und beschränkte sich auf die Bemerkung, es gebe zwei Handschriften, die der auf dem Bordereau ähnelten. Alphonse Bertillon, dessen Handschriftenvergleich bereits bei dem Prozess 1894 entscheidend gewesen war, vertrat erneut die Ansicht, dass Dreyfus willentlich seine Handschrift verstellt habe. Zu seiner Rolle bei der Verhandlung vor dem Gerichtsprozess 1894 befragt, führte er aus, Dreyfus’ damalige Reaktion sei ein indirektes Eingeständnis gewesen, er halte daher an seiner „Selbst-Fälschungs-Theorie“ fest. Mit Zustimmung der Regierung sagte auch der Diplomat, Historiker und Essayist Maurice Paléologue vor der Kammer aus und präsentierte die Unterlagen, die im Außenministerium zum Fall Dreyfus aufbewahrt wurden. Unter anderem legte er offen, dass die vom Kriegsministerium vorgelegte Version von Panizzardis Telegramm, das dieser zu Beginn 1894 an das italienische Armeehauptquartier gesendet hatte, gefälscht war. Es existiere nur eine offizielle Version, nämlich die vom Außenministerium dechiffrierte. Diese Version entlastete Dreyfus. Noch bevor die Strafkammer jedoch eine Entscheidung fällen konnte, erhob der Präsident der Zivilkammer, Jules Quesnay de Beaurepaire, gegenüber den Richtern der Strafkammer den Vorwurf der Voreingenommenheit. Wenige Tage später am 8. Januar 1899 trat er von seinem Amt zurück und begann eine heftige beleidigende Pressekampagne im Écho de Paris gegen seine Kollegen Louis Loew, Alphonse Baud und Marius Dumas, allesamt verantwortlich für die Revision des Dreyfus-Prozesses. So warf er dem Vorsitzenden der Strafkammer, dem Protestanten elsässischer Abstammung Louis Loew, vor, eine zu wohlmeinende Haltung gegenüber Picquart einzunehmen. Die Abgeordnetenkammer leitete deswegen eine Untersuchung ein. Die Untersuchungskommission sprach die Richter der Strafkammer von allen Anschuldigungen frei und hielt fest, dass ihre Integrität und Rechtschaffenheit über alle Zweifel erhaben sei. Kurz danach brachte Ministerpräsident Charles Dupuy im Kabinett einen Gesetzesentwurf ein, demgemäß alle laufenden Berufungsfälle zur Revision bei den Gemeinsamen Kammern des Berufungsgerichtes einzureichen seien. Trotz des heftigen Widerstands einzelner Minister, so Whyte 2005, unterstützte das Kabinett in seiner Mehrheit Dupuy und legte dem Abgeordnetenhaus diesen Gesetzesentwurf vor, der am 10. Februar 1899 mit 324 zu 207 Stimmen angenommen wurde. Versuch eines Staatsstreichs und Verhandlung vor der Gemeinsamen Kammer des Obersten Berufungsgerichts Noch bevor die Gemeinsame Kammer des Obersten Berufungsgerichts den Fall Dreyfus erneut prüfen konnte, unternahm Paul Déroulède, der Gründer der chauvinistischen und antiparlamentarischen Ligue des Patriotes am 23. Februar 1899 nach dem Staatsbegräbnis von Präsident Faure den Versuch eines Staatsstreichs. Déroulède gehörte zu den Personen, die in den Ereignissen der Dreyfus-Affäre primär einen Angriff auf die Ehre der französischen Armee sahen. Er rechnete bei seinem Staatsstreich fest mit der Unterstützung der Armee. General de Pellieux, der die Haupteskorte beim Begräbnis von Faure kommandierte, sollte bei der Rückkehr vom Begräbnis in der Nähe des Place de la Nation auf Déroulèdes Truppen treffen, dann verabredungsgemäß von der vorgesehenen Route abweichen und in Richtung des Elysée-Palastes marschieren. Pellieux brach jedoch im letzten Moment sein Wort und bat den Militärgouverneur Zurlinden, ihm das Kommando über eine kleinere Eskorte zu übertragen. General Roget, der an seine Stelle trat, verhaftete Déroulède. Déroulède wurde zu zehn Jahre Verbannung verurteilt; nach sechs Jahren Exil in Spanien wurde er begnadigt. Am 27. März 1899 begann die Gemeinsame Kammer mit der Prüfung des Geheimdossiers. Wie zuvor die Richter der Strafkammer kam sie zu dem Ergebnis, dass das Dossier keine Dokumente enthalte, die Dreyfus belasteten. Das Gericht befragte auch Hauptmann Freystaetter, der während des Kriegsgerichtsprozesses zu den urteilenden Offizieren gehört hatte. Er bestätigte, dass der sogenannte Ce canaille de D.-Brief den Richtern bei der Verhandlung heimlich zugespielt worden war, und gab auch zu, Henrys theatralischer Zeugenauftritt habe ihn zur Verurteilung von Dreyfus bewogen. In der Verhandlung spielte erneut das Panizzardi-Telegramm an das italienische Hauptquartier eine Rolle. Um sicherzustellen, dass die dechiffrierte Fassung des Außenministers die richtige sei, wies das Gericht Vertreter des Kriegs- und des Außenministeriums an, gemeinsam ein zweites Mal das Originaltelegramm zu dechiffrieren. Die nunmehr erstellte Fassung entsprach der des Außenministeriums, wonach es keinen Kontakt zwischen Panizzardi und Dreyfus gegeben hatte. Am 3. Juni 1899 erklärte das Oberste Berufungsgericht das Urteil des Kriegsgerichts von 1894 für ungültig und legte fest, dass Dreyfus sich in Rennes erneut einem Kriegsgericht zu stellen habe. Zweiter Prozess gegen Dreyfus, erneute Verurteilung Auf Grund des stark zensierten Briefverkehrs wusste Alfred Dreyfus bis November 1898 nichts über die Entwicklungen in Frankreich. Mitte November erhielt er die Zusammenfassung seines Falles, die der Jurist Jean-Pierre Manau vor dem Obersten Berufungsgericht vorgetragen hatte. Erst dadurch erfuhr er von Henrys Suizid und der Beschuldigung seines Bruders Mathieu gegen Walsin-Esterházy als Landesverräter. Kurz darauf wurden seine Haftbedingungen erleichtert; wenig später wurde er Richtern des Berufungsgerichts von Cayenne vorgeführt. Er bestritt, im Januar 1895 ein Geständnis gegenüber Lebrun-Renault abgelegt zu haben. Streng bewacht trat Alfred Dreyfus eine Woche nach der Aufhebung seines Urteils durch das Oberste Berufungsgericht seine Rückreise nach Frankreich an. Ab dem 1. Juli 1899 saß er im Militärgefängnis von Rennes ein, wo er erstmals seine Ehefrau und seinen Bruder wiedersehen durfte. Nach fast fünf Jahren Isolationshaft – seinen Wärtern war es streng untersagt, sich mit ihm zu unterhalten – war Dreyfus zunächst kaum in der Lage zu sprechen. Auf Grund der unzureichenden Ernährung hatte er außerdem mehrere Zähne verloren, was ihm das Sprechen weiter erschwerte. Er war stark abgemagert und konnte anfangs kaum feste Nahrung zu sich nehmen. Insbesondere Mathieu Dreyfus war besorgt, ob sein Bruder den kommenden Militärprozess überstehen würde. Zum Revisionsprozess fanden sich zahlreiche Dreyfusarden und Anti-Dreyfusarden sowie viele Journalisten der nationalen und internationalen Presse in Rennes ein. Der frühere Kriegsminister General Auguste Mercier trat wiederum als Belastungszeuge auf, während der ehemalige Staatspräsident Jean Casimir-Perier für Dreyfus aussagte. Lucie Dreyfus hatte eine Unterkunft in der Nähe des Militärgefängnisses gefunden, und obwohl sie jegliche Aufmerksamkeit zu vermeiden suchte, versammelten sich Ruth Harris zufolge bei ihrer Ankunft dort 300 Menschen. Die seit der Verhaftung ihres Mannes stets Trauerkleidung tragende Lucie Dreyfus war trotz ihres Bemühens, im Hintergrund zu bleiben, eine der Öffentlichkeit wohlbekannte Figur. In der Dreyfus-freundlichen Presse war sie zum Sinnbild einer aufopfernden und loyalen Ehefrau geworden. Die nun physische Präsenz Alfred Dreyfus’, der den meisten bislang nur eine Abstraktion gewesen war, verlangte laut Ruth Harris allen Anwesenden eine emotionale Anpassung ab. Dabei spielte keine Rolle, ob sie Dreyfus bislang als Märtyrer verehrt oder als „Judas“ geschmäht hatten. Der rechte Romancier, Journalist und Politiker Maurice Barrès, ein überzeugter Anti-Dreyfusard, zeigte sich tief schockiert, als er Dreyfus während des Prozesses erstmals leibhaftig sah: Gekleidet in seine alte Uniform, die mit Watte ausgestopft war, um seinen ausgezehrten Körper zu verbergen, auf skelettdünnen Beinen, die ihn kaum tragen konnten, und mit seiner monotonen, metallisch klanglosen Stimme passte er nicht ins Bild des tragischen Helden vieler Dreyfusarden. Léon Blum bezeichnete Dreyfus als einen ernsthaften, bescheidenen Mann, der nichts Heldisches hatte außer einer stummen, unerschütterlichen Courage. Louis Begley verweist aber auch darauf, dass Dreyfus mit seinem starren, maskenhaft wirkenden Gesicht und seiner emotionslosen Stimme vor Gericht ein wenig einnehmender Angeklagter war. Seine Anwälte Demange und Labori waren sich in ihrer Prozessführung nicht einig. Während des Gerichtsprozesses unterliefen ihnen einige Fehler. Obwohl schon vom Obersten Berufungsgericht geklärt war, dass Dreyfus den Landesverrat nie gestanden hatte und die Panizzardi-Briefe keine Beweiskraft hatten, nahmen die beiden Anwälte es beispielsweise hin, dass die Anklage diese Beweise dem Militärgericht erneut vorlegte. Während des Prozesses kam es außerdem zu einem Attentat auf Labori. Er wurde am 14. August in Rennes auf offener Straße in den Rücken geschossen, der Attentäter nie gefasst. Der Anwalt war in der Lage, nach einer Woche wieder seine Verteidigung aufzunehmen, das Attentat verunsicherte ihn jedoch nachhaltig, schreibt Ruth Harris. Das größte Problem für die Verteidigung war, dass es sich bei den Richtern um Offiziere handelte, die dem Einfluss und dem Druck der obersten Leitung der Armee ausgesetzt waren. Sie sollten, so Begley, Dreyfus erneut verurteilen. Am 9. September 1899 wurde Dreyfus mit fünf zu zwei Richterstimmen ein zweites Mal des Landesverrats schuldig gesprochen. Allerdings wurden mildernde Umstände berücksichtigt und sein Strafmaß auf zehn Jahre verkürzt. Begnadigung und Auseinandersetzung der Unterstützer Mathieu Dreyfus war davon überzeugt, dass sein Bruder im Gefängnis keine weiteren sechs Monate überleben würde. Er wandte sich an Joseph Reinach, der als Lösung nur eine Begnadigung sah. Reinach sprach darüber mit seinem Freund, dem neuen Premierminister Pierre Waldeck-Rousseau, und traf sowohl bei dem fortschrittlichen gemäßigten Republikaner als auch bei dem neuen Kriegsminister Garcon de Galliffet auf Entgegenkommen. Beide Politiker hielten eine Begnadigung für dringend geboten. Es gab dabei allerdings eine rechtliche und eine politische Hürde. Die rechtliche Hürde resultierte aus Demanges Einspruch, mit dem er verhindert hatte, dass das Urteil von Rennes rechtskräftig wurde. Laut Gesetz konnte eine Strafe aber nur nach einem rechtskräftigen Urteil erlassen werden. Alfred Dreyfus musste daher seinen Einspruch zurücknehmen, was ein Teil der französischen Öffentlichkeit als ein Hinnehmen der Verurteilung interpretieren würde. Das Kabinettsmitglied Alexandre Millerand drängte zu diesem Schritt, weil der engagierte Dreyfusard den Einspruch für riskant hielt: Sofern die Überprüfungskommission des Obersten Berufungsgerichts einen Formfehler bei der Prozessführung fände, würde Dreyfus erneut vor ein Militärgericht gestellt. Damit war die Gefahr eines neuerlichen Schuldspruchs hoch, und die Möglichkeit bestand, dass dieses Militärgericht weniger milde urteilen würde. Reinach, Jaurès und schließlich widerstrebend auch Georges Clemenceau rieten deswegen Mathieu Dreyfus dazu, seinem Bruder die Rücknahme des Einspruchs nahezulegen. Alfred Dreyfus folgte diesem Rat. Staatspräsident Émile Loubet, der sich in der Affäre bisher neutral verhalten hatte, weigerte sich allerdings zunächst, eine Begnadigung zu unterzeichnen, da diese auch als Kritik an der Armee und dem Militärgerichtsverfahren verstanden werden könnte. Kriegsminister Galliffet schlug Loubet schließlich vor, die Begnadigung als einen Akt der Menschlichkeit darzustellen und bei der Begründung des Dekrets auf den besorgniserregenden Gesundheitszustand von Dreyfus zu verweisen. Am 19. September 1899 wurde Dreyfus schließlich begnadigt. Die Rücknahme des Einspruchs und die anschließende Begnadigung führte letztlich zu einer Spaltung innerhalb der Dreyfusarden. Viele hatten persönliche Opfer gebracht, da sie wegen ihres Einsatzes für eine Rehabilitierung Dreyfus’ beruflich und sozial benachteiligt worden waren, argumentiert Begley. Bei ihrem Einsatz war es nicht nur um die Person Dreyfus, sondern auch um grundlegende Fragen des Rechtsverständnisses und der Rolle der Armee im Staat gegangen. Aus dieser rein rechtsstaatlichen Sicht war ein Einspruch gegen das Urteil von Rennes eine zwingende Notwendigkeit. Zwei Maßnahmen von Waldeck-Rousseau und Galliffet verschärften die Spaltung innerhalb der Dreyfusarden noch. Beide Politiker waren von Dreyfus’ Unschuld überzeugt, ihnen war aber wesentlich daran gelegen, die Affäre in einer für die Armee gesichtswahrenden Form zu beenden. Galliffet gab dazu zwei Tage nach der Begnadigung einen Tagesbefehl aus, der in jeder Kompanie verlesen wurde. Dort hieß es: Am 19. November 1899 legte Waldeck-Rousseau dem Senat ein Amnestiegesetz vor, unter das alle im Zusammenhang mit der Affäre begangenen Straftaten fallen sollten. Ausgenommen davon war lediglich das Verbrechen, für das Dreyfus in Rennes verurteilt worden war. Damit blieb ihm die Möglichkeit, durch ein Revisionsverfahren eine vollständige Rehabilitation zu erreichen. Das Amnestiegesetz, das im Dezember 1900 in Kraft trat, beendete viele schwebende Verfahren wie beispielsweise die gegen Picquart und Zola. Es verhinderte aber auch ein gerichtliches Vorgehen gegen Personen wie Mercier, Boisdeffre, Gonse und du Paty, die in die Intrige verstrickt waren. Zu denen, die scharf gegen dieses Amnestiegesetz protestierten, zählten unter anderen Alfred Dreyfus und Major Picquart. Dreyfus war darauf angewiesen, dem Obersten Berufungsgericht neue Fakten vorzulegen, damit dieses die Gültigkeit des Urteils von Rennes überprüfen konnte. Es war wahrscheinlich, dass Prozesse gegen in die Intrige verwickelte Akteure diese Beweise liefern würden. Picquart war es im Fall Dreyfus immer um Fragen der Rechtsstaatlichkeit gegangen. Dafür hatte er Amtsverlust und Inhaftierung hingenommen. Er war schließlich aus der Armee entlassen worden. Während das Amnestiegesetz diskutiert wurde, hatte Picquart Berufung gegen seine Entlassung eingelegt. Die Erfolgschancen waren hoch. Als Reaktion auf das Amnestiegesetz zog Picquart seine Berufung zurück und erklärte, er nehme von einer Regierung, die es nicht wage, Verbrecher in hohen Positionen vor Gericht zu stellen, nichts an. Rehabilitierung Von 1900 bis 1902 spielte die Dreyfus-Affäre in der öffentlichen Diskussion nur noch eine untergeordnete Rolle. Dazu trug bei, dass Waldeck-Rousseau unter anderem den katholischen Orden der Assumptionisten in Frankreich auflösen ließ, der durch seine Zeitung La croix (Das Kreuz) zu den entschiedensten antisemitischen Stimmen während der Dreyfus-Affäre gehört hatte. Arendt bemängelt, dass sich gegen dieses Verbot nur ein einziger unter den Dreyfusards ausgesprochen habe, nämlich Bernard Lazare. Im Frühjahr 1902 führte Waldeck-Rousseau den Linksblock bei den Wahlen zur Nationalversammlung erneut zum Sieg, trat aber kurz danach wegen einer schweren Erkrankung von allen politischen Ämtern zurück. Am 7. Juni folgte ihm Émile Combes im Amt als Premierminister nach, neuer Kriegsminister wurde Louis André. Beide waren entschiedene Gegner des Klerikalismus und kämpften für die republikanischen Ideale. Die Brüder Dreyfus, Jaurès, Trarieux, Clemenceau und die Anwälte von Dreyfus kamen zu dem Schluss, dass unter dieser Regierung ihre Chance hoch war, mit einem Revisionsverfahren die Affäre Dreyfus wirklich zu beenden. Der Auftakt zum Revisionsverfahren war erneut eine Rede Jaurès’ vor der Abgeordnetenkammer, in der er noch einmal den Beweis für Dreyfus’ Unschuld führte und eine Untersuchung der Fälschungen des Generalstabs forderte. Während der Sitzung kam es laut Begley zu turbulenten Szenen. Abgeordnete brüllten sich gegenseitig nieder und attackierten einander verbal. Die mit den Wahlen des Jahres 1902 erreichte Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Abgeordnetenkammer zugunsten des republikanischen Blocks führte dazu, dass der Antrag Jaurès', eine erneute Untersuchung durch General André zu veranlassen, eine parlamentarische Mehrheit fand. In Andrés Auftrag untersuchten sein Adjutant und der Chefanwalt des Ministeriums die Masse der Akten, die für das Verfahren in Rennes zusammengestellt worden waren. Dabei entdeckten sie, dass das seit 1894 auf mehr als 1.000 Dokumente (Martin P. Johnson, 1999) erweiterte Dossier neben dem faux Henry noch mehrere weitere fingierte Beweise enthielt. Die Ermittlungsakte wurde im November 1903 auf Beschluss des Kabinetts dem Justizminister übergeben; gleichzeitig gab man Alfred Dreyfus zu verstehen, dass ein Antrag auf gerichtliche Prüfung erfolgversprechend sei. Das anschließende Verfahren vor dem Obersten Berufungsgericht zog sich quälend lange hin; ein Urteil fiel schließlich am 11. Juli 1906. Das zivile Gericht hob das Militärurteil von Rennes einstimmig auf und entschied mit 31 zu 18 Stimmen gegen eine Rückverweisung an ein anderes Gericht. Begründet wurde dies damit, dass keinerlei strafbare Handlung des Angeklagten vorlag, die in einem erneuten Gerichtsprozess zur Verurteilung führen könnte. Dreyfus war damit eindeutig und unwiderruflich für unschuldig erklärt. Das Gericht legte fest, dass das Urteil in der staatlichen Tageszeitung Journal officiel de la République française sowie in 55 weiteren von Dreyfus auszuwählenden Zeitungen veröffentlicht werden sollte. Am 13. Juli 1906 wurde Dreyfus zum Major und Picquart zum Brigadegeneral ernannt. Die beiden von der französischen Legislative verabschiedeten Erlasse berücksichtigten bei Picquart die Dienstjahre, die er wegen der rechtswidrigen Strafverfolgung im Gefängnis verbracht hatte, nicht aber bei Dreyfus. Am 20. Juli wurde Dreyfus mit den Insignien eines Ritters der Ehrenlegion ausgezeichnet. Am 15. Oktober desselben Jahres trat er als Major einer Artillerieeinheit im Fort Vincennes wieder den aktiven Dienst an. Seine gleichaltrigen Kameraden waren ihm in der Hierarchie der Armee allerdings übergeordnet, was für ihn nach Begleys Auffassung den Dienst so unhaltbar machte, dass er nach einem Jahr seinen Abschied von der Armee nahm. Dreyfus hat niemals eine Entschädigung vom Staat oder von beteiligten Personen verlangt. Er legte nur Wert auf die Feststellung seiner Unschuld, schreibt Duclert in seiner Biografie 2006. Weiterer Werdegang der Hauptakteure Auguste Scheurer-Kestner war 1899 an dem Tag gestorben, an dem Dreyfus begnadigt wurde. Der französische Senat ehrte ihn und den zwischenzeitlich ebenfalls verstorbenen Ludovic Trarieux im Jahre 1906 mit der Entscheidung, ihre Büsten in der Ehrengalerie des Senats aufzustellen. Émile Zola erlebte die vollständige Rehabilitierung von Alfred Dreyfus gleichfalls nicht; er starb 1902 in seiner Pariser Wohnung an einer Kohlenstoffmonoxidvergiftung auf Grund einer Verstopfung seines Kamins. Alfred Dreyfus nahm trotz der anfänglichen Sorge von Zolas Witwe, dass es auf Grund seiner Anwesenheit zu Ausschreitungen kommen würde, gemeinsam mit seinem Bruder an der Beerdigung teil und gehörte in der Nacht davor zu den Personen, die an Zolas Sarg die Totenwache hielten. Dreyfus, seine Frau Lucie und sein Bruder Mathieu waren auch anwesend, als am 4. Juni 1908 Zolas sterbliche Überreste feierlich in das Panthéon überführt wurden. Während der Feierlichkeiten verübte der extrem rechte Journalist Louis-Anthelme Grégori ein Attentat auf Dreyfus. Die zwei Kugeln, die Grégori abfeuerte, streiften Dreyfus allerdings nur leicht am Arm. Er handelte im Auftrag der Action française, um die Zeremonie zu stören. Damit wollte er laut Duclert beide „Verräter“ Zola und Dreyfus treffen. Ruth Harris bezeichnet den anschließenden Freispruch Grégoris durch ein Pariser Gericht als Indiz dafür, wie stark die Dreyfus-Affäre nach wie vor die französische Gesellschaft prägte. Der 1899 unehrenhaft aus der französischen Armee entlassene Ferdinand Walsin-Esterházy verbrachte den Rest seines Lebens im englischen Exil. Über lange Jahre verarmt, klagte er, dass Juden seine Existenz zerstört und die Armee ihn verraten hätte. Die Forchtensteiner Linie der Familie Esterházy zahlte ihm unter anderem Geld, damit er einen anderen Namen annähme. Eine kleine Erbschaft sicherte ihm schließlich ein Auskommen, bis er unter verschiedenen Pseudonymen als Journalist Arbeit fand. Walsin-Esterházy starb 1923; er behauptete noch kurz vor seinem Tode, er habe den Bordereau im Auftrag von Jean Sandherr, dem damaligen Leiter des Nachrichtendienstes, verfasst. Du Paty, der nach der Entdeckung des faux henry zwangsweise bei halbem Gehalt pensioniert worden war, durfte 1912 zur Reserve zurückkehren und trat mit Kriegsbeginn 1914 wieder in den aktiven Dienst. Er erlag 1916 einer Kriegsverletzung. Édouard Drumont, der mit seiner Zeitung La Libre Parole zu den radikalsten Antisemiten gehörte, starb 1918 verarmt und weitgehend vergessen. Der ehemalige Kriegsminister Mercier, dessen Vorverurteilung von Dreyfus das Räderwerk an Lügen und Täuschungen in Gang gesetzt hatte, hatte bis 1920 einen Sitz im französischen Senat inne und hielt bis zu seinem Tod 1921 daran fest, rechtschaffen gehandelt zu haben. Von den Dreyfusarden übten viele in den Jahren nach der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus einflussreiche politische Ämter aus. Picquart wurde noch im Jahr 1906, in dem er gemeinsam mit Dreyfus rehabilitiert worden war, im Kabinett des Dreyfusarden Georges Clemenceau Kriegsminister und übte dieses Amt bis 1909 aus. Er starb 1914 an den Folgen eines Reitunfalls. Jean Jaurès kämpfte während der Regierung Clemenceaus vehement für die Rechte der Arbeiter und war einer der entschiedensten Gegner eines zunehmenden Militarismus und des Kriegseintritts gegen das Deutsche Reich. Er wurde 1914 unmittelbar vor Kriegsbeginn ermordet. Für Léon Blum, der zwischen 1936 und 1950 mehrfach für kurze Zeit französischer Premierminister war, war die Affäre Dreyfus das prägende politische Ereignis seiner jungen Jahre. Alfred Dreyfus lebte nach seinem Rückzug aus der Armee weitgehend zurückgezogen. 1901 gab er den seinen beiden Kindern Pierre und Jeanne gewidmeten Erlebnisbericht Cinq années de ma vie (Fünf Jahre meines Lebens) heraus, der die Zeitspanne vom Tage seiner Verhaftung bis zu seiner Freilassung aus dem Militärgefängnis von Rennes umfasst. Darin ist die bittere Enttäuschung seines auch während der Isolationshaft festen Vertrauens herauszulesen, dass seine Vorgesetzten alles daran setzen würden, seine Verurteilung aufzuklären. Er schreibt auch über seine Bewunderung für alle, die sich für ihn eingesetzt hatten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte der 55-Jährige in den aktiven Dienst der Armee zurück. Er diente zunächst im nördlichen Pariser Militärbezirk, wo er Verteidigungsvorrichtungen zum Schutz von Paris zu inspizieren hatte, später unweit der Front bei einem Artilleriekommando, das erst in der Nähe von Verdun und dann am Chemin des Dames stationiert war. Bei Kriegsende war er zum Oberst und zum Offizier der Ehrenlegion befördert worden. Mathieu Dreyfus’ einziger Sohn Émile sowie Adolphe Reinach, der Sohn Joseph Reinachs, der Mathieus Tochter Marguerite geheiratet hatte, fielen beide im ersten Kriegsjahr. Alfred Dreyfus’ Sohn Pierre überlebte den Ersten Weltkrieg, in dem er als junger Offizier auf den Schlachtfeldern an der Somme und vor Verdun gekämpft hatte. Er wurde 1920 zum Hauptmann befördert und 1921 in die Ehrenlegion aufgenommen. Alfred Dreyfus starb am 12. Juli 1935, seine Frau Lucie überlebte ihn um mehr als zehn Jahre. Während des Zweiten Weltkriegs flüchtete sie wie die meisten Angehörigen ihrer Familie in die sogenannte Zone libre und änderte ihren Namen, um der Judenverfolgung zu entgehen. Sie verbrachte die letzten Kriegsjahre versteckt in einem Nonnenkonvent und kehrte nach der Befreiung Frankreichs wieder nach Paris zurück, wo sie wenig später starb. Politischer Hintergrund Dritte Französische Republik Die Dritte Französische Republik bestand zu Beginn der Dreyfus-Affäre noch keine 25 Jahre. Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, der Pariser Kommune und dem Sturz Napoleons III. war zunächst die Wiedereinführung einer konstitutionellen Monarchie geplant. Nach langer Auseinandersetzung einigten sich Legitimisten und Orléanisten darauf, dem Comte de Chambord die Thronfolge anzutragen. Dieser lehnte es jedoch ab, sich auf eine noch zu verabschiedende Verfassung und die Trikolore zu verpflichten. Es kam zur Ausrufung der Republik. Mit einem einheitlichen Wahlrecht für alle Männer, einer großen Bandbreite politischer Parteien und einer sehr weitgehenden Presse- und Versammlungsfreiheit war die Dritte Französische Republik der fortschrittlichste europäische Staat. Die Republik war seit ihrer Gründung aber auch von religiösen, ökonomischen und politischen Gegensätzen gekennzeichnet. Die noch ungefestigte Republik war immer wieder Versuchen einer Restauration der Monarchie ausgesetzt. Zu einer ihrer größeren politischen Krisen zählte der Versuch des Staatsstreichs durch General Georges Boulanger, der unter anderem von Monarchisten unterstützt wurde. Während die liberalen Kräfte im Staat die erreichte bürgerliche Demokratie wahren und die mit den Sozialisten vereinten Radikalen sie weiter ausbauen wollten, lag der Armeeführung an einer Beschneidung dieser Demokratie. Die Armee genoss in Frankreich generell große Achtung, weil sie als Garant der französischen Größe galt. In einer Republik mit häufig wechselnden Regierungen wurde die Armee mit ihrem ausgesprochenen Kastengeist jedoch zu einer zunehmend unabhängigen, mit dem Staatsganzen nur lose verknüpften Macht. Die katholische Kirche, der die meisten Franzosen angehörten, zählte ebenfalls lange zu den entschiedenen Feinden der Dritten Republik. Der hohe französische Klerus blieb bei einer strikten Ablehnung, selbst nachdem Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika Au milieu des sollicitudes 1892 die Republik als legitime Staatsform anerkannt hatte. Eine Besonderheit der Dreyfus-Affäre ist die überproportional große Rolle, die Franzosen aus dem Elsass dabei spielten. Die Familie Dreyfus sowie Auguste Scheurer-Kestner, Joseph Reinach, Marie-Georges Picquart, Jean Sandherr, Emile Zurlinden und Martin Freistaetter sowie mehrere Personen, die in der Affäre eine Nebenrolle einnehmen, stammten aus dem Elsass, das 1871 an das Deutsche Reich gefallen war. Viele Elsässer waren nach 1871 in die französische Armee eingetreten, weil sie ihre Heimat zurückgewinnen wollten. Picquart und Alfred Dreyfus sind exemplarisch für Personen, die während ihrer Jugend die Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Deutschland als tiefe Demütigung erlebt hatten und auf Grund dieses einschneidenden Ereignisses sich entschieden Frankreich verpflichtet fühlten. Bei Scheurer-Kestner und Reinach spielte für ihre Bereitschaft, Mathieu Dreyfus Gehör zu schenken, die gemeinsame Herkunft eine erhebliche Rolle. Als Elsässer waren sie gewohnt, dem Verdacht der Deutschfreundlichkeit ausgesetzt zu sein. Wer von den Elsässern zusätzlich noch Protestant war, wurde tendenziell einer besonders innigen Nähe zum protestantisch geprägten Deutschen Reich verdächtigt. Während der Dreyfus-Affäre äußerte sich das unter anderem in Reaktionen auf das Engagement von Scheurer-Kestner und auf die Prozessführung durch den Vorsitzenden der Strafkammer, Louis Loew, die beide Protestanten elsässischer Abstammung waren. Armee und katholische Kirche Laut Hannah Arendt hatten die siegreichen Republikaner kaum Macht über die Armee, deren Spitze hauptsächlich aus Monarchisten aus dem alten Adel bestand. Auch als sich während des Boulangismus herausstellte, dass Armeeangehörige zu Staatsstreichen griffen, gelang es nicht, die adeligen Offiziere, die unter starkem Einfluss des Klerus standen, an die Republik zu binden. Die wenigen bürgerlichen Offiziere, die in den Generalstab aufgenommen wurden, hatten dies der Förderung von begabten Kindern des Bürgertums durch die katholische Kirche zu verdanken. Die Armee besaß weiterhin den Ruf einer Gemeinschaft von Auserwählten, die einen gemeinsamen Kastengeist pflegten. Hannah Arendt resümiert: Der Fahnenkult und die Verachtung der parlamentarischen Republik waren nach Vincent Duclert zwei wesentliche Prinzipien der damaligen Armee. Die Republik hat ihre Armee regelmäßig gefeiert, während die Armee die Republik ignorierte. Das Nachrichtenbüro des Generalstabs produzierte gefälschte Geheimdokumente, die seine Angehörigen selbst an die Deutschen verkauften. Die Kirche sah Arendt zufolge die Chance, in Frankreich ihre „alte politische Macht zu restaurieren“, weil dort „die Nation im Geschäftemachen unterzugehen drohte.“ In Spanien und Frankreich lag, fährt Arendt fort, die Leitung der Politik, die die Armee zu einem Staat im Staate machte, in der Hand von Jesuiten. Die hierarchische Ordnung der Kirche und der Ständestaat erschienen als Ausweg für die wachsende Kritik weiter Teile der Bevölkerung an der Republik und am Demokratismus, welche Sicherheit und Ordnung nach dieser Auffassung störten. Es war keine religiöse Erneuerungsbewegung, sondern der sogenannte „cerebrale“ Katholizismus, also Macht ohne Glaube, der seit Drumont und später Maurras die gesamte nationalistische, royalistische und antisemitische Bewegung in Frankreich prägte. Arendt beschreibt gewaltsame Ausschreitungen in Rennes gegen Dreyfusards, die unter der Führung von Priestern standen. 300 Priester des niederen Klerus unterzeichneten das antisemitische Machwerk Monument Henry, worin dazu aufgerufen wurde, Juden zu „schinden“, beispielsweise Reinach in „kochendem Wasser“ zu töten. Unter den Unterstützern befanden sich mehr als 1000 Offiziere, darunter der frühere Kriegsminister und fanatische Antidreyfusard Mercier sowie Intellektuelle wie Paul Valéry und nationalistische jüdische Journalisten wie Arthur Meyer vom Gaulois und Gaston Polonius vom Soir. Für Jesuiten, postuliert Arendt, blieben Juden auch nach der Taufe stets Juden. Darin sieht sie einen Vorläufer der nationalsozialistischen Ahnenforschung. Sie weist darauf hin, dass unter der Gruppe „extrem chauvinistischer Juden“, die in den vom alten Adel geprägten höheren Offizierskorps aufsteigen konnte, besonders viele elsässische Juden waren, die sich für Frankreich entschieden hatten. Georges Clemenceau spitzt diese Einschätzung zur Bemerkung zu, die Dreyfus-Familie von 1894 habe aus Antisemiten bestanden. Arendt bezieht sich auf Marcel Proust, der diese Art von „Hofjuden“, zu denen die Bankiersfamilie Rothschild zählte, meisterlich charakterisiert habe. Die Aufnahme in die Pariser Salons verlief reibungslos, Konflikte gab es erst, als assimilierte Juden gleichberechtigten Zugang zur Spitze der Armee verlangten. Arendt argumentiert: Die Jesuiten hatten, so Arendt, den Antisemitismus sehr früh als Waffe erkannt. Nicht die Juden haben demnach den Jesuiten, sondern die Jesuiten den Juden den Kampf angesagt. Die wenigen jüdischen Offiziere seien immer wieder zum Duell aufgefordert worden, wobei Juden keine Zeugen sein durften. So fungierte Major Walsin-Esterházy als bezahlter nichtjüdischer Zeuge bei Duellen, eine Position, die vom Oberrabbiner von Frankreich gegen Geld vermittelt wurde. Die Familie Dreyfus schätzt Arendt eher negativ ein. Dreyfus sei nur zu retten gewesen, wenn man der Komplizität eines korrupten Parlaments, der Verderbtheit einer in sich zerfallenden Gesellschaft, dem Machthunger des Klerus das jakobinische Projekt der Nation, die auf Menschenrechten basiert, und das republikanische Prinzip des öffentlichen Lebens, in welchem der Fall eines Bürgers, der Fall aller Bürger ist, entgegenhielt. „Durch die Tolerierung des Rufs ‚Tod den Juden! Frankreich den Franzosen!‘ konnte der Mob mit der Dritten Republik versöhnt werden“, fasst Arendt zusammen. Grundsätzlicher Wertekonflikt Der Wiederaufnahme des Prozesses gegen Alfred Dreyfus widersetzten sich zahlreiche Personen, weil sie es mit dem Ansehen des Staates und den Institutionen des Staates nicht für vereinbar hielten, ein einmal gefälltes Urteil zu widerrufen. Sie werteten dies höher als die Forderung nach Gerechtigkeit für ein einzelnes Individuum. Auf der anderen Seite standen solche, die Recht und Gesetzmäßigkeit als gemeinsames Gut aller Staatsbürger ansahen und die Ehre der Armee nicht höher werteten als die Ehre eines Einzelnen. Es waren folgerichtig unter anderen die Verteidiger von Alfred Dreyfus, die 1898 die Französische Liga zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte gründeten. Tendenziell gehörten Franzosen mit einer konservativen, kirchentreuen, monarchistischen oder antisemitischen Grundhaltung zu den Anti-Dreyfusarden, Personen mit einer republikanischen oder sozialistischen Einstellung dagegen eher zu dem Lager, das eine Wiederaufnahme des Prozesses befürwortete. Marcel Proust hat in seinem literarischen Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit jedoch auch die unerwarteten Parteinahmen beschrieben: Überzeugte Antisemiten bildeten mit Juden Allianzen, weil beide von der Unsinnigkeit der Anklage überzeugt waren, andere zählten sich zu den Anti-Dreyfusarden, weil sie sich davon gesellschaftlichen Aufstieg versprachen. Viele verteidigten ihre jeweiligen Ansichten zur Affäre Dreyfus mit einer Leidenschaft, die zum Auseinanderbrechen alter Freundschaften und Streit in Familien führte. Eines der Beispiele für einen solchen Familienzwist ist die Familie Proust. Adrien Proust, Arzt und Staatsbeamter, weigerte sich eine Zeit lang, mit seinen Söhnen Robert und dem damals noch unbekannten Marcel zu sprechen, als diese sehr früh zu Dreyfusverteidigern wurden. Pariser Salonnièren wie Geneviève Straus, Marie-Anne de Loynes, Léontine Arman de Cavaillet oder die Marquise Arconate-Visconti führten während des Höhepunkts der Affäre Salons, in denen entweder nur Vertreter einer Meinungsrichtung verkehrten, oder sie richteten ihre gesellschaftlichen Treffen so aus, dass sich überzeugte Dreyfusarden und Anti-Dreyfusarden nicht begegnen konnten. Arendt beschreibt den Konflikt folgendermaßen: Ein ganzes Volk habe sich über die Frage, ob das „geheime Rom“ oder das „geheime Juda“ die Fäden der Welt in der Hand halte, die Köpfe zerbrochen und eingeschlagen. Mit dem Ausgang der Affäre erwies sich Frankreich letztlich als ein in seinen Grundwerten gefestigter demokratischer Rechtsstaat, auch wenn die Rechtsverletzungen von Personen in hohen Ämtern begangen worden waren und die Lösung langwierig und nicht ohne Rückschläge war. Diesen Aspekt betonte 2006 der französische Staatspräsident Jacques Chirac in seiner Rede anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus, die er im Hof der École Militaire hielt, wo Dreyfus 1895 öffentlich degradiert worden war. Die Affäre Dreyfus ging allerdings nicht mit einem strahlenden Sieg der Gerechtigkeit zu Ende: Die Begnadigung von Dreyfus 1899 war ein politischer Kuhhandel und ging mit einem Amnestiegesetz einher, das es unter anderem dem ehemaligen Kriegsminister Mercier erlaubte, bis kurz vor seinem Tode ein hohes politisches Amt auszuüben. Der Prozess, der 1906 mit der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus endete, war somit nicht von einem breiten Wunsch der Öffentlichkeit getragen, ein immer noch bestehendes Unrecht auszugleichen. Er diente vielmehr als Grundlage für das Gesetz von 1906 über die vollständige Trennung von Religion und Staat in Frankreich, nachdem sich Teile der katholischen Kirche während der Dreyfus-Affäre durch ihren Antijudaismus und ihre antirepublikanische Grundhaltung kompromittiert hatten. Die Regierung mit Émile Combes an der Spitze konnte nunmehr Frankreich radikal säkularisieren und das heute noch geltende Prinzip des Laizismus etablieren. Die Armee habe, argumentiert Arendt, ihren erpresserischen Einfluss auf Regierung und Parlament verloren, als ihr Nachrichtenbüro dem Kriegsministerium, also der zivilen Verwaltung unterstellt worden sei. Jacques Chirac erinnerte in seiner Rede auch daran, dass Dreyfus selbst bei seiner Rehabilitierung nicht die volle Gerechtigkeit widerfuhr. Die Wiederherstellung der Karriere, auf die er ein Recht hatte, wurde ihm nicht gewährt. 1985 bestellte der französische Staatspräsident François Mitterrand eine Statue von Dreyfus bei dem Bildhauer Louis Mittelberg. Sie sollte neben der École Militaire (Militärhochschule) aufgestellt werden. Der Verteidigungsminister verweigerte dies jedoch, obwohl Alfred Dreyfus 1906 vollständig rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen worden war. Nunmehr steht das Denkmal am Boulevard Raspail, Nr. 116–118, am Ausgang der Metrostation Notre-Dame-des-Champs. Eine Kopie befindet sich am Eingang des Museums für jüdische Kunst und Geschichte in Paris. Erst 1995 gab auch die Armee Dreyfus’ Unschuld öffentlich bekannt. Judentum in Frankreich Seit dem Emanzipationsedikt von 1791 während der Revolution ab 1789 hatten Franzosen jüdischer Herkunft das volle Bürgerrecht. Frankreich wurde daher spätestens nach Ende der Revolution und der napoleonischen Ära eines der wenigen Länder, das seinen jüdischen Bürgern umfassend gleiche Rechte zugestand. Die Zahl der jüdischen Franzosen war gering, 1890 waren es weniger als 68.000 Personen, die meisten davon lebten in oder nahe Paris. In Algerien waren weitere 43.000 Juden beheimatet. Bei einer Bevölkerungszahl von knapp 39 Millionen machten jüdische Franzosen damit weniger als 0,2 Prozent aus. Unter ihnen befanden sich einige einflussreiche Männer. Einer der prominentesten war Alphonse de Rothschild, der wie sein Vater James de Rothschild zuvor als der wichtigste französische Bankier galt. Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hatten viele Franzosen die Verantwortung dafür den Juden zugesprochen. Rothschild hatte sich damals von der Republik ab- und dem Monarchismus zugewandt. Neu war dabei laut Arendt, „daß sich eine jüdische Finanzmacht gegen die augenblickliche Regierung stellte.“ Von geringerer Bedeutung waren die jüdischen Bankiersfamilien Camondo mit Isaac de Camondo und Nissim de Camondo, Cahen d’Anvers, Pereire und der jeweilige französische Zweig des Adelsgeschlechts Königswarter, Reinach, D’Almeida, Bamberger und Menasce. Die alten renommierten jüdischen Bankhäuser zogen sich vorerst, stellt Arendt fest, aus der Politik zurück und träumten in den Salons von Staatsstreichen – von den guten alten monarchistischen Zeiten, als ihre Dienste noch wertvoll für die Herrscher waren. Daher übernahmen jüdische Neureiche Teile des Finanzmarkts. Es waren Arendt zufolge abenteuerlustige, auf Gewinn erpichte Personen, die nicht genuine Franzosen waren. Die neuen republikanischen Politiker waren großenteils arm und der Korruption gegenüber offen: Handel mit Orden und Stimmenkauf waren an der Tagesordnung. Vermittler waren wiederum, schreibt Arendt, die Juden. Arendts Urteil fällt scharf aus: Die Antisemiten haben demnach die Lüge verbreitet, das Parasitentum der Juden sei die eigentliche Ursache der Auflösung der Dritten Republik gewesen. Die zeitgenössischen Juden hingegen „spielten die Rolle der verfolgten Unschuld.“ Parlament und Senat dienten nach Arendt nur noch der gesellschaftlichen Karriere und der individuellen Bereicherung ihrer Angehörigen. Die französische Intelligenz wurde nihilistisch, die Studenten reaktionär. Während die Juden im zweiten Kaiserreich noch eine Gruppe außerhalb der Gesellschaft gewesen seien, habe die Zersetzung des einheitlichen Judentums mit der Dritten Republik begonnen. Da die Juden über Geldmittel verfügten, hatten sie auch Macht, die sie in die politischen Lager einbrachten, ohne in diesen aufzugehen. Von den 260 Mitgliedern des Institut de France hatten sieben einen jüdischen Hintergrund. Juden waren auch überproportional häufig Staatsbeamte, Wissenschaftler oder Künstler. Der französischen Armee gehörten Begley zufolge in den 1890er Jahren etwa 300 jüdische Offiziere an, davon waren fünf Generäle. Im Vergleich dazu hatten Juden in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn uneingeschränkte Bürgerrechte erst 1867 erhalten, blieben jedoch auch danach vom Staatsdienst ausgeschlossen. Bei den wenigen österreich-ungarischen Berufsoffizieren jüdischer Herkunft hing die berufliche Karriere davon ab, ob sie zum Christentum konvertierten. In Deutschland hatten Juden uneingeschränkte bürgerliche Rechte 1871 erhalten, deutsch-jüdische Berufsoffiziere gab es auch um die Wende zum 20. Jahrhundert noch nicht. Die Verhaftung, Verurteilung und Degradierung von Alfred Dreyfus war nach Ruth Harris für viele französische Juden ein Moment intensiver Scham. Bernhard Lazare und Joseph Reinach, die zu den frühesten Dreyfus-Unterstützern zählten, waren beide bekannte französische Juden, insgesamt fand Mathieu Dreyfus jedoch wenig Unterstützung bei diesen. Léon Blum schrieb in seinen Erinnerungen, dass die Mehrzahl den Anfängen der Kampagne für eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit großer Vorsicht und viel Misstrauen begegneten. Dabei spielte „die Achtung vor der Armee, das Vertrauen in ihre Führung und ein Widerstreben, diese Männer als parteiisch oder fehlbar anzusehen“, eine Rolle. Sie hielten sich zurück, weil sie es überwiegend ablehnten, dass man „ihre Haltung auf die Solidarität der gemeinsamen Abstammung zurückführe“. Insbesondere diejenigen, die derselben Gesellschaftsschicht wie Alfred Dreyfus angehörten, waren zu Beginn der Affäre noch der Überzeugung, dass dem wachsenden Antisemitismus durch bedingungslose Neutralität am besten zu begegnen sei. Die Affäre habe gezeigt, heißt es bei Arendt, dass in jedem jüdischen Baron, Multimillionär oder Nationalisten „noch ein Stück von jenem Paria steckte, für welchen die Menschenrechte nicht existieren, den die Gesellschaft außerhalb des Gesetzes zu sehen wünschte.“ Vor der Dreyfus-Affäre befanden sich die Juden, schreibt Arendt, im Prozess der „atomisierenden Assimilation“ mit der Folge einer Entpolitisierung, so dass die Diskriminierung für diese emanzipierten Juden schwer einzusehen war. Sie hätten sich von den armen „Ostjuden“ distanziert, so wie die nichtjüdische Gesellschaft von ihnen. Diese Juden hätten nicht verstanden, dass in der Affäre mehr auf dem Spiel stand als ihre gesellschaftliche Position. Dies sei der Grund gewesen, warum es unter den französischen Juden so wenige Dreyfus-Unterstützer gab. Hannah Arendt rollt die Bedeutung der Juden in Frankreich anhand der Panama-Affäre auf. Die Finanzierung des Kanals durch Staatsanleihen habe 500.000 Mittelständlern ihre Existenzgrundlage entzogen. Um die Affäre zu vertuschen und die nötigen Gelder aufzubringen, wurden Teile der Presse, des Parlaments und des höheren Beamtentums bestochen. Die Juden gehörten weder zu den Geldgebern der Compagnie, die den Kanal baute, noch zu den Korrumpierten. Sie dienten aber als gut bezahlte Mittelsmänner zwischen beiden Seiten. Jacques Reinach, der zeitweise als Finanzberater der Regierung fungierte, war nach dieser Lesart für den rechten Flügel der bürgerlichen Parteien, die sogenannten Opportunisten, und Cornélius Herz für die radikalen antiklerikalen Kleinbürger zuständig. Beide hatten zahlreiche jüdische Geschäftsleute als Mitwirkende. Reinachs Beteiligung an den Betrügereien wurde bekannt. Bevor er Selbstmord beging, übergab er den Antisemiten von La libre Parole’ (Das freie Wort) eine Liste mit allen Juden, die an den Bestechungen beteiligt waren, ein Umstand, der den öffentlichen Antisemitismus ungemein bestärkte. Druments Blatt La libre Parole wurde in kürzester Zeit zu einer der größten Zeitungen Frankreichs. Kern der Vorwürfe war, dass Parlamentarier und Staatsbeamte zu Geschäftsleuten geworden waren und die Vermittlung zwischen der privaten Compagnie und dem Staatsapparat fast ausschließlich in den Händen von Juden gelegen habe. Noch 1955 konstatierte Arendt: In der Pétain-Zeit sei von der Dreyfus-Affäre der Hass auf die Juden geblieben und mehr noch die Verachtung großer Teile des Volkes für die Republik, das Parlament, den gesamten Staatsapparat, was mit dem Einfluss der Juden und der Macht der Banken identifiziert wurde. Antisemitismus Die Dreyfus-Affäre wird häufig als der Höhepunkt des Antisemitismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Er wandte sich nicht mehr gegen das Judentum als Religion, sondern war rassistisch geprägt, ähnlich dem Berliner Antisemitismusstreit ab dem Jahr 1879. Nach Ansicht der Historiker Eckhardt und Günther Fuchs zeigte sich diese Form des Antisemitismus in Frankreich erstmals in den 1880er Jahren, als konservative Kräfte aller Schattierungen begannen, sich in ihrem Kampf gegen die Republik des Antisemitismus zu bedienen. „Gegnerschaft, Angst vor und Zweifel an der gegebenen Realität des Kapitalismus, der Demokratie, der Wissenschaft und der Kultur“ ließen Teile der Gesellschaft den Juden als Ursache aller Misere sehen. Der Zusammenbruch der in katholischem Besitz befindlichen Banque Union Générale im Jahr 1882 war wesentlich an der Entstehung dieser modernen antisemitischen Ideologie beteiligt. 1878 gegründet, um katholischen Familien und Institutionen eine Bank zu bieten, die weder in protestantischer noch jüdischer Hand war, war sie vier Jahre später auf Grund von Fehlwirtschaft zahlungsunfähig. Tausende von Kleinanlegern verloren bei dieser Insolvenz ihr Geld. In weiten Teilen der Presse kursierten danach erfundene Berichte, dass jüdische Bankiers für den Bankrott dieser Bank gesorgt hätten. Wesentlich beteiligt an diesen Gerüchten war die vom Assumptionisten-Orden herausgegebene katholische Tageszeitung La Croix (Das Kreuz). 1886 erschien Édouard Drumonts Buch La France juive (Das jüdische Frankreich). Drumont behauptete, Frankreich sei fest in der Hand von Juden, die auf Kosten der kleinen Leute ihre Geschäfte betrieben. Das Buch wurde insgesamt mehr als 200 Mal neu aufgelegt und zählte im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu den meistgelesenen politischen Schriften. Obwohl General Boulanger kein Antisemit war, zählt auch der Boulangismus zu den politischen Bewegungen, die das wirtschaftliche Elend der Arbeiterklasse jüdischen Geldverleihern und Kaufleuten anlastete. Der Panamaskandal zu Beginn der 1890er Jahre, an dem auch einige jüdische Finanziers beteiligt waren, leistete dem Antisemitismus weiteren Vorschub. Drumont hatte bereits 1893 in seiner Zeitung scharf protestiert, als Alfred Dreyfus als erster französisch-jüdischer Offizier in den Generalstab aufgenommen worden war. Als im Oktober 1894 an die Presse durchsickerte, dass dieser Offizier des Landesverrats verdächtigt wurde, fanden viele die gegen Juden gerichteten Anschuldigungen bestätigt. Die Affäre Dreyfus nahm für die antisemitische Bewegung in Frankreich eine so große Bedeutung an, dass eine Korrektur nicht mehr möglich erschien, als die Haltlosigkeit der Vorwürfe offensichtlich wurde. Dies äußerte sich unter anderem in immer neuen Verschwörungstheorien, die die antisemitische Presse verbreitete. Eine antisemitische Gesinnung allein war jedoch nicht ausschlaggebend, ob jemand zu den Anti-Dreyfusarden zählte. Auch unter den Personen, die sich für die Rehabilitierung von Alfred Dreyfus einsetzten, gab es mehrere, die antisemitisch geprägt waren. Zu den bekanntesten zählt Marie-Georges Picquart. Georges Clemenceau, auf dessen politische Karriere die Dreyfus-Affäre erheblichen Einfluss hatte, zeigte sich nach Ruth Harris von orthodoxen Juden abgestoßen. Arendt hingegen schreibt, Clemenceau habe zu den wenigen echten Freunden gehört, welche die Juden in der neueren Geschichte gehabt hätten. Man könne sie meist daran erkennen, dass sie das verstanden, was die jüdischen Notabeln und die jüdischen Parvenüs nie hätten wahrhaben wollen, dass nämlich das jüdische Volk im Ganzen zu den unterdrückten Völkern Europas gehöre. Zahlreichen Sozialisten galten Juden als Protagonisten von Kapitalismus und Plutokratie. Damit war der Antisemitismus nicht nur im konservativ-katholischen Lager verbreitet. Jean Jaurès lehnte es anfangs ab, sich für den wohlhabenden, bürgerlichen Alfred Dreyfus zu engagieren, denn wie andere Sozialisten meinte er, die Affäre gehe ihn als Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Klassen nichts an. Als er seine Einstellung änderte und zum Kampf für die Gerechtigkeit aufrief, führte dies anfänglich zu einer Spaltung des sozialistischen Lagers. Die Historikerin Beate Gödde-Baumanns nennt die von Jaurès eingeleitete Kehrtwende eine der „hellen Seiten“ der Affäre Dreyfus: Die Affäre führte letztlich zu einer frühen Ächtung des Antisemitismus im sozialistischen Lager. Die meisten Historiker gehen davon aus, dass die Verhaftung von Alfred Dreyfus kein antisemitischer Komplott war. Der Fall entwickelte jedoch schnell eine Eigendynamik, die wesentlich auf die antisemitische Presse und ihre Reaktion auf einzelne Ereignisse zurückzuführen ist. Eng verknüpft mit der Dreyfus-Affäre ist die Gründung und Etablierung der Action française 1896, einer militant katholischen, nationalistischen und monarchistischen Bewegung mit antisemitischen Zügen. Maurice Barrès war seit 1892 der Theoretiker des rechten Nationalismus, insbesondere der Action française, die 1940 während des Vichy-Regimes, an der Macht beteiligt, mit den deutschen Behörden kollaborierte und daher mitverantwortlich für die Deportation von 75.000 bis 77.000 Juden war. Sie konnte nunmehr, wie Drumont ausgedrückt hatte, den Staat reinigen (purifier). Nach der Befreiung schrieb Charles Maurras – früher bei den Anti-Dreyfusarden aktiv und im Januar 1945 als Kollaborateur verurteilt –: „C’est la revanche de Dreyfus!“ (Das ist die Rache von Dreyfus!). Das Volk, der Mob und das Bündnis zwischen Mob und Elite in der Dreyfus-Affäre nach Hannah Arendt Laut Arendt setzt sich der Mob aus Deklassierten aller sozialen Klassen zusammen. Zwar war es nach ihrer Analyse den Sozialisten gelungen, die Arbeiterschaft vom Antisemitismus freizuhalten, jedoch hatte das Proletariat wenig Einfluss auf die anderen Gruppen des Volkes. Der Mob habe nach dem Plebiszit und dem starken Mann geschrien und wollte nur akklamieren oder steinigen. Die Dritte Republik hatte Arendt zufolge durch die Skandal-, Betrugs- und Bestechungsaffären den Mob selbst produziert, der in erster Linie aus deklassierten Mittelständlern bestand. Es war wiederum Clemenceau, der, nach Arendt, vor dem Mob warnte, während selbst Reinach die Volksbewegung begrüßte, deren große politische Idee der Antisemitismus gewesen sei. Auch Jesuiten und Freimaurer waren Ziele des Mobs, weil sie wie die Juden indirekten politischen Einfluss ausübten, was der Mob als Weltverschwörung überschätzte. Die Treulosigkeit des Mobs sei sprichwörtlich, hält sie fest. So musste Clemenceau feststellen, dass sich plötzlich auch auf seiner Seite Teile des Mobs sammelten. Doch mit Picquart, der kein Held und kein Märtyrer war, wurde die Armee nicht fertig, argumentiert Arendt. Er sei lediglich ein guter Bürger gewesen, der das Vaterland retten wollte. Der eigentliche Held der Affäre sei Clemenceau gewesen. Erst als er täglich in der Aurore über Dreyfus schrieb und Zolas Streitschrift veröffentlicht hatte, habe ein blutiger Aufruhr der Straße begonnen, ein Versuch zu terrorisieren, einzuschüchtern und zu erpressen. Die Fäden zogen, so Arendt, der Generalstab und die Redaktion der Libre Parole, die ihrerseits Studenten, Royalisten, Abenteurer und Gangster auf die Straße brachten. Nicht nur in Paris habe es antisemitische Kundgebungen mit einem militärisch organisierten Mob gegeben, aus denen die Dreyfus-Anhänger angegriffen wurden. Jules Guérin, der Gründer der Antisemitischen Liga, „war der erste Verbrecher, in welchem die gute Gesellschaft ihren Helden feierte.“ Hier entwickelt Arendt ihre Theorie vom Bündnis zwischen Mob und Elite, die sie später auch auf die Nationalsozialisten anwendet. Barrès, Daudet und Maurras sahen demzufolge in den Untaten des Mobs die „Vitalität und ursprüngliche Kraft des Volkes.“ So begann, schreibt Arendt, die Heldenverehrung des Mobs durch die Elite und der Unterschied zwischen Volk, Mob, Nation und Rasse, Nationalgefühl und Chauvinismus sei verloren gegangen. Als der Mob die Straße eroberte, stellte sich laut Clemenceau dem niemand entgegen, auch nicht die Arbeiter, die an dem Konflikt desinteressiert gewesen seien. Erst als Jaurès umkehrte und Zola seine Stimme erhob, hätten sich die Arbeiter besonnen, gingen jedoch nicht für Gerechtigkeit und Freiheit, sondern gegen den Klerikalismus und Monarchismus auf die Straße. Auch Zola habe „unreine Töne“ in die Debatte gebracht, als er an den „pöbelhaften Aberglauben an das geheime Rom appellierte“. Er habe zum Widerstand der Bürger, die für die res publica (öffentliche Sache) eintreten wollten, gegen das Volk aufgerufen, obwohl er nach Arendt vorher das Volk „verherrlicht“ hatte. Arendt bemerkt, während der Dreyfus-Affäre habe sich die gesamte französische Politik außerhalb des Parlaments abgespielt, so dass sich auch Demokraten und Republikaner vom Mob gezwungen sahen, außerhalb des Parlaments zu agieren: in der Presse und vor Gerichtshöfen. Auf dem Höhepunkt des Skandals sei es im Wahlkampf sehr unpopulär gewesen, überhaupt von Dreyfus zu sprechen. Theodor Herzl und die Dreyfus-Affäre Die Dreyfus-Affäre und der damit verbundene wachsende Antisemitismus gelten als entscheidende Gründe dafür, dass Theodor Herzl den Zionismus entwickelte. Herzl war ab Oktober 1891 als Korrespondent in Paris tätig und sofort mit antisemitischen Themen konfrontiert. Er berichtete unter anderem über das Duell zwischen Drumont und dem jüdischen Dragonerrittmeister Cremieu-Foa. Cremieu-Foa hatte von diesem Genugtuung gefordert, weil er sich durch dessen Angriffe auf jüdische Offiziere beleidigt fühlte. Herzl war auch Zeuge der öffentlichen Degradierung von Dreyfus im Januar 1895 und hörte sowohl dessen Unschuldsbeteuerungen als auch die Zuschauerrufe, die seinen Tod und den Tod aller Juden forderten. Nach Auffassung des Historikers Julius H. Schoeps war dieses Erlebnis für Herzl von kathartischer Wirkung: Als Dreyfus vor johlenden Massen die Epauletten abgerissen und der Säbel zerbrochen wurde, war er sicher, dass die herrschenden Schichten nicht bereit waren, Juden gesellschaftlich als gleichwertig anzuerkennen. Jegliche Bemühungen um Akkulturation und Assimilation hielt er für gescheitert. Herzl begann im Frühsommer 1895, nach einem Gespräch mit dem jüdischen Philanthropen Maurice de Hirsch, mit den Vorarbeiten zu seiner programmatischen Schrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Erst 1899 ergriff Herzl eindeutig für den angeklagten Dreyfus Partei. In einem in der Literaturzeitschrift North American Review veröffentlichten Artikel hielt er fest, dass ihm angesichts der antisemitischen Begleiterscheinungen des Prozesses und der Pöbeleien der Massen klar geworden sei, dass die Lösung der „Judenfrage“ in der Rückkehr zur eigenen Nation auf eigenem Grund und Boden liegt. Die zweite Verurteilung von Dreyfus kommentierte er in einem Artikel für die Welt mit den Worten: Die anarchistischen Arbeiter und die Dreyfus-Affäre Im Zusammenhang mit der Liabeuf-Affäre um den anarchistischen Arbeiter Jean-Jacques Liabeuf, der 1910, nach seiner Entlassung aus einem Gefängnis, wo er unschuldig eingesessen hatte, einen Polizisten tötete und dafür guillotiniert wurde, entstand eine hitzige öffentliche Debatte, die als „Dreyfus-Affäre der Arbeiter“ (affaire Dreyfus des ouvriers) bezeichnet wurde: Einerseits forderten rechte Kommentatoren eine stärkere militärische und polizeiliche Unterdrückung streikender Arbeiter und härtere Gerichtsurteile, andererseits wurde Liabeuf von der Arbeiterpresse als Märtyrer und Symbolfigur des Klassenkampfes dargestellt. Die Dreyfus-Affäre und ihre Folgen in Algerien Die bereits nach dem Décret Crémieux ab 1870 gegen die einheimische jüdische Bevölkerung verbreitete Stimmungsmache von Seiten französischer Algerier verstärkte sich in Folge der Dreyfus-Affäre. 1896 kam es in Constantine und 1897 in Oran zu mehreren Übergriffen gegen die dortigen Juden. Es folgte die Plünderung der Synagoge von Mostaganem und nach der Veröffentlichung von J'accuse übertrugen sich die Ausschreitungen auf Algier. Treibende Kraft der antisemitischen Propaganda war Max Régis, Chefredaktor der Zeitschrift L’Antijuif. Bedeutung der Presse Die Dreyfus-Affäre fällt in eine Ära, in der technische Innovationen höhere Druckauflagen ermöglichten und gleichzeitig, durch Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten, die Zahl der Zeitungsleser zunahm. Zum ersten Mal entstand eine Boulevardpresse, der am anderen Ende des Spektrums Zeitungen wie Le Temps, Le Figaro und Le Siècle gegenüberstanden, die zu den weltweit führenden Tageszeitungen gehörten. Während des Panamaskandals hatte sich gezeigt, dass die Meinung selbst so reputabler Zeitungen wie Le Figaro und Le Temps käuflich war. Der Skandal lieferte auch die Basis für die schnell sehr hohen Auflagen der antisemitischen La Libre Parole, die Édouard Drumont 1892 nach dem Sensationserfolg seines Buches La France juive gegründet hatte. Drumont und seine Zeitung waren während der Dreyfus-Affäre das Hauptsprachrohr der Anti-Dreyfusarden. Die offen antisemitische Zeitung La Libre Parole erreichte kurz nach ihrer Gründung Auflagen von mehr als 200.000 Exemplaren pro Tag. Le Petit Journal und La Croix sowie die politisch links stehende L’Intransigient zählten zu den weiteren antisemitischen Zeitungen mit einer breiten Leserschaft. Den Unterschied zwischen den Assumptionisten mit La Croix und den Jesuiten sieht Arendt darin, dass die katholische Zeitung La Croix die unteren und mittleren Schichten ansprach, während die Jesuiten Einfluss bei der Aristokratie und dem Generalstab hatten. Die Gemeinsamkeit sei die Judenhetze, die Haltung als Hüter der Armee und der Kampf gegen das internationale Judentum, an dem die gesamte katholische Presse beteiligt war, gewesen. Zu den Dreyfus-freundlichen Blättern gehörte La Petite Republique, wo ab 1898 unter anderem der Sozialist Jaurès Artikel veröffentlichte. Nicht alle Zeitungen, die in der Dreyfus-Affäre die Seite des Verurteilten vertraten, zählten zu den politisch links stehenden Publikationen. Unter den Zeitungen, die bereits früh Alfred Dreyfus für unschuldig hielten, war Le Figaro, ein konservatives Blatt der katholischen Intelligenzia. Frankreich zählte zu den Ländern mit einer ausgeprägten Pressefreiheit. Deren Grenzen waren jedoch noch nicht erprobt, sodass Herausgeber und Redakteure immer wieder die schmale Linie zwischen einer noch akzeptablen Nachricht und einer Verunglimpfung oder Verleumdung überschritten. Dazu trug auch bei, dass französische Zeitungen sich nur zu einem geringen Grad über Werbung finanzierten. Herausgeber neigten daher dazu, auch über Sensationsmeldungen hohe Auflagen zu erzielen. Personen des öffentlichen Lebens waren ständigen, zum Teil unflätigen Angriffen der Presse ausgesetzt. Der Rücktritt des französischen Staatspräsidenten Jean Casimir-Perier im Jahre 1895 wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass er diese ständigen Angriffe auf seine Person nicht mehr ertrug. Heftige Attacken richteten Teile der Presse auch gegen Scheurer-Kestner, als er sich öffentlich von Dreyfus’ Unschuld überzeugt zeigte. Erst bezeichnete ihn in L’Intransigient als „Feigling“, „Lügner“ und „Idiot“, zwei Tage später überbot dies La Libre Parole, wo er „alter Schurke“ genannt wurde, dessen Handlung nur durch „Altersblödheit“ zu erklären sei. Die Heftigkeit dieser Anwürfe ist charakteristisch für die Leidenschaft, mit der die französische Presse in dieser Affäre agierte. Die Mehrheit der Historiker urteilt heute, dass die Presse sowohl zu Beginn der Affäre als auch am Ende die entscheidende Rolle spielte. In den Jahren 1899 und 1900 wurde in Paris eine Plakatserie unter dem Namen Musée des horreurs (Museum des Schreckens) vertrieben, in der Dreyfus und Dreyfusards in abstoßender Manier verächtlich gemacht wurden. Internationale Reaktionen Besonders stark wurden die Beziehungen zwischen Frankreich und Italien durch die Affäre belastet. Hannah Arendt beschreibt die internationalen Proteste gegen das Unrecht, das Dreyfus angetan wurde, wie folgt: Der Burgfrieden, wie Arendt es ausdrückt, der die Dreyfus-Affäre durch den Umschwung des Parlaments beendete, sei auf die internationalen Boykottdrohungen der geschäftlich lukrativen Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 zurückzuführen. Das Parlament nahm sogar einen sozialistischen Minister in die Regierung Waldeck-Rousseau auf. Clemenceau hatte sich immer gegen einen faulen Kompromiss mit Begnadigung und Amnestie gewehrt. Zola schloss sich Clemenceau an: Das Amnestiegesetz habe „auf schmutzigste Weise die Ehrenleute und die Banditen zusammen begnadigt.“ Als in Frankreich wegen der Boykottdrohungen die Stimmung wechselte, schreibt Arendt, genügte 1897 ein Interview des Papstes Leo XIII., um den klerikalen Antisemitismus international zu beenden. Nach der Veröffentlichung von Zolas J’accuse fand die Affäre in Deutschland große Beachtung. Die Reaktionen waren gespalten. Die offizielle Stellungnahme, Deutschland habe mit Dreyfus nichts zu tun, war zwar richtig – allerdings galt das nicht für Walsin-Esterházy. Die konservativen deutschen Zeitungen nutzten die Affäre, um ihr Bild vom „kranken, vom Republikanismus bedrohten Land“ zu verbreiten. Antisemitische Blätter benutzten die Affäre zur Verstärkung ihrer Propaganda. Während die liberale Presse ein differenziertes Bild zeichnete, war für die Arbeiterpresse die Verteidigung der republikanischen Idee entscheidend. Karl Kraus, Wilhelm Liebknecht und Maximilian Harden bekannten sich als Dreyfus-Gegner; Heinrich Mann, Theodor Herzl und Max Nordau traten für ihn ein. Rezeption Das große Forschungsinteresse zur Affäre Dreyfus beruht auch auf der Tatsache, dass die Archive leicht zugänglich sind. Obwohl die Verhandlungen des Kriegsgerichts 1894 nicht mitstenografiert worden sind, gibt es Zuschauerberichte aus den verschiedenen Prozessen. Die zeitgenössische Literatur (1894–1906) beginnt mit Bernard Lazare, dem ersten Dreyfusard, der sich für die Revision des Schuldspruchs einsetzte. Trotz einiger Irrtümer gelten seine Veröffentlichungen als wichtige Quellen. Das Werk von Joseph Reinach l’Histoire de l’affaire Dreyfus in sieben Bänden, die zwischen 1901 und 1911 herauskamen, bildete die Hauptquelle, bis ab 1960 weiterführende historische Arbeiten über den Skandal erschienen. Es enthält zahlreiche zutreffende Informationen, obwohl manche seiner Interpretationen über die Gründe, die zur Affäre geführt haben, umstritten sind. Daneben gibt es Berichte von Beteiligten wie das antisemitische Buch des Täters Major Walsin-Esterházy oder Alfred Dreyfus’ autobiografischen Bericht Cinq années de ma vie (Fünf Jahre meines Lebens) aus dem Jahr 1901. Bis heute die Grundlage der gesamten gegen Dreyfus gerichteten Literatur bildet Le précis de l’affaire Dreyfus (Das Kompendium der Dreyfus-Affäre) von Henri Dutrait-Crozon, ein Pseudonym des Colonel Larpent, angeregt vom Kommandanten Cuignet. Er entwickelt die – wissenschaftlich haltlose – Hypothese, ein Komplott des jüdischen Finanzkapitals habe Walsin-Esterházy veranlasst, das Verbrechen auf sich zu nehmen. Bernhard Schwertfeger brachte 1930 Hefte aus dem Nachlass Maximilians von Schwartzkoppen heraus, die die Schuld Walsin-Esterházys untermauern und gleichzeitig Dreyfus entlasten. Die extreme Rechte bestritt die Aussagen dieses Zeugen, während die Mehrzahl der Historiker sie für glaubhaft hält, trotz einiger Widersprüche und Ungenauigkeiten. 1935 veröffentlichte anlässlich des Todes von Alfred Dreyfus Léon Blum, der als junger Jurist und Literat die Dreyfus-Affäre miterlebt hatte und durch sie entscheidend politisiert worden war, seine Erinnerungen an die Ereignisse zwischen 1897 und 1906. Beschwörung der Schatten ist ein sehr persönlicher Bericht, bei dem Blum bewusst darauf verzichtete, Dokumente zu konsultieren. Seine Erinnerungen geben einen unmittelbaren Eindruck von der – in seinen Worten – „dramatischen Gewalt in der dreyfusistischen Leidenschaft“, die alte Freundschaften zerbrechen und neue, häufig unerwartete entstehen ließ. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus erschienen einige Werke, die keine neuen Erkenntnisse enthielten. Hannah Arendt befasste sich in ihrem politischen Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (englisch 1951, deutsch 1955) im ersten Teil Antisemitismus ausführlich mit der Dreyfus-Affäre. Sie setzte sich dabei mit den historischen Quellen auseinander. Ihre These ist, dass „nahezu jedes größere Ereignis des 20. Jahrhunderts, von der Oktoberrevolution bis zum Ausbruch des Nationalsozialismus, im Frankreich des vorigen Jahrhunderts sich in einigen wesentlichen Konturen bereits abgezeichnet hat, um dort als kurzes, scheinbar folgenloses Spiel – als Tragödie, wie die Kommune, oder als Farce, wie die Dreyfus-Affäre – gleichsam eine Generalprobe zu absolvieren.“ Sie begründete ihr Verständnis von Mob und Elite sowie Paria und Parvenü auch aus den historischen Erfahrungen vor, während und nach der Dreyfus-Affäre in Frankreich und bezog sich dabei unter anderem auf Bernard Lazare. Die Geschichtsschreibung hat erst ab den 1960er Jahren Wesentliches zu Reinachs Dokumentation hinzugefügt. Marcel Thomas, Archivar, Paleontograph und Chefkonservator im französischen Nationalarchiv brachte 1961 mit seinem Werk Affaire sans Dreyfus in zwei Bänden eine völlig neue Sichtweise auf die Geschichte der Affäre, indem er einen vollständigen Überblick über die gesamten Dokumente in den unterschiedlichen Archiven gab, sowohl über veröffentlichte als auch über diejenigen im Privatbesitz. Er befasste sich unter anderem mit der Rolle Walsin-Esterházys und des Nachrichtendienstes. Henri Guillemin brachte im selben Jahr sein Buch Enigme Esterházy (Das Rätsel Esterhazy) heraus. Dem folgte 1983 eine ausführliche Beschreibung der Affäre durch den Juristen Jean-Denis Bredin, der neun Jahre später auch eine Biografie von Bernard Lazare veröffentlichte. Seitdem haben sich Historiker detailliert mit einer Reihe einzelner Aspekte dieser Affäre befasst. Dazu gehört unter anderem das Entstehen einer intellektuellen Schicht, die aktiv in politischen Fragen Position bezieht. Der Begriff „Intellektueller“ wurde erst im Verlauf der Dreyfus-Affäre gebräuchlich, allerdings überwiegend mit einer negativen Konnotation. Die Bezeichnung bezog sich zunächst auf Personen, die angeblich der eigenen Nation illoyal gegenüberstanden. George R. Whytes Werk als Schriftsteller, Komponist und Dramatiker kreist um die Affäre. Er ist Vorsitzender der Dreyfus Society for Human Rights. Sein politisches Hauptwerk ist das mit anderen verfasste Buch The Dreyfus-Affair (2005, deutsche Ausgabe 2010). Der Historiker Andreas Fahrmeir schreibt in einer Rezension 2006, Whyte habe das beste Nachschlagewerk zur Affäre vorgelegt mit Dokumenten, Porträts der beteiligten Personen, Karten und Skizzen, schließlich Reproduktionen von Zeitungen. Andere Untersuchungen beschäftigten sich mit der Frage, inwieweit die vorwiegend antisemitisch geprägten Teile der Anti-Dreyfusarden dem Präfaschismus zuzurechnen sind. Die hundertsten Jahrestage der Verurteilung, Begnadigung und Rehabilitierung von Alfred Dreyfus waren Anlass für zahlreiche Ausstellungen und neue Veröffentlichungen. 2006 erschien die erste Biografie Alfred Dreyfus’ Biographie d’Alfred Dreyfus, l’honneur d’un patriote (Die Ehre eines Patrioten). Das mehr als 1200 Seiten umfassende Werk stammt von Vincent Duclert, der dafür den Prix Jean-Michel Gaillard erhielt. Es folgte 2010 sein Buch L’affaire Dreyfus. Quand la justice éclaire la république (Die Dreyfus-Affäre. Wie die Justiz die Republik aufklärte). Schließlich führte Duclert eine Debatte über das Thema Dreyfus und die Linke, etwa mit Lionel Jospin. Vermittelnd zwischen der eng geführten Debatte um die kriminalistischen Details und der Grundsatzdebatte über Antisemitismus ordnet der amerikanische Sachbuchautor Brown die Dreyfus-Affäre in eine Vielzahl von „Kulturkriegen“ ein, die Kennzeichen jedes gesellschaftlichen Umbruches seien. Die Forschungsdirektorin des französischen CNRS Gisèle Sapiro erweitert die Wirkung der Affäre. Die Demontage und schwindende Akzeptanz des Militärs hätte den Verlauf der Algerien-Krise und damit die Verfassung der Fünften Republik wesentlich mitgeprägt. Literatur Die Dreyfus-Affäre, die über so lange Zeit Frankreich spaltete und auch im übrigen Europa großes Aufsehen erregte, ist in zahlreichen Werken literarisch verarbeitet worden. Émile Zola griff seine Erfahrungen aus der Affäre in einem seiner letzten Romane auf. La Vérité (Die Wahrheit) ist der dritte Band seines Zyklus Quatre Evangiles (Vier Evangelien) und kam erst nach seinem Tod 1903 heraus. Protagonist der Handlung ist ein jüdischer Lehrer, der zu Unrecht beschuldigt wird, seinen Neffen vergewaltigt und ermordet zu haben. Der Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger des Jahres 1921 Anatole France hatte wie Zola zu den Dreyfusarden gehört. In seiner Romantetralogie Histoire contemporaine (Zeitgeschichte) stellen die ersten beiden 1897 erschienenen Bände ein satirisches Sittengemälde der von klerikalen und monarchistischen Kräften beherrschten französischen Provinz dar. Der dritte Band L’Anneau d’Améthyste (Der Amethystring) aus dem Jahr 1899 und vor allem der vierte 1901 veröffentlichte Band Monsieur Bergeret à Paris (Professor Bergeret in Paris) stehen unter dem Eindruck der sich ab Ende 1897 verschärfenden Dreyfus-Affäre. 1908 kam sein Roman L’Île des pingouins (Die Insel der Pinguine) heraus, ein sarkastischer Abriss der französischen Geschichte einschließlich der Dreyfus-Affäre, verschlüsselt dargestellt als die Historie eines fiktiven Pinguin-Reichs, wobei er die Zukunft aufgrund der Habgier und hochmütigen Uneinsichtigkeit der „Pinguine“ sehr pessimistisch beurteilt. Eine anschauliche und eindringliche Verarbeitung des Stoffs findet sich im Roman Jean Barois von Roger Martin du Gard aus dem Jahr 1913; auch er wurde 1937 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Marcel Proust hat die Affäre erstmals in seinem fragmentarisch gebliebenen und stark autobiografisch geprägten Bildungsroman Jean Santeuil aufgegriffen, der 1922 postum veröffentlicht wurde. Proust beschreibt darin unter anderem die fieberhafte Erregung rund um den Zola-Prozess. Auch in seinem Monumentalwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit taucht die Dreyfus-Affäre als Motiv häufig auf und ist Ursache des gesellschaftlichen Auf- bzw. Abstiegs einzelner Protagonisten. 1912 publizierte der französische Schriftsteller und Journalist Jean-Richard Bloch seine Erzählung Lévy, in der er sich unter anderem mit einem Aspekt der Dreyfus-Affäre auseinandersetzte. Er schildert pogromartige Straßenunruhen gegen Juden in einer fiktiven Stadt im Westen Frankreichs nach der Aufdeckung von Major Henrys Fälschung am Abend nach seinem Selbstmord 1898. Franz Kafka erwähnt die Affäre Dreyfus mehrfach in Briefen und Tagebüchern. In seinem Werk, das eine große Bandbreite an Interpretationen zulässt, findet sich unter anderem in den Erzählungen Vor dem Gesetz (1915), In der Strafkolonie (entstanden 1914, veröffentlicht 1919), Der Schlag ans Hoftor (geschrieben 1917, erschienen postum 1931) und Zur Frage der Gesetze von 1920 (ebenfalls 1931 herausgekommen) als Thema ein verborgenes Gesetz, wogegen der jeweilige Protagonist unwillentlich verstößt oder das er nicht erfüllen kann. Der amerikanische Germanist und Historiker Sander L. Gilman schreibt, dass vor allem der Prosatext In der Strafkolonie von Kafkas Verarbeitung der Dreyfus-Affäre geprägt ist. In seinem 2011 erschienenen Roman Der Friedhof in Prag stellt Umberto Eco Verschwörungstheorien im 19. Jahrhundert dar, darunter eine verfremdete Version der Dreyfus-Affäre. Der Thrillerautor Robert Harris verarbeitet 2012/13 die Dreyfus-Affäre in seinem Buch Intrige aus der Sicht des Geheimdienstchefs Marie-Georges Picquart. Astronomie Der Asteroid (6317) Dreyfus wurde 1995 nach der Affäre benannt. Filme und Bühnenwerke Filme (Auswahl): L’Affaire Dreyfus, Georges Méliès, Stummfilm, Frankreich, 1899. Trial of Captain Dreyfus, Stummfilm, USA, 1899 Dreyfus, Richard Oswald, Deutschland, 1930. The Dreyfus Case, F.W. Kraemer, Milton Rosmer, USA, 1931. Das Leben des Emile Zola, Wilhelm Dieterle, mit Paul Muni, USA, 1937. Die Ausstrahlung des mit mehreren Oscars ausgezeichneten Filmes wurde in Frankreich verboten. Weil der französische Premierminister Édouard Daladier der Ansicht war, der Film würde die „Ehre der französischen Armee verletzen“, wurde er von der offiziellen Auswahl für die Filmfestspiele von 1938 in Venedig zurückgezogen. I Accuse!, José Ferrer, England, 1957. Die französische Zensurbehörde erlaubte erst 1959 die vollständige Ausstrahlung dieses Films über die Dreyfus-Affäre. L’Affaire Dreyfus, Jean de Vigne, Frankreich, 1965. Die Kurzdokumentation war für den Schulgebrauch vorgesehen. Die Affaire Dreyfus, Franz Josef Wild, TV-Spielfilm in drei Teilen, ZDF, Deutschland, 1968. ...trotzdem, Karl Fruchtmann, Deutschland 1989. Gefangene der Teufelsinsel, Ken Russell, USA, 1991. Die Affäre Dreyfus, Yves Boisset, Frankreich, 1995. Nach dem Buch L’Affaire von Jean-Denis Bredin. Intrige, Roman Polański, Frankreich, 2019. Bühnenwerke (Auswahl): Die Affäre Dreyfus, Theaterstück von René Kestner (Pseudonym von Wilhelm Herzog und Hans José Rehfisch), Uraufführung am 25. November 1929 an der Berliner Volksbühne. Erste Aufführung in Paris 1931; wegen Tumulten seitens der Action Francaise wurde das Stück alsbald abgesetzt. Die Dreyfus-Trilogie (George Whyte in Zusammenarbeit mit Jost Meier, Alfred Schnittke und Luciano Berio) umfasst: Dreyfus – Die Affäre. Oper in 2 Akten, Deutsche Oper Berlin, 8. Mai 1994; Theater Basel, 16. Oktober 1994. The Dreyfus Affair. New York City Opera, 2. April 1996. Dreyfus-J’Accuse. Tanzdrama, Oper der Stadt Bonn, 4. September 1994; Fernsehen: Schweden STV1, Slowenien RTV, SLO, Finnland YLE. Zorn und Schande. Musikalische Satire, Arte, April 1994 (Rage et Outrage. Arte, April 1994 – Rage and Outrage. Channel 4, Mai 1994). My Burning Protest. George Whyte, Monolog für Sprecher und Schlagzeug, 1996. Dreyfus in Oper und Ballet/Die Odyssee von George Whyte. Deutsch/Englisch, September 1995, WDR, Schweden STV1, Ungarn MTV und Finnland YLE. Literatur Hannah Arendt: Die Dreyfus-Affäre und folgende Kapitel. In: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. (Englisch 1951, deutsch 1955), Piper, München 2005, ISBN 3-492-21032-5, S. 212–272. Maurice Barrès: Scènes et doctrines du nationalisme. Éditions du Trident, Paris 1987, ISBN 2-87690-040-8. Louis Begley: Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt 2009, ISBN 978-3-518-42062-1. Léon Blum: Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus. Aus dem Französischen mit einer Einleitung und mit Anmerkung von Joachim Kalka. Berenberg, Berlin 2005, ISBN 3-937834-07-9. Jean-Denis Bredin: The Affair: The Case of Alfred Dreyfus. George Braziller, New York 1986, ISBN 0-8076-1109-3. Walter Brendel: Zola und die Dreyfus-Affäre. Ein Schriftsteller begehrt auf! Kindle 2022. James Brennan: The Reflection of the Dreyfus Affair in the European Press, 1897–1899. Peter Lang, New York 1998, ISBN 0-8204-3844-8. Frederick Brown: For the Soul of France. Culture Wars in the Age of Dreyfus. Penguin, Toronto 2011. Leslie Derfler: The Dreyfus Affair. Greenwood Press, Westport, CT 2002, ISBN 0-313-31791-7. Alfred Dreyfus: Fünf Jahre meines Lebens. Erinnerungen 1894–1899. Comino, Berlin 2019, ISBN 978-3-945831-17-5. Vincent Duclert: L’affaire Dreyfus. Découverte, Paris 2006 (1. Auflage 1994). Deutsche Ausgabe: Die Dreyfusaffäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß. Wagenbach, Berlin 1994, ISBN 3-8031-2239-2. Biographie d’Alfred Dreyfus, l’honneur d’un patriote. Fayard, Paris 2006, ISBN 2-213-62795-9. 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Jahrhundert) Französische Militärgeschichte Konflikt 1894 Namensgeber (Asteroid)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bordeaux%20%28Weinbaugebiet%29
Bordeaux (Weinbaugebiet)
Das Weinbaugebiet Bordeaux, auf Französisch Bordelais, ist das größte zusammenhängende Anbaugebiet der Welt für Qualitätswein. Es gibt etwa 3000 Château genannte Weingüter, die die weltberühmten Weine erzeugen. Ein differenziertes System subregionaler und kommunaler Appellationen und Klassifikationen schafft unter ihnen eine qualitative Hierarchie. Die einzelnen Lagen spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Ihre Stelle nimmt das Château ein, zu dem sie gehören. Typisch sind die trockenen, langlebigen Rotweine, die im Médoc fruchtiger und in Saint-Émilion und Pomerol sanfter und voller ausfallen. Knapp 20 % der Produktion entfällt auf Weißwein. Dessen Spitze stellen die edelsüßen Sauternes und Barsac dar. Die charaktervollsten trockenen Weißweine stammen aus dem Bereich Graves südöstlich von Bordeaux. Seit 1991 gibt es auch eine Appellation für Schaumwein, den Crémant de Bordeaux. Im Jahr 2019 wurden von 5660 Winzern auf 110.800 Hektar Anbaufläche insgesamt 5 Millionen Hektoliter Qualitätswein erzeugt. Von der gesamten Anbaufläche sind 25000 Hektar einem geprüften biologischen Anbau ohne chemische Dünger- und Pflanzenschutzmittel gewidmet. Geografie, Boden und Klima Das Weinbaugebiet von Bordeaux umfasst die für den Qualitätsweinbau geeigneten Lagen des in Südwestfrankreich gelegenen Départements Gironde. Es liegt im Mündungsgebiet der Flüsse Garonne und Dordogne auf dem 45. nördlichen Breitengrad. Die Region lässt sich in fünf deutlich unterschiedliche Gebiete einteilen: Das Médoc beginnt nördlich von Bordeaux und zieht sich über 70 km auf dem linken Ufer der Gironde. Die Graves beginnen südlich von Bordeaux und nehmen das südliche Ufer der Garonne ein. Das Entre-Deux-Mers ist das Hügelland zwischen Garonne und Dordogne. Das Libournais bezeichnet die Umgebung der Stadt Libourne auf dem rechten Ufer der Dordogne. Nordwestlich davon liegen Blayais und Bourgeais nördlich des Zusammenflusses von Dordogne und Garonne. Zusammenfassend werden Médoc und Graves auch als „Linkes Ufer“ und das Libournais als „Rechtes Ufer“ bezeichnet. Die Landschaft des Bordelais ruht auf einem riesigen Kalksteinsockel aus dem Tertiär. Dieser tritt allerdings nicht überall zutage, sondern ist zumeist von eiszeitlichen Ablagerungen aus Sand und Kies bedeckt. Sie wurden von den Flüssen Isle, Dordogne und Garonne herangetragen. Im Médoc können sie mehrere Meter dick werden. Diese Kiessandkuppen ermöglichen eine tiefe Einwurzelung der Reben bei hervorragendem Wasserabzug. Auf ihnen wachsen daher die meisten Spitzenweine, die Grands Crus. Die tieferen Böden in unmittelbarer Lage der Flüsse (Palus) sind dagegen für den Qualitätsweinbau ungeeignet. Im Libournais sind die Verhältnisse komplizierter. In Saint-Émilion bietet das Kalkplateau ebenfalls hervorragende Bedingungen für die Reben. Andere Spitzengewächse wachsen dort auf Molasse, im benachbarten Pomerol teilweise auf Kiessand, aber auch auf Lehmböden. Bemerkenswerterweise gibt es auch einige Spitzenweine, die auf durchfeuchteten Böden stehen. Dies trifft für einige Châteaus von Pomerol, Graves und Sauternes zu. Der nahe Atlantik sorgt für ein mildes, ausgeglichenes Klima ohne extreme Temperaturschwankungen. Die großen Wasserläufe und das ausgedehnte Waldgebiet der Landes üben zusätzlich eine ausgleichende Funktion aus. Die unterschiedlichen Standorte (Hanglage und Geländebeschaffenheit) allerdings schaffen viele Bereiche mit eigenem Mikroklima. Charakteristisch sind in der Regel frostfreie Winter, feuchte Frühjahrsmonate und sonnige Sommer von Juli bis Oktober. Die mittlere Sonnenscheindauer pro Jahr beträgt ca. 2.000 Stunden bei einer Niederschlagsmenge von ca. 900 mm. Das Wetter variiert jedoch von Jahr zu Jahr sehr stark, so dass die Qualität der Jahrgänge sehr unterschiedlich ausfällt. Damit ein großer Jahrgang entstehen kann, müssen in der Vegetationsperiode vom 1. April bis zum 30. September folgende Voraussetzungen erfüllt werden: Summe der Durchschnittstemperaturen mindestens 3100 °C Mindestens 15 Hitzetage (Maximaltemperatur über 30 °C) Niederschlagsmenge zwischen 250 und 350 mm Mindestens 1250 Stunden Sonnenscheindauer. Da sich die Weinlese häufig bis weit in den Herbst hineinzieht, spielt auch das Wetter im Oktober noch eine wichtige Rolle für die Qualität eines Jahrgangs. Seit dem Jahr 2017 wird die Region von Spätfrösten im Frühjahr heimgesucht. Durch die Veränderung der Vegetationsperiode in Folge der Klimaveränderung treiben die Weinstöcke früher aus und sind somit dem erhöhten Risiko des Spätfrosts mit entsprechenden Frostschäden ausgesetzt. Rebsorten 89 % der Rebfläche sind mit roten Rebsorten, 11 % mit weißen Rebsorten bestockt. Bordeaux-Weine sind typischerweise Cuvées mehrerer einzeln vinifizierter Parzellen und Rebsorten. Die kunstvolle Assemblage der verschiedenen Partien dient dazu, den spezifischen Charakter des Terroirs und den Weinstil des Châteaus hervorzuheben. In aller Regel sind es mindestens zwei Rebsorten mit variierender Zusammensetzung je nach Witterungsverlauf eines Jahres, oft auch drei bis fünf, die in einen Wein eingehen. Die Rebsorten werden auf dem Etikett eines Bordeaux zwar niemals genannt, dennoch verdankt der Wein seinen Ruf nicht zuletzt dem nahezu ausschließlichen Anbau von Sorten mit hohem Qualitätspotenzial. Der Rotwein von Bordeaux wird vorwiegend aus zwei Rebsorten gewonnen: Merlot (66 %) und Cabernet Sauvignon (22 %); Stand 2019. Eine Nebenrolle spielen Cabernet Franc (9 %), Petit Verdot und Malbec. Die Carménère, von der die Cabernet-Sorten und der Merlot vermutlich abstammen, ist hingegen nach der Reblauskrise weitgehend verschwunden. Meistangebaute weiße Sorte ist der Sémillon (46 %), der diese Position seiner hervorragenden Eignung zur Erzeugung edelsüßer Weine verdankt. Trockener Weißwein wird vorwiegend aus Sauvignon Blanc (46 %) gekeltert, es gibt aber auch Cuvées, in denen der Sémillon dominiert. Daneben spielen noch Muscadelle, Ugni Blanc und Colombard eine Rolle, in Spitzengewächsen allerdings nur die erstgenannte dieser drei Sorten. Seit 2021 sind sechs neue Rebsorten zugelassen worden, um für die Folgen der globalen Erwärmung im Weinbau gerüstet zu sein. Die Winzer dürfen im Bordeaux bis zu fünf Prozent der Anbaufläche (5000 Hektar) mit den neuen Rebsorten bepflanzen. Appellationen Hierarchie der Appellation In Bordeaux gibt es ein stark ausdifferenziertes System von über 50 Appellationen (AOC; Appellation d’Origine Contrôlée ist ein Schutzsiegel für die kontrollierte Herkunft). Etwas vergröbert lassen sich drei Stufen unterscheiden, die eine deutliche Hierarchie zum Ausdruck bringen. Dabei gilt die folgende Regel: Je kleiner das Gebiet ist, auf das sich die Appellation bezieht, desto höher sind Qualität, Ansehen und Preisniveau der jeweiligen Weine. Die regionalen Appellationen Bordeaux und Bordeaux Supérieur gelten für das gesamte Département Gironde und bilden mit rund 57 % der Gesamtproduktion die Basis. Darüber stehen die subregionalen Appellationen, die jeweils nur Teilbereiche des Gebietes umfassen: Médoc für Rotweine des gesamten Médoc, Haut-Médoc für den höher gelegenen südlichen Teil, Graves für Rot- und Weißweine des Bereiches südlich von Garonne und Bordeaux, Entre-Deux-Mers für trockene Weißweine und schließlich die überwiegend auf dem rechten Ufer der Dordogne gelegenen Côtes de Bordeaux: Côtes de Bourg, Côtes de Blaye, Premières Côtes de Bordeaux, Côtes de Bordeaux-Saint-Macaire, Côtes de Castillon und Côtes-de-Francs. Sie stehen für gut 27 % der Bordeauxweine. Die Spitze bilden die kommunalen Appellationen, die sich jeweils nur auf eine einzige oder wenige benachbarte Gemeinden beziehen. Aus diesen stammen auch die berühmtesten und teuersten Weine. Ausschließlich für Rotwein gelten Margaux, Moulis, Listrac, Saint-Julien, Pauillac, Saint-Estèphe im Médoc sowie Saint-Émilion (Saint-Émilion und Saint-Émilion Grand Cru) und Pomerol mit ihren „Satelliten“ Montagne-Saint-Émilion, Lussac-Saint-Émilion, Puisseguin-Saint-Émilion, Saint-Georges-Saint-Émilion, Lalande-de-Pomerol, Fronsac und Canon-Fronsac im Libournais. In Pessac-Léognan unmittelbar südlich von Bordeaux werden Rot- und Weißwein erzeugt, während Sauternes, Barsac und Cérons südlich der Garonne sowie Cadillac, Loupiac, Sainte-Croix-du-Mont und Sainte-Foy-Bordeaux nördlich des Flusses für edelsüße Weißweine gelten. Auf die kommunalen Appellationen entfallen knapp 16 % der Gesamtproduktion. Bei den kommunalen Appellationen ist es keine Pflicht, dass alle Weinberge auf dem Gebiet der jeweiligen Gemeinde stehen. Es dürfen auch Trauben benachbarter, aber gleichwertiger Gemeinden verwendet werden. Der Wein darf aber stets nur unter dem Namen einer Appellation verkauft werden. So besitzen Güter aus Pauillac auch Weinberge in der Nachbargemeinde Saint-Julien. Prinzipiell darf Wein aus einer ausgezeichneten Gemeinde natürlich auch unter einer subregionalen Appellation oder als „Bordeaux“ verkauft werden. Aufgrund des höheren Marktwertes wird jeder Winzer seinen Wein jedoch nach Möglichkeit unter der höherrangigen Appellation abfüllen, sofern die strengeren Bedingungen auch erfüllt werden. Das Château d’Arsac produziert daher sowohl einen Margaux als auch einen Haut-Médoc. Letzterer stammt aus den Weinbergen außerhalb des Gebietes der AOC Margaux. Gilt eine Appellation ausschließlich für Weiß- oder Rotwein, so darf anderer Wein nur unter der für ihn zugelassenen subregionalen oder regionalen Bezeichnung verkauft werden. So sind die roten Weine der Gemeinden Barsac und Sauternes mit ihren edelsüßen Spitzengewächsen lediglich „Graves“, und der sehr hochwertige weiße Pavillon Blanc des berühmten Château Margaux ist sogar nur ein „Bordeaux“. Bordeaux und Bordeaux Supérieur Mehr als die Hälfte der Produktion von Bordeaux entfällt auf die regionalen Appellationen Bordeaux und Bordeaux Supérieur, bei trockenem Weißwein liegt der Anteil sogar über 72 %. Hier sind die formalen Anforderungen am niedrigsten. Zugelassen sind alle für den Qualitätsweinbau geeigneten Lagen des Départements Gironde. Ausgeschlossen sind lediglich feuchte Moorböden und das Überschwemmungsgebiet der Flüsse. Der zugelassene Basisertrag beträgt für weißen Bordeaux 65 Hektoliter pro Hektar, für Rot- und Roséwein 55. Die Pflanzdichte muss seit 1974 lediglich niedrige 2.000 Stöcke je Hektar betragen. Diese Pflanzdichte ermöglicht eine Lenz-Moser-Erziehung der Rebstöcke und somit eine einfache mechanisierte Bearbeitung der Rebfläche. Als Rebsorten sind für Rotwein Merlot, Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc, Carménère, Malbec und Petit Verdot zugelassen. In der Praxis sind nur die ersten drei von Bedeutung, wobei der Merlot den größten Anteil hat. Der Mindestalkoholgehalt muss 10 Vol.-% betragen, wobei der Most einen Zuckergehalt von mindestens 178 g/l aufweisen muss. Die regionale AOC sieht zwei verschiedene Arten von Roséwein vor. Neben dem klassischen Bordeaux Rosé gibt es als regionale Spezialität den Bordeaux Clairet, einen hellroten, leichten Rotwein. Für Weißwein sind Sémillon, Sauvignon Blanc und Muscadelle als Hauptrebsorten sowie Merlot Blanc, Colombard, Mauzac, Ondenc und Ugni Blanc als komplementäre Sorten mit einem Maximalanteil von 30 % erlaubt. Im trockenen Weißwein dominiert zumeist der Sauvignon, die komplementären Sorten spielen heute kaum noch eine Rolle. Beträgt der Restzuckergehalt weniger als 4 g/l, so ist der Zusatz Sec obligatorisch. Die Produktion von weißem Bordeaux AOC ist seit Mitte der 1970er Jahre im Rückgang begriffen, die Menge sank von 783.000 hl im Jahr 1992 auf 400.700 hl im Jahr 2002. Dagegen stieg im gleichen Zeitraum die Rotweinerzeugung von 2,6 auf rund 2,85 Millionen Hektoliter. Formal höheren Anforderungen muss der Bordeaux supérieur genügen. Faktisch wird die Appellation vor allem für kräftige, lagerfähige Rotweine verwendet, während roter Bordeaux AOC eher fruchtbetont und jung zu trinken ist. Der Basisertrag ist auf 40 hl/ha festgelegt, dazu kommen dann die jahrgangsabhängigen Zuschläge. Der Mindestalkoholgehalt des Rotweines muss 10,5 Vol.-% betragen, Weißwein sogar 11,5 Vol.-% aufweisen bei mindestens 212 g/l Zuckergehalt des Mostes. Weißer Bordeaux supérieur ist ein Wein mit unvergorenem Restzuckergehalt, wird allerdings nur noch auf ca. 50 Hektar (Stand 2003) produziert. Der regionalen Appellation zuzurechnen sind auch die unter den Bezeichnungen Bordeaux Haut-Benauge (nur für Weißwein) und Bordeaux Côtes de Francs (für Weiß- und Rotwein) vermarkteten Weine. Sie dürfen nur in den jeweils dafür zugelassenen Gemeinden erzeugt werden. Das Haut-Benauge liegt im südlichen Teil des Entre-Deux-Mers, östlich der Premières Côtes. In Abgrenzung zum Entre-Deux-Mers Haut-Benauge muss der Bordeaux Haut-Benauge ein höheres Mostgewicht besitzen und nicht trocken ausgebaut sein. Die Bedeutung in der Praxis ist allerdings gering. Eine nennenswerte Produktionsmenge weisen dagegen die Côtes de Francs auf. Das relativ kleine Gebiet (536 ha) liegt im Osten des Libournais an der Grenze zum Département Dordogne. Hier sind die Anforderungen mit Ertragsgrenzen von 50 hl/ha und Mindestalkoholgehalt von 11 Vol.-% für Rotwein höher. Für trockenen Weißwein müssen sogar 11,5 Vol.-% erreicht werden, und auch süße Weißweine sind in der Appellation vorgesehen. Die Produktion konzentriert sich allerdings auf Rotweine, von denen 2002 22.781 hl erzeugt wurden, während dem nur 284 hl Weißwein gegenüberstehen. Das Libournais Das Gebiet von Libournais umfasst einen Großteil der sogenannten rechten Bank. Die Weinberge des Libournais werden von zwei Flüssen, Isle und Barbanne, durchquert. Libournais appelation Saint-Emilion AOC Saint-Emilion Grand Cru AOC Montagne-Saint-Emilion AOC Puisseguin-Saint-Emilion AOC Lussac-Saint-Emilion AOC Saint-Georges-Saint-Emilion AOC Pomerol AOC Lalande-de-Pomerol AOC Canon-Fronsac AOC Fronsac AOC Castillon – Côtes-de-Bordeaux AOC Francs – Côtes-de-Bordeaux AOC Bordeaux-Weine und ihr Verkauf Marken- und Château-Weine Grundsätzlich gibt es zwei Sorten Weine in Bordeaux: Marken- und Gutsweine (Château-Weine). Markenweine werden von Weinhändlern aus für passend befundenen Partien Fasswein zusammengestellt. 2019 gab es 77 Weinkommissionäre, französisch courtiers, die hierbei eine bedeutende Rolle spielen. Das Ziel dabei ist, einer breiten Kundschaft eine für die jeweilige Appellation repräsentative, qualitativ zuverlässige Cuvée anzubieten. Bekannte Marken sind Mouton-Cadet oder Michel Lynch. Ferner fallen in diese Kategorie die meisten Weine der Genossenschaften, etwa La Rose Pauillac, Marquis de Saint-Estèphe oder Grand Listrac. Château-Weine stammen dagegen aus Trauben eines einzigen Gutsbesitzes. Das Château muss kein (Schloss-)Gebäude besitzen, seine Bezeichnung muss sich aber wenigstens aus einem Flurnamen herleiten. Bereitet werden kann der Wein auch in einem benachbarten Gut oder in einer Genossenschaftskellerei. Der Ruf des Châteaus spielt bei der Beurteilung eines Bordeauxweines eine ebenso große Rolle wie die Appellation, aus der er stammt. Eine wichtige Verkaufsvereinigung ist die für die Grand Crus zuständige Union des Grands Crus de Bordeaux. Crus und ihre Hierarchie Ein Château erzeugt einen einzigen repräsentativen Wein, den Grand Vin. Dieser bildet den Cru, das Gewächs. Diese französische Bezeichnung, die in anderen Regionen für die Einzellage steht, ist in Bordeaux auf das Château selbst übergegangen. Die relative Homogenität der Terroirs innerhalb der Appellationen – verglichen etwa mit den extrem kleinteiligen Climats des Burgund – verhinderte die Ausdifferenzierung verschiedener Lagen. Dazu kommt, dass die besten Parzellen teilweise seit Jahrhunderten in demselben Besitz sind. Partien, die den Ansprüchen des Erzeugers nicht genügen, werden als Zweitwein unter einem anderen Etikett vermarktet. Manche Châteaus erzeugen sogar Drittweine. Die systematische Anlage der großen Médoc-Châteaus als Wirtschaftsbetriebe und die allgemeine Ausrichtung von Bordeaux auf Exportmärkte ließen die Weine schon früh zu internationalen Markenartikeln werden. Schnell bildeten sich aufgrund der unterschiedlichen Qualitäten und Marktwerte inoffizielle Hierarchien unter den Weinen. Im Jahr 1855 wurde dann anhand langjährig erzielter Verkaufspreise eine offizielle Klassifikation der Rotweine des Médoc und der Süßweine von Barsac-Sauternes erstellt. Ursprünglich war vorgesehen, diese Einteilung in Abständen zu überprüfen und zu erweitern. Tatsächlich gab es aber seither nur eine einzige Revision, den Aufstieg von Château Mouton-Rothschild von der zweiten in die erste Klasse im Jahr 1973. 1955 erfolgte die erste Klassifikation der Güter von Saint-Émilion, die als einzige regelmäßig überprüft wird. 1959 wurden auch die Rot- und Weißweine der Region Graves klassifiziert. Somit bleibt Pomerol die einzige Spitzen-Appellation ohne Klassifikation. Die klassifizierten Château-Weine dürfen sich mit dem Prädikat Grand Cru Classé (Großes Gewächs) schmücken. (Details hierzu siehe Klassifikation der Bordeaux-Weine) Im Médoc gibt es mit den Crus Bourgeois (Bürgerliche Gewächse) eine weitere Klasse, die seit 2003 wiederum in Crus Bourgeois Exceptionnels, Crus Bourgeois Supérieurs und Crus Bourgeois gegliedert ist. Schließlich folgen noch die Crus Artisans, eine seit 150 Jahren existierende Bezeichnung, die seit 1989 von einer Erzeugergemeinschaft wiederbelebt wurde. Prädikate wie „Grand Cru Classé“ oder „Cru Bourgeois“ sind bares Geld wert, denn der Verkaufspreis des Weines steigt dadurch – vor allem auf dem Inlandsmarkt – um bis zu 30 %. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass ausgeschlossene bzw. herabgestufte Châteaus vor die Verwaltungsgerichte zogen. Im Jahr 2007 haben sie sowohl die Klassifizierung der Crus Bourgeois als auch die Revision derjenigen von Saint-Émilion zu Fall gebracht. Die Klassifikationen markieren zwar die Oberklasse von Bordeaux, können aber keineswegs als alleiniges Kriterium für Spitzenweine gelten. Güter, die zu klein oder qualitativ in der Krise waren, fanden 1855 keine Berücksichtigung. Zahlreiche Crus Bourgeois stehen den Crus Classés heute an Qualität und Konstanz kaum nach. Dasselbe trifft auf manche Zweitweine führender Güter zu. Definitiv durcheinandergewirbelt wurde die Hierarchie durch die in den 1990er Jahren aufgekommenen Garagenweine. Sie zeichnen sich typischerweise durch hohe Konzentration aus, zum einen durch starke Selektion des Traubengutes, zum anderen durch extremen Einsatz neuer Barriquefässer. Der Terroirgedanke gerät dabei in den Hintergrund. Ob sich diese häufig durch starkes Medieninteresse und spekulative Preissprünge gekennzeichneten Gewächse dauerhaft in der Spitzengruppe etablieren können, muss die Zukunft zeigen. Auf die Grands Crus und die ihnen gleichgestellten Gewächse konzentriert sich zwar die Aufmerksamkeit der Weinwelt, auf sie entfallen jedoch nur geschätzte 4,5 % der Produktion von Bordeaux. Weitere 5 % erzeugen die Crus Bourgeois des Médoc. Weinhandel Bordeaux produzierte von jeher überwiegend für den nationalen Markt und Exportmärkte. Die großen Produktionsmengen der Châteaus verlangen ein leistungsfähiges Vertriebssystem. Dies stellen die zumeist in Bordeaux oder Libourne ansässigen Weinhändler (Négociants). Zwischen ihnen und den Châteaus vermitteln wiederum Makler (Courtiers). Der heutige Markt für Bordeauxwein teilt sich in drei Segmente: Der traditionelle Flaschenabsatz über Wein- und Lebensmittelfachhandel, Versandhandel und zunehmend (gerade auch in Frankreich selbst) über Verbrauchermärkte ist der wichtigste Absatzkanal. Selbst Großabnehmer wie Handelsketten beziehen ihre Flaschen dabei überwiegend von den Négociants in Bordeaux und nicht direkt von den Erzeugern. Der Direktverkauf an Endkunden spielt für die Châteaus in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. Die berühmtesten Weine, die Grands Crus, werden sehr selten nur ab Château verkauft, und dann nicht selten zu „touristischen“, überhöhten Preisen. Der Verkauf per Subskription hat sich seit den 1980er Jahren zum Hauptvertriebsweg für die Grands Crus entwickelt. Sie verkaufen mitunter ihren kompletten Jahrgang im auf die Lese folgenden Frühjahr an die Négociants. Der Wein ist dann noch im Fass und wird erst nach der Abfüllung über ein Jahr später ausgeliefert, die Erzeuger bekommen jedoch sofort Geld in die Kasse. Die Händler bieten ihren Kunden wiederum die Möglichkeit zur Subskription an. Diese empfiehlt sich vor allem bei kleineren Châteaus, die später im Handel kaum zu finden sind, und zum Bezug von Flaschen-Sonderformaten. Der Preisvorteil gegenüber dem Kauf nach Abfüllung hat sich hingegen in den letzten Jahren weitgehend eingeebnet. Bereits seit zwei Jahrhunderten existiert ein Sekundärmarkt für ältere Bordeauxweine. Da die großen Châteaus in der Regel mehrere hunderttausend Flaschen pro Jahr erzeugen, ist dieser Markt liquide und transparent. Der Kauf in Auktionen kann sogar erheblich günstiger sein als die Subskription und bietet die Möglichkeit, den Keller mit herangereiften Bordeauxweinen zu füllen. Ältere Weine unterliegen zudem in geringerem Maße der Spekulation. Preiszyklen Die Preise der jeweils neu auf den Markt kommenden großen Bordeauxweine unterliegen von Jahrgang zu Jahrgang vergleichsweise starken Schwankungen. Diese entstehen zum einen auf der Angebotsseite, da die Qualität der Jahrgänge und die Produktionsmengen sehr unterschiedlich ausfallen können. Dazu kommen die Bewegungen auf der Nachfrageseite. Die Bordeaux-Notierungen spiegeln ebenso die Konjunktur wider wie die Fluktuationen des Dollarkurses. So gab es im Zuge der Dollarhaussen 1983 bis 1985 und 1997 bis 2000 starke Steigerungen, während die Rezessionen 1990 und 2001 die Preise fallen ließen. Dazu kommen spekulative, teilweise durch überschwängliche Berichterstattung angefachte Bewegungen wie beim Jahrgang 2000. Auch die ab Mitte 2006 stattfindende Subskription für den Jahrgang 2005 zeigte für die berühmten Top-Châteaus enorme Ausschläge nach oben – bei einer für die Masse der Erzeuger wirtschaftlich angespannten Marktsituation. Nach einer Beruhigung in den nachfolgenden Jahren dürfte der 2009er neue Preisrekorde bringen. Darauf deutet zumindest die jüngste Entwicklung des internationalen Weinpreisindex Liv-ex 100, der von den Spitzenbordeaux dominiert wird, hin. Geschichte Die Geschichte des Bordeaux demonstriert exemplarisch, dass Spitzenweine nicht zuletzt das Produkt sozioökonomischer Entwicklungen sind. Den roten Faden bilden die Bedeutung der Stadt Bordeaux als Handelsplatz und die Nachfrage Englands nach hochwertigen französischen Weinen. Antike und Mittelalter Bereits in der frührömischen Zeit nahm der Hafen des antiken „Burdigala“ gemäß Strabon eine zentrale Rolle im Weinhandel ein – nicht zuletzt mit dem römischen Britannien. Der Wein selbst stammte jedoch aus dem „Haut Pays“, dem südwestfranzösischen Oberland (→Sud-Ouest). Die ersten Weinberge des Bordelais wurden wohl ab dem Jahr 56 n. Christus mit dem Einsetzen der Pax Romana bis zur Amtszeit von Kaiser Probus gepflanzt. Sowohl Plinius der Ältere als auch Columella berichteten von erfolgreichen Anpflanzungen mit Reben namens Biturica, die aus der spanischen Region Navarra kamen. Diese ersten nicht-mediterranen Rebanlagen der Römer dienten weiterhin der Belieferung von im heutigen England und Irland stationierten Legionen. Mit Sicherheit standen Reben in Saint-Émilion, wo sich eine der Villen des Dichters Ausonius befand. Nach einem Niedergang in der Völkerwanderungszeit mit dem Einfall der Barbaren und Normannen wurde der Weinbau nur noch in katholischen Gemeinden zur Feier der heiligen Messe aufrechterhalten. Als die Mauren im 8. Jahrhundert Spanien besetzten, ließen sie alle Reben roden und behielten nur noch die Tafeltrauben. In der Folge konnte sich das Weinbaugebiet kurzzeitig als Rotweinlieferant der Städte Córdoba, Sevilla und Valencia etablieren, wodurch sich Weinbau und -handel im Mittelalter wieder belebten. Die Stadt Bordeaux hatte dabei den strategischen Vorteil, über See ungehindert die Märkte Nord- und Westeuropas beliefern zu können. Problematisch war jedoch für die Rotweinregion Bordeaux, dass in Nordeuropa Weißweine begehrter waren. Schiffe, die in La Rochelle Salz luden, hatten dort auch die Möglichkeit, Weißweine des Loire-Gebietes zu laden. Einen großen Schub erhielt Bordeaux im Jahr 1152: Durch die Heirat von Henry Plantagenet, des späteren Königs Heinrich II. von England, mit Eleonore, der Erbin von Aquitanien, geriet ein großer Teil Westfrankreichs unter britische Herrschaft. Ihr Sohn, der britische König Richard I., hielt häufig in Bordeaux Hof. Sein Bruder und Nachfolger John schloss mit den Bürgern von Bordeaux ein Abkommen, das ihnen als Gegenleistung für die Stellung von Kriegsschiffen Steuervergünstigungen einräumte. Die Rückeroberung von La Rochelle durch den König von Frankreich 1224 brachte Bordeaux schließlich sogar eine Monopolstellung im Weinhandel mit England ein. Im Jahr 1300 bestand die Bordelaiser Weinflotte aus 900 Schiffen. Im Durchschnitt des 14. Jahrhunderts exportierte sie jährlich 800.000 hl Wein, davon stets mindestens die Hälfte nach England. Die Rebfläche von Bordeaux betrug damals schätzungsweise 100.000 Hektar. Der Hundertjährige Krieg brachte 1453 zwar die Rückkehr Aquitaniens zu Frankreich, der französische König bestätigte aber die Privilegien Bordeaux’. Besonders wichtig war das Recht, den Wein des Haut Pays erst auf den Markt zu lassen, wenn der eigene Wein verkauft war. Fasswein war wenig haltbar und diente dem unmittelbaren Konsum. Der Bordeaux war damals eher hellrot. Aus dem französischen Wort „Clairet“ entstand die englische Bezeichnung Claret für Bordeauxwein. Die kräftigeren Weine von Cahors und Gaillac dienten zum Aufbessern des schwächlichen Bordeaux. Die Privilegien Bordeaux’ (le privilège des vins) wurden in der Folge von den französischen Königen bestätigt: Ludwig XI. im Jahr 1462 Karl VIII. im Oktober 1483 Ludwig XII. im Juli 1498 Heinrich II. am 28. Juni 1551 Karl IX., 1561 Heinrich III. im Juli 1583 Heinrich IV. im Oktober 1602 Ludwig XIII. im Juni 1610 Ludwig XIV. im September 1643 Ludwig XV. im Mai 1716 Erst ein Edikt von Ludwig XVI. vom April 1776 sowie ein Gesetz vom 4. August 1789 hoben diese Privilegien auf. Neuzeit Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde entdeckt, wie sich der Fasswein durch Schwefeln haltbar machen ließ. Die Bordelaiser Weinhändler entwickelten schnell die Kunst des Fassausbaus, und die Abfüllung in Flaschen brachte einen weiteren Qualitätssprung. Im 18. Jahrhundert verschob sich die britische Nachfrage zunehmend auf die feineren Weine, während für die Durchschnittsware andere Märkte wie die Niederlande und die Kolonien an Bedeutung gewannen. Als das Médoc trockengelegt und urbar gemacht wurde, zeigte sich sein Potenzial zur Erzeugung feiner Weine, und die Bordelaiser Handelsbourgeoisie investierte dort in eigene große Güter. Ihre Namen schmücken noch heute die Etiketten großer Weine, beispielsweise Ségur (Château Calon-Ségur), Brane (Château Brane-Cantenac) oder Pichon (Château Pichon-Longueville). Der erste Château-Wein im heutigen Sinne war der Haut-Brion, über dessen Genuss bereits 1663 der für sein posthum veröffentlichtes persönliches Tagebuch bekannte britische Marinebeamte Samuel Pepys berichtete. Da der Gutsbesitz in Bordeaux eine bürgerliche Domäne war, überstanden die Güter die Zeit der Französischen Revolution ohne große Enteignungen und Zersplitterungen. Diese Kontinuität ist auch eine Ursache dafür, dass der Begriff der Lage in Bordeaux keine Rolle spielt. Die Lagen wurden stets mit dem Château identifiziert, zu dem sie gehören. Im 19. Jahrhundert erlebte das Bordelais, vor allem das Médoc, seine erste große Blütezeit. Von ihr zeugen die vielen klassizistischen und historistischen Schlossbauten, die in dieser Zeit in den Weingütern errichtet wurden. Einen Höhepunkt markiert die anlässlich der Weltausstellung von 1855 vorgenommene Klassifizierung der Weingüter des Médoc und von Sauternes-Barsac. Sie fixierte die Hierarchie der führenden Châteaus und verlieh ihnen eine weltweite, bis heute nachwirkende Sonderstellung. In den 1860er und 70er Jahren kam es zu einer regelrechten Spekulationswelle um die Weingüter. Baron James Mayer Rothschild, damals reichster Mann Frankreichs, kaufte sich 1868 für die Rekordsumme von 4,4 Mio. Goldfranc das Château Lafite. Ein Ende bereiteten ihr die ab 1870 durch Mehltau und Reblaus verursachten Verheerungen. Gegen den Mehltau wurde recht schnell ein Gegenmittel gefunden, die Bordeauxbrühe. Die Reblaus erforderte dagegen die Neuanlage aller Weinberge mit resistenten Pfropfreben. Mitunter griffen sogar renommierte Châteaus auf Hybridreben zurück. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Bordelaiser Weinbau in die Krise geraten. 20. Jahrhundert Den Ertragsausfällen im Zuge der Reblauskrise und dem Mangel an kraftvollen Weinen, da aus jungen Rebanlagen, begegnete der Bordelaiser Handel teilweise mit zweifelhaften Methoden. Die Panschereien hatten einen starken Preisverfall zur Folge. Um den beschädigten Ruf wiederherzustellen, wurde 1911 ein erstes Gesetz verabschiedet, das die Herkunftsgebiete eingrenzte. Seither muss ein Bordeaux aus dem Département Gironde stammen. Dies wurde dann 1936 mit der Einführung der Appellation d’Origine Contrôlée bestätigt. Die Selbstorganisation der Erzeuger war ein weiterer Schritt. In den 1930er Jahren wurden zahlreiche Winzergenossenschaften gegründet. Auf Betreiben der Handelskammer von Bordeaux wurden die Crus Bourgeois des Médoc 1932 erstmals klassifiziert, sie schlossen sich aber erst 1962 in einer Vereinigung zusammen. Um Qualität und Echtheit seines Weines zu garantieren, beschloss 1924 Baron Philippe de Rothschild (→ Château Mouton-Rothschild), dass künftig der gesamte Wein auf dem Schloss selbst abgefüllt werden sollte. Erst in den 1960er Jahren setzte sich diese Praxis unter den Spitzengütern allgemein durch. Im weltweiten Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich Bordeaux aus der Krise befreien. Der Qualitätsweinbau profitierte nicht nur von der steigenden Nachfrage nach den Spitzengewächsen, sondern auch von der neu entstandenen Önologie, der Wissenschaft vom Wein, die maßgeblich an der Universität Bordeaux entwickelt wurde und heute an der Université Bordeaux II weiterentwickelt wird. Der bordelaiser Weinbau errang damit weltweit eine Vorbildfunktion. Mit zunehmender Technisierung änderte sich, wenngleich behutsam, allmählich auch der Weinstil. 1970 markierte als letzter klassischer Bordeaux-Jahrgang einen Wendepunkt. In den 1970er Jahren wurden viele zu tanninreiche Weine erzeugt, die sich später nicht harmonisch entwickelten. Diese weniger guten Jahrgänge von 1971 bis 1974 werden daher häufig – insbesondere in der amerikanischen Weinszene – auch als Vietnam-Jahre bezeichnet. Dies nimmt Bezug auf den Abzug der amerikanischen Truppen. In den 1980er Jahren ging dann die Tendenz unter dem Einfluss von Önologen wie Michel Rolland und Kritikern wie Robert Parker zu fruchtigeren, vollmundigeren Weinen. Dieses Jahrzehnt mit seiner sonst seltenen Folge vieler guter Jahrgänge fachte das weltweite Interesse an Bordeaux weiter an. Große Aktiengesellschaften erwarben Châteaus im Médoc und ermöglichten so die zum Teil extravagante Erneuerung der Einrichtungen. Beispiele hierfür sind Axa (Château Pichon-Longueville-Baron), Alcatel (Château Gruaud-Larose) und Chanel (Château Rausan-Ségla). Wie im 19. Jahrhundert streben die reichsten Franzosen wieder nach dem Prestige, eines der führenden Châteaus zu besitzen: 1993 erwarb der Milliardär François Pinault das Château Latour, und 1996 konnte Bernard Arnault nach langem Tauziehen das Château d’Yquem seiner LVMH-Gruppe einverleiben. 1998 tat sich Arnault dann mit dem Belgier Albert Frère zusammen, um für die Rekordsumme von 131 Millionen Euro das Château Cheval Blanc zu erwerben. Der gemeinsame Besitz in Saint-Émilion wurde in den folgenden Jahren noch um die Châteaus La Tour du Pin Figeac und Quinault L’Enclos erweitert. Die wachsende Nachfrage nach vollmundigeren Tropfen kam den Weinen des Libournais entgegen, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg von der Dominanz des Médoc emanzipieren konnten. Die erste Klassifikation der Gewächse von Saint-Émilion 1954 war dazu der Auftakt. In den 1980er Jahren zogen die Spitzenweine wie Château Pétrus und Château Ausone dann auch preislich auf und davon, später taten es ihnen Gewächse wie Château Pavie oder Garagenweine wie Château Le Pin und Château Valandraud nach. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Bodenpreisen wider: Der Wert eines Hektars Rebland in Pomerol stieg in den 1990er Jahren um über 150 %, damit lag er 2001 mehr als doppelt so hoch wie in den kommunalen Appellationen des Médoc. Heutige Situation Zu Beginn des 21. Jahrhunderts charakterisiert eine starke Polarisierung die Situation in Bordeaux. Während die Preise der Spitzenweine beim vielversprechenden 2005er historische Rekordniveaus erreichen dürften, sind die Notierungen für Fasswein der AOC Bordeaux im freien Fall. Der vom Syndicat des Bordeaux festgelegte Mindestpreis von 1000 Euro pro Tonneau (900 Liter) 2005er Bordeaux ist am Markt nicht mehr durchzusetzen. Dies liegt zum einen an der stetig sinkenden nationalen Nachfrage nach einfachen AOC-Weinen, zum anderen aber auch an der harten Konkurrenz auf den internationalen Märkten. Länder wie Argentinien, Chile, Südafrika und Australien, die auch mit dem Bordeaux-Rebsortenprofil arbeiten, haben in den letzten Jahren ihre Produktion massiv erhöht. Von der 7 Mio. hl großen Ernte des Jahrgangs 2004 konnte der Markt nur 5,5 Mio. hl aufnehmen. Der Export von Bordeaux-Weinen fiel im Jahr 2005 um drei Prozent auf 1,72 Mio. hl. In Deutschland sank der Absatz von Bordeaux-Weinen von rund 500.000 hl im Jahr 2000 auf 316.000 hl im Jahr 2005. Ein kurzfristiger Ausweg ist die Destillation: Im Bordelais wurden 2005 1,5 Millionen Hektoliter Wein mit Hilfe von EU-Subventionen zu Industriealkohol verarbeitet, weil sie unverkäuflich waren. 2006 plant das Syndicat, zum ersten Mal zur Finanzierung einer weiteren Destillation einen Kredit von 15 Millionen Euro aufzunehmen. Auf mittlere Sicht erscheint eine Reduzierung der Anbaufläche unausweichlich. Seit Beginn der 1980er Jahre war sie von 90.000 auf 120.000 Hektar angewachsen, wobei der Zuwachs per saldo ausschließlich den roten Rebsorten zugutekam. Die vorgeschlagene Einführung eines Landweines Vin de Pays de la Gironde würde aufgrund der erlaubten höheren Hektarerträge zwar die Produktionskosten senken, das Problem der Überproduktion aber eher noch verschärfen. Der erste Aktionsplan stieß allerdings auf wenig Resonanz: Statt der geplanten 10.000 wurden 2006 gerade einmal 2.850 Hektar Rebfläche stillgelegt. In der Summe ging es 2006 wieder leicht aufwärts im Bordelais. Die Produktion war 2005 auf 5,9 Mio. Hektoliter gesunken, was die Preise zu stabilisieren half. Der Gesamtabsatz stieg um sieben Prozent auf 3,23 Mrd. €, vor allem dank des Exportes in die Vereinigten Staaten und nach Asien. Dennoch bleiben viele Weingüter hoch verschuldet und stehen teils auf Druck der Banken zum Verkauf. Dies betrifft auch Châteaus in angesehenen kommunalen Appellationen, deren Produktionskosten nicht wesentlich unter denen der führenden Güter liegen. Als Grund für das Verkaufen wird teils auch die hohe Erbschaftssteuer in Frankreich benannt. Die „Top 100“ des Bordelais, die Grands Crus und ihnen gleichgestellte Châteaus, brauchen sich ohnehin keine Sorgen zu machen. Die weltweite, spekulativ angeheizte Nachfrage nach bekannten Namen und hohen Parker-Punktzahlen erlaubte es ihnen, ihren 2005er nur an diejenigen Negociants zu verkaufen, die sich zugleich zur Abnahme der nachfolgenden Jahrgänge zu vom Château festgelegten Konditionen verpflichten. Mit dem Jahrgang 2005 stießen die Endabnehmerpreise für Premier Crus des Médoc an die Schwelle von 500 Euro. Die Folgen dieser Politik dürften sich an den nachfolgenden Jahrgängen zeigen. Die Preise für den keinesfalls hochklassigen 2006er sind nach der Verdoppelung im Vorjahr nur um 10–15 % gesunken. Für den mittelmäßigen 2007er wurden die Preise weiter zurückgenommen, finden sich aber noch immer weit oberhalb der für den 2004er verlangten. Dem zur Abnahme gezwungenen Handel drohen auf diesem Niveau riesige unverkäufliche Bestände, deren Abgabe sich ähnlich wie beim gleichfalls überteuerten 1997er über Jahre hinziehen wird. Die Situation wird keinesfalls besser durch den neuen „Jahrhundertjahrgang“ 2009, der das gesamte Interesse auf sich zieht. Als Reaktion auf den Klimawandel hat sich der Verband der Bordeauxweine (CIVB) 2021 dazu entschieden sechs neue Rebsorten für die Rotweinproduktion zuzulassen. Damit soll auch in Zukunft, trotz höherer Temperaturen und längeren Hitzewellen, gewährleistet werden, dass sich der Stil des Bordeauxweins nicht verändert. Bei den roten Rebsorten handelt es sich um Arinarnoa, Castets, Marselan und Touriga Nacional, bei den weißen sind es Alvarinho und Liliorila. Um den Preisverfall durch Überproduktion zu bremsen, haben sich das Ministerium für Landwirtschaft und Ernährungssouveränität der Verband der Bordeauxweine (CIVB) 2023 entschieden, 57 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, um die Rodung von 9500 Hektar Rebfläche mit mindestens 6000 Euro pro gerodetem Hektar zu subventionieren. Eine Option auf weitere 2000 Hektar wird über eine Partnerschaft mit der Forstgenossenschaft Alliance Forêts Bois zur ökologischen Transformation angeboten. Siehe auch Weinbau in Frankreich Literatur Édouard Feret: Bordeaux und seine Weine nach ihren Lagen und Klassen geordnet. Verlag von Friedr. Nagel (Paul Niekammer), Stettin, 1893 Hubrecht Duijker, Michael Broadbent: Weinatlas Bordeaux. Hallwag, Bern/Stuttgart 1997, ISBN 3-444-10492-8 Michel Dovaz: Bordeaux. Terre de légende. Assouline, Paris 1997, ISBN 2-84323-024-1. Féret: Bordeaux et ses vins. Féret, Bordeaux 2000, ISBN 2-902416-17-2. René Gabriel: Bordeaux Total. Orell Füssli, Zürich 2004, ISBN 3-280-05114-2. Robert Parker: Parker Bordeaux. Gräfe & Unzer, München 2004, ISBN 3-7742-6580-1. Weblinks Comité interprofessionnel du vin de Bordeaux (deutsch) bordeauxonline.de Informationen zum Bordeauxwein Einzelnachweise Weinbauregion in Frankreich
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https://de.wikipedia.org/wiki/Suprematismus
Suprematismus
Suprematismus (von altlateinisch supremus, „der Höchste“) ist eine Stilrichtung der Moderne der bildenden Kunst, mit Verwandtschaft zum Futurismus und Konstruktivismus. Sie entstand in Russland und hatte von 1913 bis zum Beginn der 1930er Jahre Geltung. Terminologie Unter Suprematie verstand der russische Künstler Kasimir Malewitsch die Vorrangstellung der reinen Empfindung vor der gegenständlichen Natur. Entwicklung Der Suprematismus wurde von Malewitsch nach seiner neo-primitivistischen und kubofuturistischen Phase in den Jahren 1912/13 aus den Ideen des Futurismus heraus entwickelt. Vor allem durch El Lissitzky beeinflusste der Suprematismus De Stijl und das Bauhaus. Es handelt sich dabei um die erste konsequent ungegenständliche Kunstrichtung. Die ungegenständliche Kunst unterscheidet sich von der abstrakten insofern, als ihre Formen keine Abstraktionen (Verwesentlichungen / Vereinfachungen) von sichtbaren Gegenständen sind. Der Suprematismus ist eine von Gegenstandsbezügen befreite konstruktive Kunstrichtung; sie stellt die Reduktion auf einfachste geometrische Formen in den Dienst der Veranschaulichung ‚höchster‘ menschlicher Erkenntnisprinzipien. Zu den Hauptwerken des Suprematismus zählen die von Malewitsch geschaffenen Gemälde Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1915), Rotes Quadrat (1915) und Weißes Quadrat auf Weißem Grund (1919). 1915/16 fand die Kunstausstellung 0,10 in Sankt Petersburg statt. Hintergrund – Russische Avantgarde Parallel zu den historischen Umwälzungen in Russland von 1905 bis 1920 suchten russische Künstler nach neuen Wegen, ihrem Bild der Welt einen neuen Ausdruck zu geben. In sehr rascher Folge entstanden unterschiedlichste Kunstbewegungen, welche die Kunstströmungen des westlichen Europas aufgriffen und weiterentwickelten. Besonders einflussreich war dabei eine 1908 von der russischen Zeitschrift Das Goldene Vlies initiierte Kunstausstellung mit Werken der bedeutendsten zeitgenössischen westeuropäischen Künstler. Vertreten waren unter anderem Henri Matisse, Pierre-Auguste Renoir, Georges Braque, Paul Cézanne, Vincent van Gogh, Kees van Dongen, Alfred Sisley und Pierre Bonnard. 1911 folgte eine Ausstellung der Gruppe „Karo-Bube“, an der eine Vielzahl von Künstlern der Russischen Avantgarde beteiligt waren und die die Entwicklung der Russischen Malerei und Plastik zur Abstraktion begründete. Die Ausstellung „0,10“, die im Jahre 1915 folgte und in der erstmals suprematistische Gemälde ausgestellt wurden, markierte den Durchbruch zur gegenstandslosen Kunst. Zu den Ausstellenden gehörten neben Malewitsch Wladimir Tatlin, Nadeschda Udalzowa, Ljubow Popowa und Iwan Puni. Wie inspirierend diese Begegnungen auf die Entwicklung in der modernen russischen Kunst war, zeigt sich an der künstlerischen Entwicklung von Malewitsch, der durch den Einfluss der französischen Impressionisten, der Futuristen und Kubisten über einen post-impressionistischen und neo-primitivistischen Stil zum Kubofuturismus fand und dann den Suprematismus entwickelte. Sieg über die Sonne Am 3. und am 5. Dezember 1913 wurde die Oper Sieg über die Sonne im Lunapark-Theater in Petersburg aufgeführt. Das Libretto stammte von Alexej Krutschonych, der Prolog von Welimir Chlebnikow, die Musik schrieb Michail Wassiljewitsch Matjuschin und die Kostüme und das Bühnenbild wurden von Malewitsch geschaffen. Ähnlich wie bei der Commedia dell’arte verwendeten die Künstler stereotype Charaktere wie „der Kraftmensch“, „der Feigling“, „der Totengräber“ und „der Neue“. Die Oper war eine Gemeinschaftsproduktion der vier Künstler, die seit einem Treffen im Juli 1913 daran arbeiteten. Ihr Ziel war es, mit der gewohnten Theatervergangenheit zu brechen und eine „klare, reine, logische russische Sprache“ zu nutzen. Malewitsch setzte dies um, indem er Kostüme aus einfachsten Materialien schuf und dabei geometrische Formen nutzte. Blitzende Scheinwerfer leuchteten die Figuren so an, dass abwechselnd Hände, Beine oder Köpfe im Dunkel verschwanden. Der Bühnenvorhang zeigte ein schwarzes Quadrat. Die Arbeiten zum Bühnenvorhang inspirierten Malewitsch zur Schaffung des Gemäldes Das Schwarze Quadrat. Schwarzes Quadrat Malerisches Initialwerk des Suprematismus war das Bild Schwarzes Quadrat von Malewitsch, ein auf weißem Grund gemaltes rein schwarzes Ölbild. Es wurde erstmals mit 38 weiteren suprematistischen Bildern von Malewitsch in der Ausstellung 0,10 in Petrograd im Jahr 1915 ausgestellt. Im Katalog war es schlicht als „Viereck“ bezeichnet. Malewitsch selbst nannte es die „ungerahmte Ikone meiner Zeit“. Mit dieser Bezeichnung knüpfte er an eine in Russland seit Mitte des 19. Jahrhunderts geführte Diskussion an, ob die russische Malerei sich an der westlichen Kunst zu orientieren habe oder eine eigene Bildsprache entwickeln solle, die in der russischen Tradition verwurzelt ist. Sinnbild der russischen Tradition war die Ikone. Genauso wie die russischen Bauern ihre Ikonen in der östlichen Ecke eines Raumes aufstellen, so hängte auch Malewitsch in der Ausstellung 0,10 sein schwarzes Quadrat in die östliche Ecke. Naum Gabo, einer der Zeitzeugen dieser Entwicklung, schrieb später: Gleichzeitig verstand Malewitsch das Schwarze Quadrat als maximale Verdichtung der Farbmasse; es war für ihn das Symbol für „geometrische Ökonomie“. Er selbst schrieb in seinem 1927 veröffentlichten Bauhausbuch Die gegenstandslose Welt: Die Reaktion auf Das Schwarze Quadrat war eindeutig: ein Affront gegenüber der akademischen und realistischen Malweise, man bezeichnete es als das „tote Quadrat“, das „personifizierte Nichts“. Der Kunsthistoriker Alexander Benois bezeichnete es in der Petrograder Zeitschrift Die Sprache als „den aller-, allerabgefeimtesten Trick in der Jahrmarktsbude der allerneusten Kunst“. Dem Verriss schloss sich der russische Schriftsteller Dmitri Mereschkowski an, der von der „Invasion der Rüpel in der Kultur“ sprach. 1915 folgte Rotes Quadrat: Malerischer Realismus einer Bäuerin in zwei Dimensionen, ein in leuchtendem Rot gemaltes Quadrat auf beigem Untergrund. Es befindet sich heute ebenso wie Schwarzes Quadrat auf weißem Grund im Staatlichen Russischen Museum in Petersburg. Für Malewitsch war es „das Signal der Revolution“, ihm folgten weitere farbige Bilder, die allerdings zunehmend vielteilig wurden. Im Jahr 1919 malte Malewitsch Das Weiße Quadrat, das seine malerischen Experimente mit dem Suprematismus vorläufig abschloss. Für Malewitsch war das weiße Quadrat das Zeichen der „Selbsterkenntnis einer rein utilitären Vollendung des Allmenschen“ und der Ausdruck der reinen Gegenstandslosigkeit. Malewitschs theoretischer Ansatz Die Entwicklung des Suprematismus war von Anfang an von umfangreichen theoretischen Konzepten begleitet. Schon das Bühnenbild zur Oper Sieg über die Sonne wurde in einem Manifest begründet. Auf die heftige Kritik, die das Gemälde Das Schwarze Quadrat hervorrief, antwortete Malewitsch Benois in einem langen Brief, der heute als frühes Dokument für die suprematistische Philosophie gilt: Malewitsch suchte einen alternativen Begriff für ein Kunstideal, das nicht vergegenständlicht und das dem Begriff „Gott“ in der Religion, dem Prinzip der „gegenständlich-technischen Vollkommenheit“ in der Wissenschaft oder der „Schönheit“ in der akademischen Kunst entsprach. Diese Ideale erzeugen Ziele und Methoden. Diese zu erreichen, setzt im Menschen die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt in Gang. Doch auf Grund der unvereinbaren Unterschiedlichkeit der drei Richtungen Religion, Kunst und Wissenschaft beginnt der Mensch seine Umwelt auch unterschiedlich zu begreifen, das heißt, je nach der eingeschlagenen Richtung zu klassifizieren, zu vergegenständlichen. Da aber derselbe Gegenstand von den drei Sichtweisen auf drei verschiedene Weisen beschrieben werden kann, sei nach Malewitsch bewiesen, dass dieser Gegenstand eine eigene, vom Menschen unabhängige Seinsgrundlage besitze, deren Wesen vom Menschen bisher noch nicht vollständig erfasst wurde. Das höchste Prinzip, das Malewitsch formulierte, ist deshalb das, was alle drei Erkenntnisrichtungen gemeinsam haben. Jedes ihrer Ideale ist absolut gesehen ungegenständlich, so dass deren gemeinsamer Nenner, die Gegenstandslosigkeit, für Malewitsch das Höchste ist – Suprematismus. Den Begriff leitete er (über die Vermittlerrolle, welche die französische und polnische Sprache spielte) von dem lateinischen Wort suprematia (Überlegenheit, Herrschaft oder Oberhoheit) ab. Die Formensprache Malewitschs Malewitsch malte nicht expressiv wie Wassily Kandinsky, sondern konstruierte seine sachlichen Quadrate und Rechtecke. Alle verwendeten Formen leiten sich aus dem Quadrat ab. Ein Beispiel für seine formenreicheren Bilder ist Dynamischer Suprematismus Nr. 57, das sich im Museum Ludwig in Köln befindet. Die gegenstandslose Freiheit, die er anstrebte, sollte nicht chaotisch sein, wie die der Futuristen, sondern sie folgte einer formal-energetischen Ökonomie, die organisierte Strukturen hervorbringt. Seine Bilder sind Modelle einer Wirklichkeit, die, obwohl sie mit den herkömmlichen Mitteln nicht erfasst werden kann, dennoch existiert. Es sollen jedoch nicht nur neue Erkenntnismöglichkeiten geschaffen werden. Da die alten Formsprachen und Begriffe das alte Weltbild und damit auch das Handeln des Menschen bestimmt haben, ist die neue Kunst genauso in der Lage, über die Schaffung eines neuen Weltbildes auch die menschliche Gesellschaft zu erneuern. Der Suprematismus, der die abstrakte Kunst begründete, beeinflusste von 1916 bis 1920/21 insbesondere Ivan Puni, Ljubow Popova und Alexander Michailowitsch Rodtschenko, die sich allerdings nach 1921 stilistisch weiterentwickelten. Popova und Rodtschenko wurden in der Nachfolge bedeutende Vertreter des Konstruktivismus. Suprematismus in der Angewandten Kunst Im Jahr 1918 leitete Malewitsch zuerst an den Ersten und Zweiten Freien Künstlerischen Werkstätten in Moskau das Atelier für Malerei und – gemeinsam mit Nadeschda Udalzowa – die Klasse für Textilgestaltung. Seine Lehrtätigkeit setzte er ab Herbst 1919 an der Kunstschule von Wizebsk (bei Minsk Weißrussland) fort. Dort arbeitete bereits Marc Chagall, der allerdings eine andere Kunstauffassung vertrat. Die Richtungskämpfe wirkten zeitweise lähmend auf den Schulbetrieb; letztlich war es jedoch Malewitsch, der sich durchsetzte und die Kunstschule von Witebsk zu einem suprematistischen Zentrum formte. Zu diesem suprematistischen Zentrum gehörten unter anderem Wera Jermolajewa, El Lissitzky, Warwara Stepanowa und Nathan Altman. Parallel dazu bekleidete Malewitsch bis Mitte der 1920er Jahre wichtige Funktionen in Kunstgremien. Sowohl als Lehrender als auch in seiner Funktion als Mitglied von Kunstgremien beeinflusste Malewitsch die Formensprache von Bildhauern, Architekten und Kunsthandwerkern. In Witebsk gründete er gemeinsam mit anderen Künstlern die Gruppe Unovis, die als Ziel hatte, eine suprematistische Kunst- und Weltauffassung zu formen. In einem Unovis-Flugblatt vom 20. November 1920 heißt es: Der Stil erstreckte sich auf alle Bereiche der bildenden Kunst, wie Malerei, Bildhauerei, Typographie, Architektur, Plakatkunst und Design (Möbel, Porzellan). So wurden unter anderem Witebsker Essensrationsmarken zur Zeit der „Kriegsökonomie“ suprematistisch gestaltet; Ilja Tschaschnik, Malewitschs wissenschaftlicher Mitarbeiter während dessen Leitung des Staatlichen Instituts für künstlerische Kultur (GINChUK), entwarf für die Lomonossow-Porzellanmanufaktur Geschirr auf der Basis der Ideen des Suprematismus. Auch Malewitsch selbst entwarf Porzellan; seine von ihm entworfene Teekanne, bei der auf weißem Porzellan farbige Vierecke, Stabformen und Kreise schweben, ist heute in vielen Designsammlungen wie beispielsweise dem Museum of Modern Art in New York zu finden. Die Anwendung der suprematistischen Prinzipien im Kunstgewerbe hatte sehr früh begonnen. Die Ausstellung einer Moskauer Galerie zeigte bereits im November 1915 modernes Kunstgewerbe, bei dem suprematistische Entwürfe von Iwan Puni und Alexandra Exter von Frauen aus ukrainischen Dörfern umgesetzt worden waren. Eine zweite Kunstgewerbeausstellung folgte im Dezember 1917 im Moskauer Michailowa-Salon, bei dem suprematistisches Design häufig in Form von Stickereien appliziert waren. Neben Malewitsch hatten Ljubow Popowa, Olga Rosanowa und Exter Entwürfe für die Arbeiten geliefert, zu denen Kissenbezüge, Schals und Handtaschen gehörten. El Lissitzky – die Brücke zum Westen Der wichtigste Künstler, welcher die von Malewitsch entwickelte Kunstform und das damit verbundene Gedankengut ins Ausland weitergab, war der Maler El Lissitzky. Lissitzky setzte sich insbesondere in den Jahren 1919 bis 1923 intensiv mit dem Suprematismus auseinander. Er war von Malewitschs suprematistischen Werken tief beeindruckt; er sah darin das theoretische und visuelle Äquivalent der gesellschaftlichen Umwälzungen – der Suprematismus mit seiner Radikalität war für ihn die gestalterische Entsprechung einer neuen Gesellschaftsform. Lissitzky übertrug Malewitschs Ansatz auf seine Proun-Konstruktionen, die er selbst als „Umsteigestation von Malerei zu Architektur“ bezeichnete. Die Proun-Konstruktionen waren jedoch gleichzeitig das Zeichen der künstlerischen Abnabelung vom Suprematismus. Das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch war für ihn der Endpunkt eines konsequenten Denkprozesses, auf dem jedoch eine neue konstruktive Aufbauarbeit zu folgen habe. Diese sah er in seinen Proun-Konstruktionen, wobei die Bezeichnung „Proun“ (=Pro Unowis) die suprematistische Herkunft versinnbildlichte. Lissitzky richtete 1923 in Berlin, Hannover und Dresden Ausstellungsräume für Gegenstandslose Kunst ein. Während dieser Reise ins westliche Ausland stand El Lissitzky in engem Austausch mit Theo van Doesburg und schlug damit die Brücke zu De Stijl und dem Bauhaus. Wie Malewitsch trug auch El Lissitzky zur theoretischen Untermauerung dieser Kunstrichtung bei: „Der Suprematismus führte die Malerei vom Zustand der antiken benannten gegenständlichen Zahl in den Zustand der modernen abstrakten Zahl, die rein vom Gegenständlichen ist, die eine Zahl ist, die ihrer Natur nach einen selbständigen Platz neben den Gegenständen einnimmt.“ Wechselnde Akzeptanz im neuen Russland Für die kurze Zeit von 1917 bis 1921 verlief die politische und die künstlerische Revolution parallel. Unterstützt von dem Volkskommissar Anatoli Lunatscharski konnte sich eine „neue“ Kunst ohne direkte Einmischung des Staates entwickeln. In dieser Frühphase der Revolution wurde die neue Formensprache auch für politische Propaganda benutzt und mit suprematistischen Motiven gestaltete Parolen erschienen an den Häuserwänden. Malewitschs Biograf Stachelhaus nennt dies „eine Ironie der Kunstgeschichte“, denn mit der „Neuen Ökonomischen Politik“, die ab 1921 seitens der Regierung verkündet wurde, war das Postulat der geistigen Freiheit des Suprematismus nicht vereinbar. Suprematismus bedeutete gegenstandslose Kunst ohne Ziel und Zweckbestimmung. Die „Neue Ökonomische Politik“ dagegen forderte eine Kunst, die sich politisch funktionalisieren ließ. Diese Forderung mündete schließlich im Sozialistischen Realismus. Nach Ansicht der neuen kommunistischen Regierung war Malewitschs Kunst ein Produkt der bürgerlichen Kunsttradition und dem Proletariat unverständlich. Auch der liberale Kunstkommissar Lunatscharski konnte nicht verhindern, dass Malewitsch zunehmend in den Ruf eines dekadenten Formalisten geriet. Das Staatliche Institut für künstlerische Kultur (GINChUk), dessen Direktor Malewitsch war, wurde 1926 geschlossen, eine Veröffentlichung von Malewitschs Theorie des Ergänzungselements in der Malerei wurde unterbunden. Im Frühjahr 1927 reiste Malewitsch nach Deutschland, um die Möglichkeit zu überprüfen, am Bauhaus zu arbeiten. Obwohl auch das Bauhaus über El Lissitzky von den künstlerischen Ideen Malewitschs beeinflusst war, waren doch die Kunstauffassungen des Bauhauses und die von Malewitsch zu unterschiedlich, als dass es für Malewitsch dort eine Arbeitsmöglichkeit gegeben hätte. Das Bauhaus veröffentlichte zwar 1927 in seiner Buchreihe Malewitschs Die gegenstandlose Welt, schrieb jedoch im Vorwort: „Wir freuen uns, das vorliegende Werk des bedeutenden russischen Malers Malewitsch in der Reihe der Bauhausbücher veröffentlichen zu können, obwohl es in grundsätzlichen Fragen von unserem Standpunkt abweicht.“ Noch während in Berlin eine Ausstellung mit Werken von Malewitsch gezeigt wurde, reiste dieser am 5. Juni 1927 nach Russland zurück und ließ seine Gemälde im Westen zurück. Der radikale Wandel, der in Malewitschs Malerei nach der Rückkehr nach Russland eintritt, wird von manchen Kunsthistorikern als sein Versuch gewertet, die in Berlin zurückgelassenen Gemälde neu zu schaffen. Er löste sich vom Suprematismus und malte erneut in einem spätimpressionistischen und kubofuturistischen Stil und knüpfte an seine Menschen und Bauerndarstellungen an, wie er sie vor seiner suprematistischen Zeit geschaffen hatte. Viele seiner Gemälde datierte er zurück. Seine in den letzten Lebensjahren geschaffenen Bilder dagegen, in denen er an die Bildsprache der italienischen Renaissance anknüpft, werden von ihm mit einem kleinen schwarzen Quadrat signiert. Die Verdrängung des Suprematismus in der russischen Kunstwahrnehmung hielt lange an. Noch im Vorwort zu dem Ausstellungskatalog Russische Kunst des 20. Jahrhunderts schreibt 1984 der Russe Vitalij S. Manin über das Kunstgeschehen zu Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Suprematismus, eine der wichtigsten Kunstentwicklungen dieser Zeit, wird nicht erwähnt. Die Rehabilitierung der Avantgarde der russischen Kunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fand erst mit der Perestroika statt. Erst 1988 gab es in Sankt Petersburg eine umfassende Retrospektive mit Werken von Malewitsch. Literatur Quellen Michael Maegraith, Alexander Tolnay (Hrsg.): Russische Kunst des 20. Jahrhunderts – Sammlung Semjonow. Klett-Cotta, Stuttgart 1984, S. 17. ISBN 3-608-76171-3 El Lissitzky. Ausstellungskatalog Galerie Gmurzynska. Köln 1976, S. 64. Heiner Stachelhaus; Kasimir Malewitsch – Ein tragischer Konflikt. Claassen, Düsseldorf 1989, S. 20ff, S. 49. ISBN 3-546-48681-1 Stephan Diederich: Suprematismus im Alltagsgewand – Malewitsch und die angewandte Kunst. in: Evelyn Weiss (Hrsg.): Kasimir Malewitsch – Werk und Wirkung. Dumont, Köln 1995. ISBN 3-7701-3707-8 (bes. Unowis-Flugblatt) Naum Gabo: Of Divers Arts. New York 1962. S. 172. Weitere Literatur Camilla Gray: Das große Experiment. Die russische Kunst 1863–1922. Köln 1974. Kai-Uwe Hemken: El Lissitzky – Revolution und Avantgarde. DuMont, Köln 1990. ISBN 3-7701-2613-0 Marie-Luise Heuser: Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus, in: Planetarische Perspektiven, Marburg 2009, S. 62–75. Kasimir Malewitsch: Die Frage der nachahmenden Kunst. in: Essay on art 1915–1928 Hrsg. v. Troels Andersen. Bd. I. Kopenhagen 1968. Kasimir Malewitsch: Suprematismus – die gegenstandlose Welt. Witebsk 1922. (Deutsche Nationalbibliothek) Katrin Simons: El Lissitzky Proun 23N oder Der Umstieg von der Malerei zur Gestaltung. Eine Kunst-Monographie. Insel Taschenbuch 1376, Frankfurt am Main/Leipzig 1993, ISBN 3-458-33076-3. Karin Thomas: Bis heute – Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Dumont, Köln 1998. ISBN 3-7701-1939-8 Evelyn Weiss (Hrsg.): Kasimir Malewitsch – Werk und Wirkung. Dumont, Köln 1995. ISBN 3-7701-3707-8 Hans-Peter Riese: Kasimir Malewitsch. Rowohlt, Reinbek 1999. ISBN 3-499-50465-0 Dmytro Gorbatschow: Malevitsch und Ukraine. Kiew, Ukraine 2006. ISBN 966-96670-0-3 Hans-Peter Riese: Von der Avantgarde in den Untergrund. Texte zur russischen Kunst 1968-2006. Wienand, 2009. ISBN 978-3-86832-017-6 Weblinks ibiblio.org: Das schwarze Quadrat – Malewitschs „ungerahmte Ikone seiner Zeit“ Einzelnachweise Stilrichtung in der Malerei Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit
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Roger Federer
Roger Federer [] (* 8. August 1981 in Basel; heimatberechtigt in Berneck) ist ein ehemaliger Schweizer Tennisspieler. Er stand insgesamt 310 Wochen an der Spitze der Weltrangliste, davon die Rekordzahl von 237 Wochen in Serie. Auch stand er als bisher ältester Spieler an deren Spitze. Die Jahre 2004 bis 2007 und 2009 beendete Federer zudem als Weltranglistenerster. Er liegt in der Statistik der gewonnenen Grand-Slam-Titel im Einzel bei den Herren mit 20 gewonnenen Titeln auf dem dritten Platz, hinter Novak Đoković (23) und Rafael Nadal (22). Federer gewann in seiner 25 Jahre langen Karriere 103 Einzel- und acht Doppeltitel. Federer ist der erste Spieler, der dreimal drei Grand-Slam-Titel in einer Saison gewann (2004, 2006 und 2007). Er ist einer von acht Spielern, die im Laufe ihrer Karriere alle vier Grand-Slam-Turniere mindestens einmal gewonnen haben. Mit acht Einzeltiteln ist er der Rekordsieger der Wimbledon Championships. Er gewann sechsmal die Australian Open und fünfmal die US Open sowie einmal die French Open. Mit sechs Siegen ist er gemeinsam mit Đoković Rekordhalter bei den ATP Finals, gewann 28 Masters-Turniere und ist mit 24 Titeln Rekordsieger der ATP-Tour-500-Serie. Federer wurde fünfmal (von 2005 bis 2008 sowie 2018) zum Weltsportler des Jahres gewählt und damit so häufig wie kein anderer Sportler. Persönliches Roger Federer, der Sohn eines Schweizers (Robert Federer) und einer Südafrikanerin (Lynette), wuchs zusammen mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Diana in den Basler Vororten Riehen und Wasserhaus in Münchenstein auf. Mit der Herkunft seiner Mutter hängt laut Federer auch die englische Aussprache seines Vornamens zusammen, die damit nicht der in der Schweiz sonst üblichen französischen Aussprachsvariante [] entspricht. Federer spricht neben Deutsch auch fliessend Englisch und Französisch und kann deshalb in Pressekonferenzen oder Interviews problemlos zwischen diesen Sprachen wechseln. Er besitzt neben dem Schweizer auch den südafrikanischen Pass. Seine Ehefrau Mirka Federer-Vavrinec, eine ehemalige Schweizer Tennisspielerin, musste ihre Karriere 2002 wegen einer Fussverletzung beenden. Die beiden lernten sich am Rande der Olympischen Spiele 2000 in Sydney kennen. Am 11. April 2009 heirateten sie in Riehen bei Basel im engsten Familien- und Freundeskreis, am 23. Juli 2009 wurden sie Eltern von Zwillingstöchtern. Am 6. Mai 2014 wurden die Zwillingssöhne der beiden geboren. Vavrinec wird in mentaler Hinsicht beachtlicher Einfluss auf Federer zugeschrieben. Roger Federer liess sich aus medizinischen Gründen militärdienstuntauglich erklären, weil er Rückenbeschwerden hatte. Dies führte zu Diskussionen in der Schweizer Öffentlichkeit, da seit Jahren immer mehr Männer eines Jahrgangs für untauglich erklärt wurden. (2006 waren in der Schweiz gerade noch 65 % diensttauglich.) Im Dezember 2003 gründete der Tennisprofi die Stiftung Roger Federer Foundation, die Hilfsprojekte für Kinder finanziell unterstützt, hauptsächlich im südlichen Afrika und der Schweiz. Zweck der Stiftung ist die Förderung von Bildungsprojekten und des Jugendsports, insbesondere für Kinder aus finanziell benachteiligten Verhältnissen. Seit der Gründung wurden rund 68 Millionen Franken investiert, wodurch über 2 Millionen Kinder erreicht werden konnten. Federer war zudem nach dem Erdbeben im Indischen Ozean 2004 in Tsunami-Hilfsprojekte involviert und spielte einige Benefiz-Turniere zur Unterstützung von Betroffenen. Im April 2006 wurde Roger Federer als erster Schweizer zum internationalen UNICEF-Botschafter ernannt. Wegen dieses ehrenamtlichen Engagements wurde er 2006 von dem Verein Kinderlachen mit dem Kind-Award ausgezeichnet. Federer lebt seit 2015 in Valbella, wohin er von Bäch gezogen ist. Einen weiteren Wohnsitz hat er in Dubai. Tenniskarriere Kindheit und Jugend (1984–1998) Im Unterschied zu anderen Grössen der Tennisgeschichte machte Roger Federer in jungen Jahren keine internationalen Schlagzeilen. Seine Eltern waren nicht die typischen Tenniseltern, er hat sich diesen Weg selbst ausgewählt. Wie auch in seiner späteren Profikarriere zeichnete er sich eher durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung aus. Spektakuläre Erfolge stellten sich erst in der späten Jugend ein. So gab es keine grossangelegten Reportagen wie bei Tennistalenten wie Andre Agassi, Martina Hingis oder Steffi Graf. Der Schweizer begann im Alter von drei Jahren mit dem Tennisspielen und trat mit acht Jahren dem Tennisclub TC Old Boys bei. Dort wurde seine Entwicklung durch die Trainer Adolf Kacovský und Peter Carter massgeblich vorangetrieben. Nach ersten nationalen Erfolgen entschied Federer mit zwölf Jahren, sich ganz auf den Tennissport zu konzentrieren und sein ebenfalls ausgeprägtes Talent im Fussball – er war Junior beim FC Concordia Basel – nicht weiter zu fördern. 1995 wechselte er ins nationale Trainingscenter der Schweiz in Ecublens. Von nun an förderte der Schweizer Verband Federer, der in den Jahren 1995 bis 1997 sieben Schweizer Juniorenmeistertitel gewann. 1995 erreichte er in Miami beim Orange Bowl, dem letzten grossen internationalen Juniorenturnier des Jahres, zwar nur das Achtelfinale. Dennoch betrachtete er sein Abschneiden als bis dahin grössten internationalen Erfolg. Ab 1997 nahm Federer vermehrt an internationalen Turnieren teil und gewann im Mai in Prato seinen ersten grösseren internationalen Juniorentitel. In dieser Zeit fiel auch die Entscheidung, im Alter von 16 Jahren die Schule zugunsten der Tenniskarriere zu verlassen. Das Risiko ging Federer ein und schon 1998 folgte der Durchbruch auf der Juniorentour; im Januar erreichte er das Halbfinale der Australian Open und in Wimbledon folgten Titelgewinne im Einzel und im Doppel. Diese Erfolge ermöglichten ihm erste Turnierteilnahmen auf der Profitour. Sein Debüt auf der ATP Tour gab er im Juli 1998 in Gstaad; im September erreichte er in Toulouse bereits sein erstes Viertelfinale bei den Profis. Mit dem Gewinn des Orange Bowl im Dezember, seinem letzten Juniorenturnier, sicherte sich Federer zum Jahresende Platz 1 der Juniorenrangliste. Dies war für ihn nicht nur ein grosser Prestigeerfolg, sondern auch das Sprungbrett für den endgültigen Einstieg in die Profitour. Beginn der Profikarriere (1999–2000) Das Renommee als Junioren-Weltmeister half dem mittlerweile 17-Jährigen, auf der Profitour Fuss zu fassen. Er erhielt im Laufe seiner ersten Profisaison insgesamt acht Wildcards für Turniere der ATP Tour. Dadurch konnte er sein Ziel, am Ende der Saison unter den 200 besten Spielern der Welt geführt zu werden, bereits im Frühjahr übertreffen. Bei seinem Davis-Cup-Debüt gelang Federer ein Sieg im Einzel, womit er Anteil am Weiterkommen seines Landes ins Viertelfinale des Wettbewerbs hatte. Im Sommer nahm er in Roland Garros und Wimbledon erstmals bei den Profis teil, wobei er jeweils in der ersten Runde ausschied. Später im Jahr spielte er seine Stärke bei Hallenturnieren aus. Er erreichte in Wien sein erstes Halbfinale auf der ATP Tour und schaffte damit den Sprung unter die besten 100 Spieler der Weltrangliste; die Saison beendete er auf Platz 64. Für die Saison 2000 setzte sich Federer zum Ziel, sich unter den besten 50 Spielern der Welt zu etablieren. Weiterhin zeigte er sich als Hallenspezialist, auch wenn ihm erstmals Erfolge bei Freiluftturnieren gelangen. In Marseille erreichte er zu Beginn des Jahres sein erstes Finale auf der Profitour, das er gegen seinen älteren Landsmann Marc Rosset verlor. Nachdem der Sprung unter die Top 50 der Welt damit bereits vollzogen war, wurden das Saisonziel auf Platz 25 nach oben korrigiert. Im April erklärte Federer die Trennung vom Schweizer Verband und damit auch von seinem Coach Peter Carter. Er begründete den Schritt damit, dass er mittlerweile in der Lage sei, auf eigenen Füssen zu stehen, und sich deshalb für diesen Weg entschieden habe. Als neuen Trainer verpflichtete er den Schweden Peter Lundgren, der das Talent erkannte, aber noch Entwicklungspotenzial bei seinem 18-jährigen Schützling sah. Im Sommer kassierte Federer einige Erstrundenniederlagen und seine Bilanz bei wichtigen Turnieren blieb bescheiden. Dennoch nominierte ihn sein Verband für die Olympischen Spiele in Sydney, wo er das Halbfinale erreichte. In beiden Partien um eine Medaille musste er allerdings eine Niederlage hinnehmen. Bei seinem Heimturnier in Basel erreichte er sein zweites Finale auf der ATP Tour. Dort unterlag er dem Schweden Thomas Enqvist. Mit Platz 29 am Jahresende verpasste er sein Saisonziel knapp. Im Winter verpflichtete er Pierre Paganini als Fitnesscoach, um den Anforderungen der Weltspitze auch körperlich gerecht zu werden. Vom ersten Titel zum Wimbledonerfolg (2001–2003) Mit der Zielsetzung, in seiner dritten Profisaison seinen ersten Turniersieg zu erzielen und eine Platzierung unter den besten 15 Spielern der Welt einzunehmen, startete Federer in die Saison 2001. Nachdem er den Hopman Cup 2001 mit Martina Hingis im Januar gewonnen hatte, erfüllte sich im Februar das erste Ziel. Im dritten Anlauf gewann Federer erstmals ein Turnierfinale in Mailand gegen Julien Boutter. Im Davis Cup hatte er mit zwei Einzelsiegen entscheidenden Anteil am Erstrundensieg der Schweiz gegen die USA. Im Viertelfinale des Wettbewerbs gegen Frankreich erklärte er, dass er unter Davis-Cup-Coach Jakob Hlasek zukünftig nicht mehr am Davis Cup teilnehmen werde. Wenige Wochen später wurde der Vertrag mit Hlasek gelöst, was von Federers gestiegener Bedeutung im Schweizer Tennis zeugte. In der folgenden Sandplatzsaison erreichte er seinen ersten Viertelfinaleinzug bei einem Grand-Slam-Turnier. Als Nummer 15 der Welt startete er in Wimbledon. Dort traf er im Achtelfinale auf den siebenmaligen Titelträger Pete Sampras. Nach fünf Sätzen stand der 19-jährige Schweizer als Sieger fest und beendete damit Sampras' Serie von 31 Siegen in Folge in Wimbledon. Die folgende Viertelfinalbegegnung gegen den Briten Tim Henman verlor er jedoch. Im Turnierverlauf hatte sich Federer eine Leistenverletzung zugezogen, die ihn im Anschluss zu einer siebenwöchigen Pause zwang. Erst zu den US Open im Spätsommer war er wieder fit, verlor aber im Achtelfinale gegen Andre Agassi. Ein Finaleinzug in Basel während der folgenden Hallensaison reichte nicht aus, um den nach den Ergebnissen der ersten Saisonhälfte möglichen Einzug beim Tennis Masters Cup der besten acht Saisonspieler zu realisieren. Federer beendete die Saison auf Platz 13 der Weltrangliste. Zu Beginn der Saison 2002 holte er in Sydney seinen zweiten Karrieretitel. Bei den Australian Open unterlag er dagegen im Achtelfinale, genauso wie im Finale von Mailand. Im März erreichte er in Miami sein erstes Finale bei einem Masters-Series-Turnier, verlor das Spiel gegen Andre Agassi aber in vier Sätzen. Wenige Wochen später folgte die zweite Finalteilnahme bei einem Turnier dieser Kategorie in Hamburg. Diesmal entschied Federer das Finale gegen den Russen Marat Safin für sich. Als zweitplatzierter Spieler im Champions Race reiste der 20-jährige Federer nach Paris an. Hier scheiterte er überraschend in der ersten Runde an Hicham Arazi. Auch in Wimbledon schied er in der Auftaktrunde aus. Der von den Buchmachern als fünftbester Spieler des Turniers eingestufte Schweizer unterlag in drei Sätzen dem Kroaten Mario Ančić. Mittlerweile wurde offen von einer Grand-Slam-Blockade bei Federer gesprochen. Der Schweizer (der bereits als zukünftiger mehrfacher Grand-Slam-Sieger gehandelt wurde) schien bei den vier Turnieren der höchsten Kategorie selten in der Lage zu sein, sein bestes Tennis abzurufen. Bis zu den US Open gewann Federer bei vier Turnieren nur ein Match. Sein Spiel litt unter den Gedanken an den Unfalltod seines ehemaligen Trainers Peter Carter in Südafrika Anfang August 2002. In New York schied Federer erneut im Achtelfinale aus. Dennoch gelang ihm die Qualifikation für den Tennis Masters Cup, da er in der Hallensaison bei fünf Turnieren immer mindestens das Viertelfinale erreichte und in Wien seinen vierten Turniersieg errang. Ihm gelang die Qualifikation für das Turnier als einzigem Spieler neben Carlos Moyá ohne Grand-Slam-Viertelfinalteilnahme im Saisonverlauf. Federer gewann seine drei Gruppenspiele und erreichte damit das Halbfinale gegen den Weltranglistenersten Lleyton Hewitt. In einer engen Partie gab er einige Möglichkeiten aus der Hand und verlor sie am Ende im dritten Satz mit 5:7. Er beendete die Saison auf Platz 6 der Weltrangliste. Als Ziel für die Saison 2003 setzte Trainer Lundgren den Sprung unter die ersten Vier der Weltrangliste an. Zudem gab Federer weiterhin den Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier als erklärtes Ziel aus. Bei der ersten Chance darauf verlor er im Achtelfinale der Australian Open gegen David Nalbandian; nach fünf Sätzen war er dem Argentinier unterlegen. In den nächsten Monaten erreichte er vier Endspiele auf der Tour und gewann in Marseille, Dubai und München seine ersten Saisontitel. In Rom konnte er auch die Chance auf einen zweiten Masters-Series-Titel nicht nutzen. Im Davis Cup gewann Federer fünf seiner ersten sechs Begegnungen und erreichte damit erstmals in seiner Karriere mit der Schweiz das Halbfinale in diesem Wettbewerb. So zählte der Weltranglistenfünfte vor den French Open wie im Vorjahr zu den Turnierfavoriten. Nach einer erneuten Erstrundenniederlage (gegen Luis Horna) bei einem Grand-Slam-Turnier sah er sich allerdings dem Spott der Presse ausgesetzt. Die Ursache von Federers Erfolglosigkeit bei grossen Turnieren wurde auf eine mentale Schwäche zurückgeführt. Nach den French Open begann der Schweizer die Vorbereitung auf das Turnier in Wimbledon bei den Gerry Weber Open in Halle. Dort gewann er seinen vierten Saisontitel und stellte damit eine neue persönliche Saisonbestleistung auf. In Wimbledon wurde er von den Buchmachern in diesem Jahr auf Platz 3 gesetzt und erreichte erstmals seit acht Auftritten wieder die Viertelfinalphase bei einem Grand-Slam-Turnier. Nachdem er durch längere Regenunterbrechungen zu Beginn der zweiten Turnierwoche eine Rückenverletzung hatte auskurieren können, traf er im Halbfinale auf Andy Roddick. In drei Sätzen gelangen Federer 61 Gewinnschläge bei lediglich zwölf unerzwungenen Fehlern, wodurch er ins erste Grand-Slam-Finale seiner Karriere einzog. Der Australier Mark Philippoussis zwang ihn im Finale zwar zweimal in einen Tie-Break, war am Ende aber dennoch unterlegen und Federer gewann seinen ersten Grand-Slam-Titel. Damit hatte er sein Saisonziel erreicht und die spöttischen Stimmen verstummten. Nach dem Sieg in Wimbledon griff Federer auch in den Kampf um Platz 1 in der Weltrangliste ein. In den nächsten Wochen vergab er mehrere Möglichkeiten, diese Position zu erreichen. So unterlag er Roddick in Kanada im Halbfinale nach 4:2-Führung im entscheidenden Satz. In Cincinnati und bei den US Open unterlag er dagegen David Nalbandian. Auch im Davis-Cup-Halbfinale gegen Australien musste Federer in der vorentscheidenden Partie gegen Lleyton Hewitt die Partie noch nach einer 2:0-Satzführung beim Stande von 5:3 im dritten Satz abgeben. Damit verpasste die Schweiz den zweiten Finaleinzug im Davis Cup nach 1992. Trotz des sechsten Saisonsieges während der Hallensaison in Wien war die Weltranglistenspitze für Federer in dieser Saison nun nicht mehr erreichbar. Doch beim Masters Cup in Houston schloss er seine Saison mit einem Erfolg ab. Er gewann wie im Vorjahr seine drei Gruppenspiele und schlug den bereits als Weltranglistenersten feststehenden Roddick im Halbfinale. Im Finale besiegte er Andre Agassi in drei Sätzen und gewann seinen ersten Weltmeistertitel. Federer beendete die Saison 2003 auf Platz 2 der Weltrangliste. Für Verblüffung sorgte im Dezember 2003 die Trennung von Trainer Lundgren, die Federer mit Abnutzungserscheinungen und dem Gefühl, etwas Neues zu brauchen, begründete. Auf dem ersten Platz der Weltrangliste (2004–2008) In der Öffentlichkeit wurde Federer für die Trennung von seinem Erfolgstrainer kritisiert. Doch trotz Zweifel an seiner Form und keiner überstürzten Suche nach einem neuen Trainer spielte er sich bei den Australian Open 2004 ohne Satzverlust bis ins Achtelfinale vor. In jeweils vier Sätzen schlug er mit Hewitt und Nalbandian nacheinander zwei Spieler, die beide noch positive Spielbilanzen gegen ihn vorzuweisen hatten. Nach einem Sieg gegen den Weltranglistenzweiten Juan Carlos Ferrero erreichte er das Turnierfinale. Gegner Marat Safin schlug er im Finale in drei Sätzen und erreichte damit den zweiten Grand-Slam-Titel seiner Karriere. Gleichzeitig eroberte er auch die Weltranglistenspitze und blieb dort bis zum 17. August 2008. Bis zu den French Open im Mai gewann er drei weitere Titel, darunter auch die Masters-Series-Turniere in Indian Wells und Hamburg. In Paris unterlag er in der dritten Runde allerdings dem dreifachen Titelträger Gustavo Kuerten. Auf den Rasenplätzen von Halle und Wimbledon gewann Federer dann das erneute Double. Im Finale von Wimbledon nahm Andy Roddick ihm, anders als bei der Halbfinalbegegnung im Vorjahr, zwar einen Satz ab, schlussendlich verteidigte Federer aber seinen Titel. In Gstaad und Toronto baute er seine Siegesserie auf 23 Spiele aus, bis er in Cincinnati sein Auftaktmatch verlor. Eine grössere Enttäuschung für Federer war aber die Zweitrundenniederlage bei den Olympischen Spielen in Athen gegen den Tschechen Tomáš Berdych. Der Schweizer war in Athen nicht nur als klarer Medaillenkandidat, sondern auch als Fahnenträger seines Landes bei der Eröffnungsfeier angetreten. Andererseits bildete diese Niederlage aber auch den Startpunkt für eine weitere Siegesserie. Bei den US Open in New York wurde er nur im Viertelfinale von Andre Agassi über die volle Distanz von fünf Sätzen gezwungen. Im Finale überliess er Lleyton Hewitt in drei Sätzen lediglich sechs Spiele auf dem Weg zu seinem dritten Grand-Slam-Titel der Saison. Er war damit der erste Spieler seit dem Schweden Mats Wilander 1988, dem dieser Erfolg gelungen war. Die anschliessende Hallensaison musste Federer wegen eines Muskelfaserrisses fast komplett absagen. Rechtzeitig zum Masters Cup war er allerdings wieder fit. Dort erreichte er ungeschlagen das Finale und traf erneut auf Hewitt. Den ehemaligen Weltranglistenersten bezwang er zum sechsten Mal in dieser Saison und baute damit seine Position an der Weltspitze weiter aus. In der Saison 2004 verlor er keines seiner elf Endspiele und gewann alle 18 Spiele gegen Gegner aus den Top 10. Zur neuen Saison 2005 verpflichtete Federer den Australier Tony Roche als neuen Trainer. Roche, der bereits als Coach von Ivan Lendl und Patrick Rafter Spieler zu mehreren Grand-Slam-Erfolgen geführt hatte, sollte Federer insbesondere bei den wichtigen Turnieren zur Seite stehen. So lag das besondere Augenmerk für diese Saison auf den French Open, die Federer in seiner bisherigen Karriere noch nicht gewann. Die Siegesserie, die Federer aus der alten Saison mitbrachte, riss im Halbfinale bei den Australian Open gegen Marat Safin nach mehr als vier Stunden Spielzeit. Es folgten vier Turniersiege in Serie, unter anderem gewann der Schweizer auch erstmals das Double aus den Masters-Turnieren von Indian Wells und Miami. Dabei drehte er im Finale von Miami einen 0:2-Satzrückstand gegen Rafael Nadal. Dieser nahm durch regelmässige Erfolge auf Sandplätzen den zweiten Platz in der Weltrangliste ein und verkürzte zunehmend den Abstand auf Federer. Nach dessen sechstem Saisontitel in Hamburg kam es in Paris im Halbfinale erneut zur Begegnung mit Nadal. Diesmal unterlag der Schweizer nach vier Sätzen. Zwar hatte Federer sein bisher bestes Resultat bei den French Open erreicht, doch er blieb im Saisonverlauf weiter ohne Grand-Slam-Titel. Indes war die Niederlage in Frankreich der Auftakt zu der zu diesem Zeitpunkt längsten Siegesserie seiner Karriere. In Wimbledon gab er auf dem Weg zum Titelhattrick nur einen Satz ab, bei den US Open schlug er Andre Agassi in dessen letztem Grand-Slam-Finale in vier Sätzen. Zum Masters Cup am Ende des Jahres brachte er eine Siegesserie von 31 Spielen in Folge mit, die er durch das Erreichen des Turnierfinals auf 35 ausbaute. Hier traf er auf David Nalbandian, gegen den er die letzten vier Begegnungen gewonnen hatte, nachdem die ersten fünf Duelle alle an den Argentinier gegangen waren. Nach zwei Tie-Breaks führte der Weltranglistenerste mit 2:0 in den Sätzen. Doch je länger das Match andauerte, desto stärker baute Federer körperlich ab. Obwohl er im letzten Satz einen 0:4-Rückstand noch in eine 6:5-Führung umdrehen konnte, beendete Federer die Partie als Verlierer. Damit brach nicht nur die fünftlängste Siegesserie im Profitennis ab, sondern auch sein Rekord von 24 Endspielsiegen in Folge. Zudem verpasste der Schweizer mit 81 Siegen und 4 Niederlagen die Chance, die statistisch beste Profisaison von John McEnroe aus dem Jahr 1984 (82 Siege bei 3 Niederlagen) zu egalisieren. Dennoch beendete Federer die Saison nach der vergebenen Chance auf seinen dritten Masters-Cup-Titel in Serie auf Platz 1 der Weltrangliste. Er begann die Saison 2006 mit zwei Turniersiegen, darunter seinem siebten Grand-Slam-Titel bei den Australian Open. In Dubai unterlag er dagegen im Finale erneut Nadal, womit die Rekordserie von 56 Siegen in Folge auf Hartplätzen endete, die im Vorjahr in Rotterdam begann. Dies war das Startsignal für die zahlreichen Duelle, die sie sich in den nächsten Wochen und Monaten liefern sollten. Vor Beginn der Sandplatzsaison gewann Federer erneut die Turniere von Indian Wells und Miami. Auf Sand erreichte er bei den Masters-Turnieren von Monte Carlo und Rom jeweils das Finale. In beiden Spielen unterlag er Nadal, obwohl er in Rom zu Matchbällen kam. In Paris kam es ebenfalls zum Finale zwischen Federer und Nadal. Federer vergab nach gewonnenem ersten Satz weitere Chancen und verlor so zum fünften Mal in Folge gegen Nadal, es war die erste Niederlage in seinem achten Grand-Slam-Finale. Dennoch hatte er sich im Laufe der Saison als zweitbester Sandplatzspieler der Welt etabliert. In Wimbledon spielte er sich auf dem Weg zum vierten Titel in Folge ohne Satzverlust ins Finale. Dort traf er erneut auf den Weltranglistenzweiten Nadal. Der Spanier konnte Federer zwar einen Satz abzunehmen, aber am Ende feierte der Schweizer seinen insgesamt achten Grand-Slam-Titel. Bei den US Open begann für ihn eine erneute Siegesserie. Zum dritten Mal besiegte er Andy Roddick in einem Grand-Slam-Finale und zum zweiten Mal nach 2004 gewann er damit drei Grand-Slam-Titel in einer Saison. Erstmals seit drei Jahren nahm Federer im Anschluss auch verletzungsfrei an der Hallensaison teil. Mit seinem Turniersieg in Madrid brach er den Rekord von Jimmy Connors, der in den 1970er-Jahren die Weltrangliste 160 Wochen lang ununterbrochen angeführt hatte. Im Anschluss an das Turnier von Madrid entschied Federer nach mehreren vergeblichen Anläufen mit einem Finalerfolg über den Chilenen Fernando González auch erstmals sein Heimturnier in Basel für sich, bei dem er in Jugendjahren als Balljunge tätig war. Anschliessend reiste er zum Masters Cup nach Schanghai. Dort erreichte er erneut ohne Niederlage in der Gruppenphase das Finale, in dem er gegen den Amerikaner James Blake auf dem Weg zu seinem dritten Titel beim Jahresabschlussturnier nur sieben Spiele in drei Sätzen abgab. Federer beendete damit seine dritte Saison in Folge an der Spitze der Weltrangliste, was zuvor nur Jimmy Connors, John McEnroe, Ivan Lendl und Pete Sampras gelungen war. Die Saison 2006 war die beste Saison in der Karriere von Federer und einer der erfolgreichsten in der Geschichte. Er gewann zwölf Turniere und erreichte bei 17 gespielten Turnieren 16 Mal das Finale, was bis heute unübertroffen ist. In der Saison 2006 fehlte Federer nur der Sieg bei den French Open zum Erreichen des grössten Erfolges im Tennissport, dem Grand Slam. Bisher ist dieser neben dem Amerikaner Don Budge (1938) nur dem Australier Rod Laver (1962 und 1969) gelungen. Laver selbst erklärte im Januar 2006, dass er den Grand-Slam-Gewinn durch Federer für möglich halte. Den ersten Schritt in diese Richtung machte Federer bei den Australian Open, wo er als erster Spieler seit Björn Borg 1980 ein Grand-Slam-Turnier ohne Satzverlust gewann. Im Laufe der folgenden Sandplatzsaison trennte sich der Schweizer von seinem Trainer Tony Roche, bezwang seinen Rivalen Nadal in Hamburg erstmals auf Sand und beendete dessen Serie von 81 Siegen auf diesem Belag. Doch endete die Jagd auf den Grand-Slam-Gewinn erneut bei den French Open, wo Federer zwar wieder ins Finale einzog, aber den Erfolg von Hamburg gegen Nadal nicht wiederholen konnte. Zu Beginn der Saison verteidigte Federer seinen Titel bei den Australian Open und gewann das Turnier zum dritten Mal. In Indian Wells verlor er zum Auftakt gegen Guillermo Cañas, das beendete seine Serie von sieben Turniersiegen und 41 Siegen nacheinander. Auch im Wimbledonfinale kam es wie im Vorjahr zum Duell Federer gegen Nadal. In seinem fünften Endspiel dort wurde der Schweizer erstmals über die volle Distanz von fünf Sätzen gezwungen; doch nach dem Match nahm er seinen fünften Siegerpokal in Folge in Empfang. Damit stellte er den Open-Era-Rekord des Schweden Björn Borg ein. In Cincinnati gewann er gegen James Blake den 50. Titel seiner Karriere. Auch bei den US Open gewann Federer zum wiederholten Male, in drei Sätzen behielt er dort gegen Novak Đoković die Oberhand. Damit gewann er seit 2004 im vierten Jahr in Folge sowohl Wimbledon als auch die US Open. Somit hatte Federer erneut nur im Finale der French Open eine Grand-Slam-Niederlage hinnehmen müssen. Bei anderen Turnieren zeigte sich Federer indes schlagbar. So triumphierte er erstmals seit 2003 bei weniger als drei Masters-Series-Turnieren. Einzig in Hamburg und Cincinnati stand er am Ende als Turniersieger fest; in Monte Carlo, Montreal und Madrid unterlag er im Finale, während er bei den anderen vier Masters-Turnieren das Viertelfinale nicht erreichte. Dennoch verteidigte Federer die Ranglistenspitze über den gesamten Saisonverlauf und beendete nach seinem vierten Triumph beim Tennis Masters Cup die Saison zum vierten Mal in Folge auf dieser Position. Dies war bis dahin nur den Amerikanern Pete Sampras (6×), Jimmy Connors (5×) und John McEnroe (4×) gelungen. Bereits zu Beginn der Saison 2008 endete die nächste Chance auf den Gewinn des Grand Slam. Federer schied im Halbfinale der Australian Open gegen Novak Đoković aus. Damit riss auch seine Serie von zehn aufeinanderfolgenden Finalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren. Nach der Niederlage in Melbourne konnte Federer bis Ende März keinen Titel einfahren. Damit absolvierte er erstmals seit dem Jahr 2000 die ersten drei Monate einer Saison ohne Turniererfolg. Am 7. März 2008 gab Federer bekannt, dass er seit Dezember des Vorjahres am Pfeiffer-Drüsenfieber erkrankt sei. Anfang April gelang ihm in Estoril der erste Titelgewinn im Jahr 2008. Während der Sandplatzsaison erreichte er die Endspiele der Masters-Series-Turniere in Monte Carlo und Hamburg, wo er jeweils Rafael Nadal unterlag. Auch bei den French Open schaffte Federer den dritten Finaleinzug in Folge, musste aber die dritte Niederlage in Serie gegen Nadal hinnehmen. Ihm gelangen bei der Dreisatzniederlage lediglich vier Spielgewinne. Im Anschluss an die Finalniederlage in Paris sicherte er sich seinen zweiten Turniersieg des Jahres durch seinen bereits fünften Erfolg in Halle. In Wimbledon kam es zur insgesamt sechsten Finalbegegnung zwischen Federer und Nadal bei einem Turnier dieser Kategorie. Von 2006 bis 2008 standen sie sich in jedem French Open- und Wimbledon-Finale gegenüber, das gelang bisher keiner anderen Spielerpaarung. Nach fast fünf Stunden Spielzeit im längsten Wimbledon-Finale der Geschichte endete die Serie von 65 Siegen auf Rasen sowie fünf Titeln und 40 Siegen in Folge in Wimbledon. Mit 7:9 im fünften Satz musste sich Federer geschlagen geben, der damit erstmals seit sechs Jahren ohne Erfolg bei den ersten drei Grand-Slam-Turnieren des Jahres geblieben war. Verlust und Rückeroberung der Weltranglistenführung (2008–2010) Beim Masters-Turnier in Cincinnati schied er im Achtelfinale aus, womit feststand, dass er nach 237 Wochen an der Weltranglistenspitze durch Nadal abgelöst wurde. Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking, bei denen er wie vier Jahre zuvor Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier war, trat er im Einzel sowie im Doppel an der Seite von Stan Wawrinka an. Während er im Einzel im Viertelfinale gegen James Blake ausschied, gewannen er und Wawrinka das Doppelfinale gegen die Schweden Simon Aspelin und Thomas Johansson und damit die Goldmedaille. Bei den US Open gelang Federer nach drei sieglosen Teilnahmen in Folge wieder der Titelgewinn bei einem Grand-Slam-Turnier. Im Finale schlug er Andy Murray in drei Sätzen. Mit seinem fünften Sieg in Folge bei den US Open stellte er den Open-Era-Rekord von Pete Sampras und Jimmy Connors ein und wurde damit zum ersten Spieler der zwei Grand-Slam-Turniere fünfmal in Serie gewann. Während der Hallensaison gewann er seinen vierten Saisontitel beim Turnier in Basel. Beim Masters-Series-Turnier von Madrid unterlag er dagegen im Halbfinale Andy Murray. Dieser fügte Federer auch seine zweite Niederlage beim Tennis Masters Cup zu, so dass der Schweizer dort bei seiner siebten Teilnahme erstmals in der Gruppenphase scheiterte. Dennoch reichte ihm der eine Sieg, um sich zum Saisonende Platz 2 der Weltrangliste zu sichern. Bei den Australian Open erreichte Federer 2009 das Finale und damit die Möglichkeit, in der Partie gegen Rafael Nadal den Grand-Slam-Rekord von Pete Sampras einzustellen. Doch wie schon im Wimbledonfinale unterlag Federer dem Spanier in fünf Sätzen und mehr als vier Stunden Spielzeit. Im Matchverlauf nutzte er nur sechs seiner 19 Breakmöglichkeiten. Auch bei den ersten beiden Masters-Turnieren der Saison 2009 blieb er titellos. Während er in Indian Wells im Halbfinale Murray in drei Sätzen unterlag, scheiterte er in Miami ebenfalls in der Vorschlussrunde an Đoković. Zu Beginn der Sandplatzsaison in Monte Carlo erlebte Federer einen weiteren Rückschlag, als er seinem Doppelpartner und Freund Stan Wawrinka bereits im Achtelfinale in zwei Sätzen unterlag. Nach einem weiteren Halbfinalaus gegen Đoković in Rom gelang ihm in Madrid sein erster Turniersieg seit sieben Monaten. Er bezwang im Finale den Weltranglistenersten Nadal in zwei Sätzen, zum ersten Mal nach fünf sieglosen Partien in den Jahren 2008 und 2009, und errang seinen ersten Masters-Titel seit August 2007. Bei den French Open 2009 erreichte Federer zum vierten Mal in Folge das Finale, wobei er auf dem Weg ins Endspiel sowohl im Achtelfinale gegen Tommy Haas als auch im Halbfinale gegen Juan Martín del Potro über die volle Distanz von fünf Sätzen gehen musste. Im Finale traf er auf den Schweden Robin Söderling, der zuvor dem vierfachen Titelträger Nadal dessen erste Niederlage in Roland Garros zugefügt hatte. Das Finale gewann Federer mit 6:1, 7:6 und 6:4, wodurch er den Rekord von Pete Sampras mit insgesamt 14 Grand-Slam-Titeln einstellte. Zudem war Federer durch den Erfolg der sechste Spieler in der Geschichte (nach Fred Perry, Don Budge, Rod Laver, Roy Emerson und Andre Agassi), der alle vier Turniere der höchsten Kategorie mindestens einmal für sich entscheiden konnte. In Wimbledon zog Federer 2009 bei nur einem Satzverlust im Turnierverlauf ins Finale ein. Die siebte Finalteilnahme in Folge bedeutete zugleich einen neuen Turnierrekord. Er traf zum dritten Mal nach 2004 und 2005 auf Andy Roddick. Wie schon in den Endspielen von 2007 und 2008 wurde Federer über die volle Distanz gezwungen, ging aber am Ende mit 5:7, 7:6, 7:6, 3:6 und 16:14, dem längsten fünften Satz in einem Grand-Slam-Finale, als Sieger vom Platz. Mit seinem 15. Grand-Slam-Titel stellte er einen neuen Rekord auf. Da Titelverteidiger Nadal seine Teilnahme aufgrund einer Verletzung abgesagt hatte, eroberte Federer durch seinen sechsten Wimbledon-Erfolg nach 46 Wochen zudem Platz 1 der Weltrangliste zurück. Bei der anschliessenden nordamerikanischen Hartplatzsaison endete Federers Serie nach 21 Siegen im Viertelfinale von Montreal gegen Jo-Wilfried Tsonga. Eine Woche später bezwang er Đoković im Finale von Cincinnati und feierte seinen vierten Saisonerfolg, wobei er im Halbfinale auch erstmals seit vier Partien wieder Andy Murray bezwingen konnte. Damit startete Federer erneut als Topfavorit und nach einer Unterbrechung von zwei Grand-Slam-Turnieren auch wieder als topgesetzter Spieler in die US Open. In Flushing Meadows erreichte er sein sechstes US-Open-Finale in Folge. Damit stand er nach 2006 und 2007 zum dritten Mal innerhalb einer Saison in allen vier Grand-Slam-Endspielen, was einen neuen Rekord bedeutete. Wie bereits in Melbourne und Wimbledon wurde das Match erst im fünften Satz entschieden. Nach über vier Stunden Spielzeit unterlag Federer dem Argentinier Juan Martín del Potro im entscheidenden Satz mit 2:6, damit riss die Rekordserie von 40 Siegen in Folge bei diesem Turnier. Bei den World Tour Finals zum Abschluss der Saison verlor er im Halbfinale gegen den späteren Turniersieger Nikolai Dawydenko. Dennoch reichte das Resultat, um zum fünften Mal eine Saison auf Platz 1 der Weltrangliste zu beenden, womit zu diesem Zeitpunkt in dieser Statistik nur noch Pete Sampras vor ihm liegt, dem dies in seiner Karriere sechsmal gelungen ist. Das Jahr 2010 begann für Federer mit einem Halbfinalaus gegen den späteren Turniersieger Dawydenko in Doha. Bei den anschliessenden Australian Open erreichte er u. a. durch eine geglückte Revanche gegen Dawydenko sein 23. Grand-Slam-Halbfinale in Folge sowie das achte Grand-Slam-Finale in Serie. Im Endspiel von Melbourne schlug er Andy Murray in drei Sätzen. Durch seinen 16. Grand-Slam-Titel stellte Federer Andre Agassis Open-Era-Rekord mit vier Australian-Open-Siegen ein und entschied zudem in der achten Saison in Folge mindestens ein Grand-Slam-Turnier für sich, dies war zuvor nur Pete Sampras und Björn Borg gelungen. Nach diesem Turnier endete die seit 2004 anhaltende Dominanz Federers bei Grand-Slam-Turnieren. Im Anschluss litt Federer unter einer Lungenentzündung und schied bei den Masters-Turnieren in den USA sowie zu Beginn der Sandplatzsaison jeweils früh aus. Erst beim Turnier von Madrid gelang ihm wieder eine Endspielteilnahme. In der Wiederauflage des Vorjahresfinales unterlag er jedoch Nadal in zwei Sätzen. Erneuter Verlust der Spitzenposition (2010–2011) Bei den French Open kam es im Viertelfinale zum Duell mit Söderling, den Federer im Vorjahresfinale besiegt hatte. Dabei gelang dem Schweden die Revanche, und Federers Serie für ununterbrochene Halbfinalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren endete. Aufgrund des Turniersiegs von Nadal in Roland Garros verlor er zudem die Weltranglistenführung erneut an den Spanier. Mit insgesamt 285 Wochen an der Spitze der Rangliste fehlte ihm dabei nur eine Woche zur Egalisierung des Rekords von Pete Sampras. Damit endete seine Serie von acht Grand-Slam-Finals in Folge. Zwischen Wimbledon 2005 und den Australian Open 2010 stand er bei neunzehn Turnieren 18-mal im Finale, nur in Melbourne wurde er 2008 im Halbfinale von Đoković besiegt. Beim Turnier von Wimbledon scheiterte er als Titelverteidiger im Viertelfinale in vier Sätzen an Tomáš Berdych. Durch die Niederlage büsste Federer einen weiteren Platz in der Weltrangliste ein und fand sich zum ersten Mal seit über sechs Jahren auf Rang 3 wieder. Bereits bei seinem nächsten Turnier nach Wimbledon eroberte er sich durch einen Finaleinzug jedoch Position 2 zurück. Während er das Endspiel gegen Murray verlor, gewann er eine Woche später durch einen Dreisatzsieg über den Amerikaner Mardy Fish in Cincinnati seinen 17. Titel bei einem Masters-Turnier. Bei den US Open 2010 erreichte Federer nach zuletzt zwei Viertelfinalniederlagen wieder ein Grand-Slam-Halbfinale, das er jedoch gegen Novak Đoković verlor. Dadurch musste er den Serben auch in der Weltrangliste an sich vorbeiziehen lassen. Anschliessend gelangen Federer drei Finalteilnahmen in Folge, wobei er Turniersiege in Stockholm und bei seinem Heimturnier in Basel feierte, während er sich in Schanghai Andy Murray geschlagen geben musste. Damit erreichte er abermals Platz 2 der Weltrangliste und zog mit dem Sieg in Stockholm, seinem insgesamt 64. Turniersieg, in dieser Kategorie mit Sampras gleich. Zum Abschluss der Saison konnte Federer zum fünften Mal die ATP World Tour Finals gewinnen. Dabei setzte er sich im Turnierverlauf gegen Đoković, Murray und Nadal durch, die die Plätze 4, 3 und 1 der Weltrangliste belegten. Mit seinem fünften Triumph beim Saisonabschlussturnier zog er mit den Rekordsiegern Lendl und Sampras gleich. Nach einem erfolgreichen Start ins Jahr 2011 mit einem Sieg in Doha scheiterte Federer bei den Australian Open wie bereits bei den US Open 2010 im Halbfinale an Đoković. Zum ersten Mal seit Wimbledon 2003 hielt Federer nun keinen Grand-Slam-Titel mehr. Anschliessend erreichte er das Endspiel in Dubai, wo er wiederum Đoković unterlag, wie auch kurze Zeit später im Halbfinale von Indian Wells, wodurch der Serbe Federer in der Weltrangliste überholte. Nach einer weiteren Halbfinalniederlage in Miami gegen Nadal begann für Federer die Sandplatzsaison. Bei seinen Auftritten in Monte Carlo, Madrid und Rom erreichte er lediglich in der spanischen Hauptstadt ein Halbfinale, das er gegen Nadal in drei Sätzen verlor. Bei den French Open bezwang er im Halbfinale Đoković nach zuletzt drei Niederlagen und beendete damit die Siegesserie des Serben von 43 Matches. Das Endspiel verlor er gegen Nadal in vier Sätzen. In Wimbledon scheiterte Federer wie bereits im Vorjahr im Viertelfinale. Bei der Fünfsatzniederlage gegen den Franzosen Jo-Wilfried Tsonga verspielte er erstmals in seiner Grand-Slam-Karriere eine 2:0-Satzführung. Bei den US Open erreichte er durch einen Dreisatzsieg im Achtelfinale gegen den Argentinier Juan Monaco zum 30. Mal in Folge das Viertelfinale eines Grand-Slam-Turniers. Gegen Tsonga machte Federer in drei Sätzen seinen Halbfinaleinzug perfekt. Dort unterlag er trotz zweier Matchbälle und einer 2:0-Satzführung dem späteren Turniersieger und Weltranglistenersten Đoković. Es war das fünfte Duell in Serie in New York seit 2007, das ist Rekord bei den Grand-Slams. Damit konnte Federer erstmals seit 2002 kein Grand-Slam-Turnier in einer Saison gewinnen. Den Start beim folgenden Masters-Turnier von Schanghai sagte Federer aufgrund kleinerer Verletzungen ab. Dadurch fiel er in der Weltrangliste hinter Murray auf Rang 4 zurück. Den zweiten Turniererfolg des Jahres feierte Federer dann bei den Swiss Indoors in Basel; er besiegte im Finale den Japaner Kei Nishikori, der zuvor den Weltranglistenersten Đoković bezwungen hatte. Eine Woche darauf siegte Federer mit einem Endspielsieg über Jo-Wilfried Tsonga auch erstmals in seiner Karriere beim Masters-Turnier in Paris-Bercy. Bei den ATP World Tour Finals 2011 zog Federer ohne Matchverlust in der Gruppenphase, in der er unter anderem Nadal besiegte, in sein insgesamt 100. Karrierefinale im Einzel ein. Durch das Erreichen des Endspiels konnte er zudem zum Saisonende wieder Position 3 der Weltrangliste einnehmen. Im Finale traf er wie zwei Wochen zuvor in Paris auf Jo-Wilfried Tsonga, den er in drei Sätzen besiegte. Mit seinem sechsten Erfolg beim Saisonabschlussturnier, zugleich sein 70. Einzeltitel insgesamt, überholte Federer Pete Sampras und Ivan Lendl und ist nun alleiniger Rekordsieger des Turniers. Siebter Sieg in Wimbledon und vorübergehende Weltranglistenführung (2012) Zu Beginn des Jahres 2012 zog Federer ins Halbfinale des Turniers von Doha ein, wodurch er seine Siegesserie auf 20 Erfolge ausbaute; das Halbfinalmatch gegen Tsonga sagte er aufgrund von Rückenproblemen jedoch ab. Bei den Australian Open erreichte der Schweizer das Halbfinale, musste sich dort jedoch Nadal in vier Sätzen geschlagen geben. Sein nächstes Turnier bestritt er im Februar in Rotterdam, wo er sein erstes Finale des Jahres erreichte, das er gegen Juan Martín del Potro klar in zwei Sätzen gewann. Bereits zwei Wochen später feierte er mit einem Zweisatzerfolg über Andy Murray im Finale von Dubai seinen nächsten Titel. Beim ersten Masters-Turnier der Saison in Indian Wells erreichte Federer durch einen Halbfinalsieg über Nadal sein drittes Endspiel in Folge. Mit seinem 19. Erfolg bei einem Masters-Turnier in zwei Sätzen gegen John Isner egalisierte er dabei den Rekord für die meisten Turniersiege dieser Kategorie. Bei den Sony Ericsson Open schied er in der dritten Runde gegen Andy Roddick aus. Die Sandplatzsaison begann Federer beim Masters-Turnier von Madrid. Bei diesem erstmals auf blauem Sand ausgetragenen Wettbewerb feierte er mit einem Dreisatzerfolg über Tomáš Berdych seinen 20. Masters-Turniersieg, womit er den Rekord für die meisten Masterstitel erneut egalisierte, den Nadal durch einen Sieg in Monte Carlo zwischenzeitlich verbessert hatte. Mit seinem insgesamt dritten Sieg in Madrid überholte Federer zudem Nadal in der Weltrangliste und nahm erstmals seit März 2011 wieder Position 2 ein. Eine Woche später schied er in Rom im Halbfinale in zwei Sätzen gegen Novak Đoković aus und fiel in der Weltrangliste wieder hinter Nadal, der das Turnier gewann, zurück. Bei den French Open erreichte Federer das Halbfinale, musste sich dort jedoch abermals Đoković geschlagen geben. Im Turnierverlauf stellte er die von Jimmy Connors gehaltenen Rekorde für die meisten Matchgewinne bei Grand-Slam-Turnieren sowie die meisten Halbfinalteilnahmen bei Turnieren dieser Kategorie ein und überbot die zuerst genannte Bestmarke. Die Rasensaison begann Federer in Halle, wo er das Endspiel erreichte, das er allerdings gegen den Deutschen Tommy Haas in zwei Sätzen verlor. Im Anschluss startete Federer beim Turnier von Wimbledon. Hier holte er in der dritten Runde einen 0:2-Satzrückstand gegen den Franzosen Julien Benneteau auf und zog schliesslich in sein insgesamt 32. Grand-Slam-Halbfinale ein, womit Federer zum alleinigen Rekordhalter wurde. In der Vorschlussrunde traf er wie zuvor in Paris auf Đoković, den er diesmal in vier Sätzen bezwang. Damit erreichte Federer sein achtes Finale in Wimbledon, was einen weiteren Rekord bedeutete. Im Finale rang er Andy Murray, der als erster Brite seit 1938 das Finale in Wimbledon erreicht hatte, nach Satzrückstand mit 4:6, 7:5, 6:3 und 6:4 nieder. Mit seinem Sieg egalisierte Federer den Rekord von Pete Sampras und William Renshaw mit sieben Siegen in Wimbledon; es war sein 17. Grand-Slam-Titel. Zudem übernahm er erstmals seit Mai 2010 die Führung in der Weltrangliste, stellte damit den von Sampras gehaltenen Rekord von 286 Wochen an der Weltranglistenspitze ein und wurde eine Woche später alleiniger Rekordhalter. Bei den Olympischen Spielen in London gewann Federer mit der Silbermedaille seine erste Einzelmedaille bei Olympischen Spielen. Dabei war er nach Athen und Peking zum dritten Mal als Schweizer Fahnenträger vorgesehen, verzichtete jedoch zu Gunsten von Stan Wawrinka auf diese Ehre. Im olympischen Tennisturnier, das auf der Anlage von Wimbledon ausgetragen wurde, traf er im Halbfinale auf Juan Martín del Potro, den er nach knapp viereinhalb Stunden Spielzeit im längsten Dreisatzmatch der Open Era mit 19:17 im dritten Satz bezwang. Im Finale kam es zu einer Neuauflage des Wimbledonendspiels gegen Andy Murray, die der Brite nach Sätzen mit 3:0 für sich entschied. Die amerikanische Hartplatzsaison begann Federer, nachdem er seinen Auftritt beim Turnier von Toronto abgesagt hatte, beim Masters-Turnier von Cincinnati. Dort gewann er das Endspiel in zwei Sätzen gegen Đoković und stellte mit seinem 21. Turniersieg in dieser Kategorie zum dritten Mal den Rekord von Nadal für die meisten Turniererfolge bei Masters-Turnieren ein. Federer gab während des gesamten Turnierverlaufs kein einziges Mal seinen Aufschlag ab, was ihm zuletzt 2008 in Halle gelungen war. Bei den anschliessenden US Open unterlag Federer im Viertelfinale Tomáš Berdych in vier Sätzen und erreichte damit erstmals seit 2003 nicht das Halbfinale in Flushing Meadows. Nach einem Davis-Cup-Einsatz für die Schweiz gegen die Niederlande spielte Federer sein nächstes Turnier erst wieder im Oktober in Schanghai. Dort erreichte er die Runde der letzten Vier, in der er sich Murray in zwei Sätzen geschlagen geben musste. Beim folgenden Heimturnier in Basel zog er in sein insgesamt neuntes Endspiel bei diesem Turnier ein, unterlag jedoch del Potro in drei Sätzen. Für das eine Woche später stattfindende Turnier von Paris-Bercy sagte Federer als Titelverteidiger ab. Damit stand fest, dass er nach insgesamt 302 Wochen an der Spitze der Weltrangliste von Đoković abgelöst werden und das Jahr 2012 auf Platz zwei der Wertung beenden würde. Beim Saisonabschlussturnier in London erreichte Federer trotz einer erneuten Niederlage gegen del Potro in der Gruppenphase das Halbfinale. Hier behielt er gegen Murray in zwei Sätzen die Oberhand und zog damit in das achte Endspiel insgesamt und das dritte in Folge bei Turnieren dieser Kategorie ein. Im Finale traf er auf den neuen Weltranglistenersten Đoković, dem er mit 6:7 und 5:7 unterlag. Zwischenzeitlicher Sturz aus den Top 5 der Weltrangliste (2013–2016) 2013 kam Federer bei den Australian Open bis ins Halbfinale, wo er Andy Murray in fünf Sätzen unterlag. Bei den folgenden Turnieren in Rotterdam und Indian Wells erreichte er jeweils das Viertelfinale, in Dubai das Halbfinale und in Madrid das Achtelfinale. In Rom stand er erstmals in der Saison in einem Endspiel, das er jedoch mit 1:6 und 3:6 gegen Nadal klar verlor. Bei den French Open schied er im Viertelfinale durch eine glatte Niederlage in drei Sätzen gegen Jo-Wilfried Tsonga aus. Bei den Gerry Weber Open in Halle sicherte sich Federer mit seinem sechsten Sieg bei diesem Turnier seinen einzigen Saisontitel; er gewann das Endspiel gegen Michail Juschny in drei Sätzen. In Wimbledon schied Federer überraschend früh aus. Er unterlag in der zweiten Runde dem ungesetzten Serhij Stachowskyj mit 7:6, 6:7, 5:7 und 6:7. Damit endete seine Serie von 36 Viertelfinalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren in Folge. Er fiel in der Weltrangliste auf Platz 5 zurück und stand somit erstmals seit zehn Jahren nicht in den Top 4. Danach trat er am Hamburger Rothenbaum an. Dort unterlag er im Halbfinale der Nummer 114 der Welt, Federico Delbonis, mit 6:7 und 6:7. In Gstaad verlor er gegen Daniel Brands bereits seine Auftaktpartie. Bedingt durch Rückenbeschwerden konnte Federer bei beiden Turnieren nicht in Bestform antreten. Seine Teilnahme am Kanada Masters sagte er daraufhin ab; in Cincinnati trat er allerdings zur Titelverteidigung an. Im Viertelfinale unterlag er Nadal mit 7:5, 4:6 und 3:6, wodurch er in der Weltrangliste hinter Juan Martín del Potro und Tomáš Berdych auf Rang 7 abrutschte, die schlechteste Platzierung seit Oktober 2002. Bei den US Open verlor Federer im Achtelfinale gegen Tommy Robredo. So früh war er zuletzt 2003 beim vierten Major-Turnier der Saison ausgeschieden. In den letzten Saisonwochen verbesserten sich seine Ergebnisse wieder etwas. So erreichte er bei seinem Heimturnier in Basel das Finale, musste sich dort aber, wie schon im Vorjahr, del Potro in drei Sätzen geschlagen geben. Bei seinen letzten beiden Turnierauftritten in Paris und bei den Tour Finals in London erreichte Federer jeweils das Halbfinale und beendete die Saison auf Platz 6 der Weltrangliste. Ausserhalb der Top 5 hatte Federer eine Saison letztmals im Jahr 2002 beendet. Die Saison 2014 begann er mit einem Finaleinzug in Brisbane. Im Endspiel unterlag er Lleyton Hewitt in drei Sätzen. Bei den Australian Open besiegte er im Viertelfinale Murray, im Halbfinale unterlag er anschliessend Nadal in drei Sätzen. In Dubai besiegte er im Halbfinale Đoković und im Finale Tomáš Berdych, was den ersten Turniersieg seit Halle im Jahr zuvor bedeutete und ihm gleichzeitig Platz 4 im Ranking bescherte. Beim nächsten Aufeinandertreffen von Federer und Đoković im Finale von Indian Wells unterlag Federer in drei Sätzen. Beim anschliessenden Masters in Miami unterlag er im Viertelfinale Kei Nishikori. In Monte Carlo erreichte er nach einem Halbfinalsieg über Đoković das Endspiel, das er gegen seinen Landsmann Stan Wawrinka verlor. Bei den French Open scheiterte er im Achtelfinale an Ernests Gulbis. Beim Vorbereitungsturnier für Wimbledon in Halle wiederholte er mit einem Sieg über Alejandro Falla seinen Triumph aus dem Vorjahr. In Wimbledon erreichte er das Finale und unterlag Đoković in einem fast vier Stunden dauernden Fünfsatzmatch. Beim Masters in Toronto erreichte er das Finale, das er gegen Tsonga mit 5:7 und 6:7 verlor. In Cincinnati gewann er mit seinem Finalsieg über David Ferrer seinen 80. Einzeltitel. Bei den US Open erreichte er das Halbfinale, das er überraschend in drei Sätzen gegen Marin Čilić verlor. Davor drehte er gegen Gaël Monfils zum neunten Mal in seiner Karriere einen 0:2-Satzrückstand; er gewann das Viertelfinale mit 4:6, 3:6, 6:4, 7:5 und 6:2. Beim Shanghai Masters erreichte Federer das neunte Endspiel im Jahr 2014 und besiegte Gilles Simon in zwei Sätzen jeweils im Tie-Break, nachdem er bereits im Halbfinale Đoković besiegt hatte. Es war sein erster Titelgewinn dort und liess ihn in der Weltrangliste auf Rang 2 vorrücken. Anschliessend gewann Federer auch die Swiss Indoors durch einen souveränen Finalsieg über David Goffin. Zum Ende des Jahres 2014 nahm er an den World Tour Finals in London teil. Nach Siegen über Milos Raonic, Kei Nishikori, Andy Murray und Stan Wawrinka zog er zwar ins Finale ein, musste dieses aber aufgrund von Rückenschmerzen absagen. Das Jahr 2015 begann für Federer mit einem Turniersieg in Brisbane. Der Finalsieg gegen Milos Raonic war zugleich sein 1000. Sieg auf der ATP World Tour. Vor ihm hatten dies nur Ivan Lendl (1071) und Jimmy Connors (1253) geschafft. Bei den Australian Open schied Federer bereits in Runde drei gegen Andreas Seppi aus. Im Februar feierte er in Dubai seinen zweiten Turniererfolg der Saison und seinen siebten Sieg bei diesem Turnier, als er im Finale Novak Đoković bezwang. In Indian Wells gelang ihm der Einzug ins Endspiel, das er in drei Sätzen gegen Đoković verlor. Die Sandplatzsaison begann für Federer mit dem Masters in Monte Carlo, wo er die dritte Runde nicht überstand; er verlor gegen Gaël Monfils in zwei Sätzen. Danach gewann er mit einem Finalsieg gegen Pablo Cuevas das Turnier in Istanbul. Es war sein 85. Karrieretitel und sein erster Turniersieg auf Sand seit dem Triumph in Madrid 2012. Bei ebendiesem Turnier scheiterte er, an Position 1 gesetzt, bereits in seiner Auftaktpartie gegen Nick Kyrgios. In Rom erreichte er wie in Indian Wells das Finale gegen Đoković und blieb erneut sieglos. Die French Open endeten für Federer im Viertelfinale. Gegen seinen Landsmann und späteren Turniersieger Stan Wawrinka verlor er die Partie in drei Sätzen. Die Rasensaison eröffnete Federer mit dem Start bei den Gerry Weber Open in Halle. Mit einem Finalsieg über Andreas Seppi hatte er als erst dritter Spieler der Open Era (nach Guillermo Vilas und Rafael Nadal) ein Turnier achtmal gewonnen. Auch in Wimbledon erreichte Federer das Endspiel, seine zehnte Finalteilnahme bei diesem Turnier. In vier Sätzen unterlag er, zum wiederholten Male in dieser Saison, Novak Đoković. Im Finale von Cincinnati revanchierte er sich für diese Niederlage, ehe der Serbe bei den US Open im Finale wieder den Sieg davontrug. Seinen Titel beim Shanghai Masters konnte Federer nicht verteidigen, da er bereits in seiner ersten Partie überraschend dem Spanier Albert Ramos unterlag. Den Titel bei den Swiss Indoors Basel gewann er allerdings erneut, diesmal gegen seinen langjährigen Rivalen Nadal. Es war sein erster Sieg über Nadal seit mehr als drei Jahren. Beim letzten Masters-Turnier 2015 in Paris schied Federer im Achtelfinale gegen John Isner aus. Bei den ATP World Tour Finals 2015 erreichte er das Finale, in dem er erneut Đoković unterlag, den er in der Gruppenphase noch geschlagen hatte. Im Jahr 2016 hatte Federer mit Verletzungen zu kämpfen. Er spielte nur sieben Turniere und blieb dabei erstmals seit 2000 ohne Titelgewinn. Zu Saisonbeginn unterlag er Milos Raonic im Finale von Brisbane, bei den Australian Open wurde er wieder einmal von Đoković geschlagen. Verletzungen zwangen ihn, bis zum Monte-Carlo Masters zu pausieren. Dort spielte er sich bis ins Viertelfinale vor, ehe er von Jo-Wilfried Tsonga geschlagen wurde. Bei seinen nächsten beiden Turnierauftritten in Rom und Stuttgart wurde Federer jeweils vom jungen Österreicher Dominic Thiem bezwungen. Bei den French Open konnte er nicht auftreten, womit er erstmals seit den US Open 1999 ein Grand-Slam-Turnier verpasste. In Halle unterlag er Alexander Zverev im Halbfinale. In Wimbledon scheiterte Federer im Halbfinale an Milos Raonic, nachdem er in der Runde zuvor gegen Marin Čilić einen Zweisatz-Rückstand aufgeholt hatte. Danach sagte er wegen anhaltender Knieprobleme alle weiteren Turniere für 2016 ab. Dies führte dazu, dass er bis zum Jahresende auf Position 16 der Weltrangliste zurückfiel. Comeback – erster Grand-Slam-Titel seit fünf Jahren und achter Wimbledon-Triumph (2017) In Australien nutzte Federer lediglich den Hopman Cup als Vorbereitung für das erste Grand-Slam-Turnier des Jahres, wo er mit Belinda Bencic zwei von drei Begegnungen gewann. Bei den Australian Open holte er seinen 18. Grand-Slam-Titel. Nur an Position 17 gesetzt, erreichte er zunächst das Viertelfinale, in dem er Mischa Zverev in drei Sätzen besiegte. Im Halbfinale bezwang er in fünf Sätzen seinen Landsmann Wawrinka, der sich nach den verlorenen ersten beiden Sätzen noch zum Satzausgleich durchgekämpft hatte. Im Finale kam es zu einer erneuten Begegnung mit Dauerrivale Nadal, dem er in Melbourne zuletzt im Finale von 2009 gegenüber gestanden hatte. Für die damalige Niederlage in fünf Sätzen konnte sich Federer, wiederum in fünf Sätzen (6:4, 3:6, 6:1, 3:6, 6:3), revanchieren. Nach einer frühen Niederlage im Achtelfinale der Dubai Championships gegen den Qualifikanten Jewgeni Donskoi gelang Federer bei seinem vierten Turnierstart des Jahres der Sieg bei den Paribas Open in Indian Wells, wo er im Finale Wawrinka in zwei Sätzen bezwang. Damit stand Federer wieder an Position 6 der Weltrangliste. Nach einem engen Halbfinale gegen Nick Kyrgios in drei jeweils im Tiebreak entschiedenen Sätzen holte sich Federer mit dem glatten Zweisatzsieg über Nadal im Finale von Miami diesen Titel und das sogenannte Sunshine-Double bestehend aus Indian Wells und Miami jeweils zum dritten Mal. Dadurch verbesserte sich Federer in der Weltrangliste auf Rang 4. Federer verzichtete auf die Sandplatzsaison und stieg erst zur Rasensaison wieder in den Turnierbetrieb ein. Beim MercedesCup in Stuttgart schied er im Achtelfinale gegen Tommy Haas aus, gewann danach jedoch seinen neunten Titel beim Turnier in Halle im Finale gegen Alexander Zverev, gegen den er im Vorjahr noch im Halbfinale ausgeschieden war. In Wimbledon gewann Federer seinen 19. Grand-Slam-Titel und erreichte zum dritten Mal nach 2006 und 2008 ohne Satzverlust und zum elften Mal insgesamt das Finale, wobei er u. a. fünf Tie-Breaks für sich entscheiden konnte, ohne dabei einen Breakball abwehren zu müssen. Im Finale besiegte er Marin Čilić klar in drei Sätzen (6:3, 6:1, 6:4) und gewann damit das Rasenturnier erstmals ohne Satzverlust. Er überholte damit den Briten William Renshaw und den US-Amerikaner Pete Sampras, die je siebenmal das Einzel-Finale von Wimbledon gewonnen hatten. Mit 35 Jahren und 342 Tagen war Federer der älteste Wimbledon-Finalist seit Ken Rosewall 1974. Mit seinem Finalerfolg ist er ältester Sieger des Turniers in der Open Era. Danach legte er bis zum Masters von Montreal eine kurze Turnierpause ein. Dort verpasste er seinen sechsten Titel im sechsten Finale des Jahres gegen Alexander Zverev in zwei Sätzen. In der Folgewoche hätte er in Cincinnati die Chance gehabt, mit einem Turniersieg an die Spitze der Weltrangliste zurückzukehren, musste aber die Teilnahme wegen Rückenschmerzen absagen. Bei den US Open schied er im Viertelfinale gegen Juan Martín del Potro aus. Dafür gewann er zwei Wochen danach als Mitglied der Europa-Auswahl den 2017 erstmals ausgetragenen Laver Cup und spielte erstmals an der Seite von Rafael Nadal ein Doppel, das die beiden gegen Sam Querrey und Jack Sock mit 6:4, 1:6, [10:5] gewannen; seine Einzelsiege gegen Querrey (6:4, 6:2) und Nick Kyrgios (4:6, 7:6, [11:9]) waren zusätzlich entscheidende Beiträge zum 15:9-Erfolg der Europa-Auswahl. Danach gewann er nacheinander die Turniere von Shanghai und Basel. Zum Saisonabschluss erreichte Federer bei den ATP Finals das Semifinale, wo er sich etwas überraschend David Goffin geschlagen geben musste. Mit insgesamt sieben Turniersiegen aus elf Turnieren war 2017 für Federer das erfolgreichste der letzten zehn Jahre – mehr Titel gewann er nur in den Saisons von 2004 bis 2007. Für Platz Eins der Weltrangliste reichte es aber nicht, da auch Rafael Nadal in diesem Jahr zwei Grand-Slam-Turniere gewann und bei den beiden anderen in Summe mehr Punkte als Federer, der Paris ausgelassen hatte, sammeln konnte. Mehrmals hatte Federer die Chance auf die Nummer Eins, blieb jedoch bei seiner Strategie, nach Turnieren längere Pausen einzulegen und insgesamt weniger Turniere zu spielen. 20. Grand-Slam-Titel und Rückkehr an die Weltranglistenspitze (2018) Anfang 2018 konnte Federer bei den Australian Open seinen Titel erfolgreich verteidigen und gewann damit seinen 20. Grand-Slam-Titel, mit seinem sechsten Sieg in Melbourne stellte er den Rekord von Roy Emerson und Novak Đoković ein. Entgegen seiner ursprünglichen Saisonplanung meldete er sich kurz entschlossen bei dem Mitte Februar stattfindenden Turnier von Rotterdam an, da sich ihm die Gelegenheit bot, den zwischenzeitlich verletzten Rafael Nadal von der Weltranglistenspitze zu verdrängen. Dieses Vorhaben gelang mit dem Sieg im Viertelfinale gegen Robin Haase. Im Finale des Turniers schlug er den Weltranglistendritten Grigor Dimitrow glatt in zwei Sätzen 6:2, 6:2. Am 19. Februar 2018, nach einer Unterbrechung von mehr als fünf Jahren, wurde Federer die älteste Nummer 1 der Geschichte. Nachdem er infolge der Finalniederlage gegen Juan Martin del Potro beim Turnier von Indian Wells (4:6, 7:6, 6:7) und der anschliessenden Zweitrundenniederlage gegen Thanasi Kokkinakis beim Turnier von Miami (6:3, 3:6, 6:7) seine Punkte als Vorjahressieger nicht hatte verteidigen können und daher zwischenzeitlich die Weltranglistenführung an Rafael Nadal verloren hatte, schuf er durch den Finaleinzug und den anschliessend gegen Milos Raonic (6:4, 7:6) errungenen ersten Finalsieg beim Turnier von Stuttgart die Voraussetzungen für seine Rückkehr auf den ersten Platz. Davor hatte Federer zum dritten Mal in Folge die Sandplatzsaison ausgelassen. In Halle erreichte er zum zwölften Mal das Finale, dieses verlor er jedoch gegen Borna Ćorić in drei Sätzen mit 6:7, 6:3, 2:6. Bei Wimbledon trat Federer als Titelverteidiger an, unterlag jedoch überraschend im Viertelfinale Kevin Anderson nach über vier Stunden Spielzeit in fünf Sätzen mit 6:2, 7:6, 5:7, 4:6, 11:13. Damit verlor er zum dritten Mal bei einem Grand-Slam-Turnier ein Match nach einer 2:0-Satzführung. In Cincinnati erreichte er das 150. Finale seiner Karriere, verlor dieses aber in zwei Sätzen gegen Novak Đoković, es bedeutete für ihn die erste Finalniederlage in Ohio. Bei den US Open verlor er bereits im Achtelfinale gegen John Millman in vier Sätzen, Federer hatte in diesem Match erhebliche Probleme mit den hohen Temperaturen und der hohen Luftfeuchtigkeit, Millman kam damit besser zurecht. In Shanghai unterlag Federer im Halbfinale Borna Ćorić mit 4:6, 4:6. Da Novak Đoković das Turnier gewann, fiel Federer auf den dritten Rang der Weltrangliste zurück. Bei seinem Heimturnier in Basel gewann er den Titel zum neunten Mal, als er im Finale Marius Copil mit 7:6, 6:4 schlug, dieser Sieg war der 99. Titel seiner Karriere. Beim Masters in Paris verlor er im Halbfinale gegen Novak Đoković knapp in drei Sätzen mit 6:7, 7:5, 6:7. Danach nahm er zum insgesamt 16. Mal an den ATP Finals teil. Zu Beginn verlor er das erste Match gegen Kei Nishikori, gewann aber die nächsten beiden Spiele gegen Dominic Thiem und Kevin Anderson glatt in zwei Sätzen und traf anschliessend im Halbfinale auf Alexander Zverev, dem er 5:7 und 6:7 unterlag. So beendete Federer die Saison auf dem dritten Weltranglistenplatz. 100. Titel der Karriere (2019) Zu Beginn der Saison 2019 gewann er mit Belinda Bencic zum dritten Mal den Hopman Cup in Perth. Bei den Australian Open konnte Federer den Titel nicht verteidigen, er scheiterte im Achtelfinale an Stefanos Tsitsipas in vier engen Sätzen, damit riss auch seine Serie von 17 Siegen in Folge in Melbourne. Mit seinem achten Titel in Dubai erreichte er nach Jimmy Connors als zweiter Spieler in der Open Era 100 Turniersiege im Einzel. Im Finale besiegte er Stefanos Tsitsipas in zwei Sätzen. Beim Indian Wells Masters erreichte er zum neunten Mal das Finale, verlor es jedoch in drei Sätzen gegen Dominic Thiem, der seinen ersten Masters-Titel gewann. Am Miami Masters gewann er seinen 101. Titel mit einem Sieg in zwei Sätzen gegen John Isner. Es war sein vierter Titel in Miami sowie in seinem fünfzigsten Finale der 28. Masters-Triumph. Beim Masters in Madrid bestritt er erstmals seit 2016 wieder ein Turnier auf Sand, wo er nach zwei Siegen im Viertelfinale an Dominic Thiem in drei Sätzen scheiterte. Beim anschliessenden Turnier in Rom zog er ebenfalls ins Viertelfinale ein, wo Federer jedoch aufgrund einer Beinverletzung zum Match gegen Stefanos Tsitsipas nicht antrat. Danach trat er erstmals seit 2015 wieder bei den French Open an, er erreichte dort nach sieben Jahren wieder das Halbfinale, das Federer klar in drei Sätzen gegen den späteren Sieger Rafael Nadal verlor. Das Turnier in Halle gewann er nach einem Zweisatzsieg gegen David Goffin zum zehnten Mal, damit ist er nach Nadal der zweite Spieler in der Open Era, der die Anzahl von jeweils zehn Siegen bei einem Turnier erreicht. In Wimbledon erreichte Federer zum zwölften Mal das Finale, er verlor es jedoch bereits zum dritten Mal gegen Novak Đoković in fünf Sätzen mit 6:7, 6:1, 6:7, 6:4, 12:13. Mit einer Spielzeit von 4 Stunden und 57 Minuten war es das längste Wimbledon-Finale der Geschichte, zudem wurde zum ersten Mal der Tiebreak im Entscheidungssatz in einem Einzel ausgespielt. Zuvor erreichte er mit dem Erfolg im Viertelfinale gegen Kei Nishikori seinen 100. Sieg in Wimbledon, was davor noch keinem anderen Spieler gelungen war. Bei den US Open scheiterte er im Viertelfinale in fünf Sätzen an Grigor Dimitrow. In Basel gewann er ohne Satzverlust seinen zehnten Titel bei diesem Turnier, er siegte dort zum dritten Mal in Serie. Bei den ATP Finals erreichte er zum insgesamt 16. Mal das Halbfinale, unterlag dort aber Stefanos Tsitsipas in zwei Sätzen. Zuvor konnte er in der Gruppenphase Novak Đoković erstmals seit 2015 wieder besiegen. Er beendete die Saison erneut auf dem dritten Platz der Rangliste. Verletzungsprobleme am Knie und Karriereende (2020–2022) 2020 erreichte Federer sein 15. Halbfinale bei den Australian Open, wo er Đoković klar in drei Sätzen unterlag. In der dritten Runde gewann er zuvor gegen John Millman sein 100. Match bei diesem Turnier. Am 20. Februar 2020 gab Federer bekannt, dass er sich einen Tag zuvor einer Operation im rechten Knie unterzogen hatte. Er sagte daraufhin seine Teilnahme an allen Turnieren bis inklusive der French Open ab und plante sein Comeback für die Rasensaison im Juni. Im Sommer musste er sich jedoch erneut am gleichen Knie operieren lassen, was das Saisonende bedeutete. In Abwesenheit von Federer egalisierte Rafael Nadal mit seinem 20. Grand-Slam-Sieg bei den durch die COVID-19-Pandemie verschobenen French Open 2020 dessen Rekordmarke. Im März 2021 gab Federer in Doha nach 14 Monaten Pause sein Comeback. Nach einem Sieg im ersten Match über Daniel Evans scheiterte er in der nächsten Runde an Nikolos Bassilaschwili. Bei den French Open zog er ins Achtelfinale ein, trat dort jedoch gegen Matteo Berrettini nicht an, um sich für die bevorstehende Rasensaison zu schonen. In Wimbledon konnte Federer sein 18. Viertelfinale bei diesem Turnier erreichen, das er gegen Hubert Hurkacz überraschend klar mit 4:6, 6:7, 0:6 verlor. Es war seine erste Dreisatzniederlage in London seit 2002. Nach diesem Turnier unterzog er sich einer weiteren Knieoperation, damit beendete er die Saison vorzeitig. Am 23. September 2022 bestritt Federer das letzte offizielle Spiel seiner Karriere: Beim Laver Cup in London trat er im Doppel für Team Europe zusammen mit Rafael Nadal gegen die US-Amerikaner Jack Sock und Frances Tiafoe an. Federer und Nadal unterlagen 6:4, 6:7 (2:7), [9:11]. Davis Cup Roger Federer kann eine Bilanz von 52 Siegen und 20 Niederlagen bei 26 Davis-Cup-Partien vorweisen (40:8 im Einzel und 12:10 im Doppel). Dabei ist er seit 1999 regelmässiges Mitglied der Schweizer Mannschaft und führte sein Land 2014 zum Titelgewinn sowie 2003 ins Halbfinale des Wettbewerbs. In den Jahren 1999, 2001 und 2004 erreichte Federer mit dem Schweizer Team das Viertelfinale des Wettbewerbs. Seit der Saison 2005 konzentrierte sich Federer massgeblich auf seine Einzelkarriere und nahm an den Erstrundenpartien seines Landes in den Jahren 2005 bis 2007 nicht teil, worauf die Schweiz jeweils in der ersten Runde scheiterte. Anschliessend nahm Federer allerdings an der Qualifikationsrunde teil, um den Abstieg seines Landes aus der Weltgruppe zu verhindern. Während dies 2005 und 2006 gelang, unterlag die Schweiz 2007 in der Relegation, trotz zweier Erfolge Federers im Einzel, gegen die Tschechische Republik mit 2:3 und war damit 2008 erstmals seit 16 Jahren nicht mehr in der Weltgruppe vertreten. Im September 2008 schaffte das Schweizer Team mit Federer und Wawrinka mit einem Sieg gegen Belgien den sofortigen Wiederaufstieg in die Weltgruppe. Nachdem Federer 2009 erneut die Erstrundenpartie der Schweiz ausgelassen hatte, in der das Team den USA unterlag, war er im September in der Relegation gegen Italien wieder Teil der Mannschaft. Mit zwei Einzelsiegen trug Federer dazu bei, den erneuten Abstieg aus der Weltgruppe zu verhindern. 2010 spielte Federer keine Davis-Cup-Partie, worauf die Schweizer Mannschaft nach 2007 erneut in die Europagruppe abstieg. 2011 nahm Federer an der Partie der Schweiz gegen Portugal in der Europagruppe teil und trug mit zwei Siegen im Einzel dazu bei, dass sich die Eidgenossen für die Aufstiegsrunde in die Weltgruppe qualifizierten. Hier siegte die Schweiz mit 3:2 gegen Australien, wozu Federer erneut zwei Einzelsiege beisteuerte, und stieg dadurch in die Weltgruppe auf. Im Februar 2012 nahm Federer mit der Begegnung gegen die USA erstmals seit 2004 wieder an einer Erstrundenpartie der Schweiz teil. Dabei unterlag er sowohl in seinem Auftakteinzel als auch im Doppel an der Seite von Wawrinka seinen Konkurrenten, wodurch die Schweiz bereits nach dem Doppel als Verlierer der Begegnung feststand. Mit zwei Einzelsiegen verhalf Federer dem Team im September 2012 in der Relegationspartie gegen die Niederlande jedoch zum Verbleib in der Weltgruppe. 2014 war Federer nach einjähriger Pause wieder Teil der Schweizer Mannschaft und verhalf ihr in der ersten Runde gegen Serbien mit einem sowie im Viertelfinale gegen Kasachstan mit zwei Einzelsiegen jeweils zum Erreichen der nächsten Runde. Im Halbfinale gegen Italien steuerte er zwei Einzelerfolge zum Sieg der Mannschaft bei, womit die Schweiz nach 1992 zum zweiten Mal in ihrer Davis-Cup-Geschichte das Finale des Wettbewerbs erreichte. Im Endspiel gegen Frankreich verlor Federer zunächst sein Auftakteinzel gegen Gaël Monfils in drei Sätzen, gewann aber anschliessend sowohl das Doppel an der Seite von Wawrinka, der sein Auftaktmatch im Einzel zuvor gewonnen hatte, als auch sein zweites Einzel gegen Richard Gasquet, womit die Schweizer Mannschaft vorzeitig als Davis-Cup-Sieger feststand. Mit 52 Siegen liegt Federer in der Ewigen Rangliste seines Landes auf dem ersten Platz. Dabei ist seine Gewinnquote die mit Abstand erfolgreichste der Spieler mit mehr als 20 Einsätzen. International Premier Tennis League (IPTL) Roger Federer spielte als einer der Top-Stars bei der neu gegründeten International Premier Tennis League mit und trat bei diesem neuen Format in Asien im Team der Indian Aces an. Mit seinen Teamkollegen Gaël Monfils, Ana Ivanović, Sania Mirza, Rohan Bopanna und den ehemaligen Spielern Fabrice Santoro und Pete Sampras gewann er am 13. Dezember 2014 den erstmals vergebenen Titel. Schaukämpfe Unmittelbar nach dem Tennis Masters Cup trat Federer am 21. November 2006 in einem Schaukampf in Seoul gegen Rafael Nadal an. Dabei setzte sich Federer mit 6:3, 3:6 und 6:3 gegen den Mallorquiner durch. Im Mai 2007 traf Federer in Palma im «Battle of Surfaces» erneut auf Rafael Nadal. Vor 7000 Zuschauern duellierten sich die beiden auf einem Platz mit unterschiedlichen Belägen. Auf einer Netzseite der Lieblingscourt des Schweizers, Rasen, auf der anderen der von Nadal bevorzugte Sand. In der ausverkauften Palma-Arena siegte Nadal mit 7:5, 4:6 und 7:6 (12:10). Eine viel beachtete Schaukampfserie bestritt Federer im November 2007, als er in drei Exhibitions gegen Pete Sampras antrat. Gewann der Schweizer die Auftaktpartie in Seoul noch mühelos mit 6:3 und 6:4, leistete Sampras bei Aufeinandertreffen Nummer zwei in Kuala Lumpur mehr Widerstand und zwang Federer zwei Mal in den Tie-Break. Federer setzte sich dabei mit 7:6 (8:6) und 7:6 (7:5) durch. Erst im letzten Duell in Macau verlor Federer gegen den zehn Jahre älteren Amerikaner mit 6:7 (8:10) und 4:6. Am 10. März 2008 bezwang Federer bei einem erneuten Aufeinandertreffen mit Sampras den Amerikaner in drei Sätzen mit 6:3, 6:7 (4:7) und 7:6 (8:6). Die Partie wurde vor 19'000 Zuschauern im New Yorker Madison Square Garden ausgetragen. Federer nahm am 18. November 2008 an dem Showdown of Champions teil. Im ersten Spiel besiegte er James Blake 7:6. Im anschliessenden Doppel verlor er mit Björn Borg gegen John McEnroe und James Blake 5:7. Im März 2010 bestritt Federer gemeinsam mit Sampras ein Schaudoppel in Indian Wells gegen Rafael Nadal und Andre Agassi zugunsten der Erdbebenopfer von Haiti. Federer/Sampras entschieden das «Hit for Haiti» getaufte Event 8:6 für sich. Am 21. bzw. 22. Dezember 2010 trugen Federer und Nadal zwei Schauduelle aus, das erste in Zürich, das zweite in Madrid. Gespielt wurde auf je zwei gewonnene Sätze. Die Einnahmen flossen an die jeweiligen Wohltätigkeitsfonds der beiden Rivalen. Bei seinem «Match for Africa» nutzte Federer den Heimvorteil und bezwang Nadal in Zürich mit 4:6, 6:3 und 6:3, unterlag Nadal in Madrid jedoch mit 7:6 (7:3), 3:6 und 1:6. Vier Jahre später, am 21. Dezember 2014, kam es im Zürcher Hallenstadion zu einer Neuauflage des «Match for Africa», diesmal gegen Stan Wawrinka. Federer gewann das Duell gegen seinen Davis-Cup-Partner mit 7:6, 6:4. Am 12. Januar 2015 bestritt Federer gegen Lleyton Hewitt in Sydney das erste grosse öffentliche Spiel im Fast4-Format. Federer gewann 4:3 (5:3), 2:4, 3:4 (3:5) 4:0, 4:2. Im November 2019 reiste Federer innerhalb von sieben Tagen in fünf Länder Lateinamerikas (Argentinien, Chile, Kolumbien, Mexiko und Ecuador), wo er jeweils ein Match gegen den Deutschen Alexander Zverev bestritt – die Spieler teilen ihre Managementfirma. Wegen sozialer Unruhen und einer Ausgangssperre wurde das Spiel in Kolumbiens Hauptstadt Bogotà abgesagt. Für die fünf Spiele erhielt Federer geschätzte 10 Millionen Dollar Gage. In Mexiko-Stadt spielten Federer und Zverev vor 41'157 in der «Plaza de Toros», einer Stierkampfarena. Sie stellten damit einen neuen Zuschauerweltrekord für eine Tennispartie auf. Für seine Reise in von sozialen Unruhen geplagte Länder wurde Federer zum Teil stark kritisiert. Trainer 1989–1994: Adolf Kacovský (Schweiz, heute Tschechien) hatte in Federers Kindheit massgeblichen Einfluss auf dessen Spiel. Als Trainer des Tennisclubs TC Old Boys Basel arbeitete Kacovský bis zu Federers Wechsel nach Ecublens 1995 mit ihm zusammen. 1991–1995, 1997–2000: Peter Carter (Australien) betreute Federer ebenfalls während seiner Zeit bei den Old Boys Basel. Nach Federers Wechsel auf die internationale Tour wurde Carter sein Verbandstrainer. Auch nach der Trennung vom Verband blieb Carter weiterhin ein enger Berater von Federer. 1995–1997: Die Jahre 1995–1997 verbrachte Federer im nationalen Schweizer Trainingszentrum von Ecublens, wo er vom Verband für den Einstieg auf die internationale Juniorentour gefördert wurde. 2000–2003: Peter Lundgren (Schweden) betreute Federer teilweise schon vor 2000 als Verbandstrainer und wurde nach der Trennung vom Verband der private Trainer des Schweizers. Nach der Saison 2003 folgte die Trennung. 2004: Das Jahr 2004 bestritt Federer ohne Trainer. 2005–2007: Tony Roche (Australien) betreute Federer als Teilzeitcoach bei wichtigen Turnieren von 2005 bis 2007. Im Mai 2007 erfolgte die Trennung. Den Rest des Jahres absolvierte Federer trainerlos. 2008: Im April verpflichtete Roger Federer zur Vorbereitung auf die Sandplatzsaison vorübergehend den damals 55-jährigen Spanier José Higueras. Die Zusammenarbeit wurde bis zu den US Open 2008 fortgesetzt. Ab Herbst 2008 arbeitete Federer wieder ohne Trainer. 2010–2013: Federer beschäftigte im August Paul Annacone (USA) als Trainer. Nach Federers Ausscheiden beim Shanghai Masters 2013 wurde die Zusammenarbeit beendet. 2014–2015: Federers «Kindheitsidol» Stefan Edberg (Schweden) war neben Severin Lüthi, der ihn seit 2007 auf der Tour begleitet, Co-Trainer. Anfang Dezember 2015 gab Federer die Trennung von Edberg bekannt. 2016–2022: Von Januar 2016 bis zu seinem Karriereende im September 2022 wurde Federer neben Lüthi von Ivan Ljubičić (Kroatien) als Co-Trainer unterstützt, der von 2013 bis 2015 schon den kanadischen Tennisprofi Milos Raonic betreut hatte. Ausrüster Federer hatte den grössten Teil seiner Karriere für seine Schuhe und die Bekleidung einen Vertrag mit Nike. Nach dem Turnier von Wimbledon 2008 machte Nike ihn zu einem personalisierten Werbeträger mit eigenem Logo. Zum Juli 2018 spielte Federer erstmals in Kleidern seines neuen japanischen Sponsors Uniqlo. Spielstil Roger Federer gilt als der vielseitigste Spieler im heutigen Tennis und auch als einer der besten Allrounder in der Geschichte des Profitennis. So wurde der Schweizer vom amerikanischen Tennis Magazine 2007 anlässlich einer Auflistung der besten Spieler in bestimmten Bereichen des Tennisspiels in insgesamt sieben von elf Kategorien zu den besten Spielern der heutigen Tennisgeneration gezählt. In vier Bereichen wurde er darüber hinaus zu den besten Spielern in der Tennisgeschichte gezählt. Dieses vielseitige und variantenreiche Spiel ermöglichte es Federer nicht nur, auf den unterschiedlichen Platzbelägen erfolgreich zu sein, sondern machte ihn auch zum dominierenden Spieler seiner Generation. So setzte sich sein Allroundspiel gegen eher einseitig veranlagte Spielertypen seiner Generation wie Andy Roddick (Aufschlag) oder auch Lleyton Hewitt (Beinarbeit und Returnspiel) durch. Zu erwähnen ist allerdings auch, dass die kontinuierliche Vereinheitlichung der Platzbeläge einen entscheidenden Vorteil für die Spielweise von Allroundspielern bietet. In der Grundanlage gehörte Federer zum im heutigen Profitennis vorherrschenden Spielertyp, der im Wesentlichen von der Grundlinie des Platzes agiert. Zwar hat Federer gerade in den Jahren unter seinem Trainer Tony Roche auch an seinem Netzspiel gearbeitet, dennoch erzielt er den Grossteil seiner Punktgewinne durch Schläge von der Grundlinie. Als spektakulärster und dabei auch erfolgreichster Schlag in Federers Spiel gilt die Vorhand, die vom Tennis Magazine als beste Vorhand in der Geschichte des Sportes bezeichnet wird. Das Geheimnis seiner Vorhand liegt laut Experte Skidelsky in seiner Schlägerhaltung, dem modifizierten Easterngriff, der ihm erlaubt, jeden Ball zu spielen. Wegen ihrer Schnelligkeit, Genauigkeit und Zuverlässigkeit setzt Federer seine Vorhand meist ein, um einen Ballwechsel direkt zu beenden oder den Gegner zu einem entscheidenden Fehler zu zwingen. Im Vergleich zum Vorhandschlag wird die Rückhand von Federer als schwächere Seite angesehen. Seine Rückhand setzt Federer massgeblich zur Vorbereitung eines Gewinnschlages ein. So arbeitet Federer speziell bei Returnspielen häufig mit dem Rückhandslice, um den Gegner in eine defensive Situation zu zwingen. Federer zum Spiel mit der Rückhand zu zwingen, gilt als eine der bewährtesten Taktiken, um den Schweizer in Bedrängnis zu bringen. Hochabspringende Schläge auf die Rückhand waren dementsprechend auch einer von fünf möglichen Wegen, um Federer zu schlagen, die das Time Magazine im Jahr 2007 nach Interviews mit diversen Tennisexperten und Spielern vorschlug. Obwohl die starke Vorhand von Federer in Beschreibungen seines Spielstils meist den grössten Raum einnimmt, gelten auch sein Defensivspiel und speziell seine Beinarbeit und Bewegung auf dem Platz als wichtiger Faktor für seinen Erfolg. So bezeichnete das Tennis Magazine ebenfalls die Beinarbeit von Federer als beste in der Geschichte des Sportes. Als entscheidende Person für die Entwicklung der Bewegungsabläufe von Federer auf dem Tennisplatz gilt der Konditionstrainer Pierre Paganini, mit dem der Schweizer seit Ende der Saison 2000 zusammenarbeitet. Paganini trainiert mit Federer massgeblich in den Bereichen Athletik, Beinarbeit und Krafttraining. Die gezielte Arbeit in diesen Bereichen ermöglicht Federer besondere Schnelligkeit auf kurzen Laufwegen, so dass er gegnerische Schläge schneller als die meisten anderen Spieler erlaufen und mit wesentlich überlegteren Rückschlägen erwidern kann. Dies öffnet dem Schweizer die Möglichkeit, aus teilweise sehr starker Bedrängnis wieder selbst die Offensive zu ergreifen oder auch direkte Punktgewinne zu erzielen. Andere Bereiche im Spiel von Roger Federer werden in den meisten Analysen eher nebensächlich erwähnt. So gilt der Aufschlag des Schweizers nicht als eine seiner grössten Stärken, jedoch besitzt Federer einen der variabelsten Aufschläge auf der ATP Tour. Tatsächlich schlägt Federer deutlich weniger Asse und Service Winners als die besten Aufschläger im heutigen Tennis. Dennoch erreichte Federer gerade in diesem Bereich eine deutliche Verbesserung in den letzten Jahren. Am Ende seiner Karriere hatte er insgesamt 11.478 Asse geschlagen, die drittmeisten auf der Tour. So steigerte er seine durchschnittliche Anzahl an Assen pro Spiel in den letzten Jahren kontinuierlich. Zudem liegt Federer seit dem Jahr 2002 mit rund 77 % an gewonnenen Punkten bei ersten Aufschlägen unter den besten zehn Spielern in dieser Statistik für das jeweilige Jahr. Zudem konnte er 88,8 % seiner Aufschlagspiele durchbringen, nur vier Spieler weisen eine bessere Quote auf. Wenngleich das Netzspiel im Welttennis in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat, nutzt Federer das Spiel am Netz nicht nur regelmässig auf schnellen Belägen, um gute Aufschläge direkt zu verwerten, sondern öfters auch auf langsamen Belägen wie Sand, um laufintensive Grundlinienduelle abzukürzen. Gerade im historischen Vergleich gilt Federer aber nicht als einer der besten Volleyspieler. Das Tennis Magazine nannte Federer zwar bei den besten aktuellen Spielern in diesem Bereich, gerade bei seinen zahlreichen Sandplatzduellen gegen Rafael Nadal wurde Federer am Netz aber regelmässig vom Spanier passiert. Auch die typischen Sandplatzschläge wie Stopp- oder Lobbälle gehörten lange nicht zum häufig frequentierten Schlagrepertoire des Schweizers. Jedoch steigerte sich Federer auch bei diesen Schlägen stetig. So band er auf dem Weg zu seinem French-Open-Sieg 2009 und im weiteren Saisonverlauf vor allem den Stoppball regelmässig und effektiv in sein Spiel ein. Neben der reinen Ebene der Spielfähigkeiten ist auch der mentale Bereich, gerade bei Grand-Slam-Turnieren, ein entscheidender Faktor im Tennissport. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Federer, der in jungen Jahren als sehr lautstarker und hitzköpfiger Spieler galt, sein Auftreten auf dem Platz schon früh in seiner Profikarriere stark gewandelt hat. Selbst in engen Spielsituationen zeigt Federer selten Emotionen und erlaubt seinen Kontrahenten so kaum eine Einschätzung seiner tatsächlichen Verfassung. Zudem ist Federer dafür bekannt, in entscheidenden Situationen sein bestes Tennis abzurufen. Belege dafür sind seine starke Tie-Break-Bilanz (Federer liegt mit rund 66 % gewonnener Tie-Breaks auf Platz 1 der Statistik der Spieler mit mehr als 100 absolvierten Tie-Breaks) und die Prozentzahl an abgewehrten Breakchancen (hier lag Federer in der Saison 2006 mit 70 % auf Platz 1 der ATP-Spieler). Alle diese Spielfähigkeiten von Federer, gepaart mit seiner nahezu beispiellosen Erfolgsquote in den letzten Jahren, haben dazu geführt, dass zahlreiche Spieler ihre Partien gegen Federer schon vor der eigentlichen Austragung als verloren abhaken. Dies ist eine Beobachtung, die auch das Time Magazine im Artikel über die Wege, Federer zu schlagen, thematisierte. So meint David Nalbandian, der insgesamt acht Duelle gegen Federer für sich entschied, dass viele Spieler bessere Chancen gegen Federer hätten, wenn sie mit einer anderen Motivation in die Spiele gegen den Schweizer gehen würden. 2015 erregte Federer mit einer neuen Rückschlagtechnik Aufmerksamkeit in der Tenniswelt, bei der er den Ball nach dem gegnerischen Aufschlag möglichst früh retourniert, um dem Gegenspieler damit weniger Zeit für dessen nächsten Schlag zu gewähren. Der Schlag wurde unter dem Begriff Sabr (Sneak Attack by Roger) bekannt. Ehrungen & Auszeichnungen Federer wurde vom Welttennisverband ITF zum Spieler der Jahre 2004, 2005, 2006, 2007 und 2009 ernannt. Zudem wurde er fünfmal zum Laureus-Weltsportler des Jahres (2005, 2006, 2007, 2008 und 2018) gewählt und gewann fünfmal die PAP-Wahl zu Europas Sportler des Jahres sowie sechsmal den gleichnamigen Titel der Vereinigung der europäischen Sportjournalisten (UEPS), was vor ihm noch keinem Sportler gelungen ist. Viermal wurde er von der französischen Sportzeitung L’Équipe zum internationalen «Champion des champions» (2005, 2006, 2007, 2017) gekürt. In den gleichen Jahren setzte er sich bei der Wahl der italienischen Sportzeitung La Gazzetta dello Sport zum Weltsportler des Jahres durch. Zudem wurde Federer viermal zur BBC Overseas Sports Personality of the Year gewählt (2004, 2006, 2007, 2017) und erhielt insgesamt zehn ESPY Awards, wovon er neunmal zum besten Tennisspieler gewählt wurde (2005–2010, 2017–2019). 2018 erhielt er bei den Laureus Awards die Auszeichnung für das Comeback des Jahres, damit ist er mit insgesamt sechs Auszeichnungen Rekordhalter bei den Laureus World Sports Awards. Bei den ATP Awards wurde Federer zwischen 2003 und 2021 jeweils bei einer Internetwahl als Fans’ Favourite gewählt. Zudem wurde Federer insgesamt 13-mal der Stefan Edberg Sportsmanship Award zugesprochen, eine Auszeichnung für Fairness und vorbildliches Auftreten sowohl auf als auch neben dem Platz. Am Ende des Jahres 2017 wurde Federer bei den ATP Awards mit der Auszeichnung Comeback Player of the Year geehrt. In seinem Heimatland wurde Federer siebenmal zum Schweizer Sportler des Jahres (2003, 2004, 2006, 2007, 2012, 2014, 2017) gewählt. Darüber hinaus gewann er 2008 mit Stan Wawrinka und 2014 mit dem Davis-Cup-Team (gemeinsam mit Wawrinka, Michael Lammer und Marco Chiudinelli) in der Wertung Team des Jahres. 2003 wurde er Schweizer des Jahres. 2020 wurde er zum besten Schweizer Sportler der letzten 70 Jahre gewählt. Im Jahr 2022 wurde Federer an den Schweizer «Sports Awards» der Ehrenpreis für seine Karriere zugesprochen, welcher letztmals 2009 vergeben wurde. Im Jahr 2009 wurde Federer in Basel zum «Ehrespalebärglemer» ernannt. Die Schweizerische Post widmete Federer 2007 als erster lebender Persönlichkeit eine Sonderbriefmarke. Die Österreichische Post gab im September 2009 bekannt, Federer im Jahr 2010 ebenfalls durch die Veröffentlichung einer Sonderbriefmarke ehren zu wollen. Auf Vorschlag des Direktors des Turniers von Halle, Ralf Weber, wurde anlässlich der Gerry Weber Open 2012 ein Teil der Haller Weststraße in Roger-Federer-Allee umbenannt. Am 21. April 2016 wurde in Biel eine neue Strasse nach ihm als Roger-Federer-Allee benannt. Am 24. November 2017 wurde bekannt, dass die Universität Basel Roger Federer die Ehrendoktorwürde verliehen hat. Die Medizinische Fakultät würdigt damit seinen Beitrag, den Ruf von Basel und der Schweiz international zu mehren. Der gebürtige Basler habe eine Vorbildfunktion als Sportler, «in der er viele Menschen weltweit zu mehr Bewegung animiert und so einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsförderung leistet» Die Patrouille Suisse, die Kunstflugstaffel der Schweizer Luftwaffe, fliegt bei Vorführungen eine Formationsfigur «Roger Federer», bei der die sechs F5-Tiger im Vorbeiflug in der Form eines Tennisrackets positioniert sind. Die Basler Verkehrs-Betriebe widmeten Roger Federer im Jahr 2021 ein Tram namens Federer-Express, mit Fotos von ihm geschmückt, das er persönlich einweihte. Rekorde Grand-Slam-Turniere Roger Federer hält die Rekorde für die meisten erreichten Grand-Slam-Halbfinals (46) und -Viertelfinals (58). Mit 20 Grand-Slam-Titeln liegt er derzeit auf dem dritten Platz hinter Novak Đoković und Rafael Nadal (je 22). 2009 wurde er mit dem 15. Grand-Slam-Titel in Wimbledon Rekordsieger in dieser Turnierkategorie, bis sein Rekord 2022 von Nadal überboten wurde. Federer ist einer von acht Spielern, die in ihrer Karriere bei allen vier Grand-Slam-Turnieren siegreich waren. Neben Andre Agassi, Rafael Nadal und Novak Đoković ist er dabei der einzige Spieler, der diese Turniere auf drei verschiedenen Platzbelägen gewann. Er gewann dreimal in seiner Karriere drei Grand-Slam-Turniere in einer Saison (2004, 2006, 2007), genauso wie Đoković, allerdings schaffte dies Federer als Einziger in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. 2007 gelang es ihm als Erstem, die drei Titel aus dem Vorjahr zu verteidigen (Australian Open, Wimbledon & US Open). Federer ist der erste Spieler, der drei verschiedene Grand-Slam-Turniere mindestens fünfmal gewann (Australian Open sechsmal, US Open fünfmal und Wimbledon achtmal). Zudem ist der Schweizer der einzige Spieler, der zwei unterschiedliche Grand-Slam-Turniere jeweils fünfmal in Serie gewann (Wimbledon 2003–2007, US Open 2004–2008). Federer hält den Rekord für die meisten Jahre in Folge (4) mit mindestens zwei Grand-Slam-Siegen im Saisonverlauf (2004–2007). Federer stand in 15 Saisons mindestens an einem Grand-Slam-Turnier im Finale (2003–2012, 2014, 2015, 2017–2019), was ebenfalls einen Rekord bedeutet, mittlerweile konnten Nadal und Đoković gleichziehen. Der Schweizer hält die Rekorde für die meisten aufeinanderfolgenden Viertelfinal- (36, Wimbledon 2004 bis French Open 2013) und Halbfinalteilnahmen (23, Wimbledon 2004 bis Australian Open 2010) bei Turnieren dieser Kategorie. Dabei zog er zehnmal in Folge (Wimbledon 2005 bis US Open 2007) auch ins jeweilige Finale ein, womit Federer der einzige Spieler ist, dem es gelang, in zwei aufeinanderfolgenden Jahren (2006 und 2007) alle vier Grand-Slam-Finals zu erreichen. Dazu stand er zwischen Wimbledon 2005 und den Australian Open 2010 in 18 von 19 möglichen Endspielen, nur bei den Australian Open 2008 verpasste er den Finaleinzug. Zwischen Wimbledon 2003 und den Australian Open 2010 konnte er 25 Viertelfinals hintereinander für sich entscheiden. Federer ist der einzige Spieler, der in drei Saisons alle vier Grand-Slam-Finals erreichte (2006, 2007, 2009). Bei den Australian Open 2007 wurde Federer zum ersten Spieler seit Björn Borg in Paris 1980, der ein Grand-Slam-Turnier ohne Satzverlust gewann. Durch den Gewinn der ersten vier Runden bei den darauffolgenden French Open ohne Satzverlust stellte er John McEnroes Rekord aus dem Jahr 1984 für elf gewonnene Partien in Folge ohne Satzverlust bei Grand-Slam-Turnieren ein. Dabei stellte er mit 36 gewonnenen Grand-Slam-Sätzen in Folge einen weiteren Rekord auf. Im Jahr 2017 gelang ihm in Wimbledon erneut ein Turniersieg ohne Satzverlust bei einem Grand-Slam-Turnier. Mit seinem Erstrundensieg über Tobias Kamke bei den French Open 2012 stellte Federer den von Jimmy Connors gehaltenen Rekord für die meisten Matchgewinne bei Grand-Slam-Turnieren ein (233). Mit dem anschliessenden Zweitrundensieg über Adrian Ungur wurde er mit 234 Siegen zum alleinigen Rekordhalter. Anschließend baute Federer den Rekord auf 369 Siege aus. Im Finale von Wimbledon 2009 (5:7, 7:6, 7:6, 3:6, 16:14) stellten Federer und Roddick gleich mehrere weitere Rekorde auf: grösste Anzahl von Spielen in einem Grand-Slam-Finale (77) und die grösste Anzahl von Spielen im Schlusssatz eines Grand-Slam-Finales (30). Zudem erzielte Federer mehr Asse als je ein Spieler in einem Grand-Slam-Finale zuvor (50). Seit Januar 2020 ist Roger Federer der einzige Spieler, der bei zwei unterschiedlichen Turnieren (Wimbledon & Australian Open) mindestens 100 Matches gewann. Federer ist auch der einzige Tennisspieler, der bei seinen ersten sieben Finalteilnahmen an Grand-Slam-Turnieren jedes Mal den Titel gewann. Federer war zwischen Paris 2004 und Wimbledon 2008 18 Mal in Folge an einem Grand-Slam-Turnier als Nummer 1 gesetzt. Federer ist seit 2017 ältester Sieger des Grand-Slam-Turniers von Wimbledon in der Open Era. Er ist damit der zweitälteste Sieger eines Grand-Slam-Turniers in der Open Era nach Ken Rosewall, der 1972 die Australian Open im Alter von 37 Jahren gewann. Mit acht Einzeltiteln in Wimbledon (2003–2007, 2009, 2012, 2017) ist er bei diesem Turnier alleiniger Rekordhalter. Mit fünf Siegen im Einzel der US Open (2004–2008) ist Federer neben Jimmy Connors und Pete Sampras Rekordsieger des Turniers in der Open Era. ATP Finals und Vorgängerveranstaltungen Federer hält gemeinsam mit Đoković mit sechs Erfolgen den Rekord für die meisten Turniersiege beim Saisonabschlussturnier. Er ist zudem Rekordhalter für die meisten erreichten Finals (10) und Halbfinals (16). Federer qualifizierte sich 14 Mal hintereinander für das Saisonabschlussturnier (2002–2015), was ebenfalls ein Rekord bedeutet. Zudem hält er den Rekord für die meisten Teilnahmen insgesamt (17). Am 6. November 2012 gewann Federer sein 40. Match bei Saisonabschlussturnieren und übertraf damit die bisherige Bestmarke von Ivan Lendl. Federer baute diesen Rekord mittlerweile auf 59 Siege aus. 2005 war er der erste Spieler, der in einem Spiel beim Tennis Masters Cup seinen Gegner mit dem Resultat von 6:0 und 6:0 bezwang. Der Gegner war Gastón Gaudio im Halbfinale des Turniers. Federer gewann das Turnier als Einziger fünfmal ohne Niederlage im Round-Robin-Modus. ATP Tour Masters 1000 In der 1990 eingeführten Turnierserie hielt Federer ebenfalls wichtige Rekorde. In den Jahren 2012 und 2013 hatte er kurzzeitig gemeinsam mit Nadal den Rekord für die meisten Turniersiege bei Turnieren der Masters-Serie; inzwischen liegt er mit 28 Turniersiegen hinter Novak Đoković (38 Siege) und Nadal (36) an dritter Stelle in dieser Wertung. Federer gewann 2005 als erster Spieler überhaupt vier Turniere dieser Kategorie in einer Saison. Dies gelang ihm in der darauffolgenden Saison erneut. Diese Marke wurde später im Jahr 2005 von Rafael Nadal ebenfalls erreicht und 2011 von Novak Đoković und 2013 von Rafael Nadal mit fünf Erfolgen und 2015 von Đoković gar mit sechs Erfolgen in einem Jahr überboten. Federer hielt den Rekord für die meisten Finalteilnahmen in einer Saison (6; 2006). Diesen Rekord hielt der Schweizer gemeinsam mit Novak Đoković, dem dies in der Saison 2011 ebenfalls gelang, sowie Rafael Nadal (2013). In der Saison 2015 verbesserte Đoković den Rekord auf acht Finalteilnahmen. Neben den acht verschiedenen Turnieren, die Federer gewann, gelang es ihm zudem, bei zwei weiteren Turnieren dieser Kategorie (Monte Carlo, Rom) das Finale zu erreichen. Diese Teilnahme an den Endspielen von zehn unterschiedlichen Masters-Turnieren, darunter allen neun des aktuellen Tour-Kalenders, stellt ebenfalls einen Rekord dar. Diesen Rekord hält Federer gemeinsam mit Rafael Nadal. Beide haben in allen Turnieren der Masters-Serie das Finale erreicht mit Ausnahme des Stuttgart Masters, das nur bis 2001 ausgetragen wurde. Das Double aus den Turnieren in Indian Wells und Miami gewann Federer als erster Spieler zweimal hintereinander (2005 und 2006). Novak Đoković gelang dies in den Jahren 2014, 2015 und 2016 sogar dreimal. Bei den vier nordamerikanischen Turnieren (Indian Wells, Miami, Kanada und Cincinnati) trug sich Federer als dritter Spieler nach Andre Agassi und Michael Chang in jede der vier Siegerlisten mindestens einmal ein. Er und Đoković gewannen als Einzige jedes dieser Turniere mehr als einmal. 2005 gewann er als bislang Einziger die Turniere von Indian Wells, Miami und Cincinnati in einer Saison. Beim Turnier von Cincinnati 2012 wurde Federer zum ersten Spieler in der Geschichte der Turnierserie, der ein Turnier ohne Satz- und eigenen Aufschlagverlust gewann, in Cincinnati 2015 gelang es ihm als bisher Einzigem ein zweites Mal. Beim Turnier in Cincinnati 2014 überbot Federer als erster Spieler die Marke von 300 Siegen bei Turnieren dieser Kategorie. Roger Federer gewann 2019 mit 37 Jahren und 7 Monaten das Miami Masters. Damit war er der älteste Spieler, der ein Turnier der Masters-Turnierserie gewann. Weltrangliste Sowohl in der Weltrangliste als auch im ATP Champions Race hielt bzw. hält Federer zahlreiche Rekorde. So erzielte er die Bestmarke für die meisten Punkte am Saisonende in beiden Wertungssystemen. Im Champions Race kam er 2006 auf 1'674 Punkte, in der Weltrangliste auf 8'370 (entspricht 15'745 im seit 2009 überarbeiteten Ranking). Diese Punktzahl war zudem der Rekord für die höchste Punktzahl, die je von einem Spieler in der Weltrangliste während eines Jahres erreicht wurde. Im September 2015 überbot Novak Đoković mit 16'145 Punkten diese Marke. Federer hatte zudem als erster Spieler seit Einführung des Wertungssystems die Marken von 7'000 und 8'000 Punkten überschritten. Am 26. Februar 2007 brach Federer den bisherigen Rekord von Jimmy Connors nach der Zahl der ununterbrochenen Wochen an der Spitze der Weltrangliste (160 Wochen, 1974–1977) sowie am 27. August 2007 ebenfalls Steffi Grafs Rekord von 186 ununterbrochenen Wochen. Federer baute diesen Rekord bis zum 18. August 2008 auf 237 Wochen aus. Federer (2005–2007) und Connors (1975, 1976, 1978) sind die einzigen Spieler, die drei komplette Kalenderjahre an der Spitze standen, wobei Federer es als Einzigem drei Jahre in Folge gelang. Im Anschluss an seinen Wimbledonsieg 2012 stellte Federer am 9. Juli 2012 mit 286 Wochen Pete Sampras' Rekord für die meisten Wochen an der Weltranglistenspitze insgesamt ein. Eine Woche später wurde er zum alleinigen Rekordhalter. In den folgenden vier Monaten baute er diesen Rekord zunächst auf 302 Wochen, fünfeinhalb Jahre später, nach seiner Rückkehr auf den Tennisthron am 20. Februar, auf 310 Wochen aus. Dieser Rekord wurde von Novak Đoković am 1. März 2021 zunächst eingestellt und in der anschliessenden Woche überboten. Neben Ivan Lendl (1989), Rafael Nadal (2010, 2013, 2017, 2019) und Novak Đoković (2014, 2018, 2020) ist Federer einer von vier Spielern, die nach dem Verlust der Nummer 1 am Jahresende wieder eine Saison als Erstplatzierter abschliessen konnten. Nach den Jahren 2004–2007 auf Platz 1 beendete Federer das Jahr 2008 als Zweitplatzierter, kehrte aber 2009 wieder auf die Spitzenposition zurück. Mit dem Sieg beim Turnier in Rotterdam wurde Federer am 19. Februar 2018 mit 36 Jahren und 195 Tagen die älteste Nummer 1 seit Einführung der Weltrangliste. Diesen Rekord hatte davor Andre Agassi mit 33 Jahren und 131 Tagen gehalten. Federer baute seinen Rekord nochmals auf 36 Jahre und 314 Tage aus, als er nach zweimaligem vorübergehendem Verlust der Spitzenposition am 18. Juni 2018 erneut an die Spitze der Weltrangliste zurückkehrte. Mit 14 Jahren und 136 Tagen (2. Februar 2004 bis 18. Juni 2018) hält er den Rekord für die längste Zeitspanne zwischen der ersten und letzten Periode als Nummer 1. Auch der Abstand von 5 Jahren und 106 Tagen (4. November 2012 bis 19. Februar 2018) zwischen den letzten zwei Perioden an der Spitze ist Rekord. Federer hält diverse Langzeitrekorde in der Weltrangliste. Zwischen dem 17. November 2003 und dem 4. Juli 2010 war er 346 Wochen in Folge in den Top 2 der Rangliste gelistet. Er ist der Spieler mit den insgesamt meisten Wochen in den Top 3 (750), Top 5 (859) und Top 10 (968). Ausserdem schloss er die meisten Jahre in den Top 3 (15), Top 5 (16) und in den Top 10 (18) ab. Er stand 1147 Wochen in Folge in den Top 50 (12. Juni 2000 bis 6. Juni 2022) sowie 1187 Wochen ohne Unterbrechung in den Top 100 (11. Oktober 1999 bis 20. Juni 2022) – beide sind Rekordserien. Siegesserien In seiner Karriere erzielte Federer bisher eine Reihe von Siegesserien in verschiedenen Bereichen. So feierte Federer 24 Siege in Folge gegen Gegner aus den Top 10 der Weltrangliste (2003–2005). Federer hält ebenso den Open-Era-Rekord für die meisten Finalsiege in Folge (24, die Serie endete 2005). Auf Rasen und auf Hartplatz hält der Schweizer die Rekorde für die längsten Siegesserien, auf Hartplatz mit 56 Siegen (2005–2006), auf Rasen mit 65 Siegen in Folge (2003–2008). Sonstige Rekorde Am 30. Oktober 2017 überholte Federer mit 109'853'682 US-Dollar gewonnenen Preisgelder den bisherigen Rekordhalter Novak Đoković, der als erster Tennisprofi die Marke von 100 Millionen Dollar überschritten hatte. Bereits im Oktober 2008 hatte Federer in dieser Wertung die Führung übernommen, war jedoch im April 2016 von Đoković für eineinhalb Jahre überholt worden. Mit zwei Siegen an den ersten beiden Gruppenspielen an ATP Finals in London im November 2017 erreichte er ein Total von 110'235'682 Dollar, womit er auch den sportartenübergeifenden Rekord von Golfprofi Tiger Woods (110'061'012 Dollar) brechen konnte. 2018 wurde jedoch Federer wieder vom wiedererstarkten Đoković überholt. Von 2006 bis 2010 hielt Federer zudem den Rekord für den höchsten Preisgeldbetrag in einer Saison. Roger Federer ist neben Rod Laver einer von zwei Spielern, die in drei Jahren hintereinander zehn oder mehr Turniere gewonnen haben. Diese in den Jahren 2004–2006 gewonnenen 34 Einzeltitel sind ein weiterer Rekord. Mit einer Siegquote von 94,3 % und einer Turniersiegquote von 69,4 % kann Federer zudem zwei historische Höchstquoten für eine Zeitspanne von drei Jahren vorweisen. Bei 16 von 17 gespielten Turnieren das Finale zu erreichen (94,1 %, Saison 2006), stellte ebenfalls eine neue Bestmarke dar. Federer hält den Rekord für die meisten Turniersiege auf Hartplätzen (71) und auf Rasen (19) in der Open Era, dazu weist er die meisten gewonnenen Partien auf beiden Belägen auf. Mit insgesamt 103 Turniersiegen auf allen Belägen liegt er an zweiter Stelle hinter Jimmy Connors (109 Siege). Mit seinen insgesamt 157 erreichten Endspielen liegt er ebenfalls hinter Jimmy Connors (164). Seine 1251 Siege und 1526 gespielten Matches werden nur von Connors überboten. Die Siegquote von 86,88 % auf Rasen ist Rekord in der Open Era. Das olympische Halbfinale von London 2012, das Federer gegen Juan Martín del Potro mit 3:6, 7:6 (7:5) und 19:17 gewann, war mit 4:26 Stunden das längste Dreisatzmatch der Open Era. Allein der dritte Satz dauerte 2:43 Stunden. Federer hält den Open-Era-Rekord für die meisten Finalteilnahmen bei einem Turnier: 15 in Basel, die zehn Finals in Serie in Basel (2006–2015) sind ebenfalls Rekord. Federer ist der Einzige in der Tennisgeschichte, der sieben Turniere mindestens sechsmal gewann: Halle (10×), Basel (10×), Wimbledon (8×), Dubai (8×), Cincinnati (7×), Australian Open (6×), ATP Finals (6×). Er ist der einzige Spieler, der zwei Turniere auf zwei unterschiedlichen Belägen jeweils zehnmal gewonnen hat, nämlich die Gerry Weber Open in Halle auf Rasen (2003–2006, 2008, 2013–2015, 2017, 2019) und die Swiss Indoors in Basel auf Hartplatz (2006–2008, 2010, 2011, 2014, 2015, 2017–2019). Mit 24 Turniersiegen ist er der erfolgreichste Spieler bei ATP-Tour-500-Turnieren. Im Laufe seiner Profikarriere spielte er 1750 Matches im Einzel und Doppel, in keinem dieser Spiele gab er vorzeitig auf. Finalteilnahmen Einzel (*) Bezeichnungen der Turnierkategorien bis 2008: ATP World Tour Finals = Tennis Masters Cup ATP World Tour Masters 1000 = ATP Masters Series (2004–2008), Tennis Masters Series (2000–2003) ATP World Tour 500 = International Series Gold ATP World Tour 250 = International Series Doppel (*) Bezeichnungen der Turnierkategorien bis 2008: ATP World Tour Masters 1000 = ATP Masters Series (2004–2008), Tennis Masters Series (2000–2003) ATP World Tour 500 = International Series Gold ATP World Tour 250 = International Series Team-Wettbewerbe Statistik Anmerkung: Die Statistik berücksichtigt nur Ergebnisse im Einzel. Ausnahmen bilden der Davis Cup, wo eine erreichte Runde auch dann angegeben wird, wenn der Spieler nur im Doppel eingesetzt worden ist, sowie die Preisgeldangabe, die auch das in Doppelkonkurrenzen erzielte Preisgeld berücksichtigt. Stand: 15. November 2021. Legende: S = Turniersieg; F = unterlegener Finalist; HF, VF, AF = ausgeschieden im Halb-, Viertel-, Achtelfinale; 3R, 2R, 1R = ausgeschieden in der 3., 2., 1. Runde; RR (Round Robin) = ausgeschieden in der Gruppenphase; B = Bronzemedaille; KF (Kleines Finale) = unterlegen im Spiel um Platz drei; PO (Playoff) = Auf- und Abstiegsrunde für die Weltgruppe im Davis Cup; K1, K2, K3, K4 = Teilnahme in der Kontinentalgruppe I, II, III, IV im Davis Cup. Siehe auch Liste der Sieger der Grand-Slam-Turniere (Herreneinzel) Liste der Sieger der Masters-Turniere im Tennis (Einzel) Liste der Sieger der Masters-Turniere im Tennis (Doppel) Liste der Weltranglistenersten im Herrentennis (Einzel) Liste der längsten Siegesserien im Herrentennis Literatur Markus Alexander: Roger Federer – Tennis für die Ewigkeit. Baltic Sea Press, Rostock 2010, ISBN 978-3-942129-08-4. Dominique Eigenmann: Faszination Federer – Die Anatomie der Perfektion. Kein & Aber, Zürich/Berlin 2011, ISBN 978-3-0369-5623-7. (Vorabdruck) Roger Jaunin: Roger Federer. Neptun, Kreuzlingen 2006; 2. Ausgabe 2009, ISBN 978-3-85820-244-4 (Bildband). Mikael Krogerus: Das Geheimnis seiner Vorhand. Interview/Gespräch. Das Magazin, Tamedia, Zürich 5. September 2015 (S. 8–14). William Skidelsky: Federer and Me: A Story of Obsession. Yellow Jersey 2015, ISBN 978-0-224-09235-7. René Stauffer: Das Tennisgenie. Die Roger-Federer-Story. Pendo, Zürich 2006; 8., aktualisierte Ausgabe 2011, ISBN 978-3-85842-651-2. Christian Uetz: Federer für alle. Echtzeit Verlag, Zürich 2011, ISBN 978-3-905800-53-1. David Foster Wallace: Federer as Religious Experience. In: The New York Times, 20. August 2006. Simon Graf: Roger Federer – Weltsportler. Ballverliebter. Wohltäter. kurz & bündig, Basel 2018, ISBN 978-3-907126-00-4. René Stauffer: Roger Federer. Die Biografie. Piper, München 2019, ISBN 978-3-492-05763-9. Weblinks Offizielle Website von Roger Federer Dokumentation über Roger Federer anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums auf der ATP Tour. In: SRF 1, 23. Dezember 2018, 58 min, teilweise Schweizerdeutsch. Interview in der Aargauer Zeitung vom 22. Oktober 2018. Einzelnachweise Davis-Cup-Spieler (Schweiz) Weltranglistenerster (Tennis) Weltmeister (Tennis) Olympiasieger (Tennis) Olympiateilnehmer (Schweiz) Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2000 Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2004 Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2008 Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2012 Ehrendoktor der Universität Basel UNICEF-Sonderbotschafter Schweizer des Jahres Person (Münchenstein) Person (Kanton Schwyz) Sportler des Jahres (Schweiz) Schweizer Südafrikaner Tennisspieler (Schweiz) Geboren 1981 Mann
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Goldenes Zeitalter (Niederlande)
Das Goldene Zeitalter () bezeichnet in der Geschichte der Niederlande eine rund einhundert Jahre andauernde wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit, die ungefähr das 17. Jahrhundert ausfüllt. Auf dem Höhepunkt des Goldenen Zeitalters um 1650 arbeiteten in den Niederlanden circa 700 Maler, die jährlich etwa 70.000 Gemälde fertigstellten. Dies ist in der gesamten Kunstgeschichte beispiellos, weder in der italienischen Renaissance noch in Frankreich zur Zeit des Impressionismus hat es so etwas gegeben. Insgesamt produzierten die niederländischen Maler mehrere Millionen Gemälde, weshalb heute nahezu jedes Museum für alte Kunst niederländische Gemälde zeigt. Voraussetzung für jene Blüte war der Aufstieg der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande () zur weltumspannenden See- und Handelsmacht. Die in den Niederlanden herrschende Religionsfreiheit zog die unterschiedlichsten Menschen an. Sie wurden wegen ihres Glaubens in anderen Staaten verfolgt und flüchteten in die sie bereitwillig aufnehmende junge Republik, welche Bewegungsfreiheit und genügend Arbeit bot. Schriftsteller und Gelehrte kamen, um frei publizieren und lehren zu können; mit der Gründung der Universität Leiden und der Entwicklung von Geistes- und Naturwissenschaften wurde das Land auch zu einem bedeutenden Zentrum des Wissens. Die Bezeichnung „Goldenes Zeitalter“ wurde jedoch vor allem für eine bis dahin nicht gekannte Blüte von Kultur und Kunst geprägt. Oft wird der Begriff auf die zahllosen Meisterwerke der Malerei des 17. Jahrhunderts beschränkt. Hier zeigt sich der gesellschaftliche und kulturelle Wandel jener Zeit besonders deutlich. Einleitung Die Zeit des Goldenen Zeitalters der Niederlande wird seit einigen Jahren in den Niederlanden intensiver erforscht und diskutiert. Hierzu ist beispielsweise 2000 an der Universität Amsterdam das gegründet worden, das unter anderem die Arbeiten Huizingas aus dem Jahr 1941 aufgreift. Huizingas Geschichtsverständnis war von seinem Studium der Sprachwissenschaften und seiner Begeisterung für die Malerei geprägt. Er verstand Geschichtsschreibung als bildhaft-intuitive Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Gleichwohl betonte er, dass das Goldene Zeitalter weder plötzlich über die Niederlande „hereinbrach“ noch gar den mythischen Idealzustand (wie Ovid den Begriff des Goldenen Zeitalters definierte) brachte, sondern es sich um eine auf der Grundlage generationenlanger harter Arbeit, günstiger Voraussetzungen, vielfältiger Konflikte und natürlich einer Portion Glück und Zufall entstandene Blütezeit handelte, der jede idealtypische Unschuld fehlte. So war fast die Hälfte der Zeit „geprägt von Krieg und Kriegsgeschrei“. Nicht wenige Wissenschaftler sprechen daher bei der Betrachtung dieses Zeitalters zumindest in weltwirtschaftlicher Hinsicht lieber von einer Hegemonie. Huizinga vermutet, dass sich der Begriff des Goldenen Zeitalters dauerhaft festsetzte, nachdem der Historiker Pieter Lodewijk Muller 1897 sein Buch mit dem Arbeitstitel , auf Wunsch des Verlegers , nennen musste. Durch die Heirat des späteren Kaisers Maximilian mit der Herzogstochter Maria von Burgund und deren frühen Tod kamen die Niederlande unter die Herrschaft der Habsburger. Bereits in jener Zeit war die ökonomische Situation der damals Burgundischen Niederlande günstig; vor allem unter der Herrschaft von Karl V. erstarkten neben Ackerbau, Viehzucht und Fischerei ebenso Handel und Gewerbe. Daneben wuchs der Textilsektor rasch, und Antwerpen entwickelte sich zum ökonomischen Zentrum der Region. Desgleichen erlebten Wissenschaft und Kultur eine Zeit der Sternstunden, nicht zuletzt durch Christoffel Plantijn. Gleichzeitig war die Epoche der Reformation angebrochen und Karl V. sowie sein Sohn und Nachfolger Philipp II. – beide strenggläubige Katholiken – läuteten die Gegenreformation ein. Konflikt mit Spanien Als Philipp II. den Calvinismus zur Ketzerei erklärte, rebellierten die nördlichen Provinzen unter der Führung Wilhelms von Oranien. Mit seinem Versuch, Brabant zu besetzen, begann 1568 der Achtzigjährige Krieg. 1579 schlossen sich die sieben nördlichen Provinzen zur Utrechter Union zusammen und gründeten 1581 die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande, während die katholischen Südprovinzen – heute Belgien und Luxemburg – bei Spanien blieben (siehe Spanische Niederlande). Der bei der Gründung der Utrechter Union geschlossene Vertrag räumte den nördlichen Provinzen unter anderem das Recht zur Kontrolle der Schifffahrt auf dem Niederrhein ein, was sich als sehr wichtig für deren weitere wirtschaftliche Entwicklung herausstellte. 1585 eroberten die Spanier Antwerpen, worauf die Niederländer die Schelde sperrten und Antwerpen damit den Zugang zur Nordsee nahmen. So waren die Weichen für Amsterdam als künftiges regionales Handelszentrum gestellt, das seinen Rivalen Antwerpen rasch hinter sich lassen konnte. 1608 kam es in Den Haag zu Friedensverhandlungen mit Spanien, an denen außerdem England und Frankreich teilnahmen, 1609 wurde ein zwölfjähriger Waffenstillstand vereinbart. See- und Kaufleute → Hauptartikel: Europäische Expansion; zu den damaligen Machtverhältnissen im Ostseehandel und der Konkurrenz zur Hanse siehe: Krisen und Niedergang der Hanse (etwa 1400 bis 1669) Die Grundlagen des Erfolges der niederländischen Wirtschaft lagen im Ostseehandel, der seit dem frühen 15. Jahrhundert vor allem von der Provinz Holland und Amsterdam aus systematisch betrieben wurde und die Provinzen – trotz der Belagerung durch die Spanier – zu einer blühenden Handelsnation machten. Kleinere und schnellere Schiffe als die ihrer Konkurrenten, die zudem weniger Personal benötigten, machten die Amsterdamer Händler zu den flexibelsten ihrer Zeit. Schon Ende des 16. Jahrhunderts begann die Blüte Amsterdams beziehungsweise Hollands. Bereits um 1600 hatte sich erhebliches Investitionskapital in Amsterdam angesammelt, das für neue Aufgaben zur Verfügung stand. Erste Schiffsexpeditionen wurden finanziert, um Handelsmöglichkeiten in Asien und Amerika zu erkunden. Die niederländischen See- und Kaufleute hatten Glück, weil die Hanse im Niedergang begriffen und die anderen Konkurrenten durch Kriege und Aufstände andernorts abgelenkt waren. Nur ein Beispiel dafür ist die Zerstörung der spanischen Armada durch die Engländer 1588. Da sich die Spanier weiter auf die Engländer und Franzosen als Kriegsgegner konzentrierten, wagten sich die niederländischen Handelsschiffe immer weiter auf die Meere hinaus, erschlossen weitgehend ungestört neue Seewege und gründeten Kolonien. In jener Zeit handelte es sich indessen noch um einzelne Unternehmungen, die anfänglich nur zu geringen Erfolgen führten. Voraussetzungen und Wechselwirkungen Der wirtschaftliche Aufstieg des kleinen Staatenbundes von nicht einmal zwei Millionen Niederländern, der über keine Rohstoffe verfügte und in der landwirtschaftlichen Produktion unbedeutend war, zur führenden Groß- und Kolonialmacht des 17. Jahrhunderts ist ein bis heute verblüffendes und faszinierendes Phänomen. Sir William Temple, zeitgenössischer englischer Botschafter in den Niederlanden, identifiziert in seinen Observations upon the United Provinces of the Netherlands die hohe Bevölkerungsdichte des Landes als entscheidende Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg. Dadurch seien alle lebensnotwendigen Güter teuer; Leute mit Besitz müssten sparen, die ohne Besitz seien zu Fleiß und Arbeit gezwungen. Aus der Not erwüchsen die Tugenden, die die Grundlage des Erfolges bildeten. Daneben gab es jedoch eine ganze Reihe weiterer günstiger Umstände, ohne die es zu einem derartigen Aufstieg nie hätte kommen können: Urbanisierung und politisches System Die Niederlande des angehenden 17. Jahrhunderts wiesen in der Tat den höchsten Urbanisierungs- und Verstädterungsgrad Europas auf und waren die am dichtesten besiedelte Region Westeuropas. Die Lebenswelt war in starkem Maß durch die Stadt und nicht-agrarische Tätigkeiten geprägt; fast 50 Prozent der Bevölkerung wohnten städtisch und nur noch ein Drittel war in der Landwirtschaft tätig. Doch die Bauernschaft und die Landarbeiter machten ebenso eine einschneidende Entwicklung durch. Da die Grundlage der bäuerlichen Wirtschaft das Besitzrecht bildete, besaßen die Bauern je nach Provinz bis zu 40 Prozent des genutzten Landes selbst und konnten somit über dessen Erträge frei verfügen. Die ländliche Einkommensentwicklung zeigt, dass ein Landarbeiter des 17. Jahrhunderts deutlich besser gestellt war als ein freier Bauer hundert Jahre zuvor. Der Staatenbund war zwar oligarchisch geprägt, doch demokratischer als andere europäische Länder, politisch defensiv eingestellt und von einem ökonomischen System geprägt, das nicht auf Landwirtschaft, sondern auf Handel und Seefahrt aufbaute. Die Steuerbelastung der niederländischen Bevölkerung war deutlich höher als die der angrenzenden Länder, bis zu doppelt so hoch wie in England und mehr als dreimal so hoch wie in Frankreich. So verfügte der Staat aufgrund der starken Kommerzialisierung der Wirtschaft, der hohen Einkommen und der leichten Verfügbarkeit von Kapital trotz der geringen Bevölkerung über eine breite Ressourcenbasis. Soziales Gefüge Der soziale Status in der niederländischen Gesellschaft wurde neben dem familiären Hintergrund und der Ausbildung maßgeblich durch Vermögen und Einkommen bestimmt – ungewöhnlich im Europa des 17. Jahrhunderts, wo der persönliche Status noch überwiegend durch die Ständeordnung, also durch Geburt, vorgezeichnet war. An der Spitze der Gesellschaft in den Niederlanden rangierten Adel und Regenten, jedoch hatte die Aristokratie das Land zusammen mit den Spaniern weitgehend verlassen oder viele ihrer Privilegien an die Städte verkauft. Bedeutende holländische Regentendynastien des Goldenen Jahrhunderts waren die Geschlechter Boelens Loen, Hooft, De Graeff, Bicker und Pauw in Amsterdam, die De Witt und Van Slingelandt in Dordrecht, sowie die Van Foreest in Alkmaar. Im Prinzip hatte jede Stadt und jede Provinz ihre eigene Regierung und eigenen Gesetze, und wurde von den miteinander eng verwandten Regenten in einem oligarchischen System beherrscht. Am Höhepunkt des Goldenen Zeitalters, der Ersten Statthalterlosen Periode von 1650 bis zum Rampjaar 1672, lag die politische Macht innerhalb Hollands hauptsächlich bei zwei staatsgesinnten, sprich republikanischen, Familien. In Amsterdam lag diese bei den Gebrüdern Cornelis und Andries de Graeff, und in Den Haag bei den Gebrüdern Johan und Cornelis de Witt, den Anführer der staatsgesinnten (republikanischen) Fraktion Hollands, was durch deren enge Zusammenarbeit und gegenseitige Verwandtschaft verstärkt wurde. Während der Adel im restlichen Europa weiter die politisch und sozial privilegierte Führungsschicht bildete, gab es in den Niederlanden kaum mehr Geburtsadel. Selbst der Klerus konnte nur wenig weltlichen Einfluss ausüben: Die katholische Kirche war weitgehend unterdrückt, die junge protestantische Kirche geteilt. Hier herrschte also kein König, kein Adel und kein Klerus, sondern bestimmten die Regenten zusammen mit den Bürgern der Oberschicht (reichen Kaufleuten, Reedern, Bankiers, Unternehmern, hochrangigen Offizieren) das politische und gesellschaftliche Leben, gefolgt von einer breiten Mittelschicht aus Handwerkern, Händlern, Schiffern, kleineren Beamten und niederrangigen Offizieren, die in kleineren Städten und weniger wichtigen Gemeinden bereits politische Verantwortung übernahmen. Nicht zuletzt durch die Einwanderung religiös Verfolgter, unter ihnen zahlreiche Angehörige der Oberschicht und des Bildungsbürgertums, Schriftsteller und Gelehrte, wies das Land die höchste Alphabetisierungsrate in Europa auf. Gleichzeitig half eine ausgeprägte Spendenbereitschaft der Bürgerschaft, die rasante wirtschaftliche Entwicklung sozial verträglich abzufedern. Armenküchen, Waisenhäuser, Altenheime und andere soziale Einrichtungen verdankten ihre Existenz der Mildtätigkeit der Bürger. Aufgrund dieses – natürlich erst rudimentär vorhandenen – sozialen Netzes war für die Randgruppen, die Armen und die Schwachen so weit gesorgt, dass sich Unruhen im Gegensatz zum übrigen Europa weitgehend auf politische oder religiöse Themen beschränkten. Welthandel Eine wichtige Rolle spielt die 1602 gegründete Niederländische Ostindien-Kompanie ( oder VOC), die sich rasch zum größten Handelsunternehmen des 17. Jahrhunderts entwickelte und ein niederländisches Monopol im Asienhandel aufbaute, das sie zwei Jahrhunderte lang innehaben sollte. Ihre Handelsrouten erstreckten sich längs der afrikanischen und asiatischen Küste mit Stützpunkten in Indonesien, Japan, Taiwan, Ceylon und Südafrika. Für den Handel mit Westafrika und Amerika wurde die Niederländische Westindische Kompanie ( oder WIC) gegründet, die in Nordamerika die niederländische Besitzung Nieuw Nederland mit dem Verwaltungssitz Nieuw Amsterdam, dem heutigen New York, und in Südamerika Niederländisch-Brasilien verwaltete. Weitere Handelszweige waren der Ostseehandel, der Handel mit Russland und die , auch als bekannt (der Handel mit Italien und der Levante, den Ländern an der Ostküste des Mittelmeeres). 1609 wurde die Amsterdamer Wechselbank gegründet – die weltweit erste Zentralbank und eine der ersten europäischen Notenbanken – und 1611 die Amsterdamer Warenbörse. Die Wechselbank verbesserte die Voraussetzungen für den Handel und förderte den Zahlungsverkehr, der bis dahin aufgrund der Vielzahl in Umlauf befindlicher unterschiedlicher Währungen erschwert wurde. Günstige Zinssätze, feste Devisenkurse und eine hohe Darlehensbereitschaft der niederländischen Banken zogen Kapitalanleger und Finanzleute aus ganz Europa an. Spätestens nach der Erlangung der vollständigen Handelsfreiheit (einem durch Schutzzölle nicht mehr beengten internationalen Handel) im Rahmen des Westfälischen Friedens 1648 beherrschten die Niederländer den Welthandel. Um 1670 verfügte die Republik über etwa 15.000 Schiffe, das Fünffache der englischen Flotte, was einem Transportmonopol auf dem Meer gleichkam. Besonders der Handel mit den Kolonien bescherte den Niederlanden großen Reichtum. Aus Niederländisch-Indien, Bengalen, Ceylon und Malakka wurden Gewürze, Pfeffer, Seide und Baumwollstoffe eingeführt. Mit dem Westen Afrikas, Brasilien, den karibischen Inseln und Europa wurden vor allem Plantagenerzeugnisse gehandelt, etwa Zucker, Tabak und Brasilholz. Später begann man ebenfalls mit dem Sklavenhandel, von dem man sich anfänglich betont ferngehalten hatte. Im Laufe der Zeit siegte doch die Habgier, denn es handelte sich dabei um ein sehr lukratives Geschäft. Man berief sich zur Rechtfertigung auf die Bibel: Schließlich seien die Afrikaner die Söhne und Töchter Hams, der von seinem Vater Noah verflucht worden sei, was die Ausbeutung der „frei“ zur Verfügung stehenden schwarzen afrikanischen Arbeitskraft rechtfertige (siehe Hamitentheorie). Religiöse Toleranz Da die Vereinigten Provinzen der Niederlande aus dem Widerstand gegen religiöse Unterdrückung entstanden waren, gewährten sie ihren Bürgern von Anfang an Religionsfreiheit. Die Kunde dieser Toleranz verbreitete sich schnell und hatte zur Folge, dass Protestanten, Juden, Hugenotten und andere religiös Verfolgte aus Spanien, Portugal und anderen Nationen – vor allem aus den spanisch besetzten Südprovinzen – ins Land strömten. Calvinismus wurde zum vorherrschenden Glauben, jedoch wurde das Land zu Anfang des Jahrhunderts durch den Streit über die Prädestinationslehre zwischen Remonstranten, den Anhängern des Arminius, und Contraremonstranten, die den Lehren des Franciscus Gomarus folgten, gespalten. Für die Katholiken galt die Religionsfreiheit allerdings nur eingeschränkt. Ihnen war es vielerorts und immer wieder untersagt, öffentlich Gottesdienst zu feiern. Auch der Humanismus mit seinem einflussreichsten Vertreter Desiderius Erasmus hatte sich etabliert und war für den kulturellen und sozialen Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ebenso verantwortlich wie für die Bildungsbewegung und teilweise für das Klima der Toleranz. Diese Toleranz gegenüber Katholiken aufrechtzuerhalten, war nicht einfach, nachdem die Religion im Unabhängigkeitskrieg eine wichtige Rolle gespielt hatte. Feindliche Neigungen pflegte man dennoch möglichst mit Geld zu überbrücken. Deshalb konnten sich Katholiken die Privilegien zur Abhaltung von Feierlichkeiten beispielsweise erkaufen, öffentliche Ämter blieben ihnen indes versagt. Gleiches galt für die niederländischen Mennoniten (Täufer) und Juden. Das Niveau der religiösen Toleranz war jedenfalls ausreichend hoch, um Religionsflüchtlinge aus anderen Ländern anzuziehen, wobei besonders jüdische Händler aus Portugal viel Wohlstand mitbrachten (siehe Portugiesische Synagoge Amsterdams). Auch ließ die Annullierung des Edikts von Nantes in Frankreich (1685) zahlreiche französische Hugenotten in die Niederlande einwandern; viele von ihnen waren ebenfalls Kaufleute. Jeder konnte für acht Gulden – was freilich immerhin der Jahresheuer eines niederländischen Seemanns entsprach und so zusätzlich die Staatskassen füllte – in die Provinzen einwandern, in denen sich bald viele der klügsten Köpfe Europas sammelten. Die Toleranz hatte jedoch ihre Grenzen. Der Philosoph Baruch Spinoza veröffentlichte seinen Tractatus theologico-politicus, in dem er sich für Glaubensfreiheit und Toleranz einsetzt und einen Staat fordert, der die Freiheiten seiner Bürger wahrt, anonym und mit einer falschen Angabe der Herausgeberadresse, weil er kirchliche und staatliche Konsequenzen fürchtete. Schließlich war schon Adriaan Koerbagh, ein Freund und Anhänger Spinozas, wegen der angeblichen Publikation aufhetzender Schriften verhaftet worden und war nach einem Jahr in Gefangenschaft gestorben. Der Tractatus wurde 1674 tatsächlich verboten. Blütezeit Die Niederlande waren die große Wirtschaftsmacht des mittleren 17. Jahrhunderts, Konkurrent Großbritannien schickte sich erst in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts an, diese Position zu übernehmen. Wirtschaftskraft lag in jener Zeit weniger im Geldbesitz als in der Fähigkeit, aus Warenhandel und Finanzverkehr Mehrwerte zu schaffen und die Wertschöpfung zu optimieren. Die Niederlande demonstrierten dies als räumlich kleiner, einwohnerschwacher Staatsverband, der über keine Rohstoffe verfügte und dessen landwirtschaftliche Produktion unbedeutend war. Amsterdam wurde zum wichtigsten europäischen Handelsplatz. Theoretisch bewegten finanzielle Transfers Unsummen an Edelmetall, mit denen die aus dem Handel resultierenden Zahlungen beglichen wurden; tatsächlich wurde an der Börse über ein Wechselsystem weitgehend bargeldlos gehandelt: Geld blieb als finanzielle Deckung der Handelsgeschäfte an den Orten, die miteinander handelten. Je größer die Warenlieferungen, die eine Handelsstadt anbieten konnte, desto größer wurde ihre Bedeutung – das ist verkürzt das System, das im 17. Jahrhundert Amsterdams Börse zum dominierenden Finanzumschlagplatz machte. Die niederländische Wirtschaft im Goldenen Zeitalter war so stark, dass nicht einmal die Tulpenmanie merkbaren Einfluss auszuüben vermochte. Die wirtschaftliche Stärke des Landes kam auf breiter Basis der sozialen und kulturellen Lebensqualität seiner Bürger zugute. Durch den Aufstieg des Bürgertums in die Oberschicht wurde die Kunst ebenfalls bürgerlich. Ein ganz trivialer Grund der kulturellen Blütezeit und des einsetzenden Bilderüberflusses war der vorhandene enorme Überhang an Kapital, erwirtschaftet aus spekulativen oder riskanten Geldgeschäften anlässlich Seefahrts- und Kolonialabenteuern, das nutzbringend angelegt werden sollte. Einrichtungs- und Dekorationsgegenstände, besonders Bilder, wurden zu einer beliebten Geldanlage, an der sich auch kleine Leute beteiligen konnten. Gleichzeitig befand sich ganz Europa mitten in einem geistigen Umbruch, der als eine um 1450 begonnene „Renaissance der Naturwissenschaften“ bezeichnet und mit einem tiefgreifenden Wandel der Perspektive verbunden wird, die das Entstehen moderner wissenschaftlicher Denkweisen ermöglichte. Hatten sich die Gelehrten um 1450 noch darauf konzentriert, die Entdeckungen der Antike zu sichten und zu begreifen, lagen bis 1630 die grundlegenden wissenschaftlichen Schriften in verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen vor, ebenso die Werke zeitgenössischer Wissenschaftler, die sich mit jenen Inhalten auseinandergesetzt und sie weiterentwickelt hatten. Der Buchdruck erleichterte diese Verbreitung des Wissens: Antikes Gedankengut und seine Weiterentwicklungen wurden – gedruckt und jedermann verständlich – nicht nur Gelehrten, sondern auch weniger Gebildeten zugänglich. Wissenschaft Die in den Niederlanden herrschende weitgehende Lehr- und Forschungsfreiheit und die 1575 gegründete renommierte Universität Leiden zogen zahlreiche Wissenschaftler und Denker aus ganz Europa an. Auch der französische Philosoph René Descartes lebte in Leiden, vermutlich von 1628 bis 1649. Viele Bücher über Religion, Philosophie und Naturwissenschaft, die im Ausland verboten worden oder der Inquisition anheimgefallen wären, konnten in den Niederlanden gedruckt und frei verbreitet werden. So entwickelte sich die Niederländische Republik während des 17. Jahrhunderts zu Europas „Verlagshaus“. Amsterdam, das erst 1500 seine erste Druckerei erhalten hatte, nahm Antwerpen die Führungsrolle ab und errang neben Leiden insbesondere durch die an beiden Orten tätige Druckerfamilie Elzevir hohe Bekanntheit als Druckplatz (siehe unten, Abschnitt Druckkunst). Niederländische Rechtswissenschaftler waren für ihr Wissen im internationalen Recht geschätzt. Hugo Grotius legte den Grundstein für das moderne Seerecht; er begründete das Konzept der Freien Meere (Mare liberum), das von den Engländern, den Hauptrivalen der Niederlande, aufs Schärfste angefochten wurde. Auch formulierte Grotius in seinem Buch De iure belli ac pacis (Über Gesetze von Krieg und Frieden) Rechtsgedanken in Hinsicht auf Nationenkonflikte. Sein Kollege Cornelis van Bynkershoek gilt als der Vater der 3-Meilenzone und erreichte ebenfalls Bedeutung in der Entwicklung des Völkerrechts. Daneben stehen gleichberechtigt die Zivilrechtler, die in Europa bestimmend waren. Das zivilrechtliche Werk von Hugo Grotius zum römisch-holländischen Recht, die Inleydinge tot de Hollantsche rechtsgeleertheit, wurde auch in Deutschland stark beachtet und fand über viele, zum Teil wörtliche Zitate im weitverbreiteten Werk des Arnold Vinnius auch in der spanischen und südamerikanischen Rechtswissenschaft Berücksichtigung. Werke dieser Autoren, neben Grotius und Vinnius ist noch Johannes Voet zu nennen, gelten bis heute als Autoritäten im südafrikanischen Recht aufgrund der Kolonisation durch die Niederländer. Christiaan Huygens war Mathematiker, Physiker und Astronom. Zu seinen Verdiensten in der Astronomie zählen die Erklärung der Saturnringe, die Entdeckung des Saturnmondes Titan und der Rotation des Mars. Auch auf dem Gebiet der Optik und Mechanik war er aktiv. Er erfand die Pendeluhr, die einen großen Schritt in Richtung exakter Zeitmessung darstellte. Er wurde als erster ausländischer Wissenschaftler Ehrenmitglied der britischen Royal Society und war der erste Direktor der 1666 gegründeten französischen Akademie der Wissenschaften. Isaac Newton lobte ihn als „elegantesten Mathematiker“ seiner Zeit. Auf dem Gebiet der Optik war der aus Delft stammende Antoni van Leeuwenhoek der bekannteste niederländische Wissenschaftler dieser Zeit. Er entwickelte das Mikroskop entscheidend weiter, indem er die Linsen selbst schliff und Vergrößerungen bis zum 270-fachen erreichte. Er war der erste, der methodisch mikroskopisches Leben erforschte. Er lieferte zusammen mit Jan Swammerdam die erste Beschreibung der roten Blutkörperchen, was die Grundlage der Zellbiologie schuf. Allerdings nahm er seine Kenntnisse der Kunst des Linsenschleifens mit ins Grab, so dass erst im 19. Jahrhundert mit verbesserten Linsen an diese Untersuchungen angeknüpft werden konnte. Berühmte niederländische Wasserbauingenieure waren Simon Stevin, der die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile beweistechnisch nahelegte und die Dezimalzahlen im täglichen Gebrauch einführte, sowie Jan Leeghwater aus De Rijp, der, als Jan Adriaenszoon in einem Dorf inmitten eines Moores geboren, Methoden zur Trockenlegung von Moorgebieten und zur Umwandlung von Seen in Polder entwickelte und dazu Mühlen entwarf. Aus hohem Wasserstand machte er niedrigen - und nannte sich folgerichtig Leeghwater, „Niedrigwasser“. Er war der Begründer des modernen niederländischen Entwässerungs- und Landgewinnungssystems. Kunst und Kultur Die Niederlande durchliefen im Goldenen Zeitalter eine kulturelle Entwicklung, die sich von der ihrer Nachbarstaaten deutlich unterschied und allgemein als Höhepunkt der holländisch-niederländischen Zivilisation angesehen wird. Während in anderen Ländern reiche Aristokraten Schirmherren und Gönner der Künste waren, spielten in den Niederlanden wohlhabende Händler und andere Patrizier diese Rolle. Hier bildete die aufstrebende, ungewöhnlich breite Mittelschicht zusammen mit den reichen Bauern das entscheidende Potential für die ökonomische wie auch für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes. Sie alle stellten einen riesigen Markt für den Absatz gewerblicher und künstlerischer Erzeugnisse dar. Durch ihr wachsendes gesellschaftliches Ansehen entstand bei Händlern, Handwerkern, kleinen Beamten oder Offizieren das Bedürfnis, ihren Status zur Schau zu stellen, und zwar auf eine vergleichbare Weise, wie es im Hochadel und Klerus gang und gäbe war. Dank ihrer Kaufkraft konnten sie sich diese Wünsche erfüllen. Durch das allgemein gesteigerte Interesse an der Beschreibung der sichtbaren Welt wurde der Wunsch nach Kunstbesitz geradezu unersättlich, und die Nachfrage nach weltlicher Malerei blühte auf wie nie zuvor und nirgendwo sonst. Porträts beispielsweise sollten den gesellschaftlichen Rang der eigenen Person darstellen, wenn nicht erhöhen. Das über die unbedingt erforderlichen Einrichtungsgegenstände hinausgehende Mobiliar wurde als Statussymbol betrachtet, was sich im Besitz prächtiger Eichentruhen, achteckiger Tische und teurer Betten bei den Bauern und in kostbaren Uhren, Spiegeln, Porzellan oder Besteck der Bürgerschaft ausdrückte. Der teilweise ins Unerhörte wachsende Reichtum der Niederländer garantierte somit die Lebensgrundlage der Künstler des 17. Jahrhunderts (selbst wenn nur die wenigsten vollständig davon leben konnten) und hatte zur Folge, dass es eine ungleich bessere „Kunstversorgung“ der Bevölkerung gab als irgendwo sonst in Europa. Kunst und Kultur, dabei besonders die Malerei, entwickelten sich zusammen mit ihren neuen „Kunden“ zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Den schon damals gültigen Gesetzen der freien Marktwirtschaft folgend, wurde das „Dienstleistungsgewerbe Kunst“ immer differenzierter, es bildeten sich zum Beispiel Fachbetriebe für bestimmte Gattungen der Malerei aus und gleichzeitig entstanden Bildgattungen, deren Motive für die Malerei Neuland waren, wie beispielsweise die Landschaftsmalerei und das Genre der Sittengemälde. Auch stilistisch wurde die Kunstlandschaft immer vielfältiger, so dass die Auftraggeber sogar Malweisen, sei es der flämisch-italienischen oder der holländischen Schule selbst bestimmen konnten. So bestimmten bürgerliche Auftraggeber die Kunstproduktion, die auf dem Selbstverständnis einer frühkapitalistischen Republik fußte, was zu einem höheren Realismus und zur Bevorzugung bestimmter Kunstgattungen wie Porträtmalerei (Einzel- und Gruppenbildnis), Genrebilder oder Stilllebenmalerei führte. Die schutterij, die Schützen mit ihrer Schützengilde und die rederijkers, die Dichter, organisiert in der rederijkerskamer, der Dichtergilde (seinerzeit „Redekammer“ genannt), waren gleichzeitig kulturelle Zentren und Förderer der Künste. Die Schützen hatten sich zu einer Art städtischen Bürgerwehr organisiert und sorgten nachts für Ruhe und Ordnung in den Städten. Alle männlichen Einwohner waren ihr zu Dienst verpflichtet. Die Dichtergilden stellten Vereinigungen auf Stadtebene dar, die literarische Aktivitäten begünstigten und unterstützten. Die Städte waren ebenso stolz auf diese Gilden wie die Bürger auf ihre Mitgliedschaft, die sie sich viel kosten ließen. Große niederländische Dichter, wie zum Beispiel Pieter C. Hooft und Joost van den Vondel, waren Mitglieder einer Rederijkerskamer. Die einzelnen Gilden und Gildenmitglieder ließen sich gerne und oft bei der Ausübung ihrer Ehrenaufgabe porträtieren. Ein Beispiel dafür ist das Bild der Nachtwache von Rembrandt van Rijn. Malerei Im 17. Jahrhundert erreichte die Malerei in den Niederlanden eine derartige Blüte, dass sie gelegentlich alleine mit dem Begriff des Goldenen Zeitalters verbunden wird. Bereits im 16. Jahrhundert war die Kunstproduktion beachtlich. Allein in Antwerpen sollen 1560 mehr als 300 Meister mit Malerei und Graphik beschäftigt gewesen sein, hingegen nur 169 Bäcker und 78 Fleischer. Nun entstanden in dem dicht besiedelten Land in kurzer Zeit und auf engstem Raum viele Zentren der Malerei – neben Amsterdam etwa Haarlem, Delft, Utrecht, Leiden, Den Haag und Deventer. Bald waren Malerei und Druckgraphik geradezu allgegenwärtig, die Niederlande wurden zu einer riesigen „Kunstfabrik“. Jährlich kamen 70.000 Bilder auf den Markt, wobei 650 bis 700 niederländische Maler durchschnittlich jeweils 94 Bilder im Jahr malten, berühmte und weniger berühmte Maler gemeinsam mit ihren Schülern nahezu fließbandartig produzierten. Historiker wie Michael North schätzen, dass so etliche Millionen Bilder hergestellt wurden, wovon heute kaum mehr zehn Prozent erhalten sind. Jedenfalls besaß, statistisch gesehen, in dieser Zeit jeder Einwohner 2,5 Bilder. Die traditionellen kirchlichen Bildthemen wurden seit der Reformation indessen als „katholisch“ abgelehnt (siehe Bildersturm); die protestantischen Bürger wollten ihre Religiosität, ihre Lebensführung und ihre ureigenen Themen und Probleme – in erster Linie also sich selbst in ihrem beruflichen und privaten Umfeld, und in möglichst vorteilhafter Weise – verewigt sehen. Dies führte zur Ausprägung neuer Bildgattungen (z. B. Tronjes) und zur Erfindung neuer Bildthemen. Es entstanden geradezu massenweise Einzelporträts und Gruppenbildnisse, auf denen die Familie, die Verwandtschaft, die Gildemitglieder, das Ratskollegium oder Festivitäten und Feierlichkeiten festgehalten waren; Stillleben gewährten Einblicke in das tägliche Leben des Bürgertums mit protzigen, sinnesfreudigen Interieurs hinter äußerlich unscheinbar und klassizistisch streng daherkommenden, schmalen Bürgerhäusern. Vanitas-Motive rechtfertigten die Zurschaustellung von Reichtum und Macht durch ihre warnende Botschaft. Eine nie da gewesene Spezialisierung innerhalb der Malerei setzte ein. Willem Claesz. Heda und Willem Kalf malten nur Stillleben. Ihre „Ontbijtjes“, ihre „Frühstücks“-Stillleben, hatten sie sogar auf wenige Gegenstände reduziert, die sie mit geringen kompositorischen Änderungen wieder und wieder variierten. Jan van Goyen, Jacob van Ruisdael und Meindert Hobbema standen für die Landschaftsmalerei, Jan Steen, Adriaen van Ostade und Adriaen Brouwer für die Bauernsatire, Gerard Terborch und Pieter de Hooch für das Gesellschaftsstück (einer Variation des Genrebildes, das bäuerliche Festlichkeiten thematisiert), Pieter Jansz Saenredam und Emanuel de Witte für die Architekturmalerei, Thomas de Keyser und Frans Hals für Porträts. Willem van de Velde hatte sich auf Schiffe spezialisiert, Paulus Potter malte Tierbilder, bald nur noch Rinder, Philips Wouwerman Pferde, hauptsächlich Schimmel, Melchior d’Hondecoeter beschränkte sich fast ausschließlich auf Vögel, Jan van Huysum auf Blumen und Abraham van Beijeren auf Austern, Hummer und Früchte, während Pieter Claesz der Mann für feines Silberzeug war. Die Preise der zunächst meist auf offener Straße, auch auf Jahrmärkten, angebotenen Bilder waren im Allgemeinen sehr niedrig, und der wachsende Bedarf zog eine rasante Erhöhung der Produktion und damit ein stetiges Anwachsen des Malerstandes nach. Diese Überzahl von Künstlern innerhalb einer regelrechten Bilderindustrie führte zur Entwicklung eines Künstlerproletariats. Viele, heute hochgeschätzte Maler mussten ihren Lebensunterhalt anderweitig finanzieren, die wenigsten konnten allein von der Malerei leben. Jan Steen betrieb ein Wirtshaus, Jakob Ruisdael war Arzt, Jan van Goyen handelte mit Tulpen, Meindert Hobbema war Steuereintreiber, die Malerfamilie van de Velde betrieb ein Leinwandhaus. Viele Künstler nahmen auch Tätigkeiten als sogenannte Grobmaler – also Anstreicher – an, wenn die Aufträge als Feinmaler ausblieben. Beide Gruppen, Grob- und Feinmaler, gehörten ohnehin lange derselben Gilde an. Singuläre Spitzenkräfte wie Rembrandt oder Vermeer waren keineswegs zeittypisch und wurden in ihrer Genialität damals von nur wenigen erkannt. Im Gegensatz zu ihren hoch spezialisierten Kollegen machten sie sich verschiedene Genres zu Eigen und hinterließen ein vielseitiges Œuvre. Das große Geld hingegen verdienten andere, wie zum Beispiel Gerard Dou und Gerrit van Honthorst: Maler, die für die Hofhaltung des Statthalters arbeiteten oder – wie Rubens – sich gleich im feudal und klerikal gebliebenen Flandern niederließen beziehungsweise Hofmaler in Italien, Frankreich oder Spanien wurden. Mit dem breiten Interesse am Gemälde und dem Beginn der Kommerzialisierung der Kunst entwickelte sich ein anderes Verhältnis zwischen Maler und Auftraggeber; der Beruf des Kunsthändlers beziehungsweise Bildermaklers entstand. Gehandelt wurden ausschließlich Staffeleibilder mit vorwiegend profanen Themen, eine Nachfrage nach Altarbildern oder anderen großformatigen religiösen Gemälden bestand wegen des protestantischen Bekenntnisses nicht. Da die meist kleinformatigen und dementsprechend mobilen Bilder oft nicht auf Bestellung, sondern für den freien Markt und einen sich beständig erweiternden Kreis an bürgerlichen Sammlern geschaffen wurden, entwickelte sich sowohl ein reger Kunsthandel als auch das Ausstellungswesen. Architektur Auch auf dem Gebiet der Architektur und des Städtebaus haben die Niederlande eine lange Tradition vorzuweisen. Stand das 16. Jahrhundert noch ganz im Zeichen einer Auseinandersetzung mit der italienischen Renaissance, die in ihrer niederländischen Umsetzung oftmals völlig anders interpretiert wurde, so leitete das Ende des Jahrhunderts vom Manierismus zum Frühbarock über (hier besonders die Arbeiten des städtischen Baumeisters Lieven de Key mit dem Rathaus und der Fleischhalle in Haarlem) und setzte ansonsten schon Anfang des 17. Jahrhunderts ein an Palladio angelehnter, sich schnell zum strengen holländischen Klassizismus entwickelnder Stil ein, der mit seinem fast puritanischem Willen zur Vereinfachung dem damaligen „Zeitgeist“ als Gegenmodell zum barocken Feudalismus sehr entgegenkam. Als Meisterwerk von Jacob van Campen, dem Begründer des nordniederländischen Klassizismus, gilt das 1642 bis 1648 errichtete ehemalige Amsterdamer Rathaus (stadhuis), in dem sich heute der Königliche Palast befindet. Es demonstrierte die Vormachtstellung der Stadt Amsterdam in der einflussreichsten Provinz Holland der niederländischen Generalstaaten und ist zugleich der größte Bau dieser Art in seiner Zeit – im Übrigen gleichzeitig eine ingenieurtechnische Meisterleistung, mussten doch zunächst 13.569 Pfähle in den sumpfigen Boden gegründet werden. Durch die florierende Wirtschaft breiteten sich die Städte schnell aus. Der auf der morastigen Amstelmündung entstandene Amsterdamer Grachtengürtel mit seinen Grachtenhäusern spiegelt die wirtschaftliche und kulturelle Blüte wider, die die Stadt erlebte. Hier und in den anderen niederländischen Städten wirkte besonders der Architekt Hendrick de Keyser, der neben zahlreichen Amsterdamer Kirchen, öffentlichen Gebäuden und privaten Herrenhäusern das Delfter Rathaus errichtete. Dem stand Den Haag nur wenig nach, das sich zur eleganten Diplomatenstadt entwickelte, wo van Campen und Pieter Post 1640 Moritz von Nassaus Stadtpalais Mauritshuis errichteten (im Übrigen der erste in den Niederlanden in Grund- und Aufriss rein klassizistische Bau) und wo Bartholomeus van Bassen Kirchen, Brücken, öffentliche Gebäude und Hofjes baute, in denen ein Teil der ärmeren Bevölkerung unterkam. Utrecht am Rheindelta erlebte mit seinen hochherrschaftlichen Giebelhäusern und vielen Kirchen und Klöstern genauso einen Bauboom, wie Leiden, Haarlem oder Gouda. Auch Delft, wo Architekten wie Hendrik Swaef oder Paulus Moreelse wirkten, entwickelte sich zu einem blühenden Handelszentrum, in dem Tuchweberei, Bierbrauerei und Porzellanmanufakturen angesiedelt waren. Hier wurden nur wenige öffentliche Gebäude im klassizistischen Stil errichtet, hingegen vermehrt auf bereits bestehende Gebäude zurückgegriffen. Das beste zeitgenössische Beispiel ist die Vleeshal (Fleischhalle) von Swaef aus dem Jahr 1650. Typisch für viele zeitgenössische Architekten war es, dass sie ursprünglich Architekturmaler oder Bildhauer waren und zusätzlich Innenräume und sogar Möbel entwarfen und somit das gesamte Interieur der Bauwerke komponierten. Die Innenausstattung der Zunft- und Wohnhäuser zeigte im Übrigen weiter deutliche französische, teilweise barocke Einflüsse. Druckkunst Auch Buchdruck und die Buchverlage erlebten eine Blüte. Die Niederlande hatten bereits im 16. Jahrhundert eine führende Stellung im Druckgewerbe inne und sollten sie im 17. Jahrhundert beibehalten. Der Schwerpunkt der niederländischen Buchproduktion verschob sich von Antwerpen nach Leiden und Amsterdam als neue Druckzentren. So erschienen sogar die späteren Werke Galileis in Leiden, und da blieb es natürlich nicht aus, dass viele andere Autoren dort nicht nur drucken ließen, sondern sich vor Ort niederließen, um ihre literarischen Aktivitäten dorthin zu verlagern. Jedoch konnte der Standard der Buchdruckerkunst eines Christoph Plantin, dessen Antwerper Druckerei als „achtes Weltwunder“ die Augen der gelehrten Welt auf sich zog, nicht gehalten werden. Es entwickelte sich vielmehr – wegen der nachkriegsbedingten Materialknappheit und der extrem hohen Nachfrage – eine deutlich geringere Qualität in Papier, Druckfarben und Einband; auch erschienen die ersten Taschenbücher auf dem Markt. Noch in den Kriegswirren des ausgehenden 16. Jahrhunderts war Plantin – um dem massiven Eingriff der staatlichen und kirchlichen Zensur zu entgehen – von Antwerpen nach Leiden übersiedelt. Innerhalb von zwei Jahren baute er wieder einen großen Betrieb auf, den er – mittlerweile im fortgeschrittenen Alter – seinem Schwiegersohn Franciscus Raphelingus zur Weiterführung überließ, der indes nicht so erfolgreich war und 1620 die Bestallung als Akademiedrucker an Isaac Elzevir verlor. Mit Plantin war ebenso Louis Elzevir aus Antwerpen geflüchtet. Da er kein Kapital für eine eigene Druckerei aufbringen konnte, eröffnete er ein Buchgeschäft und knüpfte gute Beziehungen zur Leidener Universität, von denen seine Erben nach seinem Tod profitierten. Seine Söhne Mathijs und Bonaventura wurden Buchhändler, Louis der Jüngere übernahm die Filiale in Den Haag und Joost die in Utrecht. Wenige Jahre später begründete Neffe Isaac Elzevir (1596–1651), nachdem er reich geheiratet hatte, eine Universitätsbuchdruckerei in Leiden. Dieses sehr schnell erfolgreich gewordene Druckhaus ging im frühen 18. Jahrhundert unter, wohingegen aus dem Den Haager und Utrechter Zweig der Familie später weitere Druckereien hervorgingen, die den Namen bis heute bekannt gehalten haben. Die Elzevirs waren keine gelehrten Buchdrucker wie etwa Manutius oder Estienne, doch sie verfügten über wichtige Kontakte in der damaligen wissenschaftlichen Welt. So ließ „alles, was Rang und Namen hatte“, bei ihnen drucken: Bacon, die Brüder Pierre und Thomas Corneille, Comenius, Descartes, Thomas Hobbes, Hugo Grotius, Milton, La Rochefoucauld, um nur einige Namen zu nennen, und nicht zu vergessen Molière, von dem die Elzevier 24 Theaterstücke herausbrachten, dazu zwei Gesamtausgaben. Auf dem Gebiet der Kartografie waren hingegen andere führend. Mit den Mercatorkarten, die von Jodocus Hondius publiziert wurden, begann die große Zeit der niederländischen Kartenkunst und wurde Amsterdam ferner zum Zentrum der Karten- und Globenproduktion, wo sich unter anderem der bedeutendste Hersteller, Willem Janszoon Blaeu, niedergelassen hatte. Literatur In der Renaissancezeit entwickelte sich ein von der Reformation geprägter Humanismus. Den starken Einfluss der klassischen Schriftsteller, besonders des Tacitus, zeigen die Nederlandsche histooriën (1642–1654) des Historikers P. C. Hooft, der mit seinen Gedichten die französische und italienische Lyrik in den Niederlanden einführte und daneben Hirtenspiele und Dramen schrieb. Klassische Dramen wurden mit der Einheit von Ort, Zeit und Handlung geschrieben, wie es von Aristoteles vorgeschrieben war. Mit seinen biblischen und vaterländischen Dramen gilt Joost van den Vondel als Dichter von klassischem Rang. Seine bekanntesten Werke sind Gijsbrecht van Aemstel (1637) und Lucifer (1654), die heute noch verlegt und aufgeführt werden. Als Komödiendichter (De Spaanse Brabander von 1617) wurde der auch als Lyriker bedeutende Gerbrand Adriaenszoon Bredero geschätzt. Weitere bedeutende Autoren waren der Moralist Jacob Cats, der Diplomat Constantijn Huygens, der Kupferstecher Jan Luyken, der führende zeitgenössische Dichter des niederländischen Südens Justus de Harduwijn, der religiöse Lyriker Jacob Revius, die Statenbijbel, die 1637 erschien, der Dichter und Dramatiker Willem Godschalk van Focquenbroch (1630–1674), der Dichter und Illustrator Jan Luyken (1649–1712), dessen Werke teilweise bis heute verlegt werden, Karel van Mander, der unter anderem Schilderboeck, ein Buch über die Malerei, schrieb sowie der Komödienschreiber Thomas Asselijn (1620–1701). Auch der Universalgelehrte Grotius muss als Literat genannt werden. Sein Hauptwerk ist die juristische Studie De Jure Belli ac Pacis libri tres, in der er den Krieg rechtfertigt, wenn es keine anderen Mittel zur Bewältigung eines Konfliktes gibt und mit der er wichtige Grundlagen des Völkerrechts legt. In der Studie mit dem Titel Mare Liberum erklärt er die Meere zu internationalen Gewässern, die nicht einem bestimmten Herrscher gehören können. Dieses Werk wurde zur Grundlage des modernen Seerechts. Das berühmteste Werk des niederländischen Philosophen Spinoza, Ethica, ordine geometrico demonstrata, in dem er mit Hilfe der Mathematik die jüdisch-mystische Tradition und das von Vernunft geprägte, wissenschaftliche Denken in einer allumfassenden Vision miteinander vereint, wurde 1677 postum veröffentlicht. Gemeinsam mit Descartes und Voltaire war Spinoza einer der Begründer der Aufklärung. Das 17. Jahrhundert galt bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als das bibliographisch am schlechtesten erschlossene Jahrhundert, da zum einen die gewundenen langen Titel die Erfassung in Ordnungswörtern erschwerten, zum anderen auch häufig durch die herrschende Zensur in Europa viele Drucke anonym und ohne Zuordnungsmöglichkeit, wie Ort oder Verlag, erschienen waren. Für die Niederlande trifft dies nicht in dem Maße zu; als das von der Zensur am wenigsten betroffene europäische Land dieses Jahrhunderts, konnten die Autoren weitgehend frei publizieren und waren nicht zur Verschleierung der wahren bibliographischen Daten gezwungen waren. Deswegen wichen selbst berühmte ausländische Autoren dorthin aus. Bildhauerei Die niederländische Bildhauerkunst konnte von den Errungenschaften des 17. Jahrhunderts nicht in dem Maße profitieren wie die anderen Schönen Künste. Ab 800 n. Chr. wurden Bildhauerarbeiten hauptsächlich als architektonischer Schmuck für Fassaden und Grabmäler verwendet und ab dem 11. Jahrhundert kamen Kult- und Heiligenbilder hinzu. Widersprachen schon die gradlinigen, schnörkellosen Formen des Klassizismus gegenüber der Verspieltheit und Figurbetonung von Rokoko und Barock einem Einsatz allzu vieler dekorativer Elemente, so betrafen gerade Statuen das gespannte Verhältnis der protestantischen Kirche zur Bildenden Kunst. Ein weiterer Grund für die schwache Nachfrage war der Rückzug der Aristokratie aus dem Land. Dennoch wurden Skulpturen für Regierungs- und private Gebäude sowie kirchliche und weltliche Außenanlagen in Auftrag gegeben. Daneben gab es einen größeren Kundenkreis für profane Kunst; beispielsweise waren Skulpturen für Grabsteine und Büsten begehrt. Die führenden niederländischen Bildhauer des 17. Jahrhunderts waren der bereits oben als Architekt besprochene Hendrick de Keyser, der 1618 das erste nicht religiöse Standbild der Niederlande, die Erasmus-Statue in Rotterdam, schuf, sowie Artus Quellinus I., Artus Quellinus II. und Rombout Verhulst, alle aus den südlichen Niederlanden. Weiterhin zu nennen sind Bartholomeus Eggers, der zwar einen Auftrag für das Mauritshuis erhielt, ansonsten hauptsächlich für den Kurfürsten von Brandenburg arbeitete, sowie Johannes Blommendael. Musik Die große Zeit der Musikgeschichte der Niederlande ist eng verknüpft mit der Niederländer Schule und endet mit ihr ausgangs des 16. Jahrhunderts. Unter dem dominierenden Einfluss der calvinistischen Kirche konnten sich die großen Formen der Musik – Oper, Passion, Kantate – nicht entfalten; die Musik beschränkte sich auf die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft. So bestimmten Einflüsse aus dem Ausland, allen voran durch Komponisten wie Jean-Baptiste Lully und Johann Sebastian Bach, die zeitgenössische Musik, die in den Niederlanden keinen eigenen Stil ausbildete. Das Orgelspiel nahm einen bedeutenden Rang ein. Auch Musizieren in den Familien war ein bevorzugter Zeitvertreib des 17. Jahrhunderts, die Hausmusik wurde intensiv gepflegt, es bildeten sich Collegia musica genannte private Musikverbände. Gebräuchliche Instrumente waren Laute, Cembalo, Gambe und Flöte. Viele Gesangbücher wurden veröffentlicht, wenngleich ab Mitte des 17. Jahrhunderts die instrumentale Musik deutlich vorherrschte. Lyrische Dramen, Ballett und Opern wurden in dem 1638 eröffneten Amsterdamer Opernhaus aufgeführt, die meist französischen und italienischen Ursprungs waren. Lediglich Constantijn Huygens, Jan Pieterszoon Sweelinck, Organisten und Komponisten von Oratorien und Kantaten, Adriaen Valerius, Dichter von geistlichen und patriotischen Liedern, auch der sogenannten Geusenlieder (Geusen waren im 16. Jahrhundert niederländische Freiheitskämpfer gegen die Spanier), der Glockenspieler Jacob van Eyck sowie der bereits als Autor besprochene Constantijn Huygens mit schätzungsweise 800 Musikstücken, konnten eine gewisse, wenn auch heute weitgehend in Vergessenheit geratene Bedeutung erlangen und landestypische Akzente setzen. Niedergang Das Jahr 1672 ist in den Niederlanden als Rampjaar, das Katastrophenjahr, bekannt. Zunächst kam es zu innenpolitischen Unruhen. Zwei bekannte Politiker in der statthalterfreien Zeit, die Brüder Johan und Cornelis de Witt, wurden in Den Haag grausam ermordet. Johan de Witt hatte versucht, die Ernennung Wilhelms III. zum Statthalter zu verhindern, was zusammen mit der sich zuspitzenden wirtschaftlichen und kolonialen Rivalität zwischen den Niederlanden und England zum zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg führte. Unter der Führung de Witts brachte die niederländische Flotte den Engländern schwere Niederlagen bei. 1667 akzeptierte Karl II. von England den Vertrag von Breda, mit dem der Krieg beendet wurde. Bereits ein Jahr später, 1668, verbündeten sich die ehemaligen Kriegsgegner zusammen mit Schweden in einer Tripelallianz gegen Frankreich, das in die Spanischen Niederlande eingedrungen und zum Abbruch des Devolutionskrieges gezwungen war. Als 1672 der dritte Englisch-Niederländische Seekrieg ausbrach und gleichzeitig Ludwig XIV. von Frankreich zusammen mit Köln und Münster der Republik den Krieg erklärten, kam es zum Holländischen Krieg. De Witt wurde gestürzt und zusammen mit seinem Bruder Cornelis in Den Haag von einer Meute der Anhänger Wilhelms gelyncht; Wilhelm III. von Oranien wurde zum Statthalter berufen. Der Krieg verlief für England nur wenig erfolgreich und wurde 1674 beendet; der Krieg gegen Frankreich konnte erst 1678 mit dem Frieden von Nimwegen beendet werden. Nach der „Glorreichen Revolution“ von 1688 floh der englische König Jakob II. nach Frankreich. Jakobs Tochter Maria wurde zur Königin erklärt; sie sollte zusammen mit ihrem Ehemann Wilhelm III. herrschen, der seit 1672, nach dem Sturz Johan de Witts, Statthalter, Generalkapitän und Admiral der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande war. Damit wurden Holland und England faktisch in Personalunion vereint, und die Republik wurde zu einem festen Bestandteil der antifranzösischen Koalition unter Wilhelm III. Im Laufe der Regierungszeit des Paares gelang es dem englischen Parlament gegen königlichen Widerstand, seine Rechte wesentlich zu erweitern. So wurde beispielsweise die Bill of Rights verabschiedet, die die parlamentarische Verantwortlichkeit von Ministern durchsetzte. Die politische Elite begann, die wirtschaftlichen Interessen zu koordinieren und zu unterstützen. 1694 wurde die Bank von England als erste Staatsbank gegründet; das Parlament garantierte die Deckung der Staatsanleihen und schaffte so Vertrauen. Staatsinteresse und Kapitalinteresse begannen, sich eng zu verknüpfen. Das Erstarken Englands läutete gleichermaßen das schleichende Ende des Goldenen Zeitalters der Niederlande ein, selbst wenn der Geschichtsverlauf nicht so verkürzt auf eine These von Aufstieg, Blüte und Verfall beschränkt beschrieben werden kann und das anbrechende 18. Jahrhundert eher als Zeit der Stagnation denn eines Niedergangs der Niederlande beschrieben wird. Nach 1680 verschlechterte sich für die Niederländische Ostindien-Kompanie erstmals die Situation. In Europa sanken die Pfefferpreise und stieg gleichzeitig die Nachfrage nach Textilien aus Indien, Kaffee aus Mokka und Tee aus China. Die Kompanie verfügte jedoch zum einen über zu wenig Edelmetall zum Ankauf dieser Produkte in Asien, was zu ständigen Kreditaufnahmen führte; zum anderen hatte sie sich bei diesen nicht monopolisierten Produkten mit der englischen Konkurrenz auseinanderzusetzen, die gerade finanziell erstarkte. Die wachsenden Kosten des Überseehandels wurden für die Kompanie, wie für das ganze Land, zu einer immer stärkeren Belastung. Andere signifikante Ereignisse geschahen 1702: Der Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges und der tödliche Reitunfall des 52-jährigen Statthalters Wilhelm III. Da er keinen männlichen Erben hinterließ und kein zweifelsfreier Nachfolger bestimmt war, ruhte die Statthalterwürde und es trat eine Rückbesinnung auf die antizentralistische Tradition der städtischen Regenten ein. Erst 1747 wurde Wilhelm IV. Statthalter aller Provinzen. Nach dem Frieden von Utrecht hatten die Regenten den Standpunkt eingenommen, die Republik solle in der internationalen Politik keine führende Rolle mehr spielen. Dieser Beschluss war eigentlich nur die Anerkennung der Realität, denn aufgrund der Uneinigkeit zwischen den Staaten und des komplizierten Regierungssystems hatte die Republik seit 1715 auf internationaler Ebene kaum noch Einfluss geltend machen können. Freilich spielten finanzielle Gründe ebenso eine Rolle. Die schlechte wirtschaftliche Lage wurde unter anderem dadurch verursacht, dass reiche Bürger ihr Geld in den Nachbarländern und nicht im eigenen Land anlegten. In dieser Zeit wurde das Land noch von zwei weiteren Plagen heimgesucht. Der aus dem karibischen Raum eingeschleppte Schiffsbohrwurm richtete an Schiffen und den zahlreichen Holzpfählen der Deiche immense Schäden an. Immer wieder kam es deshalb zu Überschwemmungen. Zeitgleich wütete die Rinderpest, die nicht nur die Bauern hart traf, sondern den Export von Käse und Butter zum Erliegen brachte. Das von Frankreich ausgehende Zeitalter der Aufklärung erreichte schließlich auch die Niederlande, wo sich die so genannten Patrioten formierten, die sich für eine Modernisierung und Demokratisierung der maroden Republik einsetzten. Auch vergrößerte sich die soziale Kluft im Lande immer mehr, die Regierenden entfremdeten sich zunehmend von ihrem Volk. Unruhen, Anprangerung der Missstände und Systemkritik an der unbegrenzten Herrschaft der Regenten breiteten sich aus. Kritik am Begriff Der Begriff Goldenes Zeitalter ist aus heutiger Sicht problematisch. Der Reichtum der Niederlande im 17. Jahrhundert und die daraus u. a. resultierende Entwicklung der Kunst beruht nämlich vorrangig auf der Bereicherung durch die Kolonien. Der Begriff beschreibt also eine einseitige Perspektive aus rein niederländischer Sicht und verschweigt gleichzeitig die Unterdrückung jener, die zu unmenschlichen Bedingungen für diesen Reichtum verschleppt und verkauft wurden. Auch der Raub materieller Güter und der Abbau von Ressourcen in den Überseegebieten sind Gründe für den rapiden Aufstieg der Handelsnation. Aus der Sicht der Sklaven müsste man in diesem Zusammenhang von einem Grauen Zeitalter sprechen. Diese dunkle Seite der Geschichte wurde aber in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Das Historische Museum Amsterdams reagierte im Jahr 2019, indem es den Begriff strich und durch den neutralen Begriff 17. Jahrhundert ersetzte. Daraufhin entbrach eine öffentliche Debatte über den Begriff. Eine weitere Möglichkeit der Neutralisierung des Begriffs ist vom sogenannten Goldenen Zeitalter zu sprechen. Siehe auch Liste von Personen des Goldenen Zeitalters der Niederlande Niederländische Literatur Literatur Martin Bachmann: Holländische Mentalität – moderne Mentalität? Untersuchungen zum Bürgertum der Provinz Holland im 17. Jahrhundert. Dr. Kovac, 1999, ISBN 3-86064-932-9. Hermann Bauer: Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts. GeroNova Bruckmann, 1982, ISBN 3-7654-1873-0. Thomas Drews: Der wirtschaftliche Aufstieg der Niederlande als Seemacht im 17. Jahrhundert. GRIN, 2005, ISBN 3-638-44125-3. Christoph Driessen: Geschichte der Niederlande. Von der Seemacht zum Trendland. Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2173-6. Christoph Driessen: Rembrandt und die Frauen. Regensburg 2012, ISBN 978-3-7917-2359-4. Wayne Franits: Dutch Seventeenth-Century genre painting – its stylistic and thematic evolution. Yale University Press, 2008, ISBN 978-0-300-14336-2. Dagmar Freist: Das „niederländische Jahrhundert“. 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Haus der Niederlande an der Uni Münster (Niederlandenet) Ein frühneuzeitliches Wirtschaftswunder. Haus der Niederlande an der Uni Münster (Niederlandenet) Das Goldene Jahrhundert Herausgegeben vom Niederländischen Außenministerium. Amsterdams Centrum voor de Studie van de Gouden Eeuw. Ein Projekt der Universität Amsterdam. (niederländisch) Meisterzeichnungen um Rembrandt und Ruisdael Suermondt-Ludwig-Museum Aachen Landschaftsmalerei im Goldenen Zeitalter GFZ Deutsches GeoForschungsZentrum, Potsdam Einzelnachweise Historischer Zeitraum Geschichte der Malerei
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Golo Mann
Golo Mann (* 27. März 1909 in München; † 7. April 1994 in Leverkusen; eigentlich Angelus Gottfried Thomas Mann; heimatberechtigt in Kilchberg) war ein deutsch-schweizerischer Historiker, Publizist und Schriftsteller. Der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann emigrierte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten über Frankreich und die Schweiz in die USA. Mitte der 1950er Jahre kehrte er nach Deutschland zurück und übersiedelte später in die Schweiz. Nach einer Tätigkeit als Professor für Politikwissenschaft in Stuttgart arbeitete er als freier Publizist und einflussreicher Kommentator des Zeitgeschehens. Er verkehrte mit Politikern wie Konrad Adenauer und Willy Brandt, für den er sich zunächst als Berater einsetzte und dessen Ostpolitik er unterstützte. Ablehnend äußerte er sich zur Studentenbewegung. Vor der Bundestagswahl 1980 engagierte er sich für Franz Josef Strauß, den Kanzlerkandidaten der CDU/CSU. Zu Golo Manns bekanntesten Schriften gehören die 1958 erschienene Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die in Millionenauflage erschien, in neun Sprachen übersetzt wurde und als Standardwerk gilt, sowie seine 1971 veröffentlichte Wallenstein-Biographie. Als konservativer Historiker stellte er den Menschen in den Mittelpunkt seiner erzählenden Geschichtswerke und zog damit die Kritik mancher Berufskollegen auf sich, die gesellschaftspolitische Theorien bevorzugten. Leben Kindheit und Ausbildung Mann, der als Kleinkind seinen verkürzten Vornamen „Gelus“ nicht aussprechen konnte und sich Golo nannte, kam als drittes Kind des Schriftstellers Thomas Mann und seiner Frau Katia in München zur Welt. Dieser Kindername begleitete ihn sein Leben lang. Er hatte zwei ältere Geschwister, Erika und Klaus, und drei jüngere, Monika, Elisabeth und Michael. Die Mutter beschrieb Golo in ihrem Tagebuch als sensibel, nervös und schreckhaft. Der Vater verhehlte seine Enttäuschung kaum und erwähnte den Sohn in seinem Tagebuch nur selten. Golo Mann beschrieb ihn rückblickend: „Wohl konnte er noch Güte ausstrahlen, überwiegend aber Schweigen, Strenge, Nervosität oder Zorn.“ Unter den Geschwistern fühlte er sich seinem Bruder Klaus besonders nah verbunden, während er zeitlebens Schwierigkeiten mit den radikalen Ansichten seiner Schwester Erika hatte. Klaus Mann beschrieb den Bruder als Kind in seiner ersten Autobiografie Kind dieser Zeit wie folgt: „Golo [aber] repräsentierte unter uns das groteske Element. Von skurriler Ernsthaftigkeit, konnte er sowohl tückisch als auch unterwürfig sein. Er war diensteifrig und heimlich aggressiv; dabei würdevoll wie ein Gnomenkönig. Ich vertrug mich ausgezeichnet mit ihm, während er sich mit Erika viel zankte.“ Golo Mann besuchte ab September 1918 das humanistische Wilhelmsgymnasium in München mit mittelmäßigen Leistungen, wobei seine Stärken in Geschichte, Latein und insbesondere in der Rezitation von Gedichten lagen, letzteres eine lebenslange Leidenschaft. Er war Mitglied des von den Geschwistern Klaus und Erika sowie Ricki Hallgarten im Jahr 1919 gegründeten „Laienbunds Deutscher Mimiker“. Weitere Mitspieler waren neben Monika Mann befreundete Nachbarskinder. Die Gruppe existierte drei Jahre lang und inszenierte acht Vorstellungen in Privatwohnungen. Eine Abwechslung zu Elternhaus und Schule bot ihm in einer Art „Ausbruchsversuch“ im Frühjahr 1921 der Eintritt in eine Pfadfinder-Vereinigung, mit der er mehrtägige Übungen und ausgedehnte Fahrten in den Sommerferien nach Franken und Tirol unternahm. Die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen machte ihm Spaß, jedoch gab es irritierende Erfahrungen: So wies er eine homoerotische Annäherung ab und litt unter der als Zwang empfundenen paramilitärischen Disziplin. Neue Horizonte taten sich 1923 auf, als Golo Mann an die Internatsschule Schloss Salem wechselte, die er als Befreiung und lebenslange Bereicherung ansah. Der Leiter der Schule, Kurt Hahn, wurde eine prägende Persönlichkeit in seiner Jugend. In Salem sollte eine geistige Elite ausgebildet werden, die nicht nur individuelle Begabungen förderte, sondern auch das verantwortungsvolle Handeln für die Gemeinschaft. Daher gab es einen freien Umgang mit den Lehrern und einen hohen Grad von Selbstverwaltung in der Schülergemeinschaft. Der Dienst für die demokratische Gesellschaft sollte die Richtung seines zukünftigen Handelns bestimmen. Im fachlichen Bereich intensivierte Mann die Beschäftigung mit der von Hahn unterrichteten lateinischen Sprache, was ihn im Alter dazu befähigte, über Tacitus zu schreiben und Horaz zu übersetzen. In der Bodenseelandschaft bildete sich zudem eine ebenso dauerhafte Leidenschaft für Bergwanderungen aus, obgleich ihn eine beim Hochsprung erlittene Knieverletzung für den Rest seines Lebens plagen sollte. Im Rückblick, in seiner Biografie Erinnerungen und Gedanken, kam jedoch neben der Schilderung von Hahns faszinierender Persönlichkeit dessen moralische Rigidität zur Sprache, die die Sexualität völlig ausklammerte. Der Grund sei Hahns homoerotische Neigung gewesen, die dieser [aber] missbilligt und unterdrückt habe. Golo Mann selbst hatte in Salem seine eigene homoerotische Prägung entdeckt. Anfang 1925 litt Golo Mann unter einer schweren Depression, die ihn episodisch lebenslang begleitete: „Damals trat der Zweifel ein oder richtiger, brach mit unerhörter Gewalt ein […] Ich wurde von der schwärzesten Melancholie ergriffen.“ Im März 1927 bestand er als „Externer“ wie seine Salemer Mitschüler das Abitur an einem Gymnasium in Konstanz mit der Gesamtwertung „ziemlich gut“. Die Leistungen in Deutsch und Geschichte waren mit „sehr gut“ benotet. Im April 1927 spielte Golo Mann bei einer Theateraufführung in Salem die Rolle des Wallenstein in Schillers Wallensteins Tod – einer Thematik, die ihn fortan immer wieder beschäftigen sollte. Studium und Beruf Nach der Reifeprüfung begann Golo Mann im Sommersemester 1927 offenbar lustlos ein Jura-Studium in München, das er in seinen Erinnerungen nur knapp erwähnt. Die Hochschule erschien ihm als „kalte, anonyme Maschinerie“, unter den anderen Studenten fühlte er sich fremd. Im selben Jahr setzte er seine Studien in Berlin in den Fächern Geschichte und Philosophie fort. Dort lebten sein Onkel Heinrich Mann, Thomas Manns Verleger Samuel Fischer sowie der Familienfreund Bruno Walter. Den hektischen Kulturbetrieb und die Vergnügungsstätten der Großstadt mied er. Er begegnete der Dichterin und Historikerin Ricarda Huch, die sein späteres Werk beeinflussen sollte. Den Sommer 1928 nutzte er zu einem Sprachaufenthalt in Paris und sechs Wochen „echter“ Arbeit im Braunkohlebergwerk von Schipkau in der Niederlausitz, die aufgrund neuer Kniebeschwerden ein abruptes Ende fand. Golo Mann wechselte im Frühjahr 1929 an die Universität Heidelberg. Dort folgte er dem Rat seines akademischen Lehrers Karl Jaspers, in Philosophie zu promovieren und parallel Geschichte und Latein auf Lehramt zu studieren. Ab Herbst 1930 engagierte er sich zudem politisch in der sozialistischen Studentengruppe. Im April 1932 reichte Mann seine Dissertation mit dem Titel Das Einzelne und das Ich in Hegels Philosophie ein. Sie wurde von Jaspers mit dem Prädikat cum laude bewertet. Über diese Bewertung war er sehr enttäuscht. Erhalten ist Golo Manns Dissertation nur in der stark überarbeiteten und gekürzten Version, die 1935 unter dem Titel Zum Begriff des Einzelnen, des Ich und des Individuellen bei Hegel im Druck erschien. Im Januar 1933 kam Adolf Hitler an die Macht. Für Thomas Mann, der keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen den Nationalsozialismus gemacht hatte, und insbesondere für Golo Manns ältere Geschwister Klaus und Erika Mann war dies der Zeitpunkt zur Emigration. Während die Eltern sich auf einer Vortragsreise im Ausland aufhielten, von der sie nicht zurückkehrten, kümmerte sich Golo Mann im April 1933 um das Münchner Haus, organisierte die Ausreise der drei jüngeren Geschwister und brachte das Bankguthaben der Eltern in Sicherheit. Thomas Mann bat seinen Sohn, Bündel an Notizen und Wachstuchheften – sie enthielten die Tagebücher der Zwanziger Jahre – in einem Handkoffer zu verstauen und mittels Bahnspedition nach Lugano (CH) zu senden mit der dringenden Bitte: „Ich rechne mit Deiner Diskretion, daß du nichts von den Dingen lesen wirst.“ Hans Holzner, der Chauffeur der Familie und heimlicher Gefolgsmann Hitlers, erbot sich, den Koffer aufzugeben. Stattdessen übergab er das Gepäckstück der Bayerischen Politischen Polizei. Als es drei Wochen später immer noch nicht angekommen war, lag die Beschlagnahme nahe, und Thomas Mann beschwor den Rechtsanwalt Valentin Heins, alles zu versuchen, um die Sendung auszulösen. Golo Mann beschreibt die Panik, in die sein Vater geriet: „Sie werden daraus im Völkischen Beobachter veröffentlichen. Sie ruinieren alles, sie werden mich auch ruinieren. Mein Leben kann nicht mehr in Ordnung kommen.“ Heins erreichte in Verhandlungen einige Wochen später die Herausgabe. Die Arbeit für das Staatsexamen in Geschichte mit einem Wallenstein-Thema war bereits eingereicht; zur Prüfung kam es nicht mehr. Golo Mann verließ am 31. Mai 1933 Deutschland in Richtung Bandol, wo sich seine Eltern kurzzeitig aufhielten. Für die Sommermonate kam er nach einem Aufenthalt in einer Pension als Untermieter in der Villa des US-Schriftstellers William Seabrook bei Sanary-sur-Mer unter, weitere sechs Wochen lebte er in der neuen elterlichen Wohnung in Küsnacht am Zürichsee. Schließlich kehrte er nach Frankreich zurück. Ab November begannen für ihn zwei „intensive, lehrreiche Jahre“ als Lektor für deutsche Sprache an der École normale supérieure in Saint-Cloud bei Paris. Gleichzeitig arbeitete er an der Exilzeitschrift Die Sammlung seines Bruders Klaus mit. Im November 1935 übernahm Golo Mann ein halbjähriges Lektorat für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Rennes. Häufige Aufenthalte in der Schweiz sind ein Indiz dafür, dass sich das schwierige Verhältnis zum Vater entspannt hatte, der den politischen Sachverstand des Sohnes zunehmend zu schätzen gelernt hatte. Dass der Sohn in den Augen des Vaters an Wertschätzung gewonnen hatte, wurde ihm aber erst in vollem Umfang bewusst, als er im Alter an der Herausgabe von dessen Tagebüchern mitwirkte und sich freundlich dargestellt fand. Die kollektive Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft sorgte 1936 für zusätzliche Probleme in der Literatenfamilie. Erst der tschechische Textilfabrikant Rudolf Fleischmann, ein Bewunderer von Thomas Mann, ermöglichte diesem und dessen Familie – mit Ausnahme von Erika Mann, die durch die Ehe mit W. H. Auden britische Staatsbürgerin geworden war – die Einbürgerung in seine böhmische Gemeinde Proseč und damit die Verleihung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft. In Prag lernte Golo Mann an der Universität Tschechisch und veröffentlichte Beiträge in der Neuen Weltbühne. In seinem Tagebuch schilderte er Begegnungen mit Max Brod und Ernst Bloch; mit letzterem war eine Verständigung unmöglich, da sich Golo Mann angesichts der stalinistischen Schauprozesse, die ab 1935 stattfanden, vom Marxismus distanziert hatte. Im Frühling 1937 verließ er Prag und zog nach Zürich. Emigration – Soldat in der US Army Anfang 1939 emigrierte Golo Mann nach Princeton, New Jersey, wo sein Vater eine Gastprofessur übernommen hatte. Nach einigem Zögern kehrte er, trotz des sich anbahnenden Kriegsausbruches, im August des Jahres nach Zürich zurück, um nach zahlreichen Beiträgen als Mitarbeiter auf Wunsch seines Vaters im November des Jahres die Chefredaktion der deutschsprachigen Exilzeitschrift Mass und Wert, herausgegeben von Thomas Mann und Konrad Falke, übernehmen zu können. Die Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur erschien von Herbst 1937 bis September 1940 in insgesamt 17 Ausgaben. Adolf Hitlers Feldzug gegen Frankreich im Mai 1940 bewirkte in Golo Mann den Entschluss, sich als Kriegsfreiwilliger einer in Frankreich weilenden tschechischen Einheit anzuschließen und gegen die deutschen Invasoren zu kämpfen. Doch unmittelbar nach Grenzübertritt wurde er bei Annecy festgenommen und Anfang Juni ins Internierungslager Camp des Milles bei Aix-en-Provence überführt. Anfang August kam er auf Intervention der US-Hilfsorganisation Emergency Rescue Committee frei, die Thomas Mann kontaktiert hatte. Es war gelungen, Golo und seinen Onkel Heinrich Mann sowie Franz Werfel auf eine Prominentenliste zu setzen, deren Emigrationsgesuche bevorzugt behandelt wurden. Am 13. September unternahm er mit seinem Onkel Heinrich, dessen Ehefrau Nelly sowie Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel die waghalsige Flucht von Perpignan über die Pyrenäen nach Spanien, die in Heinrich Manns Memoiren Ein Zeitalter wird besichtigt beschrieben wird. Nach der Überfahrt von Lissabon aus kamen sie mit vielen anderen Exilanten, unter ihnen auch Alfred Polgar, an Bord des griechischen Dampfers Nea Hellas am 13. Oktober in New York an. Thomas und Katia Mann waren in den Hafen von Hoboken gekommen, um die Familienmitglieder zu begrüßen. In der Neuen Welt wohnte Golo Mann zunächst im elterlichen Haus in Princeton, danach im ungeliebten New York, bevor er im Juli 1941 mit den Eltern in das kalifornische Pacific Palisades umzog. Ab Herbst 1942 ergab sich eine zehnmonatige Lehrtätigkeit für Geschichte am Olivet College in Olivet, Michigan. Seinem Bruder Klaus nacheifernd, trat Golo Mann 1943 in die US Army ein. Ab August unterzog er sich der Grundausbildung in Fort McClellan, Alabama; im Dezember übernahm er als neuer US-Staatsbürger eine nachrichtendienstliche Tätigkeit im Office of Strategic Services in Washington, D.C. Es war seine Aufgabe, militärisch wertvolle Informationen zu sammeln und zu übersetzen. Im April 1944 wurde Golo Mann nach London entsandt, wo er Radio-Kommentare bei der deutschen Abteilung der gerade gegründeten American Broadcasting Station sprach. In den letzten Kriegsmonaten wechselte er in gleicher Funktion zum militärischen Geheimsender 1212, ausgestrahlt von Radio Luxemburg. Im Spätherbst 1945 wurde er nach Bad Nauheim versetzt, um beim Aufbau von Radio Frankfurt mitzuwirken. Bei seinen Reisen durch Deutschland zeigte er sich entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung, die insbesondere das alliierte Bombardement hervorgerufen hatte. Aus Abscheu über „die Taten dieses Siegergesindels“ verließ er im Januar 1946 auf eigenen Wunsch die US-Army. Er behielt vorerst seine zivile Tätigkeit als Kontrolloffizier bei, in der er unter anderem am Nürnberger Kriegsverbrecherprozess teilnahm. Ende 1946 kehrte er in die USA zurück. Nachkriegsjahre in den USA und Rückkehr nach Deutschland Buchautor und Publizist – Professor in Claremont und Münster Im Jahr 1946 erschien Golo Manns erstes größeres Werk, die englischsprachige Biografie Secretary of Europe. The Life of Friedrich Gentz, die 1947 auch auf Deutsch unter dem Titel Friedrich v. Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes veröffentlicht wurde. Von 1947 bis 1958 hatte Golo Mann eine Assistenzprofessur für Geschichte am Claremont Mens College (heute Claremont McKenna College) in Claremont, Kalifornien inne. Im Nachhinein zählte er diese Lehrtätigkeit „zu den glücklichsten meines Lebens“, andererseits klagte er: „Auch sind meine Studenten so höhnisch, unfreundlich und saudumm, wie sie noch nie waren.“ Ab 1952 schrieb Golo Mann Leitartikel für die Zürcher Weltwoche. Deren Feuilletonredakteur und Mitbegründer war Manuel Gasser, bekennender Homosexueller, ein enger Freund, den er seit 1933 kannte und der zudem mit Manns Geschwistern Erika und Klaus befreundet war. Er sah in Gasser eine glücklicher veranlagte Ausgabe seiner selbst und bewunderte dessen Lebensmut und Unabhängigkeit. Gassers Tod im Jahr 1979 bedeutete einen schweren Verlust für ihn. 1954 veröffentlichte Mann sein zweites Buch, Vom Geist Amerikas. Zum Schreiben dieses Werks unterbrach er seinen Aufenthalt in Kalifornien und hielt sich in der Schweiz und in Österreich auf. Am 12. August des folgenden Jahres starb sein Vater Thomas Mann in Kilchberg. Golo Mann schrieb später in einem vertraulichen Brief an Marcel Reich-Ranicki: „Unvermeidlich musste ich seinen Tod wünschen; war aber während seines Sterbens und danach völlig gebrochen; es dauerte Monate, bis ich mich einigermaßen von diesem Verlust erholte. Solche Nester voller Widersprüche sind wir nun einmal …“ Reich-Ranicki hat in seiner Autobiografie das Leiden Golo Manns und seiner Brüder Klaus und Michael an der väterlichen Dominanz thematisiert. In den Jahren 1956 und 1957 verbrachte er viele Wochen im Gasthaus „Zur Krone“ in Altnau am Bodensee, um dort seine Deutsche Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts niederzuschreiben. Sie erschien im Juli 1958 als zweibändiges Werk und wurde sofort ein Bestseller. In jenem Jahr kehrte Mann endgültig nach Europa zurück. Er lehrte in den Wintersemestern 1958/59 und 1959/60 als Gastprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Anlässlich des 200. Geburtstages Friedrich Schillers hielt er 1959 in Marbach den Vortrag Schiller als Geschichtsschreiber, mit dem er aufgrund großer Nachfrage in der Folge durch deutsche Städte tourte. Ordentlicher Professor in Stuttgart Zum Wintersemester 1960/61 wechselte Golo Mann als ordentlicher Professor für Politische Wissenschaften an die Technische Hochschule Stuttgart, aus der später die Universität Stuttgart hervorging. Für Stuttgart hatte er sich vor allem wegen der Nähe zur Schweiz entschieden. An der Technischen Hochschule wurden keine Studiengänge der Politik- und Geschichtswissenschaften angeboten, so dass Manns Lehrveranstaltungen von Studierenden der Ingenieurs- und Naturwissenschaften im Rahmen eines Studium generale besucht wurden. Dies reduzierte die Betreuungspflichten des Professors, der ohnehin nur eine Vorlesung und eine Übung pro Semester anbieten musste. Die Kehrseite war, dass Mann unter dem mangelnden Interesse der Studierenden litt. Seine beiden Lehrveranstaltungen legte er auf einen Tag, sodass er viel Freiraum für andere Aktivitäten gewann. Der Erfolg seiner Deutschen Geschichte führte dazu, dass Mann als öffentlicher Intellektueller gefragt war. Er hielt Vorträge, nahm an Radio- und Fernsehsendungen teil und publizierte in der Tagespresse. Seine Themen reichten vom Vater Thomas Mann über geschichtsphilosophische und historische Gegenstände bis zu aktuellen Fragen der Tagespolitik, wobei er sich als Befürworter einer Neuen Ostpolitik profilierte. Seit 1960 erschien zudem die vielbeachtete Neufassung der Propyläen Weltgeschichte, mit der Mann seit 1956 befasst war und die er gemeinsam mit Alfred Heuß und August Nitschke, seinem Stuttgarter Kollegen, herausgab; Golo Mann selbst steuerte Einleitungen und eigene Sachbeiträge bei. Die Arbeitsüberlastung, die wenig befriedigende Situation an der Hochschule und Ängste vor öffentlichen Auftritten führten in den Stuttgarter Jahren zu einer schweren psychischen Krise Manns, die er mit Medikamenten und Alkohol zu bekämpfen versuchte. Am 8. November 1962 kam es zum Zusammenbruch, Mann verbrachte fünf Wochen in der Universitätsklinik Tübingen. Im Januar 1963 kehrte er auf seinen Lehrstuhl zurück, kam seinen Verpflichtungen im Sommersemester des Jahres noch nach, dann nahm er unbezahlten Urlaub. 1965 gab er seine Professur offiziell auf. 1961 ließ sich Mann ein Ferienhaus in Berzona im Tessin bauen. Dorthin zog er sich oft zum Schreiben und Wandern zurück. Er war dort Nachbar von Alfred Andersch und Max Frisch. Rezension über Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ Wie Golo Mann war Hannah Arendt Schülerin von Karl Jaspers gewesen. Ihr Bericht im New Yorker aus dem Jahr 1963, Eichmann in Jerusalem, über den Eichmann-Prozess, der 1961 in Jerusalem stattgefunden hatte, löste eine Kontroverse zur Thematik des Nationalsozialismus aus. Golo Mann gehörte zu den ersten europäischen Kritikern; seine Rezension erschien unmittelbar vor der Veröffentlichung der deutschen Fassung in der Neuen Rundschau im selben Jahr. Nach Arendts Auffassung war Eichmann kein Ungeheuer und fanatischer Judenhasser, sondern ein gewöhnlicher Mensch mit Organisationstalent, der ehrgeizig und gehorsam, gleichzeitig unbeholfen und dumm, im Verhör den Eindruck eines „Hanswursts“ gemacht habe. Ihre Einschätzung der Persönlichkeit Eichmanns, die These von der Mitschuld der Juden am eigenen Untergang sowie die Beurteilung des Widerstands gegen Hitler lösten bei Golo Mann Empörung aus. Die Kontroverse führte zur endgültigen Entfremdung von seinem Doktorvater Jaspers, der mit Arendt befreundet war. Adorno/Horkheimer-Kontroverse Im Jahr 1963 wurde Golo Manns geplante Berufung als ordentlicher Professor an die sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Frankfurt am Main durch die Kollegen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verhindert. Die Professorenstelle erhielt stattdessen der Marxismus-Spezialist Iring Fetscher. In einem Fernsehinterview, das anlässlich seines 80. Geburtstags 1989 geführt wurde, bezeichnete Golo Mann beide als „Lumpen“. Daraufhin protestierten viele deutsche Soziologen, Philosophen und Historiker öffentlich. Golo Mann begründete seine Attacke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung damit, Adorno und Horkheimer hätten ihn beim damaligen hessischen Kultusminister als „heimlichen Antisemiten“ angeschwärzt, nachdem er sich um den Lehrstuhl an der Universität Frankfurt am Main beworben hatte. Eine Schilderung der Vorgänge gab der Historiker Joachim Fest in seiner Publikation Begegnungen, in der er außer dem schon genannten Antisemitismusverdacht den Hinweis in einem Brief Horkheimers auf Golo Manns Homosexualität und die darauf beruhende Gefährdung der akademischen Jugend erwähnt. Herbert Heckmann habe auf seinen „Eid genommen“, den Brief gesehen zu haben, einen Beweis für den Brief gibt es jedoch nicht. Tilmann Lahme hat die Kontroverse und deren Vorgeschichte, die bereits im amerikanischen Exil begonnen hatte, für seine 2009 erschienene Biografie ausführlich recherchiert. Golo Mann hatte im Juni 1960 im Düsseldorfer Rhein-Ruhr-Club einen Vortrag „Über Antisemitismus“ gehalten, der gekürzt am 2. Juli in der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung erschien. Der Soziologe Clemens Albrecht hat Golo Manns Vortrag untersucht und die sachlichen Differenzen hinsichtlich der „Vergangenheitsbewältigung“ (Albrecht) zwischen Mann und der neomarxistischen Frankfurter Schule, vertreten durch Adorno und Horkheimer, herausgestellt. Die gegensätzlichen Auffassungen lägen im Ansatz einer pessimistischen Anthropologie sowie in einer aufklärerischen Systemtheorie. In den Jahren 1963 bis 1979 war Golo Mann Mitherausgeber und Autor der Literaturzeitschrift Neue Rundschau, die im S. Fischer Verlag erscheint. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag, in dem die meisten seiner Werke publiziert wurden, begann bereits im Jahr 1957 mit seinem Beitrag über Außenpolitik im Fischer-Lexikon. Freier Historiker und Publizist Umzug in die Schweiz 1965 legte Golo Mann die Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule in Stuttgart nieder, um als freischaffender Historiker und Publizist zu arbeiten. Seinen festen Wohnsitz nahm er im Elternhaus in Kilchberg in der Alten Landstrasse 39. Dort lebte er bis 1992, zunächst noch gemeinsam mit der im Alter dement gewordenen Mutter Katia und seiner Schwester Erika Mann. 1968 nahm er die schweizerische Staatsbürgerschaft an. Die charakterlichen und politischen Unterschiede zu Erika waren beträchtlich; sie wurden gemildert durch zahlreiche Reisen, welche die Geschwister unternahmen, sodass das Elternhaus mehr als Stützpunkt diente. Erika Mann starb im August 1969 und setzte ihren Bruder als Erben ein. Der Vater war in Kilchberg noch immer gegenwärtig. Golo Mann konnte dem Haus erst nach und nach eine eigene Note geben. Ein naher Freund, Hanno Helbling, resümierte: „Man sah ihn leiden in Kilchberg, woran nicht die Ortschaft schuld war […]. Die Schatten gingen um in dem Haus. […] Das Arbeitszimmer des Vaters halb und halb noch erkennbar, von dem Sohn halb und halb übernommen […] Der Salon dagegen in seiner Bürgerlichkeit erhalten unter dem damals noch wachen Auge der Mutter“. In Cadenabbia, einem Ferienort, den Konrad Adenauer oft besuchte, kam es im April 1966 zur Begegnung mit dem Altbundeskanzler, dessen Kurs der Westintegration und der Aussöhnung mit Israel Golo Mann öfter lobte. Bereits 1963 warf er Adenauer jedoch in der Frage der Wiedervereinigung Unehrlichkeit vor, da dieser oft von ihr gesprochen, aber nie für sie etwas getan habe. Diesbezüglich schrieb er: „Seine Politik war die gradlinigste, offenste, treueste auch nicht. Franzosen und Amerikaner hat er nie betrogen; viel eher das eigene Volk“. Ab 1969 unterstützte er Willy Brandt und dessen neue Ost- und Entspannungspolitik. Er betätigte sich außerdem gelegentlich als Ghostwriter für Brandt. Wie sein Doktorvater Karl Jaspers und die Zeit-Chefredakteurin Marion Gräfin Dönhoff, mit der er freundschaftlich verbunden war, trat er für einen Dialog zwischen Ost und West ein, um zu den Völkern Osteuropas „Brücken zu schlagen“. Das Aufkommen und Erstarken der Studentenbewegung empfand er hingegen trotz punktueller Übereinstimmungen als schwerwiegende Bedrohung der Demokratie: „Hört auf, Lenin zu spielen!“ überschrieb er im April 1968 einen Artikel in der Zeit. Der Artikel provozierte Proteste linker Studenten bei der Verleihung des Büchner-Preises 1968 an Mann. Im selben Jahr wurde er bei einer von ihm geleiteten Podiumsdiskussion während der Frankfurter Buchmesse mit demonstrierenden Studenten konfrontiert, was zu einer dezidierten Ablehnung der Bewegung führte. In diesem Sinn wandte er sich 1973 allmählich von Willy Brandt ab, dem er Passivität gegenüber einer kommunistischen Infiltration seiner Partei vorwarf. Die bereits 50 Jahre lang währende Passion für den böhmischen Generalissimus Wallenstein mündete 1971 in das Erscheinen der monumentalen Biografie Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann, die über 1000 Seiten umfasst. Sie gilt wegen ihrer bildhaften Sprache und ihrer literarischen Qualität als Meisterwerk der erzählenden Geschichtsschreibung. Im Jahr 1974 leitete er als Nachfolger von Günter Gaus seine eigene Fernsehsendung mit dem Titel Golo Mann im Gespräch mit …. 1976 nahm er zusätzlich zur schweizerischen die deutsche Staatsangehörigkeit an, die ihm unter der nationalsozialistischen Herrschaft aberkannt worden war. „Deutscher Herbst“ 1977 Nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback im April 1977 und des Bankiers Jürgen Ponto im Juli gleichen Jahres erreichte der Terrorismus in Deutschland seinen Höhepunkt. Golo Mann verfolgte die den Rechtsstaat bedrohenden Aktivitäten mit großer Sorge. Er warf der Regierung unter Helmut Schmidt eine Verharmlosung der terroristischen Gefahr vor. Großes Aufsehen erregte er mit seinem emotionalen Beitrag Quo usque tandem? in der Welt vom 7. September 1977, also in der Zeit des Deutschen Herbstes, in dem er die Möglichkeit der Hinrichtung von Terroristen im Zusammenhang mit der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September 1977 ansprach. Er definierte den Kampf gegen Terroristen als Krieg und forderte neue Antiterrormaßnahmen. Der Titel des Beitrags war Ciceros Rede gegen Catilina und seine Anhänger entlehnt, die hingerichtet wurden. Sie lautete in den Eingangsworten: Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? („Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld missbrauchen?“). Dieser Artikel Manns löste unterschiedliche Reaktionen aus. Die kritische Stellungnahme fand Zustimmung beim „Mann auf der Straße“, während viele Intellektuelle im Umkreis der Außerparlamentarischen Opposition Golo Mann als Reaktionär und militanten Rechtskonservativen schalten. Rechtsgerichtete Oppositionsmitglieder wie beispielsweise Franz Josef Strauß bekundeten ihren Beifall. Nach der erfolgreichen Aktion gegen die Entführung der Landshut in Mogadischu im Oktober 1977 nahm Golo Mann seine Kritik an der Bundesregierung zurück und bedankte sich für ihren Einsatz für Recht und Gesetz. Anhaltend weigerte er sich in den folgenden Jahren, den Terrorismus aus gesellschaftlichen und politischen Hintergründen zu erklären und führte ihn vehement auf eine dem Menschen innewohnende „Dämonie des Bösen“ zurück. Mit der mehrfach wiederholten Äußerung, Deutschland befinde sich im Ausnahme- oder Kriegszustand, spielte er in den Augen vieler den Terroristen in die Hände, die sich als legitime Kriegspartei verstanden wissen wollten. Nicht zuletzt, um der Befehlsgewalt und dem Altersstarrsinn der demenzkranken Mutter zu entgehen, erwarb Golo Mann 1979 ein Haus in Icking bei München. Er beendete den „Heimatversuch“ zwei Jahre später, um nach dem Tod der Mutter 1980 nach Kilchberg zurückzukehren. Einsatz für Franz Josef Strauß Golo Mann, der sich nach den Ostverträgen von Willy Brandt gelöst hatte, begann sich aufgrund der Studentenunruhen und terroristischen Attentate in Deutschland zunehmend Franz Josef Strauß anzunähern, den er für den Politiker hielt, der die linke Bewegung eindämmen könnte. Bereits 1976 war es zu einem längeren Gespräch anlässlich einer Gedenkfeier zu Adenauers 100. Geburtstag in Bad Honnef gekommen. Ab Juli 1979 betätigte er sich als Wahlhelfer für den Kanzlerkandidaten, indem er Aufrufe unterschrieb, an Veranstaltungen teilnahm, Interviews gab und im Fernsehen auftrat. Gegenüber dem damaligen Generalsekretär der CSU, Edmund Stoiber, hatte er jedoch Vorbehalte, die sich auf dessen Gleichsetzung von Sozialismus und Nationalsozialismus im Wahlkampf der CSU gründeten. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Briefe von Freunden und Bekannten trafen ein, die ihre Verwunderung ausdrückten, so von Hans-Jochen Vogel, Harry Pross, Ernst Klett jr. und Arnulf Baring. An Letzteren schickte Golo Mann die Begründung, Strauß sei für die deutsche Intelligenzija ein „underdog“, und bemerkte: „Ich war immer, zeit meines Lebens, für die ‚underdogs‘; darum war ich für die Sozialdemokraten, leidenschaftlich 1929–1933, und darum war ich auch in den fünfziger Jahren für sie, als Adenauer sie recht hässlich behandelte.“ Für den Auftritt in einer Fernsehsendung im Januar 1980 erhielt Mann ein negatives Presseecho. So schrieb der Stern unter dem Titel Mannomann: „In einer peinlichen Fernsehsendung ließ er sich sogar als Strauß-Stichwortgeber und Kopfnicker vorführen“. Die satirische Zeitschrift Titanic erklärte ihn zur „Pfeife des Jahres“, nachdem er im Jahr davor zum Pfeifenraucher des Jahres gewählt worden war. Golo Mann notierte im Tagebuch unter dem Datum 5. Februar 1980: „Das Ganze wird mir bekommen wie die „Daily-Telegraph-Affäre“ dem Kaiser Wilhelm“. Tod des Freundes Hans Beck – Besuch der DDR Im Jahr 1986 starb ein enger Freund Golo Manns, Hans Beck-Mann (* 1936) – ein Apotheker bei der Bayer AG in Leverkusen –, den er 1955 kennengelernt und finanziell beim Studium unterstützt hatte, an Porphyrie. An dieser schweren Stoffwechselerkrankung hatte Beck-Mann jahrelang gelitten. 1964, so berichtet Manns Biograf Tilmann Lahme, „erklärte ihm Hans Beck, er werde Vater und wolle seine Freundin heiraten … Ein schwerer Schock für Golo Mann“. Der Historiker adoptierte Beck, fortan Beck-Mann, im Jahr 1972; dessen Familie blieb ihm auch über Hans Becks Tod hinaus eng verbunden. Unterdessen hob die DDR Anfang 1989 die jahrelange Ächtung Golo Manns auf. Diese hatte bestanden, weil seine Deutsche Geschichte als gezielt antimarxistisch beurteilt worden war. Bücher, die er in die DDR gesandt hatte, waren regelmäßig retourniert worden. Aus Anlass der Erstveröffentlichung des Wallenstein in der DDR hielt er im April 1989 auf Einladung des SED-Kulturministers Hans-Joachim Hoffmann erste Lesungen. Als die Zeichen der Zeit nur ein Jahr später auf Wiedervereinigung standen, reagierte er distanziert: „Keine Freude an der deutschen Einheit. Sie werden wieder Unsinn machen, wenngleich ich es nicht erlebe.“ Letzte Jahre Im März 1990 erlitt Golo Mann nach einem Vortrag einen Herzinfarkt und bekam einen Schrittmacher eingesetzt. Im selben Jahr diagnostizierten die Ärzte bei ihm Prostatakrebs. Aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit übersiedelte er 1992 nach Leverkusen, wo er von seiner Schwiegertochter Ingrid Beck-Mann (einer ausgebildeten Krankenschwester) betreut und gepflegt wurde. Wenige Tage vor seinem Tod bekannte er sich in einem Interview gegenüber dem Reporter Wolfgang Korruhn zu seiner Homosexualität, die er jedoch aus Angst vor Repressalien nie nennenswert ausgelebt habe. „Ich hab’ mich nicht oft verliebt. Ich hab’ es sehr oft für mich behalten, das war vielleicht ein Fehler. Es war ja auch verboten, selbst in Amerika, und man musste schon ein bisschen achtgeben.“ Nach Tilmann Lahmes Biografie hat Golo Mann seine Homosexualität zwar weniger offen ausgelebt als sein Bruder Klaus, hatte jedoch seit seiner Studentenzeit Liebesbeziehungen. Im New Yorker Exil lebte er einige Zeit in Wohngemeinschaft mit W. H. Auden, Benjamin Britten, Paul und Jane Bowles sowie dem Tenor Peter Pears. Golo Mann starb kurz nach seinem 85. Geburtstag am 7. April 1994 in Leverkusen. Die Urnenbeisetzung fand zwar auf dem Friedhof in Kilchberg statt, auf Wunsch des Verstorbenen jedoch in einem Reihengrab abseits des Familiengrabes. An der Trauerfeier nahmen gegen den Willen des Verstorbenen, der keine Beteiligung von Blutsverwandten an seiner Beisetzung gewünscht hatte, seine Schwester Elisabeth Mann Borgese sowie seine Neffen Frido und Antony Mann teil. Golo Mann hatte sich aufgrund eines Prozesses um das Erbe von Monika Mann, die wie er von Ingrid Beck-Mann in ihrem Haus aufgenommen worden war, mit seiner Familie zerstritten. Beziehung zum Vater, Persönlichkeit Golo Mann litt von Kindheit an – wie seine Geschwister mit Ausnahme von Elisabeth – unter der autoritären Haltung und der Berühmtheit des Vaters. Manns Biograf Urs Bitterli zitiert aus Golo Manns Tagebuch unter anderem die Textstellen „Was hatten wir doch für eine elende Kindheit“ und aus der Einleitung zu Vom Geist Amerikas „Insbesondere leugne ich nicht, dass ich gewisser Seiten meiner deutschen Kindheit und Jugend mich heute nur mit Grausen erinnern kann“. Das väterliche Arbeitszimmer durfte von den Kindern nicht betreten werden, bei Tisch schwiegen sie meistens. Besonders in der Zeit des Ersten Weltkriegs, als Thomas Mann mit der Niederschrift seines Werks Betrachtungen eines Unpolitischen beschäftigt war, reagierte er empfindlich und gereizt. In seinem Tagebuch von 1920 notierte Thomas Mann: „Golo, mehr und mehr problematischer Natur, verlogen, unreinlich und hysterisch, reizt K. [Katia] sehr und war mittags und abends in Strafe.“ Erst in den 1930er-Jahren entspannte sich das Verhältnis, als Thomas Mann die Mitarbeit seines Sohns an der Exilzeitschrift Mass und Wert zu schätzen lernte. Nach dem Tod des Vaters 1955 versuchte Golo Mann, mit der 1958 veröffentlichten Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aus dessen Schatten herauszutreten. Dies gelang ihm besser als seinen Brüdern. Der Thomas-Mann-Forscher Hans Wysling resümierte allerdings anlässlich Golo Manns 80. Geburtstags: „[…] Da war er nun Herr Professor Dr. Golo Mann, und doch nannten ihn alle, die von ihm sprachen, Golo. Er war ein berühmter alter Mann und war doch Sohn geblieben“. So sah es auch der Historiker selber, er haderte noch im hohen Alter mit seinem Schicksal, das ihn zum Sohn Thomas Manns gemacht hatte, wie aus seiner privaten Korrespondenz hervorgeht. Der Herausgeber des Werkes Die Kinder der Familie Mann, Uwe Naumann, beschreibt in seinem Vorwort, dass Golo Manns Wesen von seinen Mitmenschen als düster und melancholisch empfunden wurde, seine Haltung als konservativ und pessimistisch. Er habe sich nicht wie seine Geschwister Erika und Klaus am Widerstand gegen Hitler aktiv beteiligt, obgleich er unter dem Zeitgeschehen wie sie gelitten habe. Golo Mann habe betont, wie er von den Ereignissen des 20. Jahrhunderts geprägt worden sei: „Wer die dreißiger und vierziger Jahre als Deutscher durchlebt hat, der kann seiner Nation nie mehr völlig trauen […] Der wird, wie sehr er sich auch Mühe geben mag und soll, in tiefster Seele traurig bleiben, bis er stirbt.“ Hans Woller schrieb eine Rezension zu Tilmann Lahmes Biografie und zitiert daraus unter anderem Golo Manns Leiden am übermächtigen, steril-kalten Vater und an der maskulin-herrischen Mutter sowie die Ängste, Phobien und Depressionen, die ihn periodisch lähmten und die er zeitweise durch Alkohol und Tabletten einzudämmen versuchte. Lahme habe in seinem Buch auch neue Erkenntnisse über Golo Mann als „homo politicus“ und engagierter Zeitgenosse gebracht. So habe dieser sich schon als Schüler in Salem für Politik und gesellschaftliche Fragen interessiert und sich später als eigenständiger politischer Kopf vor allem in der Auseinandersetzung mit Hitler und dem Nationalsozialismus um ein eigenes Urteil bemüht. Als junger Mann sei er „weit nach links [ge]drifte[t]“ und habe sich einer linksradikalen Studentengruppe angeschlossen; die „demokratische Läuterung“, die nach 1933 einsetzte, habe jedoch rasch zum vollständigen Bruch mit Marx geführt. Golo Mann habe sich früh für eine neue Ostpolitik und eine Aussöhnung mit Polen eingesetzt und sich nicht gescheut, unbequeme Forderungen zu erheben. Doch habe er sich zudem von Ressentiments und Stimmungen leiten lassen. Als Beispiele nennt Woller seine wohlwollenden Urteile über Francos Spanien, sein Eintreten für Hans Filbinger im Marinerichterskandal und sein stark kritisiertes Engagement für Franz Josef Strauß im Wahlkampf. Nachlass Verkauf des Kilchberger Hauses Golo Manns im Jahr 1992 verstorbene Schwester Monika hatte ebenfalls ihr letztes Jahr in Leverkusen, im Haus von Golo Manns Schwiegertochter, Ingrid Beck-Mann, verlebt, der Frau seines verstorbenen Liebhabers und Adoptivsohns Hans Beck-Mann. Ingrid Beck-Mann wurde Erbin des Besitzes ihres Adoptiv-Schwiegervaters und erhielt durch eine testamentarische Verfügung zusätzlich das Vermögen von Monika Mann. Sie verkaufte 1995 das Haus in Kilchberg, das 40 Jahre im Besitz der Familie Mann gewesen war, ohne Rücksprache mit den Familienangehörigen gehalten zu haben. Zum Inventar des Hauses, das Ingrid Beck-Mann teilweise als Erbin Golo Manns mit nach Leverkusen genommen hatte, gehörten beispielsweise drei Gemälde Franz von Lenbachs: Porträts von Katia Pringsheim, der späteren Mutter Golo Manns, ihrer 1942 in Zürich verstorbenen Mutter Hedwig Pringsheim sowie ihrer Großmutter, der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. Die Gemälde wurden im Jahr 2006 vom Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich erworben. Andere Objekte aus dem Haus, wie etwa das Kindertagebuch, in dem Katia Mann die Entwicklung des kleinen Golo festhielt, oder verschiedene Bücher aus der Familienbibliothek, sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv Golo Manns Nachlass wird im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern aufbewahrt. Er umfasst unter anderem Manuskripte, Briefe, Beiträge in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen und Vorträge sowie seine Privatbibliothek und Objekte, wie beispielsweise Gemälde, Schreibmaschine und Koffer. Golo-Mann-Preis Seit 2013 vergibt die 2010 in Wiesbaden gegründete „Golo Mann-Gesellschaft“ mit Sitz im Lübecker Buddenbrookhaus alle zwei Jahre den mit 15.000 Euro dotierten Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung. Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ermöglicht den Preis und die Preisverleihung. Die „Golo Mann-Gesellschaft“ setzt eine Jury ein, die Empfehlungen für die Preisvergabe ausspricht. Ausgezeichnet werden „deutschsprachige Autorinnen und Autoren, die einen substanziellen Beitrag zur geschichtswissenschaftlichen Forschung geleistet haben und deren Werk zugleich literarischen Ansprüchen genügt“. Der erste Preisträger im Herbst 2013 war Volker Reinhardt für sein Werk Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie. (München 2012). Der Preisträger 2015 war der Historiker Werner Dahlheim für sein Werk Die Welt zur Zeit Jesu und 2017 erhielt den Preis der Zeithistoriker Martin Sabrow für seine Biografie Erich Honecker – Das Leben davor. Werke (Auswahl) Golo Mann wäre gern Schriftsteller wie sein Vater Thomas und sein Bruder Klaus geworden. Er entschied sich jedoch dazu, hauptsächlich Themen aus dem geschichtlichen Bereich zu wählen, und wurde als „literarischer Historiker“ einer der populärsten deutschen Autoren in diesem Genre; die Gesamtauflage seiner Bücher beträgt über zwei Millionen Exemplare. Unter dem Pseudonym Michael Ney beschrieb er in der Erzählung Vom Leben des Studenten Raimund in autobiografischen Bezügen seine erste Depression und die nicht erwiderte Liebe zu Raimunds Freund Jerome. Die Erzählung erschien 1928 in der Anthologie jüngster Prosa, die Klaus Mann als Mitherausgeber betreute. Tilmann Lahme hat diese Erzählung während der Arbeit an seiner Biografie wiederentdeckt und sie in einem zusätzlichen Band mit dem Titel Man muss über sich selbst schreiben im Jahr 2009 veröffentlicht. Weiterhin enthält der Band neben der historischen Novelle Lavalette Radioansprachen an die Deutschen für den US-Rundfunk (1944–1945), Manns Positionen zur deutschen Ostpolitik und Porträts über seine Familienmitglieder, über John F. Kennedy, Willy Brandt sowie Charles de Gaulle. Sein Erstlingswerk als Buchautor war das historische Werk Secretary of Europe. The Life of Friedrich Gentz, das Mann zunächst in deutscher Sprache verfasst hatte und dann 1946 in den USA ins Englische übersetzt veröffentlicht wurde. Ein Jahr später folgte die deutsche Ausgabe im Europa Verlag von Emil Oprecht in Zürich unter dem Titel Friedrich v. Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes. Golo Mann lässt in seinem ersten Buch über den Berater Metternichs Grundzüge einer pessimistischen Geschichtsphilosophie erkennen, die an eine Evolution im Verlauf der Geschichte nicht glaubt. Menschliche Unzulänglichkeit wiederhole sich in der Politik immer wieder, der Einfluss des Einzelnen auf die Macht sei begrenzt. Das Erstlingswerk ist, so der Autor, wie sein späterer Wallenstein „[…] eine Geschichte vom Elend der Politik, vom Scheitern des politischen Menschen.“ Als zweites Werk erschien 1954 Vom Geist Amerikas als Urban-Taschenbuch im Kohlhammer Verlag, das eine Schilderung der Vereinigten Staaten aus europäischer Sicht bietet. Die „Einführung in amerikanisches Denken und Handeln im zwanzigsten Jahrhundert“ bringt in essayistischer Form einen geschichtlichen Abriss der Innen- und Außenpolitik sowie eine Auseinandersetzung mit der Philosophie des Landes, die sich kritisch mit der McCarthy-Ära auseinandersetzt. Golo Mann schildert in seinem Buch die USA als ein Land voller Widersprüche. Er resümiert: „Noch immer sehe ich Amerika mit den Augen des Europäers. Umgekehrt aber sehe ich Europa mit amerikanischen Augen und vieles, was mir hier ehedem natürlich erschien, erscheint mir heute eng, künstlich und unerträglich.“ Er führt aus, dass er sich an gewisse Seiten seiner deutschen Kindheit und Jugend „nur mit Grausen“ erinnert. Golo Manns bekanntestes Werk ist die von der Büchergilde Gutenberg 1953 in Auftrag gegebene Deutsche Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts. An dieser arbeitete er in den Jahren 1956/57, sie wurde als zweibändige Buchausgabe mit über 1000 Seiten 1958 erstmals veröffentlicht. Sie enthält eine in zwölf Kapitel gegliederte Übersicht über die Geschichte Deutschlands, beginnend mit der Zeit der Französischen Revolution, und knüpft an Ricarda Huchs dreibändiges Werk zur deutschen Geschichte an, das in den Jahren zwischen 1934 und 1949 erschienen war. Golo Mann stellte die Geschichte Deutschlands in den Zusammenhang der europäischen Geschichte bis hin zur Gegenwart und unterbrach damit die damalige Historikertradition, die aufgrund der „mangelnden Distanz“ der Zeitgeschichte auszuweichen pflegte. Es ist vor allem eine Geschichte des deutschen Geistes. Innen- und Wirtschaftspolitik und die Untersuchung gesellschaftlicher Strukturen treten darin zurück. Der Historiker brachte die großen Philosophen wie Immanuel Kant, Dichter wie Heinrich Heine und politische Persönlichkeiten wie Karl Marx und Otto von Bismarck in den Kontext der großen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Werk entwickelte sich zum historischen Standardwerk und erscheint bis in die Gegenwart in Neuausgaben. In den Jahren 1960 bis 1964 war Golo Mann Mitherausgeber der Propyläen Weltgeschichte – Eine Universalgeschichte von den Anfängen bis zur Nachkriegszeit zusammen mit Alfred Heuß und August Nitschke. In dieser Zeit erschienen zehn Bände im Propyläen Verlag. Er betreute neben der Geschichte des Mittelalters hauptsächlich die Geschichte der Neuzeit. Die Veröffentlichung der historischen Biografie Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann 1971 geriet zu einem der größten Bucherfolge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Hanno Helbling betitelte seine Rezension über das umfangreiche Werk in der Neuen Zürcher Zeitung mit „Meisterwerk der Geschichtsschreibung“. Der Übersetzer und Thomas-Mann-Kenner Peter de Mendelssohn erklärte, das Werk sei von einer „geradezu hexerischen Identität von Biographie und Historiographie“, während Golo Mann eine Anerkennung als Schriftsteller wünschte und es als „nur allzu wahren Roman“ verstanden wissen wollte. Begonnen hatte seine Beschäftigung mit dem Protagonisten bereits als Schüler; als Abiturient verkörperte er die Hauptrolle in Schillers Wallensteins Tod, und seine abgeschlossene Staatsexamensarbeit in Geschichte, die wegen seiner Emigration aus Deutschland nicht mehr zum Examen führte, beschäftigte sich ebenfalls mit diesem Thema. Neben Schillers Drama lieferte Ricarda Huchs Wallenstein – Eine Charakterstudie Anregungen für dieses Hauptwerk. Golo Mann arbeitete fünf Jahre daran. Unvollendet blieb eine Biografie über Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, mit der ihn das Krupp’sche Familienkuratorium 1976 beauftragt hatte. Er reagierte erleichtert, als er nach vierjähriger Arbeit von der Aufgabe entbunden wurde. Die genauen Gründe dafür sind unklar; möglicherweise störte man sich im Hause Krupp am Duktus der Arbeit und an der Offenlegung der Familiengeschichte. Die Biografie wurde nur zu zwei Dritteln fertig und nur in einem Auszug veröffentlicht. Im November 1986 erschienen die Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Golo Mann schildert das vom Vater bestimmte Elternhaus, das Leben mit den Geschwistern, kulturelle Einflüsse wie Literatur, Musik, Theaterspiel, die Schul- und Studienzeit. Das Buch endet mit dem Beginn des „Dritten Reiches“ im Jahr 1933. Es wurde ein großer Erfolg, auch wenn sich einige Kritiker über den Titel wunderten, der wie ein Plagiat von Bismarcks Autobiografie Gedanken und Erinnerungen klang. Gleich nach der Veröffentlichung nahm er die Fortsetzung Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich, die die Zeit des französischen Exils von 1933 bis 1940 umfasst, in Angriff. Drei Jahre vor seinem Tod brach Golo Mann die Arbeit daran ab; diese autobiografische Arbeit wurde als Fragment im Jahr 1999 postum veröffentlicht. Rezeption Historiker – Erfolg und Kritik Golo Manns Deutsche Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts aus dem Jahr 1958 machte ihn als Historiker bekannt und erreichte viele Leser. Er erhielt bedeutende Preise, beispielsweise 1968 den Georg-Büchner-Preis. Viele Historikerkollegen teilten die Euphorie nicht, da Mann seine Werke essayistisch formulierte und meist auf einen Anmerkungsapparat verzichtete. Im 1971 erschienenen Wallenstein fügte er sogar einen fiktiven inneren Monolog des Feldherrn ein. Die Fakten im Wallenstein waren nachprüfbar, doch versah die Fachwelt das Werk mit dem Spott-Titel Lotte in Eger, der auf Thomas Manns Roman Lotte in Weimar anspielte, und der Historiker Hans-Ulrich Wehler nannte Golo Mann in den 1980er-Jahren einen „Goldrähmchenerzähler“. Golo Mann legte in seinem Stil Wert auf Verständlichkeit und Bildhaftigkeit, den Fachjargon lehnte er ab. Manns Freund, der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger, betonte in seinem Beitrag Zum Stil Golo Manns, dass dieser die direkte Behandlung der Themen liebte und auf gelehrte Umständlichkeit verzichtete. Floskeln wie beispielsweise „Daraus erhellt“ oder „Es erhebt sich die Frage“ vermied er. Hans-Ulrich Wehler und Golo Mann trafen 1978 auf einer Historikertagung zusammen und hielten Referate, die unterschiedliche Standpunkte vertraten und eine Einigung nicht zuließen. Während Wehler auf die erzählende Darstellung historischer Themen nicht einging und Mann eine überlebte Geschichtsauffassung vorwarf, erklärte Mann, Wehler leugne die Möglichkeiten der Veranschaulichung durch eine erzählende Form, sodass es seiner Schule an der aus menschlicher Erfahrung gewonnenen Sympathie fehle, die den Gestalten der Geschichte entgegenzubringen sei. Es gab zudem keinen Konsens mit den Mitgliedern der 1930 gegründeten, marxistisch orientierten Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas, denen viele Historiker nahestanden. Diese machten den Kapitalismus für Faschismus und Nationalsozialismus verantwortlich und sahen in einer kritischen Analyse des gesellschaftlichen Zustands ein Vorbeugungsmittel gegen solche Ideologien. Golo Mann teilte die optimistischen Tendenzen und den Glauben an die Emanzipationsfähigkeit des Menschen nur sehr bedingt, da er das Schwergewicht seiner Geschichtsdeutung auf das Individuum und nicht auf die Gesellschaft legte. Briefwechsel Rolf Hochhuth – Golo Mann (1963–1987) Das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) in Bern betreut den Nachlass Golo Manns und das Archiv Rolf Hochhuths, wo dieser umfangreiche Briefwechsel vollständig erhalten ist. Er umfasst den ersten Dankesbrief Hochhuths an Golo Mann im Zusammenhang mit der Stellvertreter-Kontroverse 1963 bis zum letzten Brief im Jahr 1988. Nachdem Golo Mann den Dramatiker Rolf Hochhuth nach der Uraufführung des Stellvertreters neben den Professoren Karl Jaspers, Karl Barth und Walter Muschg stark unterstützt und ihn bewundert hatte, entwickelte sich ein langjähriger Briefkontakt. Die nächsten Stücke Hochhuths, Soldaten, Guerillas und Die Hebamme, fanden jedoch nicht die ungeteilte Zustimmung Golo Manns. Hochhuths Freundschaft mit dem Holocaustleugner David Irving verschlechterte die Beziehung zunehmend. Im Fall Hans Filbinger, der Hochhuth zu dem Drama Juristen (1980) inspiriert hatte, nahm Golo Mann nach dem Erscheinen von Filbingers Verteidigungsbuch Die geschmähte Generation in der Welt am Sonntag 1987 für diesen Stellung, indem er für eine Versöhnung mit der Generation eintrat, die den Krieg überlebt hatte. Hochhuth warf ihm daraufhin vor, er verstoße damit gegen seine eigene Geschichtsbetrachtung und spielte auf den Historikerstreit an. Dabei sei er, Golo Mann, der Lehrer seiner Generation gewesen. Golo Mann entgegnete, er sei am Historikerstreit nie beteiligt gewesen, und Hochhuth möge sich, anstatt ihn als Neonazi zu verleumden, mit der Darstellung Filbingers intensiv auseinandersetzen. Den letzten Brief Hochhuths ließ Golo Mann ungeöffnet zurückgehen. Filme mit Bezug auf Golo Mann und Familie In den dritten Programmen von NDR, SFB und Radio Bremen lief Ende Oktober 1983 ein zweistündiger Fernsehfilm von Heinrich Breloer, der das Leben seines Bruders Klaus Mann dokumentierte. Der Titel lautete nach einem Roman von Klaus Mann Treffpunkt im Unendlichen. Golo und Monika Mann gehörten zu den Interviewpartnern Breloers. Golo Mann wurde in einer Szene gezeigt, wie er erstmals ein bisher unbekanntes FBI-Protokoll über seinen Bruder las, der als Kommunistenfreund und Homosexueller verdächtigt wurde. Breloer war es auch, der den erfolgreichen dreiteiligen Dokumentarfilm Die Manns – Ein Jahrhundertroman konzipierte und drehte. Er wurde im Jahr 2001 erstmals im Fernsehen ausgestrahlt. Philipp Hochmair interpretierte die Rolle des Golo Mann. Elisabeth Mann Borgese als letzte Überlebende der Literatenfamilie Mann war Interviewpartnerin Breloers. Das Geheimnis der Freiheit ist ein deutscher Fernsehfilm des Regisseurs Dror Zahavi, der am 15. Januar 2020 erstmals im Ersten ausgestrahlt wurde. Berthold Beitz, Generalbevollmächtigter von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, beauftragt Golo Mann, ein Buch über die Familie Krupp zu schreiben. Edgar Selge spielt Golo Mann, Erni Mangold Katia Mann. Ausstellungen zum 100. Geburtstag Der Geschichtserzähler. Golo Mann zum 100. Geburtstag, unter diesem Titel fand eine Ausstellung im Buddenbrookhaus, Lübeck, vom 6. September bis zum 22. November 2009 statt. Der damalige Leiter des Buddenbrookhauses, Holger Pils, erklärte zum Ansatz der Ausstellung, dass für Golo Mann die biografische Erzählung eine bevorzugte Form gewesen sei. Daher solle die Ausstellung biografisch erzählen und zugleich ein Stück erlebter Geschichte aufzeigen. Pils konzipierte die Ausstellung gemeinsam mit dem Golo-Mann-Biografen Tilmann Lahme. Eine weitere Ausstellung fand 2009 anlässlich des Geburtstags im Tessin statt, wo Golo Mann in Berzona ein Ferienhaus besessen hatte. Das „Museo Onsernonese“ in Loco erinnerte an den Historiker und Schriftsteller. Zwischen allen Stühlen – wie es sich gehört war das Motto der Ausstellung im Schwulen Museum Berlin zum 100. Geburtstag im März 2009. Eine Rauminszenierung stellte Golo Manns Jugend und das familiäre Umfeld dar. Nachgebildet war sein Kinderzimmer in der Münchner Mann-Villa in der Poschingerstraße 1 mit Laufstall und Schulschreibtisch. Eine Wand war mit Thomas-Mann-Bildern und seinen Tagebuchauszügen bestückt. Weiterer Bestandteil der Ausstellung waren eine Klaus-Mann-Vitrine und eine Heinrich-Mann-Büste. Auszeichnungen und Ehrungen (Auswahl) 1964: Schillerpreis der Stadt Mannheim 1967: Ludwig-Thoma-Medaille der Stadt München 1968: Georg-Büchner-Preis 1969: Gottfried-Keller-Preis 1972: Lessing-Ring und Literaturpreis der deutschen Freimaurer sowie Großes Bundesverdienstkreuz 1973: Ehrendoktorwürde der Universität Nantes/Frankreich und Orden Pour le Mérite 1977: Schiller-Gedächtnispreis 1977: Wahl zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences 1979: Pfeifenraucher des Jahres 1980: Kultureller Ehrenpreis der Landeshauptstadt München 1981: Bayerischer Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst 1982: Jakob Fugger-Medaille des Verbandes der Zeitschriftenverlage in Bayern 1984: Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik 1985: Goethepreis der Stadt Frankfurt; Friedrich-Schiedel-Literaturpreis 1987: Bodensee-Literaturpreis und Ehrendoktorwürde der University of Bath/England 1988: Hanns Martin Schleyer-Preis 1991: Wolfskehl-Preis für Exilliteratur Schriften (Auswahl) 1947: Friedrich von Gentz. Ullstein, Berlin 1982, ISBN 3-548-02935-3. 1954: Vom Geist Amerikas. Kohlhammer, Stuttgart, 2. Aufl. 1955. 1958: Deutsche Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts. Neuausgabe Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-10-047920-4. 1960–1964: Mitherausgeber Golo Mann: Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte von den Anfängen bis zur Nachkriegszeit. Zehn Bände. Propyläen Verlag Berlin 1960–1964, ISBN 978-3-549-05840-4. 1964: Wilhelm II. Archiv der Weltgeschichte. Scherz-Verlag, München / Bern / Wien 1964. 1967: Aufsatz im Sammelband: Deutsche und Juden, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1967. 1970: Von Weimar nach Bonn. Fünfzig Jahre deutsche Republik. Fromm Druckhaus A 1982, ISBN 3-7729-5003-5. 1971: Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann. Fischer, Frankfurt am Main 1971, ISBN 3-10-047903-3 (gebunden) und Fischer, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-13654-7 (Taschenbuch). 1973: mit Ruedi Bliggenstorfer: Wallenstein. Bilder zu seinem Leben. Fischer, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-10-047904-1. 1986: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Fischer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10714-8. 1989: Wir alle sind, was wir gelesen. Verlag der Nation, ISBN 3-373-00435-7. 1989: Ludwig I., König von Bayern. Oreos, Schaftlach; Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-14491-4. 1992: Wissen und Trauer. Historische Portraits und Skizzen. Reclam, Leipzig. Überab. Neuaufl. 1995, ISBN 3-379-01548-2. 1999: Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich. Fischer, Frankfurt am Main, postum erschienen. Als Taschenbuch 2000: ISBN 3-596-14952-5. 2006: Briefe 1932–1992. Herausgegeben von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, ISBN 3-8353-0003-2. 2009: Man muss über sich selber schreiben. Erzählungen, Familienporträts, Essays. Herausgegeben von Tilmann Lahme, mit einem Nachwort von Hans-Martin Gauger. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-10-047915-0. Sekundärliteratur Biographien Urs Bitterli: Golo Mann – Instanz und Außenseiter. Eine Biographie. Verlag NZZ, Zürich und Kindler. Berlin 2004, ISBN 3-463-40460-5; auch: Rowohlt, Reinbek 2005, ISBN 3-499-24078-5. Joachim Fest: Begegnungen. Rowohlt, Reinbek 2006, ISBN 3-499-62082-0. (Darin ein sehr persönliches Kapitel Golo Mann.) Klaus W. Jonas, Holger Stunz: Golo Mann. Leben und Werk. Chronik und Bibliographie (1929–2003). Harrassowitz, Wiesbaden 2004, ISBN 3-447-05053-5. Jeroen Koch: Golo Mann und die deutsche Geschichte. Eine intellektuelle Biographie. Schöningh, Paderborn 1998, ISBN 3-506-74662-6. Tilmann Lahme: Golo Mann. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-10-043200-1 (Rezension). Golo Mann in Aufzeichnungen von Familienmitgliedern Klaus Mann: Kind dieser Zeit. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 3-499-22703-7. Frido Mann: Achterbahn. Ein Lebensweg. Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-62392-9. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Erweiterte Neuausgabe, mit Textvariationen und Entwürfen im Anhang herausgegeben und mit einem Nachwort von Fredric Kroll. Rowohlt, Reinbek 2006, ISBN 3-499-24409-8. Familie Mann Tilmann Lahme: Die Manns. Geschichte einer Familie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-10-043209-4. Peter Lange: Prag empfing uns als Verwandte. Die Familie Mann und die Tschechen. Vitalis, Prag 2021, ISBN 978-3-89919-703-7. Uwe Naumann: Die Kinder der Manns. Ein Familienalbum. Rowohlt, Reinbek 2005, ISBN 3-498-04688-8. Thomas Sprecher, Fritz Gutbrodt: Die Familie Mann in Kilchberg. Wilhelm Fink, München 2000, ISBN 978-3-7705-3528-6. Michael Stübbe: Die Manns. Genealogie einer deutschen Schriftstellerfamilie. Degener, 2004, ISBN 3-7686-5189-4. Interviews „Ich hasse alles Extreme“. Günter Gaus im Interview mit Golo Mann (4. März 1965). In: Günter Gaus: „Was bleibt, sind Fragen.“ Die klassischen Interviews. Das Neue Berlin, Berlin 2001, ISBN 978-3-360-01012-4. Gero von Boehm: Golo Mann. 10. Dezember 1988. Interview in: Begegnungen. Menschenbilder aus drei Jahrzehnten. Collection Rolf Heyne, München 2012, ISBN 978-3-89910-443-1, S. 167–189. Filme Golo Mann - Historiker von Weltformat, ZDF – Zur Person: TV-Interview mit Günter Gaus (80 min) vom 4. März 1965. Weblinks Nachlass Golo Mann in der Datenbank Helveticarchives bzw. als Online-Inventar (EAD) des Schweizerischen Literaturarchivs Golo Mann bei thomasmann.de Golo Mann im Verzeichnis des Bücher-Wiki Einzelbeiträge Tilmann Lahme: Die Kontroverse Adorno/Horkheimer gegen Golo Mann in faz.net, März 2009 Patrick Bahners: Lübecker Ausstellung über Golo Mann in faz.net, 29. Oktober 2009 Jacques Schuster: Golo Mann erklärte den Deutschen ihre Geschichte (2009) Hans Maier: Hasste Golo Mann seinen Vater? Nein, er verteidigte ihn. Erinnerung an einen grossen Erzähler in nzz.ch, 7. Oktober 2021 Einzelnachweise Autor Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Person (Office of Strategic Services) Person (Nürnberger Prozesse) Person (München) Neuzeithistoriker Hochschullehrer (Claremont, Kalifornien) Hochschullehrer (Universität Stuttgart) Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes Träger des Georg-Büchner-Preises Träger des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Ehrendoktor der Universität Nantes Ehrendoktor der University of Bath Golo Literatur (Deutsch) Thomas Mann Deutscher Schweizer Tschechoslowake Geboren 1909 Gestorben 1994 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Titanosaurier
Titanosaurier
Die Titanosaurier (Titanosauria) waren eine arten- und formenreiche Gruppe sauropoder Dinosaurier. Sie lebten vor allem während der Kreidezeit, als sie die dominierende Sauropodengruppe waren, und starben als letzte Gruppe der Sauropoden erst vor etwa 66 Millionen Jahren an der Kreide-Tertiär-Grenze aus, zugleich mit allen anderen Nichtvogel-Dinosauriern. Fossilien wurden auf allen Kontinenten entdeckt. Bisher sind fast 70 Gattungen anerkannt, die mehr als ein Drittel der bekannten Arten der Sauropoden ausmachen. Der Bauplan dieser Pflanzenfresser ist wie bei allen Sauropoden durch einen tonnenförmigen Rumpf, einen langen Hals und einen im Verhältnis sehr kleinen Kopf gekennzeichnet. Verschiedene Gattungen der Titanosauria wiesen Hautknochenplatten (Osteoderme) auf, die jedoch wahrscheinlich nicht der Verteidigung dienten. Funde von Eiern und Nestern geben Hinweise auf die Entwicklungs- und Reproduktionsbiologie. Diese Dinosaurier sind nach den Titanen der griechischen Mythologie benannt. Tatsächlich waren unter ihnen einige der größten und schwersten Landtiere aller Zeiten, beispielsweise Patagotitan, Dreadnoughtus, Argentinosaurus oder Paralititan, es sind jedoch auch Zwergformen wie Magyarosaurus bekannt. Die meisten Gattungen sind aufgrund des sehr lückenhaften Fossilberichts nur schlecht dokumentiert. So sind Schädelknochen und Partien des Restskeletts, die sich bei der Entdeckung noch im anatomischen Verbund befinden, sehr selten. Die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Gruppe werden erst seit 2001 ernsthaft diskutiert und bleiben bis heute stark umstritten. Zusammen mit den Brachiosauriden und verwandten Gattungen bilden die Titanosauria die Gruppe Titanosauriformes, welche zu den Macronaria zählt. Merkmale Schädel Nahezu vollständige Schädel sind lediglich von Rapetosaurus, Nemegtosaurus, Quaesitosaurus und Tapuiasaurus bekannt. Diese Schädel ähnelten in ihrer Form denjenigen der Diplodociden: So war die Schnauze verlängert, während sich die Nasenöffnungen weit oben am Schädel auf Höhe der Augenhöhlen befanden. Dennoch zeigten diese Schädel gemeinsame Merkmale, die bei Diplodociden und anderen Sauropodengruppen fehlten. So grenzt beispielsweise das Schuppenbein (Squamosum) nicht an das Supratemporalfenster, ein Schädelfenster auf der hinteren Oberseite des Schädels, an. Des Weiteren ist die Schnauze, also das Zwischenkieferbein (Prämaxillare) sowie die vorderen Teile des Ober- und Unterkiefers, mit zahlreichen Öffnungen (Foramina) durchzogen. Bislang ist jedoch zu wenig Schädelmaterial bekannt, um Merkmale des Schädels zur Definition von Gruppen innerhalb der Titanosauria zu verwenden. Nemegtosaurus besaß wahrscheinlich 13 Zähne auf jeder Seite der Ober- und Unterkiefer, was einer Gesamtanzahl von 52 Zähnen entspricht. Die Zahnkronen waren lang und dünn und ähnelten den noch dünneren, stiftartigen Zahnkronen der Diplodociden; bei beiden Gruppen hat sich diese Morphologie jedoch unabhängig voneinander (konvergent) entwickelt. So weisen ursprünglichere Sauropoden wie Camarasaurus oder Omeisaurus spatelförmige Zahnkronen auf, während ursprünglichere Titanosauriformes wie Brachiosaurus eine Zwischenform zwischen den ursprünglicheren, spatelförmigen Zahnkronen und den dünneren Zahnkronen der Titanosauria zeigen. Wirbel Die Wirbel der Titanosauria waren generell breiter und niedriger als bei anderen Sauropodengruppen. Die vorderen Schwanzwirbel aller Titanosauria außer Opisthocoelicaudia waren procoel, das heißt, auf der Vorderseite konkav. Die seitlichen Aushöhlungen (Pleurocoele) der Rückenwirbel waren im Gegensatz zu denen anderer Sauropoden augenförmig. Bisher fehlen Funde von zusammenhängenden Wirbelsäulen, weshalb die generelle Anzahl der Hals-, Rücken- und Schwanzwirbel unbekannt ist. Viele stärker abgeleitete Titanosauria zeigten jedoch einen zusätzlichen, sechsten Kreuzbeinwirbel. So wiesen andere Neosauropoden typischerweise fünf Kreuzbeinwirbel auf; bei sehr ursprünglichen Sauropoden wie Barapasaurus waren es nur vier. Des Weiteren besaßen einige abgeleitetere (modernere) Titanosaurier wie Opisthocoelicaudia einen deutlich kürzeren Schwanz. Bestand der Schwanz bei ursprünglicheren Sauropoden aus etwa 50 und bei Diplodociden aus etwa 80 Schwanzwirbeln, waren es bei diesen abgeleiteten Titanosauria nur noch 35. Die Wirbel zeichneten sich insbesondere bei abgeleiteteren Titanosauria wie den Saltasauriden durch eine Reduzierung der mechanischen Verbindungselemente aus, was zu einer größeren Flexibilität der Wirbelsäule führte. Dieser Trend zeigte sich sogar in den Schwanzwirbeln. Besonders bezeichnend ist das Fehlen der Hyposphen-Hypantrum-Verbindungen der Rückenwirbel bei allen Titanosauria außer einigen ursprünglichen Formen wie Andesaurus und Phuwiangosaurus. Diese Verbindungselemente führten bei anderen Sauropoden zu einer zusätzlichen Stabilisierung der Wirbelsäule und unterstützten wahrscheinlich eine zunehmende Körpergröße. Die vor dem Kreuzbein gelegenen Wirbel (Präsakralwirbel) und gelegentlich die Kreuzbeinwirbel sind mit einer komplexen, bienenwabenartigen Struktur aus zahlreichen Kammern durchzogen, die teilweise vom Luftsacksystem des Tieres ausgefüllt wurden und das Gewicht der Wirbelsäule reduzierten. Eine derartig komplexe interne Struktur der Wirbel findet sich auch bei den Diplodociden und bei Mamenchisaurus, während weniger abgeleitete Sauropoden ein einfacheres Kammersystem zeigten. Die Evolution dieses komplexen Kammersystems in verschiedene Gruppen der Sauropoden steht vermutlich mit der zunehmenden Körpergröße und Halslänge im Zusammenhang. Schultergürtel, Becken und Gliedmaßen Im Appendikulärskelett – dem Schultergürtel, dem Becken und den Gliedmaßen – findet sich bei den Macronaria und insbesondere bei den Titanosauria ein bedeutender Teil der für die Klassifikation wichtigen Merkmale. Viele dieser Merkmale hängen wahrscheinlich mit der Evolution einer weiteren Beinstellung innerhalb der Titanosauria zusammen: So standen die Beine nicht säulenartig gerade unter dem Körper, wie bei primitiveren Sauropoden-Gruppen, sondern waren von vorne betrachtet leicht nach außen gebogen. Somit berührten die Füße den Boden in einigem Abstand von der Mittellinie des Körpers und standen nicht, wie bei primitiveren Sauropoden-Gruppen, nahe an oder auf der Mittellinie. Analog können fossile Fährtenfolgen von Sauropoden in zwei Gruppen eingeordnet werden, den „schmalspurigen“ Typ, Parabrontopodus, der wahrscheinlich die ursprüngliche Konstellation primitiverer Sauropodengruppen zeigt, sowie den „breitspurigen“ Typ, Brontopodus, der die Konstellation bei Titanosauriern und evtl. anderen Macronariern widerspiegelt. Der Schultergürtel zeichnete sich durch ein im Vergleich mit anderen Sauropoden verlängertes Rabenbein (Coracoid) und ein größeres, mondsichelförmiges Brustbein (Sternum) aus, was zu einem insgesamt breiteren Brustkorb führte. Die Gliedmaßen waren generell robust und im Verhältnis kürzer als bei anderen Sauropoden. Verschiedene Merkmale der Vorderbeine der Titanosauria fanden sich bei anderen Gruppen der Saurischia, fehlen jedoch bei den übrigen Sauropodengruppen. Dabei handelt es sich um Rückentwicklungen von Merkmalen, die sich früh in der Evolution der Sauropoden herausbildeten und mit der Evolution von säulenartigen Beinen in Verbindung standen. So zeigte der Oberarmknochen (Humerus) einen ausgeprägten Deltopectoralkamm sowie geteilte und anterior (nach vorne) erweiterte distale (untere) Gelenkknorren. Des Weiteren erstreckte sich ein Knochensporn am oberen Ende der Elle (Olekranon) über die Gelenkfläche der Elle. Diese Merkmale lassen auf nach außen gebeugte Vorderbeine schließen. Der aus Elle und Speiche (Radius) bestehende Unterarm war zudem extrem robust – beispielsweise betrug die Dicke der Speiche an ihrem oberen (proximalen) Ende mindestens ein Drittel ihrer gesamten Länge, ein gemeinsam abgeleitetes Merkmal (Synapomorphie) der Titanosauria. Die Mittelhandknochen waren kürzer und robuster als die stark verlängerten Mittelhandknochen ursprünglicherer Macronaria wie Brachiosaurus. Die Handwurzelknochen (Carpalia) scheinen komplett gefehlt zu haben, während von den Fingern lediglich extrem reduzierte Reste einiger Fingerglieder (Phalangen) übrig geblieben waren. Krallen (Unguals) am Vorderfuß wurden bislang bei keinem Titanosauria außer Diamantinasaurus nachgewiesen. Das Darmbein (Ilium) der meisten Sauropoden zeigte auf der Oberseite der vorderen (präacetabularen) Hälfte einen markanten, gerundeten Kamm. Bei den Titanosauriformes wurde dieser Kamm höher und keulenartig, sodass das Darmbein seinen höchsten Punkt weit vor der Hüftgelenkpfanne (Acetabulum) zeigte. Bei einigen Titanosauria, beispielsweise bei Neuquensaurus oder Alamosaurus, war diese Keule nach außen gedreht und bildete eine annähernd horizontale Plattform. Das Schambein (Pubis) war bei vielen Arten deutlich länger als das Sitzbein (Ischium), im Gegensatz zu anderen Sauropoden, bei denen dieses Größenverhältnis meist umgekehrt war. Das kürzere Sitzbein der Titanosauria war meist breiter als das anderer Sauropoden. Der Oberschenkelknochen (Femur) war nicht senkrecht orientiert wie bei anderen Sauropoden, sondern leicht nach außen abgespreizt, was zu der typischen weiteren Beinstellung führte. Dies zeigt sich zum einen an dem nach innen gebogenen proximalen (oberen) Drittel dieses Knochens. Zum anderen standen die distalen (unteren) Gelenkknorren nicht senkrecht zur Schaftachse, wie bei anderen Sauropoden, sondern waren relativ zur senkrechten Ausrichtung um 10° seitlich geneigt. Im Querschnitt war der Schaft des Oberschenkelknochens der meisten Sauropoden mediolateral breiter als anteroposterior; von vorne betrachtet war der Knochen also breiter als von der Seite betrachtet, der Querschnitt erscheint als Ellipse. Bei den Titanosauria war diese Ellipse deutlich exzentrischer als bei den übrigen Sauropodengruppen. Diese Anpassung wirkte vermutlich den durch die weitere Beinstellung verursachten größeren Beugungsmoment entgegen. Die Füße trugen im Gegensatz zu den Händen gekrümmte Krallen. Bisher sind lediglich drei vollständige und artikulierte Fußskelette gefunden worden, die in ihrem Aufbau stark variieren. Die Anzahl der Zehenglieder (Phalangen) jeder der fünf Zehen lässt sich durch sogenannte Phalangenformeln beschreiben: So zeigt Epachthosaurus eine Phalangenformel von 2-2-3-2-0, während sie bei Opisthocoelicaudia 2-2-2-1-0 und bei einem kürzlich in Patagonien entdeckten Skelett 2-2-2-2-0 beträgt. Paläobiologie Riesenwuchs und Inselverzwergung Sauropoden als die größten Landtiere aller Zeiten waren im Durchschnitt schätzungsweise zwischen 15 und 60 Tonnen schwer, während das Gewicht nur sehr weniger Arten auf unter 5 Tonnen geschätzt wird. Besonders riesige Formen entwickelten sich mehrfach unabhängig voneinander innerhalb verschiedener Entwicklungslinien, sowohl bei basalen Formen wie beispielsweise Turiasaurus, bei Diplodociden wie beispielsweise Supersaurus, bei Brachiosauriden wie beispielsweise Sauroposeidon und – wahrscheinlich ebenfalls unabhängig voneinander – bei verschiedenen Formen innerhalb der Titanosauria. Die größten bekannten Titanosauria schließen Argentinosaurus mit ein, der auf eine Länge von 30 Metern und ein Gewicht von 60 bis 88 Tonnen geschätzt wird. Der ägyptische Paralititan wird auf 26 Meter oder länger, und in etwa 50+ Tonnen Gewicht geschätzt, während die ebenfalls riesenhaften Formen Antarctosaurus giganteus mit schätzungsweise 60 Tonnen und Puertasaurus nur wenig bekannt sind. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die verwendeten Formeln die Körpermasse möglicherweise deutlich überschätzen, andere allometrische Formeln ergeben für dieselben Skelette Körpermassen eher im Bereich von 30 bis 40 Tonnen. Während die meisten der größten Sauropoden nur durch sehr fragmentarische Überreste bekannt sind, wurden von dem schätzungsweise 30 Meter langen Futalognkosaurus knapp 27 % des Körperbaus berechenbar. Dreadnoughtus, dessen Skelett zu über 70 % bekannt ist, war etwa 26 m lang und 30 t schwer, was ihn zu dem am vollständigsten überlieferten gigantischen Sauropoden macht. Das fossil überlieferte Exemplar dürfte noch nicht ausgewachsen gewesen sein, da die Scapula noch nicht mit dem Coracoid zusammengewachsen war. Im Kontrast zu diesen Riesenformen schließen die Titanosauria auch einige der kleinsten bekannten Sauropoden mit ein. So erreichte der rumänische Magyarosaurus lediglich eine Länge von etwa fünf Metern. Diese vergleichsweise geringe Größe wird auf Inselverzwergung zurückgeführt – so war Europa in der Kreidezeit ein Inselarchipel. Bei Rapetosaurus aus Madagaskar sowie bei Ampelosaurus aus Westeuropa könnte es sich ebenfalls um Inselformen gehandelt haben. Ernährung Die dünnen Zahnkronen der abgeleiteteren Titanosauria sowie der Diplodociden lassen darauf schließen, dass diese Sauropoden ihre Nahrung nicht im Mund zerkleinern konnten, anders als frühe Macronaria und ursprünglichere Sauropoden, die wahrscheinlich mit ihren spatelförmigen Zahnkronen Nahrung zu einem gewissen Grad verarbeiten konnten. Dinosaurierfaunen mit jeweils mehreren zeitgleich lebenden Titanosauria sind aus Südamerika, Indien, Madagaskar und Europa bekannt. Dies legt nahe, dass verschiedene Titanosauria zur Vermeidung von Konkurrenz unterschiedliche ökologische Nischen für die Nahrungssuche besetzten. Prasad und Kollegen (2005) berichten über Koprolithen (versteinerter Dung) aus der Oberkreide Indiens, der zusammen mit den Überresten von Titanosauriern entdeckt wurde. Diese Koprolithen enthalten die Überreste von Koniferen, zweikeimblättrigen Pflanzen, Palmen sowie verschiedene Gruppen der Gräser, die Nahrung der Titanosaurier bestand demnach aus einer großen Bandbreite verschiedener Pflanzen. Die Zuordnung dieser Koprolithen zu den Titanosauria bleibt jedoch unsicher. Funktion des Schwanzes Die Schwänze der Sauropoden aus der Gruppe der Diplodocidae endeten in einem charakteristischen Peitschenschwanz, der eventuell zur Verteidigung oder zur Lärmerzeugung verwendet wurde. Einige Autoren sehen die erhöhte Flexibilität des Schwanzes sowie die wie bei Diplodociden bikonvex geformten hinteren Schwanzwirbel der Titanosaurier als Hinweis darauf, dass auch Titanosaurier ein solches peitschenartiges Schwanzende besessen haben könnten. Andere Autoren widersprechen dieser Hypothese und geben an, dass die Serie dieser bikonvexen Wirbel deutlich kürzer als bei den Diplodociden war, weshalb man nicht von einem Peitschenschwanz sprechen könne. Die Hypothese eines peitschenartigen Schwanzes tauchte bereits in den 1980er-Jahren auf, war damals jedoch der fehlerhaften Einordnung der Titanosaurier als enge Verwandte der Diplodociden geschuldet. Bei den Saltasauriden war der Schwanz mit nur 35 Wirbeln deutlich verkürzt. Dieser verkürzte Schwanz könnte nach Ansicht einiger Forscher als eine Art drittes Hinterbein gedient haben, während sich die Tiere zum Fressen oder zur Paarung aufrichteten. Eier und Nester Bis heute wurden zahlreiche Fundorte mit fossilen Eiern vom Typ (Oogenus) Megaloolithus entdeckt, die traditionell sauropoden Dinosauriern zugeschrieben werden. Diese Eier zeichnen sich durch eine rundliche Form, eine relativ dicke Eierschale, die aus einer einzelnen Schicht aus Calcit besteht, sowie eine tuberkelartige Oberfläche dieser Eierschale aus. Gut untersuchte Fundorte gibt es vor allem in Gesteinen der Oberkreide im südlichen Frankreich, im nördlichen Spanien, in Indien sowie in Südamerika. Mit der Entdeckung der Fundstelle Auca Mahuevo 1997 im nördlichen Patagonien, einer riesigen Nestkolonie mit tausenden Megaloolithus-Eiern, konnte die Zuordnung zumindest dieser Nestkolonie zu den Titanosauria bestätigt werden. So fanden sich in einigen Eiern gut erhaltene Skelette von Embryonen, die einige Synapomorphien der Titanosauria zeigen. Viele Autoren schreiben andere Megaloolithus-Nestkolonien aufgrund der Ähnlichkeit mit den Funden aus Auca Mahuevo ebenfalls Titanosauriern zu. Andere Autoren betonen jedoch, dass die Nachweise nicht ausreichen, um alle Megaloolithus-Funde den Titanosauria zuzuordnen. So fanden sich in Rumänien Megaloolithus-Eier in der Nähe von Überresten neugeborener Hadrosaurier der Art Telmatosaurus transylvanicus. Somit besteht die Möglichkeit, dass einige Megaloolithus-Funde tatsächlich zu anderen Gruppen gehörten. Die Fundorte der Eier in Auca Mahuevo erstrecken sich über sechs unterschiedliche stratigraphische Schichten, was vermuten lässt, dass Titanosauria an diesem Ort während mindestens sechs verschiedenen Zeiträumen genistet haben. Die große Anzahl der Gelege lässt auf ein Herdenleben dieser Sauropoden zumindest zur Brutsaison schließen. Obwohl Brutpflege bei anderen Dinosauriergruppen wie den Ornithopoden und den Theropoden nachgewiesen wurde und auch die nächsten heute lebenden Verwandten der Sauropoden, die Vögel und die Krokodile, Brutpflege betreiben, vermuten viele Forscher, dass die Sauropodennester nach der Eiablage nicht weiter betreut wurden. Darauf weist die riesige Größe der erwachsenen Tiere sowie die hohe Konzentration an Nestern auf relativ kleiner Fläche in Auca Mahuevo hin. Zudem fehlen in Auca Mahuevo Hinweise auf von den Sauropoden zertrampelte Oberflächen (Dinoturbation). Die Eier haben typischerweise 13 bis 15 Zentimeter Durchmesser, während die Eischale ca. 1,3 mm dick ist. Sie finden sich in Ansammlungen aus meist 20 bis 40 Eiern, die in bis zu drei Lagen übereinandergestapelt sind. Das eigentliche Nest ist dabei jedoch nur selten erhalten, weshalb lediglich von Gelegen (engl. clutches) und nicht von Nestern gesprochen wird. Einige Gelege zeigen dennoch Hinweise auf die Architektur des Nestes: Sie befinden sich innerhalb länglicher, elliptischer bis nierenförmiger Eindrücke in einer Grundschicht aus Sandstein, die etwa 100 bis 140 Zentimeter lang und 10 bis 18 Zentimeter tief sind. Ein Wall aus strukturlosem Sandstein um die Eindrücke herum ist wahrscheinlich bei der Aushebung dieser Nester durch die Titanosaurier entstanden. Ähnliche längliche Eindrücke finden sich in einigen anderen Megaloolithus-Nestkolonien in Südamerika, Europa und Indien. Eine neuere Studie vermutet, dass Titanosaurier diese Gruben mit ihren flexiblen Hinterfüßen durch Schürfen ausgehoben haben. Die meisten Studien über Megaloolithus-Eier lassen vermuten, dass die Eier vergraben wurden. Diese Interpretation wird durch die Anzahl der Poren in der Eierschale und die daraus resultierende Durchlässigkeit für Wasserdampf (GH2O) unterstützt. So sind die Eier heutiger Vögel meistens der Atmosphäre ausgesetzt, weshalb ihre Eier relativ wenige Poren zeigen, um einen möglichen Wasserverlust zu vermeiden. Die Eier heutiger Reptilien werden dagegen häufig in der Erde oder in Vegetation vergraben und zeichnen sich durch entsprechend zahlreiche Poren aus. Viele Megaloolithus-Eierschalen zeigen eine Wasserdampf-Durchlässigkeit, die deutlich höher als bei heutigen Vögeln, aber etwas geringer als bei heutigen Reptilien ist. Beispielsweise zeigen bei Pinyes im nördlichen Spanien gefundene Eier eine zehn Mal größere Wasserdampf-Durchlässigkeit als heutige Vogeleier. Eine Ausnahme scheinen die Eier aus Auca Mahuevo zu bilden, für die lediglich eine zwei Mal größere Wasserdampf-Durchlässigkeit relativ zu Vogeleiern berechnet wurde. Die Auca-Mahuevo-Eier könnten daher, anders als andere Megaoolithus-Eier, in offenen Nestern bebrütet worden sein. Dies wird dadurch unterstützt, dass die Nestgruben dieser Fundstelle nicht mit dem Sandstein ausgefüllt sind, in welchem die Nester hineingegraben worden wären, sondern mit dem erst nachträglich durch eine Überschwemmung eingetragenen Ton-Siltstein. Grellet-Tinner und Kollegen (2004) vermuten, dass die Titanosaurier von Auca Mahuevo ihre Nester mit Pflanzenmaterial bedeckten. Darauf lässt die tuberkelartige Oberfläche der Eierschalen schließen, die wahrscheinlich die Funktion hatte zu verhindern, dass Partikel die Poren der Eierschale blockierten. Da die Erhebungen in einem Abstand zwischen 0,6 und 1,6 Millimeter voneinander stehen, konnten sie lediglich Partikel fernhalten, die größer waren als 0,6 Millimeter, weshalb nur Pflanzenmaterial als Bedeckung in Frage kommt. Diese Interpretation wird durch die Entdeckung von Kohlenstoff-Resten in den Nestgruben unterstützt, die vermutlich von Pflanzenmaterial herrühren. In der Oberkreide Indiens fanden sich Hinweise auf einen Nesträuber: So wurde das Skelett der 3,5 Meter langen Schlange Sanajeh in Assoziation mit drei Eiern und dem vorderen Teil des Rumpfes eines entweder frisch geschlüpften oder embryonalen Titanosauriers gefunden. Eines der Eier ist vom Körper der Schlange umwunden und zerdrückt, während die anderen beiden Eier intakt sind. Hieraus schließen Forscher, dass das Titanosaurier-Skelett zu demselben Tier gehören könnte, das zuvor aus dem nun zerdrückten Ei geschlüpft ist. Die Überreste des Sauropoden gehörten zu einem etwa 0,5 Meter langen Tier. Individualentwicklung In einigen Eiern von Auca Mahuevo wurden annähernd vollständige und sich im anatomischen Verbund befindliche Embryonenschädel entdeckt. Diese Schädel stellen die derzeit vollständigsten bekannten Titanosauria-Schädel dar und geben Einblicke in die Individualentwicklung dieser Sauropoden. Die Embryonenschädel waren breit und von der Seite betrachtet annähernd dreieckig. Sie zeigten große, runde Augenhöhlen sowie eine kurze Schnauze mit einem großen, dreieckigen Antorbitalfenster. Auf der Schnauze saß eine Eizahn-artige Spitze, die vom Zwischenkieferbein (Prämaxillare) gebildet wurde und wahrscheinlich zum Aufbrechen der Eierschale gedient hat. Wie Vergleiche mit den am besten erhaltenen Schädeln erwachsener Titanosauria zeigen, veränderten sich die Schädelknochen während des Wachstums drastisch: So verlängerte sich die Schnauze deutlich, während der Oberkieferknochen (Maxillare) eine Verbindung mit dem Quadratojugale entwickelte, die das Jochbein (Jugale) von der Unterseite des Schädels trennte. Die Nasenöffnungen wurden größer und wanderten bis über die Augenhöhlen. Die Augenhöhlen nahmen eine umgekehrt tränenartige Form an. Stirnbein (Frontale) und Scheitelbein (Parietale) verloren stark an Größe, was zu einem schmaleren Schädel führte. Osteoderme und Hautabdrücke Im Jahr 1896 schrieb Charles Depéret eine große, zylindrische Platte dem Titanosaurier „Titanosaurus“ madagascariensis zu und war damit der erste, der eine Panzerung bei einem Sauropoden vermutete. Lange Zeit unbeachtet, konnte Depérets Hypothese erst 1980 mit der Entdeckung einer Panzerung bei Saltasaurus bestätigt werden. An einem Skelett dieser Gattung zeigen sich kleine, rundliche Knöchelchen, die im Kontakt miteinander stehen und eine mosaikartige Oberfläche bilden. Daneben waren größere, ovale Platten mit konischer Außenfläche vorhanden. Seit diesem Fund wurden weitere Skelette mit assoziierten Osteodermen sowie isoliert vorgefundene, einzelne Osteoderme vor allem in Südamerika, aber auch in Afrika, Madagaskar und Europa entdeckt. Osteoderme sind für 10 der über 40 derzeit anerkannten Titanosaurier-Gattungen nachgewiesen. Wie zusammenhängende (artikulierte) Skelette verschiedener Gattungen ohne assoziierte Osteoderme zeigen, fehlte die Panzerung jedoch zumindest bei einigen Gattungen. Die bisher bekannten Osteoderme variieren in ihrer Größe von wenigen Millimetern bis einigen Dezimetern; der größte Fund zeigt einen Durchmesser von 59 Zentimetern. Die Titanosauria sind die einzigen Sauropoden, von denen gesicherte Funde von Osteodermen vorliegen, obwohl es Hinweise auf mögliche Osteoderme bei einigen Gattungen aus anderen Gruppen gibt, wie beispielsweise bei „Pelorosaurus“ becklesii. Funde von Titanosaurier-Osteodermen sind im Vergleich zu Knochenfunden sehr spärlich: So sind derzeit nur fast 90 Titanosaurier-Osteoderme bekannt, in Verbindung mit Skelettfunden sind es jeweils höchstens einige wenige, unabhängig vom Artikulationsgrad der Skelette. Im Gegensatz dazu sind Osteodermfunde anderer Gruppen, beispielsweise der Krokodile oder der thyreophoren Dinosaurier, sehr häufig. Dies deutet darauf hin, dass die Osteoderm tragenden Titanosaurier lediglich schwach gepanzert waren. Leonardo Salgado (2003) bemerkt, dass die von ihm untersuchten Osteoderme entweder asymmetrisch oder zweiseitig symmetrisch sind, wobei die zweiseitig symmetrischen deutlich überwiegen. Im Gegensatz dazu sind die Osteoderme heutiger Alligatoren, die in Querstreifen über den Rücken verlaufen, nicht zweiseitig symmetrisch. Daraus schließt er, dass die symmetrischen Osteoderme in einer Reihe auf der Mittellinie des Körpers über den Wirbelstacheln verliefen, während die asymmetrischen Osteoderme auf den Flanken der Tiere verteilt waren. Michael D'emic und Kollegen (2009) stellten fest, dass gepanzerte Titanosaurier generell kleiner waren als ungepanzerte – so zeigten gepanzerte Arten eine durchschnittliche Femurlänge von 87 Zentimetern, während die Femurlänge ungepanzerter Arten durchschnittlich 149 Zentimeter betrug. Die Evolutionsgeschichte der Osteoderme innerhalb der Titanosauria ist nicht bekannt. Verschiedene Autoren haben versucht, die bekannten Osteoderme anhand ihrer Form in Gruppen (Morphotypen) einzuteilen. Der jüngste Ansatz stammt von Michael D'emic und Kollegen (2009) und sieht vier Morphotypen vor: Der ellipsoide Typ (Morphotyp 1), die am häufigsten gefundene Morphe, die sich unter anderem bei Saltasaurus findet, ist durch oft große, ovale Platten mit konvexer Oberfläche charakterisiert und zeigt gelegentlich eine stachelartige Erhebung. Der gekielte Typ (Morphotyp 2) zeigt einen länglichen Kamm auf der Oberfläche. Der zylindrische Typ (Morphotyp 3) ist durch runde bis ovale, flache Platten gekennzeichnet, ist bisher aber lediglich von vier Exemplaren bekannt. Dem Mosaik-Typ (Morphotyp 4) werden die kleinen, mosaikartig angeordneten Plättchen zugeordnet, die beispielsweise bei Saltasaurus auftraten, sowie unregelmäßig geformte Osteoderme, die keinem anderen Typ zugeordnet werden können. Innerhalb einiger Eier von Auca Mahuevo fanden sich Hautabdrücke, die zeigen, dass die Hautoberfläche wie bei anderen Dinosauriern mit tuberkelartigen Schuppen bedeckt war, die sich nicht überlappten. Bei den Hautabdrücken der Embryonen von Auca Mahuevo fanden sich zudem längliche und rosettenförmige Strukturen, die durch eng beieinander liegende Schuppen gebildet wurden. Einige Forscher vermuten, dass diese Strukturen in späteren Entwicklungsstadien verknöcherten und zu Osteodermen wurden. Diese Osteoderme könnten junge Titanosaurier vor kleinen Prädatoren geschützt haben. Für ausgewachsene Titanosaurier erscheint die Anzahl der Osteoderme jedoch als zu gering, um einen wirksamen Schutz vor Räubern geboten zu haben – es wird daher in Erwägung gezogen, dass die Osteoderme bei erwachsenen Titanosauriern als Calcium-Reservoire umfunktioniert wurden. Ursprung und Paläobiogeographie Der älteste bekannte Titanosauria ist Janenschia aus dem Oberjura (Tithonium) Tansanias, obwohl die Zuordnung dieser Gattung zu den Titanosauria nicht von allen Forschern anerkannt wird. Unzweifelhafte Titanosauria tauchen erstmals in Gesteinen der Unterkreide in Europa, Nord- und Südamerika, Afrika und Australien auf. Fährtenfolgen vom weitgängigen Typ, der von vielen Forschern Titanosauriern zugeschrieben wird, könnte jedoch darauf hinweisen, dass Titanosaurier bereits seit dem mittleren Jura existierten. Lydekker (1895) vermutete, dass Titanosaurier erst nach der Trennung der nördlichen (Laurasia) und südlichen Landmassen (Gondwana), die im Oberjura stattfand, auf Gondwana entstanden sind und in ihrer Verbreitung auf Gondwana beschränkt blieben. Zwar wurden in der Folgezeit einige Titanosaurier auch in den nördlichen Kontinenten gefunden – diese Funde wurden jedoch oft als Ausnahmen betrachtet, die von unabhängigen Vorstößen einiger Populationen von Süden nach Norden herrührten. Zahlreiche neuere Funde, die seitdem auch auf den Kontinenten des ehemaligen Laurasias gemacht werden, zeigen jedoch, dass Titanosaurier nicht auf Gondwana beschränkt waren. Heute gehen viele Forscher davon aus, dass sich Titanosaurier weltweit verbreiteten, noch bevor der Superkontinent Pangäa endgültig zerbrach, als noch Verbindungen zwischen den großen Landmassen bestanden. Forschungsgeschichte Bereits 1828 entdeckte der britische Offizier William Henry Sleeman zwei Wirbel im zentralen Indien nahe Jabalpur. Diese Knochen gelangten 1832 ins Museum von Kalkutta, wo sie 1862 vom schottischen Paläontologen Hugh Falconer beschrieben wurden. Falconer erkannte, dass es sich um die Schwanzwirbel eines Reptils handelte und gab diagnostische Merkmale an, stellte jedoch keinen neuen Namen auf. Somit beschrieb erst Richard Lydekker 1877 auf Basis dieser Wirbel sowie eines fragmentarischen Oberschenkelknochens vom gleichen Fundort eine neue Art und Gattung, Titanosaurus indicus. Weitere Titanosaurus-Arten wurden einige Jahre später aus Madagaskar und Südamerika beschrieben. In der Folgezeit wurden Titanosaurus sowie die Titanosauridae zu sogenannten Papierkorb-Taxa, denen nahezu sämtliche Sauropodenfunde aus der Kreide zugeschrieben wurden, selbst wenn keine Gemeinsamkeiten mit anderen bekannten Titanosaurier-Überresten festgestellt werden konnten. Erst seit den 1970er-Jahren wurden weitere wichtige Funde insbesondere in Südamerika gemacht, wie beispielsweise Saltasaurus. Einige ursprüngliche Gattungen wie Andesaurus ähnelten zwar anderen Titanosauriern, ihnen fehlten jedoch wichtige gemeinsam abgeleitete Merkmale der abgeleiteteren Titanosaurier, wie beispielsweise procoele (auf der Vorderseite konkave) Schwanzwirbel. Um diese ursprünglichen Formen mit einzuschließen, wurde 1993 die Gruppe Titanosauria benannt. Mit Rapetosaurus wurde Anfang des 21. Jahrhunderts erstmals ein nahezu vollständiges Skelett eines Titanosauriers einschließlich Schädel entdeckt. Dieser Fund zeigte unter anderem, dass Nemegtosaurus und Quaesitosaurus, die durch isoliert gefundene, diplodociden-ähnliche Schädel bekannt sind, keine Diplodociden waren, sondern Titanosaurier. Bedeutend für das Verständnis der Evolution von Schädelmerkmalen und der Individualentwicklung war zudem die Entdeckung gut erhaltener embryonaler Schädel innerhalb von Eiern in Auca Mahuevo. Neueste Funde schließen Diamantinasaurus aus Australien sowie Atsinganosaurus aus dem südlichen Frankreich mit ein, die in den Jahren 2009 bzw. 2010 beschrieben wurden. 2014 wurde der in Patagonien gefundene Dreadnoughtus erstmals beschrieben. Systematik Definition Die Gruppe Titanosauria wurde 1993 von Bonaparte und Coria aufgestellt. Diese Autoren listen zwar diejenigen Gattungen auf, die sie innerhalb der Titanosauria zusammenfassen wollen, geben jedoch keine exakte Definition dieser Gruppe an. Somit bleibt unklar, ob neu entdeckte, ursprüngliche Formen in diese Gruppe eingeschlossen werden sollten oder nicht. Spätere Autoren schlagen verschiedene Definitionen vor, die jedoch umstritten bleiben. Die erste Definition liefern Salgado und Kollegen (1997): Nach diesen Autoren sind die Titanosauria ein knotenbasiertes Taxon (node-based definition), das den letzten gemeinsamen Vorfahr von Andesaurus delgadoi und der Titanosauridae sowie alle Nachfahren dieses Vorfahren mit einschließt. Sereno und Wilson (1998) kritisieren diesen Vorschlag, da Andesaurus delgadoi wenig bekannt ist und andere Gattungen wie beispielsweise Chubutisaurus, die bisher als Vertreter der Titanosauria betrachtet wurden, möglicherweise basaler waren als Andesaurus. Diese Autoren stellen daher eine alternative, stammlinienbasierte Definition (stem-based definition) auf: Nach dieser Definition schließen die Titanosauria alle Taxa mit ein, die näher mit Saltasaurus loricatus als mit Euhelopus zdanskyi und Brachiosaurus brancai verwandt sind. Des Weiteren benennen diese Autoren eine neue Gruppe, die Somphospondyli, die alle Taxa mit einschließen soll, die näher mit Saltasaurus loricatus als mit Brachiosaurus brancai verwandt sind. Nach diesen Definitionen schließt die Somphospondyli also, im Gegensatz zur Titanosauria, Euhelopus nicht aus. Die jüngste Definition stammt von Upchurch und Kollegen (2004). Diese Autoren kritisieren die von Sereno und Wilson aufgestellte Definition der Titanosauria, da sie drei Referenztaxa enthält, was nach Ansicht dieser Autoren unpraktisch ist und zu Verwirrungen führt. Zudem basiere die Unterscheidung zwischen Somphospondyli und Titanosauria auf der systematischen Position von Euhelopus, die jedoch stark umstritten ist. Folglich synonymisieren diese Autoren Symphospondyli und Titanosauria und geben für die Titanosauria dieselbe Definition an, die von Sereno und Wilson für die Symphospondyli verwendet wurde: Ein stammlinienbasiertes Taxon, das alle Taxa mit einschließt, die näher mit Saltasaurus als mit Brachiosaurus verwandt sind. Äußere Systematik Die Titanosauria bilden zusammen mit der Brachiosauridae und einigen ursprünglichen Formen die Gruppe Titanosauriformes. Einige Autoren sehen die Gattung Euhelopus als enge Verwandte der Titanosauria und fassen beide innerhalb der Gruppe Somphospondyli zusammen – diese Gruppe ist jedoch umstritten (siehe unten). Die Titanosauriformes wiederum bilden zusammen mit der Camarasauridae die Gruppe Macronaria. Auch auf dieser Ebene wird von einigen Autoren eine weitere Gruppe zwischengeschaltet, die Camarasauromorpha, die einige ursprüngliche Macronaria ausschließt. Die Macronaria bilden zusammen mit den Diplodocoidea (Diplodocidae, Dicraeosauridae und Rebbachisauridae) die Gruppe Neosauropoda. Es folgt eine Beispielsystematik (vereinfacht nach Upchurch und Kollegen, 2004). Bis Ende der 90er Jahre wurden Titanosaurier als enge Verwandte der Diplodociden betrachtet. Eine nähere Verwandtschaft dieser beiden Gruppen wurde erstmals 1929 von Friedrich von Huene bei seiner Beschreibung des Schädels von Antarctosaurus vorgeschlagen: So zeigt dieser Schädel die für Diplodociden typischen schmalen Zahnkronen und die hoch am Schädel gelegenen Nasenöffnungen. Werner Janensch (1929) teilte die Sauropoden anhand ihrer Zahnmorphologie in zwei Gruppen ein – die schmalkronigen Arten (Titanosauridae und Diplodocidae) und die breitkronigen Arten (z. B. Brachiosauridae). Einige Autoren ordneten die Diplodocidae innerhalb der Titanosauridae ein (Romer, 1956, 1966, 1968), andere fassten beide Gruppen in einer Atlantosauridae genannten Gruppe zusammen (Steel, 1970). Erst die Arbeiten von Salgado und Kollegen (1997) und Wilson und Sereno (1998) zeigten, dass Titanosaurier nahe mit Brachiosaurus-ähnlichen Formen verwandt waren. Innere Systematik Die Innere Systematik der Titanosauria ist bis heute stark umstritten. So existiert eine Reihe von Vorschlägen, die sich in Aufbau und Benennung der Kladen häufig widersprechen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Analysen lediglich einige wenige Gattungen berücksichtigen, während viele andere, valide Gattungen bisher in keiner Analyse auftauchen. Der Paläontologe Jeffrey A. Wilson schreibt: “The interrelationships of Titanosauria remain as one of the last frontiers in dinosaur systematics” („Die Verwandtschaftsbeziehungen der Titanosauria sind eine der letzten Fronten der Dinosaurier-Systematik“). Dennoch stimmen die Analysen in einigen Punkten miteinander überein: So wird Saltasaurus stets als die am meisten abgeleitete Gattung betrachtet, während Neuquensaurus meistens als Schwestertaxon von Saltasaurus behandelt wird. Beide Gattungen werden häufig als Saltasaurinae zusammengefasst – häufig zusammen mit Rocasaurus und manchmal zusätzlich mit weiteren Gattungen. Fast alle Analysen sehen Alamosaurus und Opisthocoelicaudia als nahe Verwandte der Saltasaurinae, manchmal werden beide Gattungen als Opisthocoelicaudiinae der Saltasaurinae gegenübergestellt. Die Opisthocoelicaudiinae und die Saltasaurinae werden häufig als Saltasauridae zusammengefasst. Andesaurus wird meistens als ursprünglichster Vertreter der Titanosauria betrachtet. Auch Malawisaurus wird von vielen Analysen als sehr ursprünglicher Titanosauria erachtet, obwohl einige Autoren (Upchurch, 1995 und Rogers, 2005) eine mehr abgeleitete Position dieser Gattung vorschlagen und vermuten, dass Malawisaurus, Saltasaurus und Neuquensaurus näher miteinander verwandt sind als mit Opisthocoelicaudia. Für Diskussionen sorgt die Frage, ob es monophyletische Gruppen ursprünglicher Titanosaurier gab. Bonaparte und Coria (1993) teilen die Titanosauria in zwei Familien, die ursprüngliche Andesauridae, bestehend aus Andesaurus und Argentinosaurus, und die abgeleitetere Titanosauridae. Upchurch (1998) behält die Andesauridae als ursprüngliche Titanosauriergruppe bei und ordnet ihr die Gattungen Andesaurus, Malawisaurus und Phuwiangosaurus zu. Dagegen halten Salgado und Kollegen (1997) und viele spätere Studien die Andesauridae für paraphyletisch und somit für ungültig. Calvo und Kollegen (2007) stellen mit den Lognkosauria eine neue Gruppe ursprünglicher Titanosaurier auf, die Mendozasaurus sowie den neuentdeckten Futalognkosaurus enthalten soll. Des Weiteren werden Vorschläge diskutiert, die neben der Saltasauridae weitere Gruppen abgeleiteter Titanosaurier vorsehen. So fasst Wilson (2005) Quaesitosaurus und Nemegtosaurus zusammen mit Rapetosaurus innerhalb der Nemegtosauridae zusammen. Quaesitosaurus und Nemegtosaurus wurden häufig als Vertreter der Diplodocoidea betrachtet, gelten in vielen neueren Analysen jedoch als Vertreter der Titanosauria. Uneinigkeit herrscht in Bezug auf die Benennung von Gruppen innerhalb der Titanosauria. So verwenden viele Analysen den Namen Titanosauridae, um abgeleitetere Titanosaurier unter Ausschluss basaler Formen wie Andesaurus zusammenzufassen. Wilson und Upchurch (2003) veröffentlichten eine Revision der Gattung Titanosaurus und deklarieren die Typusart Titanosaurus indicus als ungültig, da sie lediglich auf zwei Schwanzwirbeln basiert, die keine diagnostisch verwertbaren Merkmale zeigen. Konsequent betrachten diese Autoren daher rangbasierte Taxa, die auf Titanosaurus als nominotypisches Taxon basieren – die Titanosauridae, die Titanosaurinae sowie die Titanosauroidea – ebenfalls als ungültig. Titanosauria bleibt nach diesem Vorschlag als rangloses Taxon weiterhin gültig. Upchurch und Kollegen (2004) fassen die stärker abgeleiteten Titanosauria in einer neuen, der Titanosauridae entsprechenden Gruppe zusammen, die Lithostrotia. Während dieser Name von einigen neueren Analysen übernommen wird, verwenden Calvo und Kollegen (2007) für dieselbe Gruppe weiterhin den Namen Titanosauridae. Einige Autoren benutzen des Weiteren den Namen Eutitanosauria für abgeleitete Titanosauria. Dieses Kladogramm folgt Calvo und Kollegen (2007): Gattungsliste der Titanosauria (ergänzt nach Upchurch und Kollegen, 2004) Literatur Luis M. Chiappe, Frankie Jackson, Rodolfo A. Coria, Lowell Dingus: Nesting Titanosaurs from Auca Mahuevo and Adjacent Sites: Understanding Sauropod Reproductive Behavior and Embryonic Development. In: Kristina Curry A. Rogers, Jeffrey A. Wilson (Hrsg.): The Sauropods. Evolution and Paleobiology. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2005, ISBN 0-520-24623-3, S. 285–302, doi:10.1525/california/9780520246232.003.0011. Kristina Curry A. Rogers, Jeffrey A. Wilson (Hrsg.): The Sauropods. Evolution and Paleobiology. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2005, ISBN 0-520-24623-3. Leonardo Salgado, Rodolfo Anibal Coria, Jorge Orlando Calvo: Evolution of Titanosaurid Sauropods. I: Phylogenetic Analysis Based on the Postcranial Evidence. In: Ameghiniana. Bd. 34, Nr. 1, 1997, S. 3–32, Digitalisat (PDF; 4,42 MB). Paul Upchurch, Paul M. Barrett, Peter Dodson: Sauropoda. In: David B. Weishampel, Peter Dodson, Halszka Osmólska (Hrsg.): The Dinosauria. 2nd edition. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2004, ISBN 0-520-24209-2, S. 259–324. Jeffrey A. Wilson: An Overview of Titanosaur Evolution and Phylogeny. In: Fidel Torcida Fernández-Baldor, Pedro Huerta Hurtado (Hrsg.): Actas de las III Jornadas Internacionales sobre Paleontología de Dinosaurios y Su Entorno. = Proceedings of the 3rd International Symposium about Paleontology of Dinosaurs and their Environment Paleontología de dinosaurios y su entorno. Salas de los Infantes (Burgos, España), 16 al 18 de septiembre de 2004. Colectivo arqueológico-paleontológico de Salas, Salas de los Infantes (Burgos, España) 2006, ISBN 84-8181-227-7, S. 169–190. Jeffrey A. Wilson, Paul Upchurch: A Revision of Titanosaurus Lydekker (Dinosauria – Sauropoda), the first dinosaur genus with a ‚gondwanan‘ distribution. In: Journal of Systematic Palaeontology. Bd. 1, Nr. 3, 2003, , S. 125–160, doi:10.1017/S1477201903001044. Einzelnachweise Weblinks Evolution & Phylogeny of Titanosauria Museum of Paleontology – The University of Michigan
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https://de.wikipedia.org/wiki/Novemberrevolution
Novemberrevolution
Die Novemberrevolution von 1918/19 führte in der Endphase des Ersten Weltkriegs zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich und zu dessen Umwandlung in eine parlamentarische Demokratie, die Weimarer Republik. Die tieferen Ursachen der Revolution lagen in den extremen Belastungen durch den mehr als vier Jahre währenden Krieg, im allgemeinen Schock über die Niederlage des deutschen Kaiserreichs, in dessen vordemokratischen Strukturen und sozialen Spannungen sowie in der Politik seiner reformunwilligen Eliten. Ihr unmittelbarer Auslöser aber war der Flottenbefehl der Seekriegsleitung vom 24. Oktober 1918. Er sah vor, die deutsche Hochseeflotte trotz der bereits feststehenden Kriegsniederlage Deutschlands in eine letzte Schlacht gegen die britische Royal Navy zu entsenden. Gegen diesen militärisch sinnlosen und den Friedensbemühungen der Reichsleitung zuwiderlaufenden Plan richtete sich die Meuterei einiger Schiffsbesatzungen, die in den Kieler Matrosenaufstand mündete. Dieser wiederum entwickelte sich innerhalb weniger Tage zur Revolution, die ganz Deutschland erfasste. Sie führte am 9. November 1918 in Berlin zur Ausrufung der Republik und zur Machtübernahme der Mehrheitssozialisten unter Friedrich Ebert. Wenig später folgten die Abdankungen Kaiser Wilhelms II. und aller anderen Bundesfürsten. Der Rat der Volksbeauftragten, die provisorische Revolutionsregierung, schrieb Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung aus, die am 19. Januar 1919 stattfanden und für die erstmals auch das Frauenwahlrecht galt. Die in Weimar tagende Nationalversammlung verabschiedete am 11. August 1919 die neue, demokratische Reichsverfassung, mit der die Revolution formell ihren Abschluss fand. Über die Parlamentarisierung hinausgehende, von rätedemokratischen Vorstellungen geleitete Ziele des linken Flügels der Revolutionäre scheiterten unter anderem am Widerstand der SPD-Führung. Aus Furcht vor einem Bürgerkrieg wollte sie in Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien die alten kaiserlichen Eliten nicht vollständig entmachten, sondern sie mit den neuen demokratischen Verhältnissen versöhnen. Dazu ging sie ein Bündnis mit der Obersten Heeresleitung (OHL) ein und ließ im Januar 1919 den sogenannten Spartakusaufstand gewaltsam niederschlagen, unter anderem mit Hilfe irregulärer, rechtsgerichteter Freikorpstruppen. In gleicher Weise ging die provisorische Regierung gegen weitere rätedemokratische Versuche vor, etwa gegen die Münchner Räterepublik. Bei den Kämpfen in Berlin und München kamen zwischen November 1918 und Mai 1919 mindestens 2400 Menschen ums Leben. Vorgeschichte Kaiserreich und Sozialdemokratie Die bürgerliche Märzrevolution von 1848/49 war vor allem an dem Problem gescheitert, nationale Einigung und Demokratisierung Deutschlands zugleich erreichen zu müssen. Nachdem die staatliche Einheit in Form der Kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung 1871 doch noch zustande gekommen war, arrangierten sich weite Teile des Bürgertums mit dem Obrigkeitsstaat und neigten verstärkt nationalistischen Ideen zu. Das neu gegründete Deutsche Reich war eine konstitutionelle Monarchie. Für den Reichstag galt das allgemeine, gleiche und geheime Männerwahlrecht, aber sein Einfluss auf die Politik war begrenzt. Gesetze konnten nur mit Zustimmung des Bundesrates in Kraft treten, und dieser konnte ihn jederzeit auflösen und Neuwahlen anberaumen. Die einzige weitere wichtige Befugnis des Reichstags war die Bewilligung des Staatshaushalts. Über dessen größten Posten, den Militäretat, durfte er aber im Rahmen des sogenannten Septennats nur pauschal und für eine Gesamtperiode von sieben Jahren abstimmen. Auch die Reichsleitung, das heißt: der Reichskanzler und die seiner Direktive unterstellten Staatssekretäre, war nicht ihm, sondern allein dem Kaiser verantwortlich. Im Reichstag waren von Beginn an auch Sozialdemokraten vertreten, deren Parteien sich 1875 zur SPD zusammenschlossen. Als einzige politische Partei im Deutschen Kaiserreich trat diese offen für eine republikanische Staatsform ein. Reichskanzler Otto von Bismarck ließ sie daher von 1878 bis zu seiner Entlassung 1890 auf der Grundlage der Sozialistengesetze verfolgen. Dennoch konnten die Sozialdemokraten ihren Stimmenanteil bei fast jeder Wahl steigern. Seit der Reichstagswahl 1912, in der sie 28 Prozent der Stimmen erhielten, stellten sie mit 110 Abgeordneten die stärkste Fraktion. In den 43 Jahren von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg nahm die SPD nicht nur an Bedeutung zu, sondern veränderte auch ihren Charakter. In dem seit 1898 geführten Revisionismusstreit wollten die so genannten Revisionisten das Ziel der Revolution aus dem Parteiprogramm streichen. Sie traten stattdessen für soziale Reformen auf der Basis der bestehenden Wirtschaftsordnung ein. Dagegen setzte sich die am Marxismus orientierte Parteimehrheit noch einmal durch. Doch die weiterhin revolutionäre Rhetorik verdeckte nur mühsam, dass die SPD seit der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 praktisch reformistisch geworden war. Die lange als „Reichsfeinde“ und „vaterlandslose Gesellen“ diffamierten Sozialdemokraten verstanden sich als deutsche Patrioten. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde offensichtlich, dass die SPD zu einem integralen – wenn auch oppositionellen – Bestandteil des Kaiserreichs geworden war. Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten Um 1900 galt die deutsche Sozialdemokratie als stärkste Kraft der internationalen Arbeiterbewegung. Auf den gesamteuropäischen Kongressen der Zweiten Sozialistischen Internationale hatte die SPD stets Resolutionen zugestimmt, die ein gemeinsames Handeln der Sozialisten im Falle eines Kriegs vorsahen. Wie auch andere sozialistische Parteien in Europa organisierte sie 1914 noch während der Julikrise, die auf das Attentat von Sarajevo folgte, große Antikriegsdemonstrationen. In einer Rede in Frankfurt am Main rief Rosa Luxemburg, die Wortführerin der Parteilinken, im Namen der gesamten SPD zu Kriegs- und Gehorsamsverweigerung auf. Sie wurde deshalb 1915 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Reichsregierung plante, die Parteiführer sofort nach Beginn der Kampfhandlungen zu verhaften. Friedrich Ebert, seit 1913 einer der beiden SPD-Vorsitzenden, reiste zusammen mit Otto Braun nach Zürich, um die Parteigelder vor dem Zugriff des Staates in Sicherheit zu bringen. Als jedoch am 1. August 1914 die deutsche Kriegserklärung an das zaristische Russland erfolgte, das als Hort der Reaktion galt, ließ sich die Mehrheit der SPD-Parteizeitungen von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken. Ihre Berichterstattung wurde von der Parteiführung zwar scharf kritisiert, die Redakteure glaubten in den ersten Augusttagen jedoch, der Linie des 1913 verstorbenen SPD-Vorsitzenden August Bebel zu folgen. Er hatte 1904 im Reichstag gesagt, die SPD werde sich an der bewaffneten Verteidigung Deutschlands im Falle eines ausländischen Angriffskriegs beteiligen. 1907 hatte er auf dem Essener Parteitag bekräftigt, er selbst werde dazu noch „die Flinte auf den Buckel nehmen“, wenn es gegen Russland, den „Feind aller Kultur und aller Unterdrückten“ gehe. Angesichts der kriegsbereiten Stimmung in der Bevölkerung, die an einen Angriff durch die Entente-Mächte glaubte, fürchteten viele SPD-Abgeordnete, sich durch konsequenten Pazifismus ihren Wählern zu entfremden. Darüber hinaus drohte ein von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg für den Kriegsfall geplantes Parteiverbot. Andererseits nutzte der Reichskanzler die antizaristische Haltung der SPD geschickt, um ihre Zustimmung zum Krieg zu erreichen. Parteiführung und Reichstagsfraktion waren in ihrer Haltung zum Krieg gespalten: Mit Friedrich Ebert bejahten 96 Abgeordnete eine Zustimmung zu den von der Reichsregierung geforderten Kriegskrediten. 14 Parlamentarier, an der Spitze der zweite Vorsitzende Hugo Haase, sprachen sich dagegen aus, stimmten aber wegen der Fraktionsdisziplin dennoch dafür. So bewilligte die gesamte SPD-Fraktion am 4. August die Kriegskredite. Zwei Tage zuvor hatten die Freien Gewerkschaften bereits einen Streik- und Lohnverzicht für die Kriegszeit beschlossen. Mit dem Gewerkschafts- und dem Parteibeschluss wurde die volle Mobilisierung des deutschen Heeres möglich. Haase begründete den von ihm abgelehnten Beschluss im Reichstag mit den Worten: Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich!. Der Kaiser begrüßte den so genannten Burgfrieden der deutschen Innenpolitik am Ende seiner Thronrede mit dem berühmt gewordenen Satz: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Auch Karl Liebknecht, der später zu einer Symbolfigur der entschiedenen Kriegsgegner wurde, beugte sich anfangs der Parteiräson: Er blieb der Abstimmung fern, um nicht gegen die eigene Fraktion stimmen zu müssen. Wenige Tage darauf trat er jedoch in die Gruppe Internationale ein, die Rosa Luxemburg am 5. August 1914 mit sechs weiteren Parteilinken gegründet hatte und die an den Vorkriegsbeschlüssen der SPD festhielt. Daraus ging am 1. Januar 1916 der reichsweite Spartakusbund hervor. Am 2. Dezember 1914 stimmte Liebknecht, zunächst als einziger Reichstagsabgeordneter, gegen weitere Kriegskredite. Dieser offene Verstoß gegen die Fraktionsdisziplin galt als Tabubruch und isolierte ihn auch unter denjenigen SPD-Abgeordneten um Haase, die fraktionsintern für eine Ablehnung der Kredite warben. Liebknecht wurde 1915 auf Betreiben der Parteiführung als einziges SPD-Fraktionsmitglied zum Militär eingezogen. Wegen seiner Versuche, die Kriegsgegner zu organisieren, wurde er aus der SPD ausgeschlossen und im Juni 1916 wegen Hochverrats zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Auch Rosa Luxemburg wurde nach vorübergehender Freilassung bis zum Kriegsende inhaftiert. Spaltung der SPD Je länger der Krieg dauerte und je mehr Opfer er forderte, desto mehr SPD-Mitglieder neigten zu einer Aufkündigung des „Burgfriedens“ von 1914, zumal, da seit 1916 nicht mehr Kaiser und zivile Reichsleitung die Richtlinien der deutschen Politik bestimmten, sondern die – mittlerweile dritte – Oberste Heeresleitung unter den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff. Sie regierten faktisch als Militärdiktatoren, wobei Ludendorff die wesentlichen Entscheidungen traf. Sie verfolgten expansionistische und offensive Kriegsziele und unterwarfen auch das zivile Leben ganz den Bedürfnissen der Kriegsführung und -wirtschaft. Für die Arbeiterschaft bedeutete dies unter anderem einen Zwölf-Stunden-Tag bei minimalem Lohn und mangelhafter Versorgung. Nach Ausbruch der russischen Februarrevolution 1917 kam es auch in Deutschland zu ersten organisierten Streiks. Im März und April 1917 beteiligten sich daran etwa 300.000 Rüstungsarbeiter. Da der Kriegseintritt der USA am 6. April eine weitere Verschlechterung der Lage wahrscheinlich machte, versuchte Kaiser Wilhelm II., die Streikenden mit seiner Osterbotschaft vom 7. April zu beschwichtigen: Er versprach für die Zeit nach dem Kriegsende allgemeine, gleiche Wahlen auch für Preußen, wo bis dahin das Dreiklassenwahlrecht galt. Nach dem Ausschluss der Kriegsgegner aus der SPD reagierten außer den Spartakisten auch sogenannte Revisionisten wie Eduard Bernstein und Zentristen wie Karl Kautsky auf den wachsenden Unmut in der Arbeiterschaft. Auf einer Konferenz vom 6. bis 8. April 1917 gründeten sie in Gotha die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) unter Hugo Haase. Sie verlangte die sofortige Beendigung des Krieges und die weitere Demokratisierung Deutschlands, hatte aber kein einheitliches sozialpolitisches Programm. Die Spartakusgruppe, die eine Parteispaltung bis dahin abgelehnt hatte, bildete nun den linken Flügel der USPD. Um sich von der USPD abzugrenzen, nannte sich die SPD fortan bis 1919 Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD). Auswirkungen der Oktoberrevolution Im Verlauf der russischen Februarrevolution musste Zar Nikolaus II. am 15. März 1917 abdanken. Die Macht übernahm eine Regierung unter Fürst Georgi Lwow, die sich aus Konstitutionellen Demokraten und Menschewiki zusammensetzte. Obwohl diese den Krieg an der Seite der Ententemächte fortsetzte, sahen OHL und deutsche Reichsleitung in der neuen Situation eine Chance für einen Sieg im Osten. Um die Antikriegsstimmung in Russland zu verstärken, ließen sie Lenin, den Führer der russischen Bolschewiki, der für ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen eintrat, von seinem Exil in der Schweiz nach Sankt Petersburg schleusen. Im April reisten er und eine Gruppe weiterer Bolschewiki in einem versiegelten, für exterritorial erklärten Eisenbahnwaggon über Deutschland und Schweden ins revolutionäre Russland. In der Oktoberrevolution setzte sich die Kaderpartei Lenins, die von Deutschland auch mit beträchtlichen Geldmitteln unterstützt wurde, gegen die gemäßigten Sozialisten und Bürgerlichen durch und eroberte die Macht in Russland. Die neue bolschewistische Regierung nahm im Dezember 1917 in Brest-Litowsk Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich auf. Gleichwohl verstärkte Lenins Erfolg im deutschen Bürgertum die Furcht vor einer Revolution nach russischem Vorbild. Auch die SPD-Führung wollte eine vergleichbare Entwicklung in Deutschland verhindern. Dies bestimmte ihr Verhalten während der Novemberrevolution. Vorstandsmitglied Otto Braun verdeutlichte die Haltung seiner Partei im Januar 1918 im Parteiorgan Vorwärts in dem Leitartikel Die Bolschewiki und wir: Im selben Monat kam es zu den so genannten Januarstreiks, an denen sich im ganzen Reich über eine Million Arbeiter beteiligten. Organisiert wurde diese Bewegung von den Revolutionären Obleuten unter ihrem Vorsitzenden Richard Müller von der USPD, die schon 1916 und 1917 erfolgreich Massenstreiks gegen den Krieg organisiert hatten und später eine wichtige Rolle spielen sollten. Die Berliner Streikleitung im Januar 1918 nannte sich „Arbeiterrat“ in Anlehnung an die russischen „Sowjets“ und stand Pate für die spätere Rätebewegung. Um ihren Einfluss zu schwächen, trat Ebert in die Berliner Streikleitung ein und erreichte ein vorzeitiges Streikende. Siegfrieden oder Verständigungsfrieden? Seit dem Kriegseintritt der USA 1917 wurde die Lage an der Westfront für das Reich immer prekärer. Daher – und um der USPD den Wind aus den Segeln zu nehmen – bildeten MSPD, katholische Zentrumspartei und liberale Fortschrittliche Volkspartei den Interfraktionellen Ausschuss. Sie verabschiedeten im Reichstag im Sommer 1917 eine Friedensresolution, die einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen und Kontributionen verlangte. Die OHL ignorierte die Resolution jedoch und erzwang in den Friedensverhandlungen mit Russland einen so genannten „Siegfrieden“. Militärisch von Deutschland unter Druck gesetzt, stimmte die neue Sowjetregierung im März 1918 dem von Leo Trotzki ausgehandelten Friedensvertrag von Brest-Litowsk zu. Dieser Vertrag erlegte Russland wesentlich härtere Friedensbedingungen auf als später der Versailler Vertrag dem Deutschen Reich. Dies sollte sich schon wenig später als schwere Hypothek erweisen. Denn durch sein Vorgehen setzte sich Deutschland dem Vorwurf aus, Macht über Recht zu setzen. Folgerichtig nutzten die Westmächte den Vertrag, um den Widerstandswillen der eigenen Soldaten zu stärken, da sie nun darauf verweisen konnten, was ein deutscher Sieg für die unterlegene Seite bedeuten würde. Zudem stellte Brest-Litowsk faktisch eine Ablehnung des 14-Punkte-Programms dar, das US-Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 bekanntgegeben hatte. Darin proklamierte er das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und sah einen Frieden „ohne Sieger und Besiegte“ vor. Hindenburg und Ludendorff ignorierten das Angebot, da sie nach dem Sieg über Russland glaubten, auch die verbliebenen Kriegsgegner zu einem „Siegfrieden“ mit weitreichenden Annexionen zwingen zu können. Dieser Illusion gaben sich im Frühjahr auch viele deutsche Politiker bis weit hinein ins demokratische Lager hin. Da die OHL die im Osten frei gewordenen Truppen nun zum Teil an der Westfront einsetzen konnte, glaubten die meisten Deutschen, damit sei nun auch im Westen ein siegreiches Kriegsende in greifbare Nähe gerückt. Die Deutsche Frühjahrsoffensive im Westen begann im März, kam aber nach anfänglichen Erfolgen schon bald zum Stehen. Am 24. Juni sprach sich daher Richard von Kühlmann, der Staatssekretär des Äußeren, der noch im Frühjahr deutscher Verhandlungsführer in Brest-Litowsk gewesen war, für einen Verständigungsfrieden aus. Danach sollten die Staatsgebiete Deutschlands und seiner Verbündeten unangetastet bleiben und diese wiederum auf Annexionen im Westen verzichten. Obwohl ein militärischer Sieg nach dem Scheitern der letzten Offensive nicht mehr möglich war, lehnten Ludendorff und Hindenburg auch Kühlmanns Vorstoß ab. Ludendorff beschuldigte den Außenstaatssekretär sogar, die „siegreiche Beendigung des Krieges“ gefährdet zu haben und legte damit den Grundstein zur späteren Dolchstoßlegende, nach der das Heer am mangelnden Rückhalt in der Heimat gescheitert sei. Kühlmann erhielt weder die Unterstützung der zivilen Reichsleitung, noch der Reichstagsmehrheit, und musste am 8. Juli zugunsten Paul von Hintzes, eines Admirals, zurücktreten. Damit hatte die OHL noch einmal die Oberhand in der deutschen Politik gewonnen, die letzte Möglichkeit eines Verständigungsfriedens jedoch verspielt. Militärische Niederlage und Verfassungsreform Im Sommer 1918 zeigte sich, dass die neu an die Westfront verlegten deutschen Soldaten nicht die Verstärkungen aufzuwiegen vermochten, die Großbritannien und Frankreich durch die frisch eingetroffenen US-Truppen erhalten hatten. Bereits wenige Tage nach Kühlmanns Rücktritt, am 18. Juli 1918, kam es zur endgültigen Wende des Krieges: Bei einem Gegenangriff in der zweiten Schlacht an der Marne gewannen die Alliierten die Initiative, die sie bis Ende des Krieges nicht wieder verloren. Ende Juli waren die letzten deutschen Reserven verbraucht. Die Zahl der Frontsoldaten, die sich den Alliierten ergaben oder desertierten, schoss ab August in die Höhe, die Moral der Truppe war gebrochen und die militärische Niederlage Deutschlands unausweichlich. Dies wurde für alle Militärs erkennbar beim Durchbruch der Alliierten in der Schlacht bei Amiens am 8. August, dem sogenannten „Schwarzen Tag des deutschen Heeres“. Mitte September zerbrach auch die Balkan-Front. Am 29. September kapitulierte Bulgarien, das mit den Mittelmächten verbündet war. Auch Österreich-Ungarn stand vor dem Zusammenbruch, was einen alliierten Angriff auf Süddeutschland in den Bereich des Möglichen rückte. Am 29. September informierte die OHL den Kaiser und den Reichskanzler Georg von Hertling im belgischen Spa über die aussichtslose militärische Lage. Ludendorff forderte ultimativ, die Entente um einen Waffenstillstand zu bitten, da er nicht garantieren könne, die Front länger als 24 Stunden zu halten. Er empfahl ferner, eine zentrale Forderung Wilsons zu erfüllen und die Reichsregierung auf eine parlamentarische Basis zu stellen, um günstigere Friedensbedingungen zu erlangen. Damit schob er den demokratischen Parteien die Verantwortung für die bevorstehende Kapitulation und deren Folgen zu: „Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben“, erklärte er am 1. Oktober gegenüber Offizieren seines Stabes. Damit legte Ludendorff erneut einen Keim zur späteren Dolchstoßlegende, nach der die Revolutionäre dem „im Felde unbesiegten“ Heer in den Rücken gefallen seien und erst damit den fast sicheren Sieg in eine Niederlage verwandelt hätten. Diese Geschichtsfälschung verbreitete Ludendorff aktiv nach dem Krieg, auch um seine eigenen militärischen Fehlentscheidungen zu kaschieren. Sie fiel in nationalistischen und völkischen Kreisen auf fruchtbaren Boden. Dort wurden die Revolutionäre und sogar Politiker wie Ebert – der die Revolution gar nicht gewollt und alles getan hatte, um sie zu kanalisieren und einzudämmen – bald als „Novemberverbrecher“ diffamiert. Selbst vor politischen Morden, etwa an Matthias Erzberger und Walter Rathenau, schreckte die radikale Rechte nicht zurück. Es war eine bewusste Symbolik, dass der Hitlerputsch von 1923 ebenfalls an einem 9. November unternommen wurde. Trotz des Schocks über Ludendorffs Lagebericht waren die Mehrheitsparteien, vor allem die SPD, bereit, in letzter Minute die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Da der Monarchist Hertling die Parlamentarisierung ablehnte, ernannte Wilhelm II. am 3. Oktober den als liberal geltenden Prinzen Max von Baden zum neuen Reichskanzler. In dessen Kabinett traten auch Sozialdemokraten ein, darunter Philipp Scheidemann als Staatssekretär ohne Geschäftsbereich. Am Folgetag bot die neue Regierung den Alliierten den von Ludendorff geforderten Waffenstillstand an. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr erst am 5. Oktober davon. Im allgemeinen Schock über die nun offenkundige Kriegsniederlage blieben die Verfassungsänderungen fast unbeachtet. Diese beschloss der Reichstag am 28. Oktober auch formell. Fortan war der Kanzler vom Vertrauen des Reichstags abhängig. Der Reichstag erhielt die Kontrolle über die Militärverwaltung, jedoch nicht über Kommandosachen. Damit war das Deutsche Reich auch formell eine parlamentarische Monarchie geworden. Aus Sicht der SPD-Führung erfüllten die Oktoberreformen alle ihr wichtigen verfassungsrechtlichen Ziele. Ebert betrachtete den 5. Oktober daher als „Geburt der deutschen Demokratie“ und hielt eine Revolution nach dem freiwilligen Machtverzicht des Kaisers für überflüssig. Die Folgen des Waffenstillstandsgesuchs Auf das deutsche Waffenstillstandsgesuch vom 4. Oktober antwortete US-Präsident Wilson in den drei darauf folgenden Wochen mit drei diplomatischen Noten. Als Vorbedingungen für Verhandlungen forderte er darin den Rückzug Deutschlands aus allen besetzten Gebieten, die Einstellung des U-Boot-Kriegs und – wenn auch verklausuliert – die Abdankung des Kaisers. Wilson ging es darum, dem Reich die Wiederaufnahme des Kriegs auch nach einem möglichen Scheitern der Verhandlungen unmöglich und den demokratischen Prozess in Deutschland unumkehrbar zu machen. In seiner dritten Note, die am 24. Oktober in Berlin eintraf, erklärte der Präsident, dass „… die Regierung der Vereinigten Staaten mit keinen anderen als wahrhaftigen Vertretern des deutschen Volkes verhandeln kann, denen eine echte konstitutionelle Stellung als den wirklichen Beherrschern Deutschlands gesichert ist. Wenn sie mit den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten jetzt verhandeln muss, […] dann muss sie nicht Friedensverhandlungen, sondern Übergabe fordern.“ Ludendorff erklärte diese Bedingungen für unannehmbar und verlangte, den Krieg wieder aufzunehmen, den er einen Monat zuvor für verloren erklärt hatte. Dabei hatte erst das auf sein Verlangen abgegebene Waffenstillstandsgesuch der Entente die ganze militärische Schwäche des Reichs enthüllt und dessen Regierung nahezu jedes Verhandlungsspielraums beraubt. Die deutschen Truppen hatten sich auf das nahe Kriegsende eingestellt und drängten darauf, nach Hause zu kommen. Ihre Kampfbereitschaft war kaum neu zu wecken, und Desertionen häuften sich. Daher blieb die Reichsregierung auf dem von Ludendorff selbst eingeschlagenen Weg und ersetzte ihn am 26. Oktober als 1. Generalquartiermeister durch General Wilhelm Groener. Ludendorff floh daraufhin mit falschem Pass in das neutrale Schweden. Die dritte Wilson-Note hatte viele Soldaten, aber auch einen Großteil der Zivilbevölkerung und der Vertreter der Mehrheitsparteien im Reichstag davon überzeugt, dass der Kaiser abdanken müsse, um Frieden zu erreichen. Am 28. Oktober forderte Philipp Scheidemann in einem Schreiben an Max von Baden den Thronverzicht Wilhelms II. Gegen den Willen des Reichskanzlers flüchtete sich der Kaiser daraufhin ins Große Hauptquartier nach Spa, da er sich bei der Armee sicherer fühlte. Dem Drängen der Sozialdemokraten folgend, schickte der Reichskanzler ihm am 1. November Bill Drews, den Staatssekretär des Inneren, hinterher, um ihn von der Notwendigkeit der Abdankung zu überzeugen. Die Alliierten stimmten am 5. November der Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen zu. Die Deutsche Waffenstillstandskommission traf am 8. November am Verhandlungsort im Wald von Compiègne ein. Als schwere Hypothek für die Zukunft Deutschlands sollte es sich erweisen, dass die Reichsregierung wegen der Forderungen aus der 3. Wilson-Note die Leitung der Kommission nicht einem Vertreter der OHL, sondern einem Zivilisten übertragen hatte, dem Staatssekretär und Parlamentarier Matthias Erzberger von der Zentrumspartei. Dies erleichterte es Hindenburg und Ludendorff, ihre Verantwortung für die Liquidierung des Krieges abzustreiten und die Lüge vom Dolchstoß der demokratischen Politiker in den Rücken des „im Felde unbesiegten“ Heeres in die Welt zu setzen. Verlauf Kieler Matrosenaufstand Während die kriegsmüden Truppen und die über die kaiserliche Regierung desillusionierte Bevölkerung das baldige Kriegsende erwarteten, plante in Kiel die deutsche Marineleitung unter Admiral Franz von Hipper, die gesamte Hochseeflotte am 30. Oktober zu einem Nachtvorstoß in die Southern Bight zu entsenden. Dies hätte zu einer Seeschlacht mit der etwa doppelt so starken und durch amerikanische Schlachtschiffe verstärkten Royal Navy geführt und Tausende von Todesopfern gefordert, ohne am Kriegsausgang etwas zu ändern. Weder der Kaiser noch der Reichskanzler wurden informiert, sehr wohl jedoch Ludendorff, der seit dem 23. Oktober die Wiederaufnahme des Krieges forderte. Der Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918 und die Vorbereitungen zum Auslaufen lösten zunächst eine Meuterei unter den betroffenen Matrosen und dann eine allgemeine Revolution aus, die in wenigen Tagen die Monarchie im Reich beseitigte. Die meuternden Matrosen wollten nicht im bereits verlorenen Krieg sinnlos geopfert werden. Zudem waren sie überzeugt, im Sinne der neuen Regierung zu handeln, die Friedensverhandlungen mit der Entente anstrebte. Deren Glaubwürdigkeit hätte ein gleichzeitiger Angriff der Flotte vollends zunichtegemacht. Bei den Alliierten bestanden ohnehin bereits Zweifel an der Ehrlichkeit des deutschen Waffenstillstandsangebots. Sie verschärften sich noch, nachdem das deutsche U-Boot UB-123 am 10. Oktober in der Irischen See die Fähre RMS Leinster versenkt hatte, wobei 500 Menschen den Tod gefunden hatten. Der Publizist Sebastian Haffner sah daher nicht in den Matrosen die eigentlichen Meuterer. Vielmehr bezeichnete er das Vorhaben der Admiralität als „eine Meuterei der Flottenführung gegen die Regierung und ihre Politik“. Ähnlich sah es Michael Salewski: Der „Rebellion der Admiräle“ folgte, „binnenlogisch konsequent“, die „Revolution der Matrosen“. Der Matrosenaufstand begann auf Schillig-Reede vor Wilhelmshaven, wo die deutsche Hochseeflotte in Erwartung der geplanten Seeschlacht vor Anker gegangen war. In der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1918 kam es zu ersten Befehlsverweigerungen einiger Schiffsbesatzungen. Auf drei Schiffen des III. Geschwaders weigerten sich die Matrosen, die Anker zu lichten. Auf den Schlachtschiffen des I. Geschwaders SMS Thüringen und SMS Helgoland gingen Teile der Besatzungen zu offener Meuterei und Sabotageakten über. Als aber am 31. Oktober einige Torpedoboote ihre Geschütze auf diese Schiffe richteten, verschanzten sich rund 200 Meuterer zunächst unter Deck, ließen sich dann aber widerstandslos verhaften. Da die Marineleitung sich des Gehorsams der Mannschaften nicht mehr sicher war, ließ sie ihren Schlachtplan fallen und beorderte das Geschwader nach Kiel zurück. Nach einer störungsfreien Übung in der Helgoländer Bucht ließ Geschwaderkommandeur Vizeadmiral Kraft während der Fahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal 47 Matrosen der SMS Markgraf, die als Haupträdelsführer galten, verhaften, am 1. November an der Holtenauer Schleuse von Bord bringen und in der Kieler Innenstadt arrestieren. Die Matrosen und Heizer versuchten nun, ein erneutes Auslaufen zu verhindern und die Freilassung ihrer Kameraden zu erreichen. Etwa 250 von ihnen trafen sich dazu am Abend des 1. November im Kieler Gewerkschaftshaus. Sie schickten Delegationen zu den Offizieren, die aber nicht angehört wurden. Daraufhin suchten sie verstärkt Kontakt zu Gewerkschaften, USPD und SPD. Diese waren gut organisiert und hatten zahlreiche Anhänger in Kiel, da die Bevölkerung der Stadt wegen der großen Werften zu einem Großteil aus Arbeitern bestand. Nachdem die Polizei das Gewerkschaftshaus für den 2. November gesperrt hatte, versammelten sich am Folgetag mehrere tausend Matrosen und Arbeiter nachmittags auf dem Großen Exerzierplatz. Sie waren einem Aufruf des Matrosen Karl Artelt und des Werftarbeiters Lothar Popp, beide USPD-Mitglieder, gefolgt. Die Menge forderte unter der Losung Frieden und Brot die Freilassung der Meuterer, die Beendigung des Krieges und eine bessere Lebensmittelversorgung. Zuletzt zogen die Teilnehmer zur Arrestanstalt, um die verhafteten Matrosen zu befreien. Um die Demonstranten kurz vor ihrem Ziel am weiteren Vordringen zu hindern, befahl ein Leutnant namens Oskar Steinhäuser seiner Patrouille, zunächst Warnschüsse, dann gezielte Schüsse in die Menge abzugeben. Dabei wurden sieben Personen getötet und 29 schwer verletzt. Auch aus der Demonstration heraus wurde geschossen. Steinhäuser und zwei weitere Offiziere wurden durch Kolbenhiebe und Schüsse schwer verletzt, aber entgegen später verbreiteter Aussagen nicht getötet. Dieses kurze Gefecht gilt als der Beginn der Revolution. Nach dem Gewaltausbruch zogen sich sowohl die Demonstranten als auch die Patrouille zunächst zurück. Dennoch wurde aus dem Massenprotest nun ein allgemeiner Aufstand. Am nächsten Tag, dem 4. November, durchstreiften Gruppen Aufständischer die Stadt. In der großen Kasernenanlage im Norden Kiels kam es zu Demonstrationen. Karl Artelt organisierte den ersten Soldatenrat, dem bald weitere folgten. Soldaten und Arbeiter brachten die öffentlichen und militärischen Einrichtungen Kiels unter ihre Kontrolle. Der Gouverneur der Marinebasis, Wilhelm Souchon, sah sich gezwungen, zu verhandeln und die inhaftierten Matrosen freizulassen. Als entgegen seiner Absprache mit Artelt Truppen zur Niederschlagung der Bewegung anrückten, wurden diese von den Aufständischen abgefangen. Sie kehrten entweder um oder schlossen sich der Aufstandsbewegung an. Damit war Kiel am Abend des 4. November fest in der Hand von etwa 40.000 revoltierenden Matrosen, Soldaten und Arbeitern. Diese forderten nun auch die Abdankung der Hohenzollern sowie das freie und gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen. Noch am selben Abend trafen der SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Noske und das Kabinettsmitglied Conrad Haußmann in Kiel ein. Gouverneur Souchon hatte telegrafisch um die Entsendung eines SPD-Abgeordneten gebeten, der den Aufstand im Auftrag der neuen Reichsregierung und der Parteiführung unter Kontrolle bringen sollte. Die Machtverhältnisse waren unübersichtlich. Die Aufständischen, die Noske für einen Verbündeten hielten, bestimmten ihn auf Zuruf zum Führer der Bewegung, und der am 5. November gebildete Arbeiter- und Soldatenrat wählte ihn zum Vorsitzenden. Zwei Tage später übernahm er Souchons Posten als Gouverneur und ließ alle Planungen für ein militärisches Vorgehen gegen die Kieler Matrosen einstellen. Nach seinen eigenen Worten strebte er jedoch vor allem danach, „der Meuterei, die ich persönlich aufs Schärfste verurteile, ein Ende zu machen“. Noske drängte in der Folgezeit den Einfluss der Räte in Kiel zurück, konnte die Ausweitung der Revolution auf ganz Deutschland jedoch nicht verhindern. Ausweitung auf das ganze Reich Abordnungen der revolutionären Matrosen schwärmten seit dem 4. November in alle größeren deutschen Städte aus. Sie stießen bei der Übernahme der zivilen und militärischen Macht fast nirgendwo auf Widerstand; nur in Lübeck und Hannover versuchten zwei örtliche Kommandeure, die militärische Disziplin mit Waffengewalt aufrechtzuerhalten. Am 6. November war Wilhelmshaven in der Hand eines Arbeiter- und Soldatenrats, am 7. November alle größeren Küstenstädte sowie Braunschweig, Frankfurt am Main, Hannover, Stuttgart und München. Dort wurde am selben Tag König Ludwig III. von Bayern gestürzt, als erster deutscher Bundesfürst. Nach einer Großdemonstration von Soldaten und Arbeitern floh er aus der Stadt. Kurt Eisner von der USPD rief in Bayern als erstem Land des Reiches die Republik aus und wurde vom Münchner Arbeiter- und Soldatenrat zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt. Bis zum 25. November sahen sich auch die übrigen deutschen Monarchen zur Abdankung gezwungen, als letzter Fürst Günther Victor von Schwarzburg Rudolstadt. Die Arbeiter- und Soldatenräte bestanden zum weitaus größten Teil aus Anhängern von SPD und USPD. Ihre Stoßrichtung war demokratisch, pazifistisch und antimilitaristisch. Sie entmachteten neben den Fürsten nur die bis dahin allmächtigen militärischen Generalkommandos. Alle zivilen Behörden und Amtsträger des Kaiserreichs – Polizei, Stadtverwaltungen, Gerichte – blieben unangetastet. Auch Beschlagnahmungen von Eigentum oder Betriebsbesetzungen fanden kaum statt, da man solche Maßnahmen von einer neuen Reichsregierung erwartete. Um eine der Revolution und der künftigen Regierung verpflichtete Exekutive zu schaffen, beanspruchten die Räte zunächst nur die Oberaufsicht über die Behörden, die zuvor in den Händen der Generalkommandos gelegen hatte. Die SPD erhielt dadurch eine reale Machtbasis auf lokaler Ebene. Doch während die Räte glaubten, damit im Interesse der neuen Ordnung zu handeln, sahen die Parteiführer der SPD in ihnen störende Elemente für einen friedlichen Machtwechsel, den sie schon vollzogen wähnten. Wie die bürgerlichen Parteien forderten sie möglichst rasche Wahlen zu einer Nationalversammlung, die über die endgültige Staatsform befinden sollte. Dies brachte sie bald darauf in einen Gegensatz zu einem großen Teil der Revolutionäre. Deren Forderungen versuchte vor allem die USPD aufzugreifen. Auch sie war für möglichst späte Wahlen zu einer Nationalversammlung, um schon vor deren Zusammentritt Fakten schaffen zu können, die den Erwartungen eines Großteils der Arbeiterschaft entsprachen. Reaktionen in Berlin Ebert war sich mit Max von Baden darin einig, dass eine soziale Revolution verhindert und die staatliche Ordnung unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben müsse. Er wollte die bürgerlichen Parteien, die schon 1917 im Reichstag mit der SPD zusammengearbeitet hatten, sowie die alten Eliten des Kaiserreichs für den Staatsumbau gewinnen und eine befürchtete Radikalisierung der Revolution nach russischem Vorbild vermeiden. Dazu kam seine Furcht, die ohnehin prekäre Versorgungslage könne zusammenbrechen, wenn die Verwaltung von darin unerfahrenen Revolutionären übernommen würde. Er glaubte, die SPD werde in Zukunft zwangsläufig parlamentarische Mehrheiten erringen, die sie in die Lage versetzen würden, ihre Reformvorhaben umzusetzen. Aus diesen Gründen handelte er möglichst übereinstimmend mit den alten Mächten. Um seinen Anhängern einen Erfolg vorweisen zu können, zugleich aber die Monarchie zu retten, forderte Ebert seit dem 6. November den Thronverzicht des Kaisers. Nach dem Zeugnis Max von Badens sagte er am 7. November: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde.“ Am selben Tag versuchte Scheidemann vergeblich, dem Kriegskabinett irgendwelche vorzeigbaren Konzessionen abzuringen, mit denen man „die Massen auch jetzt noch im Zaum halten“ könne. Die sozialdemokratischen Staatssekretäre drohten mit Rücktritt, sollte Wilhelm II. nicht zurücktreten. Der Kaiser aber, der sich weiterhin im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa aufhielt, spielte auf Zeit. Nachdem die Entente am 6. November Waffenstillstandsverhandlungen zugesagt hatte, hoffte er, an der Spitze der bald frei werdenden Fronttruppen ins Reich zurückkehren und die Revolution gewaltsam niederschlagen zu können. Max von Baden wollte nach Spa reisen, um den Kaiser persönlich von der notwendigen Abdankung zu überzeugen. Doch dazu kam es nicht mehr, da sich die Lage in Berlin rasch weiter zuspitzte. 9. November 1918: Ende der Monarchie Am Abend des 8. November hatte die USPD 26 Versammlungen in Berlin einberufen, auf denen ein Generalstreik und Massendemonstrationen für den nächsten Tag angekündigt wurden. Ebert hatte daraufhin noch einmal ultimativ die Abdankung des Kaisers gefordert und wollte diesen Schritt auf den Versammlungen als Erfolg der SPD verkünden. Um möglichen Unruhen entgegenzutreten, ließ Prinz Max von Baden am Abend das als besonders zuverlässig geltende 4. Jägerregiment aus Naumburg an der Saale nach Berlin verlegen. Doch selbst die Soldaten dieses Regiments waren nicht gewillt, auf Landsleute zu schießen. Als ihre Offiziere ihnen am frühen Samstagmorgen des 9. November Handgranaten aushändigten, schickten sie eine Abordnung zur Redaktion des sozialdemokratischen Parteiorgans Vorwärts, um Aufklärung über die Situation zu verlangen. Dort trafen sie auf den SPD-Reichstagsabgeordneten Otto Wels. Er konnte die Soldaten davon überzeugen, die Führung der SPD und ihre Politik zu unterstützen. Anschließend gewann er weitere Regimenter dafür, sich Ebert zu unterstellen. Damit war die militärische Kontrolle über die Hauptstadt den Sozialdemokraten zugefallen. Doch Ebert fürchtete, sie könne ihnen rasch wieder entgleiten, wenn USPD und Spartakisten die Arbeiter bei den angekündigten Demonstrationen auf ihre Seite ziehen würden. Denn vormittags zogen Hunderttausende Menschen in mehreren Demonstrationszügen ins Zentrum von Berlin. Auf ihren Plakaten und Spruchbändern standen Parolen wie „Einigkeit“, „Recht und Freiheit“ und „Brüder, nicht schießen!“ Am Morgen des 9. November forderte die Regierung daher den sofortigen Thronverzicht des Kaisers, um Revolution und Bürgerkrieg noch verhindern und die Volksmassen besänftigen zu können. Max von Baden telegrafierte nach Spa, es gehe bei dieser Entscheidung nicht mehr um Stunden, sondern um Minuten. Dennoch blieb Wilhelm II. weiter unschlüssig. In Beratungen mit den Militärs erwog er, als Deutscher Kaiser abzudanken, nicht aber als König von Preußen. Auf diese Weise hoffte er, den Oberbefehl über die preußische Armee behalten und an ihrer Spitze die Revolution niederschlagen zu können. All diesen Überlegungen setzte schließlich Generalquartiermeister Groener ein Ende. Er machte dem Kaiser unmissverständlich klar, dass das Heer nicht mehr hinter ihm stehe. Eine Befragung unter 39 Kommandeuren hatte ergeben, dass die Frontsoldaten nicht mehr bereit waren, seinen Befehlen zu folgen. Nach der Aufzeichnung eines Gesprächs mit Max von Baden, das der Stabsoffizier Otto Wagener 1920 angefertigt hatte, teilte Groener dem Reichskanzler telefonisch mit, die formelle Abdankung stünde unmittelbar bevor, er könne diese „ruhig bekannt geben“. Nach Einschätzung des Historikers Lothar Machtan ging es Groener darum, Wilhelm von dem seiner Ansicht nach wirklichkeitsfremden Vorhaben einer Teilabdankung abzubringen und ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. Jedenfalls gab Max von Baden, ohne noch länger auf eine formelle Antwort des Kaisers zu warten, am späten Vormittag des 9. Novembers folgende Erklärung heraus: Tatsächlich lehnte Wilhelm II. einen Thronverzicht weiterhin ab. Einen Tag nach der Erklärung des Reichskanzlers, am Morgen des 10. Novembers 1918, floh er aus dem besetzten Belgien ins niederländische Exil, zunächst nach Amerongen, dann nach Doorn, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1941 lebte. Da er die Abdankungsurkunde erst am 28. November in Amerongen unterzeichnete, kam der Grenzübertritt des Oberbefehlshabers einer Fahnenflucht gleich. Dies kostete ihn nun auch die Sympathien seiner Militärs und vieler Befürworter der Monarchie. Um weiter Herr der Lage bleiben zu können, forderte Ebert am Mittag des 9. November das Amt des Reichskanzlers für sich und bat Max von Baden, das Amt eines Reichsverwesers zu übernehmen. Dieser übergab ihm daraufhin das Kanzleramt, die Staatssekretäre blieben im Amt. Damit glaubte Ebert, eine Übergangsregelung bis zur Bestellung eines Regenten gefunden zu haben und unter den Bedingungen der Oktoberverfassung regieren und die Monarchie erhalten zu können. Die Nachrichten vom Thronverzicht des Kaisers und der Regierungsübernahme durch Ebert kamen jedoch zu spät, um auf die Demonstranten noch Eindruck zu machen. Niemand befolgte die in Sonderausgaben des Vorwärts veröffentlichten Aufrufe, nach Hause oder in die Kasernen zurückzukehren. Immer mehr Demonstranten forderten die vollständige Abschaffung der Monarchie. Karl Liebknecht, erst kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen, war sofort nach Berlin gereist und hatte am Vortag den Spartakusbund neu gegründet. Nun plante er die Ausrufung der sozialistischen Republik. Beim Mittagessen im Reichstag erfuhr der stellvertretende SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann davon. Er wollte den Spartakisten nicht die Initiative überlassen und trat kurz entschlossen auf einen Balkon des Reichstagsgebäudes. Von dort aus rief er seinerseits – gegen Eberts erklärten Willen – vor einer demonstrierenden Menschenmenge die Republik aus. Der genaue Wortlaut seiner Proklamation ist umstritten. Scheidemann selbst gab ihn zwei Jahre später so wieder: Diese Erklärung eines einzelnen, nicht dazu befugten Politikers, war zwar staatsrechtlich ohne Bedeutung, der Applaus, mit dem sie aufgenommen worden war, zeigte aber, dass die Massen einen klaren Bruch mit dem alten Regime erwarteten. Erst Stunden später veröffentlichten Berliner Zeitungen, dass Liebknecht im Berliner Lustgarten – wahrscheinlich fast gleichzeitig – die sozialistische Republik ausgerufen hatte, auf die er gegen 16 Uhr eine im Hof des Berliner Stadtschlosses versammelte Menschenmenge nochmals einschwor: Liebknechts Ziele, die mit den Forderungen des Spartakusbundes vom 7. Oktober übereinstimmten, waren bis dahin noch kaum öffentlich bekannt geworden. Dazu gehörten vor allem die Umgestaltung der Wirtschaft, des Militärs und der Justiz, u. a. die Abschaffung der Todesstrafe. Zum größten Streitpunkt mit der MSPD wurde die Forderung, schon vor der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung einige kriegswichtige Wirtschaftsbereiche zu sozialisieren, d. h. der direkten Kontrolle von Arbeitervertretern zu unterstellen. Die MSPD dagegen wollte die zukünftige Wirtschaftsordnung Deutschlands der Nationalversammlung überlassen. Um der revolutionären Stimmung die Spitze zu nehmen und die Forderung der Demonstranten nach Einigkeit der Arbeiterparteien zu erfüllen, bot Ebert der USPD nun den Eintritt in die Regierung an und erklärte sich bereit, Liebknecht als Minister zu akzeptieren. Dieser forderte die Kontrolle der Arbeiterräte über die Soldaten und machte seine Regierungsbeteiligung davon abhängig. Wegen der Debatten darüber und weil sich der Parteivorsitzende Hugo Haase in Kiel aufhielt, konnten sich die USPD-Vertreter an diesem Tag nicht mehr über Eberts Angebot einigen. Weder die vorzeitige Verkündung des kaiserlichen Thronverzichts durch Max von Baden und seine Übergabe des Kanzleramts an Ebert noch die Ausrufung der Republik durch Scheidemann waren verfassungsrechtlich gedeckt. All dies waren revolutionäre Handlungen von Akteuren, welche die Revolution nicht wollten, die aber dennoch dauerhafte Fakten schufen. Noch am selben Abend fand dagegen eine bewusst revolutionäre Aktion statt, die sich jedoch am Ende als vergeblich erweisen sollte. Gegen 20 Uhr besetzte eine Gruppe von 100 Revolutionären Obleuten aus Berliner Großbetrieben den Reichstag und bildete ein Revolutionsparlament. Bei den Obleuten handelte es sich weitgehend um dieselben Personen, die schon im Januarstreik als Streikführer aufgetreten waren. Sie misstrauten der SPD-Führung und hatten im Bündnis mit der USPD-Linken und der Spartakusgruppe bereits seit Wochen auf eine Revolution hingearbeitet. Vom Matrosenaufstand überrascht, hatten sie zunächst den 11. November als Termin für den Umsturz vorgesehen. Nachdem aber am 8. November der Militärexperte der Gruppe, Ernst Däumig, der alle Aufstandspläne bei sich trug, verhaftet worden war, entschloss sich das Bündnis zu sofortigem Handeln. Um Ebert die Initiative zu entreißen, beschloss das Revolutionsparlament, Wahlen für den nächsten Tag auszurufen: Jeder Berliner Betrieb und jedes Regiment sollte an diesem Sonntag Arbeiter- und Soldatenräte bestimmen, die dann eine aus beiden Arbeiterparteien bestehende Revolutionsregierung wählen sollten. Dieser Rat der Volksbeauftragten sollte nach dem Willen der Obleute die Beschlüsse des Revolutionsparlaments ausführen und Eberts Funktion als Reichskanzler ersetzen. 10. November 1918: SPD-Führung gegen Revolutionäre Obleute Die SPD-Führung erfuhr noch am Samstagabend von den Plänen der Revolutionären Obleute. Da die Wahlen zur Räteversammlung und diese selbst nicht mehr zu verhindern waren, schickte Ebert noch in der Nacht und am folgenden frühen Morgen Redner zu allen Berliner Regimentern und in die Betriebe. Sie sollten die Wahlen zu seinen Gunsten beeinflussen und die ohnehin geplante Regierungsbeteiligung der USPD bekannt geben. Diese Aktivitäten entgingen wiederum den Obleuten nicht. Als absehbar war, dass Ebert auch in der neuen Regierung den Ton angeben würde, planten sie, der Räteversammlung außer der Wahl einer Regierung auch die Einsetzung eines Aktionsausschusses vorzuschlagen. Dieser sollte die Tätigkeit der Arbeiter- und Soldatenräte koordinieren. Die Obleute hatten für diese Wahl schon eine Namensliste vorbereitet, auf der die SPD nicht vertreten war. So hofften sie, eine ihnen genehme Kontrollinstanz über der Regierung installieren zu können. In der Versammlung, die am Nachmittag des 10. November im Circus Busch zusammentrat, stand die Mehrheit auf Seiten der SPD: fast alle Soldatenräte und ein Großteil der Arbeitervertreter. Sie wiederholten nun die Forderung nach „Einigkeit der Arbeiterklasse“, die am Vortag von den Revolutionären aufgestellt worden war und nutzten die Parole jetzt, um Eberts Linie durchzusetzen. In den sechsköpfigen „Rat der Volksbeauftragten“, der nun gewählt wurde, entsandte die USPD wie geplant drei ihrer Vertreter: ihren Vorsitzenden Haase, den Reichstagsabgeordneten Wilhelm Dittmann und Emil Barth für die Revolutionären Obleute. Die drei SPD-Vertreter waren Ebert, Scheidemann und der Magdeburger Reichstagsabgeordnete Otto Landsberg. Der für die SPD-Führung überraschende Vorschlag der Obleute, zusätzlich einen Aktionsausschuss als Kontrollorgan zu wählen, löste hitzige Debatten aus. Ebert erreichte schließlich, dass auch dieser 24-köpfige Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Großberlin paritätisch mit SPD- und USPD-Mitgliedern besetzt wurde. Vorsitzender des Vollzugsrates wurde Richard Müller, der Sprecher der Revolutionären Obleute. Auch die USPD-Mandate des Rates wurden von den Obleuten besetzt. Der Vollzugsrat beschloss, für Dezember einen Reichsrätekongress nach Berlin einzuberufen. Obwohl Ebert die bestimmende Rolle der SPD gewahrt hatte, war er mit den Ergebnissen unzufrieden. Er sah das Räteparlament und den Vollzugsrat nicht als Hilfen, sondern nur als Hindernisse auf dem Weg zu einer Staatsordnung, die nahtlos an das Kaiserreich anknüpfen sollte. Die gesamte SPD-Führung betrachtete hauptsächlich die Räte, nicht aber die alten Eliten aus Militär und Verwaltung als Gefahr. Sie überschätzte erheblich deren Loyalität zur neuen Republik. Ebert störte vor allem, dass er vor ihnen nun nicht mehr als Reichskanzler, sondern nur noch als Vorsitzender einer Revolutionsregierung auftreten konnte. Konservative betrachteten ihn in der Tat als Verräter, obwohl er nur deshalb an die Spitze der Revolution getreten war, um sie zu bremsen. Während der achtwöchigen Doppelherrschaft von Räten und Reichsregierung war letztere immer dominant. Die Staatssekretäre und höheren Beamten, die formal der Aufsicht des Rats der Volksbeauftragten unterstanden, arbeiteten allein Ebert zu, obwohl Haase im Rat formal gleichberechtigter Vorsitzender war. Den Ausschlag in der Machtfrage gab noch am Abend des 10. November ein Telefonat Eberts mit General Wilhelm Groener, dem neuen 1. Generalquartiermeister im belgischen Spa. Dieser sicherte Ebert die Unterstützung des Heeres zu und erhielt dafür Eberts Zusage, die militärische Rangordnung wiederherzustellen und gegen die Räte vorzugehen. Hinter dem geheimen Ebert-Groener-Pakt stand die Sorge der SPD-Führung, die Revolution könne in eine Räterepublik nach russischem Vorbild münden. Die Erwartung, das kaiserliche Offizierskorps damit für die Republik gewinnen zu können, sollte sich jedoch nicht erfüllen. Gleichzeitig wurde Eberts Verhalten für die revolutionären Arbeiter und Soldaten und ihre Vertreter zunehmend unverständlich. So büßte die SPD-Führung immer mehr Vertrauen bei ihren Anhängern ein, ohne an Sympathien bei den Gegnern der Revolution zu gewinnen. 11. November 1918: Waffenstillstand In den Turbulenzen dieser Tages ging fast unter, dass die Regierung Ebert die Bedingungen der Entente für eine Waffenruhe akzeptiert hatte. Wegen der Härte dieser Bedingungen kamen der deutsche Delegation Bedenken, so dass sie telegraphisch nochmals in Berlin nachfragte. Ebert bat daraufhin seinerseits Hindenburg und die OHL um eine Stellungnahme. Diese forderte die deutschen Emissäre direkt zur Annahme der Bedingungen auf, ohne noch einmal Rücksprache mit der Regierung zu halten. Schließlich, kurz nach 5 Uhr am Morgen des 11. November unterzeichnete der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger im Namen des Reichs das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne. Es trat noch am selben Tag um 11 Uhr französischer, um 12 Uhr deutscher Zeit in Kraft und galt zunächst für 30 Tage. Damit endeten die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs. Stinnes-Legien-Abkommen Wie über die Staatsordnung, so hegten die Revolutionäre auch über die künftige Wirtschaftsordnung sehr unterschiedliche Vorstellungen. Sowohl in der SPD als auch in der USPD weit verbreitet war die Forderung, zumindest die kriegswichtige Schwerindustrie demokratischer Kontrolle zu unterstellen. Die linken Flügel beider Parteien und die Revolutionären Obleute wollten darüber hinaus eine direkte Demokratie im Produktionsbereich etablieren. Die dort gewählten Delegierten sollten auch die politische Macht kontrollieren. Diese Rätedemokratie zu verhindern, lag nicht nur im Interesse der SPD, sondern auch in dem der Gewerkschaften, die durch die Räte überflüssig zu werden drohten. Parallel zu den Revolutionsereignissen trafen sich daher der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Carl Legien, sowie weitere Gewerkschaftsführer vom 9. bis 12. November in Berlin mit den Vertretern der Großindustrie unter Hugo Stinnes und Carl Friedrich von Siemens. Am 15. November unterzeichneten sie ein Arbeitsgemeinschaftsabkommen, das beiden Seiten Vorteile brachte: Die Gewerkschaftsvertreter sagten zu, für einen geordneten Produktionsverlauf zu sorgen, wilde Streiks zu beenden, den Einfluss der Räte zurückzudrängen und eine Sozialisierung von Produktiveigentum zu verhindern. Die Arbeitgeber garantierten im Gegenzug die Einführung des 8-Stunden-Tages und erkannten den Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften an. Beide Seiten bildeten eine Zentralarbeitsgemeinschaft mit einem paritätisch besetzten Zentralausschuss an der Spitze. Auf Verbandsebene sollten Schlichtungsausschüsse, die gleichfalls paritätisch besetzt wurden, bei künftigen Konflikten vermitteln. Außerdem wurde vereinbart, Arbeiterausschüsse in jedem Betrieb mit mehr als 50 Arbeitern zu bilden. Gemeinsam mit den Unternehmensleitungen sollten sie die Einhaltung von Tarifverträgen überwachen. Damit hatten die Gewerkschaften einiges von dem erreicht, was sie seit Jahren vergeblich gefordert hatten. Zugleich hatten sie alle Bestrebungen nach Sozialisierung von Produktionsmitteln unterlaufen und die Räte weitgehend ausgeschaltet. Übergangsregierung und Rätebewegung Der Reichstag wurde seit dem 9. November nicht mehr einberufen. Der Rat der Volksbeauftragten und der Vollzugsrat hatten die alte Regierung ersetzt. Doch der bisherige Verwaltungsapparat bestand fast unverändert fort. Vertreter von SPD und USPD wurden den bis dahin kaiserlichen Beamten nur beigeordnet. Diese behielten ebenso allesamt ihre Funktionen und setzten ihre Arbeit zum großen Teil unverändert fort. Am 12. November veröffentlichte der Rat der Volksbeauftragten sein demokratisches und soziales Regierungsprogramm. Er hob den Belagerungszustand und die Zensur auf, schaffte die Gesindeordnung ab und führte das allgemeine demokratische Wahlrecht ab 20 Jahren ein. Damit wurde in Preußen das Dreiklassenwahlrecht abgeschafft und in ganz Deutschland das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt. Alle politisch Inhaftierten erhielten Amnestie. Bestimmungen zur Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit wurden erlassen. Auf der Basis des Arbeitsgemeinschaftsabkommens wurde der 8-Stunden-Tag vorgeschrieben und Leistungen der Erwerbslosenfürsorge, der Sozial- und Unfallversicherung ausgeweitet. Auf Druck der USPD-Vertreter setzte der Rat der Volksbeauftragten am 21. November eine Sozialisierungskommission ein. Ihr gehörten u. a. Karl Kautsky, Rudolf Hilferding und Otto Hue an. Sie sollte prüfen, welche Industrien „sozialisierungstauglich“ seien, und eine Verstaatlichung der Montanindustrie vorbereiten. Diese Kommission tagte bis zum 7. April 1919 ohne jedes greifbare Ergebnis. Nur im Kohle- und Kalibergbau sowie in der Stahlindustrie wurden „Selbstverwaltungskörperschaften“ eingesetzt, aus denen die heutigen Betriebsräte hervorgingen. Eine sozialistische Enteignung wurde nicht eingeleitet. Die SPD-Führung arbeitete lieber mit der alten Verwaltung zusammen als mit den neuen Arbeiter- und Soldatenräten, da sie diesen keine geordnete Versorgung der Bevölkerung zutraute. Das führte seit Mitte November zu ständigen Konflikten mit dem Vollzugsrat. Dieser wechselte seine Position laufend, je nach den Interessen derer, die er gerade vertrat. Ebert entzog ihm daraufhin mehr und mehr Kompetenzen mit dem Ziel, das „Herum- und Hereinregieren der Räte in Deutschland“ endgültig zu beenden. Er und die SPD-Führung überschätzten allerdings nicht nur die Macht der Rätebewegung, sondern auch die des Spartakusbundes. So kontrollierten die Spartakisten beispielsweise nie die Rätebewegung, wie Konservative und Teile der SPD glaubten. Die Arbeiter- und Soldatenräte lösten u. a. in Leipzig, Hamburg, Bremen, Chemnitz und Gotha die Stadtverwaltungen auf und unterstellten sie ihrer Kontrolle. In Braunschweig, Düsseldorf, Mülheim an der Ruhr und Zwickau wurden außerdem alle kaisertreuen Beamten verhaftet. In Hamburg und Bremen wurden „Rote Garden“ gebildet, die die Revolution schützen sollten. In den Leunawerken bei Merseburg setzten Räte die Konzerndirektion ab. Häufig wurden die neuen Räte spontan und willkürlich bestimmt und besaßen keinerlei Führungserfahrung. Einige waren korrupt und handelten eigennützig. Den neu ernannten Räten stand eine große Mehrheit von gemäßigten Räten gegenüber, die sich mit der alten Verwaltung arrangierten und gemeinsam mit ihr dafür sorgten, dass in Betrieben und Städten schnell wieder Ruhe einkehrte. Sie übernahmen die Verteilung der Nahrungsmittel, die Polizeigewalt sowie die Unterbringung und Verpflegung der allmählich heimkehrenden Frontsoldaten. Verwaltung und Räte waren aufeinander angewiesen: Die einen verfügten über Wissen und Erfahrung, die anderen über politischen Einfluss. Meist waren SPD-Mitglieder in die Räte gewählt worden, die ihre Tätigkeit als Übergangslösung betrachteten. Für sie wie für die Mehrheit der übrigen Bevölkerung stand 1918/19 die Einführung einer Räterepublik oder gar einer bolschewistischen Rätediktatur in Deutschland nie zur Debatte. Vielmehr unterstützte eine Mehrheit der Räte das parlamentarische System und die Wahl zu einer Verfassungsgebenden Nationalversammlung, da sich die jahrzehntelange Praxis der Reichstagswahlen und die parlamentarische Arbeit der SPD in ihren Augen bewährt hatten. Viele wollten die neue Regierung stützen und erwarteten von ihr die Abschaffung des Militarismus und des Obrigkeitsstaates. Kriegsmüdigkeit und Not ließen einen Großteil der Menschen auf eine friedliche Lösung hoffen und führten dazu, dass sie die Stabilität des Erreichten teilweise überschätzten. Erste gegenrevolutionäre Gewalt und Reichsrätekongress Wie vom Vollzugsrat beschlossen, schickten die Arbeiter- und Soldatenräte aus dem ganzen Reich Abgeordnete nach Berlin, die am 16. Dezember im Circus Busch zum Ersten Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte zusammentreten sollten. Weil sie von dessen Zusammentritt eine Bolschewisierung Deutschlands befürchteten, unternahmen Teile der Berliner Garnison Anfang Dezember eine bewaffnete Aktion, die von manchen als Putschversuch, von anderen wie Richard Müller dagegen als bloßes „Possenspiel“ bezeichnet wurde. Jedenfalls trug sie erheblich dazu bei, das Misstrauen zwischen der SPD und der äußersten Linken zu verstärken. Am Morgen des 6. Dezembers besetzte auf Betreiben von Hermann Wolff-Metternich, welcher später als Hauptakteur des Putschversuches sein Kommando aufgeben und aus Deutschland flüchten musste, ein Trupp des Infanterieregiments „Kaiser Franz“ das Preußische Abgeordnetenhaus, in dem der Vollzugsrat tagte, und erklärte diesen für verhaftet, nachdem der ursprüngliche Plan gescheitert war, die Verhaftung durch Angehörige der Volksmarinedivision durchführen zu lassen. Die Soldaten glaubten dabei im Interesse des Rats der Volksbeauftragten zu handeln. Denn als dessen Mitglied Emil Barth von der USPD, der sich im Abgeordnetenhaus aufhielt, die Soldaten darauf hinwies, dass die Regierung keinen Haftbefehl gegen den Vollzugsrat erlassen hatte, zogen sie sich nach kurzer Debatte zurück. Zur gleichen Zeit versammelten sich weitere Soldaten des „Franzer-Regiments“ unter Führung eines Feldwebels namens Kurt Spiro vor der Reichskanzlei. Sie protestierten gegen die „Misswirtschaft“ des Vollzugsrats, forderten Wahlen zur Nationalversammlung noch im Dezember und riefen schließlich Friedrich Ebert zum Präsidenten aus. Dieser antwortete ausweichend, da er den Bruch mit dem Vollzugsrat scheute, so dass auch diese Truppe am Ende unverrichteter Dinge aufgab. Ob dieser Umsturzversuch eine spontane Aktion oder von Teilen des Regierungsapparats mit initiiert worden war, wurde nie untersucht und ist daher bis heute umstritten. Die tragischen Folgen dieses „tollen Spuks“, wie Philipp Scheidemann die Aktion nannte, zeigten sich erst, am Nachmittag des 6. Dezember: Auf die Nachricht von dem Putschversuch hin formierten sich mehrere spartakistische Demonstrationszüge, die von Polizeipräsident Emil Eichhorn, einem USPD-Mitglied, genehmigt worden waren. Von dieser Genehmigung hatte der Stadtkommandant, Otto Wels von der SPD, jedoch nichts erfahren. Daher ließ er die Demonstrationsstrecke an der Ecke Chausseestraße/Invalidenstraße von einer Abteilung Gardefüsiliere abriegeln, die mit einem Maschinengewehr bewaffnet war. Aus bis heute ungeklärter Ursache eröffneten sie das Feuer auf die Demonstranten und trafen während des Feierabendverkehrs auch eine Straßenbahn. 16 Menschen starben. Dieser Zwischenfall vergiftete die Atmosphäre zwischen den Spartakisten und ihren Gegnern in der MSPD und den bürgerlichen Parteien nachhaltig. Beide Seiten machten sich gegenseitig für die Eskalation der Gewalt verantwortlich. Die spartakistische Rote Fahne schrieb am 7. Dezember: „Das blutige Verbrechen muß geahndet, die Verschwörung der Wels, Ebert, Scheidemann muß mit eiserner Faust niedergemacht, die Revolution gerettet werden.“ Auf der Gegenseite, im Bürgertum, wurde wiederum Liebknecht in einem Ausmaß zu einer Schreckfigur, das in keinem Verhältnis zu seinen realpolitischen Möglichkeiten stand. Zu einer spartakistischen Protestdemonstration versammelten sich am 7. Dezember nur 800 bis 1000 Personen, doch da die Demonstranten zwei Panzerwagen und mehrere Maschinengewehre mit sich führten, wurden die Ängste ihrer Gegner weiter angestachelt. Am 10. Dezember begrüßte Ebert zusammen mit 25 000 Bürgern zehn von der Front heimkehrende Divisionen am Pariser Platz. In seiner Rede riefe er ihnen zu: „Kein Feind hat euch je überwunden! Nun liegt Deutschlands Einheit in Eurer Hand!“, womit er ungewollt der Dolchstoßlegende Vorschub leistete. Gleichwohl war diese Veranstaltung ein großer Erfolg für die Mehrheitssozialdemokratie, die sich als Garant der deutschen Einheit und einer Überwindung der derzeitigen Wirren präsentierte. Der Reichsrätekongress, der am 16. Dezember im Preußischen Abgeordnetenhaus seine Arbeit aufnahm, bestand in seiner Mehrheit aus Anhängern der SPD. Nicht einmal Karl Liebknecht war es gelungen, dort ein Mandat zu erringen. Seinem Spartakusbund wurde keine Einflussnahme zugebilligt. Am 19. Dezember stimmten die Räte mit 344 zu 98 Stimmen gegen die Schaffung eines Rätesystems als Grundlage einer neuen Verfassung. Vielmehr unterstützten sie den Regierungsbeschluss, so bald wie möglich Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung durchzuführen, die über die endgültige Staatsform entscheiden sollte. Der einzige Streitpunkt zwischen Ebert und dem Kongress bestand in der Frage der Kontrolle über das Militär. Der Kongress verlangte unter anderem ein Mitspracherecht des von ihm gewählten „Zentralrats der Deutschen Sozialistischen Republik“ im Oberbefehl über die Streitkräfte, die freie Offizierswahl und die Disziplinargewalt für die Soldatenräte. Dies aber lief der geheimen Abmachung zwischen Ebert und Wilhelm Groener zuwider. Beide setzten alles daran, den Beschluss ungeschehen zu machen. Die Oberste Heeresleitung, die inzwischen nach Kassel umgezogen war, begann mit der Aufstellung ihr loyal ergebener Freikorps, die sie gegen die vermeintlich drohende bolschewistische Gefahr einzusetzen gedachte. Bei diesen Truppen handelte es sich um monarchistisch gesinnte Offiziere und Mannschaften, die keinen Weg zurück ins Zivilleben fanden und die Republik ablehnten. Das Versäumnis, über das Kriegsministerium selbst die Kontrolle über die Truppen zu übernehmen und stattdessen an der Partnerschaft mit der OHL festzuhalten, machte die Revolutionsregierung letztlich vom Schutz derer abhängig, die der Revolution zutiefst feindlich gegenüberstanden. Dies wird von Historikern wie Heinrich August Winkler und Joachim Käppner als größte Fehlentscheidung der Regierung Ebert bewertet. Weihnachtskrise Nach dem 9. November hatte die Regierung zu ihrem Schutz die neu gebildete Volksmarinedivision von Kiel nach Berlin beordert. Sie galt als absolut loyal und verweigerte in der Tat die Teilnahme an dem Putschversuch vom 6. Dezember. Die Matrosen setzten sogar ihren Befehlshaber ab, weil sie ihn in die Affäre verwickelt sahen. Nachdem aber verschiedene Kunstschätze aus dem Stadtschloss gestohlen worden waren, in dem die Truppe stationiert war, verlangte der Rat der Volksbeauftragten ihre Auflösung und ihren Abzug aus dem Schloss. Otto Wels, seit dem 9. November Stadtkommandant von Berlin, setzte die Matrosen unter Druck, indem er ihren Sold einbehielt. Der Streit eskalierte am 23. Dezember in den Weihnachtskämpfen. Die Matrosen meuterten und besetzten die Reichskanzlei. Sie kappten die Telefonleitungen, stellten den Rat der Volksbeauftragten unter Hausarrest und nahmen Wels im Marstall als Geisel und misshandelten ihn. Anders als von spartakistischen Revolutionären zu erwarten gewesen wäre, nutzten sie die Situation aber nicht, um die Regierung Ebert auszuschalten, sondern bestanden nur weiterhin auf ihren Sold. Ebert, der über eine geheime Telefonleitung mit der Obersten Heeresleitung in Kassel in Kontakt stand, gab am Morgen des 24. Dezember den Befehl, das Schloss mit regierungstreuen Truppen anzugreifen. Dieser Angriff scheiterte. 56 Regierungssoldaten, elf Matrosen und einige Zivilisten verloren dabei ihr Leben. Nach erneuten Verhandlungen räumten die Matrosen Schloss und Marstall und ließen Wels frei. Im Gegenzug verlor dieser sein Amt als Stadtkommandant, die Volksmarinedivision erhielt ihren Sold und blieb als militärische Einheit bestehen. Die Affäre zeigte die Schutzlosigkeit der Regierung, die über keine zuverlässigen und schlagkräftigen eigenen Truppen verfügte. Somit verstärkte die Krise das Bündnis zwischen Ebert und Groener, das nach Ansicht des Historikers Ulrich Kluge im eigentlichen Sinne erst durch die Weihnachtskämpfe zustande kam. Die geschlagenen Regierungstruppen wurden nun ihrerseits aufgelöst oder in die neu gebildeten Freikorps integriert. Um den Gesichtsverlust auszugleichen, besetzten sie vorübergehend die Redaktionsräume der Roten Fahne. Doch die militärische Macht in Berlin lag nun wiederum in den Händen der Volksmarinedivision, und erneut nutzte sie diese nicht aus. Das zeigt zum einen, dass die Matrosen keine Spartakisten waren, zum anderen, dass die Revolution keine Führung hatte. Selbst wenn Liebknecht der revolutionäre Führer im Sinne Lenins gewesen wäre, den die Legende später aus ihm gemacht hat, hätten ihn die Matrosen wie auch die Räte kaum als solchen akzeptiert. So hatte die Weihnachtskrise, die von den Spartakisten als „Eberts Blutweihnacht“ bezeichnet wurde, lediglich zur Folge, dass die Revolutionären Obleute für den ersten Weihnachtstag zu einer Demonstration aufriefen und die USPD am 29. Dezember aus Protest die Regierung verließ. Dies aber war dem SPD-Vorsitzenden nur recht, hatte er doch die Unabhängigen lediglich unter dem Druck der revolutionären Ereignisse an der Regierung beteiligt. Innerhalb weniger Tage wurde aus einer militärischen Niederlage der Regierung Ebert ein politischer Sieg. Gründung der KPD und Januaraufstand Nach den Weihnachtsunruhen glaubten die Spartakusführer nicht mehr, die sozialistische Revolution mit SPD und USPD verwirklichen zu können. Um die Unzufriedenheit ihrer Anhänger und vieler Arbeiter mit dem bisherigen Revolutionsverlauf aufzufangen, beriefen sie zum Jahreswechsel einen Reichskongress zur Gründung einer eigenen Partei ein. Rosa Luxemburg trug das von ihr verfasste Spartakusprogramm vom 10. Dezember 1918 am 31. Dezember vor. Es wurde mit wenigen Änderungen als Parteiprogramm angenommen und hielt fest, dass die neue Partei die Regierung nie ohne klaren mehrheitlichen Volkswillen übernehmen werde. Am 1. Januar 1919 gründeten die angereisten Spartakisten zusammen mit anderen linkssozialistischen Gruppen aus dem ganzen Reich die KPD. Rosa Luxemburg forderte nochmals deren Teilnahme an den geplanten Parlamentswahlen, wurde aber überstimmt. Die Mehrheit hoffte weiter, die Macht durch fortgesetzte Agitation in den Betrieben und den Druck der „Straße“ erringen zu können. Die „Revolutionären Obleute“ entschieden sich jedoch nach Verhandlungen mit den Spartakisten für den Verbleib in der USPD. Die entscheidende Niederlage der Linken erfolgte in den ersten Tagen des neuen Jahres 1919. Wie im November entstand fast spontan eine zweite Revolutionswelle, die diesmal aber gewaltsam unterdrückt wurde. Sie wurde ausgelöst, als die Regierung am 4. Januar das USPD-Mitglied Emil Eichhorn als Polizeipräsidenten von Berlin entließ. Eichhorn hatte sich in der Weihnachtskrise geweigert, gegen demonstrierende Arbeiter vorzugehen. USPD, Revolutionäre Obleute sowie die KPD-Führer Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck nahmen seine Entlassung zum Anlass, für den nächsten Tag zu einer Protestaktion aufzurufen. Was als Demonstration geplant war, entwickelte sich zu einem Massenaufmarsch, mit dem die Veranstalter selbst nicht gerechnet hatten. Wie am 9. November 1918 strömten am 5. Januar 1919, einem Sonntag, Hunderttausende ins Zentrum Berlins, darunter viele Bewaffnete. Am Nachmittag besetzten sie die Berliner Bahnhöfe sowie das Berliner Zeitungsviertel mit den Redaktionsgebäuden der bürgerlichen Presse und des Vorwärts. Einige der betroffenen Zeitungen hatten in den Tagen zuvor nicht nur zur Aufstellung weiterer Freikorps, sondern auch zum Mord an den Spartakisten aufgerufen. Die Demonstranten waren im Wesentlichen dieselben wie zwei Monate zuvor. Sie forderten jetzt die Einlösung dessen, was sie sich damals erhofft hatten. Die Forderungen kamen aus der Arbeiterschaft selbst und wurden von den verschiedenen Gruppen links von der SPD unterstützt. Die Spartakisten waren daran keineswegs führend beteiligt. Auch der nun folgende so genannte Spartakusaufstand ging nur zum Teil von den KPD-Anhängern aus. Diese blieben unter den Aufständischen sogar in der Minderheit. Die im Polizeipräsidium versammelten Initiatoren der Demonstrationen wählten einen 53-köpfigen „Provisorischen Revolutionsausschuss“, der aber mit seiner Macht nichts anzufangen und dem Aufstand keine klare Richtung zu geben wusste. Liebknecht, neben Georg Ledebour und Paul Scholze einer der drei Vorsitzenden, forderte den Sturz der Regierung und schloss sich der Mehrheitsmeinung im Ausschuss an, die den bewaffneten Kampf propagierte. Rosa Luxemburg hielt, wie die Mehrheit der KPD-Führer, einen Aufstand zu diesem Zeitpunkt für eine Katastrophe und sprach sich ausdrücklich dagegen aus. Am 4. Januar hatte Ebert Gustav Noske zum Volksbeauftragten für Heer und Marine ernannt. Am 6. Januar übernahm Noske den Oberbefehl über diese Truppen mit den Worten: „Meinetwegen, einer muss der Bluthund werden. Ich scheue die Verantwortung nicht.“ Am selben Montag rief der Revolutionsausschuss zu einer erneuten Massendemonstration auf. Diesem Aufruf folgten noch mehr Menschen. Sie trugen erneut Plakate mit der Aufschrift „Brüder, nicht schießen!“ und verharrten wartend auf einem Versammlungsplatz. Ein Teil der Revolutionären Obleute begann, sich zu bewaffnen und zum Sturz der Regierung Ebert aufzurufen. Doch die Bemühungen der KPD-Aktivisten, die Truppen auf ihre Seite zu ziehen, blieben weitgehend erfolglos. Vielmehr zeigte sich, dass selbst Einheiten wie die Volksmarinedivision nicht bereit waren, den bewaffneten Aufstand aktiv zu unterstützen. Sie erklärte sich für neutral. Die übrigen in Berlin stationierten Regimenter standen weiterhin mehrheitlich zur Regierung. Während weitere Truppen in seinem Auftrag auf Berlin vorrückten, akzeptierte Ebert ein Angebot der USPD, zwischen ihm und dem Revolutionsausschuss zu vermitteln. Nachdem die Truppenbewegungen und ein SPD-Flugblatt mit dem Titel „Die Stunde der Abrechnung naht“ bekannt wurden, brach der Ausschuss am 8. Januar weitere Verhandlungen ab. Daraufhin befahl Ebert den in Berlin stationierten Truppen, gegen die Besetzer vorzugehen. Vom 9. Januar an schlugen sie deren improvisierten Aufstandsversuch gewaltsam nieder. Am 12. Januar rückten zudem die seit Anfang Dezember aufgestellten republikfeindlichen Freikorps in die Stadt ein. Nachdem sie mehrere Gebäude brutal geräumt und die Besetzer standrechtlich erschossen hatten, ergaben sich die übrigen rasch. Ein Teil von ihnen wurde dennoch ebenso erschossen. Diesem Vorgehen fielen in Berlin 156 Menschen zum Opfer. Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Die angeblichen Drahtzieher des Januaraufstands mussten untertauchen, weigerten sich aber trotz dringender Bitten ihrer Genossen, Berlin zu verlassen. Am Abend des 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in einer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf verhaftet und an Hauptmann Waldemar Pabst, den Anführer der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, im Hotel Eden übergeben. Er ließ sie verhören, wobei sie misshandelt wurden, und plante mit seinen Offizieren ihre Ermordung. Gegen Mitternacht wurden beide nacheinander mit einem PKW aus dem Hotel abtransportiert. Am Hotelausgang schlug der Soldat Otto Wilhelm Runge beide zuvor fast bewusstlos. Unterwegs erschoss der Marineoffizier Horst von Pflugk-Harttung Karl Liebknecht und der Leutnant Hermann Souchon Rosa Luxemburg. Kurt Vogel, ebenfalls ein Offizier der Schützendivision, ließ Liebknechts Leiche einer Polizeiwache übergeben und die von Rosa Luxemburg in den Landwehrkanal werfen, wo sie erst am 31. Mai 1919 gefunden wurde. Pabst stellte die Taten in einer Presseerklärung als Lynchmorde unbekannter Täter dar. Paul Jorns, ein von der Schützendivision selbst ausgewählter Militärrichter, sprach im Juni 1919 Harttung frei und verurteilte Runge zu zwei, Vogel zu zweieinhalb Jahren Haft. Pabst und Souchon dagegen wurden weder verfolgt noch angeklagt. Noske ließ die Revisionsverfahren gegen Runge und Vogel einstellen. Nach 1933 entschädigten die Nationalsozialisten Runge für Haft und Strafverfolgung und überführten die Gardekavallerie in die SA. Souchons Beteiligung an dem Mord wurde erst 1968 bekannt und 1992 nachgewiesen. Der Neffe von Wilhelm Souchon, dem Gouverneur von Kiel während des Matrosenaufstands, hat die Tat stets geleugnet und wurde nie bestraft. Pabst gab nach dem Zweiten Weltkrieg an, Noske habe seinen Mordbefehl telefonisch gebilligt. In seinem später entdeckten Tagebuch hatte er 1969 notiert, die SPD-Führung habe ihn gedeckt und seine Strafverfolgung vereitelt. Die Freikorps wurden nach der Niederschlagung des Januaraufstands zu einem bleibenden Machtfaktor. Schwerer wog auf lange Sicht, dass die Morde vom 15. Januar sowie deren mangelnde Aufklärung und Verfolgung den Bruch zwischen SPD auf der einen sowie USPD und KPD auf der anderen Seite verschärften. SPD und KPD konnten sich in der Weimarer Republik nie mehr auf ein gemeinsames Handeln verständigen, zumal die KPD nach der Ermordung ihrer Gründer in Abhängigkeit von der Komintern und ihren ideologischen Vorgaben geriet. Die seit 1919 bestehende Spaltung der Linken trug wesentlich zum späteren Aufstieg des Nationalsozialismus bei. Weitere Aufstände und Generalstreiks In den ersten Monaten des Jahres 1919 folgten in mehreren deutschen Regionen weitere Aufstände, Generalstreiks und Versuche, eine Räterepublik zu gründen. Noske entschied Ende Januar, gegen die Bremer Räterepublik gewaltsam vorzugehen. Trotz eines Verhandlungsangebots der Gegenseite befahl er den Freikorpsverbänden, in die Stadt einzumarschieren. Bei den folgenden Kämpfen kamen etwa 400 Menschen ums Leben. Als Reaktion darauf kam es in Berlin, Sachsen, Oberschlesien, im Rheinland und im Ruhrgebiet zu Massenstreiks. Einige davon zielten darauf ab, die Revolution weiterzutreiben, etwa mit der Sozialisierungsbewegung im Ruhrgebiet. In Berlin begann am 4. März ein Generalstreik, zu dem die Arbeiterräte aufgerufen hatten, um die Anerkennung und dauerhafte Etablierung der Räte, eine demokratische Militärreform und Sozialisierungen durchzusetzen. Rund eine Million Beschäftigte beteiligten sich daran und brachten das Wirtschaftsleben und den Verkehr fast vollständig zum Erliegen. Als Militär intervenierte, wurde die Ausdehnung des Streiks auf die Versorgungsbetriebe beschlossen. Daran zerbrach die bis dahin weitgehend geschlossene Streikfront, und es kam gegen den Willen der Streikleitung erneut zu Straßenkämpfen. Auf Ersuchen der preußischen Regierung, die mittlerweile den Belagerungszustand erklärt hatte, setzte Noske Truppen gegen die Streikenden und die Volksmarinedivision ein. Sie töteten bis zum 16. März mindestens 1.200 Menschen, darunter viele Unbewaffnete, völlig Unbeteiligte und 29 Angehörige der Volksmarinedivision. Letztere wurden willkürlich exekutiert, da Noske befohlen hatte, jeden standrechtlich zu erschießen, der mit einer Waffe angetroffen werde. Auch in Hamburg und Sachsen-Gotha kam es zu bürgerkriegsähnlichen Situationen. Die Münchner Räterepublik hielt sich bis zum 2. Mai 1919, als preußische, württembergische und Freikorps-Truppen sie mit ähnlichen Gewaltexzessen wie in Berlin und Bremen beendeten. Nach heutigem Forschungsstand lag die Errichtung eines bolschewistischen Rätesystems in Deutschland seit Beginn der Revolution nie im Bereich des Wahrscheinlichen, zumal die demokratisch eingestellten SPD- und USPD-Anhänger, aus denen sich die Räte mehrheitlich zusammensetzten, eine Diktatur ohnehin ablehnten. Dennoch glaubte sich die Regierung Ebert von einem Umsturzversuch der radikalen Linken bedroht und ging das Bündnis mit der Obersten Heeresleitung und den Freikorps ein. Deren brutales Vorgehen während der verschiedenen Aufstände hat viele linke Demokraten der SPD entfremdet. Sie betrachteten das Verhalten Eberts, Noskes und anderer SPD-Führer während der Revolution als Verrat an ihren eigenen Anhängern. Nationalversammlung und neue Reichsverfassung Am 19. Januar 1919 fanden die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung statt, die ersten in Deutschland, für die auch das Frauenwahlrecht galt. Dabei zeigte sich, dass der Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Republik von einer überwältigenden Mehrheit der Deutschen getragen wurde. Die SPD ging mit 37,4 Prozent der Stimmen als mit Abstand stärkste Partei aus den Wahlen hervor und stellte 165 der 423 Abgeordneten. Die USPD kam nur auf 7,6 Prozent und 22 Abgeordnete. Sie gewann nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 zwar vorübergehend noch einmal an Bedeutung, löste sich aber 1922 auf. Zweitstärkste Kraft wurde mit 19,7 Prozent der Stimmen die Zentrumspartei, die mit 91 Abgeordneten in die Nationalversammlung einzog. Die liberale DDP errang 18,5 Prozent und 75 Sitze. Die nationalliberale DVP kam mit 4,4 Prozent auf 19 und die konservativ-nationalistische DNVP mit 10,3 Prozent auf 44 Mandate. Die KPD hatte, entgegen dem Rat Rosa Luxemburgs, nicht an den Wahlen teilgenommen. Um den revolutionären Nachwirren in Berlin zu entgehen, trat die Nationalversammlung am 6. Februar in Weimar zusammen. Sie richtete eine vorläufige Verfassungsordnung ein und wählte am 11. Februar Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten. Dieser ernannte am 13. Februar eine Regierung unter Philipp Scheidemann als Reichsministerpräsident. Sie wurde von der sogenannten Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP gestützt. Damit hatte Deutschland wieder eine legitime, nachrevolutionäre Regierung. Die neue Weimarer Verfassung, die das Deutsche Reich zu einer demokratischen Republik machte, wurde mit den Stimmen von SPD, Zentrum und DDP verabschiedet und am 11. August 1919 vom Reichspräsidenten unterzeichnet. Sie stand in der liberalen und demokratischen Tradition des 19. Jahrhunderts und übernahm Gedanken aus der Paulskirchenverfassung des Jahres 1849. Jedoch blieben zentrale Forderungen der Novemberrevolutionäre wegen der Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung unerfüllt: Die Sozialisierung der Montanindustrie und die Demokratisierung des Offizierskorps, die schon der Kieler Arbeiter- und Soldatenrat gefordert und der Reichsrätekongress eingeleitet hatte, blieben ebenso aus wie die Enteignung von Großbanken, Großindustrie und adeligem Großgrundbesitz. Anstellung und Rentenansprüche von kaiserlichen Beamten und Soldaten wurden ausdrücklich geschützt. Die Weimarer Verfassung enthielt einerseits mehr Möglichkeiten direkter Demokratie als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, z. B. Volksbegehren und Volksentscheid; andererseits räumte der Notverordnungs-Artikel 48 dem Reichspräsidenten weitreichende Vollmachten ein, auch gegen die Reichstagsmehrheit zu regieren und notfalls das Militär im Innern einzusetzen. Dieser Artikel erwies sich 1932/33 als ein entscheidendes Mittel zur Zerstörung der Demokratie. Rezeption Die Novemberrevolution ist eines der wichtigsten Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte, im historischen Gedächtnis der Deutschen aber kaum verankert. Das Scheitern der aus ihr hervorgegangenen Weimarer Republik und die darauf folgende Zeit des Nationalsozialismus haben den Blick auf die Ereignisse an der Jahreswende 1918/19 lange Zeit verstellt. Ihre Deutung wird bis heute mehr von Legenden als von Tatsachen bestimmt. So nährten sowohl die radikale Rechte als auch die radikale Linke – unter jeweils umgekehrten Vorzeichen – die Vorstellung, es habe damals einen kommunistischen Aufstand gegeben mit dem Ziel, Deutschland in eine Räterepublik nach sowjetrussischem Vorbild zu verwandeln. Auch die Parteien der demokratischen Mitte, besonders die SPD, hatten lange Zeit wenig Interesse an einer gerechten Beurteilung der Ereignisse, die Deutschland zur Republik machten. Denn bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich als eine von Sozialdemokraten getragene Revolution, die von den sozialdemokratischen Parteiführern gestoppt wurde. Dass die Weimarer Republik sich als schwache Demokratie erwies und schon 14 Jahre später wieder unterging, hat auch mit diesem und anderen Geburtsfehlern während der Novemberrevolution zu tun. Von großer Bedeutung war die Tatsache, dass die kaiserliche Regierung und die Oberste Heeresleitung sich frühzeitig der Verantwortung entzogen und die Bewältigung der von ihnen verschuldeten Niederlage im Ersten Weltkrieg den Mehrheitsparteien des Reichstags aufbürdeten. Welches Kalkül dahinter steckte, belegt ein Zitat aus der Autobiografie des Ludendorff-Nachfolgers Groener: Die Republik war vom Zeitpunkt ihrer Geburt an mit dem Makel der Kriegsniederlage behaftet. Ein Großteil des Bürgertums und der alten Eliten aus Großindustrie, Großlandwirtschaft, Militär, Justiz und Verwaltung akzeptierten die neue Staatsform nie, sondern sahen in der demokratischen Republik ein Gebilde, das bei erster Gelegenheit wieder beseitigt werden sollte. So musste das Preußische Innenministerium am 27. März 1920 eigens einen Erlass herausgeben, der vorgab, die Symbole der Monarchie – einschließlich der Kaiserbilder – aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Auf der Linken dagegen trieb das Verhalten der SPD-Führung während der Revolution viele ihrer einstigen Anhänger den Kommunisten zu. Die gebremste Novemberrevolution führte nach Ansicht von Kurt Sontheimer dazu, dass die Weimarer Republik eine „Demokratie ohne Demokraten“ blieb. Die historische Forschung fand – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erst seit den 1960er Jahren zu einer ausgewogenen Beurteilung der Novemberrevolution. Urteile von Zeitzeugen Die Zeitgenossen beurteilten die Novemberrevolution je nach politischer Überzeugung höchst unterschiedlich. Dies verdeutlichen Äußerungen, die zum Teil während oder unmittelbar nach den Ereignissen des Novembers 1918, zum Teil aus der Rückschau erfolgten. Eher unaufgeregt und mit einer gewissen Erleichterung registrierte der evangelische Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch, wie das Gros der Berliner Bürger den 10. November wahrnahm: Der liberale Publizist Theodor Wolff zeigte sich in einem Artikel, der an eben jenem 10. November im Berliner Tageblatt erschien, überaus optimistisch, was den Erfolg der Revolution anging: Völlig entgegengesetzt nahm wiederum die äußerste Rechte die Ereignisse wahr. In völliger Verkennung oder bewusster Umdeutung der Handlungsweise Ludendorffs schrieb der Journalist Paul Baecker in der konservativen Deutschen Tageszeitung am 10. November einen Beitrag, der bereits wesentliche Elemente der Dolchstoßlegende enthielt, wie sie später auch von Adolf Hitler und den Nationalsozialisten verbreitet wurde: Im Gegensatz dazu hielt Harry Graf Kessler die Revolution bereits im September 1919 für gescheitert:. Was Kessler Unfähigkeit nannte, das betrachtete der Publizist Kurt Tucholsky in einem Artikel zum 10. Jahrestag der Revolution wiederum als Verrat durch die führenden Mehrheitssozialdemokraten. Völlig konträr zur extremen Rechten meinte er damit jedoch nicht Verrat an Deutschland, sondern an der Revolution. In „November-Umsturz“ schrieb er 1928: Ähnlich äußerte sich der Liberale Walter Rathenau. Er nannte die Novemberrevolution eine „Enttäuschung“, ein „Zufallsgeschenk“, ein „Verzweiflungsprodukt“, eine „Revolution aus Versehen“. Sie verdiene diesen Namen nicht, da sie „die eigentlichen Missstände nicht beseitigt“ habe, sondern „in einen entwürdigenden Interessenkampf ausgeartet“ sei. Weiter: Historische Forschung Während der NS-Zeit konnten die in den 1930er und 1940er Jahren im Ausland und von Emigranten veröffentlichten Arbeiten zur Weimarer Republik und zur Novemberrevolution in Deutschland nicht rezipiert werden. Dies gilt etwa für die 1935 erstmals erschienene Geschichte der Weimarer Republik von Arthur Rosenberg. Aus seiner Sicht war die politische Situation zu Beginn der Revolution noch offen: Die gemäßigt sozialistisch und demokratisch gesinnte Arbeiterschaft habe durchaus die Chance gehabt, zum eigentlichen sozialen Träger der Republik zu werden und die konservativen Kräfte zurückzudrängen. Gescheitert sei dies zum einen an den Fehlentscheidungen der SPD-Führer, zum anderen an der vom äußersten linken Flügel der Arbeiterbewegung betriebenen Revolutionsstrategie. Traditionelle Sichtweisen bürgerlicher und marxistischer Historiker Nach 1945 konzentrierte sich die westdeutsche Forschung zur Geschichte der Weimarer Republik vor allem auf deren Ende. So ignorierte Theodor Eschenburg 1951 noch weitgehend den revolutionären Beginn der Republik. Auch Karl Dietrich Bracher stellte die Novemberrevolution 1955 in eine Perspektive mit dem Ende der Republik. Wie wenig die Revolution nach 1945 in damaligen Gesamtdarstellungen beachtet wurde, zeigt z. B. Erich Eyck: Er widmete den Ereignissen in seiner zweibändigen Geschichte der Weimarer Republik nur knapp 20 Seiten. Ähnliches gilt auch für Karl Dietrich Erdmanns Beitrag zur 8. Auflage des Gebhardtschen Handbuchs zur Deutschen Geschichte. Dennoch dominierte die Sicht dieses Autors die Interpretation der Novemberereignisse nach 1945. Danach sei es 1918/19 um die Wahl zwischen der „sozialen Revolution im Bund mit den auf die proletarische Diktatur hindrängenden Kräfte oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Elementen wie dem deutschen Offizierskorps“ gegangen. Die drohende „Rätediktatur“ habe die Mehrheitssozialdemokratie also gezwungen, ein Bündnis mit den alten Eliten einzugehen. Die Schuld für das Scheitern von Weimar habe damit letztlich bei der äußersten Linken gelegen. Folgt man dieser Sichtweise, waren die Ereignisse von 1918/19 ein erfolgreicher Abwehrkampf der Demokratie gegen den Bolschewismus. Diese Interpretation ging von der Annahme aus, dass die äußerste Linke vergleichsweise stark gewesen sei und tatsächlich eine Bedrohung für eine demokratische Entwicklung dargestellt habe. Kolb hält es für eine Ironie der Geschichte, dass sich viele konservative und liberale Historiker in diesem Punkt mit der marxistischen Geschichtsschreibung einig waren, die vor allem dem Spartakusbund ein erhebliches revolutionäres Potenzial zuwies. Diese übereinstimmende Einschätzung der extremen Linken führte aber zu völlig gegensätzlichen Bewertungen der Rolle der Mehrheits-SPD: Sprachen die meisten Historiker in der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit sie vom Odium der Novemberverbrecher frei, warf ihnen die DDR-Historiografie „Verrat an der Arbeiterklasse“ und der USPD-Führung Unfähigkeit vor. Ihre Interpretation folgte im Wesentlichen der traditionellen Haltung der KPD nach 1919 und den Thesen des Zentralkomitees der SED von 1958. Danach blieb die Novemberrevolution „ihrem Charakter nach eine bürgerlich-demokratische Revolution, die in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde.“ Dass es in Deutschland trotz der „vorhandenen objektiven Bedingungen“ nicht zu einer Revolution der Arbeiterklasse gekommen sei, wurde auf den „subjektiven Faktor“ und insbesondere das Fehlen einer „marxistisch-leninistischen Kampfpartei“ zurückgeführt. Die Gründung der KPD erklärte man folgerichtig zum entscheidenden Wendepunkt der deutschen Geschichte. Abweichend von der offiziellen Parteilinie vertrat jedoch Rudolf Lindau die These, es habe sich um eine in der Tendenz sozialistische Revolution gehandelt. Trotz aller ideologischen Voreingenommenheit hat die Forschung in der DDR die Detailkenntnisse im Bereich der Novemberrevolution erweitert. Neubewertungen seit den 1960er Jahren Seit Beginn der 1960er Jahre verlagerte sich der Schwerpunkt der westdeutschen Forschung zur Weimarer Republik hin zu deren revolutionären Anfängen. Dahinter stand die Erkenntnis, dass für ihr Scheitern die Entscheidungen und Entwicklungen während der Novemberrevolution eine zentrale Rolle gespielt haben. In den Vordergrund des Interesses rückten vor allem die Arbeiter- und Soldatenräte, deren Erscheinungsbild als angeblich linksextremer Bewegung nun weitgehend revidiert wurde. Autoren wie Ulrich Kluge, Eberhard Kolb, Reinhard Rürup und andere argumentierten, die soziale Basis für eine demokratische Umgestaltung der Gesellschaft sei in den ersten Wochen der Revolution viel breiter gewesen als bis dahin angenommen. Zudem sei das Potenzial der extremen Linken objektiv schwächer gewesen, als etwa die mehrheitssozialistische Führung vermutet habe. Da der „Bolschewismus“ keine reale Gefahr dargestellt habe, sei auch der Handlungsspielraum des Rats der Volksbeauftragten – gestützt auch auf die noch reformorientierten Räte – zur konsequenten Demokratisierung von Verwaltung, Militär und Gesellschaft relativ groß gewesen. Die Führung der MSPD habe diesen Schritt jedoch nicht getan, weil sie einerseits auf die Loyalität der alten Eliten vertraut, der spontanen Massenbewegung der ersten Revolutionswochen dagegen misstraut habe. Die Folge seien Resignation und die Radikalisierung der Rätebewegung gewesen. Die Veröffentlichung der Protokolle des Rats der Volksbeauftragten untermauerten diese Thesen. Die Geschichte der Revolution erschien nun zunehmend als Geschichte ihrer allmählichen Zurücknahme. Diese Neuinterpretation hat in der Forschung relativ rasch Anhänger gefunden. Weitgehend unstrittig sind bis heute die mit Quellen leicht zu belegenden Forschungen zur Zusammensetzung der Arbeiter- und Soldatenräte. Dagegen wurden die darauf basierenden Interpretationen des Revolutionsgeschehens schon seit dem Ende der 1970er Jahre kritisiert und teilweise modifiziert. Die Kritik richtete sich gegen zum Teil idealisierte Darstellungen der Arbeiter- und Soldatenräte, wie sie speziell innerhalb der 1968er-Bewegung üblich waren. Besonders weit ging in dieser Hinsicht Peter von Oertzen, der eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie als positive Alternative zur bürgerlichen Republik beschrieb. Dagegen betrachtete Wolfgang J. Mommsen die Räte nicht als einheitlich zielgerichtete Demokratiebewegung, sondern als eine heterogene Gruppe mit einer Vielzahl unterschiedlicher Motivationen und Ziele. Beispielsweise waren die meisten Bauern- und Landarbeiterräte antisozialistisch. Sie und die Bürgerräte, die sich den Arbeiter- und Soldatenräten häufig anschlossen, fanden bis heute wenig Beachtung. Jesse und Köhler sprachen sogar von der „Konstruktion einer [demokratischen] Rätebewegung“. Allerdings schlossen auch diese Autoren einen „Rückfall in die Positionen der fünfziger Jahre“ aus: Weder waren die Räte überwiegend kommunistisch orientiert, noch lässt sich die Politik der Mehrheitssozialdemokraten als in jeder Hinsicht glücklich und rühmenswert kennzeichnen. Nach Kolb und Kluge waren die Chancen, die Republik auf eine breitere Basis zu stellen, während der Novemberrevolution deutlich größer als die angeblichen Gefahren von Seiten der radikalen Linken. Stattdessen habe das Bündnis der Mehrheitssozialdemokraten mit den alten Eliten für die Weimarer Republik zumindest auf mittlere Sicht ein erhebliches Strukturproblem dargestellt. Auch Heinrich August Winkler zufolge bestand zwischen dem 9. November 1918 und dem 19. Januar 1919 die größte reale Chance, die „Erblast des Obrigkeitsstaates“ zu verringern und eine breite gesellschaftliche Zustimmung für die erstrebte parlamentarische Demokratie zu schaffen. Um ein Chaos zu vermeiden, seien die Sozialdemokraten um eine „beschränkte Zusammenarbeit mit den Trägern des alten Regimes“ zwar nicht herumgekommen, hätten diese aber erheblich intensiver gestaltet als nötig: Die Sozialdemokraten hätten bei stärkerem politischem Gestaltungswillen mehr verändern können und weniger bewahren müssen…Die sozialen Grundlagen der Republik zu sichern, bevor sich ihre Gegner sammeln konnten: Dafür sprachen in der Tat historische Erfahrung und politische Vernunft. Ebert und die SPD-Vertreter in der provisorischen Reichsregierung hätten den Sachverstand der alten Eliten nutzen wollen und auf deren Loyalität gehofft. Darum sei besonders die von den Räten begonnene Sozialisierung des Steinkohlenbergbaus sowie die Demokratisierung des Militärs und der Beamtenschaft nicht fortgesetzt, sondern verhindert worden. Winkler stimmt der Selbstkritik Rudolf Hilferdings vom September 1933 zu, der darin entscheidende Fehler der SPD gesehen hatte, die Hitlers Aufstieg ermöglicht hätten. Diese Einschätzung aus dem Jahr 1990 modifizierte Winkler zehn Jahre später in Der lange Weg nach Westen. Danach wäre die Geschichte wohl auch dann nicht radikal anders verlaufen, wenn die Sozialdemokraten weniger als Konkursverwalter eines Obrigkeitsstaats denn als Gründerväter einer Demokratie agiert hätten: Die Übergangsregierung konnte nicht ganze Gesellschaftsklassen auswechseln. Hätte sie es versucht, wäre daraus der Bürgerkrieg erwachsen, der den Sozialdemokraten aus guten Gründen als das größte aller Übel erschien und der mit Sicherheit kein Mittel war, eine Demokratie hervorzubringen. Ebert habe das klarer erkannt als die radikalen Linken wie Rosa Luxemburg, für die Bürgerkrieg nur ein anderer Name für Klassenkampf gewesen sei. Neue Ansätze aus jüngster Zeit Seit etwa 2008 setzt die lange vernachlässigte Revolutionsforschung vermehrt neue Akzente. Von Alexander Gallus herausgegebene Arbeiten greifen neue Forschungsansätze zur Gender- und Kulturgeschichte auf und erweitern damit den bisher üblichen, auf Politik- und Organisationsgeschichte gerichteten Blickwinkel. Weitere neuere Publikationen stellen die Vorgänge im November 1918 in einen größeren zeitlichen und geografischen Kontext und vermeiden deshalb den Ausdruck „Novemberrevolution“. In seiner umfangreichen Darstellung der zweiten Revolutionsphase in Berlin betont Axel Weipert, dass auch 1919 und 1920 noch eine breitgefächerte, revolutionäre Rätebewegung aktiv gewesen sei. Diese habe neben den Arbeiterräten auch Schüler- und Erwerbslosenräte, die Berliner Betriebsrätezentrale und andere Gruppierungen umfasst und sich stark in den Generalstreiks des Frühjahrs 1919 und im Kampf um das Betriebsrätegesetz engagiert. Sie habe zeitweise erheblichen Einfluss auf Gewerkschaften und linke Parteien ausgeübt und sich auch nach dem Kapp-Putsch um den Neuaufbau revolutionärer, basisdemokratischer Räte bemüht. Über Richard Müller, den Vorsitzenden des Vollzugsrats des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin und damit eine zentrale Figur der Rätebewegung, liegt seit 2008 eine Biografie von Ralf Hoffrogge vor. Literatur Quellen Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte. Zentralrat der sozialistischen Republik Deutschlands. (Berlin 1919) Nachdruck: Fb&c Limited, 2018, ISBN 0-666-94523-3. Ernst Drahn, Ernst Friedegg (Hrsg.): Deutscher Revolutions-Almanach für das Jahr 1919 über die Ereignisse des Jahres 1918. Hoffmann und Campe, Hamburg/ Berlin 1919 (Digitalisat im Internet Archive). Eduard Bernstein: Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Verlag für Gesellschaft und Erziehung, Berlin-Fichtenau 1921. Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik. Die Novemberrevolution. (Berlin 1924/25) Nachdruck: Olle & Wolter, 1976, ISBN 3-921241-06-5 und Die Buchmacherei 2011, ISBN 978-3-00-035400-7. Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente. (1927) Severus, 2011, ISBN 3-86347-110-5. J. Thomas: Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution. Internationaler Arbeiter-Verlag, Berlin 1929. 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Jahrhundert) Politik 1918 Konflikt 1918 Politik 1919 Konflikt 1919
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Eiger-Nordwand
Die Eiger-Nordwand ist eine der grossen Nordwände der Alpen. Der Eiger () gehört zu den Berner Alpen, seine Nordwand ist über 1800 Meter hoch. Mit einer Länge von bis zu vier Kilometern zählen die Kletterrouten durch die Wand zu den längsten und anstrengendsten der Alpen; die Gefährdung durch Steinschlag und Lawinen ist gross. Bekannt wurde die Wand vor allem durch dramatische Durchsteigungs­versuche und Durchsteigungen. Zum öffentlichen Interesse trug auch bei, dass die Wand von Grindelwald und noch besser von der per Bahn erreichbaren Kleinen Scheidegg direkt einsehbar ist. Bei einem Besteigungsversuch 1935 starben Max Sedlmayr und Karl Mehringer. Beim Besteigungsversuch 1936 starben alle vier Bergsteiger einer Seilschaft aus Österreich und dem Deutschen Reich. 1938 gelang einer Vierer­seilschaft mit Anderl Heckmair, Heinrich Harrer, Ludwig Vörg und Fritz Kasparek die Erstbegehung. Die Erstdurchstei­gungsversuche zur Zeit des Nationalsozialismus wurden wegen ihrer politischen Ausrichtung und ihres relativ neuen, in den Westalpen noch nicht etablierten Kletterstils stark kritisiert. Mittlerweile führen mehr als 30 auch untereinander verbundene Routen durch die Wand, deren Begehung teilweise die Beherrschung des sehr hohen Schwierig­keitsgrads Zehn (X) verlangt. Heute gelingt es Spitzenalpinisten, die Nordwand bei günstigen Witterungsbedingungen innerhalb weniger Stunden zu durchsteigen. Seit November 2015 liegt der Rekord über die Heckmair-Route bei 2 Stunden, 22 Minuten und 50 Sekunden, bis heute gehalten von dem Schweizer Extrembergsteiger Ueli Steck. Die Erstbesteiger brauchten mehr als drei Tage. Lage und Umgebung Der Eiger erhebt sich südwestlich von Grindelwald (Amtsbezirk Interlaken des Kantons Bern). Er liegt in den Schweizer Alpen und ist Teil der Berner Alpen. Die berühmte Nordseite des Eigers bilden die Nordostwand und die Nordwand, die genaugenommen eine Nordwestwand ist. Dazwischen befindet sich der Nordpfeiler. Der Mittellegigrat begrenzt die Nordostwand nach Osten und die Nordwand endet im Westgrat. Am Fusse der Nordseite des Eigers verläuft die Grenze des UNESCO-Weltnaturerbes Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn. Im Fels hinter der Nordwand führen Teile des Grossen Tunnels der Jungfraubahn auf das Jungfraujoch. In der Wand befindet sich die Aussichts­galerie der Station Eigerwand. Wie der ganze Eiger ist die Wand aus Kalkstein des helvetischen Systems aufgebaut. Die Sedimente bilden wechselnde Schichten von Schrattenkalk, Mergel und Tonschiefer und fallen mit 60 bis 70 Grad nach Norden ab. Die Schichtung zeigt sich am Äusseren der Nordwand. Geschichte der Nordwandbegehungen Die Eiger-Nordwand wurde von vielen berühmten Bergsteigern wie Gaston Rébuffat, Hermann Buhl, Kurt Diemberger oder Reinhold Messner durchstiegen. Den Beinamen Mordwand erhielt sie Mitte der 1930er Jahre, nachdem zwei ernsthafte Durchstiegs­versuche tödlich geendet hatten. Bisher sind in und an der Nordwand über 70 Bergsteiger ums Leben gekommen, zudem mussten viele weitere unter teils enormem Personal- und Material­aufwand gerettet werden. Zwei Kletterer werden noch vermisst. Bei einem ist fraglich, ob er überhaupt in die Wand eingestiegen ist – von ihm wurde nur das Zelt am Wandfuss gefunden. Vorbemerkungen Ein britischer Bergsteiger schrieb in einem 1864 erschienenen Buch zur Eiger-Nordwand: Unter Alpinisten wird der Begriff «Nordwand» häufig mit besonderen Schwierigkeiten und Gefahren assoziiert. In den Alpen weisen steile Wände nur bei nordseitiger Ausrichtung grössere Verglet­scherungen auf. Durch die fehlende Sonnenein­strahlung dauert es auch länger, bis nach einem Wettersturz die Vereisungen an den felsigen Abschnitten abtauen. In Wänden wie der Eiger-Nordwand löst frisch gefallener Schnee durch die Steilheit bereits bei relativ geringen Neuschneemengen Lawinen aus. Die Eiger-Nordwand wurde von vielen Bergsteigern als eines der «letzten Probleme» der Alpen betrachtet, vor allem nach der geglückten Begehung anderer Nordwände (Matterhorn und Grandes Jorasses). Im halbrunden Wandaufbau können sich extreme Stürme entwickeln und die Temperaturen auf bis zu −40 °C fallen. Dies passiert auch bei klarem Himmel in der Umgebung der Wand. Auch bei Einbruch einer typischen Kaltfront aus Nordwesten stellt die Nordseite des Eigers das erste hohe Hindernis dar, und das Wettergeschehen der Front ist hier besonders intensiv. Die Material­entwicklung im alpinen Ausrüstungs­bereich hat entscheidend zur Machbarkeit der Eiger-Nordwand beigetragen. Steigeisen mit bis zu zehn Zacken wurden bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet. Erst mit den seit 1938 verfügbaren zwölfzackigen Modellen wurden Touren im steilen Eis möglich. Bei Verwendung solcher Eisen erübrigte sich das kraftraubende Stufenschlagen im Eis. Allerdings waren zwölfzackige Steigeisen damals sehr teuer. Seit 1911 wurden neben dem Kletterseil auch Fels- und Karabinerhaken verwendet. Erst die damit verbundene Sicherung über Fixpunkte ermöglichte einen Sicherheits­standard, der die Durchsteigung schwerer Wände erlaubte. Trotz dieser Verbesserungen blieb das Klettern gefährlich; die Sicherungen waren trügerisch. Da das Seil damals ohne Klettergurt um den Körper gebunden wurde, kam es bei grossen Stürzen meist zu schweren inneren Verletzungen. Versuche und Erstdurchsteigung Die ersten dokumentierten Ambitionen, die Wand zu durchsteigen, werden dem Ramsauer Bergführer Johann Grill zugeschrieben. Als dieser 1883 mit seinem Gast John P. Farrar auf dem Weg zu einer Jungfrau-Überschreitung war, faszinierte ihn die Wand so sehr, dass er nur mit Mühe von einem Einstieg abgehalten werden konnte. Erstmals in der Wand geklettert wurde 1911. Der Grindelwalder Bergführer Christen Almer und sein Zermatter Kollege Joseph Schaler stiegen mit dem Engländer P. H. Thorp von der Kleinen Scheidegg bis unterhalb der Station Eigerwand, von wo sie mit Hilfe eines Seils nach oben gezogen wurden. Am 20. August 1932 gelang den Schweizern Hans Lauper und Alfred Zürcher mit den Bergführern Josef Knubel aus St. Niklaus und Alexander Graven aus Zermatt die Erstbegehung der Nordostwand in einem Tag ohne künstliche Hilfsmittel. Heinrich Harrer spricht diesbezüglich von der letzten grossen Erstbegehung im klassischen Stil, die der Pickel der besten Schweizer Bergführer eröffnet hatte. Diese erste Route durch die Eiger-Nordostwand ist heute unter dem Namen Lauper-Route bekannt. Die Route führt über 55 Grad steile Eisfelder und weist Kletter­schwierig­keiten von V auf. Der erste ernsthafte Durchsteigungs­versuch der Eiger-Nordwand durch die Münchner Max Sedlmayr und Karl Mehringer im August 1935 endete in einer Tragödie. Die beiden hatten eine direkte Route gewählt und erreichten am zweiten Tag das zweite Eisfeld, wo sie von einem Wettersturz überrascht wurden. Drei Tage später wurden die Bergsteiger noch im Bereich des Bügeleisens gesichtet, ehe sich ihre Spur verlor. Versuche von Bergrettern und erfahrenen Alpinisten, die in Not geratenen Münchner zu erreichen, scheiterten in den Folgetagen an den vereisten Felsen und dem Neuschnee. Einen Monat später entdeckte die Besatzung eines Flugzeuges einen der leblosen Körper auf Höhe des dritten Eisfeldes; diese Stelle trägt seitdem den Namen „Todesbiwak“. Eine Besonderheit war zudem die Tatsache, dass eine Bergtragödie erstmals von Schaulustigen mit Fernrohren beobachtet worden war. Der nächste Erstbegehungs­versuch fand im Juli 1936 durch Anderl Hinterstoißer und Toni Kurz sowie Willy Angerer und Edi Rainer statt, welche als getrennte Zweierseil­schaften in eine Route eingestiegen waren, die von Angerer und Rainer westlich der Route Sedlmayr/Mehringer erkundet worden war. Im Laufe des Aufstiegs schlossen sich die Seilschaften zusammen und erreichten das erste Eisfeld durch einen von Hinterstoißer eröffneten Quergang, welcher heute noch seinen Namen trägt. Am nächsten Tag wurden die Kletterer noch beim Queren des zweiten Eisfeldes beobachtet, ehe sich die Sicht verschlechterte. Am dritten Tag befanden sich die vier Bergsteiger noch immer auf Höhe des Bügeleisens bzw. des zweiten Eisfeldes, ehe die Beobachter im Tal feststellten, dass sich die Bergsteiger im Abstieg befanden. Zudem konnte durch die Fernrohre festgestellt werden, dass einer von ihnen verletzt sein musste. Im Abstieg gerieten die vier Kletterer in ein Unwetter und wurden vermutlich von einer Lawine erfasst, welche nur Toni Kurz überlebte. Aufgestiegene Bergretter konnten Kurz nicht erreichen und mussten ihn über Nacht in der Wand belassen. Am nächsten Tag starb Toni Kurz bei dem kräfteraubenden Versuch, sich zu den Rettern abzuseilen. Die Bergung der Verunfallten dauerte bis zum Sommer nächsten Jahres, wobei auch der Körper von Sedlmayr gefunden wurde. Drei Tage nach dem Tod der Bergsteiger erliess die Regierung des Kantons Bern ein Besteigungsverbot der Eiger-Nordwand. Dieses war rechtlich nicht haltbar und wurde im November 1936 wieder aufgehoben. Die alpinen Rettungsstationen wurden jedoch von ihrer Pflicht zur Hilfeleistung an der Eiger-Nordwand entbunden. Im Juli 1937 erreichten der Salzburger Bertl Gollackner und sein Seilpartner Franz Primas die Eiger-Nordwand. Sie stiegen in die Nordostwand ein, um von dort aus die Nordwand für eine Erstbegehung zu erkunden. Da sie mit einer Rückkehr zum Wandfuss am selben Tag rechneten, waren sie ohne Biwakmaterial und mit nur wenig Proviant unterwegs. Durch die Schwierigkeiten in der Wand, einsetzendes Schlechtwetter und einen Seilsturz von Primas mussten die beiden jeweils eine Nacht in der Wand und am Mittellegigrat verbringen. Beim weiteren Aufstieg starb Gollackner nach zwei weiteren Nächten an Entkräftung, während Primas nach einer weiteren Nacht rund 200 Meter unterhalb des Gipfels von Bergführern gerettet wurde. Mathias Rebitsch versuchte im August 1937 zusammen mit Ludwig Vörg, die Eiger-Nordwand zu durchsteigen. Sie gelangten einige Seillängen über das Todesbiwak und mussten nach einem Wettersturz den Rückzug antreten. Dies war der erste erfolgreiche Rückzug aus grosser Wandhöhe, nachdem sie sich dort vom 11. bis 14. August aufgehalten hatten. Zu Hilfe kam ihnen, dass sie im Hinterstoißer-Quergang ein Seil zurückgelassen hatten. Im Juni 1938 stürzten die Italiener Mario Menti und Bortolo Sandri auf Höhe des schwierigen Risses in den Tod, nachdem die beiden von einem Gewitter überrascht worden waren. Die beiden jungen Alpinisten und Arbeiter aus Venetien waren damit bereits die Opfer acht und neun an der Eiger-Nordwand. Die Erstbegehung gelang schliesslich einen Monat später durch Anderl Heckmair und Ludwig Vörg, sowie Fritz Kasparek und Heinrich Harrer. Die beiden Seilschaften waren getrennt in die Wand eingestiegen. Heckmair und Vörg befürchteten jedoch schlechtes Wetter und stiegen zunächst wieder ab. Neben Harrer und Kasparek war zu diesem Zeitpunkt eine weitere Seilschaft in der Wand, die aber nach einer Verletzung ebenfalls den Rückzug antrat. Am frühen Morgen des 22. Juli stiegen Heckmair und Vörg erneut in die Wand ein und erreichten Harrer und Kasparek bereits zwischen dem zweiten und dritten Eisfeld. Sie profitierten von den bereits geschlagenen Stufen, waren aber auch durch ihre zwölfzackigen Steigeisen schneller – Kasparek verfügte nur über Zehnzacker und Harrer hatte gar keine Steigeisen. Immer noch getrennt kletterten beide Seilschaften weiter, Heckmair übernahm die Führung. Nachdem sie sich mehrfach schon gegenseitig unterstützt hatten, schlossen sich die Seilschaften nach einem gemeinsam überstandenen Lawinenabgang endgültig zusammen. Nach zwei weiteren Biwaknächten und drei gemeinsamen Klettertagen bei schlechter Witterung und unter ständigen Lawinenabgängen wurde um halb vier Uhr in der Nacht zum 24. Juli der Gipfel des Eigers zum ersten Mal über die Nordwand erreicht. Begehungen bis 1959 Im August 1946 erreichten die Schweizer Edwin Krähenbühl und Hans Schlunegger das Rampeneisfeld, ehe sie sich aufgrund eines Wettersturzes am Folgetag zurückzogen. Die erste Wiederholung der Heckmair-Route gelang im Juli 1947 den Franzosen Lionel Terray und Louis Lachenal. Die dritte Begehung unternahmen die Schweizer Hans und Karl Schlunegger mit Gottfried Jermann im August desselben Jahres, wobei sie ab Höhe des Rampeneisfeldes von einem Unwetter begleitet wurden. Im Juli 1950 durchstiegen Leo Forstenlechner und Erich Waschak aus Österreich die Eiger-Nordwand erstmals an einem Tag, als sie die Tour innerhalb von 18 Stunden beendeten. Dabei überholten sie die Schweizer Jean Fuchs, Marcel Hamel, Raymond Monney und Robert Seiler, welche sich einen Tag später die fünfte Begehung sicherten. Im Sommer 1952 ereignete sich ein wahrer Ansturm auf die Eiger-Nordwand, wobei den Franzosen Maurice Coutin und Pierre Julien am 23. Juli die sechste Begehung gelang. Vier Tage später erreichten Josef Larch und Karl Winter aus Österreich in der siebenten Begehung den Gipfel. Am 29. Juli gelang die achte Begehung durch die Seilschaften Hermann Buhl/Sepp Jöchler und Otto Maag/Sepp Maag, sowie den Franzosen Jean Bruneau, Paul Habran, Pierre Leroux, Guido Magnone und Gaston Rébuffat. Die drei Seilschaften hatten sich im oberen Wandteil zusammengeschlossen und trennten sich erst wieder auf dem Gipfeleisfeld. Rébuffat gelangen damit als erstem Alpinisten die drei grossen Nordwände der Alpen. Die neunte Begehung gelang Karl Lugmayer, Hans Ratay und Erich Vanis am 8. August, die zehnte Begehung erfolgte am 15. August durch Karl Blach und Jürgen Wellenkamp. Siegfried Jungmaier und Karl Reiss können sich die elfte Durchsteigung sichern, wobei sie auch einen Begehungsversuch der Wandstufe zwischen Todesbiwak und Spinne unternahmen. Im August 1953 durchstiegen Ueli Wyss und Karlheinz Gonda die Eiger-Nordwand und versuchten dabei auch einen Direktaufstieg vom Bügeleisen zur Spinne. Obwohl sie später am Gipfeleisfeld tödlich verunglückten, wurde ihnen die zwölfte Begehung angerechnet. Fünf Tage später schafften Albert Hirschbichler und Erhard Riedl als dreizehnte Seilschaft den Durchstieg. Im August 1957 ereignete sich das „Corti-Drama“ um die Italiener Claudio Corti und Stefano Longhi sowie die Deutschen Günter Nothdurft und Franz Mayer. Die Italiener waren östlich der Normalroute durch die Wand gestiegen und waren im Bereich des Hinterstoißer-Querganges von den Deutschen eingeholt worden. Die beiden Seilschaften hielten sich nicht entlang der Normalroute, sondern suchten rund 150 Meter über dem Götterquergang einen Übergang zur Spinne, wobei Longhi ins Seil stürzte und auf einem Felsvorsprung festsass. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Italiener schon seit sechs Tagen in der Wand, die Deutschen seit vier. Vor den Ausstiegsrissen wurde Corti noch von Steinschlag getroffen und konnte nicht mehr weiter. Diese Stelle trägt heute noch den Namen „Corti-Biwak“. Die Bergsteiger aus Deutschland wollten Hilfe holen und konnten die Wand durchsteigen, verunglückten jedoch tödlich beim Abstieg und verfehlten die aufsteigenden Rettungskräfte wahrscheinlich nur um Stunden. An Cortis Rettung zwei Tage später waren etwa 70 Alpinisten und Rettungskräfte aus fünf Staaten beteiligt, die Corti mittels eines am Gipfelgrat verankerten Stahlseilgerätes aus der Wand holten und damit die bis dahin erste erfolgreiche Rettung aus der Eiger-Nordwand vollbrachten. Für Stefano Longhi kam zu diesem Zeitpunkt jede Hilfe zu spät. Seine Leiche wurde erst zwei Jahre später unter erheblichem Personal- und Zeitaufwand geborgen. Die Körper von Nothdurft und Mayer wurden erst im September 1961 in der Westflanke aufgefunden. Posthum wurde ihnen die 14. Begehung zuerkannt. Die italienische Erstdurchsteigung gelang erst im August 1962 einer Seilschaft unter Armando Aste. Im August 1958 gelang Kurt Diemberger mit Wolfgang Stefan die 15. Begehung. Lukas Albrecht und Adolf Derungs standen als 16. Seilschaft im August 1959 auf dem Gipfel, gefolgt von Ernst Forrer und Peter Diener im September desselben Jahres. 1960 bis 1969 Ab 1960 begannen Versuche, die Eiger-Nordwand im Alleingang, im Winter, oder auf neuen Routen zu durchsteigen. Lothar Brandler, Jörg Lehne und Siegfried Löw scheiterten im Februar 1960 beim Versuch einer Winter-Erstbegehung, ebenso Josef Larch und Karl Frehsner wenige Tage später. Vom 6. bis zum 12. März 1961 gelang Walter Almberger, Toni Kinshofer, Anderl Mannhardt und Toni Hiebeler die Winter-Erstbegehung der Eiger-Nordwand. Obwohl die Bergsteiger die Wand nicht in einem Zug, sondern im Februar bis zum Stollenloch und nach einem Schlechtwettereinbruch eine Woche später von diesem aus die Tour beendeten, wurde die Begehung anerkannt. Der Tiroler Adi Mayr stürzte bei einem ersten Alleinbegehungsversuch am 28. August 1961 vom Bereich des Wasserfallkamins in den Tod, nachdem er am Vortag den Bereich des Todesbiwaks erreicht und dort übernachtet hatte. Auch zwei weitere Alleinbegehungsversuche im Jahr 1962 endeten tödlich; Der Schweizer Adolf Derungs verunglückte am 31. Juli unterhalb des Hinterstoißer-Querganges, der Österreicher Diether Marchart am 27. August im Bereich des Eisschlauchs. Zudem scheiterte in diesem Jahr auch ein Erstbegehungsversuch durch eine Frau, als die Schweizerin Loulou Boulaz samt Begleitern Michel Darbellay, Yvette Attinger und Michel Vaucher aufgrund Schlechtwetters abbrechen musste. Darbellay gelang dafür vom 2. auf den 3. August 1963 die erste Alleinbegehung der Eiger-Nordwand, nachdem im Juli noch Walter Bonatti auf Höhe des zweiten Eisfeldes gescheitert war. Vom 13. bis 15. August 1962 bestieg der Winter-Erstbegeher Walter Almberger erneut die Eiger-Nordwand und wurde dabei von Klaus Hoi, Hugo Stelzig und Adi Weißensteiner begleitet. Er wurde damit der erste Bergsteiger, der die Eiger-Nordwand im Sommer und Winter bestiegen hatte. Im August 1963 verstarben die beiden Spanier Alberto Rabadá und Ernesto Navarro im Bereich der Spinne, nachdem sie vier Tage zuvor in die Wand eingestiegen und von einem Wettersturz überrascht worden waren. Bei der Bergung der Spanier seilten sich die Schweizer Paul Etter, Ueli Gantenbein und Sepp Henkel im Dezember innerhalb von drei Tagen als erste durch die ganze Nordwand ab. Im Januar 1964 scheiterten Werner Bittner, Rainer Kauschke, Peter Siegert und Gerd Uhner beim viertägigen Versuch einer direkten Route (Direttissima) durch die Nordwand. Vom 1. bis zum 4. September 1964 durchstieg mit Daisy Voog erstmals eine Frau die Eiger-Nordwand. Sie wurde dabei vom beim Direttissima-Versuch beteiligten Werner Bittner geführt. Insgesamt war es die bereits 51. Begehung. Im August 1965 schaffte Mitsumasa Takada unter dramatischen Umständen die japanische Erstbegehung der Heckmair-Route, welche seit Anfang der 1960er Jahre heiss umkämpft war. Nachdem er zusammen mit Tsuneaki Watabe am zweiten Tag auf Höhe des dritten Eisfeldes in ein Unwetter geraten war, mussten sie sich ab dem nächsten Tag durch die vereiste und verschneite Wand kämpfen. In den Ausstiegsrissen waren sie zu einer dritten Übernachtung gezwungen und hatten am vierten Tag bereits die grössten Schwierigkeiten hinter sich, als Watabe unter dem Gipfeleisfeld zu Sturz kam und verletzt im Seil hängen blieb. Takada schaffte die letzten rund 300 Meter ungesichert zum Gipfel und konnte noch in derselben Nacht über die Westflanke absteigen und Hilfe alarmieren. Watabe war jedoch in der Zwischenzeit tödlich abgestürzt; sein Körper wurde im Bereich des Wandvorbaus geborgen. Von Februar bis März 1966 eröffnete eine gemeinsame Seilschaft aus England, den USA und Deutschland eine Direttissima-Route durch die Nordwand und benannte diese nach John Harlin, welcher unterhalb der Spinne einem Seilriss zum Opfer gefallen war und so zum Zusammenschluss der drei getrennt agierenden Seilschaften geführt hatte. Zu den Kletterern zählten Dougal Haston, Siegfried Hupfauer, Jörg Lehne, Chris Bonington, Don Whillans, Günther Strobel und Karl Golikow. Beim ersten Alleingangsversuch dieser Route verschwand der Franzose Roland Trivellini im März 1967 spurlos. Vier Monate später stürzten Fritz Eske, Günter Kalkbrenner, Kurt Richter und Günter Warmuth unterhalb des Hinterstoißer-Quergangs bei schlechten Sichtverhältnissen in den Tod. Die vier hatten sich teilweise seilfrei in der Wand bewegt. Bis 1. September 1967 durchstieg die Französin Christine de Colombel als erst zweite Frau die Wand; begleitet wurde sie von ihrem Landsmann Jack Sangnier. Ein japanisches Team eröffnete von Juli bis August 1969 mit riesigem Materialaufwand eine zweite Direttissima-Route, welche über die teilweise überhängende Rote Fluh verläuft. 1970 bis 1979 Die im August eröffnete „Japaner-Direttissima“ oder auch „Sommer-Direttissima“ wurde bereits im Januar 1970 von den Schweizern Otto von Allmen, Max Dörfliger, Peter Jungen, Hans Müller und Hanspeter Trachsel wiederholt. Ebenfalls im Januar ereignete sich auch die erste Winterrettung aus der Eiger-Nordwand, als mittels Stahlseilgerät der am Bein verletzte Japaner Kenji Kimura aus den Ausstiegsrissen hochgezogen wurde. Im September 1971 gelang die erste Rettung von Kletterern aus der Nordwand mittels Hubschrauber, als der Pilot Günther Amann die beiden Bergsteiger Peter Siegert und Martin Biock vom Rande des zweiten Eisfeldes ausflog. Die Bergsteiger aus Deutschland waren in einen Wettersturz geraten und hatten ihren Essenskocher verloren, waren drei Tage in der Wand und hatten die Rettung durch ihren Abstieg vom Todesbiwak noch unwissentlich erschwert. Im August 1974 stellten Reinhold Messner und Peter Habeler aus Südtirol mit zehn Stunden einen Geschwindigkeitsrekord für Seilschaften in der Heckmair-Route auf und überholten dabei in der Wand drei weitere Seilschaften. Im August 1976 eröffneten die Tschechen Jiří Smíd, Sylva Kysilková, Petr Plachecky und Josef Rybička eine neue Route durch die Nordwand, welche sich westlich der Japaner-Direttissima befindet. Der „Tschechenpfeiler“ zieht im unteren Teil durch die rechte Seite der Roten Fluh und endet als erste Route nicht auf dem Gipfel, sondern bereits auf etwa 3700 m auf dem Westgrat. Die „Tschechenroute II“ entstand von Januar bis Februar 1978 im östlichen Wandteil und geht ebenfalls nicht bis zum Gipfel. Vom 3. bis zum 9. März 1978 schaffte der Japaner Tsuneo Hasegawa die erste Winter-Alleinbegehung der Heckmair-Route und kam damit nur knapp dem Franzosen Ivano Ghirardini zuvor, der in dieser Saison erstmals alle drei grossen Nordwände der Alpen im Winter durchstieg. Im April 1978 scheiterte der Versuch einer Gruppe aus Tschechien, eine neue Direttissima-Route, zwischen den bereits bestehenden, zu eröffnen. Nachdem am 24. April Dieter Smeikal mit schweren Erfrierungen vom zweiten Eisfeld ausgeflogen worden war, stürzten fünf Tage später die Bergsteiger Jiří Pechouš und Jiří Šlégl von oberhalb der Spinne in den Tod. Im August 1979 vollendeten Michel Piola und Gérard Hopfgartner mit dem „Genferpfeiler“ die erste moderne Freikletterroute. 1980 bis 1989 Im Februar 1980 gelang der Vorarlbergerin Claudia Heissenberger als erster Frau die Winterbegehung. Begleitet wurde sie von Wolfgang Loacker, Beat Kammerlander, Dietmar Galehr und dem erst 17-jährigen Wilfried Amann, dem bis dahin jüngsten Nordwanddurchsteiger. 1981 durchstieg der Brite Eric Jones im Alleingang die Heckmair-Route und wurde dabei von Leo Dickinson gefilmt, der von einem Hubschrauber im Bereich des Todesbiwaks abgesetzt worden war. Jones hatte die Nordwand bereits 1970 mit Seilpartnern durchstiegen. Aus dem Filmmaterial entstand die Dokumentation „Eiger Solo“, welche erstmals nahe Einblicke von der Wand und dem Klettern darin ermöglichte. Im August 1981 stellte der Schweizer Ueli Bühler einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf, als er die Heckmair-Route in acht Stunden durchkletterte. Zwei Tage später knackten Marcel Rüedi, Hans Howald und Christel Howald die schwierige, rund 1300 m hohe Nordverschneidung im östlichen Wandteil. Nur einen Tag nach diesem Erfolg durchstieg die Dreierseilschaft auch noch die klassische Heckmair-Route. Im Sommer 1982 entstanden zwei neue Freikletterrouten im westlichen Wandteil durch den Alleingeher Franček Knez („Knez-Route“) sowie die Schweizer Kaspar Ochsner und Urs Brunner („Schlupfloch“). Von März bis April 1983 durchkletterte der Slowake Pavel Pochylý eine Ideal-Direttissima vom Wandfuss bis zum Gipfel, wobei er bis zum zweiten Eisfeld der Route von Mehringer/Sedlmayr aus dem Jahr 1935 und im oberen Teil einer von Tschechen im Jahr 1978 erkundeten Route folgte. Thomas Bubendorfer stellte im Juli 1983 einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf, als er in viereinhalb Stunden durch die Heckmair-Route stieg. Ein paar Tage zuvor hatte er die Route mit Peter Rohrmoser erkundet. Im Juli 1983 entstand zudem eine neue Direttissima-Route durch den westlichen Wandteil, welche auf 1400 Metern über den markantesten Pfeiler oberhalb der Roten Fluh führt. Benannt ist sie nach ihren Begehern, Michel Piola und René Ghilini. Eine weitere schwierige Route durch die Nordwand wurde mit dem „Toni Hiebeler-Gedächtnisweg“ im März 1985 durch die drei Tschechen Jiří Šmíd, Michal Pitelka und Čestmír Lukeš eröffnet. Im Juli 1985 folgte die „Slowenenroute“ im östlichen Wandteil durch Franček Knez, Marjan Frešer und Dani Tič. Im September 1985 konnte Daniel H. Anker als erster im Alleingang die Nordverschneidung vollenden. In der folgenden Zeit konzentrierten sich Alpinisten in der Eiger-Nordwand auf die Wiederholung bereits bekannter Routen. Kleinere Neurouten durch kurze Wandabschnitte fanden weniger Beachtung oder wurden, aufgrund ihrer Kombination mit bereits vorhandenen Routen, nicht als eigenständige Touren anerkannt. Hervorzuheben ist noch die 15-stündige Durchsteigung der Japaner-Direttissima durch Heinz und Ueli Bühler im Februar 1989. 1990 bis 1999 Das Jahrzehnt begann im Januar mit der 27-stündigen Solodurchsteigung der John-Harlin-Direttissima durch den Slowenen Slavko Svetičič. Von Februar bis März 1991 wurde mit der „Métanoïa“ eine neue grosse Nordwandroute durch den Amerikaner Jeff Lowe im Alleingang und ohne Bohrhaken eröffnet; eine Wiederholung dieser schwierigen Tour gelang erst im Dezember 2016 durch die Dreierseilschaft Thomas Huber, Roger Schäli und Stephan Siegrist. Am 10. März 1992 schrieb Catherine Destivelle Alpingeschichte, nachdem sie als erste Frau die Heckmair-Route im Alleingang, im Winter und innerhalb eines Tages durchsteigen konnte. Im Sommer 1994 wurde zudem eine niederländische Seilschaft erstmals mit der Longline-Technik per Hubschrauber aus dem oberen Teil des Genferpfeilers gerettet. Im Januar 1996 erfolgte die erste Nachtrettung aus der Wand, als eine schlecht ausgerüstete Schweizer Seilschaft vom Götterquergang ausgeflogen werden musste. Im Oktober 1997 durchstieg der Italiener Benedetto Salaroli mit 72 Jahren als bis dahin ältester Bergsteiger die Heckmair-Route vom Stollenloch bis zum Gipfel, wobei er von Ueli Bühler und Kobi Reichen geführt wurde. Im September 1999 kletterten für das Fernsehen vor und mit laufenden Kameras die Bergführer Evelyne Binsack, Stephan Siegrist, Hansruedi Gertsch und Ralf Dujmovits durch die Heckmair-Route. „Eiger-Nordwand live“ wurde im Internet übertragen. 2000 bis 2009 Im August 2000 vollendeten Daniel H. Anker und Stephan Siegrist die Route „La vida es silbar“, die bis dahin freiklettertechnisch anspruchsvollste Route durch die Eigernordwand. Die Tour ist etwa 900 Meter hoch und führt vom Stollenloch über die Rote Fluh und den Tschechenpfeiler auf den Westgrat. Anker und Siegrist hatten seit 1998 an der Route gearbeitet. Am 12. September 2000 stürzten der Engländer Matthew Hayes und der Neuseeländer Phillip O’Sullivan vom zweiten Eisfeld in den Tod; das Unglück wurde von einem britischen TV-Sender gefilmt und vom Schriftsteller Joe Simpson beobachtet, der das Erlebnis später in seinem Buch „The Beckoning Silence“ beschrieb. Stephan Siegrist und Ueli Steck eröffneten im Oktober 2001 mit „The Young Spider“ eine neue Nordwandroute, welche von der Station Eigerwand in direkter Linie über das Todesbiwak und die Spinne zur Gipfelwand führt. Es ist die erste direkte Nordwandroute zum Gipfel seit der Ideal-Direttissima von 1983. Für den Dokumentarfilm „Eiger-Nordwand – Auf den Spuren der Erstbesteiger“ durchstiegen Stephan Siegrist und Michal Pitelka im August 2002 die Heckmair-Route mit der Ausrüstung der Erstbegeher von 1938, wobei sie von Thomas Ulrich gefilmt wurden. Pitelka kannte die Route bereits von einer Solobegehung 1992, Siegrist hatte diesen klassischen Anstieg bereits dreimal gemeistert. Siegrist war es auch, der im Juli 2004 zusammen mit Ueli Steck den Geschwindigkeitsrekord für Seilschaften an der Heckmair-Route einstellte; die beiden kletterten in neun Stunden durch die Wand und unterboten damit den Rekord von Messner/Habeler aus dem Jahr 1974 um eine Stunde. Im März 2003 hatte Christoph Hainz an der Heckmair-Route einen neuen Solo-Geschwindigkeitsrekord mit viereinhalb Stunden aufgestellt. Dies markierte den Beginn zahlreicher Geschwindigkeitsrekorde in den kommenden Jahren. Im Januar 2005 stürzten die Italiener Claudio Chiaudano und Roberto Moreschi aus nicht geklärten Gründen im Bereich des zerschrundenen Pfeilers in den Tod. Laut dem Autor Rainer Rettner handelte es sich dabei bereits um die Todesopfer 62 und 63 an der Eiger-Nordwand. Fast 40 Jahre nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1966, durchstieg John Harlin III die Eiger-Nordwand im September 2005 mit Robert Jasper und Daniela Jasper. Der dabei gedrehte Film „The Alps“ kam im Frühjahr 2007 in die Kinos. Im Februar 2006 eröffnete eine russische Seilschaft eine neue Direttissima vom Wandfuss bis zum Gipfel. Die von Jewgenij Dmitrienko, Wladimir Archipow, Pawel Malygin und Dmitri Tsyganow eröffnete „Russen-Direttissima“ verläuft nahe der Pochylý-Route. Am 21. Februar 2007 stellte Ueli Steck einen neuen Rekord in der Heckmair-Route auf, als er die Tour im Alleingang in nur 3 Stunden und 54 Minuten bewältigte. Am 13. Februar 2008 stellte er seinen eigenen Rekord mit 2 Stunden und 47 Minuten ein. Im Januar wurde auch der Seilschaftsrekord gebrochen, als Simon Anthamatten und Roger Schäli in 6 Stunden und 50 Minuten durch die Nordwand kletterten. Dieser Rekord wurde bereits einen Monat später von Dani Arnold und Stephan Ruoss um 40 Minuten unterboten. Ende März 2009 durchstiegen Fabian Eberli und Ueli Frey die Heckmair-Route, ehe sie beim Abstieg in einem Wettersturz auf der Westflanke ums Leben kamen. Aufgrund der wetterlichen Bedingungen konnten sie erst eine Woche später geborgen werden. Im August 2009 gelang Robert Jasper und Roger Schäli die erste freie Begehung der Japaner-Direttissima. Seit 2010 Am 31. Juli 2010 stürzten die Brüder Stefan und Robert Dietrich unterhalb des Stollenloches ab und starben. Im Oktober 2010 bestiegen Ueli Steck und Bruno Schläppi den Eiger auf der Heckmair-Route in 5 Stunden und 3 Minuten, ein neuer Seilschaftsrekord. Im Februar 2011 unterboten Roger Schäli und Simon Gietl diese Zeit um 38 Minuten. Im April 2011 durchstieg Dani Arnold diese Route als Alleingeher in 2 Stunden und 28 Minuten. Dabei benutzte er allerdings im Hinterstoißer-Quergang und in den Ausstiegsrissen vorhandene Fixseile. 2011 verunglückte der erfahrene Tessiner Giovanni Quirici am Genferpfeiler und 2013 ein Bergsteiger aus Österreich im Bereich der Lauper-Route. Damit wurde die Marke von inzwischen 70 Todesopfern an der Wand überschritten. Am 11. November 2015 stellten Ueli Steck und Nicolas Hojac einen neuen Speedrekord für eine Seilschaft in der Heckmair-Route auf, als ihnen die Tour in 3 Stunden und 46 Minuten gelang. Am 16. November 2015 schaffte Ueli Steck zudem in 2 Stunden und 22 Minuten einen neuen Rekord für eine Solobegehung der Route. Am 31. März 2017 durchstieg Peter Habeler im Alter von 74 Jahren die Heckmair-Route mit David Lama und wurde damit der bis dato älteste Nordwand-Durchsteiger. Aus dem Filmmaterial dieser Begehung wurde eine Folge für die Reihe Bergwelten von ServusTV. Erstdurchsteigung und Nationalsozialismus Im Rahmen der Olympischen Spiele von 1936 versprach der Diktator Adolf Hitler den Erstbesteigern der Eiger-Nordwand eine Goldmedaille. Der reichsdeutsche Botschafter in Österreich, Franz von Papen, unterzeichnete am 11. Juli 1936 das sogenannte Juli-Abkommen mit Österreich, das von Hitler als Vorstufe zum Anschluss seines Heimatlandes an das Deutsche Reich gesehen wurde. Die NS-Propaganda nahm mit Freude die Nachricht auf, dass am Fuss des Eigers Seilschaften aus dem Deutschen Reich und Österreich darauf warteten, in die Wand einsteigen zu können. Ein gemeinsamer Aufstieg und Gipfelsieg wären ein willkommenes Symbol auch für einen Zusammenschluss auf politischer Ebene gewesen. 1938 hatte die NS-Ordensburg Sonthofen Bergführer gesucht, worauf Ludwig Vörg, der bereits Erzieher für Sport an der Ordensburg war, Anderl Heckmair eine Stelle vermittelte. Die beiden erhielten für ihr Vorhaben, die Eiger-Nordwand zu besteigen, von den Vorgesetzten freien dienstlichen Spielraum. Ihnen wurde auch Geld zur Finanzierung angeboten, das sie jedoch ablehnten. Nur ein Angebot zur Vervollständigung der Ausrüstung nahmen sie an. Dadurch konnten sie sich die teure, moderne Ausrüstung leisten. Bereits vor der Eiger-Expedition war Harrer der SS (ab 1. April 1938) und der NSDAP (ab 1. Mai 1938) beigetreten. Er wurde Sportinstruktor der SS im Rang eines SS-Oberscharführers, eine Tätigkeit, die er jedoch nach eigenem Bekunden nie ausübte. Harrer nannte diese Beitritte später einen «dummen Fehler» und «ideologischen Irrtum». Nach der Erstbegehung wurde der Erfolg von der Nazipropaganda als «Zeugnis des unbeugsamen Siegeswillens unserer Jugend» gefeiert. Karl Prusik wird mit den Worten: «Ein Volk, das solche Söhne hat, kann nicht untergehen!» zitiert. Für den gebürtigen Österreicher Hitler war das Unternehmen ein Beweis für die Überlegenheit der "deutschen Herrenrasse". In Breslau empfing er das Erstbegeher-Quartett, über dessen Fortschritte in der Wand er sich regelmässig hatte berichten lassen. Im Zentralverlag der NSDAP erschien 1938 das Buch Um die Eiger-Nordwand, in dem die vier Erstbesteiger von ihren Erlebnissen berichten. Den Vorwurf, die Nordwand «für die Nationalsozialisten» versucht und durchstiegen zu haben, stritten die Erstbegeher ab. Sie waren sich aber bewusst, dass ein Erfolg ihr weiteres Leben positiv beeinflussen konnte. Harrer beispielsweise hoffte, dass die zuständigen Stellen auf ihn aufmerksam würden und er die Möglichkeit bekäme, an einer Expedition zum Nanga Parbat teilnehmen zu können. Fritz Kasparek bekam nach der erfolgreichen Durchsteigung von Heinrich Himmler persönlich das Angebot, in die SS einzutreten, das er auch annahm. Routen Heckmair-Route Die bekannteste und heute übliche Route durch die Eiger-Nordwand ist der Weg der Erstbegeher, die Heckmair-Route. Sie wird mit der Gesamtschwierigkeit SS bewertet und beim Klettern muss der V. Schwierigkeitsgrad beherrscht werden. Den Bergsteiger erwarten zwei bis drei Tage Kletterei, die Länge der Tour kommt durch die vielen Quergänge zustande; die Wandhöhe von 1800 Metern wird über eine Kletterstrecke von vier Kilometern absolviert. Insgesamt befinden sich an der Route 17 markante, benannte Stellen. Nach dem Einstieg westlich des Ersten Pfeilers führt die Route relativ direkt in der Wand nach oben, bevor sie auf das Stollenloch zu nach Westen abknickt. Auf der Höhe des Stollenlochs wendet man sich nach Osten. Nach einer erneuten Richtungsänderung wird der Schwierige Riss erreicht, der für die Kletterer Schwierigkeiten von V, A0 bereithält und die erste Schlüsselstelle der Route ist. Aufsteigend folgt die Linie dem Verlauf der Roten Fluh, einer hellen glatten Wandstelle, ohne diese zu betreten. So erreicht der Bergsteiger den Hinterstoißer-Quergang. Die 30 Meter breite Felsplatte ist mit Fixseilen gesichert, so dass ein Klettermanöver wie das des Plattenerstbegehers Hinterstoißer nicht mehr nötig ist. Nach dem Quergang schliesst sich das Schwalbennest an, ein beliebter Biwakplatz nach dem ersten Viertel der Kletterstrecke. Über das erste Eisfeld und den Eisschlauch strebt die Route dem zweiten Eisfeld zu. Nach dessen Bewältigung verläuft die Strecke in östlicher Richtung auf das Bügeleisen zu, ein Felssporn, der das zweite und das dritte Eisfeld voneinander trennt. Etwas weiter oben erreichen die Besteiger das Todesbiwak. Der Name dieses beliebten Biwakplatzes nach halber Kletterstrecke ist darauf zurückzuführen, dass dort die Deutschen Mehringer und Sedelmayr zum letzten Mal lebend gesehen wurden. An das Todesbiwak schliesst sich das dritte Eisfeld an, und der Weg führt in die Rampe. In dieser befindet sich der Wasserfallkamin (Schwierigkeit V, A0), nach dessen Durchkletterung das Rampeneisfeld folgt. Über das Brüchige Band (Brüchiger Riss) gelangt man nach Westen querend zum Götterquergang. An dessen Ende wartet die Spinne, ein Firnfeld in der Gipfelwand. Firncouloirs, die von oben her in die Spinne führen, und solche, die nach unten aus der Spinne herausführen, vermitteln den Eindruck einer riesigen Spinne. Der Route nach oben folgend, erreicht der Kletterer die Ausstiegsrisse und steigt weiter zum Corti-Biwak. Hier hatte Claudio Corti bis zu seiner Rettung ausgeharrt. Der Aufstieg verläuft nach oben zum Gipfeleisfeld, von dem aus die Heckmair-Nordwandroute auf dem Mittellegigrat endet. Diesem aufwärts folgend wird der Gipfel erreicht. Weitere Routen Die im Folgenden genannten Schwierigkeitsgrade sind unter SAC-Berg- und Hochtourenskala (AS und andere) sowie Kletterschwierigkeiten (V, 7c, A2 und andere) zu finden. Nach der Durchsteigung der Nordwand dauerte es 28 Jahre, bis 1966 eine neue Route in der Wand eröffnet wurde. Das internationale Team (darunter Jörg Lehne und Karl Golikow) benannte diese neue Route (Schwierigkeit AS+) nach ihrem tödlich abgestürzten Kameraden John-Harlin-Direttissima (Mixed: M8-; Fels: Rotpunkt 7a; E5) . Zwei Jahre später wurde im Sommer der Nordpfeiler (Kante zwischen Nordwand und Nordostwand) erstbegangen. Zunächst stieg ein polnisches Team in die Nordwand ein und kletterte zum Nordpfeiler, um etwas östlich von diesem in die Lauper-Route (nach dem Anführer der Erstbegeher-Seilschaft: Hans Lauper) zu gelangen. Die direkte Begehung vom Fuss des Nordpfeilers (SS) gelang einen Tag später Reinhold und Günther Messner, Toni Hiebeler und Fritz Maschke, ebenfalls etwas östlich. 1969 folgte die Japaner-Direttissima (AS+, Rotpunkt 8a), eine bei der Erstbegehung durch den Einsatz von viel Material und Zeit erkämpfte direkte Linie zum Gipfel. 1970 gelang einem schottischen Team mit der Schotten-Route (AS) die Begehung direkt über den Nordpfeiler. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis 1976 Tschechen die Tschechen-Route (EX) eröffneten. Sie geht in Höhe des Stollenlochs aus der Heckmair-Route hervor und strebt über den Westteil der Roten Fluh dem Westgrat zu, wo sie endet. Zwei Jahre später eröffneten Tschechen eine weitere Route, die Zweite Tschechen-Route, die aus der John-Harlin-Direttissima beginnt und über den Nordpfeiler in der Lauper-Route mündet. 1979 begingen zwei Schweizer erstmals den Genferpfeiler und nannten die Route, die auf dem Westgrat endet, Les Portes du Chaos (AS, V). Im Juli 1980 wurde der untere, direkte Westgrat erstbegangen. Drei Schweizer durchkletterten 1981 über den Genferpfeiler die Nordverschneidung (AS, VII-), eine für die natürlichen Gegebenheiten logische Route. 1982 wurden im Westteil der Wand von dem slowenischen Solokletterer Franček Knez (SS+, IV+) und den Schweizern Ochsner-Brunner (SS+, V) zwei neue Routen erschlossen. Drei neue folgten 1983: Pavel Pochylý aus der Slowakei eröffnete zunächst solo die Ideal-Direttissima (AS), danach folgte die erste richtige Sportkletterroute Spit verdonesque édenté (EX, VIII, A1 oder X-) im Westteil der Wand und dann im Jahr 1983 die Piola-Ghilini-Direttissima (EX-) über den markantesten Pfeiler westlich der Roten Fluh. 1985 wurden wiederum zwei neue Routen erstbegangen, zunächst der Hiebeler-Gedächtnisweg, der aus der unteren Heckmair-Route hervorgeht, nach Osten in die Wandmitte zieht und dann östlich der Tschechen-Route auf den Westgrat führt, anschliessend die Slowenen-Route (AS, VII) im Ostteil der Wand über den Nordpfeiler in die Lauper-Route. Im Jubiläums-Jahr 1988 wurden die drei letzten Routen der 1980er-Jahre erschlossen. Aus den Portes du Chaos eröffneten zwei Schweizer die Route Eigersanction (AS, VII-; benannt nach dem Film aus dem Jahr 1975). Etwas weiter östlich davon erkletterte eine Gruppe Indonesier im Expeditionsstil die Linie Gelber Engel (EX, VII). Ähnlich der direkten Westgratroute eröffneten wiederum zwei Schweizer die Route Löcherspiel, welche sie nach den Löchern im Fels benannten. Jeweils am Anfang und am Ende der 1990er-Jahre wurden zwei weitere Routen erstbestiegen. 1991 durchstieg der Amerikaner Jeff Lowe die Route Métanoïa im Alleingang. Diese führt zwischen Heckmair-Route und John-Harlin-Direttissima in die Ideal-Direttissima. 1992 vervollständigten zwei Schweizer ihre Route Le Chant du Cygne (EX, VII) am Genferpfeiler, die sie im Jahr zuvor begonnen hatten. Von Italienern wurde 1998 zwischen Nordverschneidung und Eigersanction die Route Yeti (EX+, IX+) geklettert. 1999 verbanden die deutschen Extrembergsteiger Robert Jasper und Daniela Jasper die Chant du Cygne durch die Symphonie de liberté (8a, X-UIAA) mit der Spit verdonesque, sie schufen die erste 8a die in einer großen alpinen Nordwand geklettert wurde. Vom Stollenloch aus kletterten zwei Schweizer 2000 relativ direkt über die Rote Fluh nach oben und nannten den Weg La Vida es Silbar (franz. 7c, IX+). Die Route Deep blue sea (EX+, IX-) westlich der Spit verdonesque hat ihren Namen von dem bläulichen Schimmer des Gesteins, in dem sie verläuft. Sie wurde 2001 von zwei Schweizern erstbegangen. Im Herbst desselben Jahres folgte die direkte Nordwand-Route The Young Spider (EX+, 7a/A2, WI6, M7). 2002 folgte der Griff ins Licht (7c, M5) am Nordpfeiler und 2006 die Krasnojarsk-Direttissima. 2003 ging aus der Yeti die Route Magic Mushroom (7c+; benannt nach einem pilzförmigen Felspfeiler, auf dem die Route endet) vom Dynamitloch aus auf den Westgrat hervor. Paciencia (8a oder X-) ist die 33. Route in der Nordwand. Die Erstbegeher versuchten seit der Erstbegehung dieser Route im Jahr 2003, diese Rotpunkt zu klettern, bevor sie ihr einen offiziellen Namen gaben. Dies gelang im August 2008. Im Jahr 2009 gelang Robert Jasper und Roger Schäli die erste freie Begehung der Japanerroute (28.–31. August 2009, 8a, X- UIAA) und dann 2013 die erste freie Begehung der Piola-Ghilini-Direttissima (IX) 2015 folgte die Erstbegehung der bislang schwierigsten Route „Odyssee“ X-/8a+ durch die Eiger-Nordwand erstbegangen durch Robert Jasper und seine Kletterpartner Roger Schaeli und Simon Gietl. Nordwand in Literatur und Film Es wurden rund 50 fiktionale Werke verfasst, die den Eiger und grösstenteils die Eiger-Nordwand zum Thema haben. Darunter befinden sich Romane, Erzählungen, Schauspiele, Gedichte, sowie ein Epos und ein Comic. 1936 erschien nur wenige Wochen nach dem Tod der Kurz-Seilschaft das erste Eiger-Buch, Der Kampf um die Eiger Nordwand. Es folgte Die Wand. Tagebuch eines jungen Bergsteigers von Erika Jemelin, das ein fiktives Tagebuch von Toni Kurz darstellt, sowie das Versepos Das Drama am Eiger von Theo Lütolf. 1938 schrieb Gustav Renker den Roman Schicksal in der Nordwand, in dem die Nordwand Symbol für den Kampf zwischen Mensch und Natur ist. Neun Werke wurden in der zweiten Phase der «Eiger-Sensation» von 1956 bis 1966 verfasst. 1956 schrieb Ernst Nobs die Novelle Die Wand, in der eine US-Amerikanerin die Wand durchsteigen will. Oswald Frey veröffentlichte 1959 das Buch Im Schatten der grossen Wand über den realen Bergsteiger Alfred Derung. Der Roman Die Nordwand von Otto Zinniker sucht nach Erklärungen, weshalb Menschen extrem bergsteigen. Das Corti-Drama wird 1960 in Eigerjagd (Originaltitel: The Man on the End of the Rope) durch Paul Townend aufgearbeitet, der die Rolle der Presse im Nordwand-Rummel kritisch hinterfragt. Die Corti-Thematik greift auch Whit Masterson 1963 in Man on a Nylon String auf, wobei der Held des Buches den am Berg hängenden Douglas Holden (alias Stefano Longhi, siehe oben) aus der Wand bergen will. 1970 erschien Im Auftrag des Drachen (Originaltitel: The Eiger Sanction) vom Pseudonym Trevanian, ein Spionagekrimi, bei dem in der Nordwand gekämpft wird, verfilmt von und mit Clint Eastwood. In Bob Langleys Thriller Traverse of the Gods von 1980 findet die Hauptperson in der Nordwand einen deutschen Wehrmachtssoldaten. 1983 verknüpft der Ire Dermot Somers in der Kurzgeschichte Einbruch der Dunkelheit die höllische Nordwand mit der Apokalypse eines Atomkrieges. Im Buch La face de l’ogre der Französin Simone Desmaison bekommt der Leser Einblicke in die Psyche von Bergsteigern sowie deren Frauen, die am Einstieg zurückbleiben. Die 2000 und 2007 erschienenen Bücher Flash-back sur l'Eiger und The Fall von Daniel Grevoz und Simon Mawer lassen die Hauptpersonen auf den Spuren von Toni Kurz klettern. Auch in einigen Filmen spielt die Nordwand eine mehr oder weniger zentrale Rolle. Es gibt Dokumentar- und Spielfilme, die sich mit der Eiger-Nordwand befassen oder in denen diese eine Kulisse bildet. Das erste Mal gefilmt wurde die Wand 1936 für das Werk Die Eiger-Nordwand. Im Rahmen der Bergung von Toni Kurz begleitete Max Hermann die Retter mit einer Kleinkamera durch die Wand. Besonders attraktiv schien die begleitende Verfilmung einer realen Durchsteigung der Nordwand auf der Heckmair-Route. Zunächst waren dafür die technischen und bergstei­gerischen Probleme zu gross und es scheiterten mehrere Versuche, so 1958 und 1959. Ersatzweise wurden die Bergsteiger in der Nordwand von den Graten aus gefilmt. Es gelang schliesslich Leo Dickinson 1970, der damit den Film Out of the Shadows into the Sun schuf. Eine andere Dokumen­tation ist der Film Nordwand – Mordwand, bei dem eine 1988 durchgeführte Besteigung gefilmt wurde. Dazwischen erzählen Heinrich Harrer und Anderl Heckmair von ihrer Besteigung. Es entstanden auch mehrere Dokumentarfilme, in denen vor allem die historischen Ereignisse von 1935 und 1936 nachgestellt wurden. 1962 drehte Luis Trenker seinen letzten Film Sein bester Freund am Eiger und stellte darin die Durchsteigung der Nordwand dar. Von und mit Clint Eastwood wurde das Buch Im Auftrag des Drachen unter dem gleichen Namen verfilmt. Für den Bayerischen Rundfunk bereitet Gerhard Baur im Jahr 1980 die Tragödie von 1936 als Spielfilmdokumentation auf. Das Besondere an diesem Werk ist, dass alle Szenen an Original­schau­plätzen gedreht wurden. Der Film wurde mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. 2008 erschien der Spielfilm Nordwand von Philipp Stölzl. Dabei wurde ebenfalls das Drama von 1936 für das Kino aufbereitet. Neueres Filmmaterial gibt es auch von den Begehungen im Rahmen der Sendung Eiger-Live 1999 im Schweizer Fernsehen, zudem wurde eine Begehung in historischer Kleidung und Ausrüstung im Jahr 2000 gefilmt. Der jüngste Dokumentarfilm ist Michael Gambons IMAX-Film Die Alpen über die Schweizer Alpen, der auch eine Durchsteigung der Nordwand des Jahres 2007 festhält. Literatur Uli Auffermann: Das große Eiger-Lexikon – Die Eiger-Nordwand von A–Z. Schall-Verlag, 2013, ISBN 978-3-900533-76-2. Uli Auffermann: Im Schatten der Nordwand – Triumph und Tragödie an Matterhorn, Eiger und Grandes Jorasses. Bruckmann Verlag, München 2011, ISBN 978-3-7654-5626-8. Daniel Anker (Hrsg.): Eiger – Die vertikale Arena. 4. überarb. Auflage. AS Verlag, Zürich 2008, ISBN 978-3-905111-51-4. Kurt Oesterle: Mordwand und Todeskurve. Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2008, ISBN 978-3-940086-24-2. Rainer Rettner: Eiger – Triumphe und Tragödien. 1932–1938. AS Verlag, Zürich 2008, ISBN 978-3-909111-49-7. Heinz von Arx (Hrsg.): Benjamin Herrmann (Hrsg.): Nordwand – Das Drama des Toni Kurz am Eiger. AS Verlag, Zürich 2008, ISBN 978-3-909111-57-2. Daniel Anker, Rainer Rettner: Corti-Drama – Tod und Rettung am Eiger 1957–1961. AS Verlag, Zürich 2007, ISBN 978-3-909111-33-6. Heinrich Harrer: Die weiße Spinne. Das große Buch vom Eiger. 5. Auflage. Ullstein Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-548-36229-X. Thomas Ulrich: Eiger-Nordwand: Mit Nagelschuhen und Hanfseil auf den Spuren der Erstbegeher. AS Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-905111-86-1. Robert Jasper: Nordwand: Mein Leben mit dem Eiger. Delius Klasing Verlag, Hamburg 2015, ISBN 3-667-10295-X. Roger Schäli, Rainer Rettner, Jochen Hemmleb: Passion Eiger: Legendäre Routen damals und heute. AS Verlag, 2020, ISBN 978-3-03913-008-5. Weblinks Bilder zur Nordwand-Historie Anderl Heckmair – Erstbegehung Eiger-Nordwand Bericht des Schweizer Fernsehens über die Winter-Erstbesteigung 1961 Einzelnachweise Berner Alpen Alpinismus Geographie (Grindelwald)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gewerbesteuer%20%28Deutschland%29
Gewerbesteuer (Deutschland)
Die Gewerbesteuer (Abkürzung: GewSt) wird als Gewerbeertragsteuer auf die objektive Ertragskraft eines Gewerbebetriebes erhoben. Hierzu wird für gewerbesteuerliche Zwecke ein Gewerbeertrag ermittelt, welcher regelmäßig in einem Gewerbesteuermessbetrag in Höhe von 3,5 % des Gewerbeertrags mündet. Die hebeberechtigte Gemeinde muss die Gewerbesteuer mindestens in Höhe des doppelten Messbetrages erheben (Hebesatzminimum: 200 %). Eine ertragsunabhängige Besteuerung der Substanz des Gewerbebetriebs erfolgte bis 1997 mit der Gewerbekapitalsteuer, seitdem nur noch in den Gewinnhinzurechnungen, die bestimmte Finanzierungskosten in die gewerbesteuerliche Bemessungsgrundlage einbeziehen. Mit der Unternehmensteuerreform 2008 wurde diese Komponente ausgeweitet, um das Gewerbesteueraufkommen zu verstetigen. Die Gewerbesteuer ist die wichtigste originäre Einnahmequelle der Gemeinden in Deutschland. Es handelt sich nach Abs. 2 Abgabenordnung um eine Realsteuer oder Sachsteuer, auch wenn diese Einordnung nach der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Lohnsummensteuer umstritten ist. Die Gewerbesteuer zählt zu den Gemeindesteuern und den Objektsteuern. Rechtsgrundlage ist das Gewerbesteuergesetz (GewStG), die Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung sowie als allgemeine Verwaltungsvorschriften die Gewerbesteuer-Richtlinien. Äquivalenzprinzip Mit der Zahlung von Steuern erwirbt man keinen Anspruch auf eine bestimmte staatliche Leistung ( Abs. 1 AO). Dennoch wird die Gewerbesteuer häufig damit begründet, dass die Gewerbebetriebe die Lasten tragen sollen, die durch ihre Ansiedlung und Existenz entstehen. Tatsächlich ist bei keiner anderen Steuer das Äquivalenzprinzip derart stark ausgeprägt. Erhoben wird sie nach einer vermuteten Kostenverursachung. Doch obwohl die Gewerbesteuer als Refinanzierung für Infrastrukturmaßnahmen und Siedlungsfolgelasten gedacht ist, liegt ihr Grund nicht in der Abgeltung greifbarer wirtschaftlicher Vorteile. Geschichte der Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer wurde in Preußen 1891 durch die Miquelsche Steuerreform eingeführt. Die Grundlagen für ihre heutige Ausprägung wurden in der Realsteuerreform von 1936 gelegt, das Gewerbesteuergesetz datiert vom 1. Dezember 1936. Neben der erhobenen Gewerbeertragsteuer wurden das Gewerbekapital und – über die Lohnsummensteuer – auch die Arbeitsplätze besteuert. Durch unterschiedliche Messzahlen wurde aus den drei verschiedenen Bereichen ein Gewerbesteuermessbetrag ermittelt, auf den dann der Hebesatz angewendet wurde. 1978 wurde wegen der damit verbundenen negativen beschäftigungspolitischen Konsequenzen zunächst die Lohnsummensteuer abgeschafft. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 wurde erstmals eine Abzugsbeschränkung für Dauerschuldzinsen eingeführt. Ursprünglich war eine vollständige Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen vorgesehen, d. h. Zinszahlungen minderten den Gewerbeertrag nicht. Damit wurde eine Gleichbehandlung von Eigenfinanzierung und Fremdfinanzierung angestrebt, da (kalkulatorische) Zinsen auf das Eigenkapital die Bemessungsgrundlage ebenfalls nicht mindern. Dieser Anspruch wurde aus dem Ziel der Besteuerung der objektiven Ertragskraft abgeleitet. Durch Gesetzesänderung wurde dies jedoch auf 60 % (ab 1983) bzw. 50 % (ab 1984) begrenzt. Das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform beendete ab 1998 die Gewerbekapitalsteuer, so dass die Gewerbesteuer zu einer nur ertragsabhängigen Steuer geworden ist – was zu einer erhöhten Konjunkturabhängigkeit geführt hat. Als Ausgleich erhielten die Gemeinden eine Beteiligung an der Umsatzsteuer. Bis zum Veranlagungszeitraum 2007 galt neben der Hinzurechnung der Dauerschuldzinsen zudem die hälftige Hinzurechnung von Miet- und Pachtzinsen, wenn diese nicht bereits beim Empfänger der Zahlungen (also in der Regel dem Leasinggeber) der Gewerbesteuer unterliegen. Damit sollte eine Doppelbelastung mit Gewerbesteuer vermieden werden. Wegen der Ungleichbehandlung von deutschen und ausländischen Unternehmen und der damit einhergehenden Beschränkung des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs hatte der EuGH diese Vorschrift in seiner Eurowings-Entscheidung allerdings für EU-rechtswidrig erklärt. Die letzte große Änderung folgte 2008 mit dem Unternehmensteuerreformgesetz. Dieses führte u. a. zu einer neuen Behandlung der Gewerbesteuer bei der steuerlichen Gewinnermittlung. Ab 2008 ist diese gemäß Abs. 5b EStG keine Betriebsausgabe mehr und somit nicht abzugsfähig. Ferner wurde der Umfang der Hinzurechnungen von Finanzierungsaufwendungen erheblich ausgeweitet. Die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sowie der Wegfall des Betriebsausgabenabzuges und des Staffeltarifs sollen durch die Absenkung der Gewerbesteuermesszahl und die Erhöhung der Gewerbesteueranrechnung auf Gesellschafterebene ausgeglichen werden. Besteuerungsverfahren Besteuerungsgegenstand Besteuert werden Gewerbebetriebe, die entweder über ihre Rechtsform als Kapitalgesellschaft oder über ihre gewerbliche Tätigkeit im Sinne des Einkommensteuerrechts (Einzelunternehmen und Personengesellschaften) erfasst werden. Dabei wird für natürliche Personen und Personengesellschaften ein Freibetrag von 24.500 € gewährt ( Abs. 1 Nr. 1 GewStG). Für sonstige juristische Personen des privaten Rechts (z. B. Vereine) und nichtrechtsfähige Vereine, soweit sie einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhalten, gilt ein Freibetrag von 5.000 € ( Abs. 1 Nr. 2 GewStG). Freiberufliche oder andere nichtgewerbliche selbstständige Tätigkeiten sowie Land- und Forstwirtschaftliche Betriebe unterliegen nicht der Gewerbesteuer. Bemessungsgrundlage Ausgangsbasis für die Bemessung der Gewerbesteuer ist der Gewerbeertrag. Dies ist der nach Einkommensteuer- bzw. Körperschaftsteuerrecht zu bestimmende Gewinn. Im Regelfall wird der Gewinn bzw. Verlust übernommen und im Einzelfall um bestimmte Beträge erhöht (Hinzurechnungen, GewStG) oder vermindert (Kürzungen, GewStG). Sowohl Hinzurechnungen als auch Kürzungen verfolgen verschiedene Ziele, die teilweise damit begründet werden, dass die Bemessungsgrundlage die objektive Ertragskraft – von der Finanzierungsentscheidung des Unternehmers im Einzelfall unabhängiger, realer Gewerbeertrag – eines Gewerbebetriebs abbilden soll. Nach der ursprünglichen Vorstellung des Gesetzgebers arbeitet ein angenommener fiktiver Standardbetrieb mit eigenem Kapital, mit eigenen Maschinen, jedoch in fremden (angemieteten) Räumen. Die Vorschriften über Hinzurechnungen und Kürzungen haben sich jedoch auch aus fiskalischen Gründen mehrfach geändert, so dass umstritten bleibt, welche Hinzurechnungen bzw. Kürzungen mit diesem Ziel begründet werden können. Berechnungsschema der Gewerbesteuer: Gewinn aus Gewerbebetrieb (Gewinn) gem. EStG bzw. KStG + Hinzurechnungen − Kürzungen ---------------------------------------------------------------- = Gewerbeertrag vor Verlustabzug − Gewerbeverlust aus Vorjahren ---------------------------------------------------------------- = Gewerbeertrag (abzurunden auf volle 100 €) − Freibetrag von 24.500 € (nur für Einzelunternehmen und Personengesellschaften) bzw. 5.000 € für sonstige juristische Personen des privaten Rechts (z. B. Vereine) sowie gewerblich aktive nichtrechtsfähige Vereine ----------------------------------------------------------------- = Gewerbeertrag × Steuermesszahl (seit 2008: 3,5 %) ----------------------------------------------------------------- = Steuermessbetrag × Hebesatz der Gemeinde ----------------------------------------------------------------- = festzusetzende Gewerbesteuer - Gewerbesteuer-Vorauszahlungen = Gewerbesteuerzahllast Hinzurechnungen Seit 2008 wird ein Viertel der Finanzierungsaufwendungen dem Gewinn wieder hinzugerechnet. Dies gilt auch dann, wenn die Miet- und Pachtzahlungen beim Empfänger dieser Zahlungen der Gewerbesteuer unterliegen. Finanzierungsaufwand sind die Entgelte für Schulden, die Rentenzahlungen und dauernden Lasten, die Gewinnanteile stiller Gesellschafter und die Finanzierungsanteile in Mieten, Pachten, Leasingraten und Lizenzen. Diese Finanzierungsanteile werden pauschal aus den gezahlten Gesamtentgelten ermittelt. Mit der Ausweitung der Regelung ist die zuvor beschriebene EU-Rechtswidrigkeit beseitigt. Um kleine und mittlere Unternehmen von der Ausweitung der Hinzurechnungen auszunehmen, ist ein Freibetrag von 200.000 € (bis einschl. 2019: 100.000 €) vorgesehen. Neben den Finanzierungsaufwendungen werden noch weitere Positionen dem Gewinn wieder hinzugerechnet: Die Gewinnanteile, die an persönlich haftende Gesellschafter einer KGaA verteilt worden sind ( Nr. 4 GewStG), die nach den Vorschriften des Teileinkünfteverfahrens zuvor steuerfrei gestellten Dividenden ( Nr. 5 GewStG), die Anteile am Verlust einer in- oder ausländischen gewerblichen Mitunternehmerschaft ( Nr. 8 GewStG), die Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke ( Nr. 9 GewStG) sowie bestimmte Teilwertabschreibungen und Veräußerungsverluste ( Nr. 10 GewStG). Kürzungen Durch die Kürzungen soll eine mehrfache Belastung mit Realsteuern vermieden werden. So wird der Gewerbeertrag beispielsweise um einen Teil des Einheitswerts von betrieblichen Grundstücken gekürzt, da diese bereits der Grundsteuer unterliegen. Daneben werden insbesondere Gewinnanteile aus qualifizierten Beteiligungen (mehr als 15-%-Anteil) gekürzt, da diese bereits auf Ebene der ausschüttenden Kapitalgesellschaft der Gewerbesteuer unterlagen (sog. gewerbesteuerliches Schachtelprivileg). Überdies werden, um dem Inlandscharakter der Gewerbesteuer Rechnung zu tragen, ausländische Gewinnanteile gekürzt. Erweiterte Kürzung Wohnungsbauunternehmen (Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft) und andere grundstücksverwaltende Gesellschaften können den Vorteil der sogenannten erweiterten Gewerbesteuerkürzung (Vorschriften des ) in Anspruch nehmen. Die erweiterte Kürzung wurde eingeführt, um Wohnungsunternehmen nicht schlechter zu stellen als Privatpersonen oder vermögensverwaltende Personengesellschaften, deren Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nicht der Gewerbesteuer unterliegen. Neben den Einkünften aus Verwaltung und Nutzung des eigenen Grundbesitzes dürfen als Nebentätigkeit nur das eigene Kapitalvermögen verwaltet und genutzt werden, Einfamilienhäuser, Zweifamilienhäuser oder Eigentumswohnungen errichtet und veräußert werden sowie Wohnbauten betreut werden. Seit dem Veranlagungsjahr 2021 führen auch Einnahmen aus der Lieferung von Strom im Zusammenhang mit dem Betrieb von Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien i. S. d. § 3 Nr. 21 EEG (Hauptanwendungsfall der Betrieb von Photovoltaikanlagen) oder aus dem Betrieb von Ladestationen für Elektrofahrzeuge oder Elektrofahrräder nicht zur Versagung der erweiterten Grundstückskürzung, wenn diese Einnahmen im Wirtschaftsjahr nicht höher als 10 Prozent der Einnahmen aus der Gebrauchsüberlassung des Grundbesitzes, vgl. § 9 Nr. 1 Satz 3 Buchst. b) GewStG. Voraussetzung ist, dass die Einnahmen aus der Lieferung von Strom mit dem Betrieb von Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien i. S. d. § 3 Nr. 21 EEG nicht aus der Lieferung an Letztverbraucher stammen, es sei denn, diese sind Mieter des Anlagenbetreibers. Darüber hinaus wurde mit § 9 Nr. 1 Satz 3 Buchst. c) GewStG auch eine allgemeine Bagatellgrenze in Höhe von 5 Prozent der Einnahmen aus der Gebrauchsüberlassung des Grundbesitzes für Leistungsbeziehungen mit den Mietern des Grundbesitzes eingeführt. Festsetzung des Messbetrags Ausgehend vom Gewerbeertrag des Unternehmens wird ein Steuermessbetrag ermittelt, der Gewerbesteuermessbetrag. Dieser wird vom Finanzamt durch Bekanntgabe eines Gewerbesteuermessbescheids (Grundlagenbescheid für die Gewerbesteuer) festgestellt. Der Gewerbeertrag wird auf volle 100 € abgerundet () Abzug eines Freibetrags bei natürlichen Personen (gewerbliche Einzelunternehmen) und Personengesellschaften: 24.500 € () bei Vereinen und juristischen Personen des öffentlichen Rechts: 5.000 € () Kapitalgesellschaften erhalten keinen Freibetrag Ergebnis ist der gekürzte Gewerbeertrag Multiplikation des gekürzten Gewerbeertrags mit der Steuermesszahl seit der Unternehmensteuerreform 2008 beträgt die für alle Unternehmen einheitliche Steuermesszahl 3,5 % () Berechnung des Steuermessbetrags Beispiel 1 Einzelunternehmen/Personenunternehmen Gewerbeertrag 100.550 € Gewerbeertrag 100.500 € (abgerundet auf volle 100 €) − Freibetrag 24.500 € -------------------------- = Gewerbeertrag 76.000 € 76.000 € × Steuermesszahl 3,5 % = Messbetrag 2.660 € Beispiel 2 Kapitalgesellschaft Gewerbeertrag 100.000 € (kein Freibetrag) 100.000 € × Steuermesszahl 3,5 % = Messbetrag 3.500 € Mit der Unternehmensteuerreform 2008 wurde der bis dahin geltende Staffeltarif für Einzelunternehmen und Personengesellschaften abgeschafft. Festsetzung und Zerlegung der Gewerbesteuer Der Hebesatz wird von der Gemeinde festgelegt. Beispiel wie oben: Messbetrag × Hebesatz = Gewerbesteuer 2.660 € × 400 % = 10.640 € Das Recht zur Festlegung des Hebesatzes (oder einer anderen, neu zu schaffenden „wirtschaftskraftbezogenen Steuer“) ist den Gemeinden grundgesetzlich garantiert. In den Stadtstaaten Berlin und Hamburg sind Gemeinde- und Landesebene identisch. Die Festsetzung der Gewerbesteuer erfolgt daher dort durch die Finanzämter, im übrigen Bundesgebiet durch die Gemeinden. Dies gilt auch für das Land Bremen, das hier eine stadtstaatliche Besonderheit innehat, da es sich aus den Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven zusammensetzt und daher zwischen Landes- und Gemeindeebene getrennt werden muss. Seit 2004 beträgt der Hebesatz gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 GewStG mindestens 200 %. Damit will der Gesetzgeber sog. Gewerbesteueroasen (zum Beispiel Norderfriedrichskoog, welches lange Zeit einen Hebesatz von Null hatte) verhindern. Meistens sind die Hebesätze von Großstädten höher als im Umland. Beispielsweise hat München einen Hebesatz von 490 %, die Gemeinden im Umland liegen zwischen 240 und 360 %. Durch die Festlegung des Hebesatzes hat die Gemeinde einen politischen Handlungsrahmen zur Ansiedlung oder ggf. auch Abschreckung von Gewerbebetrieben in der Hand. Ein niedriger Hebesatz ist eines von mehreren Entscheidungskriterien zur Standortfrage. Der niedrige Hebesatz ist zwar positives Ansiedlungskriterium, aber für die Gemeinde mit niedrigeren Steuereinnahmen pro zahlendem Unternehmen verbunden. Hohe Hebesätze können zu Abwanderungstendenzen führen, haben aber auch höhere Steuereinnahmen pro einzelnem Unternehmen zur Folge. Die für die jeweilige Gemeinde richtige Abwägung zu finden, ist dem Geschick der politisch Handelnden überlassen. Hat das Unternehmen Betriebsstätten in mehreren Gemeinden oder erstreckt sich die Betriebsstätte über das Gebiet mehrerer Gemeinden („mehrgemeindliche Betriebsstätte“), so muss der Steuermessbetrag auf die einzelnen Gemeinden verteilt werden (Zerlegung, § ff. GewStG; Steuerzerlegung). Hiervon ausgenommen sind jedoch Gleisanlagen, Leitungen (z. B. für Gas, Wasser, elektrische Energie) sowie unterirdische Bergbauanlagen. Zerlegungsmaßstab ist i. d. R. das Verhältnis, der in den einzelnen Gemeinden an die dort Beschäftigten gezahlten Arbeitslöhne ( GewStG). In den Fällen der mehrgemeindlichen Betriebsstätte ist die Gewerbesteuer nach der Lage der örtlichen Verhältnisse unter Berücksichtigung der durch das Vorhandensein der Betriebsstätte erwachsenden Gemeindelasten zu zerlegen ( GewStG). Dies können z. B. Kriterien wie die jeweils im Gebiet einer Gemeinde befindlichen Anlagen und/oder die dort erzielten Betriebseinnahmen sein. Eine Zerlegung erfolgt auch, wenn eine Betriebsstätte unterjährig in eine andere Gemeinde verlegt wird, so dass für die entsprechenden Zeitabschnitte ggf. unterschiedliche Hebesätze anzusetzen sind. In einem solchen Fall erstellt jede betroffene Gemeinde einen eigenen Gewerbesteuerbescheid für den jeweiligen Zeitraum. Über die Zerlegung erteilt das zuständige Finanzamt einen Zerlegungsbescheid. Beziehungen zu anderen Steuern Mit der Unternehmenssteuerreform 2008 wurde der Betriebsausgabenabzug für die Gewerbesteuer für Erhebungszeiträume, die nach dem 31. Dezember 2007 enden, abgeschafft. Die Gewerbesteuer ist steuerlich eine nicht abziehbare Betriebsausgabe (§ 4 Abs. 5b EStG). Einzelunternehmer und Gesellschafter einer Personengesellschaft können die Gewerbesteuer seit dem Veranlagungszeitraum (VZ) 2001 auf ihre Einkommensteuer anrechnen ( EStG). Die Anrechnung erfolgt durch Abzug des 4-fachen (von 2008 bis 2019 des 3,8-fachen; bis 2007 des 1,8-fachen) Gewerbesteuermessbetrags von der tariflichen Einkommensteuer und ist auf die Einkommensteuer begrenzt, die auf die Einkünfte aus Gewerbebetrieb entfällt. Obergrenze ist die tatsächlich gezahlte Gewerbesteuer. Zur tatsächlichen Belastung wird die Gewerbesteuer damit für Einzelunternehmer und Personengesellschaften in der Regel erst ab einem Hebesatz von ca. 420 % (von 2008 bis 2019 ca. 400 %; bis 2007 ca. 180 %). Finanzielle Bedeutung der Gewerbesteuer Im Jahr 2014 betrugen die Gewerbesteuereinnahmen bundesweit rund 43,8 Mrd. Euro. Für die Gemeinden stellt die Gewerbesteuer neben der Grundsteuer die einzige wesentliche Einnahmequelle dar, die für sie beeinflussbar ist. Sie steht unter dem Schutz der Selbstverwaltungsgarantie aus Abs. 2 GG. Die Gewerbesteuer (netto) deckte im Bundesdurchschnitt 2014 rund 15 % der bereinigten Einnahmen. Einen Teil der Gewerbesteuereinnahmen müssen die Gemeinden als Gewerbesteuerumlage an Bund und Länder abführen. Die Höhe dieser Gewerbesteuerumlage ändert sich sehr häufig; nach 1990 fast jährlich. Sie ist für die westdeutschen Gemeinden deutlich höher, da sie hierüber an den Kosten des Fonds Deutsche Einheit beteiligt werden. Im Jahr 2014 belief er sich im Bundesdurchschnitt auf 25 %. Da die Gewerbesteuer im direkten Zusammenhang zur lokalen Wirtschaftskraft steht, zeigen sich vor allem im West-Ost-Vergleich deutliche und dauerhafte Unterschiede. So liegt das hebesatzbereinigte Pro-Kopf-Aufkommen der Gemeinden im Kreis Dingolfing-Landau mit 2.945 Euro mehr als 24 Mal höher denn jenes der Gemeinden im Landkreis Kusel (121 Euro). In den neuen Bundesländern hat die Gewerbesteuer eine grundsätzlich geringere Bedeutung. Zum Ausgleich der geringeren Steuerkraft erhalten sie noch bis 2019 Sonderbedarfszuweisungen des Bundes im Rahmen des Solidarpakts. Aus fiskalischer Sicht weist die Gewerbesteuer für die Gemeinden zwei Nachteile auf. Da sie direkt von der lokalen Wirtschaftskraft abhängt, ist sie räumlich und interkommunal konzentriert. Einige wirtschaftsstarke Städte, wie z. B. Frankfurt am Main, Ingolstadt oder Verl sind von ihr abhängig. In anderen Städten spielt sie praktisch keine Rolle. Aus dem Berechnungsverfahren ergibt sich im zeitlichen Verlauf eine hohe Volatilität des Aufkommens. So brach das Aufkommen im Zuge der Wirtschaftskrise 2009 um über 20 % ein. Im Anschluss stieg das Aufkommen binnen fünf Jahren wieder um 35 %. Die starke Abhängigkeit der Gewerbesteuer von der Wirtschaftskraft und deren hohe Volatilität sind die zentrale Ursache für die persistenten und tendenziell wachsenden Unterschiede in der Steuerkraft der Gemeinden. Aufkommen, Steuerkraft und gewogene Hebesätze nach Bundesländern {| class="wikitable sortable" |- ! style="width: 17em" | Bundesland || style="width: 10em" | Aufkommen der Gewerbesteuer 2010 in Mio. € || style="width: 10em" | Pro-Kopf-Aufkommen der Gewerbesteuer 2010 in €/Ew. || style="width: 10em" | Gewerbesteuerkraft 2010 bei Hebesatz 100 % in €/Ew. || style="width: 10em" | gewogener Durchschnittshebesatz 2010 |- | style="text-align:left" | * Deutschland | style="text-align:center" | 35.737 | style="text-align:center" | 437,15 | style="text-align:center" | 111,99 | style="text-align:center" | 390 % |- | style="text-align:left" | Baden-Württemberg | style="text-align:center" | 4.733 | style="text-align:center" | 440,24 | style="text-align:center" | 123,04 | style="text-align:center" | 358 % |- | style="text-align:left" | Bayern | style="text-align:center" | 6.247 | style="text-align:center" | 498,97 | style="text-align:center" | 135,44 | style="text-align:center" | 368 % |- | style="text-align:left" | Berlin | style="text-align:center" | 1.224 | style="text-align:center" | 355,26 | style="text-align:center" | 86,65 | style="text-align:center" | 410 % |- | style="text-align:left" | Brandenburg | style="text-align:center" | 641 | style="text-align:center" | 255,54 | style="text-align:center" | 82,82 | style="text-align:center" | 309 % |- | style="text-align:left" | Bremen | style="text-align:center" | 314 | style="text-align:center" | 475,63 | style="text-align:center" | 109,52 | style="text-align:center" | 434 % |- | style="text-align:left" | Hamburg | style="text-align:center" | 1.710 | style="text-align:center" | 961,11 | style="text-align:center" | 204,49 | style="text-align:center" | 470 % |- | style="text-align:left" | Hessen | style="text-align:center" | 3.635 | style="text-align:center" | 599,49 | style="text-align:center" | 153,45 | style="text-align:center" | 391 % |- | style="text-align:left" | Mecklenburg-Vorpommern | style="text-align:center" | 317 | style="text-align:center" | 192,55 | style="text-align:center" | 55,88 | style="text-align:center" | 345 % |- | style="text-align:left" | Niedersachsen | style="text-align:center" | 3.049 | style="text-align:center" | 384,37 | style="text-align:center" | 100,41 | style="text-align:center" | 383 % |- | style="text-align:left" | Nordrhein-Westfalen | style="text-align:center" | 8.959 | style="text-align:center" | 501,88 | style="text-align:center" | 115,05 | style="text-align:center" | 436 % |- | style="text-align:left" | Rheinland-Pfalz | style="text-align:center" | 1.464 | style="text-align:center" | 365,39 | style="text-align:center" | 99,64 | style="text-align:center" | 367 % |- | style="text-align:left" | Saarland | style="text-align:center" | 347 | style="text-align:center" | 340,56 | style="text-align:center" | 83,44 | style="text-align:center" | 408 % |- | style="text-align:left" | Sachsen | style="text-align:center" | 1.165 | style="text-align:center" | 280,58 | style="text-align:center" | 68,08 | style="text-align:center" | 412 % |- | style="text-align:left" | Sachsen-Anhalt | style="text-align:center" | 554 | style="text-align:center" | 236,20 | style="text-align:center" | 67,57 | style="text-align:center" | 350 % |- | style="text-align:left" | Schleswig-Holstein | style="text-align:center" | 906 | style="text-align:center" | 320,13 | style="text-align:center" | 92,28 | style="text-align:center" | 347 % |- | style="text-align:left" | Thüringen | style="text-align:center" | 473 | style="text-align:center" | 210,87 | style="text-align:center" | 60,40 | style="text-align:center" | 349 % |} Quelle: Statistisches Bundesamt Fachserie 14 Reihe 10.1 – 2010 Gewerbesteuerumlage Das Aufkommen der Gewerbesteuer steht den Gemeinden zu. Allerdings sind auch Bund und Länder indirekt an der Gewerbesteuer durch die Gewerbesteuerumlage beteiligt. Bekannte Städte und Gemeinden mit ihren historisch höchsten Hebesätzen Gemeinden mit dem historisch niedrigsten Hebesatz Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) lag der durchschnittliche Hebesatz in den größten Gemeinden im Jahr 2010 bei 435 %. Rekordhalter unter den Kommunen ab 50.000 Einwohnern sind München, Bottrop, Duisburg und Oberhausen mit je 490 %; den geringsten Satz in dieser Gruppe verlangen Bad Homburg vor der Höhe, Friedrichshafen, Frankfurt (Oder), Lingen, Neu-Ulm und Waiblingen mit je 350 %. Bei den kleinen Gemeinden erheben rund 100 Gemeinden oder Gemeindeteile nur den Mindesthebesatz von 200 %. Spitzenreiter ist das Eifeldorf Dierfeld, das seit Jahren 900 % verlangt. Während die deutschen Städte ihren Gewerbesteuer-Hebesatz in den vergangenen Jahren tendenziell erhöht haben, beispielsweise ergibt sich für Duisburg von 2003 bis 2016 eine schrittweise Erhöhung von 470 % auf 520 %, ist in der Stadt Monheim am Rhein im Zeitraum 2010 bis 2016 eine schrittweise Senkung des Gewerbesteuer-Hebesatzes von 435 % (2010) auf den niedrigsten Wert einer Stadt in Nordrhein-Westfalen von 250 % (2018) zu beobachten. Diskussion der Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer ist eine der umstrittensten deutschen Steuern. Immer wieder wurden verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gewerbesteuer laut, da insbesondere freie Berufe nicht gewerbesteuerpflichtig sind. Diese Bedenken wurden jedoch vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht nicht geteilt. Eine ausführliche Vorlage des Niedersächsischen Finanzgerichts, in der es auf 60 Seiten begründet, warum die Gewerbesteuer gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes verstoße, wurde vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen (Az. 1 BvL 2/04). Gegenläufige Positionen der Gemeinden und der Unternehmen Für die Gemeinden stellt die Gewerbesteuer zwar die wichtigste eigenständige Steuerquelle dar, gleichzeitig ist sie jedoch sehr konjunkturabhängig, so dass die Gemeinden nicht mit stetigen Einnahmen planen können. (Von 1998 zu 1999 veränderte sich das Gewerbesteueraufkommen in Hamburg um +20 %, in Kiel dagegen um −36 %, in Schweinfurt um +100 %, in Werdau sogar um +230 %, in Leverkusen um −60 %). Bemängelt wird überdies, dass der Hebesatz nicht von den Gemeinden genutzt werden kann, um durch die Senkung neue Gewerbebetriebe anzulocken, sondern dass umgekehrt bereits benachteiligte Gemeinden gezwungen sind, einen hohen (abschreckenden) Hebesatz aufrechtzuerhalten, und dadurch noch mehr Gewerbebetriebe an bereits reiche Gemeinden verlieren, insbesondere das Hebesatzgefälle von Großstadt zum Umland wird dabei kritisiert. Da die Gewerbesteuer eine deutsche Besonderheit ist und eine Zusatzbelastung des betrieblichen Ertrags darstellt, wird kritisiert, dass sich die Gewerbesteuer negativ im internationalen Standortwettbewerb auswirke. Die Medien berichten über Unternehmen, die überhaupt keine Gewerbesteuer mehr zahlen würden: unter ihnen der (mittlerweile) weltgrößte Nahrungsmittelkonzern Unilever: Durch Restrukturierung des Konzerns mittels einer Tochterfirma („Monda Beteiligungs GmbH“), die in einer Scheune in Norderfriedrichskoog (s. u.), Dietstraat 13, ansässig war, wurde jahrelang gar keine Gewerbesteuer fällig. In Norderfriedrichskoog hatten bis zu 500 Tochterfirmen internationaler Unternehmen ihren Sitz. Laut Frankfurter Rundschau (29. Januar 2002, sek. zit. n.) werden Gewinne bei den Auslandstöchtern verbucht, während Verluste im Inland angesiedelt werden: 2001 habe die Bayer AG keine Gewerbesteuer gezahlt, obwohl sie einen Gewinn von über 800 Mio. Euro ausgewiesen habe. Dadurch seien die Haushalte betroffener Städte stark beeinträchtigt worden. Dieses Steuersparmodell ist inzwischen durch gesetzgeberische Maßnahmen beseitigt worden. Daraus zu schließen, dass große Unternehmen sich generell der Gewerbesteuer entzögen, wäre zu pauschal und kann durch die empirischen Daten nicht belegt werden. Zwar kommt es immer wieder vor, dass einzelne Unternehmen, teilweise auch über Jahre hinweg, keine oder kaum Gewerbesteuer zahlen, allerdings tragen insbesondere die großen Unternehmen wesentlich zum Aufkommen der Gewerbesteuer bei. So haben beispielsweise 1995 die größten 136 Unternehmen (Unternehmen mit einem Gewerbeertrag >100 Mio. DM) fast 18 % zum Gewerbesteueraufkommen beigetragen, obwohl sie weniger als 0,015 % der Steuerpflichtigen stellen. Nimmt man noch die Unternehmen mit einem Gewerbeertrag zwischen 50 und 100 Mio. DM hinzu, so haben 0,036 % der Unternehmen ein Viertel (25 %) der gesamten Gewerbesteuer bezahlt, wohingegen die 80 % der kleineren Unternehmen nur 6 % bezahlt haben. Allerdings ist es gerade diese Abhängigkeit der Gemeinden von den großen Betrieben, in der viele Kritiker eine Gefahr der „Erpressbarkeit“ der Gemeinden sehen; darüber hinaus führt die Krise eines Großunternehmens häufig zu einer dramatischen Krise der Finanzlage der betroffenen Gemeinden (siehe dazu oben die Konjunkturabhängigkeit). Auch die Behauptung, insbesondere die gewerbesteuerliche Organschaft führe dazu, dass die Steuerlast auf Null gesenkt werden könne, geht am Kern vorbei. Gewerbesteuerlich führt eine Organschaft dazu, dass die einzelnen Unternehmen des Organkreises wie Betriebsstätten behandelt werden und Gewinne und Verluste miteinander verrechnen können. Natürlich ist damit eine Senkung der Steuerlast auf Null möglich, davon profitiert aber nicht nur das Unternehmen, sondern vor allem auch die Gemeinde, in der der verlustbringende Unternehmensteil angesiedelt ist, da auch die anderen Gemeinden am Verlust beteiligt werden. Die Organschaft sorgt also vor allem für eine gleichmäßigere Verteilung auf die verschiedenen Standortgemeinden eines Konzerns. Da die verschiedenen Organgesellschaften wie Betriebsstätten behandelt werden, wird der gesamte Gewerbeertrag des Organkreises im Wesentlichen nach Lohnsumme auf die einzelnen Gemeinden verteilt. Wenn also der Gesamtkonzern ein positives Ergebnis ausweist, erhalten alle Gemeinden Gewerbesteuer, die mit hoch profitablen Unternehmensteilen weniger als ohne Organschaft, die mit verlustbringenden Teilen mehr. Auch wenn der gesamte Organkreis nach einer Verlustphase den Turn-around schafft, werden nicht einzelne Gemeinden sehr lang durch vorhandene Verlustvorträge gegenüber den Gemeinden mit den profitablen Unternehmensteilen benachteiligt, sondern sie erhalten schneller wieder Steuereinnahmen. Da die Gewerbesteuer eine erhebliche Belastung für die Unternehmen darstellt, gleichzeitig aber eine große Bedeutung für die Gemeinden hat, sind Reformen in diesem Bereich wegen der verschiedenen Interessen häufig auf Widerstand gestoßen, dennoch ist die Gewerbesteuer seit Jahrzehnten in der Diskussion. Gewerbesteuer im internationalen Vergleich Österreich hat seine Gewerbesteuer 1994 abgeschafft, erhebt seither aber eine Kommunalsteuer von 3 % auf die Lohnsumme. Die Schweiz erhebt keine Gewerbesteuer. Ausnahmen sind kantonal geregelt, so erheben beispielsweise die Gemeinden im Kanton Genf eine Gewerbesteuer, die mit der in Deutschland vergleichbar ist. In Luxemburg wird eine der deutschen Gewerbesteuer ähnliche Steuer (impôt commercial) erhoben, bei der ebenfalls die Gemeinden ein Hebesatzrecht besitzen. Frankreich erhebt lokale Steuern (contribution économique territoriale (CET)), die die Wertschöpfung und den Immobilienbesitz der Unternehmen besteuern; diese ersetzen die bis 2010 geltende ertragsunabhängige taxe professionelle. Spanien erhebt die impuesto sobre actividades economicas, die eine gemeindliche Steuer ist und die ebenfalls ertragsunabhängig ist, wobei jedoch Unternehmen, deren Nettoumsatz 1 Mio. € nicht übersteigt, von der Steuer befreit sind [artículo 82 del Texto refundido de la Ley Reguladora de las Haciendas Locales]. Italien erhebt als Regionalsteuer die imposta regionale sulle attività produttive, mit der die Wertschöpfung der Unternehmen besteuert wird. Den Gemeinden wird dabei die Möglichkeit gegeben, den Steuersatz von 4,25 % um einen Prozentpunkt nach oben oder unten anzupassen. Es galt als sehr wahrscheinlich, dass diese IRAP genannte Steuer der 6. EG-Richtlinie widerspricht, nach der neben der harmonisierten Mehrwertsteuer keine gleichartigen Steuern erhoben werden dürfen. Generalanwalt Jacobs plädierte in seinen Schlussanträgen zwar für ein Verbot der Steuer, wegen der erwarteten enormen Steuerrückforderungen (geschätzte 120 Mrd. Euro) bei einer ex-tunc-Wirkung des Urteils, wie sie für Urteile des EuGH üblich ist, plädiert er aber auch für eine Beschränkung der Wirkung des Urteils auf einen Zeitpunkt in der Zukunft. Letztlich entschied der EuGH jedoch anders – die IRAP sei Europarechts-konform. Ungarn erhebt, wie Italien (s. o.) eine der Gewerbesteuer ähnliche Steuer. Im Zuge des anhängigen Verfahrens gegen Italien am EuGH ist diese Steuer vermehrt in die öffentliche Diskussion geraten. Nach der o. g. Entscheidung des EuGH verlautbarte die ungarische Regierung jedoch, dass sie weiter an dieser Steuerart festhalten wolle. in den USA erheben viele Gebietskörperschaften eine ertragsunabhängige Steuer auf das Anlagevermögen von kommerziellen Betrieben (commercial property tax). In der Regel bestimmt dabei einzelstaatliches Recht eine Messzahl und die Gebietskörperschaften bestimmte Hebesätze, wobei sich überschneidende Gebietskörperschaften (z. B. Landkreis, Kommune, Abwasserdistrikt und Schuldistrikt) ihre Hebesätze nebeneinander verlangen. Betrachtete man bis 2007 die Belastung mit 25 % Körperschaftsteuer (inklusive Solidaritätszuschlag 26,375 %), so hätte Deutschland im internationalen Vergleich im Mittelfeld gelegen. Durch die Gewerbesteuer, die zu einer Mehrbelastung von 15 bis 20 % – je nach Hebesatz – führt, lag Deutschland jedoch bei Kapitalgesellschaften an der Spitze der steuerlichen Belastung von Unternehmensgewinnen. Am 1. Januar 2008 trat eine Unternehmenssteuerreform in Kraft, bei der die Körperschaftsteuer auf 15 % gesenkt wurde, womit Deutschland auch nominal wieder im europäischen Mittelfeld liegt. Siehe auch Unternehmensbesteuerung. Reformvorschläge Es gibt von jeher Bestrebungen, die Gewerbesteuer zu reformieren oder sie ganz abzuschaffen. 2002 setzte die Bundesregierung angesichts der finanziellen Lage der Kommunen eine Kommission zur Reform der Gemeindesteuern ein, deren Arbeitsgruppe „Kommunalsteuern“ unter anderem eine Ersetzung der Gewerbesteuer durch einen proportionalen Zuschlag auf andere Steuern untersuchte. 2003 beschloss die Bundesregierung den Gesetzesentwurf zur Reform der Gewerbesteuer mit einer Fortentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftssteuer unter Einbeziehung der freien Berufe. Der Entwurf scheiterte am Widerstand des Bundesrats. 2010 setzte das Bundeskabinett eine Gemeindefinanzkommission ein, mit dem Auftrag, Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung zu erarbeiten. Sie sollte dabei insbesondere auch „den aufkommensneutralen Ersatz der Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatz“ prüfen. Nach 15-monatiger Verhandlung sprach die Kommission in ihrer Abschlusssitzung am 15. Juni 2011 aber keine Empfehlung für eine Gewerbesteuerreform aus. Während die Gemeinden die Beibehaltung bzw. Stärkung der Gewerbesteuer durch die Ausweitung ertragsunabhängiger Komponenten oder die Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen auch auf Freiberufler und Vermieter fordern, wird von Unternehmensseite die Abschaffung der Gewerbesteuer verlangt. Als Alternative wird ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer oder eine Erhöhung der Beteiligung an der Umsatzsteuer vorgeschlagen. Aber auch andere Vorschläge gibt es, wie die Einführung einer Wertschöpfungsteuer. Literatur RP Richter & Partner: Gewerbesteuer. Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-8349-0696-0. Jens Demmig: Die Gewerbesteuer im internationalen Vergleich. Institut „Finanzen und Steuern“, Brief 306. Bonn 1992. Otto H. Jacobs: Internationale Unternehmensbesteuerung. 5. Auflage. C. H. Beck, München 2002, ISBN 3-406-48657-6. Hanns Karrenberg, Engelbert Münstermann: Gemeindefinanzbericht 2000. Städte im Griff von EU, Bund und Ländern. In: der städtetag. Heymann, Köln 4.2000, , S. 4–99. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2001. Wiesbaden 2001. Heribert Zitzelsberger: Grundlagen der Gewerbesteuer, eine steuergeschichtliche, rechtsvergleichende, steuersystematische und verfassungsrechtliche Untersuchung. Habilitations-Schrift Univ. Regensburg 1989. Otto Schmidt, Köln 1990, ISBN 3-504-25105-0. Bob Neubert, Tobias Plenk: Einfluss der Unternehmensteuerreform 2008 auf die Rechtsformwahl von Unternehmen. In: Steuern und Studium. 2008, S. 37–44. Niels-Frithjof Henckel: Reformoptionen einer kommunalen Wirtschaftsbesteuerung, Trier 2004, ISBN 3-925851-85-2. Volker Karthaus, Oliver Sternkiker: Gewerbesteuer Handausgabe 2010. Stollfuß Medien, Bonn 2010, ISBN 978-3-08-182600-4. Achim Bergemann (Hrsg.), Jörg Wingler (Hrsg.): Gewerbesteuer – GewStG. Kommentar. 1. Auflage. Gabler, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8349-2296-0. Weblinks Informationen des Bundesfinanzministeriums Gewerbesteuerreformkonzept des BDI (PDF) „Vier-Säulen-Modell“ der Kommission „Steuergesetzbuch“ zur Reform der Kommunalfinanzen Tabellen aktueller Hebesätze nach Bundesländern beim DIHK (abgerufen am 29. November 2014) Onlinerechner Gewerbesteuer bis 2007 und ab 2008 Einzelnachweise Steuerrecht (Deutschland) Kommunales Wirtschaftsrecht (Deutschland) Steuern und Abgaben Gewerbesteuer
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haber-Bosch-Verfahren
Haber-Bosch-Verfahren
Das Haber-Bosch-Verfahren ist ein großindustrielles chemisches Verfahren zur Synthese von Ammoniak. Es ist nach den deutschen Chemikern Fritz Haber und Carl Bosch benannt, die das Verfahren am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten. Der zentrale Schritt des Verfahrens, die Ammoniaksynthese aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff, wird an einem eisenhaltigen Katalysator bei Drücken von etwa 150 bis 350 bar und Temperaturen von etwa 400 bis 500 °C durchgeführt. Als bedeutendes Chemieverfahren mit einem Produktionsausstoß von mehr als 150 Millionen Tonnen im Jahr 2017 deckt es mehr als 99 % der weltweiten Produktion an Ammoniak. Ammoniak ist eine chemische Substanz, die überwiegend für die Herstellung von Harnstoff, Ammoniumnitrat, Ammoniumsulfat sowie Ammoniumphosphaten genutzt wird. Diese Stoffe werden als Düngemittel verwendet und tragen zur Ernährung eines Großteils der Weltbevölkerung bei. Weiterhin dient Ammoniak der Herstellung von Sprengstoffen und anderen stickstoffhaltigen Chemikalien. Die selektive katalytische Reduktion nutzt Ammoniak in der Rauchgasentstickung zur Umwandlung schädlicher Stickoxide in Stickstoff und Wasser. Ammoniak wird außerdem seit 1876 als umweltfreundliches und energieeffizientes Kältemittel eingesetzt. Die wissenschaftlichen Leistungen zur Realisierung dieses Verfahrens waren zum einen die Untersuchung der zugrunde liegenden chemischen Reaktion durch Fritz Haber und Walther Nernst, zum anderen die systematische Suche nach geeigneten Katalysatoren durch Alwin Mittasch sowie die Klärung grundlegender verfahrenstechnischer Probleme für Hochdruckverfahren durch Carl Bosch. Im Zusammenhang mit dem Haber-Bosch-Verfahren vergab die Nobelstiftung 1918 den Nobelpreis für Chemie an Fritz Haber, 1931 an Carl Bosch sowie 2007 an Gerhard Ertl, der die vollständige theoretische Erklärung des Mechanismus der Ammoniakbildung fand. Geschichte Brot aus Luft Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist durch die Arbeiten von Justus von Liebig bekannt, dass die Aufnahme von Stickstoffverbindungen eine Grundlage für das Wachstum von Nutzpflanzen ist. Dem Ackerboden wurden die notwendigen Stickstoffverbindungen über Mist, Kompost oder durch eine bestimmte Fruchtfolge zugeführt. Durch das rasante Anwachsen der Weltbevölkerung im 19. Jahrhundert konnte der damit einhergehende große Bedarf an Stickstoffdüngern nicht mehr durch natürliche Vorkommen von beispielsweise Guano oder Chilesalpeter und auch nicht durch technische Quellen wie Kokereigas gedeckt werden. Um auf diesen Umstand hinzuweisen, hielt der britische Chemiker William Crookes im Juni 1898 vor der British Association for the Advancement of Science in Bristol eine vielbeachtete Rede. Darin legte er dar, dass bis zum Jahr 1918 die Nachfrage nach Stickstoffverbindungen das Angebot bei weitem übersteigen werde und der westlichen Welt eine Hungersnot ungeahnten Ausmaßes drohe. Er führte weiterhin aus, dass die einzige Lösung dieses Problems die chemische Fixierung des in der Luft enthaltenen Stickstoffs sei. Die technische Umsetzung dieses Prozesses nannte er eine der großen Herausforderungen für die Chemiker seiner Zeit. Der unter dem Schlagwort „Brot aus Luft“ bekannte Versuch der Bindung des Luftstickstoffs in einer von Pflanzen aufnahmefähigen Chemikalie avancierte daraufhin zu einem der Schwerpunkte der chemischen Forschung der damaligen Zeit. Frühe Entwicklungen Ein erster Durchbruch bei der Fixierung des Luftstickstoffs gelang 1898 mit der Darstellung von Calciumcyanamid nach dem Frank-Caro-Verfahren, bei dem Calciumcarbid bei hohen Temperaturen atmosphärischen Stickstoff aufnimmt und so fixiert. Die Hydrolyse des Calciumcyanamids liefert Ammoniak und Calciumcarbonat. Obwohl große Kapazitäten für die Herstellung von Calciumcyanamid aufgebaut wurden, war das Verfahren auf Dauer wegen des hohen Energiebedarfs von etwa 190 Gigajoule pro Tonne Ammoniak nicht konkurrenzfähig. Wilhelm Ostwald meldete im Jahre 1900 ein Patent zur „Herstellung von Ammoniak und Ammoniakverbindungen aus freiem Stickstoff und Wasserstoff“ an, da es ihm scheinbar gelungen war, Ammoniak katalytisch aus den Elementen herzustellen. Schon 1903 veröffentlichte der Rottweiler Sprengstoff-Hersteller Max Duttenhofer die Warnung Ostwalds vor einem Salpeter-Embargo im Kriegsfalle im Schwäbischen Merkur. Ostwald zog sein Patent zurück, nachdem Bosch nachgewiesen hatte, dass der entstandene Ammoniak aus dem Eisennitrid des verwendeten Katalysators stammte. Das Birkeland-Eyde-Verfahren, das von dem norwegischen Wissenschaftler Kristian Birkeland und seinem Geschäftspartner Sam Eyde entwickelt und 1903 in Betrieb genommen wurde, fixierte den Luftstickstoff, indem er ihn mittels eines elektrischen Lichtbogens direkt zu Stickstoffmonoxid oxidierte. Beim Abkühlen und weiterer Oxidation bildete sich Distickstoffpentoxid, das durch Absorption in Wasser zu Salpetersäure reagierte. Die geringe Energieeffizienz führte schon bald zur Verdrängung des Verfahrens. Grundlegende Arbeiten Im Jahr 1904 begann Fritz Haber, der zu diesem Zeitpunkt als außerordentlicher Professor für Technische Chemie in Karlsruhe arbeitete, sich mit den chemischen Grundlagen der Ammoniaksynthese zu beschäftigen. Die dabei gefundene Gleichgewichtskonstante für die Synthese von Ammoniak aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff entsprach bei einer Temperatur von 1000 °C und Normaldruck einer Ausbeute von unter 0,01 Prozent und war damit zu niedrig zur Realisierung eines technischen Prozesses. Haber war bewusst, dass ein höherer Druck zu besseren Ausbeuten führen würde, doch aufgrund der zu erwartenden technischen Probleme stellte er seine Forschungen auf diesem Gebiet vorübergehend ein. Erst eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Walther Nernst über die Gleichgewichtskonstante der Ammoniaksynthese auf Grundlage des Nernst-Theorems veranlasste Haber, seine Arbeit fortzusetzen. Als Ergebnis weiterer Forschungen hielt er die Überführung in die Technik erst bei Temperaturen von unter 300 °C und nur mit einem geeigneten Katalysator für möglich. Die praktische Umsetzung gelang ihm kurz darauf mit Hilfe eines auf Osmium basierenden Katalysators. Haber beantragte am 13. Oktober 1908 beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin Patentschutz für ein „Verfahren zur synthetischen Darstellung von Ammoniak aus den Elementen“, den dieses am 8. Juni 1911 mit dem Patent Nr. 235.421 gewährte. Da er mittlerweile mit der BASF zusammenarbeitete, überließ er dem Unternehmen das Patent zur wirtschaftlichen Nutzung. Technische Realisierung Die Bereitstellung vor allem des Rohstoffs Wasserstoff, der in größeren Mengen bis dahin nur bei der Chloralkali-Elektrolyse anfiel, erforderte völlig neue Prozesse. Auch für den Bau der zur Ammoniaksynthese benötigten chemischen Reaktoren, in denen Wasserstoff bei hohen Drücken und Temperaturen kontrolliert werden konnte, gab es bis dahin keine Referenzen in der Technik. Carl Bosch und Fritz Haber entwickelten daraufhin neue Lösungen in vielen Bereichen der technischen Chemie und des Reaktorbaus. Aufgrund der großen Anzahl an benötigten Spezialisten zur Umsetzung der Herstellung im industriellen Maßstab gründete Bosch einen interdisziplinären Arbeitsbereich Chemietechnik, in dem Maschinenbauingenieure und Chemiker zusammen arbeiteten. Da die zunächst für den Reaktorbau verwendeten Stähle durch atomar eindiffundierten Wasserstoff erodierten, war eine Aufgabe des neuen Arbeitsbereiches die Erforschung von Werkstoffschäden durch Entkohlung der Kohlenstoffstähle. Dies führte schließlich zur Entwicklung hochlegierter Chrom-Nickel-Stähle, die einem Wasserstoffangriff bei den benötigten Reaktionstemperaturen und -drücken standhielten. Insbesondere das von Julius Schierenbeck entwickelte Schierenbeck-Wickelverfahren, bei dem auf ein chemisch widerstandsfähiges Zentralrohr mehrere Lagen eines heißen Metallbandes aufgeschrumpft wurden, ermöglichte den Bau größerer und sicherer Hochdruckreaktoren. Alwin Mittasch entwickelte und testete parallel dazu in 20.000 Versuchen etwa 3000 verschiedene Katalysatoren auf Basis von Eisenoxid mit verschiedenen umsetzungsbeschleunigenden Substanzen, die er Aktivator oder Promotor nannte. Der im Jahr 2015 verwendete Katalysator entsprach noch weitgehend dem von Mittasch entwickelten. Im Jahr 1913 nahm die BASF erstmals eine Anlage nach dem Haber-Bosch-Verfahren im Werk Ludwigshafen-Oppau in Betrieb. Die Kapazität der Anlage betrug anfangs 30 Tonnen pro Tag. Bereits 1914 wurde die Weiterentwicklung des Verfahrens bis zur großindustriellen Anwendbarkeit durch den deutschen Generalstabschef Erich von Falkenhayn forciert, woraufhin Bosch das sogenannte Salpeterversprechen abgab. Dabei handelte es sich um einen Vertrag zur Lieferung von Nitraten mit staatlichen Abnahmegarantien und unter finanzieller Unterstützung durch das Reich für den Bau entsprechender Anlagen. Damit sollte Ammoniumnitrat als Grundlage militärischer Sprengstoffe in ausreichendem Maße ohne den sonst verwendeten natürlich vorkommenden Salpeter produziert werden können. Kurz darauf gelang es durch das Haber-Bosch-Verfahren, entsprechend große Mengen des kriegswichtigen Materials herzustellen. Damit konnte das durch die britische Seeblockade von Stickstoffquellen wie Chilesalpeter abgeschnittene Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg seine Munitions- und auch seine Düngemittelproduktion aufrechterhalten und den wirtschaftlichen Zusammenbruch abwenden. Neben der Großanlage in Oppau bei Ludwigshafen wurden weitere in Leuna und Bitterfeld durch die BASF und nach Fusion im deutschen Großkonzern durch die I.G. Farben betrieben. Nach dem Ersten Weltkrieg Nach dem Ersten Weltkrieg verpflichtete die Siegermacht Frankreich die BASF durch ein Abkommen, sämtliche Patente und Erfahrungen des Verfahrens herauszugeben und den Aufbau einer entsprechenden Fabrik in Toulouse zu unterstützen. Weitere Ammoniakanlagen entstanden zur selben Zeit in England, Italien und anderen Ländern. Diesen Bauvorhaben lag entweder eine Lizenz der BASF oder eine Verfahrensvariante mit veränderten Prozessparametern zugrunde, wozu das Casale-Verfahren und das Mont-Cenis-Uhde-Verfahren von dem 1921 gegründeten Ingenieurbüro Friedrich Uhde mit modifiziertem Katalysator zu zählen sind. In die Zeit zwischen den Weltkriegen fiel die Gründung der I.G. Farben mit Carl Bosch als ihrem ersten Vorstandsvorsitzenden. Bereits 1926 betrug die Marktkapitalisierung des Unternehmens mit seinen mittlerweile 100.000 Mitarbeitern rund 1,4 Milliarden Reichsmark. Durch die mit dem New Yorker Börsencrash vom Oktober 1929 beginnende Weltwirtschaftskrise verringerte sich die Nachfrage nach synthetischem Ammoniak erheblich. Die Produktion in Deutschland, die bereits ein Jahresvolumen von über 800.000 Tonnen erreicht hatte, sank daraufhin auf unter 500.000 Tonnen und die Einnahmen der I.G. Farben halbierten sich. Dennoch blieb die I.G. Farben bis 1930 der weltweit größte Hersteller von Ammoniak; 65 Prozent des Gesamtgewinns entfielen auf die Ammoniaksynthese. Das vom Kabinett Brüning erlassene Einfuhrembargo für Stickstoffdünger erlaubte der I.G. Farben, die Preise für synthetische Düngemittel wieder zu erhöhen. Nach der Machtergreifung Hitlers übernahm das Nazi-Regime die Kontrolle über die I.G. Farben. Bosch stellte auf Druck des NS-Regimes 1935 seinen Vorstandsposten zur Verfügung, der an das NSDAP-Mitglied und Wehrwirtschaftsführer Hermann Schmitz fiel. 1940 erreichte die Ammoniakproduktion in Deutschland bereits eine Million Tonnen pro Jahr. Infolge des stetig steigenden Bedarfs an Ammoniak und seinen Folgeprodukten entstanden immer leistungsfähigere Reaktoren. Nach dem Zweiten Weltkrieg Die zunehmende Verfügbarkeit von preiswertem Erdöl und kostenreduzierenden Vergasungsprozessen durch beispielsweise die partielle Oxidation von Erdölfraktionen ermöglichte nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufbau von Haber-Bosch-Anlagen in aller Welt. Die ursprünglich von der I.G. Farben entwickelte partielle Oxidation wurde durch das Unternehmen Imperial Chemical Industries (ICI) verbessert und um die Oxidation von Naphtha erweitert, womit in den 1950er und 1960er Jahren die Rohstoffe des Verfahrens preiswerter wurden. Ingenieurunternehmen wie M. W. Kellogg entwickelten in der Folgezeit energieeffizientere und damit kostengünstigere Großanlagen mit nur einem Reaktor, die zu einer weltweiten Erhöhung der Anlagenkapazität führten. Zunehmender Wettbewerb und ein hoher Kostendruck ebneten schließlich den Weg für das LCA-Verfahren der ICI und das KAAP-Verfahren von Kellogg, Brown & Root, bei dem erstmals ein Rutheniumkatalysator Verwendung fand. Rohstoffe Ammoniak entsteht in einer Gleichgewichtsreaktion aus den Elementen Wasserstoff und Stickstoff gemäß der Gleichung , wobei der benötigte Stickstoff der Umgebungsluft entnommen wird. Der ebenfalls in der Luft enthaltene, aber unerwünschte Sauerstoff wurde zunächst durch Reduktion mit Wasserstoff in Wasser umgesetzt und so abgeschieden; das Fauser-Verfahren nutzte den bei der Ammoniakverbrennung mit Luft nicht umgesetzten Stickstoff als Rohstoff. Später erwies sich die Stickstoffgewinnung durch Luftzerlegung nach dem Linde-Verfahren als wirtschaftlicher. Den größten Teil der Produktionskosten verursacht die Beschaffung von Wasserstoff, der zunächst aus der kostenintensiven Chloralkali-Elektrolyse gewonnen wurde. Mit Erdgas, Erdöl, Kohle sowie den Elektrolyseprodukten von Wasser kamen später weitere Quellen zur Erzeugung von Wasserstoff hinzu. Die BASF verwendete Wassergas auf Basis der Kohlevergasung von Braunkohle mittels eines Winkler-Generators als primäre Quelle. Der Wasserstoff wird dabei über die Reaktion von Wasserdampf mit glühendem Koks gewonnen. Die zugeführte Luft wird derart dosiert, dass der Sauerstoff vollständig zu Kohlenstoffmonoxid umgesetzt wird. Der für die spätere Ammoniaksynthese erforderliche Stickstoff verblieb im Wassergas. Anschließend wurde das Kohlenstoffmonoxid mittels Konvertierung in leicht zu entfernendes Kohlenstoffdioxid oder in einer Wassergas-Shift-Reaktion zur Bereitstellung weiteren Wasserstoffs verwendet. Mit dem Rohstoff Kohle wurden im Jahr 2008 etwa 18 Prozent des weltweit produzierten Wasserstoffs hergestellt. Obwohl Erdgas in den 1920er Jahren der BASF noch nicht als Rohstoff für die Herstellung von Wasserstoff zur Verfügung stand, initiierte Carl Bosch bereits die Entwicklung der Dampfreformierung von Methan, welche später ein wichtiger Bestandteil des Verfahrens werden sollte. Einen Durchbruch erzielte Georg Schiller für die I.G. Farben, dem die Dampfreformierung von Methan mittels eines Nickeloxid-Katalysators gelang. Der Standard Oil of New Jersey wurde eine Lizenz erteilt, die 1931 mit der Wasserstoffproduktion durch Dampfreformierung in ihrem Werk in Baton Rouge in Louisiana begann. Auf die Dampfreformierung von Erdgas entfielen 2014 etwa 48 Prozent der globalen Wasserstoffproduktion, zirka 60 Prozent davon verwendete das Haber-Bosch-Verfahren. Ein anderes mögliches Verfahren der Wasserstoffgewinnung ist die partielle Oxidation. Dabei werden erdgas- oder erdölstämmige Kohlenwasserstoffe mit Sauerstoff und Wasserdampf in einem offenen Reaktor ohne Katalysator bei etwa 1100 °C vergast und das Synthesegas wie bei der Dampfreformierung weiterverarbeitet. Die höheren Kohlenwasserstoffe aus Erdöl trugen 2008 zu 30 Prozent zur jährlichen Produktion von Wasserstoff bei. Wasserstoff kann weiterhin durch die Elektrolyse von Wasser gewonnen werden. Hierdurch wird mit elektrischer Energie Wasser in Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O2) zerlegt. Dieses Verfahren ist nur wirtschaftlich, wenn preiswerte elektrische Energie zum Beispiel aus Wasserkraft zur Verfügung steht. Auf die Elektrolyse entfielen 2008 etwa vier Prozent der Wasserstoffproduktion. Angesichts der Klimaproblematik und dem Bestreben, CO2-Emissionen zu verringern, ist diese Möglichkeit der Wasserstoffgewinnung unter Verwendung erneuerbarer Energien wie Windkraft oder Solarstrom wieder stark in den Fokus der Politik und Wirtschaft gelangt. Thyssenkrupp Nucera hat in den letzten Jahren seine Fertigungskapazitäten für die Alkalische Wasserelektrolyse auf 1 Gigawatt Elektrolyseurleistung pro Jahr ausgebaut.    Mit dem Aufkommen von Platforming-Kapazitäten in den Vereinigten Staaten Mitte der 1950er Jahre stand eine petrochemische Wasserstoffquelle zur Verfügung, die 1956 etwa elf Prozent des benötigten Wasserstoffs für die Ammoniaksynthese in den Vereinigten Staaten bereitstellte. Später nutzten andere Raffinerieverfahren wie die Hydrodesulfurierung sowie das Hydrocracken den anfallenden Wasserstoff. Katalysator Zur Senkung der Aktivierungsenergie und der damit einhergehenden Steigerung der Reaktionsgeschwindigkeit wird bei vielen chemischen Prozessen ein zusätzlicher Stoff, der Katalysator, eingesetzt, der während der Reaktion nicht verbraucht wird. Unterscheidet sich dabei der Aggregatzustand des Katalysators von dem der eigentlichen miteinander reagierenden Stoffe, handelt es sich um einen heterogenen Katalysator. So auch beim Haber-Bosch-Verfahren, bei dem feinverteiltes Eisen auf einem Eisenoxidträger in fester Form als Katalysator innerhalb eines reagierenden Gasgemisches dient. Dieser heterogene Katalysator, auch „Kontakt“ genannt, entsteht während der Reaktion aus einem anderen, zuvor im Reaktor eingebrachten Material, dem „Katalysatorvorläufer“ oder „Präkursorkontakt“. Eisenkatalysator Der heterogene Eisenkatalysator ist eine katalytisch sehr aktive Form des kubisch raumzentrierten α-Eisens und entsteht durch chemische Reduktion aus einer speziellen Form oxidierten Eisens, dem Magnetit (Fe3O4). Die Wirkung des Katalysators wird durch oxidische Promotoren verstärkt, die dem Magnetit zuvor zugesetzt wurden. Im Falle der Ammoniaksynthese zählen dazu beispielsweise Aluminiumoxid, Kaliumoxid, Calciumoxid und Magnesiumoxid. Die Herstellung des benötigten Magnetitkontakts erfordert einen speziellen Schmelzprozess, bei dem die verwendeten Rohmaterialien frei von Katalysatorgiften und die Promotorenzuschläge gleichmäßig in der Magnetit-Schmelze verteilt sein müssen. Durch schnelles Abkühlen der etwa 3500 °C heißen Magnetit-Schmelze bildet sich der gewünschte Katalysator mit hoher Aktivität, wodurch die Abriebresistenz desselben vermindert wird. Trotz dieses Nachteils wird in der Praxis die Methode des schnellen Abkühlens häufig bevorzugt. Die Reduktion des Katalysatorvorläufers Magnetit zu α-Eisen wird mit Synthesegas direkt in der Produktionsanlage durchgeführt. Die Reduktion des Magnetits verläuft zunächst über die Stufe von Wüstit (FeO), sodass sich ein Kontakt mit einem Kern aus Magnetit bildet, der von einer Hülle aus Wüstit umgeben ist. Die weitere Reduktion der Magnetit- und Wüstit-Phase führt zur Bildung von α-Eisen, das zusammen mit den Promotoren die äußere Schale bildet. Die dabei ablaufenden Prozesse sind komplex und hängen von der Reduktionstemperatur ab. So disproportioniert Wüstit bei tieferen Temperaturen in eine Eisen- und eine Magnetitphase, bei höheren Temperaturen ist die Reduktion der Wüstit- und Magnetitphase zum Eisen der dominante Prozess. Das α-Eisen bildet Primärkristallite mit einem Durchmesser von etwa 30 Nanometern. Diese bilden ein bimodales Porensystem mit Porendurchmessern von etwa 10 Nanometern, die durch Reduktion der Magnetit-Phase entstehen, beziehungsweise von 25 bis 50 Nanometer, die durch Reduktion der Wüstit-Phase entstehen. Die Promotoren werden mit Ausnahme von Cobaltoxid nicht reduziert. Bei der Reduktion des Eisenoxids mit Synthesegas entsteht als Nebenprodukt Wasserdampf. Für eine optimale Katalysatorqualität muss dieser Wasserdampf berücksichtigt werden. Wenn dieser in Kontakt mit dem fein verteilten Eisen kommt, führt das speziell in Verbindung mit hohen Temperaturen zu vorzeitiger Alterung des Katalysators durch Rekristallisation. Daher wird der Dampfdruck des bei der Katalysatorbildung entstehenden Wassers im Gasgemisch möglichst gering gehalten, wobei Werte von unter 3 gm−3 angestrebt werden. Die Reduktion wird aus diesem Grund bei hohem Gasaustausch, geringem Druck und niedrigen Temperaturen durchgeführt. Die Exothermie der Ammoniakbildung sorgt für eine schrittweise Erhöhung der Temperatur. Die Reduktion von frischem, vollständig oxidiertem Katalysator beziehungsweise Präkursor bis hin zum Erreichen der vollen Kapazität dauert vier bis zehn Tage. Die Wüstit-Phase wird schneller als die Magnetit-Phase (Fe3O4) und bei geringeren Temperaturen reduziert. Nach detaillierten kinetischen, mikroskopischen und röntgenspektroskopischen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass sich Wüstit als Erstes zu metallischem Eisen umsetzt. Dies führt zu einer Dichteinhomogenität (Gradient) der Eisen(II)-ionen, wodurch diese vom Magnetit durch das Wüstit an die Grenzfläche diffundieren und dort als Eisenkeime ausfallen. In der technischen Praxis haben vorreduzierte, stabilisierte Katalysatoren einen bedeutenden Marktanteil errungen. Sie verfügen bereits über die voll ausgebildete Porenstruktur, sind jedoch nach der Herstellung wieder an der Oberfläche oxidiert worden und damit nicht mehr pyrophor. Das Reaktivieren solcher vorreduzierten Katalysatoren benötigt lediglich 30 bis 40 Stunden anstelle sonst üblicher mehrtägiger Zeitspannen. Neben der geringen Anlaufzeit besitzen sie mit einer höheren Wasserresistenz und einem geringeren Gewicht weitere Vorteile. Andere Katalysatoren als Eisen Seit der industriellen Einführung des Haber-Bosch-Verfahrens wurden viele Anstrengungen zu dessen Verbesserung unternommen, in deren Folge es zu bedeutenden Fortschritten kam. Bei der Verbesserung des Katalysators zur Ammoniaksynthese hingegen gab es seit den 1920ern lange Zeit keine nennenswerten Fortschritte. Im Rahmen der Suche nach geeigneten Katalysatoren wurden viele Metalle intensiv getestet: Die Voraussetzung zur Eignung ist die dissoziativ verlaufende Adsorption des Stickstoffs (das Stickstoff-Molekül muss also während der Adsorption in zwei Stickstoff-Atome gespalten werden). Gleichzeitig darf die Bindung der Stickstoff-Atome nicht zu stark erfolgen, anderweitig käme es zur Herabsetzung der katalytischen Fähigkeiten (also zur Selbstvergiftung). Die Metalle im Periodensystem der Elemente links der Eisengruppe zeigen eine solche zu starke Bindung zu Stickstoff. Durch die damit verbundene Bildung von Volumen- oder Oberflächennitriden werden beispielsweise Chrom-Katalysatoren unwirksam, sie vergiften sich selbst. Metalle rechts der Eisengruppe hingegen adsorbieren Stickstoff in zu geringem Maße, als dass sie ausreichend Stickstoff für die Ammoniaksynthese zu aktivieren in der Lage wären. Haber selbst verwendete zunächst Osmium und Uran als Katalysatoren. Uran reagiert während der Katalyse zum Nitrid und Osmiumoxid ist sehr selten, flüchtig und hochgiftig. Aufgrund des vergleichsweise geringen Preises, der großen Verfügbarkeit, der einfachen Verarbeitung, der Lebensspanne und der Aktivität wurde schließlich Eisen als Katalysator gewählt. Für eine Produktionskapazität von beispielsweise 1800 Tonnen pro Tag wird damit ein Druck von mindestens 130 bar, Temperaturen von 400 bis 500 °C und ein Reaktorvolumen von wenigstens 100 m³ benötigt. Theoretischen und praktischen Untersuchungen zufolge ist der Spielraum für weitere Verbesserungen des reinen Eisenkatalysators begrenzt. Erst die seit 1984 eingesetzte Modifizierung des Eisenkatalysators durch Cobalt steigerte dessen Aktivität merklich. Katalysatoren der zweiten Generation Auf Ruthenium basierende Katalysatoren zeigen bei vergleichbaren Drücken und niedrigeren Temperaturen eine höhere Aktivität und werden daher als Katalysatoren der zweiten Generation bezeichnet. Ihre Aktivität ist stark vom Katalysatorträger und den Promotoren abhängig. Als Träger kommen eine Vielzahl von Substanzen infrage, neben Kohlenstoff sind dies Magnesiumoxid, Aluminiumoxid, Zeolite, Spinelle und Bornitrid. Ruthenium-Aktivkohle-Katalysatoren werden seit 1992 industriell im „KBR Advanced Ammonia Process“ (KAAP, dt. etwa weiterentwickelter Ammoniak-Prozess nach Kellogg, Brown und Root) verwendet. Der Kohlenstoffträger wird teilweise zu Methan abgebaut, was durch eine spezielle Behandlung des Kohlenstoffs bei 1500 °C abgemildert werden kann und so die Lebenszeit zu verlängern hilft. Daneben geht von dem fein dispergierten Kohlenstoff eine Explosionsgefahr aus. Aus diesen Gründen sowie aufgrund der niedrigen Acidität hat sich Magnesiumoxid als gute Alternative erwiesen. Träger mit aciden Eigenschaften entziehen dem Ruthenium Elektronen, machen es weniger reaktiv, und sie binden unerwünschterweise Ammoniak an der Oberfläche. Katalysatorgifte Katalysatorgifte reduzieren die Aktivität des Katalysators. Sie sind entweder Bestandteil des Synthesegases oder stammen aus Verunreinigungen des Katalysators selbst, wobei Letzteres keine größere Rolle spielt. Wasser, Kohlenstoffmonoxid, Kohlenstoffdioxid und Sauerstoff sind temporäre Katalysatorgifte. Schwefel-, Phosphor-, Arsen- und Chlor-Verbindungen sind permanente Katalysatorgifte. Chemisch inerte Bestandteile des Synthesegasgemischs wie Edelgase oder Methan sind zwar keine Katalysatorgifte im eigentlichen Sinn, sie reichern sich aber durch die Zyklisierung der Prozessgase an und reduzieren so den Partialdruck der Reaktanden, was wiederum negativ auf die katalytische Umsetzung wirkt. Reaktionstechnik Synthesebedingungen Die Ammoniaksynthese findet bei einem Mengenverhältnis Stickstoff zu Wasserstoff von 1 zu 3, einem Druck von 250 bis 350 bar, einer Temperatur von 450 bis 550 °C und unter Verwendung von α-Eisen als Katalysator gemäß folgender Gleichung statt: Die Reaktion ist eine exotherme, unter Volumenverminderung ablaufende Gleichgewichtsreaktion, deren Massenwirkungskonstante Keq sich aus folgender Gleichung ergibt: . Da die Reaktion exotherm ist, verschiebt sich das Gleichgewicht der Reaktion bei niedrigeren Temperaturen auf die Seite des Ammoniaks. Weiterhin entstehen aus vier Volumenteilen der Rohmaterialien zwei Volumenteile von Ammoniak. Gemäß dem Prinzip vom kleinsten Zwang begünstigt ein hoher Druck daher ebenfalls die Entstehung von Ammoniak. Es ist zudem ein hoher Druck notwendig, um eine ausreichende Oberflächenbedeckung des Katalysators mit Stickstoff zu gewährleisten. Der Katalysator Ferrit (α-Fe) entsteht im Reaktor durch die Reduktion von Magnetit mit Wasserstoff. Dieser ist ab Temperaturen von etwa 400 bis 500 °C optimal wirksam. Durch den Katalysator wird die Aktivierungsbarriere für die Spaltung der Dreifachbindung des Stickstoffmoleküls stark abgesenkt, dennoch sind hohe Temperaturen für eine angemessene Reaktionsgeschwindigkeit erforderlich. Bei der gewählten Reaktionstemperatur liegt das Optimum zwischen dem Zerfall von Ammoniak in die Ausgangsstoffe und der Wirksamkeit des Katalysators. Das gebildete Ammoniak wird laufend aus dem Reaktionssystem entfernt. Der Volumenanteil von Ammoniak im Gasgemisch beträgt rund 20 %. Die inerten Bestandteile, besonders die Edelgase wie Argon, dürfen einen bestimmten Gehalt nicht überschreiten, um den Partialdruck der Reaktanden nicht zu sehr abzusenken. Zur Entfernung der inerten Gasbestandteile wird ein Teil des Gases abgezogen und das Argon in einer Gastrennanlage abgeschieden. Die Gewinnung reinen Argons aus dem Kreislaufgas ist mittels Linde-Verfahren möglich. Großtechnische Durchführung Moderne Ammoniakanlagen erzeugen mehr als 3000 Tonnen pro Tag in einer Produktionslinie. Das folgende Schema zeigt den Aufbau einer Haber-Bosch-Anlage. Je nach Herkunft des Synthesegases muss dieses zunächst von Verunreinigungen wie Schwefelwasserstoff oder organischen Schwefelverbindungen befreit werden, die als Katalysatorgift wirken. Hohe Konzentrationen von Schwefelwasserstoff, die bei Synthesegas aus Schwelkoksen vorkommen, werden in einer Nassreinigungsstufe wie dem Sulfosolvan-Verfahren entfernt, niedrige Konzentrationen durch Adsorption an Aktivkohle. Organoschwefelverbindungen werden mittels Druckwechseladsorption zusammen mit Kohlenstoffdioxid nach der CO-Konvertierung abgeschieden. Zur Herstellung von Wasserstoff mittels Dampfreformierung reagiert Methan mit Wasserdampf mit Hilfe eines Nickeloxid-Aluminiumoxid-Katalysators im Primärreformer zu Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff. Die dafür benötigte Energie, die Enthalpie ΔH, beträgt dabei 206 kJ/mol. Im Primärreformer setzt sich das Methangas nur unvollkommen um. Um die Ausbeute an Wasserstoff zu erhöhen und den Gehalt an inerten Bestandteilen so gering wie möglich zu halten, wird in einem zweiten Schritt im Sekundärreformer das restliche Methangas mit Sauerstoff zu Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff umgesetzt. Der Sekundärreformer wird hierzu mit Luft beschickt, wobei auch der für die spätere Ammoniaksynthese erforderliche Stickstoff in das Gasgemisch kommt. In einem dritten Schritt wird das Kohlenstoffmonoxid zu Kohlenstoffdioxid oxidiert, was als CO-Konvertierung oder Wassergas-Shift-Reaktion bezeichnet wird. Kohlenstoffmonoxid und Kohlenstoffdioxid bilden mit Ammoniak Carbamate, die als Feststoffe in kurzer Zeit Rohrleitungen und Apparate verstopfen würden. Im folgenden Prozessschritt muss daher das Kohlenstoffdioxid aus dem Gasgemisch entfernt werden. Im Gegensatz zu Kohlenstoffmonoxid kann Kohlenstoffdioxid durch eine Gaswäsche mit Triethanolamin leicht aus dem Gasgemisch entfernt werden. Das Gasgemisch enthält dann noch Edelgase wie Argon sowie Methan, die sich inert verhalten. Anschließend wird das Gasgemisch mittels Turbokompressoren auf den benötigten Betriebsdruck komprimiert. Die entstehende Verdichtungswärme wird mittels Wärmetauschern abgeführt; sie wird zur Vorheizung von Rohgasen eingesetzt. Im Ammoniakreaktor findet die eigentliche Herstellung von Ammoniak statt, wobei die ersten Reaktoren unter dem hohen Druck platzten, da der atomare Wasserstoff im kohlenstoffhaltigen Stahl zu Methan teilrekombinierte und Risse im Stahl erzeugte. Deshalb entwickelte Bosch Rohrreaktoren, bestehend aus einem drucktragenden Stahlrohr, in dem ein Futterrohr aus kohlenstoffarmem Eisen einzogen wurde, in welches der Katalysator eingefüllt wurde. Durch das innere Stahlrohr diffundierender Wasserstoff entwich nach außen über dünne Bohrungen des äußeren Stahlmantels, den sogenannten Bosch-Löchern. Die Entwicklung wasserstoffbeständiger Chrom-Molybdän-Stähle erlaubte die Konstruktion einwandiger Rohre. Ein Nachteil der Rohrreaktoren war der relativ hohe Druckverlust, der durch Kompression wieder aufgebracht werden musste. Moderne Ammoniak-Reaktoren sind als Etagenreaktoren mit geringem Druckverlust ausgeführt, bei denen die Kontakte als Schüttungen auf etwa zehn übereinander befindlichen Etagen verteilt sind. Sie werden von oben nach unten nacheinander vom Gasgemisch durchströmt. Zur Kühlung wird seitlich Kaltgas eingedüst. Ein Nachteil dieses Reaktortyps ist die unvollständige Umsetzung des Kaltgasgemischs im letzten Katalysatorbett. Alternativ wird zwischen den Katalysatorschichten das Reaktionsgemisch mittels Wärmetauschern gekühlt, wobei das Wasserstoff-Stickstoff-Gemisch auf Reaktionstemperatur vorgeheizt wird. Reaktoren dieses Typs weisen drei Katalysatorbetten auf. Neben einer guten Temperaturkontrolle besteht bei diesem Reaktortyp der Vorteil einer besseren Umsetzung der Rohstoffgase gegenüber Reaktoren mit Kaltgaseinspeisung. Im Uhde-Reaktor werden die Katalysatorbetten sogar radial durchströmt, was den Druckverlust des Reaktors weiter verringert. Das Reaktionsprodukt wird für eine maximale Ausbeute laufend entfernt. Dazu wird das Gasgemisch von 450 °C in einem Wärmetauscher mittels Wasser, frisch zugeführten Gasen und andere Prozessströme abgekühlt. Dabei kondensiert auch das Ammoniak und wird in einem Druckabscheider abgetrennt. Die noch nicht umgesetzten Reaktanten Stickstoff und Wasserstoff werden mittels eines Kreislaufgasverdichters wieder auf Reaktionsdruck verdichtet, mit Frischgas ergänzt und dem Reaktor zugeführt. In einer nachfolgenden Destillation wird der Ammoniak noch gereinigt. Produkte Der Großteil des jährlich benötigten Ammoniaks wird mit dem Haber-Bosch-Verfahren erzeugt. Die Jahresproduktion betrug 2017 etwa 150 Millionen Tonnen mit China, Indien und Russland als größten Produzenten. Aufgrund des hohen Energiebedarfs bei der Herstellung des benötigten reinen Wasserstoffs entfallen etwa 1,4 Prozent des Weltenergiebedarfs auf das Haber-Bosch-Verfahren. Die dabei erzeugten Kohlenstoffdioxidemissionen betragen etwa drei bis fünf Prozent des globalen Ausstoßes, wobei ein Teil zur Erzeugung von Harnstoff genutzt wird. Heutzutage haben, zumindest bei der Bevölkerung der Industrienationen, etwa 40 Prozent des im menschlichen Körper enthaltenen Stickstoffs schon einmal an der Haber-Bosch-Synthese teilgenommen. Das Primärprodukt Ammoniak wird zu etwa 80 Prozent zu Dünger weiterverarbeitet, 20 Prozent entfallen auf andere Produkte. Die wichtigsten auf Ammoniak basierenden Stickstoffdünger sind neben den gasförmigen und wässrigen Lösungen von Ammoniak das Ammoniumnitrat und Harnstoff. Die Produktion von Harnstoff in einem Hochdruckverfahren geht auf Carl Bosch und Wilhelm Meiser zurück und wurde 1922 von der BASF erstmals in Betrieb genommen. Im Jahr 2010 betrug das Produktionsvolumen 130 Millionen Tonnen. Die gesamte Weltproduktion von Salpetersäure erfolgt durch katalytische Verbrennung nach dem Ostwaldverfahren. Das Verfahren geht auf einen Vorlesungsversuch zurück, bei dem ein glühender Platindraht in ein Ammoniak-Luft-Gemisch getaucht wird, um nitrose Gase zu erzeugen. Die Weltjahresproduktion betrug 80 Millionen Tonnen im Jahr 2009. Das meistproduzierte Folgeprodukt der Salpetersäure ist Ammoniumnitrat; die Jahresproduktion betrug 2002 etwa 39 Millionen Tonnen, von denen etwa 80 Prozent zu Düngemitteln und 20 Prozent zu Sprengstoffen verarbeitet werden. Weitere Folgeprodukte wie Kaliumnitrat, partiell oder vollständig mit Ammoniak neutralisierte Phosphate wie Mono-, Di- und Ammoniumpolyphosphate, Ammoniumsulfat sowie Ammoniumnitrat-Harnstoff-Lösung sind häufig eingesetzte Dünger. Etwa fünf Prozent der Ammoniakproduktion werden zur Herstellung von Sprengstoffen verwendet. Die in vielen Sprengstoffen vorkommenden Nitro- und Nitratgruppen basieren letztlich auf Ammoniak, das nach dem Haber-Bosch-Verfahren gewonnen wurde, darunter sind wichtige Sprengstoffe wie Trinitrotoluol und Nitroglycerin. Ungefähr zehn Prozent der Ammoniakproduktion wird für die Herstellung stickstoffhaltiger Verbindungen wie Nitrilen, Aminen und Amiden verwendet. Die Palette der Folgeprodukte ist äußerst vielfältig und reicht von Harnstoffharzen, Sulfonamiden über Nitrobenzol und dessen Folgeprodukt Anilin in die Polyurethan- und Farbstoffchemie, Caprolactam für die Produktion von Polymeren und bis hin zu Raketentreibstoffen wie Hydrazin. Ein wichtiges Nebenprodukt des Verfahrens ist darüber hinaus die Kohlensäure, da das beim Haber-Bosch-Verfahren entstehende Kohlendioxid relativ rein anfällt und nicht aufwändig weiterverarbeitet werden muss. Das Kohlendioxid wird in Wasser gelöst als Kohlensäure in der Getränkeindustrie genutzt. Mechanismus Elementarschritte Der Mechanismus der Ammoniaksynthese unterteilt sich in die folgenden sieben Schritte: Transport der Edukte aus der Gasphase durch die Grenzschicht an die Oberfläche des Kontakts Porendiffusion zum Reaktionszentrum Adsorption der Reaktanten Reaktion Desorption der Produkte Rücktransport der Produkte durch das Porensystem an die Oberfläche Rücktransport ins Gasvolumen. Wegen der Schalenstruktur des Katalysators sind die beiden ersten und letzten Schritte schnell gegenüber der Adsorption, der Reaktion und der Desorption. Austauschreaktionen zwischen Wasserstoff und Deuterium an Haber-Bosch-Katalysatoren finden in messbarer Geschwindigkeit noch bei Temperaturen von −196 °C statt; auch der Austausch zwischen Deuterium und Wasserstoff am Ammoniakmolekül findet bereits bei Raumtemperatur statt. Da beide Schritte schnell verlaufen, können diese nicht geschwindigkeitsbestimmend für die Ammoniaksynthese sein. Aus verschiedenen Untersuchungen ist bekannt, dass der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Ammoniaksynthese die Dissoziation des Stickstoffs ist. Die Adsorption des Stickstoffs an der Katalysatoroberfläche hängt neben den Reaktionsbedingungen von der mikroskopischen Struktur der Katalysatoroberfläche ab. Eisen weist verschiedene Kristallflächen auf, deren Reaktivität höchst unterschiedlich ist. Die Fe(111)- und Fe(211)-Flächen weisen die mit Abstand höchste Aktivität auf. Die Erklärung dafür ist, dass nur diese Flächen so genannte C7-Plätze aufweisen – das sind Eisenatome mit sieben nächsten Nachbarn. Die dissoziative Adsorption des Stickstoffs auf der Oberfläche folgt folgendem Schema, wobei S* ein Eisenatom an der Oberfläche des Katalysators bedeutet: N2 → S*–N2 (γ-Spezies) → S*–N2–S* (α-Spezies) → 2 S*–N (β-Spezies, Oberflächennitrid) Die Adsorption von Stickstoff ähnelt der Chemisorption des Kohlenstoffmonoxids. Auf einer Fe(111)-Fläche führt die Adsorption von Stickstoff zunächst zu einer adsorbierten γ-Spezies mit einer Adsorptions-Energie von 24 kJmol−1 und einer N-N-Streckschwingung von 2100 cm−1. Da der Stickstoff zu Kohlenstoffmonoxid isoelektronisch ist, adsorbiert er in einer On-end-Konfiguration, in der das Molekül über ein Stickstoffatom senkrecht zur Metalloberfläche gebunden ist. Dies wurde durch Photoelektronenspektroskopie bestätigt. Ab-initio-MO-Rechnungen haben gezeigt, dass neben der σ-Hinbindung des freien Elektronenpaars des Stickstoffs zum Metall eine π-Rückbindung aus den d-Orbitalen des Metalls in die π*-Orbitale des Stickstoffs vorliegt, welche die Eisen-Stickstoff-Bindung stärkt. Der Stickstoff im α-Zustand ist mit 31 kJmol−1 stärker gebunden. Die dadurch resultierende N-N-Bindungsschwächung konnte durch eine Verringerung der Wellenzahlen der N-N-Streckschwingung auf 1490 cm−1 experimentell belegt werden. Ein weiteres Aufwärmen der Fe(111)-Fläche, die von α-N2 bedeckt ist, führt sowohl zu Desorption als auch zum Auftauchen einer neuen Bande bei 450 cm−1. Diese stellt eine Metall-N-Schwingung dar, den β-Zustand. Ein Vergleich mit Schwingungsspektren von Komplexverbindungen lässt den Schluss zu, dass das N2-Molekül „side-on“ gebunden ist, mit einem N-Atom in Kontakt zu einem C7-Platz. Diese Struktur wird als „Oberflächennitrid“ bezeichnet. Das Oberflächennitrid ist sehr stark an die Oberfläche gebunden. Daran addieren sich schnell Wasserstoffatome (Hads), die auf der Katalysatoroberfläche sehr beweglich sind. Es bilden sich infrarotspektroskopisch nachgewiesene Oberflächenimide (NHad), Oberflächenamide (NH2,ad) und Oberflächen-Ammoniakate (NH3,ad), Letztere zerfallen unter NH3-Abgabe (Desorption). Die einzelnen Moleküle wurden mit Röntgenphotoelektronenspektroskopie (XPS), Hochauflösender Elektronenenergieverlustspektroskopie (HREELS) und IR-Spektroskopie identifiziert beziehungsweise zugeordnet. Auf Basis dieser experimentellen Befunde kann ein Reaktionsschema erstellt werden, das aus den folgenden Einzelschritten besteht: H2 + S* ⇌ 2 Had N2 + S* ⇌N2,ad N2,ad⇌ 2 Nad Nad + Had ⇌ NHad NHad + Had ⇌ NH2,ad NH2,ad + Had ⇌ NH3,ad NH3,ad ⇌ NH3 + S* So wie bei jedem Haber-Bosch-Katalysator ist bei Ruthenium-Aktivkohle-Katalysatoren der geschwindigkeitsbestimmende Schritt die Stickstoff-Dissoziation. Das aktive Zentrum ist hierfür bei Ruthenium ein sogenannter B5-Platz, einer 5-fach koordinierten Position an der Ru(0001)-Oberfläche, an der zwei Ruthenium-Atome eine Stufenkante mit drei Ruthenium-Atomen der Ru(0001)-Oberfläche bilden. Die Zahl an B5-Stelle ist abhängig von Größe und Form der Ruthenium-Partikel, dem Ruthenium-Präkursor und der verwendeten Menge an Ruthenium. Die verstärkende Wirkung des basischen Trägers hat die gleiche Wirkung wie der Promotoreffekt von Alkalimetallen, der hier ebenso wie beim Eisenkatalysator zum Tragen kommt. Energiediagramm Mit dem Wissen um die Reaktionsenthalpie der einzelnen Schritte kann ein Energiediagramm erstellt werden. Mithilfe des Energiediagramms lassen sich homogene und heterogene Reaktion vergleichen: Aufgrund der hohen Aktivierungsenergie der Dissoziation von Stickstoff ist die homogene Gasphasenreaktion nicht durchführbar. Der Katalysator umgeht dieses Problem, da der Energiegewinn, der aus der Bindung von Stickstoffatomen an die Katalysatoroberfläche resultiert, die notwendige Dissoziationsenergie überkompensiert, sodass die Reaktion schlussendlich exotherm ist. Trotzdem bleibt die dissoziative Adsorption von Stickstoff der geschwindigkeitsbestimmende Schritt: nicht wegen der Aktivierungsenergie, sondern vor allem aufgrund des ungünstigen präexponentiellen Faktors der Geschwindigkeitskonstante. Die Hydrierung ist zwar endotherm, diese Energie kann jedoch leicht von der Reaktionstemperatur (etwa 700 K) aufgebracht werden. Verfahrensvarianten Seit der Einführung des Haber-Bosch-Verfahrens ist die Synthese von Ammoniak aus Luftstickstoff einer der weltweit wichtigsten chemischen Herstellungsprozesse geworden. Die Entwicklung von Verfahrensvarianten zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente oft der Umgehung von Patentansprüchen der BASF. Da das Verfahren einen signifikanten Energieverbrauch erfordert, konzentrierten sich spätere Entwicklungen auf die Energieeffizienz. So betrug der durchschnittliche Energieverbrauch pro Tonne Ammoniak im Jahr 2000 noch etwa 37,4 GJ, während das thermodynamisch bedingte Minimum bei 22,4 Gigajoule pro Tonne liegt. Casale-Verfahren Das Casale-Verfahren wurde zu Beginn der 1920er Jahre von Luigi Casale entwickelt. Das Verfahren verwendet einen Eisenkatalysator, arbeitet aber gegenüber dem Haber-Bosch-Verfahren mit einem Druck von etwa 800 bis 1000 bar. Der Reaktor war dadurch kleiner und erlaubte durch einen internen, zentralen Wärmetauscher und die axiale Eindüsung von kaltem Gas eine gute Temperaturkontrolle. Der hohe Betriebsdruck erlaubte die direkte Kondensation von Ammoniak ohne Absorption in Wasser. Bis 1923 errichtete Casale in Europa und den Vereinigten Staaten 15 Anlagen mit einer Kapazität von etwa 80.000 Tonnen Ammoniak pro Jahr, 1927 betrug die installierte Kapazität bereits 320.000 Tonnen pro Jahr. Zu dieser Zeit war Casale der einzige Wettbewerber der BASF. Insgesamt wurden mehr als 200 Ammoniakanlagen auf der Basis der ersten Technologie-Generation von Casale weltweit errichtet. Uhde dual-pressure process Anfang 2000 entwickelte Uhde einen neuen Prozess, der Anlagenkapazitäten von 3300 Tagestonnen und mehr ermöglicht. Die entscheidende Innovation des Zweidruckverfahrens ist ein nur einmal durchströmter Syntheseloop bei mittlerem Druck in Reihe mit einem konventionellen Hochdrucksynthesekreislauf. Die erste Anlage dieser Art wurde 2004 in Al-Jubail, Saudi-Arabien, erfolgreich in Betrieb genommen. Weitere Anlagen dieses Typs befinden sich in Ma’aden, Saudi-Arabien, und CFI Donaldsonville, USA. Fauser-Verfahren Das Fauser-Verfahren, benannt nach dem italienischen Elektroingenieur Giacomo Fauser, entsprach weitgehend dem Haber-Bosch-Verfahren, nutzte jedoch als Wasserstoffquelle die Elektrolyse von Wasser. Die Fauser-Zelle nutzte 27%ige Kalilauge als Elektrolyt und von Asbest umschlossene Anoden und Kathoden, die eine gute Trennung der entstehenden Gase sicherstellte. Das Verfahren wurde Anfang der 1920er Jahre von Montecatini eingeführt. Mont-Cenis-Verfahren Das Mont-Cenis-Verfahren wurde von Friedrich Uhde entwickelt und 1926 erstmals auf der Zeche Mont Cenis in Betrieb genommen. Das Verfahren, auch Niederdruckverfahren genannt, arbeitet bei Drücken von 80 bis 90 bar und einer Temperatur von 430 °C. Der verwendete Katalysator war ein Eisencyanid-Aluminiumoxid-Katalysator, der aktiver als der von Mittasch entwickelte Katalysator war. Die milderen Prozessbedingungen erlaubten den Einsatz preiswerterer Stähle für die Konstruktion der Reaktoren. AMV-Verfahren Imperial Chemical Industries entwickelte 1982 das AMV-Verfahren mit einem hochaktiven Eisen-Cobalt-Katalysator, der bei einem Reaktionsdruck von 100 bar und einer Temperatur von 380 °C arbeitet. Cobalt ist selbst kaum katalytisch aktiv, sondern dient der Stabilisierung des Kontakts durch Ausbildung von Spinell-Phasen mit dem Aluminiumoxid. Außerdem entstehen bei der Reduktion des Kontakts kleinere Eisenkristallite höherer Aktivität. Eine Weiterentwicklung des Verfahrens ist das 1988 von ICI entwickelte LCA-Verfahren (Leading Concept Ammonia), das für geringere Durchsätze bei gleichem Energieeinsatz konzipiert ist. Das Kohlenstoffdioxid, das in einer einstufigen Wassergas-Shift-Reaktion anfällt, wird durch Druckwechsel-Adsorption entfernt. Kellogg-Advanced-Ammonia-Prozess 1992 entwickelte M. W. Kellog einen Ruthenium-auf-Aktivkohle-Katalysator, der bei niedrigeren Drücken und Temperaturen arbeitet, unter dem Namen Kellogg-Advanced-Ammonia-Prozess (KAAP). Der benötigte Druck beträgt durch den aktiveren, aber teueren Rutheniumkatalysator nur noch etwa 40 bar. Als Promotoren werden Alkali- oder Erdalkalimetalle wie Caesium und Barium verwendet. Der Katalysator soll etwa 10- bis 20-mal so aktiv sein wie der herkömmliche Eisenkatalysator. Solid-State Ammonia Synthesis Bei der Solid-State Ammonia Synthesis (SSAS, Festkörper-Ammoniaksynthese), wird durch direkte elektrolytische Synthese von Ammoniak aus Wasser und Stickstoff unter Einsatz von elektrischer Energie der Umweg über Wasserstofferzeugung aus Wasser umgangen. Der Wirkungsgrad ist dadurch theoretisch deutlich höher, in der Laborpraxis jedoch noch weitgehend unbefriedigend. Die Bildung von Ammoniak erfolgt elektrochemisch nach folgender Gleichung: Die Bruttogleichung der Reaktion ist: Das Verfahren ist noch in der Entwicklung. Es gibt derzeit (Stand 2021) noch keine Produktionsanlage. Literatur Gerhard Ertl: Elementarschritte bei der heterogenen Katalyse. In: Angewandte Chemie. 102, Nr. 11, 1990, S. 1258–1266, doi:10.1002/ange.19901021108. Hans-Erhard Lessing: Brot für die Welt, Tod dem Feind. in: Stephan Leibfried et al.(Hg): Berlins Wilde Energien – Porträts aus der Geschichte der Leibnizschen Wissenschaftsakademie. de Gruyter, Berlin, 2015, ISBN 978-3-11-037598-5 Sandro Fehr: Die „Stickstofffrage“ in der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs und die Rolle der neutralen Schweiz. Nordhausen 2009, . Alwin Mittasch: Geschichte der Ammoniaksynthese. Verlag Chemie, Weinheim 1951, . Robert Schlögl: Katalytische Ammoniaksynthese – eine „unendliche Geschichte“? In: Angewandte Chemie. 115, Nr. 18, 2003, S. 2050–2055, doi:10.1002/ange.200301553. Gerhard Ertl, Jens Soentgen: N: Stickstoff – ein Element schreibt Weltgeschichte. oekom verlag, 2015, ISBN 978-3-86581-736-5. Max Appl: Ammonia. Principles and Industrial Practice. Wiley-VCH, Weinheim 1999, ISBN 3-527-29593-3. Weblinks Einzelnachweise Chemisch-technisches Verfahren Fritz Haber Carl Bosch
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Arminia Bielefeld
Arminia Bielefeld (vollständiger Name Deutscher Sportclub Arminia Bielefeld e. V.) ist ein Bielefelder Sportverein, in dem neben Fußball die Sportarten Hockey, Eiskunstlauf, Billard, Rollstuhlsport und Tischfußball betrieben werden. Der Verein hat 15.236 Mitglieder (Stand: 31. Juli 2023) und gehört damit zu den größeren Sportvereinen in Deutschland. Die Vereinsfarben sind Schwarz, Weiß und Blau. Der Vereinsname leitet sich vom Cheruskerfürsten Arminius ab. Bundesweit bekannt ist der Verein durch seine Fußballabteilung, die erfolgreichste in Ostwestfalen-Lippe. Die erste Herrenmannschaft spielte 19 Jahre lang in der ersten und 22 Jahre in der 2. Bundesliga. Nach dem Abstieg im Jahre 2023 spielt der Verein fortan in der 3. Liga. Aufgrund ihrer vielen Auf- und Abstiege gilt die Arminia als „Fahrstuhlmannschaft“. Achtmal stiegen die Bielefelder in die Bundesliga auf und sind gemeinsam mit dem 1. FC Nürnberg Rekordaufsteiger. Dreimal erreichten sie das Halbfinale des DFB-Pokals. Spielstätte der ersten Herrenmannschaft ist die SchücoArena mit einer Kapazität von 27.332 Plätzen. Bekannt ist das Stadion als „Bielefelder Alm“. Die Spieler werden von den Fans die Blauen und die Arminen genannt. Die Fußballerinnen von Arminia Bielefeld spielten von 2016 bis 2018 und von 2019 bis 2021 in der 2. Bundesliga. Die B-Jugend wurde im Jahre 2023 deutscher Meister. Geschichte 1905–1918: Die frühen Jahre Saisondaten 1906–1918 Anfang des 20. Jahrhunderts existierten in Bielefeld die Gesellschaftsvereine Teutonia und Terpsichore. Die Aktivitäten dieser Vereine beschränkten sich auf das gesellige Beisammensein bürgerlicher junger Leute bei Tanztees und ähnlichem. Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen waren in dieser gesellschaftlichen Schicht verpönt. Zwei zugezogene Mitglieder des Vereins Terpsichore, der Niederländer Alwin Bohlen und der Bremerhavener Jonny Henningsen versuchten im Dezember 1904 bei der Hauptversammlung, dem Verein eine Fußballabteilung anzugliedern. Der Antrag wurde allerdings abgelehnt. Der Vereinsvorsitzende Emil Schröder hatte jedoch mittlerweile Gefallen am Fußball gefunden. Gemeinsam mit Bohlen und Henningsen gab er Zeitungsanzeigen auf, um nach Gleichgesinnten zu suchen. Am 14. April 1905 versammelten sich vierzehn Männer im Restaurant Modersohn, welches sich im Keller des Alten Rathauses befand, und beschlossen, einen Fußballverein zu gründen. Am 3. Mai 1905 wurde an gleicher Stelle der 1. Bielefelder Fußballclub „Arminia“ gegründet. Schröder wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt. Die Vereinsfarben waren Blau-Weiß-Schwarz, der Monatsbeitrag betrug eine Mark. Zwei Wochen später fand auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz in der Stadtmitte das erste Spiel der Vereinsgeschichte statt. Gegner war eine Mannschaft aus Osnabrück. Entgegen den eigenen Vereinsfarben trugen die Spieler der Arminia orange Trikots. Das Ergebnis der Partie ist nicht überliefert. Der Club fand schnell neue Mitglieder und im Herbst 1905 nahm der Verein Kontakt zum Deutschen Fußball-Bund auf. Wegen der geographischen Lage war zunächst fraglich, ob der 1. BFC West- oder Norddeutschland zugeordnet werden sollte. Der Westdeutsche Spiel-Verband gründete daraufhin seinen siebten Fußballbezirk Westfalen und nahm die Arminia auf. In der Saison 1906/07 nahmen die Bielefelder zum ersten Mal am Ligenspielbetrieb teil und trafen dabei auf die Osnabrücker Vereine Teutonia, Olympia 1903 und FC 1899. Nach mehreren Fusionen entstand 1924 aus diesen Vereinen der VfL Osnabrück. Arminia belegte mit 7:7 Toren und 6:6 Punkten den dritten Platz. In Bielefeld gründeten sich weitere Vereine, so dass 1907 auf Initiative der Arminia der Bielefelder Ballsportverband gegründet wurde. Im gleichen Jahr schloss sich der FC Siegfried der Arminia an, die einen neuen Platz an der Kaiserstraße (heute: August-Bebel-Straße) bezog. Mit dem neuen Platz wurde der Verein jedoch nicht glücklich und nach nur fünf Monaten beschlagnahmte die Stadt das Gelände. Gleichzeitig plagten die Arminia finanzielle Probleme. Mit Julius Hesse wurde ein neuer Präsident gewählt, der den Club ins Vereinsregister eintragen ließ und durch geschickte Verhandlungen mit den Gläubigern die Schuldenlast minderte. 1910 bezog die Arminia einen neuen Platz an der Pottenau. Das erste Spiel auf dem neuen Gelände ging mit 1:4 gegen den Essener Turnerbund verloren. In der Saison 1912/13 feierte der Verein seinen ersten großen Erfolg. Zum ersten Mal gewann die Arminia die Runde in der A-Klasse Westfalen, Gruppe Ost und besiegte anschließend den Meister der Westgruppe, den BV Dortmund 04, mit 5:1. Als Westfalenmeister nahm die Arminia an der westdeutschen Meisterschaft teil. Nach der Halbfinalniederlage gegen den Düsseldorfer SC Union stellte sich heraus, dass beide Mannschaften im Viertelfinale gegen einen falschen Gegner gespielt hatten. Der Westdeutsche Verband meldete aus Zeitnot den Duisburger SpV als Vertreter zur deutschen Meisterschaft. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges stoppte den Höhenflug der Arminen. In den folgenden vier Jahren spielte der Verein nur noch auf Bezirksebene. Die Arminia gewann 1916 und 1917 die Meisterschaft im Bezirk Ravensberg-Lippe. 1918–1933: Arminia in der Weimarer Republik Saisondaten 1918–1933 Nachdem die erste Nachkriegsspielzeit abgebrochen werden musste, gestaltete sich ebenfalls die Saison 1919/20 in der eingleisigen Bezirksklasse Westfalen als schwierig. Aufgrund eines von den Alliierten verhängten Reiseverbotes konnte die Meisterschaft nur teilweise ausgetragen werden. Während die Arminen zu 17 der 18 Spiele antreten konnten, trug der FC Osnabrück 99 beispielsweise nur acht Partien aus. Mit dem Ziel, einen Großverein mit vielen Abteilungen zu schaffen, ging die Arminia eine Fusion mit der Bielefelder Turngemeinde 1848 ein. Fortan nannte sich der Verein TG Arminia Bielefeld. Ein Jahr später wurde Arminia zwar Meister der Ostgruppe der Kreisliga Westfalen, durfte jedoch nicht zum Finale der Westfalenmeisterschaft gegen Preußen Münster antreten. Die Bielefelder hatten mit illegalen Mitteln den Spieler Friemauth von der Hammer SpVg abgeworben und wurden für drei Monate gesperrt. Keine zwölf Monate später sollte die Arminia von einer Entscheidung am grünen Tisch profitieren. In der Bezirksklasse gewann die Mannschaft alle Spiele und beendete die Endrunde um die westdeutsche Meisterschaft punktgleich mit dem Kölner BC 01 auf dem ersten Platz. Das Entscheidungsspiel in München-Gladbach entschieden die Rheinländer mit 2:1 für sich. Wenige Tage nach dieser Partie setzte der Verband das Endrundenspiel der Kölner gegen den Essener Turnerbund neu an. Grund war eine fehlende Spielberechtigung für Kölns schottischen Verteidiger Gregor Smith. Köln trat nicht an und das Spiel wurde für Essen als gewonnen gewertet. Dadurch hatte die Arminia in der korrigierten Endrundentabelle einen Punkt Vorsprung und erlangte somit die Meisterschaft. Damit nahm die Arminia erstmals an der Endrunde zur deutschen Meisterschaft teil. Hier kam jedoch im Viertelfinale das Aus. Gegen den FC Wacker München gab es in Karlsruhe eine 0:5-Niederlage. → Daten zur Viertelfinalpartie um die deutsche Meisterschaft 1922 Am 20. Oktober 1922 wurde die TG Arminia auf Antrag der ehemaligen Mitglieder des BFC Arminia aufgelöst. Am 6. November 1922 wurde der 1. Bielefelder FC Arminia wieder gegründet und auch die Bielefelder Turngemeinde 1848 wurde wieder ins Leben gerufen. Durch die Neugründung der Stammvereine kam die Vereinsführung der reinlichen Scheidung zuvor, die 1924 reichsweit unzählige Vereine spalten sollte. In der Saison 1922/23 blieben die Blauen unter Trainer Frantisek Zoubek in der Bezirksklasse ohne Punktverlust. Über die Stationen Preußen Münster und Jahn Siegen drang die Mannschaft in das Finale der westdeutschen Meisterschaft vor. Gegner im Essener Uhlenkrugstadion war TuRU Düsseldorf. Die Rheinländer führten zur Halbzeit mit 3:1 und die Düsseldorfer Anhänger schickten bereits Brieftauben mit der Siegesnachricht nach Hause. Doch die Arminen gaben nicht auf und konnten eine Verlängerung erzwingen. In dieser fiel der Siegtreffer und Arminia errang zum zweiten Mal die westdeutsche Meisterschaft. Unterstützt wurden die Arminen bei dieser Partie von zahlreichen Anhängern, die erstmals in der Vereinsgeschichte mit einem eigens gebuchten Sonderzug anreisten. Im Viertelfinale der deutschen Meisterschaft trafen die Bielefelder auf den SC Union Oberschöneweide aus Berlin. Die in Bochum ausgetragene Partie wurde nach zweieinhalb Stunden Spielzeit torlos abgebrochen. Das Rückspiel in Berlin verlief dramatisch. Willi Pohl brachte die Bielefelder nach 85 Minuten in Führung. Kurz vor Abpfiff fiel der Ausgleich. In der Verlängerung sorgte Lux für den Berliner Siegtreffer. → Daten zur Viertelfinalpartie um die deutsche Meisterschaft 1923 Arminias Spielmacher Walter Claus-Oehler wurde als erster Armine – und als erster Westfale überhaupt – in die deutsche Fußballnationalmannschaft berufen. Er debütierte am 10. Mai 1923 gegen die Niederlande. Insgesamt absolvierte er zwei Länderspiele und erzielte ein Tor. Es sollten mehr als 75 Jahre vergehen, bis wieder ein Bielefelder das Trikot der deutschen Nationalmannschaft trug. Ab dem Jahr 1923 war der sportliche Höhenflug auf nationaler Ebene zunächst vorbei. Zwar konnten die Blauen noch vier weitere westfälische Meisterschaften feiern, bei den westdeutschen Meisterschaften hatten die Bielefelder jedoch nichts mehr zu bestellen. In diese Zeit fiel allerdings ein Ereignis mit Bielefelder Beteiligung, das Geschichte schreiben sollte. Das Auswärtsspiel der Arminia bei Preußen Münster am 1. November 1925 auf dem Münstermannplatz war die erste Liveübertragung eines Fußballspiels im deutschen Rundfunk und endete 5:0 für Arminia. Auch vereinsintern brachte die zweite Hälfte der 1920er-Jahre zwei bedeutsame Änderungen. Am 30. Januar 1926 wurde auf Initiative des Tierarztes Mennerich die Umbenennung des Vereins in „Deutscher Sportclub Arminia Bielefeld“ beschlossen. Mennerich hatte zwar auch patriotische Beweggründe, allerdings bewog ihn vornehmlich die Vision eines Vereins, unter dessen Dach viele Sportarten ein Zuhause finden sollten. Im gleichen Jahr fand die Arminia mit dem Umzug auf die Alm nach fast genau 21 Jahren wechselnder Spielstätten ihre endgültige Heimat. Eröffnet wurde die neue Sportstätte am 1. Mai 1926 mit einem Freundschaftsspiel gegen den SC Victoria Hamburg. 1928 stand zum ersten Mal der Lokalrivale VfB 03 Bielefeld in der Abschlusstabelle vor der Arminia. Auch in den folgenden Jahren blieben die Erfolge aus und dementsprechend gingen die Zuschauerzahlen zurück. Aus finanziellen Gründen musste die Geschäftsstelle aufgelöst werden. Der DSC bekam jedoch durch lukrative Freundschaftsspiele gegen den Hamburger SV und den 1. FC Nürnberg seine Probleme in den Griff. Erst 1932 gab es nach einem 3:1-Sieg über den VfL Osnabrück mit dem Gewinn des Westfalenpokals wieder einen sportlichen Grund zur Freude. Ein Jahr später stand die Arminia wieder im Finale um die Westfalenmeisterschaft. Beide Spiele gegen die SpVgg Herten endeten mit einem 2:2, so dass ein Entscheidungsspiel notwendig war. Mit 4:2 gewannen die Bielefelder in Münster und qualifizierten sich für die westdeutsche Meisterschaft. Hier kam im Viertelfinale gegen die SuS Hüsten 09 das Aus. Dass die Arminia gegen Ende der 1920er-Jahre nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen konnte, hatte mehrere Gründe. Die Leistungsträger kamen in die Jahre und unter den Spielern machte sich eine gewisse Selbstzufriedenheit breit. Dazu kam, dass Mitte der 1920er-Jahre die Arbeitervereine nach vorne drängten. Die bürgerlichen Vereine betrachteten diese „Proletenclubs“ anfänglich mit Misstrauen. 1922 wollte einer dieser Arbeitervereine aus dem Ruhrgebiet ein Freundschaftsspiel mit der Arminia vereinbaren. Aus Bielefeld kam die Antwort, dass dieser Verein doch „erst einmal Fußball spielen lernen sollte“. Lange Zeit hing das Bielefelder Antwortschreiben in der Geschäftsstelle des FC Schalke 04 hinter Glas. 1933–1945: Arminia im Dritten Reich Saisondaten 1933–1945 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte auch Auswirkungen auf den Fußball. Statt über 30 höchsten Spielklassen wurden 16 Gauligen installiert, deren territorialer Zuschnitt sich nach den Gauen der Partei richtete. Die Arminia gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gauliga Westfalen und war eine der Mannschaften, die sich sportlich für diese Klasse qualifizierten. Die Dortmunder Zwangsfusion Sportfreunde 95 wurde beispielsweise mit der Begründung aufgenommen, dass die Stadt Dortmund einen Gauligisten bräuchte. Dabei war keiner der Stammvereine in der Saison 1932/33 erstklassig gewesen. Die erste Saison in der neuen Liga verlief aus Bielefelder Sicht nicht sonderlich erfolgreich. Mit nur sechs Pluspunkten wurde der DSC Tabellenletzter und stieg in die Bezirksliga Ostwestfalen ab. Nachdem die Arminen 1937 in der Aufstiegsrunde gescheitert waren, gelang 1938 der Wiederaufstieg in die Gauliga Westfalen. Zur Aufstiegsmannschaft gehörte auch Helmut Kronsbein, der 1954 Hannover 96 als Trainer zur deutschen Meisterschaft führen sollte. Sportlich konnte die Bielefelder Mannschaft besser mithalten und sorgte für einige Überraschungen. Schon in der Aufstiegssaison rang die Arminia dem „Abonnementmeister“ Schalke 04 auf dessen Platz ein 1:1 ab. In der Saison 1939/40 wurde der DSC gar Vizemeister, obwohl die Mannschaft im Februar noch Vorletzter war. In dieser Saison gelang ein 8:2-Sieg über Borussia Dortmund, für den sich die Dortmunder in der Saison 1940/41 allerdings mit einem 10:2-Sieg auf der „Alm“ revanchierten. Das torreichste Spiel der Gauliga Westfalen stellte ein 13:4-Sieg beim damaligen Aufsteiger VfL Altenbögge in der Spielzeit 1941/42 dar. Im gleichen Jahr gelang den Bielefeldern ebenfalls ein sensationeller 2:1-Sieg in Schalke. Je länger der Zweite Weltkrieg dauerte, desto größer wurden seine Auswirkungen auf die Mannschaft. Immer öfter musste die Mannschaft aus Jugendlichen, Fronturlaubern und Veteranen zusammengestellt werden. Am 25. Juli 1943 ging die Arminia mit dem VfB 03 eine Kriegsspielgemeinschaft ein. Der „Bielefelder Fußballrest“ beendete die letzte Gauligasaison 1943/44 auf dem letzten Platz. Nach der Saison wurde die Gauliga aufgelöst und durch drei Kriegs-Gauklassen ersetzt. Die KSG VfB/Arminia trug jedoch nur noch ein Spiel gegen Union Herford aus, das 1:1 endete. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 gehörten zu den dunkelsten Kapiteln der Vereinsgeschichte. Die von den Nationalsozialisten propagierte Gleichschaltung des Sports wurde aktiv unterstützt. Von Vereinsseite hieß es dazu: Der DSC stand in Bielefeld mit der Unterstützung des Regimes alleine da. Andere Vereine wie der VfB 03 hielten sich gegenüber den Nazis zurück. Mit dem neuen Präsidenten Karl Demberg wurde ab 1934 das Führerprinzip beim DSC Arminia umgesetzt. Jüdische Mitglieder wurden ausgeschlossen und erhielten Hausverbot auf der Alm. Das ehemalige Vorstandsmitglied Fritz Grünewald musste seine goldene Ehrennadel abgeben. Erst 2003 wurde ihm, der im Warschauer Ghetto starb, die Ehrung wieder zuerkannt. Seit 2015 erinnern drei Stolpersteine, die mit Beteiligung des Vereins verlegt wurden, an die Familie Grünewald. 1945–1963: Auf und Ab nach dem Krieg Saisondaten 1945–1963 Die Stadt Bielefeld wurde im Zweiten Weltkrieg weniger stark zerstört als andere Städte in Deutschland. Schon kurz nach Kriegsende wurde die Arminia neugegründet. Zeitweise wurde auch über eine Fusion mit dem Lokalrivalen VfB 03 nachgedacht, jedoch wollten beide Vereine ihre Tradition fortführen. Im Spätsommer 1945 versammelten sich Vertreter aller 18 Vereine, die zwischen 1933 und 1944 in der Gauliga Westfalen spielten, in Bönen und gründeten als Provisorium die Landesliga Westfalen. Am 17. Februar 1946 nahm die Liga ihren Spielbetrieb auf. Der DSC beendete die Saison als Vorletzter der Gruppe 2 und stieg in die Bezirksklasse ab. Der angepeilte direkte Wiederaufstieg wurde verpasst. In der Bezirksklasse belegte die Mannschaft nur Platz fünf und blieb hinter Vereinen wie Grün-Weiß Bielefeld (heute: SC Bielefeld 04/26) oder dem TBV Lemgo zurück. Durch die Einführung der Oberliga West war die Arminia zum ersten Mal drittklassig. Mit dem neuen Trainer Karl Wunderlich von der SG Chemnitz-West sollte alles besser werden. Der DSC dominierte die Bezirksklasse nach Belieben und beendete die Saison als Meister mit 41:3 Punkten und 112:29 Toren. Doch die Freude über die Meisterschaft währte nur kurz. Es stellte sich heraus, dass der ebenfalls aus Chemnitz gekommene Helmut Ullmann verschwiegen hatte, dass er zwischenzeitlich noch in Hannover aktiv war. Nach den damaligen Bestimmungen zog ein Wechsel von einer Besatzungszone zur anderen eine sechsmonatige Sperre nach sich. Der Arminia wurden 14 Punkte abgezogen, wodurch der SC Oelde 09 aufstieg. Kurios verlief die folgende Saison 1948/49. Die Mannschaft hatte bereits einige Spiele in der Bezirksklasse absolviert, als der Verband nachträglich eine Aufstockung der Landesliga um zwei Mannschaften beschloss. Kurzerhand wurde die Arminia in die Landesliga befördert. Beflügelt vom Nachrücken wurde die Mannschaft Gruppensieger und traf in der folgenden Aufstiegsrunde zur Oberliga auf die SpVgg Herten und den VfL Witten. Nach Abschluss der Runde waren alle drei Mannschaften punktgleich. Es wurde eine Wiederholung der Runde auf neutralen Plätzen angesetzt. Nach einem 3:1 gegen Herten in Gladbeck musste die Arminia in Münster gegen Witten antreten. Durch ein Kopfballtor von Helmut Hasse gewann der DSC mit 1:0 und stieg in die Oberliga auf. Die Oberligaspielzeit brachte schnelle Ernüchterung, da die Mannschaft zu schwach für die westdeutsche Eliteliga war. Trotz eines umjubelten 4:2-Sieges über Schalke blieb am Ende nur Platz 15 und Abstieg in die 1949 neu eingeführte II. Division. Die Versuche, wieder in die Oberliga aufzusteigen, misslangen. Durch den Standortnachteil hatte es die Arminia schwer, gute Spieler zu verpflichten oder ihre eigenen guten Spieler zu halten. Da die Verdienstmöglichkeiten der Spieler zur damaligen Zeit festgeschrieben waren, unterschreiben viele Spieler bei den Vereinen, die mehr Handgeld als andere zahlten. Zwar qualifizierte sich der DSC 1952 für die eingleisige II. Division, jedoch musste 1954 der Abstieg in die Landesliga hingenommen werden. Eine 1:4-Niederlage am letzten Spieltag der Saison 1953/54 gegen die SG Wattenscheid 09 besiegelte den Abstieg endgültig. Nach dem Abstieg wurden erneut Fusionsverhandlungen mit dem VfB 03 durchgeführt. Allerdings machte der VfB im letzten Moment einen Rückzieher. Es folgten triste Jahre in der drittklassigen Landesliga bzw. in der 1956 eingeführten Verbandsliga. Auch wenn die Arminia immer unter die ersten Fünf kam, hatte die Mannschaft keine reellen Aufstiegschancen. Dies änderte sich erst 1962, als die Mannschaft mit einem Punkt vor Germania Datteln Sieger der Nordoststaffel wurde. Als Nächstes setzte sich die Arminia gegen den Sieger der Parallelstaffel, den BV Brambauer mit 2:1 und 0:0 durch und feierte erneut die Westfalenmeisterschaft. Zum Abschluss der Saison traf der DSC in der Aufstiegsrunde zur II. Division auf den Duisburger FV 08 und TuRa Bonn. Arminia verlor mit 0:1 in Bonn und schlug danach Duisburg mit 2:0. Da Bonn letztendlich auf den Aufstieg verzichtete, kehrten die Bielefelder in die Zweitklassigkeit zurück. In der Zwischenzeit beschloss der DFB die Gründung der Bundesliga zur Saison 1963/64. Als Unterbau sollte es fünf Regionalligen geben. Für diese Liga qualifizierten sich die ersten Acht der II. Division West. Nach 20 Spieltagen stand die Arminia mit 14:26 Punkten auf dem vorletzten Rang und nichts deutete auf eine Regionalligaqualifikation hin. Trainer Jakob Wimmer musste gehen und wurde durch Hellmut Meidt ersetzt. Unter seiner Führung gewann Bielefeld acht der nächsten neun Partien. Am letzten Spieltag schaffte die Mannschaft durch einen 4:1-Sieg über den Dortmunder SC 95 noch der Sprung auf Rang sieben. Wie wichtig die Qualifikation für die Arminia war zeigt sich daran, dass von den acht Mannschaften, die die Qualifikation zur Regionalliga verpassten, lediglich der VfL Bochum die Rückkehr in den Profifußball schaffte. 1963–1970: Aufstieg in die Bundesliga Saisondaten 1963–1970 Mit der Zielsetzung Klassenerhalt startete die Arminia in die erste Regionalligasaison. Die junge Mannschaft – der Altersdurchschnitt lag bei 23 Jahren – begann furios mit einem 6:1-Sieg über Hamborn 07. Einer erfolgreichen Vorrunde folgten Rückschläge in der Rückrunde, unter anderem ein 0:8 beim späteren Meister Alemannia Aachen. Die Saison wurde auf dem elften Platz beendet, im Jahr darauf verbesserte sich die Mannschaft auf Platz fünf. Aus finanziellen Gründen konnte sich der Verein immer nur mit jungen, talentierten Spielern verstärken. So musste sich der Verein 1966 mit Platz zehn zufriedengeben. Immerhin konnte die Mannschaft durch einen 3:2-Sieg gegen Alemannia Aachen den westdeutschen Pokal gewinnen. → Daten zum Westdeutschen Pokalfinale 1966 Die darauf folgende Saison 1966/67 brachte einen Leistungsschub mit sich. Einer der Verantwortlichen dafür war der von KSV Hessen Kassel verpflichtete Stürmer Ernst „Jonny“ Kuster, der für Jahrzehnte zum erfolgreichsten Torjäger der Vereinsgeschichte avancieren sollte. Nach einem 2:1-Sieg über Westfalia Herne gewann die Arminia die Herbstmeisterschaft. Bis zuletzt hatte die Mannschaft Chancen auf einen der ersten zwei Plätze, die zur Teilnahme an der Aufstiegsrunde zur Bundesliga berechtigt hätten. Doch am letzten Spieltag verlor die Mannschaft mit 0:1 beim Wuppertaler SV und wurde Dritter. Mit dem Erfolg wuchs auch die Erwartungshaltung der Fans. Nach einem vierten und einem siebten Platz dümpelte die Mannschaft zu Beginn der Saison 1969/70 nur im Mittelfeld herum. Im November 1969 übernahm der Pole Egon Piechaczek das Traineramt. Unter seiner Führung arbeitete sich die Mannschaft in der Tabelle nach oben und war Mitte April nach einem 2:0-Sieg über den VfL Bochum Tabellenführer. Am letzten Spieltag verlor die Arminia bei Bayer 04 Leverkusen. Mit dieser taktischen Niederlage wollte der DSC dem stark eingeschätzten Südmeister Kickers Offenbach aus dem Weg gehen. In der Aufstiegsrunde begann die Arminia mit einem 1:0-Sieg beim „Dorfverein“ SV Alsenborn. Die Mannschaft lieferte sich ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Karlsruher SC. Am letzten Spieltag benötigten die Bielefelder einen Sieg bei Tennis Borussia Berlin. Obwohl es für die „Veilchen“ um Nichts mehr ging, tat sich die Arminia lange schwer. Durch Tore von Kuster und Horst Stockhausen schafften die Bielefelder schließlich den Aufstieg. → Daten zur Aufstiegsrunde 1970 1970–1980: Bundesligaskandal und die Folgen Saisondaten 1970–1980 In seiner ersten Bundesligasaison hatte der DSC große Probleme. Trotz großer Begeisterung in der Stadt und im Umland, die mit durchschnittlich 23.946 Zuschauern zum zweitbesten Schnitt der Liga führte, konnte die Arminia erst am sechsten Spieltag durch ein 3:1 gegen Hannover 96 den ersten Sieg feiern. Selbst ein späterer 1:0-Sieg gegen Bayern München änderte nichts an Arminias Stammpositionen im Keller der Liga. Es war offensichtlich, dass die späte Qualifikation und die damit verbundenen Nachteile auf dem Transfermarkt Spuren hinterlassen hatten. Positiv an der Spielzeit 1970/71 war der Überraschungssieg gegen die „Fohlenelf“ von Borussia Mönchengladbach. Eine 0:5-Niederlage gegen Kickers Offenbach brachte den DSC kurze Zeit später in eine fast ausweglose Situation, auf die eine fatale Reaktion folgte: Die Beteiligung am Bundesliga-Skandal durch Bestechung gegnerischer Mannschaften. Der DSC beendete die Saison auf Platz 14. Einen Tag nach dem Saisonende feierte Offenbachs Präsident Horst-Gregorio Canellas seinen Geburtstag. Während dieser Feier deckte er die gezielten Spielmanipulationen in der Endphase der Saison auf. Während sich die Öffentlichkeit geschockt zeigte, leugnete die Bielefelder Seite die Beteiligung an den Schiebereien. Als die Beweislast immer bedrohlicher wurde, trat das Präsidium des DSC die Flucht nach vorne an. Am 24. Oktober 1971 legte Präsident Wilhelm Stute ein umfassendes Geständnis ab. Für 40.000 Mark hatte sich die Arminia den 1:0-Sieg bei Schalke 04 am 28. Spieltag erkauft. Außerdem wurden am 33. Spieltag der VfB Stuttgart und am letzten Spieltag Hertha BSC bestochen. Für den 1:0-Sieg gegen Hertha flossen 200.000 Mark. Gleichzeitig bot der DSC Eintracht Braunschweig 40.000 Mark für einen Sieg gegen Rot-Weiß Oberhausen. Lediglich beim MSV Duisburg scheiterte der Bestechungsversuch. Der DFB verurteilte die Arminia wegen erwiesener Bestechung in fünf Fällen zum Zwangsabstieg in die höchste Amateurliga. Die Bundesligasaison 1971/72 durfte die Mannschaft zwar noch zu Ende spielen, jedoch wurden alle Spiele nur für die Gegner gewertet. Nach einer Berufungsverhandlung wurde das Urteil abgeschwächt. Der DSC musste nur in die Regionalliga absteigen. Dazu kam ein Abzug von zehn Punkten am Saisonende 1972/73. Ein finanzieller Kollaps konnte nur durch Transfers von Dieter Burdenski oder Gerd Roggensack verhindert werden. Die Bielefelder Wirtschaft versagte dem mit etwa einer Million Mark verschuldeten Verein vorerst Unterstützung. Und so waren es die Fans, die den Verein durch Spenden retteten. Die Regionalligasaison 1972/73 geriet zu einer nervlichen Belastungsprobe für die junge Mannschaft. Lange Zeit mussten die Arminen um den Klassenerhalt bangen, ehe eine Serie von sieben Spielen ohne Niederlage die Bielefelder ans rettende Ufer brachte. Am Ende hatte die Mannschaft elf Punkte Vorsprung auf einen Abstiegsplatz. Der DFB wandelte den Punktabzug kurze Zeit später in eine Geldstrafe um. Im folgenden Jahr ging es um die Qualifikation für die 2. Bundesliga, die ab 1974 die fünf Regionalligen als Bundesligaunterbau ablösen sollte. Der DFB erstellte eine Fünfjahreswertung, anhand derer die Teilnehmer ermittelt wurden. Durch die zwei Bundesligajahre hatte die Arminia bereits einige Punkte gesammelt. Dennoch wurde die Qualifikation nicht zu einem Selbstläufer. Nach dem 20. Spieltag war der DSC mit 9:31 Punkten Vorletzter. Nach der DFB-Regelung würden die zwei letztplatzierten Mannschaften unabhängig von der Punktzahl nicht für die zweite Liga zugelassen werden. Nach der Winterpause übernahm Rudi Fassnacht das Training. Mit Volker Graul und Jonny Hey verpflichtete der Verein noch zwei weitere Spieler. Die letzten zehn Spiele blieb die Arminia ungeschlagen und qualifizierte sich trotz Platz 14 für die 2. Bundesliga. Mit 13 Spielen ohne Niederlage startete der DSC in die erste Zweitligasaison. Die erträumte Rückkehr in die Bundesliga sollte nicht klappen, da die Arminia im Saisonverlauf 14 Mal Unentschieden spielte und dabei wertvolle Punkte vergab. Volker Graul wurde mit 30 Toren Torschützenkönig. Im Heimspiel gegen den HSV Barmbek-Uhlenhorst traf er alleine fünf Mal. Höhepunkt der Saison war das Freundschaftsspiel gegen Real Madrid am 2. Februar 1975. Der DSC unterlag nur knapp mit 2:4 gegen die spanische Spitzenmannschaft, für die seinerzeit Paul Breitner und Günter Netzer spielten. Enttäuschender verlief die Saison 1975/76. Nachdem die Mannschaft zeitweise die Tabelle anführte, fiel sie in ein Leistungsloch und beendete die Spielzeit als Neunter. Mit Karl-Heinz Feldkamp kam ein neuer Trainer, der der Mannschaft eine offensivere Ausrichtung verschrieb. Mit Uli Stein, Norbert Eilenfeldt und Christian Sackewitz wurden neue Spieler verpflichtet, die in den folgenden Jahren zu Leistungsträgern avancierten. Nach einem 2:0 über Schwarz-Weiß Essen sicherten sich die Bielefelder die Herbstmeisterschaft in der Saison 1976/77. Nach einem schwachen Start in die Rückrunde zog der FC St. Pauli an der Arminia vorbei und wurde Meister, während sich der DSC Platz 2 sicherte. Nun mussten die Arminen in der Relegation gegen den TSV 1860 München antreten. Die Spiele sollten zu einem der größten Dramen der Vereinsgeschichte werden. Mit 4:0 gewann die Arminia das Hinspiel und sah wie der sichere Aufsteiger aus. Doch die Münchener „Löwen“ konnten das Rückspiel ebenfalls mit 4:0 für sich entscheiden. Das Entscheidungsspiel im Frankfurter Waldstadion gewannen die Münchener mit 2:0 und waren damit aufgestiegen. → Daten zu den Relegationsspielen 1977 Der Schock saß tief und entsprechend verunsichert startete die Mannschaft in die Saison 1977/78. Mit 22:16 Punkten war die Arminia zur Saisonhalbzeit nur Fünfter. In der Rückrunde steigerte sich die Mannschaft jedoch und sicherte sich mit einem Schlussspurt – von den letzten neun Partien gewann sie acht – die Meisterschaft und die Rückkehr in die Bundesliga. Der Start in die Saison 1978/79 verlief gut: Einem Unentschieden in Duisburg folgte ein Sieg gegen Schalke. Zudem warf die Arminia im Pokal den Hamburger SV mit 2:1 nach Verlängerung aus dem Wettbewerb. Die nächsten sechs Spiele blieb die Mannschaft allerdings ohne Sieg. Trainer Milovan Beljin musste gehen. Als Nachfolger verpflichtete die Arminia Otto Rehhagel, der die Mannschaft bis zur Winterpause auf Rang 10 führte. Am 10. März 1979 gewann der DSC bei Bayern München mit 4:0. „Das waren Fußballgrüße aus Bielefeld!“ kommentierte Rehhagel die vielleicht größte Sensation der Vereinsgeschichte. Der Klassenerhalt schien bei 19:19 Punkten in greifbarer Nähe. Doch der Triumph von München sollte zum Stolperstein werden. Aus den restlichen 15 Partien holte die Mannschaft nur noch zwei Siege und stieg als Drittletzter erneut ab. Jahre später erklärte Uli Stein, der überraschende Sieg sei der Grund für den Abstieg gewesen. → Daten zum „Bayernspiel“ Obwohl die Mannschaft nach dem Abstieg zusammengehalten werden konnte, verlief der Start in die Zweitligasaison 1979/80 etwas holprig. Erst als Otto Rehhagel im Oktober 1979 zu Fortuna Düsseldorf wechselte und durch seinen dortigen Vorgänger Hans-Dieter Tippenhauer ersetzt wurde, verbesserten sich die sportlichen Leistungen. Bereits fünf Spieltage vor Saisonschluss gelang der direkte Wiederaufstieg. Die Mannschaft stellte dabei einige Ligarekorde auf, die teilweise noch Bestand haben. So erzielte sie eine Rekord-Tordifferenz von +89 (mit 120:31 Toren). Während der Saison blieben die Arminen 28 Spiele ohne Niederlage, darunter eine Serie von zwölf Siegen in Folge. Einen großen Anteil hatte der so genannte „100-Tore-Sturm“. Christian Sackewitz wurde mit 35 Toren Torschützenkönig. Norbert Eilenfeldt traf 30-mal, während Rückkehrer Gerd-Volker Schock 22 Treffer beisteuerte. Am vorletzten Spieltag schlug der DSC Arminia Hannover mit 11:0 – dies ist bis heute der höchste Sieg in der 2. Bundesliga. Ligarekord ist auch das Endergebnis der Arminia – sowohl die Punkte- als auch die Torbilanz betreffend – relativ zur Anzahl der Spiele. 1980–1985: Etablierung in der Bundesliga Saisondaten 1980–1985 Angesichts der souveränen Zweitligasaison ging der Verein optimistisch in die Bundesligasaison 1980/81. Aus den ersten sechs Spielen holte die Mannschaft jedoch nur einen Punkt und belegte seit Oktober den letzten Tabellenplatz. Anfang Dezember 1980 trat Tippenhauer zurück und wurde durch Horst Franz ersetzt. In der Rückrunde keimte wieder Hoffnung auf, als der DSC vier Heimspiele in Folge gewinnen konnte. Am 30. Spieltag trat der ebenfalls abstiegsgefährdete TSV München 1860 auf der Alm an und führte bis zur 88. Minute mit 2:1. Durch zwei Tore von Helmut Schröder und Norbert Eilenfeldt in den letzten Minuten konnten die Arminen das Spiel noch drehen und retteten sich am Saisonende auf Platz 15. Die Partie gegen den TSV München 1860 ging als „Wunder vom 9. Mai“ in die Vereinsgeschichte ein. Auch in der Saison 1981/82 musste die Arminia lange um den Klassenerhalt kämpfen. Am 2. Spieltag trat der DSC bei Werder Bremen an. Eine Grätsche des Bremer Verteidigers Norbert Siegmann schlitzte den Oberschenkel des Bielefelders Ewald Lienen auf einer Länge von 30 Zentimetern auf. Der noch unter Schock stehende Lienen stürmte daraufhin auf Bremens Trainer Otto Rehhagel los und warf ihm vor, Siegmann zu diesem Foul animiert zu haben. Die Wende gelang wieder erst im Frühjahr, als der DSC sechs Heimspiele in Folge gewann und schließlich Zwölfter wurde. In der Sommerpause nahm die Arminia zum ersten Mal am Intertoto Cup teil. Zwei weitere Teilnahmen sollten 1984 und 1985 folgen. Jedes Mal belegte die Arminia den zweiten Platz in ihrer Gruppe. → Arminia im Intertoto Cup Nach der Saison wurde mit Norbert Müller erstmals ein hauptamtlicher Manager engagiert. Mit dem von ihm entworfenen Konzept, auf talentierte Spieler zu setzen, wollte er den Verein in der Bundesliga etablieren und in Richtung UEFA-Pokal führen. Als Müller den bei den Fans beliebten Trainer Horst Franz entließ, zog der neue Manager den Zorn der Anhängerschaft auf sich. Später sollte Müller auch noch die gesamte Mannschaft gegen sich aufbringen. Als sich die Spieler weigerten, überhaupt mit Müller zu reden wurde der Manager entlassen. Horst Köppel wurde als neuer Trainer verpflichtet. Unter dem jungen Trainer spielte die Mannschaft attraktiven Offensivfußball und erwischte damit in der Saison 1982/83 den besten Start der Vereinsgeschichte. Drei Siege in Folge brachten der Mannschaft nach dem zweiten und dritten Spieltag die Tabellenführung. Am 6. November 1982 sorgte die immer noch auf Platz sechs stehende Arminia für ein Liganovum. Nach einem 1:1-Halbzeitstand bei Borussia Dortmund verloren die Ostwestfalen noch mit 1:11 und kassierte als bislang einzige Mannschaft der Bundesligageschichte zehn Gegentore in einer Halbzeit. Bielefelds Torwart Olli Isoaho ging als „Pannen-Olli“ in die Vereinsgeschichte ein. Der DSC geriet während der Saison zu keinem Zeitpunkt in ernste Abstiegsgefahr und belegte am Ende Platz acht. Zu den Leistungsträgern der Saison gehörten die Neuzugänge Gregor Grillemeier und der Finne Pasi Rautiainen. Trainer Köppel verließ die Arminia am Saisonende und wechselte zum DFB. Sein Nachfolger wurde Karl-Heinz Feldkamp, der im Gegensatz zu seiner ersten Amtszeit auf eine defensivere Taktik setzte. Das Abwehrbollwerk um Dirk Hupe, Karl-Heinz Geils und Horst Wohlers waren der Garant für Platz acht. Mit 33:35 Punkten war die Saison 1983/84 die erfolgreichste Spielzeit der Vereinsgeschichte in der Bundesliga. Trotz des sportlichen Erfolges musste der Verein einen starken Rückgang der Zuschauerzahlen hinnehmen. Während in der Saison 1980/81 noch knapp 23.000 Zuschauer im Schnitt ins Stadion kamen, sanken die Besucherzahlen zur Saison 1983/84 auf 14.000. Aus finanziellen Gründen mussten Leistungsträger wie Gregor Grillemeier, Frank Pagelsdorf und Karl-Heinz Geils verkauft werden. Die Ablösesummen von zusammengerechnet 1,7 Millionen Mark linderten die größten Probleme. Dennoch waren Verein und Umfeld optimistisch und hofften auf eine Platzierung in der erweiterten Spitzengruppe. Die Neuzugänge blieben jedoch weitestgehend hinter den Erwartungen zurück. Lediglich Siegfried Reich schlug ein und stellte mit 18 Saisontoren einen bis heute gültigen Vereinsrekord auf. Durch Verletzungen geschwächt und von den ständigen Querelen mit Manager Müller entnervt steckte die Mannschaft während der gesamten Saison 1984/85 im Tabellenkeller. Am Ende wurde der DSC Drittletzter und musste in der Relegation gegen den Dritten der 2. Bundesliga, den 1. FC Saarbrücken, antreten. Mit großem Optimismus fuhr die Mannschaft zum Hinspiel in die saarländische Hauptstadt, doch die Gastgeber konnten die zu harmlos agierenden Arminen mit 2:0 schlagen. Im Rückspiel keimte noch einmal Hoffnung auf, als Matthias Westerwinter den DSC in Führung brachte. Doch den Saarbrückern gelang der Ausgleich und die Arminia musste nach fünf Jahren wieder aus der Bundesliga absteigen. Torhüter Wolfgang Kneib machte neben dem Abgängen von Leistungsträgern zu Saisonbeginn auch einige Mitspieler für den Abstieg verantwortlich, denen es seiner Meinung nach egal war, ob der Verein absteigt oder nicht, da diese Spieler schon längst anderen Vereinen zugesagt hätten. → Daten zu den Relegationsspielen 1985 1985–1994: Tiefer Fall und triste Jahre Saisondaten 1985–1994 Der überraschende Abstieg traf den Verein hart. Während der fünf Bundesligajahre gab der Verein sechs Millionen Mark mehr aus als er einnahm und häufte einen Schuldenberg von drei Millionen Mark an. In der Not mussten zahlreiche Leistungsträger wie Dirk Hupe verkauft werden. Dennoch hielt sich die Mannschaft bis zur Mitte der Rückrunde im Aufstiegsrennen. Eine Serie von fünf Spielen ohne Sieg brachte die Mannschaft aus dem Konzept, so dass am Ende der Saison 1985/86 Platz vier heraussprang. Die sportliche und finanzielle Talfahrt setzte sich fort. Darüber hinaus konnte die Mannschaft durch eine Vielzahl von Verletzungen nie in Bestbesetzung antreten. Am 18. Oktober 1986 spielte die Arminia gegen den 1. FC Saarbrücken. Die Bielefelder hatten nur noch sieben gesunde Profis, erhielten aber vom DFB keine Sondergenehmigung um mehr als die damals erlaubten drei Amateure einsetzen zu dürfen. So musste der DSC mit zehn Spielern beginnen, ehe sich nach 10 Minuten der Profi Thomas Ostermann verletzte und nicht ersetzt werden durfte. Es entwickelte sich ein groteskes Spiel, bei dem die Gastgeber bis zur 79. Minute ein 1:1 halten konnten. Dann erzielte Saarbrücken noch zwei Tore. Zwei Wochen später lief der etatmäßige Torhüter Wolfgang Kneib bei der 2:3-Niederlage gegen den VfL Osnabrück als Stürmer auf. Am Ende der Spielzeit 1986/87 erreichte die Arminia noch Platz neun, jedoch sorgten während der gesamten Saison die bedenklichen finanziellen Verhältnisse des Vereins für größere Schlagzeilen. Ein Wirtschaftsprüfer ermittelte im September 1987 einen Schuldenstand von 4,5 Millionen Mark. Der Vorstand erwog kurzzeitig eine freiwillige Rückgabe der Lizenz, entschied sich dann aber für einen gerichtlichen Vergleich. Nach langen Verhandlungen verzichteten die Gläubiger auf den Großteil ihrer Forderungen. Um die Restschulden zu begleichen trug der Verein Benefizspiele gegen Bayern München, den 1. FC Köln und eine Zweitligaauswahl aus, deren Einnahmen komplett an die Bielefelder gingen. Unter diesen finanziellen Voraussetzungen konnte der Verein in der Saison 1987/88 keine konkurrenzfähige Mannschaft auf die Beine stellen. Mit 22:54 Punkten wurde der DSC Letzter und stieg damit nach 25 Jahren wieder aus dem „bezahlten Fußball“ ab. Nach zwei Trainerwechseln wurde die Saison unter der Leitung des damals 29-jährigen Ernst Middendorp, eines Lehrers aus Rheine beendet. Dieser sollte sich in den folgenden Jahren als Glücksfall für den Verein erweisen. Ernst Middendorp tauschte vor der Saison 1988/89 fast die gesamte Mannschaft aus. Um erfahrene Spieler wie Wolfgang Kneib herum baute er eine Mannschaft aus zahlreichen jungen Talenten aus der Region wie z. B. Jörg Bode, Frank Geideck oder Thomas Stratos auf. Der Erfolg stellte sich ein und die Mannschaft führte lange die Tabelle der Oberliga Westfalen an. Erst gegen Saisonende ließ die Middendorp-Elf Federn und Konkurrent Preußen Münster kam immer näher heran. Am letzten Spieltag hätten die Arminen mit einem Unentschieden beim VfB Rheine die Meisterschaft perfekt machen können. Doch die junge Mannschaft hielt dem Druck nicht stand und verlor mit 1:2. In der Saison 1989/90 dominierten die Bielefelder die Oberliga und konnten mit sechs Punkten Vorsprung auf den TuS Paderborn-Neuhaus die Meisterschaft feiern. Nach einem guten Start in die Aufstiegsrunde folgte am 3. Spieltag eine 2:3-Niederlage beim Außenseiter TSV Havelse. Danach verlor die Mannschaft den Faden und verpasste als Dritter den Aufstieg. Für den Verein stellte das Scheitern ein Desaster dar. Zahlreiche Leistungsträger konnten nicht gehalten werden und wechselten zu Erst- oder Zweitligaclubs. → Daten zur Aufstiegsrunde 1990 In den nächsten vier Jahren wurde die Leidensfähigkeit der Fans auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Vier Jahre lang startete die Mannschaft ambitioniert in die neue Saison und absolvierte die ersten Partien erfolgreich, nur um dann im Herbst oder Frühjahr einzubrechen. Zwischen 1990 und 1994 belegte die Arminia zwar immer Plätze unter den ersten Fünf, allerdings mit deutlichem Abstand zum jeweiligen Meister. Nach der Entlassung von Ernst Middendorp im Herbst 1990 versuchten sich Franz Raschid, Fritz Grösche und Ingo Peter vergeblich daran, die Mannschaft wieder nach vorne zu bringen. Tiefpunkte dieser Entwicklung waren die Saison 1990/91, als mit 2.320 der niedrigste Zuschauerschnitt aller Zeiten verzeichnet wurde, sowie ein Spiel beim DSC Wanne-Eickel, bei dem einige Spieler von aufgebrachten Fans wegen der schlechten Leistungen bespuckt wurden. In der Saison 1993/94 wurde der DSC Dritter und qualifizierte sich für die Regionalliga West/Südwest. In der Endphase der Saison machte Arminia weniger durch das Geschehen auf dem Platz als vielmehr durch die Verpflichtung der erfahrenen Bundesligaspieler Thomas von Heesen, Armin Eck, Jörg Bode und Fritz Walter bundesweit von sich reden. Verantwortlich für diese Neuzugänge zeichnete der seit Anfang 1994 als hauptamtlicher Manager tätige Rüdiger Lamm. 1994–2004: Renaissance und Fahrstuhlära Saisondaten 1994–2004 Aufgrund der hochkarätigen Neuzugänge, die am 20. April 1994 vorgestellt wurden, ging „Arminia Vielegeld“, wie der Verein in der Boulevardpresse nun genannt wurde, als Topfavorit in die Saison 1994/95. Zu einem Flop wurde die Verpflichtung von Trainer Wolfgang Sidka, der innerhalb kürzester Zeit die Mannschaft gegen sich aufbrachte und schon nach vier Spieltagen gehen musste. Sein Nachfolger wurde Ernst Middendorp, der die Mannschaft zu einer Einheit formte. Die Arminen starteten eine Aufholjagd, deren Höhepunkt ein 4:0-Sieg über den Tabellenführer Rot-Weiss Essen darstellte. Am vorletzten Spieltag machte die Mannschaft durch einen 4:0-Sieg bei Borussia Neunkirchen den Aufstieg perfekt. Ohne spektakuläre Neuverpflichtungen, vom Rückkehrer Uli Stein abgesehen, startete der DSC in die erste Zweitligasaison seit sieben Jahren. Nachdem die Mannschaft zeitweise die Tabelle angeführt hatte, gab es im Herbst drei Niederlagen in Folge. Da auch die direkte Konkurrenz regelmäßig Spiele verlor, blieben die Arminen in der Spitzengruppe. Am vorletzten Spieltag ging das Spiel gegen den bereits feststehenden Zweitligameister in Bochum zwar mit 0:2 verloren, die Bielefelder hatten jedoch aufgrund der gleichzeitigen Niederlagen der SpVgg Unterhaching und des FSV Zwickau den „Durchmarsch“ in die Bundesliga perfekt gemacht. Namhaftester Neuzugang für die Saison 1996/97 war der frischgebackene Europameister Stefan Kuntz. Er wurde für 2,5 Millionen Mark von Beşiktaş Istanbul verpflichtet und wurde zum ersten Bielefelder Nationalspieler seit 73 Jahren. Nach einem schwachen Start konnte sich die Mannschaft vor der Winterpause durch eine Serie von drei Heimsiegen in Folge etwas Luft verschaffen. Der Klassenerhalt wurde frühzeitig geschafft. Neben Torjäger Kuntz wurde Giuseppe Reina zu einer der Entdeckungen des Jahres. Im Vorfeld der Saison 1997/98 sorgte die Arminia für Aufsehen, als mit Ali Daei und Karim Bagheri die ersten Iraner der Bundesligageschichte verpflichtet wurden. Die Mannschaft konnte durch zahlreiche Heimsiege die eklatante Auswärtsschwäche kompensieren, so dass sie zur Saisonhalbzeit auf Platz 14 stand. Nach der Winterpause führte eine Serie von zwölf Spielen ohne Sieg die Mannschaft auf den letzten Platz. Ein Grund für den Absturz war das zerrüttete Verhältnis zwischen Kuntz und Trainer Middendorp, welches das Klima innerhalb der Mannschaft stark belastete. Auf der Rückfahrt vom Auswärtsspiel beim Hamburger SV verfolgte Middendorp ein Fernseh-Interview mit Stefan Kuntz, das ihn so in Rage brachte, dass er 70 Kilometer vor Bielefeld den Mannschaftsbus verließ und mit einem Taxi nach Hause fuhr. Der Abstieg bedeutete auch das Ende der Ära Lamm, der kurz nach dem Rücktritt von Middendorp ebenfalls seinen Hut nahm. Thomas von Heesen übernahm für den Rest der Saison 1998/99 das Training und sorgte für eine offensive Ausrichtung der Mannschaft. Davon profitierte insbesondere Neuzugang Bruno Labbadia, der mit 28 Treffern Torschützenkönig wurde. In der Rückrunde verlor die Mannschaft nur drei Spiele und gewann souverän die Meisterschaft. Trotz des sportlichen Erfolgs konnte die Liquidität nur unter großen Anstrengungen gewährleistet werden. Zur Konsolidierung musste der Verein sparen, was zu der kuriosen Situation führte, dass er für die neue Saison mit einem geringeren Etat plante – statt mit 33 Mio. Mark in der Zweitligasaison nur noch mit 32 Mio. Mark in der Bundesliga. Mit Hermann Gerland als neuem Trainer startete die Arminia in die Saison 1999/2000. Die ersten vier Spiele blieb der DSC ohne Niederlage, bevor es bergab ging. Zwischen dem 21. November 1999 und dem 28. Februar 2000 unterlag die Mannschaft zehn Mal in Folge und stellte den Negativrekord von Tasmania Berlin und dem 1. FC Nürnberg ein. Neben Gerland wurde auch Bruno Labbadia heftig kritisiert, nachdem der Torjäger im Saisonverlauf drei Elfmeter verschossen und damit einen Bundesligarekord aufgestellt hatte. Um sich finanziell zu konsolidieren, musste der Verein nach dem Abstieg zahlreiche Leistungsträger wie Silvio Meißner oder Jörg Böhme abgeben. Sehr zum Unmut der Fans hielt der Verein an Trainer Gerland fest. Trotz vier Siegen zu Beginn der Saison 2000/01 forderten die Anhänger mehrfach lautstark seine Entlassung. Eine Serie von elf Spielen ohne Sieg ließ die Mannschaft in die Abstiegszone rutschen. Nachdem Gerland hatte gehen müssen, sorgte der Torwart Goran Ćurko für einen Eklat, als er mitten im Spiel seine Handschuhe auszog, den Zuschauern den Mittelfinger zeigte und in die Kabine verschwand. Benno Möhlmann hieß der neue Trainer und er brachte mit Mathias Hain gleich noch den Torwart seines Ex-Vereins SpVgg Greuther Fürth mit. Die völlig verunsicherte Mannschaft konnte sich erst gegen Saisonende auf Platz 13 retten. Großen Anteil daran hatte der im Vorjahr für drei Millionen Mark verpflichtete Pole Artur Wichniarek. Der schon als Fehleinkauf abgestempelte Stürmer erzielte 18 Tore und wurde zusammen mit dem Reutlinger Olivier Djappa Torschützenkönig. Besser lief die Saison 2001/02, für die sich der Verein mit Spielern wie Rüdiger Kauf oder Ansgar Brinkmann gezielt verstärkte. Zwölf Heimsiege und 20 Saisontore vom erneuten Torschützenkönig Wichniarek bildeten den Grundstein für den sechsten Bundesligaaufstieg. Damit wurden die Bielefelder zum Rekordaufsteiger. Hinter den Kulissen wurde die Lizenzspielerabteilung in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien umgewandelt und ausgelagert. Mit einem 3:0-Sieg über Werder Bremen startete die Arminia in die Saison 2002/03 und übernahm zum dritten Mal in der Vereinsgeschichte die Tabellenführung der Bundesliga. Zwischen dem 14. und 19. Spieltag blieb die Mannschaft sechs Spiele in Folge ungeschlagen. Nach 28 Spieltagen hatte das Team bereits 34 Punkte gesammelt und der Klassenerhalt war in greifbarer Nähe. Doch aus den letzten sechs Spielen konnte die Mannschaft nur noch zwei Punkte holen und stieg ab. Insbesondere ein Prozess gegen Ansgar Brinkmann nach einer Prügelei in einem Schnellrestaurant brachte Unruhe in die Mannschaft. Die Zweitligasaison 2003/04 wurde zu einer Achterbahnfahrt. Nach einem schwachen Start und einer zwischenzeitlichen Tabellenführung rutschte die Mannschaft gegen Jahresende auf Platz 8 ab. Nachdem die Mannschaft aus den ersten drei Spielen nach der Winterpause keinen Sieg geholt hatte, musste Trainer Benno Möhlmann gehen. Sein Nachfolger wurde Uwe Rapolder, unter dessen Führung die Mannschaft eine erfolgreiche Aufholjagd startete. Mit sechs Siegen in Folge legten die Arminen den Grundstein für den siebten Bundesligaaufstieg, der am vorletzten Spieltag mit einem torlosen Remis beim VfL Osnabrück perfekt gemacht wurde. Abseits des Platzes sorgten erneut Liquiditätsprobleme für Unruhe. Den Spielern wurden die Gehälter teilweise mit Verspätung ausgezahlt. 2004–2009: Erneute Etablierung in der Bundesliga Saisondaten 2004–2009 Aufgrund der immer noch angespannten finanziellen Situation fehlten dem Verein die Mittel für spektakuläre Neuverpflichtungen. Nach einem verpatzten Start in die Saison 2004/05 gelang es den Arminen zum ersten Mal, drei Auswärtsspiele in Folge zu gewinnen. Insbesondere Neuzugang Delron Buckley erwies sich als gute Verpflichtung, er führte zeitweise die Torjägerliste an. Patrick Owomoyela wurde zum Nationalspieler und zum Beginn der Winterpause hatte die Mannschaft 24 Punkte geholt. Zwar gewann sie in der Rückrunde nur noch vier Spiele, darunter ein 3:1-Sieg gegen Bayern München, dennoch konnte der Klassenerhalt vier Spieltage vor Schluss durch einen 3:1-Sieg über den SC Freiburg sichergestellt werden. Im DFB-Pokal erreichte die Mannschaft zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte das Halbfinale, das zu Hause mit 0:2 gegen Bayern München verloren wurde. Trotz der sportlich erfolgreichen Saison wechselte Uwe Rapolder zur neuen Saison zum 1. FC Köln. Seine Nachfolge trat der bis dahin als sportlicher Geschäftsführer tätige Thomas von Heesen an. Eine eklatante Offensivschwäche kennzeichnete die Saison 2005/06. In 15 Spielen blieb der DSC ohne eigenen Torerfolg. Ein Hauptgrund für die Harmlosigkeit im Angriff war der Wechsel von Delron Buckley zu Borussia Dortmund. Der Südafrikaner, der im Vorjahr 15 Tore erzielt hatte, konnte nicht adäquat ersetzt werden. Trotz einer desolaten Rückrunde wurden die Arminen am Ende erneut Dreizehnter, was auch auf die Schwäche der Konkurrenz im Abstiegskampf zurückzuführen war. Besser lief es im DFB-Pokal, wo die Mannschaft erneut das Halbfinale erreichte. Eintracht Frankfurt gewann auf eigenem Platz jedoch mit 1:0. Ein Sieg über die Eintracht hätte für den DSC die erstmalige Teilnahme am UEFA-Pokal bedeutet, da der andere Finalist Bayern München die Teilnahme an der Champions League bereits so gut wie sicher hatte. Nach dem obligatorischen schwachen Saisonbeginn stellte die Mannschaft in der ersten Hälfte der Saison 2006/07 einen neuen Vereinsrekord auf, als acht Spiele in Folge nicht verloren wurden. Im weiteren Verlauf der Saison kam es jedoch zu internen Querelen zwischen dem Vorstand und Trainer von Heesen. Nachdem in 14 Spielen nur ein Sieg herausgekommen war, wurde das Arbeitsverhältnis mit von Heesen beendet. Co-Trainer Frank Geideck übernahm als Cheftrainer und rutschte auf einen Abstiegsplatz. Neun Spieltage vor Schluss kam es zu einem erneuten Trainerwechsel. Mit Ernst Middendorp wurde ein alter Bekannter verpflichtet. Ihm gelang die Rettung, vier Siege in Folge sorgten für den Klassenerhalt. Drei Siege bei einem Remis und einer Niederlage standen nach den ersten fünf Spielen der Saison 2007/08 zu Buche und Middendorp bezeichnete seine Mannschaft als „Bayernjäger“. Danach folgte jedoch eine rasante Talfahrt, die mit einer 1:8-Niederlage bei Werder Bremen ihren absoluten Tiefpunkt fand. Nach einer 1:6-Auswärtsniederlage in Dortmund musste Middendorp Anfang Dezember gehen. Er wurde vorübergehend durch Detlev Dammeier ersetzt, der mit einem 2:0-Heimsieg über den amtierenden Meister VfB Stuttgart für einen halbwegs versöhnlichen Jahresausklang sorgte. Ab dem 1. Januar 2008 übernahm Michael Frontzeck den Trainerposten bei der Arminia. Er konnte aber das Abrutschen auf einen Abstiegsrang nicht verhindern. Als weitere personelle Konsequenz aus der sportlichen Misere wurde der sportliche Geschäftsführer Reinhard Saftig entlassen, sein Nachfolger wurde Detlev Dammeier. Schließlich gelang der Klassenerhalt am letzten Spieltag durch ein 2:2 beim VfB Stuttgart, wobei die Arminia von einer Nürnberger Niederlage gegen Schalke profitierte. Obwohl die Mannschaft in der Saison 2008/09 die wenigsten Siege (vier) und die meisten Unentschieden (16) aller Vereine eingefahren hatten, standen die Blauen bis zum letzten Spieltag noch auf dem drittletzten Platz, der zur wieder eingeführten Relegation gegen den Dritten der 2. Bundesliga berechtigt hätte. Nach einer 0:6-Niederlage bei Borussia Dortmund am vorletzten Spieltag ersetzte der als „Retter“ bekannte Jörg Berger Michael Frontzeck am letzten Spieltag. Die Hoffnung auf den Klassenerhalt zerschlug sich jedoch nach einem 2:2 gegen Hannover 96, da Konkurrent Energie Cottbus durch einen 3:0-Sieg über Bayer 04 Leverkusen an der Arminia vorbeizog. Da auch der Karlsruher SC siegte, stiegen die Arminen als Tabellenletzter zum siebten Mal aus der Bundesliga ab. Tags darauf beendeten Trainer Berger und der Verein ihre kurzzeitige Zusammenarbeit wieder. 2009–2015: Zweimal Dritte Liga und zurück Saisondaten 2009–2015 Durch den Abstieg geriet das Umfeld des Vereins in eine große Unruhe, die zu den größten personellen Veränderungen seit Jahren führte. Im Zentrum der Kritik stand dabei die Vereins- und Geschäftsführung, der eine unstete Personalpolitik im Bereich der sportlichen Führung und des Kaders vorgeworfen wurde. Als Konsequenz trat der gesamte Vorstand zurück und Finanzgeschäftsführer Roland Kentsch wurde freigestellt. Neuer Trainer der Mannschaft wurde Thomas Gerstner, der jedoch bereits am 11. März 2010 seinen Platz räumen musste. Leistungsträger der vergangenen Saisons wie Rüdiger Kauf, Dennis Eilhoff, Jonas Kamper und Radim Kučera blieben der Arminia trotz des Abstiegs treu. Am 16. März 2010 wurde der Arminia von der DFL wegen Verstößen gegen die Lizenzierungsordnung vier Punkte abgezogen, was einen zu diesem Zeitpunkt immer noch möglichen Aufstieg in der Saison 2009/10 nahezu aussichtslos machte. Die finanzielle Schieflage wurde zudem immer bedrohlicher und es entstand eine Etatunterdeckung in Höhe von zwölf Millionen Euro. Hauptgrund hierfür war der Ausbau der Osttribüne, der 19 Mio. statt der geplanten acht Mio. Euro kostete. Schließlich erhielt der Verein die Lizenz, da durch weitere Darlehen, Stundungen und vorgezogene Zahlungen von Sponsoren die Deckungslücke geschlossen werden konnte. Zahlreiche Leistungsträger verließen daraufhin den Verein, der mit Christian Ziege einen neuen Trainer und mit Ralf Schnitzmeier einen neuen Geschäftsführer präsentierte. Zuvor wurde ein neues Präsidium um den bisherigen stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden Wolfgang Brinkmann eingesetzt. Die Mannschaft für die Zweitligasaison 2010/11 erwies sich trotz zahlreicher Nachverpflichtungen als nicht konkurrenzfähig und stieg als Tabellenletzter ab. Den Trainerposten übernahm im November 2010 Ewald Lienen, der seinen Einstand mit einem kuriosen 2:1-Sieg gegen den VfL Osnabrück feierte. Die Arminen gewannen das Spiel durch zwei Eigentore der Osnabrücker. Im April 2011 musste der Verein eine Finanzhilfe in Höhe von 1,25 Mio. Euro aus dem Sicherungsfonds des Ligaverbandes in Anspruch nehmen, weshalb der Mannschaft drei Punkte abgezogen wurden. Ebenfalls im April stellte der Verein mit Markus von Ahlen den Trainer für die neue Saison vor. Einen Monat zuvor war Samir Arabi als neuer sportlicher Leiter verpflichtet worden. Nach weiterer finanzieller Unterstützung aus dem Vereinsumfeld, unter anderem wurden große Teile der Fananleihe Bau auf Blau aus dem Jahr 2006 von den Zeichnern verlängert oder deren Auszahlung ausgesetzt, erhielt die Arminia am 14. Juni 2011 die Lizenz für die 3. Liga. Vor Beginn der Saison 2011/12 gab es bei der Arminia einen erheblichen personellen Umbruch. Von den Spielern der letzten Erstligasaison blieb nur Markus Schuler an Bord, neu geholt wurden die für die nächsten Saisons prägenden Patrick Platins, Manuel Hornig, Tom Schütz, Thomas Hübener, Sebastian Hille, Patrick Schönfeld, Johannes Rahn und insbesondere Fabian Klos. Die Mannschaft als einer der Aufstiegsfavoriten für die 2. Bundesliga, fand sich aber nach drei Niederlagen und nur einem Unentschieden bereits am vierten Spieltag auf dem letzten Tabellenplatz wieder. Belastet wurde die Situation durch die „Rotlicht-Affäre“ um Geschäftsführer Schnitzmeier, gegen den wegen Körperverletzung und Beleidigung während eines privaten Bordellbesuchs Strafbefehl erlassen wurde. Der Verein trennte sich daraufhin von ihm. Nach der 0:4-Heimniederlage gegen den 1. FC Saarbrücken am zehnten Spieltag wurde Trainer Markus von Ahlen entlassen. Nachfolger wurde Stefan Krämer, der am 3. November 2011 zum Chef-Trainer befördert wurde. Unter Krämer verlor die Mannschaft in den letzten elf Spielen im Jahr 2011 nur ein Spiel und konnte sich im Tabellenmittelfeld etablieren. Darüber hinaus gewann der DSC den Westfalenpokal durch einen 2:0-Sieg über Preußen Münster. Mit einer punktuell verstärkten Mannschaft ging die Arminia in die Saison 2012/13, die sich in der Spitzengruppe der Liga festsetzte. In der Rückrunde blieben die Blauen bis auf zwei Spiele ohne Niederlage und schafften nach einem 1:0-Heimsieg über den VfL Osnabrück am vorletzten Spieltag den Wiederaufstieg in die 2. Bundesliga. Trainer Krämer bezeichnete den Aufstieg als „kleines Märchen“ und lobte den Zusammenhalt und die Kampfkraft der Mannschaft. Fabian Klos wurde mit 20 Treffern Torschützenkönig der 3. Liga. Zum Abschluss der Saison verteidigte die Arminia am 9. Juli 2013 den Westfalenpokal gegen den SC Wiedenbrück 2000 mit einem 3:1-Sieg. Nach einem erfolgreichen Start in die Saison 2013/14, der die Mannschaft am achten Spieltag bis auf den dritten Tabellenplatz führte, folgte eine Serie von sieben Niederlagen, aufgrund derer die Arminia in die Abstiegszone abrutschte. Obwohl die Mannschaft diese Negativserie im Dezember 2013 durchbrechen konnte, gelang es ihr nicht, sich von den Abstiegsrängen abzusetzen. Infolgedessen wurde Trainer Krämer am 23. Februar 2014 nach einer 0:2-Heimniederlage gegen den FC Ingolstadt 04 vom Verein freigestellt und Norbert Meier als neuer Trainer vorgestellt. Die Arminia holte aus den folgenden elf Spielen nur zehn Punkte und belegte ab dem 26. Spieltag Platz 17. Am letzten Spieltag kam es zum Spiel um den Klassenerhalt bei Dynamo Dresden, das nur aufgrund des besseren Torverhältnisses den 16. Tabellenplatz einnahm. Die Arminia bezwang die Sachsen mit 3:2 (nach einem 2:0 und 2:2) und zog in die Relegation ein, in der sie auf den SV Darmstadt 98 traf. Bielefeld gewann das Hinspiel in Darmstadt mit 3:1, unterlag aber im Heimspiel durch ein Gegentor in der Nachspielzeit mit 2:4 nach Verlängerung und stieg aufgrund der Auswärtstorregel erneut in die 3. Liga ab. → Daten zu den Relegationsspielen 2014 In der folgenden Spielzeit sorgte die Arminia besonders im DFB-Pokal für Furore. Mit Hertha BSC (5:4 n. E.), Werder Bremen (3:1) und Borussia Mönchengladbach (6:5 nach Elfmeterschießen) warfen die Bielefelder drei Bundesligisten aus dem Wettbewerb und schieden dann im Halbfinale nach einer 0:4-Niederlage gegen den späteren Pokalsieger VfL Wolfsburg aus. In der Liga erwischte das Team zunächst einen Fehlstart und kletterte in den folgenden Monaten nach oben. Am 19. Spieltag wurde der Verein Herbstmeister. Am vorletzten Spieltag sicherte sich die Arminia nach einem 2:2 gegen den SSV Jahn Regensburg den direkten Wiederaufstieg. Pascal Testroet erzielte fünf Minuten vor dem Abpfiff den entscheidenden Ausgleichstreffer. Eine Woche später gewannen die Bielefelder noch die Meisterschaft. In der Rückrunde hatten die Arminen die Tabellenführung damit nicht mehr abgegeben. 2015–2020: Sportliche und finanzielle Konsolidierung Saisondaten 2015–2020 In der Saison 2015/16 konnte sich die Arminia von Beginn an im unteren Mittelfeld der Tabelle etablieren und überzeugte im weiteren Verlauf der Spielzeit mit einer stabilen Defensive. So stellte man – gemessen an der Zahl der Gegentore – die viertbeste Abwehr der Liga. Der DSC beendete die Saison mit 42 Punkten auf dem zwölften Tabellenplatz, ohne einmal auf einem Abstiegs- oder Relegationsplatz gestanden zu haben. Mit 18 Unentschieden erzielte der Verein dabei einen neuen Zweitligarekord. Im DFB-Pokal konnte die Arminia nicht an die Überraschungserfolge der Vorsaison anknüpfen und schied in der ersten Runde gegen den Erstligisten Hertha BSC aus. Trainer Norbert Meier verließ den Verein am Saisonende Richtung SV Darmstadt 98. Sein Nachfolger wurde Rüdiger Rehm. Dieser musste nach zehn sieglosen Spielen zu Beginn der Saison 2016/17 wieder gehen und wurde durch Jürgen Kramny ersetzt. Auch unter ihm besserte sich die Situation der Mannschaft nicht. Nachdem die Bielefelder im März 2017 auf den letzten Tabellenplatz abgerutscht waren, sorgte der Verein erneut für ein Novum im deutschen Profifußball, als mit Jeff Saibene erstmals ein Trainer aus Luxemburg verpflichtet wurde. In einem spannenden Endspurt schaffte die Arminia noch den Klassenerhalt. Zunächst schlug die Mannschaft am vorletzten Spieltag den Tabellenzweiten Eintracht Braunschweig mit 6:0. Sie rettete sich eine Woche später durch ein 1:1 bei Dynamo Dresden. Dabei profitierten die „Blauen“ von der gleichzeitigen 1:2-Niederlage des direkten Konkurrenten 1860 München beim 1. FC Heidenheim. Erfolgreicher waren die Bielefelder im DFB-Pokal, in dem sie erst im Viertelfinale mit 0:1 bei Eintracht Frankfurt scheiterten. Nachdem der auslaufende Vertrag mit Jeff Saibene verlängert worden war, musste der Verein trotz gestiegener Fernseheinnahmen das Budget für die Profimannschaft kürzen. Finanziell drohte im Dezember 2017 die Insolvenz. Diese konnte durch das Engagement von Sponsoren im „Bündnis Ostwestfalen“ und durch einen Forderungsverzicht einiger Gläubiger verhindert werden. Der Schuldenstand sollte auch durch den Verkauf des Stadions auf unter vier Millionen Euro gesenkt werden. Die Mannschaft zeigte sich von den finanziellen Schwierigkeiten weitestgehend unbeeindruckt, stand während der gesamten Saison 2017/18 nie schlechter als auf Rang 10 und beendete die Spielzeit auf dem vierten Tabellenplatz. Mit im Schnitt rund 18.000 Besuchern verbuchte die Arminia einen vereinsinternen Zuschauerrekord für Spiele in der zweiten Liga. Im DFB-Pokal verlief die Spielzeit weniger erfolgreich und man schied gegen den späteren Bundesliga-Aufsteiger Fortuna Düsseldorf in der ersten Runde mit 1:3 nach Verlängerung im eigenen Stadion vor knapp 20.000 Zuschauern aus. Am 12. November 2018 verkaufte die Arminia das Stadion für eine nicht genannte Summe an eine Gruppe Unternehmer aus Bielefeld und der Region. Durch die Erlöse aus dem Verkauf sowie dem Verzicht einiger Gläubiger auf ihre Forderungen konnte der Schuldenstand innerhalb eines Jahres um 26,5 Millionen Euro gesenkt werden. Cheftrainer Saibene wurde nach zehn Pflichtspielen in Folge ohne Sieg, dem Abrutschen auf Platz 14 in der 2. Bundesliga und dem Ausscheiden in der 2. Runde des DFB-Pokals am 10. Dezember 2018 von seinen Aufgaben entbunden. Am selben Tag wurde Uwe Neuhaus neuer Cheftrainer. Unter Neuhaus wurde die Arminia zur zweitbesten Rückrundenmannschaft und belegte Platz sieben am Ende der Saison 2018/19. Der positive Trend setzte sich in der Saison 2019/20 fort und die als Geheimfavorit gehandelte Arminia beendete die Hinrunde als Herbstmeister und bestes Team im Kalenderjahr 2019. Darüber hinaus stellte die Mannschaft mit sieben Auswärtssiegen in Folge einen neuen Zweitligarekord auf. Auch durch die Unterbrechung der Saison infolge der COVID-19-Pandemie ließ sich die Mannschaft nicht aus dem Konzept bringen und sicherte sich die Meisterschaft und den achten Aufstieg in die Bundesliga. Fabian Klos wurde mit 21 Toren Torschützenkönig. Seit 2020: Von der Bundesliga in die 3. Liga Saisondaten seit 2020 Der Verein ging mit einem Etat von 22 Millionen Euro in die Saison 2020/21 und verfügte damit über das mit Abstand kleinste Budget der Liga. Arminias Sportchef Samir Arabi sprach vor der Saison davon, dass der Verein in einen Wettstreit mit 17 Motorbooten geht, während die Bielefelder im Schlauchboot sitzen. Mit Jonathan Clauss verließ eine Stütze des Aufstiegsteams die Ostwestfalen. Das erste Pflichtspiel war die Partie in der ersten Runde im DFB-Pokal beim Regionalligisten Rot-Weiss Essen, dass die Bielefelder mit 0:1 verloren. Am 1. März 2021 wurde Aufstiegstrainer Uwe Neuhaus in höchster Abstiegsnot entlassen und durch Frank Kramer ersetzt. Am letzten Spieltag wurde der Klassenerhalt durch einen 2:0-Auswärtssieg gegen den VfB Stuttgart sichergestellt. Die Arminen Amos Pieper und Arne Maier wirkten anschließend aktiv am Gewinn der deutschen Mannschaft der U21-Europameisterschaft mit. Obwohl Arminia in der Sommerpause abgesehen von dem ohnehin nur ausgeliehenen Ritsu Dōan viele wichtige Spieler halten konnte, sollte sich die Saison 2021/22 als noch schwieriger erweisen. Im DFB-Pokal überstand der DSC die 2. Runde nicht. In der Liga gelang der Mannschaft nur kurzzeitig ab November eine ordentliche Punkteausbeute. Bemerkenswerterweise gewann sie im Dezember in Leipzig und im Januar in Frankfurt jeweils 2:0. Nach einem 1:0-Heimsieg gegen Union Berlin kletterte Arminia sogar vorübergehend auf Rang 14. Es folgte jedoch eine Serie von sieben sieglosen Spielen, in deren Folge Frank Kramer am 20. April 2022 gehen musste. Als Interimstrainer wurde Torwarttrainer Marco Kostmann installiert, der jedoch die Negativserie nicht beenden konnte. Am Saisonende hatte Arminia lediglich fünf Spiele gewonnen und stieg mit nur 28 Punkten in die 2. Liga ab. Zur Zweitligasaison 2022/23 übernahm der Italiener Uli Forte das Traineramt, der allerdings nach vier Niederlagen in Folge zum Saisonauftakt schnell wieder entlassen wurde. Unter seinem Nachfolger Daniel Scherning gestalteten sich die Leistungen und Resultate wechselhaft. Insbesondere in der nach dem Abstieg größtenteils neu formierten Defensive zeigten sich wiederholte Schwächen, so dass auch immer wieder Punkte in Spielen gegen direkte Konkurrenten um den Klassenerhalt verloren wurden. Im DFB-Pokal schied man in der 2. Runde mit einer 0:6-Niederlage beim VfB Stuttgart aus. Nachdem Arminia eine 3:0-Führung bei Eintracht Braunschweig nicht verteidigen und durch drei Gegentore nur ein Remis erzielen konnte, einigte sich der Verein am 6. März 2023 mit Samir Arabi auf eine sofortige Beendigung der langjährigen Zusammenarbeit. Der Posten des sportlichen Geschäftsführers blieb bis Saisonende vakant. Tags darauf wurde auch Scherning freigestellt und am 9. März 2023 durch Uwe Koschinat ersetzt. Trotz eines umgehenden 3:1-Heimsiegs gegen Tabellenführer Darmstadt 98 konnte auch dieser die Abwehr nicht dauerhaft stabilisieren, so dass Arminia nach einer 0:4-Auswärtsniederlage beim 1. FC Magdeburg am letzten Spieltag nur Rang 16 erreichte. Dabei war man über die gesamte Saison in bloß zwei Ligaspielen ohne Gegentreffer geblieben. In der Relegation gegen SV Wehen Wiesbaden ging bereits das Hinspiel abermals 0:4 verloren. Beim Rückspiel konnte Arminia im heimischen Stadion aus einer frühen 1:0-Führung keine erfolgreiche Aufholjagd mehr starten und stieg nach einer 1:2-Niederlage schließlich in die 3. Liga ab. → Daten zu den Relegationsspielen 2023 Persönlichkeiten Kader Saison 2023/24 Stand: 31. August 2023 Transfers der Saison 2023/24 Trainer und Funktionäre Saison 2023/24 Ehemalige Spieler Insgesamt vier Spieler der Arminia trugen das Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Walter Claus-Oehler wurde 1923 der erste und für Jahrzehnte der einzige Bielefelder Nationalspieler. In seinen zwei Spielen erzielte er ein Tor. 1996 wurde Stefan Kuntz der zweite; in seinen zwei Länderspielen in seiner Zeit beim DSV erzielte er auch ein Tor und wurde damit auch zum zweiten Bielefelder Torschützen in Nationaltrikot. Beim Konföderationen-Pokal 1999 kam Ronald Maul zu zwei 15-minütigen Einsätzen und wurde damit zum dritten Arminen in der Nationalmannschaft. Patrick Owomoyela absolvierte 2004/05 insgesamt sechs Länderspiele, während seiner Zeit beim DSC, drei davon als Einwechselspieler, und hält damit den Vereinsrekord. Karl-Heinz Geils trug zwischen 1981 und 1983 je sechs Mal das Trikot der deutschen B- und Olympiaauswahl. International ist Karim Bagheri Arminias Rekordspieler. Zwischen 1997 und 2000 spielte er 28 Mal für den Iran. Der Torwart Wolfgang Kneib hält den Rekord für die meisten Ligaspiele. Zwischen 1980 und 1993 spielte er 370 Mal in der Bundesliga, 2. Bundesliga und Oberliga. Während seiner 13 Jahre erzielte er drei Tore per Elfmeter. Ebenfalls auf über 300 Ligaspiele können Fabian Klos (354), Wolfgang Pohl (331) und Helmut Schröder (313) zurückblicken. Die meisten Tore erzielte der noch aktive Fabian Klos mit 140 Toren vor Ernst Kuster mit 111 Treffern, Artur Wichniarek mit 83 Treffern und Norbert Eilenfeldt, der 81 Tore erzielte. Zahlreiche Spieler des DSC wurden bei anderen Vereinen zu Nationalspielern. Beispiele hierfür sind Dieter Burdenski, Arne Friedrich, Thomas Helmer, Uli Stein, Jörg Böhme, Heiko Westermann oder zuletzt Diego Demme. Die Jahrhundert-Elf Zum hundertsten Vereinsjubiläum im Jahre 2005 wurde von den Fans die „Arminia-Elf des Jahrhunderts“ gewählt. Dabei wählten über 5000 Fans nicht nur eine Mannschaft (Torwart, drei Abwehrspieler, vier Mittelfeldspieler, drei Stürmer), sondern auch die dazugehörige Ersatzbank und den Trainer. Ehemalige Trainer → siehe auch: Liste der Fußballtrainer von Arminia Bielefeld Insgesamt 59 Trainer beschäftigte die Arminia in ihrer bisherigen Vereinsgeschichte, wobei Interimstrainer nicht berücksichtigt wurden. Erster Trainer wurde 1922 der Tscheche Frantisek Zoubek, der mit der Mannschaft einmal westdeutscher und viermal Westfalenmeister wurde. Zoubec ist neben Ernst Middendorp der einzige Trainer, der es bei der Arminia auf drei Amtszeiten brachte. Middendorp schaffte mit dem DSC den Durchmarsch von der Regional- in die Bundesliga und wurde 2005 von den Fans zum Trainer der „Jahrhundertmannschaft“ gewählt. Neben Middendorp (1996) gelang Egon Piechaczek (1970), Karl-Heinz Feldkamp (1978), Hans-Dieter Tippenhauer (1980), Thomas von Heesen (1999), Benno Möhlmann (2002), Uwe Rapolder (2004) und Uwe Neuhaus (2020) der Aufstieg in die Bundesliga. Zu den prominentesten Trainern der Vereinsgeschichte zählen Otto Rehhagel und Karl-Heinz Feldkamp. Eine Sonderstellung unter den Trainern nimmt Willi Nolting ein, der insgesamt viermal als Interimstrainer auf der Bank Platz nahm. Weitere Mannschaften Die zweite Mannschaft Die zweite Herrenmannschaft der Arminia spielte zuletzt von 2012 bis 2018 in der fünftklassigen Oberliga Westfalen. Im März 2018 wurde entschieden, die zweite Mannschaft aus sportlichen und finanziellen Erwägungen mit Abschluss der Saison 2017/18 aufzulösen. Saison und Spielbetrieb endeten im Mai 2018. Die letzte Heimspielstätte der zweiten Mannschaft war das Stadion Rußheide. Nach dem erstmaligen Aufstieg der zweiten Mannschaft aus der Kreis- in die Bezirksliga im Jahr 1958 pendelte die zweite Mannschaft zunächst zwischen Landes- und Bezirksliga, in den 1980er- und 1990er-Jahren zwischen Verbands- und Landesliga. Im Jahre 2002 stieg die Mannschaft erstmals in die Oberliga Westfalen auf und schaffte zwei Jahre später erstmals den Sprung in die Regionalliga. Auf der dritten Ligaebene bedeutete dies den Höhepunkt der Mannschaftsgeschichte. Nach dem direkten Wiederabstieg gelang im Jahre 2010 der erneute Regionalligaaufstieg, nun jedoch auf vierter Ligaebene, dem erneut der prompte Abstieg nach einem Jahr folgte. In der Saison 2013/14 wurden die kleinen Arminen mit deutlichem Vorsprung Meister der Oberliga Westfalen. Durch den Abstieg der ersten Mannschaft durfte Arminias Zweite nicht in die Regionalliga aufsteigen. Die dritte Mannschaft Die dritte Herrenmannschaft spielte von 2007 bis 2011 in der Landesliga. Die von Miron Tadic trainierte Mannschaft war in diesem Zeitraum bundesweit, zusammen mit dem Hamburger SV und Hertha BSC, nach Werder Bremen die am höchsten spielende dritte Mannschaft. Nach dem Abstieg in der Saison 2010/11 wurde die Mannschaft aufgelöst. Jugendfußball Arminia Bielefeld verfügt über 14 Jugendmannschaften, darunter fünf Mädchenteams. Die A-Jugend spielte von 2003 bis 2011, von 2012 bis 2015, von 2016 bis 2018 und von 2019 bis 2022 in der A-Junioren-Bundesliga, während die B-Jugend von 2007 bis 2012 und seit 2013 in der U-17-Bundesliga spielt. In den jüngeren Altersklassen spielen die Mannschaften mehrheitlich in den jeweils höchstmöglichen Spielklassen. Die B-Juniorinnen stiegen 2015 in die zweitklassige Regionalliga West auf. Die anderen Mädchenmannschaften spielen in Jungenligen. Zu den Erfolgen im Jugendbereich zählen die westdeutsche Meisterschaft der A-Jugend im Jahr 1961. Eine deutsche Meisterschaft in dieser Altersklasse wird erst seit 1969 ausgespielt. 1996 wurde die A-Jugend Westfalenpokalsieger und erreichte das Halbfinale im DFB-Junioren-Vereinspokal. Dort unterlag das Juniorenteam jedoch dem späteren Finalisten Energie Cottbus mit 0:3. Fünf Jahre später gewann die A-Jugend den westdeutschen Pokal, schied auf Bundesebene aber erneut im Halbfinale aus. Beim FK Pirmasens unterlagen die Bielefelder mit 1:2. Der größte Erfolg der B-Jugend war der Gewinn der deutschen B-Junioren-Meisterschaft 2023, nachdem man zuvor die Vizemeisterschaft in der B-Junioren-Bundesliga (Staffel West) 2022/23 errang, wodurch sich die Arminia erstmals für die Endrunde um die deutsche B-Juniorenmeisterschaft qualifizierte. → Daten zum Endspiel um die B-Junioren-Meisterschaft 2023 Aus dem Nachwuchs des DSC Arminia stammen Spieler wie Thomas Helmer, der 1996 mit der deutschen Nationalmannschaft Europameister wurde oder Yves Eigenrauch, der zwischen 1990 und 2001 236 Bundesligaspiele für Schalke 04 absolvierte, der spätere deutsche Nationalspieler Diego Demme und der spätere kubanische Nationalspieler Onel Hernández. Rainer Wilk wurde 1981 mit der deutschen U-20-Nationalmannschaft Weltmeister, blieb im Turnier allerdings ohne Einsatz. Im Jahre 2011 belegte Nico Perrey mit der U-17-Nationalmannschaft den dritten Platz bei der Weltmeisterschaft in Mexiko. Frauenfußball Die erste Frauenmannschaft des DSC Arminia spielt in der Regionalliga West. Trainer der Mannschaft ist Tom Rerucha. Heimspielstätte ist die EDImedienArena im Stadtteil Windflöte. Zuvor spielte die Mannschaft auf dem Kunstrasenplatz an der Schillerstraße bzw. dem Waldstadion im Stadtteil Quelle. 1975 wurde eine Abteilung für Frauen- und Mädchenfußball gegründet. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, genügend Spielerinnen für die Mannschaften zu finden, gelang 1980 der Aufstieg in die Bezirksliga. 1982 folgte der Abstieg. Dennoch glückte der sofortige Wiederaufstieg, der von einem Durchmarsch in die Landesliga gefolgt wurde. Im Jahre 1990 gelang der ersten Mannschaft erstmals der Aufstieg in die Verbandsliga, Nach einem zwischenzeitlichen Abstieg gehörte die Arminia seit 2003 wieder der Verbandsliga, die seit 2008 Westfalenliga genannt wird, an. Im Jahre 2015 wurde das Team Meister und stieg in die Regionalliga West auf. In der folgenden Saison 2015/16 gelang der Durchmarsch in die 2. Bundesliga Nord, aus der die Bielefelderinnen 2018 wieder absteigen mussten. 2019 gelang der direkte Wiederaufstieg, ehe die Mannschaft 2021 wieder absteigen musste. Im DFB-Pokal erreichte die Mannschaft in den Spielzeiten 2016/17 und 2017/18 jeweils das Achtelfinale. Den größten Erfolg erreichten die Bielefelderinnen jedoch in der Saison 2019/20, als sie sich erst im Halbfinale dem VfL Wolfsburg mit 0:5 geschlagen geben mussten. Die zweite Mannschaft stieg 2021 in die Landesliga auf. Mit Maxine Birker, Deniz Harbert, Kirsten Nesse und Maja Sternad brachte die Arminia vier spätere Bundesligaspielerinnen hervor. Zwischen 2004 und 2021 trainierte mit Markus Wuckel ein ehemaliger DSC-Profi die Frauenmannschaft. Erfolge Viermal Meister der 2. Bundesliga: 1978 (Nord), 1980 (Nord), 1999, 2020 Einmal Meister der 3. Liga: 2015 Einmal Meister der Regionalliga West/Südwest: 1995 Zweimal Westdeutscher Meister: 1922, 1923 Elfmal Westfalenmeister: 1912, 1921, 1922, 1923, 1924, 1925, 1926, 1927, 1933, 1962, 1990 Zweimal Westdeutscher Pokalsieger: 1966, 1974 Fünfmal Westfälischer Pokalsieger: 1908, 1932, 1991, 2012, 2013 Dreimal Halbfinalist im DFB-Pokal: 2005, 2006, 2015 Einmal deutscher B-Junioren Meister: 2023 Zwölfmal stellte Arminia Bielefeld einen Torschützenkönig. Ernst Kuster wurde zwischen 1967 und 1969 dreimal in Folge Torschützenkönig der Regionalliga West. In der 2. Bundesliga waren Volker Graul, Christian Sackewitz, Fritz Walter, Bruno Labbadia, zweimal Artur Wichniarek sowie Fabian Klos beste Torschützen. Zudem wurde Fabian Klos zweimal Torschützenkönig der 3. Liga, davon einmal gemeinsam mit Anton Fink. Zehnmal wurde ein Treffer eines Arminiaspielers von den Zuschauern der ARD-Sportschau zum Tor des Monats gewählt. Die Gewinner waren Christian Sackewitz (Februar 1978), Norbert Eilenfeldt (März 1981), Horst Wohlers (November 1983), Dirk Hupe (Mai 1985), Stefan Kohn (April 1986), Giuseppe Reina (Dezember 1996), Artur Wichniarek (Mai 2003), Fabian Klos (August 2014), Dennis Mast (November 2014) und Christoph Hemlein (April 2015). Stefan Kohns Fallrückzieher im Spiel bei Tennis Borussia Berlin wurde 1986 zum Tor des Jahres gekürt. Achtmal stieg Arminia Bielefeld in die Bundesliga auf und stellte mit dem Aufstieg im Juni 2020 den Rekord des 1. FC Nürnberg ein. Dazu kommen drei Aufstiege in die 2. Bundesliga. In der ewigen Tabelle der Bundesliga belegt die Arminia den 25. Platz mit 661 Punkten. Von 612 Spielen in 19 Spielzeiten gewann der DSC 167, verlor 285 und spielte 160 Mal unentschieden. Das Torverhältnis beträgt 698:988. In der ewigen Tabelle der 2. Bundesliga ist die Arminia auf Platz zwölf mit 1169 Punkten zu finden. Aus 780 Spielen in 22 Spielzeiten holte der Verein 318 Siege, 222 Unentschieden und 240 Niederlagen bei einem Torverhältnis von 1240:1016 (Stand: Juni 2023). Seit dem 12. August 2023 hält Arminia Bielefeld im DFB-Pokal den Rekord für die längste andauernde und auch insgesamt längste Serie an gewonnenen Elfmeterschießen. Sieben Elfmeterschießen wurden seit 2006 hintereinander gewonnen. Der vorherige Mitrekordhalter FC Bayern München (2002–2015) wurde am 12. August 2023 durch den Sieg gegen den VfL Bochum (6:3 n. E.) übertroffen. Der Verein DSC Arminia Bielefeld e. V. Der Hauptverein umfasst insgesamt zehn Abteilungen. Präsident ist seit dem 29. Juni 2021 Rainer Schütte. Das Amt des Schatzmeisters und Vizepräsidenten bekleidet Maurice Eschweiler. Drittes Präsidiumsmitglied, zuständig für die Abteilungen, ist Olaf Köster. Der Verein verfügt neben dem dreiköpfigen Präsidium über einen derzeit sechsköpfigen Wirtschaftsrat, dessen Vorsitzender Hans-Hermann Soll ist, und einen fünfköpfigen Ehrenrat mit dem Vorsitzenden Michael Fredebeul. Die Geschäftsstelle des Vereins befindet sich in der SchücoArena zwischen der Ost- und Südtribüne. Zu Beginn der Bundesligasaison 2005/06 startete der Verein eine Mitgliederoffensive mit dem Ziel, die Anzahl der Vereinsmitglieder auf 5000 zu steigern („Aktion 5000“). Im Mittelpunkt der Kampagne standen Plakate und Postkarten, die mit verschiedenen Motiven rund um den Verein aufwarteten. Das Kampagnenziel wurde bereits im Dezember 2005 erreicht. Die Aktion wurde nun unter dem Namen „Aktion 5000 Plus“ fortgesetzt. Im Oktober 2007 konnte das 10.000. Mitglied im Verein begrüßt werden. Mitte 2009 wurde mit ca. 11.600 Mitgliedern ein vorläufiger Höchststand erreicht. In den folgenden Jahren machte sich die sportliche Talfahrt auch in einem Rückgang der Mitgliederzahlen bemerkbar, sodass zwischenzeitlich nur noch etwa 8.000 Personen Mitglied des Vereins waren. Seit Juli 2013 ist jedoch wieder ein Anstieg der Mitgliederzahlen zu verzeichnen. Zur Saison 2014/15 startete der Verein erneut eine Mitgliederkampagne, als deren Ziel ausgegeben wurde, die Zahl von 11.111 Mitgliedern mit Beginn des 111. Jubiläumsjahres der Vereinsgeschichte am 3. Mai 2015 zu erreichen. Nach sportlichen Erfolgen im DFB-Pokal wurde dieses Ziel jedoch schon im April 2015 erreicht. Darauf schwankte die Mitgliederzahl bis 2019 um die Marke von ca. 12.000. Nach dem Aufstieg in die 1. Bundesliga stieg die Mitgliederzahl im Oktober 2020 auf knapp 14.200 Mitgliedern. Im November 2021 wurden 15.000 Mitglieder erreicht. Bis August 2023 blieben die Mitgliederzahlen auf diesem Niveau. Insgesamt zählt Arminia damit zu den mitgliederstärksten Sportvereinen Deutschlands. DSC Arminia Bielefeld GmbH & Co. KGaA Seit dem 1. Juli 2001 ist die Lizenzspielerabteilung des Vereins in die „DSC Arminia Bielefeld GmbH & Co. KGaA“ ausgegliedert. Der DSC Arminia Bielefeld e. V. ist mit 71,4 % als Kommanditist mehrheitlich an dieser Gesellschaft beteiligt. Die verbleibenden Kommanditanteile liegen beim „Bündnis Ostwestfalen“, einem Verbund aus regionalen Firmen, die sich die Unterstützung der Arminia-Gruppe zum Ziel gesetzt haben. Komplementär ist die DSC Arminia Bielefeld Management GmbH, deren alleiniger Gesellschafter der Hauptverein ist. Der GmbH & Co. KGaA stehen seit September 2017 zwei Geschäftsführer vor. Für die sportlichen Belange war seit März 2011 Samir Arabi zuständig. Arabi übte zunächst keine geschäftsführenden Tätigkeiten aus, verfügte jedoch seit 2014 über Prokura. Im September 2016 wurde Arabi zum Geschäftsführer Sport ernannt. Anfang März 2023 gab Arabi seinen Posten einvernehmlich mit sofortiger Wirkung auf, als nach dem Abstieg aus der Bundesliga auch der Klassenerhalt in der folgenden Zweitligasaison bedroht war. Einen Tag nach dem besiegelten Abstieg in die 3. Liga wurde Michael Mutzel am 7. Juni 2023 als Nachfolger vorgestellt. Vom 1. Oktober 2017 bis 31. Dezember 2022 war Markus Rejek Geschäftsführer für den kaufmännischen Bereich. Im Mai 2022 kündigte Geschäftsführer Rejek den Ausstieg zum Jahresende an, am 1. Januar 2023 folgte der Fußballfunktionär Christoph Wortmann auf seinem Posten. Kontrolliert werden die Geschäftsführer von einem derzeit neunköpfigen Aufsichtsrat, der sich aus den Mitgliedern des Vorstandes und des Wirtschaftsrates des e. V. zusammensetzt und dessen Vorsitzender Hartmut Ostrowski ist. DSC Arminia Bielefeld Arena- und Liegenschafts-Management GmbH & Co. KG (ALM KG) Mitte 2011 wurde die DSC Arminia Bielefeld Arena- und Liegenschafts-Management GmbH & Co. KG gegründet. Seit Juni 2012 war die Kommanditgesellschaft Eigentümerin des Stadions und des Trainingszentrums an der Friedrich-Hagemann-Straße. Ziel war es die finanzielle Belastung des Vereins, der zuvor Eigentümer des Stadions war, zu reduzieren, da mit der Übertragung der Besitzverhältnisse auch alle auf dem Stadion lasteten Schulden übertragen wurden. Darüber hinaus sollten Investoren für die Stadiongesellschaft gewonnen und Kreditgeber dazu bewogen werden, ihre Darlehen in Stadionanteile umzuwandeln. Vom 19. Dezember 2017 bis 31. Dezember 2022 war Markus Rejek neben der GmbH & Co. KGaA auch Geschäftsführer der ALM KG. Am 12. November 2018 gab der Verein bekannt, dass das Stadion im Rahmen des Sanierungskonzeptes an die Bündnis Alm GmbH verkauft wird. Die neue Gesellschaft befindet sich im Eigentum mehrere in der Immobilienbranche tätigen Unternehmer sowie lokaler Unternehmen und Sponsoren. Arminia Bielefeld hat mit der Bündnis Alm GmbH einen Mietvertrag über 15 Jahre geschlossen, mit einer vereinsseitigen Verlängerungsklausel von zweimal fünf Jahren. Zudem verfügt der DSC über ein Rückkaufsrecht nach fünf Jahren, sowie über ein dauerhaftes, exklusives Vorkaufsrecht. Die ALM KG ist seither originär als Eigentümer für das Trainingszentrum an der Friedrich-Hagemann-Straße, sowie für die Unterhaltung des nun gemieteten Stadions an der Melanchthonstraße zuständig. Der Verein ist alleiniger Gesellschafter der ALM KG. Präsidenten → siehe auch: Liste der Präsidenten von Arminia Bielefeld Seit der Gründung des 1. Bielefelder FC „Arminia“ am 3. Mai 1905 hatte der Verein 25 Präsidenten. Erster Vorsitzender war Emil Schröder. Von 1909 bis 1914 stand Julius Hesse dem Verein vor. Dieser führte den Club aus seiner ersten existenziellen Finanzkrise. Karl Demberg setzte ab März 1934 das Führerprinzip im Verein durch und läutete damit eines der dunkelsten Kapitel der Vereinsgeschichte ein. So wurde zu dieser Zeit Julius Hesse 1944 als Jude im KZ Theresienstadt ermordet. Wilhelm Stute hatte 1971 den Bundesliga-Skandal mit zu verantworten. Dass der Verein nach diesen Ereignissen wieder in ruhiges Fahrwasser gelang, war ein Verdienst von Jörg Auf der Heyde, der knapp 13 Jahre lang Vorsitzender war und damit die zweitlängste Amtszeit aller Präsidenten hatte. Mit der Lokalpolitikerin Gisela Schwerdt hatte die Arminia 1986 als erster deutscher Verein im Profifußball eine Präsidentin. Ihre Amtszeit war mit neun Monaten allerdings nur von kurzer Dauer. Die längste Amtszeit eines Präsidenten hatte Hans-Hermann Schwick, der dem Verein zwischen 1991 und 2010 etwa 20 Jahre vorstand. Weitere bemerkenswerte Präsidenten waren Wolfgang Walkenhorst, der während der sportlichen Talfahrt Ende der 1980er-Jahre Verantwortung übernahm und Hans-Joachim Faber, welcher das Präsidentenamt in einer schwierigen Phase um das Jahr 2011 vom zurückgetretenen Wolfgang Brinkmann übernahm. Faber wurde dabei vom einfachen Fan, der sich im Ehrenrat engagieren wollte, innerhalb von 14 Tagen zum Interims-Präsidenten seines Clubs. In der jüngeren Vergangenheit erklärte der Präsident Jörg Zillies am 15. Juli 2013 seinen sofortigen Rücktritt von allen Ämtern. Zillies teilte mit, dass dieser Schritt schon länger geplant und alle Gremien seit geraumer Zeit informiert seien. Er begründete seine Entscheidung mit privaten Motiven. Am 21. August wurde Hans-Jürgen Laufer zum neuen Präsidenten gewählt. Er bekleidete dieses Amt nach dem Rücktritt von Jörg Zillies schon interimsweise. Neben Laufer wurden Hermann J. Richter (Vizepräsident und Schatzmeister) und Bernard Kiezewski (Abteilungen) von den Vereinsmitgliedern in das Präsidium berufen. Fans und Zuschauer Die Fans Die Anhängerschaft des Vereins kommt in erster Linie aus Bielefeld sowie der Region Ostwestfalen-Lippe. Das Einzugsgebiet entspricht in etwa einem Umkreis von 100 Kilometern um Bielefeld herum. Der „harte Kern“ der Fans befindet sich bei den Heimspielen in den Stehplatzblöcken 1 bis 4 der Südtribüne und den Sitzplätzen auf den Blöcken J und I. Zu den prominentesten Arminiafans gehören der ehemalige Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein Torsten Albig, der Rapper Casper, der Generalsekretär der SPD und ehemalige Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert, der freie Journalist und ehemalige N24-Nachrichtensprecher Hans-Hermann Gockel, der Sky-Fußballmoderator Sebastian Hellmann, der Boxer Marco Huck, der RTL-Korrespondent Ulrich Klose, 11-Freunde-Chefredakteur Philipp Köster, der Entertainer Ingolf Lück, der ehemalige Tennisspieler Philipp Petzschner und der ehemalige Politiker und Generaldirektor des DOSB, Michael Vesper. Seit dem Bundesligaaufstieg im Jahre 2004 lag der Zuschauerschnitt konstant knapp über 20.000. Damit belegte der Verein allerdings nur die hinteren Ränge der Zuschauertabelle der Bundesliga. Nach dem Abstieg in die 2. Bundesliga belegte Arminia, mit gut 15.000 Zuschauern, einen mittleren Platz in dieser Wertung. In der 3. Liga gehört Arminia, mit einem Zuschauerschnitt um die 10.000, zu den beliebtesten Vereinen. Die höchste Zuschauerzahl wurde am 19. August 1978 erzielt, als 34.882 Zuschauer die Partie gegen Schalke 04 sahen. Am 11. November des gleichen Jahres sollen über 35.000 Zuschauer das Spiel gegen den 1. FC Kaiserslautern verfolgt haben. Wie groß der Einfluss der Fans auf die Vereinsarbeit ist, zeigen zwei Beispiele aus den Jahren 2008 und 2009. Anfang März 2008 wurde ein modernisiertes Vereinslogo veröffentlicht, das das bisherige um den Schriftzug „Arminia“ ergänzt zeigte. Von Seiten der Fans regte sich Unmut, da die Buchstaben „DSC“ in diesem neuen Logo fehlten, welche die Fans als einen elementaren Bestandteil der Vereinskultur ansahen. Zudem stieß auch die neue Gestaltung des Schriftzugs „Arminia“ auf Ablehnung. Es gründeten sich daraufhin mehrere Initiativen, darunter die Gruppierung „Unser DSC“, die unter dem Motto „Tradition lässt sich nicht erfinden“ innerhalb kürzester Zeit über 2000 Unterschriften gegen das neue Logo sammelte. Nach mehreren Gesprächsrunden mit der Vereinsführung wurde ein Kompromiss erzielt, dem zufolge die neue Gestaltung des Logos erhalten blieb, die Buchstaben DSC jedoch wieder in das Vereinslogo aufgenommen wurden. Im Jahre 2009 sorgte die Fangruppierung Kritische Arminen für Aufsehen, als sie sich nach dem Abstieg zum Sprachrohr aufwallender Fanproteste machte. Der Protest führte unter anderem zum Rücktritt des gesamten Vorstandes und des langjährigen Finanzvorstandes Roland Kentsch. Auf der Jahreshauptversammlung im Juni 2009 gelang es den Kritischen Arminen zudem, zwei Kandidaten im Vereinsvorstand zu platzieren. Seit dem Jahr 2011 tritt die Vereinigung in der Öffentlichkeit jedoch nicht mehr in Erscheinung. Zwischen den Saisons 2002/03 und 2010/11 wählten die Fans der Arminia den Arminen der Saison. Erster Preisträger war Rüdiger Kauf. Fangesänge und Liedgut Die Bielefelder Fanszene pflegt eine Vielzahl unterschiedlicher Gesänge. Bereits in den 1920er-Jahren wurden erste Texte in Vereinszeitungen veröffentlicht. Das Schwarz-weiß-blaue Band ist ein Arminenlied der ersten Stunde, das lange Zeit auch auf den Mitgliederversammlungen gesungen und in späteren Jahren mehrfach neu interpretiert wurde. Die offizielle Vereinshymne, die kurz vor Beginn eines jeden Heimspiels gesungen wird, ist Arminia, unser Herz schlägt nur für Dich von Willy d’Villa. Eines der populären Lieder, die vor und während der Spiele auf den Rängen gesungen werden, ist Arminia, wie schön sind Deine Tore von Werner Tennberg. Bis Ende der 1980er-Jahre wurde nach jedem Tor für die Arminia La Bostella gespielt. Seit 1988 wurde dann der Cancan zur Torhymne. Dies änderte sich kurzzeitig in der Hinrunde der Saison 2008/09, als der Cancan durch Seven Nation Army ersetzt wurde. Durch den Sieg bei einer Abstimmung auf der Vereinshomepage im Februar 2009, bei der neben dem Cancan und Seven Nation Army noch vier weitere Stücke zur Auswahl standen, wurde der Cancan wieder zur offiziellen Torhymne der Arminia. Neben den Gesängen gibt es noch eine Vielzahl an Liedern unterschiedlicher Interpreten und Stilrichtungen, die sich mit der Arminia befassen. So gab der Verein im März 2005 zum Vereinsjubiläum einen Sampler mit 20 Titeln heraus. Zudem produziert das Fan-Projekt regelmäßig Fansampler, auf denen Lieder von Fans rund um das Thema Arminia zu finden sind. Zuletzt erschien im Jahr 2007 die CD Block Party auf der unter anderem der mit Gold und Platin ausgezeichnete Musiker Casper mit dem Titel Eines Tages vertreten ist. Fanclubs, Ultras und Organisationen Mit dem ersten Bundesligaaufstieg 1970 bildeten sich die ersten Fanklubs. Am Ende des Jahrzehnts tauchten mit dem Alm-Adler und der Blue Army – Ostwestfalenterror die ersten gewaltbereiten Gruppierungen auf. Insbesondere die Blue Army zeigte dabei eine Nähe zu rechtsextremen Kreisen. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten gründete die Stadt Bielefeld 1984 das Bielefelder Fan-Projekt, das nach dem Abstieg der Arminia in die zweite Liga 1985 jedoch wieder aufgelöst wurde, da es die Stadt nun für unnötig erachtete. In der Folgezeit erlebte die Bielefelder Hooliganszene ihre Blütezeit. Heutzutage spielen Hooligangruppen kaum noch eine Rolle in der Bielefelder Szene, was auch dem 1996 neu gegründeten Fan-Projekt Bielefeld e. V. geschuldet ist, das mit zwei hauptamtlichen Mitarbeitern die Fanszene betreut. Fast zeitgleich zur Wiederbelebung des Fan-Projektes gründete sich am 1. Oktober 1996 die Fanorganisation Schwarz-Weiß-Blaues Dach, die seitdem als Dachverband der Arminia-Fanclubs mit etwa 900 Mitgliedern die Fan-Interessen gegenüber dem Verein vertritt und bei der Organisation von Auswärtsfahrten sehr aktiv ist. Ein besonderes Aushängeschild ist dabei die Organisation von Fansonderzügen zu den jeweiligen Auswärtsgegnern. In Bielefeld war schon 1923 der erste Sonderzug dieser Art zum Einsatz gekommen. 1994 griff man, zunächst auf Initiative des Bundesgrenzschutzes, diese Idee wieder auf. In den folgenden Jahren entwickelten sich die organisierten Auswärtsfahrten zu einer erfolgreichen Institution. So organisierte der Dachverband in der Saison 2008/09 mit zwölf Zugfahrten die meisten Sonderzüge der Liga. Zwar sind das Fan-Projekt und das Schwarz-Weiß-Blaue Dach voneinander unabhängig, sie arbeiten jedoch intensiv zusammen. So teilen sich beide Organisationen ein Büro in der Ellerstraße 39. In diesen Räumlichkeiten befindet sich auch der Fantreff Block 39 des Fan-Projekts. Im Oktober 2020 existieren 240 Fanclubs der Arminia, die neben der Region Ostwestfalen-Lippe auch in Köln, Hamburg, Berlin, Münster und Stuttgart beheimatet sind. Die ältesten noch bestehenden Fanclubs sind die Arminia Freunde Stuttgart-Stammheim (gegründet 1981), die Blue Army Bielefeld (gegründet 1982), die Letzten Getreuen Rees-Wesel (gegründet 1985), der Palermo-Club (gegründet 1986) und die DSC-Fans Rietberg (gegründet 1990). Im Ausland sind die Fanclubs „Dutch Arminia Team“ (Niederlande) und „BFC Tirol“ (Österreich) aktiv. Im Dezember 2016 gründete sich mit dem DSC Arminia Bundestag ein besonderer Fanclub, dem Mitglieder des Deutschen Bundestags, wissenschaftliche Mitarbeiter sowie Mitarbeiter der Bundesbehörden angehören. Seit Mitte der 1990er-Jahre hielt die Ultra-Bewegung auch in die Bielefelder Fanszene Einzug, insbesondere durch die Gründung der Boys Bielefeld im Jahr 1995. Die Bezeichnung „Ultras“ hatte zunächst keine Verwendung gefunden, bis 2001 einige Bielefelder Fangruppierungen, darunter die Boys Bielefeld, die Bielefelder Ultras gründeten. Nach knapp drei Jahren löste sich die Vereinigung wieder auf. Begründet wurde der Schritt unter anderem damit, dass der Begriff Ultras in Deutschland zunehmend mit gewalttätigen Aktionen in Verbindung gebracht wurde. In der Bielefelder Fanszene fanden sich jedoch weiterhin einige Gruppierungen, die als ultraorientiert bezeichnet werden konnten und szenetypische Aktionen wie z. B. Choreografien durchführten. Seit dem Ende der 2000er-Jahre vollzog sich der erste Generationswechsel in der Bielefelder Ultraszene. Mit der 2006 gegründeten Lokal Crew trat eine neue Gruppierung in Erscheinung, die sich schnell als sichtbarste ultraorientierte Gruppe in der Fanszene etablierte. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird der Begriff Ultras wieder vermehrt in der Fanszene auf Fahnen und anderen Identifikationsmerkmalen verwendet, wobei der Begriff „Bielefelder Ultras“ keiner bestimmten Gruppierung zugeschrieben wird, sondern vor allem bei den ultraorientierten Fans der jüngeren Generation Verwendung findet. Die älteren Gruppen, wie die Boys Bielefeld, betrachten die neueren Entwicklungen skeptisch, sehen sich jedoch weiterhin als Teil der aktiven Fanszene. Selbstdefinierter Block der Ultras ist der Fan-Block Eins. Die prominentesten Bielefelder Ultragruppen, insbesondere die Lokal Crew, ist Teil unterschiedlicher bundesweiter Faninitiativen wie beispielsweise ProFans, die sich u. a. für den Erhalt der 50+1-Regel und gegen eine unverhältnismäßige Kriminalisierung von Fußballfans durch Stadionverbote und Ähnlichem engagieren. Zudem teilt die Lokal Crew die deutliche Ablehnung von rassistischen Tendenzen. Die Bielefelder Ultraszene setzt sich des Weiteren aktiv für die Legalisierung von Pyrotechnik in Fußballstadien ein. Im Zuge dieser Aktivitäten wurde 2011 der Versuch unternommen, durch die Erarbeitung eines Sicherheitskonzepts, bei einem Heimspiel gegen den Karlsruher SC, die Genehmigung für das legale und kontrollierte Abbrennen von 20 Bengalos zu erlangen. Die Bemühungen scheiterten am Einspruch der Sicherheitsbehörden. Im Umfeld der ultraorientierten Szene wird neben diesen konsensorientierten Ansätzen jedoch auch regelmäßig illegal Pyrotechnik eingesetzt (in der Regel bei Auswärtsspielen), was meist Bestrafungen durch den DFB nach sich zieht. Außerhalb der Ultraszene ist der Einsatz von Pyrotechnik in der Bielefelder Fanszene nicht unumstritten. Seit 1999 ist Christian Venghaus hauptamtlich als Fanbeauftragter des Vereins angestellt. Seit 2014 ist mit Thomas Brinkmeier ein weiterer Fanbetreuer für den Verein tätig. Brinkmeier selbst war jahrelang Mitglied der aktiven Fanszene. Im Dezember 2003 gründete der Verein den „Arminia Supporters Club“ als eigenständige Abteilung. Fanfreundschaften Fanfreundschaften pflegen die Fans des DSC insbesondere zu Gruppierungen des Hamburger SV. Hierbei sind unter anderem die gemeinsamen Farben ein verbindendes Element. Ausdruck findet die Verbundenheit in dem Schlachtruf „Schwarz-Weiß-Blau, Arminia und der HSV“, der regelmäßig in den Bielefelder Fanblöcken zu hören ist. Zu Beginn dieser Freundschaft standen zunächst Verbindungen zwischen gewaltorientierten Fangruppierungen. In den 1990er-Jahren weiteten sich die freundschaftlichen Bande dann in der gesamten Fanszene aus. Bestärkt wurde diese Entwicklung auch durch den Wechsel mehrerer HSV-Profis in den Jahren 1994 und 1995 zur Arminia, die einen großen Anteil an der Rückkehr des Vereins in die 1. Bundesliga hatten. In den gemeinsamen Bundesligajahren veranstalteten die Supporter-Klubs beider Vereine bei den jeweiligen Gastspielen gemeinsame Partys für die Fans. Die Fanfreundschaft wird mittlerweile auch von beiden Vereinen selbst medial unterstützt. Der offizielle Twitter-Account des DSC tweetete beispielsweise direkt nach dem ersten Abstieg aus der 1. Bundesliga in der Geschichte des HSV in ironischer Anspielung auf den eigenen Ruf als Fahrstuhlmannschaft: „Hömma, der HSV geht nicht unter. Es geht auch wieder nach oben, wir sprechen aus Erfahrung. Wir hätten lieber in Freundschaft gegen euch gespielt, aber nun eben zwei Fußballfeste unter Freunden“. Im Zuge des ersten Pflichtspielaufeinandertreffens in der 2. Bundesliga gaben beide Vereine einen Fanschal heraus, der die Freundschaft beider Vereine betont. Freundschaftliche Bande gibt es ebenfalls zu Teilen der Fanszene von Hannover 96, welche ebenfalls mit dem Hamburger SV eine Fanfreundschaft pflegen. Zusammen bilden die drei Vereine die sogenannte „Nordallianz“. Im Mai 2017 verstärkte sich die Fanfreundschaft, als die Bielefelder mit einem 6:0-Sieg über Eintracht Braunschweig den Hannoveranern wichtige Schützenhilfe im Aufstiegskampf leisteten. Fanrivalitäten Im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen hat der DSC Arminia keinen Hauptrivalen. Eine Erzfeindschaft, wie sie zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 besteht, gibt es nicht. Ein Grund hierfür ist das ständige Auf und Ab des Vereins im deutschen Ligensystem, weswegen die Rivalitäten zu anderen Vereinen nur einen zeitlich befristeten Charakter entwickeln konnten. Erster großer Rivale war der VfB 03 Bielefeld. Neben dem Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt spielte der gesellschaftliche Hintergrund der Vereine eine entscheidende Rolle. Während die Arminia bürgerliche Wurzeln hatte, galt der VfB 03 als Arbeiterclub. In den frühen 1930er-Jahren lief der VfB für einige Jahre der Arminia den Rang ab. In den Spielzeiten 1943/44 und 1944/45 bildeten die beiden Vereine eine Kriegsspielgemeinschaft, um den Spielbetrieb trotz der Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges aufrechtzuerhalten. Verhandlungen über eine Fusion der beiden Clubs kurz nach Kriegsende blieben jedoch ohne Erfolg. Zuletzt spielte der VfB in der Saison 1955/56 eine Klasse über der Arminia. Nachdem der DSC 1962 in die II. Division West aufstieg, trennten sich die Wege der Vereine. Heute tritt der mittlerweile VfB Fichte heißende Club jährlich zu Freundschaftsspielen in der Saisonvorbereitung gegen Arminia an. In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren avancierte Preußen Münster zum Rivalen des DSC. Beide Vereine konkurrierten in dieser Zeit um die Rückkehr in den Profifußball miteinander. Während dieser gemeinsamen Oberligajahre kam es bei den Spielen beider Mannschaften daher regelmäßig zu Schlägereien. Die sportlichen Duelle der beiden Kontrahenten lassen sich mit Unterbrechungen bis in das Jahr 1911 zurückverfolgen. Anlässlich des 100-jährigen Vereinsjubiläums wurde Präsident Hans-Hermann Schwick gefragt, welchen Gegner er sich für ein Freundschaftsspiel wünschen würde. Seine Antwort lautete: „Entweder Real Madrid oder Preußen Münster.“ → siehe auch: Liste der Fußballspiele zwischen Arminia Bielefeld und Preußen Münster Die Begegnungen mit dem nur 42 Kilometer entfernten VfL Osnabrück werden von Fans und Medien landläufig als Derby eingeordnet. Trotz der westfälisch-niedersächsischen Grenze, die Begegnungen in unteren Spielklassen häufig ausgeschlossen hat, verbindet die beiden Clubs eine lange Geschichte miteinander. So trug Arminia ihr erstes Spiel im Jahr 1905 gegen eine Osnabrücker Mannschaft aus. Osnabrücker Vereine wurden aufgrund der geographischen Nähe bis zum Zweiten Weltkrieg häufig den westfälischen Spielklassen zugeordnet. Bereits in der Spielzeit 1924/25 trat Arminia gegen den im April 1924 gegründeten VfL Osnabrück in der erstklassigen Bezirksliga Westfalen an, nachdem man sich in den Jahren zuvor mit den Vorgängervereinen des VfL Osnabrück gemessen hatte. Begegnungen nach dem Krieg ließen aufgrund der geänderten Zuordnungspraxis bis 1970 auf sich warten und fanden hauptsächlich im Rahmen der 2. Bundesliga und der eingleisigen 3. Liga statt. Die Spiele zwischen dem VfL und dem DSC zeichnen sich durch ein erhöhtes Zuschauerinteresse und eine friedlich geprägte Rivalität aus. Im Jahre 2015 veröffentlichte der Filmemacher Milan Skrobanek den Dokumentarfilm Im Derby-Dreieck, der die Rivalität von Arminia Bielefeld, Preußen Münster und dem VfL Osnabrück anhand der Drittligasaison 2014/15 näher beleuchtet. Die seit Anfang der 1970er-Jahre latent vorhandene Rivalität zum VfL Bochum verschärfte sich 1996/97 unter anderem, nachdem der Bochumer Spieler Dariusz Wosz in einem Spiel mehrfach obszöne Gesten an das Bielefelder Publikum richtete. Nachdem die Arminia nach der Saison 2008/09 in die 2. Bundesliga abgestiegen war, entwickelte sich in den darauf folgenden Spielzeiten eine Rivalität zum SC Paderborn 07, das so genannte Ostwestfalenderby. Arminia spielte zum ersten Mal zusammen mit Paderborn in einer Profiliga, nachdem man sich zuvor nur im Amateurlager begegnete. Die Rivalität gründet auf der räumlichen Nähe der beiden ostwestfälischen Großstädte und dem Umstand, dass es sich bei den Kontrahenten bis einschließlich der Saison 2019/20 um die einzigen professionellen Fußballclubs der Region handelte. Das öffentliche Interesse wurde durch einen Medienhype, der von den lokalen Tageszeitungen und Radiostationen ausgelöst wurde, verstärkt. Kritische Stimmen von Bielefelder Seite sagen allerdings, dass aus historischen Gründen keine Rivalität bestehen würde. Der Deutsche Fußball-Bund bezeichnete die Partie zwischen Bielefeld und Paderborn als „Derby ohne Tradition“. Vereinsumfeld Stadien Heimspielstätte des Vereins ist seit 1926 die „Bielefelder Alm“. Das Stadion hat eine Kapazität von 27.332 Plätzen, davon sind 19.392 Sitzplätze und 7.940 Stehplätze. Alle Tribünen sind überdacht. Seit 2004 trägt das Stadion den Namen SchücoArena, nachdem der gleichnamige Bauzulieferer die Namensrechte am Stadion erwarb. Neben dem Stadion gibt es einen Kunstrasenplatz. Dieser wurde jahrzehntelang als „Hartalm“ bezeichnet und am 28. Januar 2018 in „Hannes Scholz Platz“ umbenannt. Unmittelbar nach der Vereinsgründung 1905 trug Arminia Bielefeld seine Spiele zunächst auf dem Kesselbrink, einem innerstädtischen Park aus. Nach einem kurzzeitig Intermezzo an der Kaiserstraße (heute: August-Bebel-Straße), folgten einige Jahre auf einem Sportgelände an der nördlich der Innenstadt gelegenen Pottenau. Hier konnte der Verein mit zwei Westdeutschen Meisterschaften und der damit einhergehenden Qualifikation für die Endrundenspiele um die Deutsche Meisterschaft, einige seiner größten sportlichen Erfolge feiern. Im Jahr 1926 wechselte der Verein an die heutige Spielstätte am westlichen Rand der Innenstadt. Die Alm glich ursprünglich einem Acker. Die Spielfläche war uneben und bei Regen sammelte sich das Wasser in zahlreichen Furchen. Aufgeschüttete Erdwälle dienten als Zuschauertribünen. 1954 wurden die Erdwälle mit Betonstufen versehen. Nach dem Bundesligaaufstieg 1970 wurde eine Haupttribüne gebaut. Auf der Nord- und Ostseite wurden Stahlrohrtribünen hochgezogen. Die Kapazität des Stadions wuchs auf etwa 30.000. Dazu wurden Flutlichtmasten installiert. Nach dem zweiten Bundesligaaufstieg wurde die Haupttribüne überdacht und die anderen Tribünen noch einmal erweitert. Mit etwa 35.000 Plätzen erreichte die Alm das größte Fassungsvermögen ihrer Geschichte. Nachdem die Arminia in den späten 1980er-Jahren in die Oberliga abgestiegen war, wurden die ursprünglich als Provisorium gedachten Stahlrohrtribünen demontiert. Die Südtribüne musste wegen Einsturzgefahr bis auf den Erdwall mit wenigen verbleibenden Betonstufen abgerissen werden. Die Kapazität sank so auf 15.000 Plätze. Später wurde die Osttribüne renoviert und überdacht. Die Kapazität pendelte sich bis 1996 auf 18.500 Plätze ein. Nach dem erneuten Bundesligaaufstieg 1996 erfolgte ein Neubau der Haupt- und Nordtribüne. 1999 folgte der Neubau der Südtribüne. Zwei Jahre später wurde zwischen Süd- und Osttribüne die neue Geschäftsstelle des Vereins errichtet. In der letzten Ausbaustufe entstand zwischen 2007 und 2008 die als neue Haupttribüne konzipierte Osttribüne, der Oberrang der Südtribüne wurde in einen Stehplatzbereich umgewandelt und die Nordtribüne um einen Stehplatzblock für Gästefans erweitert. Die markanten Flutlichtmasten wurden durch ein ins Stadiondach integriertes System ersetzt. Im Juli 2019 richtete Arminia Bielefeld als erster deutscher Proficlub einen gesonderten Bereich ein, um Autisten einen problemlosen Stadionbesuch zu ermöglichen. Oberhalb der Nordtribüne wurde in zwei Panoramaboxen ein Aufenthalts- und ein schallisolierter Snoezelraum eingerichtet, in denen die Spiele unter professioneller Aufsicht verfolgt werden können. Die zweite Mannschaft trug ihre Heimspiele im Stadion Rußheide aus. Die Rußheide ist die Heimstätte des VfB Fichte Bielefeld und liegt in der Nähe des Bielefelder Ostbahnhofs. Das 1970 eröffnete Stadion hat eine Kapazität von 12.000 Plätzen, davon sind etwa 1.400 überdachte Sitzplätze. Während der Fußball-Regionalligasaison 2004/05 trug die damals „Arminia Bielefeld Amateure“ heißende Mannschaft einige Heimspiele im Herforder Ludwig-Jahn-Stadion aus. In der Regionalligasaison 2010/11 diente hingegen das Stadion der Profimannschaft als Heimspielstätte. Die Frauenmannschaft spielte bis zum Aufstieg in die Zweite Bundesliga im Jahr 2015 auf dem Sportplatz „Stadtheide“ an der Schillerstraße. Da der dortige Kunstrasenplatz den Vorgaben für die Zweite Bundesliga nicht genügte, trägt die Mannschaft ihre Heimspiele seit dem im Waldstadion in Bielefeld-Quelle aus. Die U19- und U17-Mannschaft nutzen jeweils das Böllhoff-Stadion im Stadtteil Brackwede. Das Trainingsgelände der Profis befindet sich im Osten Bielefelds zwischen dem Stadtzentrum und Bielefeld-Oldentrup an der Friedrich-Hagemann-Straße. Es soll sukzessive weiter ausgebaut werden, um den Profis bessere Bedingungen zu bieten und die Zusammenarbeit zwischen Profi- und Jugendabteilung zu verbessern. Clubzeitungen, Fanmagazine und Blogs Die erste vereinseigene Zeitung waren die sogenannten Monatsblätter im Jahr 1925. Sie sollten der besseren Einbindung der Mitglieder in das Vereinsleben dienen. Mitte der 1960er-Jahre gab der Verein dann mit den Vereinsnachrichten Arminia Bielefeld e. V. die erste Clubzeitung im engeren Sinne heraus. Im Laufe der 1970er-Jahre etablierte sich für die Vereinsnachrichten der eingängigere Name Almpost. Zunächst produzierte der Verein die Zeitung noch selbst, ab dem Jahr 1983 übernahm dies das Westfalen-Blatt, welches die Almpost als Zeitungsbeilage auf eine Rekordauflage von 60.000 Exemplaren brachte. Nach Aussage des damaligen Managers Norbert Müller war die Almpost somit die auflagenstärkste Stadionzeitung aller Bundesligisten. Ab dem Jahr 2003 übernahm der Verein wieder die Federführung bei der Produktion. Im Jahr 2004 wurde die Almpost im Zuge der Umbenennung des Stadions in Halbvier umbenannt. Der Name Halbvier bezieht sich dabei auf die Anstoßzeit der Fußball-Bundesliga an Samstagen um 15:30 Uhr. Das Halbvier erscheint regelmäßig zu jedem Heimspiel der Arminia sowie mit einer Sonderausgabe zum Saisonende. Sie beinhaltet dabei in der Regel Themen rund um den aktuellen Gegner, Rückblicke auf Auswärtsspiele, Interviews mit Spielern aus dem Profi- und Nachwuchsbereich, Neuigkeiten aus dem Verein sowie Statistiken. Die Halbvier wird von der DSC Arminia GmbH & Co KGaA herausgegeben, wobei die Gesamtherstellung durch das Medienbüro 24/7 erfolgt. Bis zum Ende des Jahres 2011 wurde die Zeitschrift postalisch an alle Clubmitglieder verschickt. Aufgrund der finanziell angespannten Situation im Zuge des Abstiegs in die 3. Liga erfolgt der Versand seit Beginn des Jahres 2012 ausschließlich auf elektronischem Weg. Bei jedem Heimspiel liegen im Stadion aber auch weiterhin einige gedruckte Exemplare aus. Neben der Halbvier erscheint von Vereinsseite aus vierteljährlich das Magazin Arminia Supporter des Arminia Supporter Clubs. Bis Ende 2008 trug diese Zeitschrift den Namen ASC Aktuell. Das vom Verein unabhängige Fanprojekt Bielefeld e. V. gibt ebenfalls zu jedem Heimspiel die Zeitung Fan-Post mit aktuellen Informationen zum Spieltag und kommenden Auswärtsfahrten heraus. Im Laufe der Jahre betätigten sich auch unterschiedliche Fanclubs und Einzelpersonen als Zeitungsmacher. So hatte in den 1960er-Jahren die vereinseigene Zeitung Almpost starke Konkurrenz durch das privat herausgegebene Magazin Alm-Kurier, mit einer Auflage von 5000 Exemplaren pro Spieltag, sowie in den 1970er-Jahren durch Sport-Aktuell. In den Jahren 1989 und 1990 veröffentlichte der eng mit der Bielefelder Hooliganszene verbandelte Fanclub Blue Army – Ostwestfalen Terror die Zeitschrift Der Rüpel. Mitte der 1990er bis in die frühen 2000er Jahre erschien das Fanzine Um halb vier war die Welt noch in Ordnung, aus dessen Redaktion um Philipp Köster und Reinaldo Coddou H. später das Magazin für Fußballkultur 11 Freunde hervorging. Die Boys Bielefeld publizierten bis 2010 in unregelmäßigen Abständen das Magazin Mit Schirm, Charme & Melone. Aktuell tritt neben dem Fanprojekt vor allem die ultraorientierte Fangruppierung Lokal Crew publizistisch in Erscheinung, die seit 2009 zu jedem Heimspiel einen meist vierseitigen Flyer unter dem Namen pubLiC an die Besucher der Stehplatzblöcke verteilt. Auch im Internet gibt es verschiedene Fanzines und Blogs, die sich mit der Arminia befassen. So setzte sich beispielsweise das Blog5 auf teils satirische Weise mit dem Geschehen rund um den Verein auseinander. Seit 2017 beschäftigt sich die Website Pulsschlag-Arminia mit aktuellen und historischen Geschehnissen rund um die Arminia. Sponsoren → siehe auch: Liste der Sponsoren, Ausrüster und Vermarkter von Arminia Bielefeld Zwei Jahre nachdem Eintracht Braunschweig als erster deutscher Fußballverein mit Trikotwerbung auflief, wurde die Fruchtsaftmarke Granini erster Trikotsponsor der Arminia. Nach vier Jahren löste die Firma Seidensticker, Europas größter Hemdenhersteller, Granini ab. Diese Liaison dauerte sechs Jahre an, bis heute die längste Partnerschaft der Vereinsgeschichte. Bis 1996 hatten alle Trikotsponsoren ihren Sitz in Bielefeld, ehe mit Gerry Weber aus Halle (Westf.) die erste auswärtige Firma Trikotsponsor wurde. Bemerkenswert ist weiterhin die Brauerei Krombacher, welche zwischen 2004 und 2010 sechs Jahre lang die Brust der Bielefelder Kicker zierte und hierdurch mit Seidensticker als Rekordhalter gleich zog. Auf Platz drei mit bisher fünf Jahren als Trikotsponsor findet sich das Bielefelder Unternehmen Schüco International KG wieder, welche ihre Sponsorentätigkeit allerdings auf drei Etappen aufteilte, wobei die letzte 2016 begonnen hat und bis heute andauert. Nachdem im Jahre 1987 die Existenz des Vereines nur durch ein Vergleichsverfahren gerettet werden konnte, ging der Verein im Bereich der Sponsorenakquise neue Wege. Mit Hilfe von Rüdiger Lamm, der die Tischtennisabteilung der Spvg Steinhagen an die europäische Spitze führte, wurde ein Sponsorenpool aufgebaut, der innerhalb eines Jahres bereits 100 Unternehmen umfasste. In den ersten Jahren arbeitete Lamm auf Provisionsbasis, ab 1994 war er als hauptamtlicher Manager tätig. Lamms Nachfolger Heribert Bruchhagen schloss im Jahre 2001 einen auf zehn Jahre laufenden Vertrag mit der Vermarktungsfirma Sportfive ab. Die wohl bekannteste Bielefelder Firma, die Dr. August Oetker KG, hat sich gegenüber der Arminia in Sachen Sponsoring bisher immer zurückgehalten und war nur hin und wieder mit einer Bandenwerbung im Stadion vertreten. Seit Jahrzehnten hält sich im Umfeld des Vereins das Gerücht, dass sich der Verein und Oetker Anfang der 1970er-Jahre im Zuge einer Diskussion über ein neues Stadionprojekt zerstritten hätten. Gegen dieses Gerücht spricht, dass Oetker sich in der Sportförderung generell zurückhält, da nach Unternehmensangaben die Zielgruppe im Bereich Nahrungsmittel eher seltener unter den Besuchern eines Stadions zu finden sei. Des Weiteren ließ August Oetker nach dem Abstieg im Jahre 2009 die Bereitschaft erkennen, die Jugendförderung der Arminia unterstützen zu wollen. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich bei dem Zerwürfnis in den 1970er-Jahren um eine Behauptung handelt, ist die Tatsache, dass der Syndikus von Oetker, Jörg Auf der Heyde, zwischen 1973 und 1986 das Präsidentenamt der Arminia ausfüllte. Seit 2017 unterstützt Oetker als Teil des Bündnis Ostwestfalen den Verein und ist seit 2018 mit Mathias Gerner (Leiter der Hauptabteilung Finanzen der Dr. August Oetker KG) im Wirtschafts- und Aufsichtsrat der Arminia-Gruppe vertreten. Mit einer spektakulären Public-Relations-Aktion machten Arminia Bielefeld und der damalige Trikotsponsor, die Herforder Brauerei, im Sommer 1999 von sich reden. Sie kleideten die Statue des Namenspatron der Arminia, das Hermannsdenkmal, in ein überdimensionales Trikot aus 130 m² Stoff. Das Trikot trug die Rückennummer Neun, eine Reminiszenz an den Sieg des Arminius über die Römer im Jahre 9 n. Chr. Als „größtes Fußballtrikot der Welt“ erhielt das Kleidungsstück einen Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde. Auch touristisch war das Spektakel ein großer Erfolg, eine halbe Million Besucher fanden den Weg zum Hermannsdenkmal während der Zeit der Verhüllung. Die Kosten der Aktion beliefen sich auf etwa 10.000 Mark. Im August 2008 vergab Arminia als erster Bundesligist eine Lizenz an den Q1 Tankstellenvertrieb, der eine Tankstelle in der Nähe der Alm betreibt. Die nun unter dem Namen „Der 12. Mann“ firmierende Tankstelle bietet Mitgliedern des DSC verschiedene Vergünstigungen an. Aufgrund der Ereignisse rund um den Corona-Ausbruch kündigte Arminia die seit Juli 2019 bestehende werbliche Partnerschaft mit der Tönnies Holding zum Ende der Saison 2019/20. Aktion Bau auf Blau Zur Finanzierung des Stadionausbaus und anderer infrastruktureller Projekte präsentierte der Verein zusammen mit der Bank SEB AG am 14. September 2006 eine Fananleihe unter dem Motto „Bau auf Blau“. Der Nennwert pro Anleihe lag bei 100 Euro. Die Laufzeit der Anleihe betrug zum Ausgabezeitpunkt maximal fünf Jahre. Nach mehreren Fristverlängerungen endete die Aktion am 28. Februar 2007. Nach Vereinsangaben wurde die Anleihe vollständig an etwa 2300 Zeichner verteilt. Insgesamt erbrachte die Aktion drei Millionen Euro. Zu Ehren der Zeichner wurde am 15. November 2008 die Blaue Wand enthüllt. Dabei handelt es sich um zwei Tafeln im Erdgeschoss der neuen Haupttribüne, auf der alle Zeichner der Fananleihe namentlich aufgeführt sind. Aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten nach dem Abstieg in die 3. Liga im Jahr 2011, bemühte sich der Verein die Zeichner zu einer Verlängerung oder Aussetzung der in diesem Jahr fälligen Anleihe zu bewegen. Dies gelang zu einem Großteil, so dass die Lizenzbedingungen erfüllt werden konnten. Im Zuge der geplanten finanziellen Konsolidierung legte der Verein im Juli 2011 die sogenannte Zukunftsanleihe auf, welche zum einen den Altzeichnern die Möglichkeit der Verlängerung bot, als auch die Zeichnung neuer Anleihen ermöglichte. Die Laufzeit dieser Anleihe ist ebenfalls auf maximal fünf Jahre ausgelegt, auch die restlichen Konditionen entsprechen denen der „Bau auf Blau“-Anleihe. Nach dem Ende der Zeichnungsfrist am 31. August 2011 gab der Verein bekannt, dass sich das Gesamtvolumen dieser Anleihe auf über zwei Millionen Euro beläuft. Zur Fälligkeit der Anleihe im Jahr 2016 verzichteten zahlreiche Zeichner auf eine Rückzahlung, um den Verein zu unterstützen. Die Verbindlichkeiten konnten hierdurch um 699.000 Euro reduziert werden. Der verbleibende Betrag von 1,893 Millionen Euro wurde fristgerecht zurückgezahlt. Museum Am 6. März 2013 eröffnete in dem alten V.I.P.-Raum unter der Westtribüne der Alm das Museum/Archiv/Forum Arminia (MAFA). In dem, im Stile eines Fußballplatzes gestalteten Museum, werden verschiedene Ausstellungsstücke aus der mehr als 100-jährigen Vereinsgeschichte präsentiert. So sind unter anderem Teile der alten Stahlrohrtribüne, die sich bis in die 1980er-Jahre auf der Ostseite des Stadions befand, zu sehen oder die Ehrentafeln für die Siege in den westdeutschen Meisterschaften der Jahre 1922 und 1923. Neben multimedialen Elementen findet sich auch eine Fläche für Sonderausstellungen in Räumen des Museums. Viele der Ausstellungsstücke wurden von Fans gestiftet oder als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt. Die Finanzierung erfolgte durch Sponsoren und Spenden der Vereinsanhänger. Des Weiteren bot der Verein ein Fanpaket mit originalen und nachgebildeten Gegenständen aus der Vereinsgeschichte zum Verkauf an, dessen Erlös dem Museum zugutekam. Alle Spender und Käufer des Fanpakets sind auf einer Tafel in den Räumen des Museums verewigt. Arminia ist mehr Die Plattform „Arminia ist mehr“ wurde am 18. November 2013 veröffentlicht und soll das soziale sowie gesellschaftliche Engagement des Traditionsvereins widerspiegeln. Mit Hilfe der Themengebiete „Bildung, Integration, Engagement und Courage“ wird über die zahlreichen Projekte, die der Verein aktiv betreut und unterstützt, berichtet. So zählen neben zahlreichen Schul- und Städtekooperationen auch die Behindertenbetreuung und das Ehrenamt zu wichtigen Eckpfeilern der Plattform. Das Ziel von „Arminia ist mehr“ ist es, das soziale Engagement des Vereins vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken, um so das Bewusstsein der Öffentlichkeit für wichtige Themen wie Integration, Toleranz und gegenseitigem Respekt zu schärfen. Wir sind Ostwestfalen Mit dem Slogan Wir sind Ostwestfalen will der DSC Arminia Bielefeld öffentlich seine Identifikation mit der Region Ostwestfalen-Lippe nach außen tragen. Neben dem Schriftzug werden in einem Wappenlogo auch die Attribute Stur, Hartnäckig, Kämpferisch geführt, die sowohl die Tugenden der ostwestfälischen Bürger als auch die des Vereins repräsentieren sollen. Das Wappenlogo ist nicht das Vereinslogo, sondern eine Ergänzung. Seit 2012 kooperiert Arminia im Rahmen der Wir sind Ostwestfalen-Kampagne mit 25 Städten und Gemeinden sowie fünf Schulen, die als offizielle Partnerstädte und -Schulen bezeichnet werden. Darunter die Städte Bad Oeynhausen, Bad Salzuflen, Blomberg, Borgholzhausen, Bünde, Enger, Espelkamp, Extertal, Halle (Westf.), Harsewinkel, Herford, Hiddenhausen, Kalletal, Lage, Lemgo, Leopoldshöhe, Löhne, Oerlinghausen, Rietberg, Schloß Holte-Stukenbrock, Spenge, Steinhagen, Versmold, Vlotho und Werther. Ziel der Kooperationen ist es sich gemeinsam mit den jeweiligen Partnerstädten in folgenden Bereichen zu engagieren: Soziales, Integration/Inklusion, Breitensport, Kultur, Stadtentwicklung und Stadtmarketing. Abteilungen Aktuelle Abteilungen Altliga Die Arminia stellt derzeit drei Altherrenteams. In der Altersklasse Ü32 ist eine Mannschaft sowohl auf dem Feld als auch in der Halle aktiv. Die Mannschaften Ü43 und Ü50 spielen ausschließlich in der Halle. Geleitet wird die Abteilung von Dirk Hempel. Am 20. September 2015 hat die Ü50-Mannschaft in Berlin durch einen 1:0-Sieg über die NFS Gropiusstadt die deutsche Meisterschaft 2015 dieser Altersklasse für sich entschieden. Arminia Supporters Club Nach der Ausgliederung der Lizenzspielerabteilung des DSC Arminia in eine Kapitalgesellschaft, gründete der Verein am 6. Dezember 2003 eine Fan- und Förderabteilung unter dem Namen „Arminia Supporters Club“ (ASC). Zentrale Aufgaben des ASC sind neben dem Aufbau eines attraktiven Angebots für seine Mitglieder zum einen die Vertretung von Mitgliederinteressen gegenüber Verein, Verbänden und anderen Stellen und zum anderen die Förderung des gesamten Vereins mit seinen Abteilungen und Tochtergesellschaften. Innerhalb kürzester Zeit wurde aus dem ASC die mitgliederstärkste Abteilung im Verein mit rund 6.500 Mitgliedern (Stand: 2023). Der ASC ist bei Heimspielen im Stadion mit einem Infostand am Eingang Süd vertreten, auswärts werden die Fans mit einer mobilen Anlaufstelle, dem „Fanmobil“ unterstützt. Daneben bietet der ASC regelmäßig Veranstaltungen für Fans und Mitglieder an, unterstützt die Behindertenbetreuung und veröffentlicht quartalsweise ein eigenes Abteilungsmagazin. Zudem werden die außerhalb von Ostwestfalen-Lippe lebenden Fans im Rahmen eines bundesweiten Netzwerkes unterstützt. Arminis Im September 2005 wurde mit den „Arminis“ eine Fanorganisation für Kinder ins Leben gerufen. Der Verein kooperiert mit der von-Laer-Stiftung, die im Bereich Bielefeld und Umgebung im Rahmen der Jugendhilfe aktiv ist. Ziel der Abteilung ist es, möglichst viele junge Familien, insbesondere aber Kinder für den Fußball und den DSC Arminia zu begeistern. Neben kindgerechten Veranstaltungen bieten die „Arminis“ ihren Mitgliedern eine Kinderbetreuung während der Heimspiele und Rabatte auf Fanartikel an. Des Weiteren organisieren die Arminis auch Fahrten zu Auswärtsspielen der Arminia. Maskottchen der Arminis ist seit dem Sommer 2006 der Stier „Lohmann“. Der Name geht auf den Bauern Lohmann zurück, der dem Verein im Jahre 1926 das Gelände der heutigen SchücoArena verpachtete. Zum Andenken an dieses Ereignis trägt Lohmann ein Trikot mit der Rückennummer 26. Die Bielefelder Rockband Randale veröffentlichte im Jahre 2014 die EP Lieder für Lohmann, die fünf Lieder mit Bezug auf Arminia Bielefeld und die Arminis enthält. Billard Die im Jahr 2003 gegründete Abteilung BVO Interpool des „Billard-Verband Ostwestfalen-Lippe“ wurde am 7. August 2007 in den DSC Arminia integriert. Mit insgesamt drei Mannschaften tritt die Abteilung in den Ligen des Billardverbandes Ostwestfalen-Lippe an. Die erste Spielstätte war das Billardcafé Interpool in der Feilenstraße. Als das Cafe im Jahre 2010 schloss, zog die Abteilung in das Billardcafé Break Even an der Heeper Straße um. Seit 2012 ist die Abteilung in den ehemaligen VIP-Räumen der SchücoArena zu Hause. Unterhalb der Westtribüne wurde ein Billardraum mit acht Tischen eingerichtet, welcher im November 2012 für den Spielbetrieb freigegeben wurde. Finanziert wurde die neue Spielstätte mit Unterstützung der Abteilung Supporters Club. Damit verfügt Arminia über das einzige deutsche Fußballstadion, in dem auch Billard gespielt wird. Die erste Mannschaft tritt in der Verbandsliga an. Abteilungsleiter ist Cengiz Cenikli. Eiskunstlauf Am 31. März 1979 schloss sich eine Gruppe des Bielefelder Roll- und Schlittschuhclubs dem DSC Arminia an. In den 1980er-Jahren errang die Abteilung zahlreiche nationale und internationale Titel. Höhepunkt war der Gewinn des Nationen-Cup 1988 in Budapest. Zu dieser Zeit lief die Vizeeuropameisterin Krisztina Czakó für die Arminia. Seit 1979 veranstaltet die Abteilung jedes Jahr das „Winterfest auf dem Eis“. Trainings- und Wettkampfstätte ist die Oetker-Eisbahn in Bielefeld-Brackwede. Abteilungsleiterin ist Sabine Esser. Hockey Bereits 1925 versuchte der damalige Vereinsvorsitzende Mennerich eine Hockeyabteilung zu gründen. Da sich jedoch zu wenig Interessenten fanden, wurde nichts aus diesen Plänen. Erst 1946 kam es zur Gründung der Abteilung und die ersten Erfolge stellten sich schnell ein. Die Herrenmannschaft stieg bereits 1948 in die Oberliga auf. Zwischen 1979 und 1988 spielten die Herren ununterbrochen in der damals dritthöchsten Spielklasse, der Oberliga. Die Damenmannschaft gehörte in den späten 1980er-Jahren der Hallen-Oberliga an und pendelte auf dem Feld zwischen Ober- und Verbandsliga. Im Nachwuchsbereich konnten die Arminen zahlreiche Westfalenmeisterschaften gewinnen. Anfang der 1990er-Jahre setzte ein Niedergang ein, nachdem der Nachbar Bielefelder TG einen Kunstrasenplatz eröffnete und viele Spieler dorthin wechselten. Später bildeten Arminia und die BTG eine Spielgemeinschaft. In ihren frühen Jahren hatte die Abteilung große Probleme, eine geeignete Spielstätte zu finden. Zeitweise mussten die Mannschaften ihre Heimspiele im benachbarten Gütersloh austragen, dann innerhalb der Queller Rennbahn, die allerdings auch von britischen Sportflugzeugen genutzt wurden. So kam es, dass Spiele wegen Starts und Landungen unterbrochen werden mussten. 1971 fand die Abteilung auf der Anlage neben dem Heimat-Tierpark Olderdissen eine Heimat. Im April 1972 wurde auf der Anlage ein Länderspiel der deutschen Damen-Nationalmannschaft gegen Argentinien ausgetragen, das mit einem 1:1-Unentschieden endete. Abteilungsleiter ist Alexander Doht. Rollstuhlsport Seit dem 2. Mai 2016 hat der Verein sein Betreuungsprogramm für Behinderte ausgeweitet und eine Abteilung für „Behinderten- bzw. Rollstuhlsport“ gegründet. Der Schwerpunkt der Abteilung liegt auf Fitness und Geschicklichkeitsübungen, sowie der Ballsportart „Wheelsoccer“ (Riesenball). Schiedsrichter 19 Schiedsrichter sind für den DSC Arminia aktiv. Allerdings pfeifen alle Unparteiischen nur in regionalen und lokalen Ligen. Geleitet wird die Abteilung von Vlado Radmann. Tischfußball Im August 2020 trat der Verein Sportfreunde Kickerfeld der Arminia bei und begründete damit die Abteilung Tischfußball. Die Abteilung umfasst 60 Mitglieder und hat ihren Sitz in der alten Bogefabrik in der Meller Straße. Ehemalige Abteilungen Boxen In den 1930er-Jahren unterhielt der Verein kurzzeitig eine Boxabteilung. Über Erfolge und Gründe für die Auflösung ist jedoch nichts bekannt. eSports Im Januar 2019 wurde innerhalb der DSC Arminia Bielefeld GmbH & Co. KGaA ein eSports-Team etabliert, welches jedoch keine Vereinsabteilung war. Dieses war in der Sportsimulation FIFA aktiv und nahm in der Saison 2019/20 an der neu gegründeten Virtual Bundesliga teil. Die beiden Spieler hießen Sebastian Hallerbach (wh00t) und Timo Kraps (Krapsi). Trainiert wurden sie von Daniel Garcia (Ignite). Im Juli 2020 wurde der Spielbetrieb eingestellt, da sich der Verein auf sein Kerngeschäft Fußball konzentrieren wollte. Handball Die Handballabteilung wurde 1923 gegründet. Mitte der 1930er-Jahre hatten die Handballer ihre erfolgreichste Zeit. Die erste Mannschaft spielte in der Feldhandball-Gauliga regelmäßig vor mehreren tausend Zuschauern. Franz Dierkes gehörte zu dieser Zeit zu den Leistungsträgern und verpasste die Nominierung für den Olympiakader 1936 nur knapp. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Handballer der Arminia immer mehr von den Vereinen aus den umliegenden Bielefelder Stadtteilen überrundet und rutschten bis in die Kreisliga hinab. Im Mai 1987 wurde die Abteilung schließlich aufgelöst. Leichtathletik Mit dem Olympischen Sportclub Bielefeld gab es zwischen 1952 und 1956 einen dem DSC Arminia angeschlossenen Leichtathletikverein. Zu den bekanntesten Athleten gehörte Paul Schmidt, der insgesamt achtmal deutscher Meister im 800-Meter-Lauf war und bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom Vierter wurde. Bei den deutschen Hallenmeisterschaften 1955 gewann die Bielefelder Staffel im 4-mal-450-Meter-Lauf in der Besetzung Kornfeld, Ganer, Schmidt und Wieling die Silbermedaille. Willi Meier sprang im Jahre 1926 den Junioreneuroparekord im Weitsprung und nahm 1928 an den Olympischen Spielen in Amsterdam teil. Das kurze Fortbestehen von nur vier Jahren ist darin begründet, dass die Betreuung der Abteilung mit mehr als hundert Aktiven finanziell und logistisch zu aufwändig war. Auch war die Unterstützung durch Sponsoren nicht gegeben, so dass die finanzielle Grundlage lediglich auf Zuwendungen des damaligen Arminia-Präsidenten und Industriellen Kurt Wolff beruhte. Neben der einzig aktiven Zeit der Leichtathletik-Abteilung wurde bereits 1907 und später noch einmal 1964 versucht, eine solche ins Leben zu rufen. Dies misslang jedoch und seit 1973 besteht seitens des DSC Arminia kein Interesse an einer eigenen Leichtathletik-Abteilung mehr. Literatur Weblinks Homepage des Vereins blaue-daten.de: Viele Statistiken und historische Daten zu Arminia Bielefeld Einzelnachweise Quellen Fußnoten Fußballverein aus Bielefeld Bielefeld, Arminia Bielefeld, Arminia Gegründet 1905 Arminius als Namensgeber
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pink%20Floyd
Pink Floyd
Pink Floyd war eine 1965 gegründete englische Rockband. Mit ihrer Musik und der visuellen Gestaltung ihrer Platten und Bühnenauftritte schuf sie einen neuartigen Stil. Den Quellenangaben zufolge verkaufte die Band bislang über 300 Millionen Tonträger. Damit gehört Pink Floyd zu den erfolgreichsten Bands überhaupt. Das Konzeptalbum The Dark Side of the Moon (1973) ist das weltweit drittmeistverkaufte Album und das Konzeptalbum The Wall (1979) das meistverkaufte Doppelalbum. Unter der Leitung des ersten Sängers und Gitarristen Syd Barrett gehörte die Band zunächst zur britischen Bewegung des Psychedelic Rock. Nachdem Barrett zunehmend unter, mutmaßlich durch Drogenkonsum verursachten, psychischen Problemen zu leiden begann und 1968 die Band verlassen musste, entwickelte die Gruppe in der Besetzung Roger Waters, David Gilmour, Richard Wright und Nick Mason (der als einziger Musiker an sämtlichen Alben der Band mitwirkte) einen eigenständigen Stil mit Einflüssen aus Progressive Rock, Blues, Jazz sowie klassischer und Neuer Musik. Die Texte, die von 1973 (The Dark Side of the Moon) bis 1983 (The Final Cut) komplett von Waters geschrieben wurden, setzen sich oft kritisch mit sozialen und politischen Themen auseinander. Geschichte Vorgeschichte Die Wurzeln der Band gehen zurück auf die Schulzeit von Syd Barrett, Roger Waters und David Gilmour in Cambridge. Barrett und Waters besuchten das Hills Road Sixth Form College, Gilmour die Perse School in derselben Straße. Barrett und Gilmour trafen sich in den Mittagspausen zum Gitarrespielen und gaben vereinzelt Straßenkonzerte. Zu einer Bandgründung kam es allerdings noch nicht. 1963 ging Barrett nach London. Gilmour gründete die Band Joker’s Wild und zog ab 1966 mit einer weiteren Band relativ erfolglos durch Spanien und Frankreich. Die Ära Syd Barrett: 1965 bis 1968 1964 kam Roger Waters nach London und lernte bei seinem Architekturstudium an der Polytechnischen Hochschule den Schlagzeuger Nick Mason und den Pianisten und Organisten Richard „Rick“ Wright kennen. Sie gründeten die Coverband Sigma 6 und interpretierten aktuelle Blues- und Beatsongs. Mitglieder der sich zunächst als Rhythm-and-Blues-Band verstehenden Gruppe waren auch die Sängerin und spätere Ehefrau von Rick Wright, Juliette Gale, der Bassist Clive Metcalf und der Sänger Keith Noble. Sie änderten den Namen in The Tea Set, und Gitarrist Bob Klose kam hinzu. 1965 trat der exzentrische Kunststudent Syd Barrett als Sänger und Gitarrist der Band bei. Gale, Metcalf und Noble traten bald darauf aus, und Waters stieg von Gitarre auf E-Bass um. Barrett gab der Band den Namen The Pink Floyd Sound, abgeleitet von den Vornamen seiner beiden Lieblings-Bluesmusiker Pink Anderson und Floyd Council. Nach Aufnahme der Demos Lucy Leave und I’m a King Bee verließ auch Bob Klose die Gruppe. Der Name wurde auf The Pink Floyd und 1967 ab der zweiten Single schließlich zu Pink Floyd verkürzt. Ab 1966 spielte Pink Floyd im Londoner Untergrundclub UFO und wurde dort zur Hausband. Die ersten Erwähnungen der sich unter Barrett zur führenden Londoner Underground-Band entwickelnden Gruppe in der Presse erfolgten in der Untergrundzeitung International Times sowie in der Sunday Times im Oktober 1966; in beiden Artikeln wurde über ihren Auftritt im Londoner Roundhouse berichtet. Am 10. März 1967 veröffentlichte Pink Floyd ihre erste Single Arnold Layne bei EMI. Ein Londoner Rundfunksender verweigerte die Ausstrahlung, weil sie von einem Unterwäsche stehlenden Transvestiten handelt. Die Quellen sind sich uneins darüber, ob es der Piratensender Wonderful Radio London oder BBC Radio London gewesen ist. Am 16. Juni desselben Jahres erschien ihre zweite Single mit dem gleichnamigen Top-Ten-Erfolg See Emily Play. Die Band übernahm die von Andy Warhol stammende Idee der Mixed Media, etwa bei Liedern von Chuck Berry, die mit elektronischen Feedback-Techniken zerhackt wurden, und bei mit Licht- und Diashow untermalten Trip-Fantasien. Daraus entwickelte sich später ein zunehmend ausgeklügeltes Multi-Media-Konzept. Barrett war prägend für die frühen Jahre von Pink Floyd, gab die psychedelische Richtung vor und schrieb fast alle Stücke für das erste Album The Piper at the Gates of Dawn sowie für die ersten drei Singles. Mit wachsender Popularität der Band verschlechterte sich seine psychische Verfassung allmählich, verstärkt durch maßlosen Drogenkonsum, was die Zusammenarbeit mit ihm zunehmend erschwerte. Teilweise stand Barrett nur noch regungslos auf der Bühne, statt zu spielen. So kam es, dass Barretts Schulfreund David Gilmour, dessen eigene Gruppe sich gerade auflöste, Anfang 1968 von Roger Waters als fünftes Mitglied aufgenommen wurde; es gibt Fotos, die alle fünf Musiker gemeinsam zeigen. Gilmour sollte Barrett bei Live-Auftritten zunächst nur unterstützen, ersetzte ihn aber schließlich ganz. Im März 1968 wurde entschieden, ohne Barrett weiterzumachen. Auf dem zweiten Album A Saucerful of Secrets ist nur noch eine Komposition von Barrett enthalten (Jugband Blues). Seine restlichen Stücke aus dieser Zeit wurden 1970 auf zwei Soloalben Barretts eingespielt, zum Teil unter Mitwirkung von Pink-Floyd-Mitgliedern, sowie in der Box The Early Years 2017 veröffentlicht. Die Auseinandersetzung der restlichen Gruppe mit dem Abgang Barretts und seiner psychischen Erkrankung wurde im späteren Werk der Gruppe – und besonders auf dem Album Wish You Were Here – wiederholt thematisiert. Ausprägung eines neuen Stils: 1968 bis 1972 Auftritte der Gruppe, vor allem im Londoner UFO-Club, weckten auch das Interesse von Filmregisseuren. Die Band erhielt mehrere Aufträge zur Mitwirkung an Soundtracks, so bei Zabriskie Point und More. More erschien als Vinyl 1969 etwa zeitgleich mit Ummagumma, das als Doppelalbum eine Studioplatte, die je zu einem Viertel von jedem Bandmitglied stammt, und einen Live-Teil umfasst. Neben dem dort veröffentlichten Live-Programm wurde auch eine Konzeptshow namens The Man and The Journey interpretiert, die vorhandene Stücke sowie Neukompositionen enthielt. Im ersten Teil (The Man) geht es um einen Tagesablauf, im zweiten (The Journey) um eine innere Reise. Die Phase der künstlerischen Neuorientierung setzte sich mit dem nächsten Werk fort. Atom Heart Mother von 1970 war das erste Pink-Floyd-Album, das in Großbritannien den ersten Platz der Albumcharts erreichte. Neben drei Songs, die vom Folk beeinflusst sind, enthält es die 23-minütige Suite Atom Heart Mother, bei der ein Orchester und ein teilweise experimentell eingebrachter Chor zum Einsatz kamen, sowie die 13-minütige Soundcollage Alan’s Psychedelic Breakfast. Der Nachfolger Meddle (1971) belegte Platz 3. Die zweite Seite der Schallplatte füllt das 23 Minuten lange Echoes aus, das als wegweisend für die anschließende Entwicklung der Band gilt. In den USA blieb der Erfolg zunächst aus – über Platz 55 kam man dort trotz gut besuchter und umfangreicher Tourneen nicht hinaus. Einen Achtungserfolg brachte dort aber der Filmsoundtrack Obscured by Clouds ein, das als erstes ihrer Alben in die amerikanischen Top 50 einstieg. Free Four, ein Song mit vergleichsweise hohem Tempo, wurde öfter von US-amerikanischen Radiosendern gespielt als jede andere ihrer früheren Singles. Im Jahr 1972 begann Pink Floyd auch die Arbeit an ihrem erfolgreichsten Album The Dark Side of the Moon. Dafür arbeiteten sie sowohl im Studio, als auch auf Konzerten im Zuge der zweijährigen The Dark Side of the Moon Tour. Dort spielten, verfeinerten und ersetzten sie nach und nach die Stücke. Dieses Konzept wurde auf ihren Konzerten bis 1975 genutzt. Weltweite Erfolge: 1973 bis 1975 In den folgenden Jahren wurde Pink Floyd zu einer der erfolgreichsten Rockbands weltweit. Dabei entwickelte sich Roger Waters immer mehr zum Bandleader und hauptsächlichen Songwriter. Ab 1973 schrieb er – bis zu seinem Ausstieg Mitte der 1980er Jahre – sämtliche Songtexte der Band, und auch sein Einfluss auf die Musik wuchs zusehends. Auf seinen Ideen basierte auch das erste Konzeptalbum der Gruppe, The Dark Side of the Moon, das im März 1973 mit Kompositionen aller vier Mitglieder erschien. Von der Kritik zunächst verhalten aufgenommen, avancierte es zu einem Klassiker der Rockmusik. Es war die erste Veröffentlichung der Band, die auch in den USA durchschlagenden Erfolg hatte, dokumentiert durch Platz 1 in den Charts und eine sehr erfolgreiche Tour, die den Superstarstatus und damit den kommerziellen Erfolg der Band zementierte. Das Album, das vom Leitmotiv „Wahnsinn“ geprägt war, hielt sich von 1973 bis 1988 740 Wochen in den amerikanischen Billboard-Charts – bis heute ein unübertroffener Rekord (diese Charts umfassen die Top 200-Alben und berücksichtigen nicht nur Verkäufe, sondern auch Radioeinsätze). Es wird vermutet, dass die für diesen Rekord erforderlichen Mehrfachkäufe auch dadurch zustande kamen, dass das Album aufgrund seiner außergewöhnlichen Klangqualität als Referenzalbum zum Test von High-End-Stereoanlagen diente und Kratzer auf der Schallplatte audiophile Fans zu einem erneuten Kauf bewegten. Als das Album 1983 auf CD erschien, gab es wiederum einen Kaufanstieg, bis das Werk allmählich aus den Billboard-Charts verschwand. 1974 war die Gruppe für ihre Verhältnisse nur sehr kurz auf Tour. Lediglich einige Konzerte im Juli in Frankreich und eine Tournee im November und Dezember in Großbritannien fanden statt, was dem Erfolg von The Dark Side of the Moon geschuldet war. Auf diesen Tourneen erarbeiteten sie die Stücke Shine On You Crazy Diamond, Raving and Drooling, das auf dem Album Animals zu Sheep wurde, sowie You've Gotta Be Crazy, das auf dem gleichen Album zu Dogs wurde. Außerdem arbeiteten sie an neuem Material, sie versuchten, nur mit Haushaltsgegenständen ein vollständiges Album zu produzieren. Das unter dem Arbeitstitel Household Objects bekanntgewordene Projekt scheiterte allerdings an dem erforderlichen Arbeitsaufwand, der durch den Ehrgeiz der Gruppe auf ein unerreichbares Niveau gehoben wurde. Das Nachfolgewerk Wish You Were Here von 1975 ist Syd Barrett gewidmet: Das Titelstück Wish You Were Here und auch Shine On You Crazy Diamond beziehen sich auf das Gründungsmitglied. Während der Studioarbeit erhielt die Band Besuch vom psychotischen Barrett, der sich stark verändert und den Bezug zur Realität verloren hatte. Richard Wright bezeichnete die Platte später als das beste Pink-Floyd-Album und Shine On You Crazy Diamond als besten Song, an dem er nicht die kleinste Veränderung vornehmen würde. Die Platte wurde in Großbritannien 250.000-mal vorbestellt. Das Album gilt als der zweite Klassiker im Katalog der Band. 1975 kaufte Pink Floyd eine ehemalige Kirche in der Britannia Row im Londoner Stadtteil Islington, wo sie neben Büros und Lager die eigenen Britannia Row Studios unterbrachten. Dort wurden seitdem Teile der Alben aufgenommen. Die Veranstaltungstechnik wurde im selben Jahr als Britannia Row Productions ausgelagert und war zunächst im selben Gebäudekomplex beherbergt. Die Ära Roger Waters: 1976 bis 1985 Das Album Animals von 1977, das teilweise auch in pinkfarbenem Vinyl gepresst wurde, besteht aus drei Songs mit Laufzeiten zwischen 10 und 17 Minuten und dem umrahmenden Akustikstück Pigs on the Wing. Erstmals enthielt ein Pink-Floyd-Album fast ausschließlich Beiträge von Roger Waters; nur an Dogs war Gilmour maßgeblich als Komponist beteiligt. Dafür füllt das Lied fast eine komplette Albumseite. Musikalisch rauer als die Vorgängeralben gehalten und mit politischen sowie sarkastischen Texten versehen, wurde das Album von Fans und Kritikern insgesamt weniger positiv aufgenommen als seine direkten Vorgänger. Die Konzerte vor großem Publikum empfand besonders Waters als sehr anstrengend und entfremdend. Bei späteren Tourneen wurden keine Songs von Animals mehr gespielt. Erst als Solokünstler führte Waters große Teile des Albums Jahre später wieder regelmäßig auf. Das ehrgeizigste und größte Projekt war die Konzeption des Albums The Wall im Jahr 1979. Die Aufnahmen markierten erste schwerwiegende Differenzen zwischen den Bandmitgliedern, vornehmlich Gilmour und Waters, über die Frage, wohin sich die Band entwickeln sollte. Ein letztes Mal konnten die Konflikte aber in Kreativität umgesetzt werden, nicht zuletzt aufgrund der Vermittlung des jungen Bob Ezrin, den die Band als Produzenten hinzugezogen hatte. Waters setzte seine Linie dabei alles in allem durch, bis auf wenige Ausnahmen stammen auch alle Songs von ihm. Gilmour war als Komponist vor allem an Run Like Hell und Comfortably Numb beteiligt, wobei letzteres ursprünglich auf seinem Soloalbum erscheinen sollte, er steuerte aber auch bei anderen Songs wesentliche Gesangs- und Gitarrenparts bei. Wright, der sich auch als Musiker der Kritik der übrigen Bandkollegen ausgesetzt sah, verließ die Band nach dem Ende der Aufnahmen: Zum Bruch kam es im Herbst 1979, als Wright sich weigerte, seinen Familienurlaub in Griechenland abzubrechen, um an einer letzten Session teilzunehmen, die notwendig geworden war, um das Album, wie von der Plattenfirma gefordert, vor Weihnachten veröffentlichen zu können. Waters konnte Gilmour daraufhin überzeugen, Wright zu entlassen, wobei er drohte, The Wall andernfalls als Solo-Projekt zu realisieren. Wright nahm zwar noch an den folgenden The-Wall-Konzerten teil, wurde aber aus der Floyd-Partnerschaft ausgezahlt; zudem wurden weitere, von der Fertigstellung der diversen Wall-Projekte abhängige Honorare vereinbart. Waters behauptete später, Wright sei zum „Spielen“ zu ausgebrannt gewesen und hätte Bob Ezrin und dem Studiomusiker Peter Wood viele Keyboardparts auf The Wall überlassen. Nach anderen Berichten wurde er von Waters aufgrund von Drogenproblemen entlassen. Wright sagte dazu: „Roger und ich kamen einfach nicht mehr miteinander zurecht. Egal was ich machte, er war dagegen. Es war für mich unmöglich, mit ihm zu arbeiten.“ Das Konzeptalbum trägt autobiografische Züge von Roger Waters und beschreibt die zunehmende, durch eine Vereinnahmung von Seiten der Mutter und den Verlust des Vaters begründete Vereinsamung eines Rocksängers. Ein letztes Mal waren zudem Anspielungen auf das Schicksal Syd Barretts enthalten, denn auch Pink, die Hauptfigur von The Wall, ist ein Rockmusiker, der den Kontakt zur Realität verliert. Eine entsprechende Bühnenshow umrahmte diesen Inhalt: Während der ersten Konzerthälfte wurde auf der Bühne eine Mauer errichtet, die die Entfremdung zwischen Musikern und Publikum symbolisieren sollte. In der zweiten Hälfte spielte die Band hinter der Mauer, auf der Vorderseite wurden verschiedene Clips projiziert. The Wall wurde nur an vier Orten live aufgeführt: in Los Angeles, New York, London und Dortmund (1981). 1990, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, führte Waters The Wall noch einmal mit eigenen Gastmusikern auf dem ehemaligen Todesstreifen in Berlin zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz auf. Ab dem Jahr 2010 führte Waters mit seinem Solo-Projekt The Wall in einer langen, weltweiten Tour mit einer multimedialen Show in mehreren Ländern erneut auf. The Wall wurde 1982 von Alan Parker mit Bob Geldof in der Hauptrolle unter dem Titel Pink Floyd – The Wall verfilmt, wobei sich die Musik im Film und auf dem Konzeptalbum in einigen Stücken und Gesangsparts voneinander unterscheiden. Gilmour gab später zu Protokoll, dass vor allem in diesem Zusammenhang, nicht bereits während der Arbeit am Album, die Konflikte zwischen ihm und Waters eskaliert seien. Dieser habe nun die absolute künstlerische Kontrolle beansprucht. Das anschließende und bis zum Comeback 1986 zunächst letzte Album The Final Cut von 1983 stammte folglich vollständig aus der Feder von Roger Waters und ist seinem Vater Eric Fletcher Waters gewidmet, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Kompositorisch ist das Album eine Waters-Soloarbeit („written by Roger Waters, performed by Pink Floyd“) und enthält mehrere Songs, die die übrigen Musiker ursprünglich als „zu schwach“ abgelehnt hatten; auch die Reaktionen der Kritik waren insgesamt eher verhalten. Gilmour, auf The Wall noch sehr prominent als Sänger und Gitarrist vertreten, tritt auf dem Album kaum in Erscheinung, sondern arbeitete parallel an seinem Soloalbum About Face. Die Ära David Gilmour: 1987 bis 1995 1985 führten die Spannungen zwischen Waters und Gilmour zum Ausstieg von Waters, der die Band daraufhin im Alleingang für aufgelöst erklärte. Eine lange juristische Auseinandersetzung um den Bandnamen folgte: Gilmour, dessen Soloprojekt zuvor nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hatte, wollte 1986 zusammen mit Mason unter dem Namen Pink Floyd weitermachen und setzte sich vor Gericht schließlich durch. Jahre später räumte Waters ein, sein Versuch, Pink Floyd gegen den Willen der anderen Musiker aufzulösen, sei ein Fehler gewesen. Während der Aufnahmen zu dem neuen Projekt A Momentary Lapse of Reason (1987) stieß auch Wright wieder hinzu, allerdings noch nicht als Vollmitglied, da Gilmour und Mason das Album alleine finanziert hatten. Es war am Ende eher ein Soloprojekt von Gilmour, der auf die Hilfe unterschiedlicher Studiomusiker und Songwriter zurückgriff, und stieß bei den Fans auf Begeisterung. Die Reaktionen der Kritiker auf Pink Floyds 13. Studioalbum, die teils Schwächen im Songmaterial konstatierten, die durch eine bombastische, dem Zeitgeist entsprechende Produktion überdeckt würden, und insbesondere die Qualität der Texte bemängelten, waren dagegen geteilt. Das Album verkaufte sich hervorragend. Trotz der anhaltenden juristischen Auseinandersetzung mit Waters startete man mit dem neuen Album am 9. September 1987 zu einer Welttournee. Pink Floyd spielte auch einige Stücke aus der Waters-Ära, beschränkte sich aber weiterhin darauf, gemäß der Vereinbarung mit Waters pro Konzert nie mehr als drei Stücke von The Wall aufzuführen (davon ausgenommen sind Another Brick in the Wall sowie Gilmours Kompositionen Run Like Hell und Comfortably Numb). Eine Station der Tournee war am 16. Juni 1988 der Berliner Reichstag, in unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer. Jenseits der Mauer, an der Straße Unter den Linden, standen ungefähr 5000 Personen, um von dort zuzuhören. Am 21. Juli 1990 wurde in Berlin das von Roger Waters initiierte Rock-Spektakel The Wall am Potsdamer Platz aufgeführt, mit Gaststars wie Scorpions, Bryan Adams, Cyndi Lauper, Sinéad O’Connor, Ute Lemper, Van Morrison und Joni Mitchell. Gegen Ende der Tour fand am 15. Juli 1989 vor rund 200.000 Zuschauern ein neben bedrohlichen Schallwellen auch einen riesigen Müllberg produzierendes Konzert auf einer schwimmenden Insel vor dem Markusplatz in Venedig statt. Die letzte Veranstaltung war am 18. Juli 1989 in Marseille im Stadion Velodrome. Die Streitigkeiten zwischen Waters und der restlichen Band endeten mit einer vorläufigen Vereinbarung, in der die Rechte und Anteile an den Alben, den Songs und dem Bandnamen geregelt wurden. Waters tourte derweil weiterhin mit namhaften Gastmusikern und schrieb eigenes Material. In seinem Liveprogramm griff er ebenfalls auf viele Pink-Floyd-Stücke zurück. Seit dem 1992 veröffentlichten Video La Carrera Panamericana war Wright wieder Vollmitglied der Band gewesen. Der Soundtrack des Videos enthält mehrere nur dort veröffentlichte Musikstücke aus der Feder der drei verbliebenen Floyds. Das Trio brachte dann im Frühjahr 1994 das Album The Division Bell heraus. Die Band war diesmal zu ihrer früheren Arbeitsweise zurückgekehrt, und erstmals seit 1975 waren Wright und Mason wieder intensiv in das Songwriting involviert. Der kommerzielle Erfolg der CD war allerdings sehr viel größer als die Zustimmung der Kritik, die überwiegend künstlerischen Stillstand, Sentimentalität, Selbstplagiate und Einfallslosigkeit konstatierte. Es folgten eine anschließende Welttournee und das Live-Album Pulse (1995). In den darauffolgenden 19 Jahren erschien kein neues Material mehr. Post-Division-Bell-Ära: 1996 bis 2005 Pink Floyd wurden 1996 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. 2000 legte man das Doppelalbum Is There Anybody Out There? The Wall Live 1980–1981 vor, 2001 eine Doppel-CD (Best of) namens Echoes. Zu der Zeit gelangten erstmals Gerüchte an die Öffentlichkeit, Waters würde sich, vermittelt durch Mason, den übrigen Musikern langsam wieder annähern. Eine DVD-Version des Konzertes von 1971 im Amphitheater von Pompeji erschien 2003, ohne dass die Mitarbeit der Musiker gewünscht wurde. Gilmour distanzierte sich später deutlich von dieser DVD. Im Rahmen der von Bob Geldof organisierten Live-8-Veranstaltung, zu der unter anderem ein Konzert im Londoner Hyde Park gehörte, traten Pink Floyd, einschließlich Roger Waters, im Juli 2005 auf. Damit spielten sie erstmals (und zugleich letztmals) seit 1981 wieder in der Besetzung der Zeit ihrer größten Erfolge zusammen und nährten Spekulationen rund um eine „Reunion-Tour“ oder gar ein neues Album. Sie spielten Speak to me/Breathe/Breathe Reprise, Money, Wish You Were Here und Comfortably Numb. In Bezug auf weitere Auftritte wechselte Gilmour bei Interviews anlässlich seiner Solo-Tour im Jahr 2006 mehrfach seine Meinung. Waters hingegen erklärte, ebenso wie Nick Mason, er sei sehr gerne zu einer Zusammenarbeit bereit. In einem Interview im September 2007 äußerte sich Gilmour zuletzt wieder skeptisch zu einer nochmaligen Wiedervereinigung der Band: „Was ich mitteilen kann, ist, dass die Aussichten auf eine Reunion von Pink Floyd wirklich extrem gering sind, abgesehen von einmaligen, wichtigen Anlässen, wie ‚Live 8‘ einer war.“ Allerdings könne und wolle er das offizielle Ende von Pink Floyd nicht verkünden, zumal es rechtliche Gründe gebe, die ihn daran hinderten. Jüngere Entwicklungen seit 2006 Am 7. Juli 2006 starb Pink-Floyd-Mitbegründer Syd Barrett im Alter von 60 Jahren. Bei einem Gedenkkonzert am 10. Mai 2007 traten neben den Künstlern Chrissie Hynde und Damon Albarn auch Roger Waters und die übrigen drei Mitglieder von Pink Floyd auf, jedoch getrennt voneinander. Waters spielte zum Ende der ersten Hälfte sein Stück Flickering Flame. Begleitet wurde er von dem Keyboarder Jon Carin, der bereits auf den Floyd-Tourneen zwischen 1987 und 1994, auf Waters’ Solo-Konzerten in den Jahren 2000 und zwischen 2006 und 2008, bei Pink Floyds Live-8-Auftritt sowie bei Gilmours Tournee 2006 spielte. Gilmour, Wright und Mason spielten dann (vor dem Finale) als letzte Künstler des Abends Arnold Layne. Eigentlich hätte Waters in der zweiten Hälfte des Konzerts noch Shine On You Crazy Diamond spielen sollen; er war jedoch in der Pause gegangen und deshalb auch beim Finale nicht mehr dabei. Die DVD-Veröffentlichung eines Mitschnitts der 1994er-Tour mit dem Titel Pulse, die 1995 durch das gleichnamige Live-Album dokumentiert wurde, wurde 2006 zu einer der meistverkauften Musik-DVDs und gewann zahlreiche Preise. 2007 erschien zum vierzigjährigen Jubiläum der Erstveröffentlichung des Albums The Piper at the Gates of Dawn ein limitiertes 3-CD-Boxset mit der Stereo- und Monoabmischung des Albums und zusätzlich den drei Singles aus dem Jahr 1967 sowie zuvor unveröffentlichten Alternativversionen von Songs des Albums. 2008 wurden Pink Floyd mit dem Polar Music Prize ausgezeichnet. Bei der Verleihung durch den schwedischen König Carl XVI. Gustaf waren Nick Mason und Roger Waters anwesend. Am 15. September 2008 starb der Pink-Floyd-Mitbegründer Richard Wright im Alter von 65 Jahren an Krebs. David Gilmour würdigte Wright auf seiner Website mit einem emotionalen Nachruf, in dem er ihn als ruhigen und bescheidenen Menschen sowie als wichtigen Freund und Teil seiner musikalischen Laufbahn bezeichnete. Auch Waters nutzte seinen Internet-Auftritt, um an Richard Wright zu erinnern. Dabei merkte er an, dass man Wrights musikalischen Einfluss bei Pink Floyd gar nicht groß genug schätzen könne. Er erinnerte dabei an Songs wie Us & Them oder The Great Gig In The Sky, die beide aus der Feder Wrights stammen. Gleichzeitig brachte er zum Ausdruck, dass er sich glücklich schätze, bei Live 8 noch einmal mit Wright aufgetreten zu sein, und er es bedauere, dass es im Anschluss daran keine weiteren Auftritte mit Wright, Gilmour und Mason gegeben habe. Nick Mason gab in einem Interview im April 2009 an, dass er sich nach dem Tod von Wright nur sehr schwer vorstellen könne, dass Pink Floyd noch einmal auftreten werde. Am 10. Juli 2010 traten Waters und Gilmour zugunsten der „Hoping Foundation“ (Hope and Optimism for Palestinians in the Next Generation) vor ca. 200 geladenen Gästen gemeinsam auf und spielten dabei eine Coverversion von To Know Him is To Love Him, die Pink-Floyd-Songs Wish You Were Here und Comfortably Numb sowie als Zugabe Another Brick In The Wall (Part 2). Begleitet wurden die beiden unter anderem von Chester Kamen, Harry Waters, Andy Newmark und Guy Pratt. Waters ließ daraufhin verlauten, dass ein Auftritt von David Gilmour auf Waters’ kommender Tournee geplant sei. Schließlich kam es am 12. Mai 2011 in der Londoner O2 Arena tatsächlich zu dem angekündigten Gastauftritt von David Gilmour bei dem Stück Comfortably Numb. Am Ende des Konzertes spielten Waters und Gilmour, begleitet vom ebenfalls anwesenden Schlagzeuger Nick Mason, Outside The Wall. Waters war dabei an der Trompete zu hören, während Gilmour Mandoline spielte und Mason ein Tamburin schlug. Im Anschluss daran verließen die drei noch lebenden Mitglieder von Pink Floyd unter dem frenetischen Jubel der Fans gemeinsam die Bühne. Es handelte sich dabei aber nicht um eine offizielle Pink-Floyd-Reunion, wie in einem Teil der Presse fälschlicherweise danach zu lesen war. Später traten die restlichen Pink-Floyd-Mitglieder nicht mehr gemeinsam auf, jedoch gab es Auftritte einzelner Mitglieder, die dann Stücke von Pink Floyd spielten. So trat zuletzt Nick Mason im Rahmen der Abschlussveranstaltung der Olympischen Spiele in London am 12. August 2012 mit dem Stück Wish You Were Here auf. Am 5. Juli 2014 gab Gilmours Ehefrau Polly Samson in einer Nachricht über den Kurznachrichtendienst Twitter die Veröffentlichung eines neuen Albums mit Songmaterial, das großenteils bereits 1994 mit Richard Wright während der Aufnahmen zu The Division Bell entstanden war, im Oktober 2014 bekannt. Das Album solle The Endless River heißen. Der Titel geht auf eine Textzeile aus dem Song High Hopes zurück. Die ursprünglich als Instrumentalstücke angelegten Kompositionen waren von Gilmour und Mason seit 2013 überarbeitet, erweitert und teils mit Texten und Gesang versehen worden. Zur viralen Verbreitung entschied man sich, weil ein nicht genannter Insider zuvor der Boulevardzeitung The Sun Informationen zum Album zugetragen hatte. Entgegen den Aussagen von Polly Samson sollte das neue Album nun im November 2014 erscheinen. Es erschien schließlich am 7. November 2014 auf CD, LP und Bluray. Waters war an den Aufnahmen nicht beteiligt. Gilmour und Mason bestätigten, nach The Endless River keine weiteren Studioalben von Pink Floyd mehr zu veröffentlichen. Im weiteren Verlauf stellten Pink Floyd viel zuvor unveröffentlichtes Material aus den verschiedenen Phasen in Kompilationen und Boxsets zum Verkauf. So wurde im Zeitraum von 2011 bis 2012 ihr gesamtes Repertoire remastert und die drei Alben The Dark Side of the Moon, Wish You Were Here und The Wall wurden in den sogenannten Immersion Boxsets mit Live- und Studioaufnahmen, 5.1-Remixes sowie Videomaterial näher behandelt. 2014 erschien das Boxset The Early Years: 1965 – 1972, welches ebenfalls diverses Audio- und Videomaterial aus der Zeit enthält und aus 7 Volumina besteht, die unterschiedlichen Jahren zugewiesen sind. Diese sind im Folgejahr einzeln erschienen. 2019 erschien das Boxset The Later Years: 1987 – 2019 welches die genannte Zeitperiode behandelt. 2021 erschien erstmals Pink Floyds Auftritt am Knebworth Festival offiziell als einzelstehendes Album. Am 7. April 2022 kündigte die Band (ohne Waters) überraschend die neue Single Hey, Hey, Rise Up! an, deren Veröffentlichung am darauffolgenden Tag erfolgte. Die Erlöse sollen für humanitäre Zwecke in der Ukraine verwendet werden. Neben Gilmour und Mason waren als Bassist Guy Pratt und am Keyboard Nitin Sawhney beteiligt. Der Gesang in dem Stück kommt von Andriy Khlyvnyuk, dem Frontmann der ukrainischen Rock-Band BoomBox. Gilmour stellte in einem Interview klar, dass der Song eine einmalige Sache gewesen sei und kein Interesse an der Wiederbelebung der Band bestünde. Roger Waters, der den russischen Präsidenten aufgrund des Angriffskrieges zunächst noch als „Gangster“ bezeichnet hatte, distanzierte sich im Februar 2023 ausdrücklich von der Single, die nur dazu diene, einen „Stellvertreterkrieg“ der NATO gegen Russland zu legitimieren. Die gegensätzlichen Haltungen zum Ukrainekrieg und zu Israel trugen so dazu bei, die Konflikte zwischen Gilmour und Waters wieder zu verschärfen. Stil Neuartiger Technikeinsatz Pink Floyd nutzten erstmals gezielt das Binson Echorec als Effektgerät, um damit u. a. die Bassläufe von One of These Days (auf Meddle) zu erzeugen. Auch analoges Sampling in Form von Tapeloops wurde von ihnen verwendet. Diese Technik hatten Pink Floyd 1970 beim Avantgarde-Künstler Ron Geesin entdeckt, der auch an ihrem Album Atom Heart Mother mitarbeitete. Insbesondere wurde die Technik auf The Dark Side of the Moon verwendet, unter anderem beim Registrierkassen-Loop des Songs Money und dem Albumintro Speak to Me. Im Studio profitierte die Band von den Aufnahmebedingungen der Abbey Road Studios, in denen bereits die Beatles gearbeitet hatten, sowie – bei Atom Heart Mother und The Dark Side of the Moon – von der Mitwirkung des Toningenieurs Alan Parsons, der auch als Produzent fungierte. In ihren Live-Shows nutzten Pink Floyd erstmals live die Technik der Quadrophonie (die von ihnen erfolglos auf einigen Alben getestet wurde), indem sie mit Hilfe eines sogenannten Azimut-Koordinators vorgefertigte Sounds durch die Halle, unter anderem hinter das Publikum, wandern ließen. Schließlich gehörte Pink Floyd zu den ersten Rockbands, die (auf dem Album The Dark Side of the Moon) einen Synthesizer als zentrales Instrument verwendeten, den EMS-Synthi-AKS-Synthesizer. Beispielsweise basiert der Song On the Run fast ausschließlich auf einer repetitiven Synthesizer-Sequenz. Instrumental David Gilmour wurde in seinen Spielweisen sowohl vom Blues und vom Rock ’n’ Roll als auch von der Folkmusik beeinflusst. Typische Blues-Techniken wie Bendings und Slides ziehen sich durch mehrere berühmte Soli. Gilmour spielte meistens E-Gitarren der Modelle Fender Stratocaster und Fender Telecaster über Hiwatt-Verstärker mit WEM (4×15)- und Marshall (4×12)-Boxen, zudem kamen mehrere Effektpedale zum Einsatz. Darüber hinaus spielte er Lap-Steel-Slide-Gitarren, zu hören bei Breathe, The Great Gig in the Sky, Shine On You Crazy Diamond (Part 6–9), High Hopes oder One of These Days. Richard Wright verwendete zunächst verschiedene Orgeln, kennzeichnend ist insbesondere der Klang der Hammond-B3-Orgel. Synthesizer kamen bei Pink Floyd ab 1972 zum Einsatz, die Modelle EMS VCS 3 und Minimoog prägen seine Solo-Parts auf den Alben The Dark Side of the Moon, Wish You Were Here und Animals. Wright erlernte das Klavierspielen als Autodidakt. Zu seinen frühesten Einflüssen zählen Bach, Beethoven und Komponisten der Romantik. Wie später auch Gilmour griff er bei seinen Kompositionen mit Vorliebe auf erweiterte Akkorde zurück. Dieses Vorgehen stand dem Kompositionsstil von Roger Waters entgegen, der einfache Akkordfolgen bevorzugte. Der charakteristische Klang wird von Gilmours melodischem Gitarrenspiel und den Klangteppichen von Richard Wright bestimmt. Anders als bei den Bands des gleichzeitig aufblühenden Progressive Rock nimmt die Rhythmusfraktion um E-Bass und Schlagzeug eher eine untergeordnete Rolle ein. Ungerade Metren wie der 7/8-Takt im Intro und der Strophe von Money bilden eher die Ausnahme als die Regel, die Kompositionen bewegen sich vor allem im Down- bis Midtempo-Bereich. Typisch für das Bass-Spiel ist der akzentuierte Wechsel zwischen dem Akkord-Grundton und seinem Oktavton, ergänzt um variierende Übergänge. Das Schlagzeugspiel von Nick Mason hält sich im Allgemeinen dezent im Hintergrund, bietet dabei aber feine Nuancen. Insbesondere ist jedes seiner Breaks einzeln und individuell gestaltet. Gesang Nach dem Ausscheiden von Syd Barrett als Frontmann wurde der Gesang in der Regel, teilweise auch innerhalb eines Stücks zwischen David Gilmour und Roger Waters aufgeteilt. Richard Wright übernahm zudem gelegentlich eine Zweitstimme. Nick Masons Stimme ist nur auf wenigen Stücken zu hören: In One of These Days sagt er den einzigen Satz des Stücks, „One of these days I’m going to cut you into little pieces“, während er in Corporal Clegg in der Strophe abwechselnd mit David Gilmour singt. Auf den beiden Alben The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here ist jeweils bei einem Stück ein Gastsänger zu hören: Die Soul-Sängerin Clare Torry improvisierte eine Gesangsdarbietung zu den Klavierakkorden von The Great Gig in the Sky; als Sänger von Have a Cigar trat der Singer-Songwriter Roy Harper in Erscheinung, da sich Waters dem Song zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen fühlte. Chöre wurden bei Pink Floyd in recht unterschiedlichem musikalischem Kontext eingesetzt: Atom Heart Mother enthält eine einige Minuten dauernde Passage, in der ein gemischter Chor zur Begleitung von Orgel, Bass und Schlagzeug mit anwachsender Intensität melodische Fragmente vorträgt. Die Einbindung einer Gruppe von Soul-Sängerinnen an mehreren Stellen von The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here dient vor allem der atmosphärischen Abrundung. Schließlich wurde Another Brick in the Wall, Pt. 2 als eine der bekanntesten Pink-Floyd-Singles zur Hälfte (zweite Strophe) von einem Schülerchor eingesungen. Einflüsse auf spätere Bands Die Krautrockbands Amon Düül, Ash Ra Tempel, Guru Guru, Novalis, Kraftwerk und Tangerine Dream sind stark vom Pink-Floyd-Sound geprägt. Tangerine Dream veröffentlichte 2007 das als Hommage an Syd Barrett konzipierte Album Madcap’s Flaming Duty. Während sich Amon Düül mehr an den Klangexperimenten der „psychedelischen Phase“ der Pink-Floyd-Musik orientierte, folgte Tangerine Dream eher der Musik der „programmatischen Phase“ mit ihren lang ausgehaltenen Harmonien und Strukturen. Porcupine Tree zitierten Passagen vom Animals-Album, den Song Dogs in deren Song Time Flies. Die britische New Artrock-Band Crippled Black Phoenix wird u. a. häufiger mit Pink Floyd verglichen. Ihre dritte EP namens Oh'Ech-Oes enthält ausschließlich Neuinterpretationen der Lieder Echoes vom Pink Floyd Album Meddle und Childhood End's von Obscured by Clouds. Die Musik Pink Floyds hatte prägenden Einfluss auf zahlreiche Musiker. So greifen besonders Bands aus dem Umfeld des Progressive Rock wie etwa Yes, Tool, Porcupine Tree, Pure Reason Revolution, RPWL, Shamall, Solar Project und Pallas musikalische Gestaltungsmittel und Stilistiken von Pink Floyd wieder auf. Dream Theater spielte 2005 das komplette Album The Dark Side of the Moon live. Musiker der New-Age-Musik wie Kitarō haben sich viel an musikalischer Essenz und Techniken bei Pink Floyd geborgt. Die Metalbands Anathema, The Gathering und Tiamat sind ebenfalls von der Musik Pink Floyds beeinflusst. Tiamat nahm 1994 das offenbar von Pink Floyd inspirierte Konzeptalbum Wildhoney auf. Auch Bands wie Fields of the Nephilim und einige Industrial-Bands haben ihre Wurzeln teilweise in der Musik von Pink Floyd. Auf Konzerten oder als Studioaufnahmen coverten Musiker verschiedener Stilrichtungen Stücke von Pink Floyd, unter anderem Pearl Jam (Interstellar Overdrive), die Foo Fighters mit Brian May (Have a Cigar) und später mit Roger Waters (In The Flesh?), die Scissor Sisters (Comfortably Numb), Nightwish (High Hopes), Wyclef Jean (Wish You Were Here), Korn (Another Brick in the Wall), Shadows Fall (Welcome to the Machine) sowie die Bloodhound Gang und die Ska-Band The Busters. Des Weiteren coverten mehrere Bands das kommerziell erfolgreichste Album The Dark Side of the Moon komplett. So legten The Flaming Lips ihre Interpretation des Klassikers als Flaming Side of the Moon vor. Darüber hinaus gibt es weltweit Tribute-Bands, die Pink-Floyd-Stücke werkgetreu aufführen, u. a. The Australian Pink Floyd Show und Echoes. Musikalische Entwicklung In der Beurteilung der verschiedenen Schaffensphasen der Band gehen die Meinungen stark auseinander. Nachfolgend wird eine grobe Periodisierung versucht. Psychedelische Phase Pink Floyd war eine der populärsten Bands des Psychedelic Rock. Die treibende künstlerische Kraft war Syd Barrett. Das drückte sich vor allem in seinem Songwriting aus. Neben den ersten fünf Singles, die 1992 auf der Remastered-CD The Early Singles bei EMI Records Ltd. als Teil des Box-Sets Shine On enthalten sind, zählen die ersten fünf Alben zur psychedelischen Phase. Singles 1967 – Arnold Layne / Candy and a Currant Bun 1967 – See Emily Play / Scarecrow 1967 – Apples and Oranges / Paintbox 1968 – It Would Be So Nice / Julia Dream 1968 – Point Me at the Sky / Careful with That Axe, Eugene Alben 1967 – The Piper at the Gates of Dawn (Titel des siebten Kapitels von Der Wind in den Weiden) 1968 – A Saucerful of Secrets (Übergang) 1969 – More (Soundtrack) 1969 – Ummagumma 1971 – Relics (Übergang – Es handelt sich um eine Kompilation mit Stücken der Jahre 1967–1969, die zum Teil nicht auf Alben erschienen sind.) Die Musik der Band ist in dieser Zeit von psychedelischen Einflüssen der Byrds (siehe den Song Eight Miles High) und der Beatles (Revolver und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band) geprägt. Viele Titel des ersten Albums, wie The Gnome, Flaming, oder Arnold Layne, stehen noch fest in der Tradition der Beatmusik der 1960er-Jahre. Bisweilen zeigt sich in Titeln wie Scarecrow oder Bike ein bizarrer musikalischer Humor. Im Titel Corporal Clegg () ist zum Beispiel ein mit seiner näselnden Melodie und den Beckenschlägen an Geburtstags- bzw. Zirkusmusik erinnernder Teil eingebaut. Modaler Jazz und Weltmusik-Experimente wie von Yusef Lateef oder John Coltrane beeinflussen die Band jedoch zusehends. So basiert beispielsweise das Orgelsolo aus Matilda Mother auf einer phrygisch-dominanten Tonleiter. Titel wie Careful with That Axe, Eugene, oder das ebenfalls modale Set the Control for the Hearts of the Sun () mit seinem ostinaten Bass, dezenten Paukenschlägen, und eingestreuten „Keyboardtupfern“, entfalten eine hypnotische, an arabische und indische Musik erinnernde Wirkung. Harmonisch ist die Musik gewagter als spätere Werke der Band. So überrascht Astronomy Domine () mit der ungewöhnlichen Akkordfolge E – Es – G – A – E6 – F – E6 – G. Auf dem Album Ummagumma erreichen die experimentellen Ambitionen der Band einen Höhepunkt. Titel wie das atonale Sysyphus, das über weite Strecken aus Geräuschen und vielfältig kolorierender Perkussion bestehende A Saucerful of Secrets, sowie das im Stil der Musique concrète konstruierte Several Species of Small Furry Animals Gathered Together in a Cave and Grooving with a Pict verweisen auf die klassische Musik des 20. Jahrhunderts. Auf More zeigt sich die Band in Titeln wie Green Is the Colour, Cymbaline, und dem im Rahmen des Rockkontextes harmonisch gewagten Cirrus Minor () verstärkt von akustischer Folkmusik beeinflusst. Die beiden ersten Single-Veröffentlichungen von Pink Floyd (Arnold Layne und See Emily Play) brachten die psychedelische Neigung der Band nur ansatzweise zum Ausdruck. Programmatische Phase Pink Floyd entwickelten den für sie typischen ätherischen Klang, der die Vorbilder der Rock- und Bluesgeschichte nie verleugnet. Meilensteine dieser Phase sind das 23 Minuten lange Stück Echoes vom Album Meddle sowie das ebenfalls 23-minütige unter der Leitung von Ron Geesin entstandene Stück Atom Heart Mother aus dem gleichnamigen Album. Die teilweise über 20 Minuten langen Titel dieser Phase sind mittels übergreifender musikalischer Gestaltungsmerkmale und Bögen konstruiert. So entfaltet sich zum Beispiel Echoes aus der einfachsten denkbaren musikalischen Keimzelle, einem Einzelton. Über ein im Klang eines Echolotes mehrmals (vom Flügel über ein Leslie-Cabinet geleitetes), wiederholtes dreigestrichenes H entfalten sich sukzessive die ersten beiden Dreiklänge (cis-Moll und gis-Moll) des Songs (). Parallel dazu ist die Instrumentation gestaltet. Nacheinander treten Bass, Schlagzeug, weitere Keyboardklänge sowie der Gesang hinzu. Der Titel weist eine großformale Dreiteilung auf, in der zwei harmonisch eher konventionell gestaltete Teile einen klangmalerischen, hauptsächlich aus Geräuschen gebildeten Mittelteil umschließen. Die dynamische Entwicklung, die sich erst gegen Ende mit einem „kräftigeren Schlagzeug“ zu Wort meldet, unterstützt diesen Prozess zusätzlich. Die angesprochenen vielfältigen Gestaltungsmittel dieser Phase werden mit einer gegenüber der psychedelischen Phase einfacheren Harmonik ausgeglichen. So beruht der vokale Teil von Echoes auf einer „herkömmlichen“ aus reinen Dreiklängen bestehenden Akkordfolge: Cis-Moll – Gis-Moll – Fis-Moll – Gis-Dur – Cis-Dur – Gis-Dur – Fis-Moll – Gis-Dur, einer Rückung nach A-Dur, und wieder Cis-Moll (). „Aufs Ganze gesehen klingt die Pink Floyd-Musik kaum anders als wenn man eine Violinsonate aus dem 19. Jahrhundert auf der Hammondorgel spielt.“ Es erfolgt eine bewusste Anlehnung an klassische Formen und Ästhetik, wie auf Atom Heart Mother. Hier wird zum Beispiel die über einfachen Dreiklängen aufgebaute Kantilene des Violoncellos in Father’s Shout des gleichnamigen Titelsongs mit einfachen, gebrochenen Dreiklängen begleitet. Dennoch sind auch in dieser Phase harmonisch gewagtere Teile in die Titel eingebaut. So wird die aufwärts gerichtete, diatonisch klare Bläserlinie des Anfangs von Atom Heart Mother () später mit einer chromatischen, in Quarten und Quinten begleiteten, atonal wirkenden Linie beantwortet. Der besondere Reiz des gesamten Stückes entsteht dabei durch das Zusammenspiel eines klassisch instrumentierten Orchesters und den Instrumenten einer Rockband sowie des experimentellen Vokaleinsatzes eines Chores. 1970 – Atom Heart Mother 1971 – Meddle 1972 – Obscured by Clouds (Soundtrack) (Übergang) Klassische Phase Es entstanden drei erste Konzeptalben, die nicht aus einzelnen Titeln bestanden, sondern diese in einem übergreifenden Kontext miteinander zusammenführten. David Gilmours Gitarre trat mehr in den Vordergrund, besonders auf Shine On You Crazy Diamond. Meilensteine sind dabei die Alben The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here. Die Musik vereint die bewährten, „flächigen Elemente“ der programmatischen Phase, wie in Breathe (Reprise) oder Shine on You Crazy Diamond (Part 1) mit härteren, durch die E-Gitarre geprägten, deutlicher am Rock orientierten Songs, wie in Time, Money () oder Pigs (three different ones). Der Einsatz von Clare Torrys ekstatischem Gesang in The Great Gig in the Sky sowie leichte Jazzeinflüsse durch Dick Parrys Saxophon in Money, Us and Them und Shine on You Crazy Diamond (Part 5) () prägen die Musik. Trotzdem werden die Einzeltitel durch übergreifende musikalische Strukturen zusammengehalten. So wird The Dark Side of the Moon trotz seiner musikalischen Vielfalt durch übergreifende Bande vereint. Der hervorstechende Halbtonschritt vom Fis zum F ist ein durchgehendes Charakteristikum vieler Songs. Das Intervall des Tetrachords in auf- und absteigender Form ist ebenso eine die einzelnen Songs verbindende Klammer. Er erscheint in Breathe, Us and Them und im Passacaglia-Bass von Eclipse. Das Album Animals gilt trotz der ausufernden Länge seiner Songs mit seinem rauen, anstatt von Keyboards mehr von E-Gitarren geprägten Sound (), eher als Übergangswerk zur folgenden Phase. 1973 – The Dark Side of the Moon 1975 – Wish You Were Here 1977 – Animals „Intellektuelle“ Phase Diese Phase wurde von Roger Waters dominiert, wobei Gilmour aber zunächst noch wichtige Beiträge leistete. Die Texte und das intellektuelle Konzept erhielten eine deutliche Aufwertung, allerdings bemängelten Kritiker dieser Phase, dass das letztlich auf Kosten der Ästhetik geschehen sei. Dennoch wird das Doppelalbum The Wall mit seinen vergleichsweise prägnanten Songs neben The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here zu den drei wichtigsten Alben der Band gezählt. Zwecks adäquater Darstellung der Textaussagen bedient sich die Band auf diesem 1979 entstandenen Werk unterschiedlichster musikalischer Mittel und Stile. Gewohnt orchestral wirkenden Titeln wie Comfortably Numb stehen rock- und hardrockorientierte Songs wie Young Lust, Run Like Hell oder The Happiest Days of Our Lives gegenüber. Das als Single veröffentlichte Another Brick in the Wall (Part II), der erfolgreichste Song der Bandgeschichte, greift Einflüsse aus der damaligen Tanzmusik auf. Dazu treten mit akustischen Instrumenten sparsam besetzte Balladen wie z. B. Nobody Home. Dieses von Randy Newman inspirierte Lied, zu dem erst im weiteren Verlauf Streicher hinzutreten, beginnt passend zu der textlichen Aussage von Einsamkeit und Isolation allein mit Klavier und Waters’ Gesang (). Musikalische Parodie ist ein weiteres Gestaltungsmittel. So wird die Anklage gegenüber der „klammernden Mutter“ in Mother musikalisch mit einfachen im Wandergitarrenstil gehaltenen Akkorden konterkariert. Auf Bring the Boys back Home wird die pazifistische Textaussage durch aus der Militärmusik entlehnte Snare-Drum-Rhythmen, Bläser und „Massenchöre“ ad absurdum geführt. Im an die komische Oper von Gilbert und Sullivan erinnernden Finale The Trial singt Waters zu Orchesterbegleitung. Eine Unterordnung der Musik unter die Botschaft macht sich erst bei The Final Cut deutlich bemerkbar, das inmitten des Kalten Krieges mit einer deutlichen Antikriegsbotschaft veröffentlicht wurde. Was auf The Wall noch gelang, missglückte nun nach Ansicht der meisten Kritiker. Das zeigt sich hier in der rezitativischen Deklamation von Texten über einem reduzierten Fundament von langsam wechselnden Harmonien, Basstönen und Geräuschen, wie in Paranoid Eyes oder The Post War Dream (), wobei die Musik fast nur noch einen Hintergrund für die Botschaft der Texte bildet. Das Album ist dabei ruhiger ausgerichtet und weniger an Rockmusik orientiert als seine Vorgänger. Mit dem Ausstieg von Roger Waters aufgrund von künstlerischen Differenzen mit David Gilmour und Nick Mason endete diese Phase. Von manchen Kritikern wird das Album The Final Cut auch als das erste Soloalbum von Waters angesehen, bei dem die anderen Mitglieder nur noch als Gastmusiker auftraten, was sich auch auf der Rückseite des Covers niederschlägt: The Final Cut – a Requiem for the post war dream by Roger Waters. Performed by Pink Floyd. 1979 – The Wall 1983 – The Final Cut Post-Waters-Phase Ohne Roger Waters wurde die Band von Gilmour geprägt und veröffentlichte mit großem kommerziellen Erfolg zwei weitere Alben, A Momentary Lapse of Reason und The Division Bell, sowie zwei Live-Alben aus den begleitenden Tourneen. Sie stellen in Abwendung von The Wall und insbesondere The Final Cut eine (im Rückblick allerdings kaum noch als innovativ zu bezeichnende) Synthese zwischen der programmatischen und der klassischen Phase ihrer früheren Musik dar. Während an A Momentary Lapse of Reason vornehmlich die Texte kritisiert wurden, die nicht an das Niveau der Waters-Arbeiten anknüpfen konnten, war The Division Bell nach Ansicht der meisten Kritiker – nicht hingegen in den Augen vieler Fans – auch musikalisch misslungen und einfallslos. 2014 folgte das weitestgehend instrumentale Album The Endless River, basierend auf unveröffentlichten Aufnahmen der Sessions 1993/94. 1987 – A Momentary Lapse of Reason 1994 – The Division Bell 2014 – The Endless River Alle Bandmitglieder haben auch Soloalben veröffentlicht, denen unterschiedlicher Erfolg beschieden war. Diskografie Panoramashows in Planetarien Die Pink Floyd Panorama-Shows zu den Musikalben The Wall, Dark Side of the Moon und Wish You Were Here der britischen Rock-Gruppe Pink Floyd sind für Planetarien entwickelte Vorführungen in 360-Grad-Multimedia-Choreografie mit zusätzlichen Laser-Effekten und künstlichem Rauch aus Nebelmaschinen. Sie basieren auf den Liedern der Band und gelten als kosmische Hommage an deren Mitglieder Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason und Richard Wright. The Wall Die Show basiert auf dem Album The Wall von 1979. Sie beginnt wie die LP mit dem Lied In the Flesh?, dazu werden einige der schon aus dem Film beziehungsweise vom Cover des Albums The Wall bekannten Bilder an die Kuppel des Planetariums geworfen. Die ganze Show geht über 60 Minuten und beinhaltet weitere bekannte Lieder wie Another Brick in the Wall, Comfortably Numb, Goodbye Cruel World oder Is There Anybody Out There?. Das ganze wird als Geschichte des kleinen Pink erzählt, der seinen Vater im Krieg verloren hat. Das Lied Goodbye Blue Sky ist mit Bildern von fallenden Bomben und Flugzeugen untermalt. Immer höher türmt sich die Mauer, bis sie schließlich einstürzt und die Show mit Outside the Wall endet. Dark Side of the Moon Die Projektion zeigt zu den Klängen des Albums von 1973 sowohl in die Tiefen des Universums als auch in die Abgründe der menschlichen Seele. Zu Liedern wie Speak to me, Time, Money oder Eclipse werden Bilder aus dreidimensionalen Welten gezeigt und durch Lichteffekte bereichert. Die Bilder selbst erzählen hierbei die Geschichte zu den Songs. Wish You Were Here Die Lieder des Albums von 1975 gehen fließend ineinander über. Shine On You Crazy Diamond bildet das zentrale Thema, das musikalisch stark von Keyboard- und Synthesizersounds Richard Wrights durchzogen ist. Das Titellied Wish You Were Here ist eine melancholische Hommage an den ehemaligen Bandleader Syd Barrett. Die 360° Fulldome-Visualisierung von Aaron McEuen ist dem Stil der Musik angepasst, wobei auf erzählende Effekte verzichtet wird und der Schwerpunkt auf der Visualisierung der Musik liegt und teilweise psychedelische Farbeffekte nutzt, die den Zuhörer fesseln können und die Wirkung der Musik verstärken. Rezeptionen Ehrungen Im Jahr 2003 wurde der am 3. Dezember 1997 im Observatoire de Calern entdeckte Asteroid (19367) Pink Floyd nach der Band benannt. Der Rolling Stone listete die Band 2011 auf Rang 51 der 100 größten Musiker aller Zeiten. Im Jahr 2017 wurde die erstmals wissenschaftlich beschriebene Art Synalpheus pinkfloydi aus der Familie der Knallkrebse nach Pink Floyd benannt – aufgrund ihrer Fähigkeit, mit ihrer großen, pinkfarbenen Schere Knalle in der Lautstärke einer Rockband produzieren zu können. Die Art wurde vor der Pazifikküste von Panama entdeckt, die Typusexemplare wurden im Museu de Zoologia der Universidade de São Paulo in São Paulo (Brasilien) und in den Zoological Collections des Oxford University Museum of Natural History in Oxford (England) hinterlegt. Siehe auch Pink Floyd/Konzerte und Tourneen Pink Floyd/Auszeichnungen für Musikverkäufe Liste der Lieder von Pink Floyd Literatur Mark Blake: Pink Floyd. Die definitive Biografie. Hannibal Verlag, Höfen 2016, ISBN 978-3-85445-605-6 (Originalausgabe: Pigs Might Fly – The Inside Story Of Pink Floyd). Alain Dister: Pink Floyd. Boehler, Stuttgart 1980, ISBN 3-9800448-0-7 (Originalausgabe: Le livre du Pink Floyd). François Ducray: Pink Floyd. EJL, Paris 2000, ISBN 2-290-30646-0. Vernon Fitch: The Pink Floyd Encyclopedia. Collector’s Guide Publ., New York 2005, ISBN 1-894959-24-8 (mit CD). Uwe Göller: Eclipsed. Das Pink-Floyd-Fan-Buch. Sysyphus, Aschaffenburg 2001, ISBN 3-00-009230-7. 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Ausstellungskatalog: ISBN 978-1-85177-916-1. 19. Januar 2018 bis 1. Juli 2018: Their Mortal Remains im MACRO, Rom 16. September 2018 bis 10. Februar 2019: Their Mortal Remains im Dortmunder U, Dortmund 10. Mai 2019 bis 27. Oktober 2019: Their Mortal Remains im IFEMA, Madrid Weblinks pinkfloyd.com (englisch) whypinkfloyd.com (mehrsprachig) Pink Floyd RoIO-Coverbilder by Hokafloyd (englisch) Making of Dark Side of the moon. einestages Planetarium Hamburg The Cosmic Wall – A monument to Pink Floyd. Pink Floyd – The Wall, Dark Side of the Moon, Wish you were here. Planetarium Wolfsburg Pink Floyd Planetarium Laser Shows. Miami Science Museum The Wall, Dark Side of the Moon, Wish you were here. Planetarium der University of Texas Pink Floyd – The Wall. Planetarium Melbourne Chrystal Voyager in der englischsprachigen Wikipedia, ein Surffilm mit dem Musikstück Echoes. Der Film wurde von Pink Floyd während dieses Stückes als Bühnenhintergrund verwendet. Einzelnachweise Echo-Pop-Preisträger Britische Band Grammy-Preisträger Psychedelic-Rock-Band Space-Rock-Band Art-Rock-Band Band (London) Mitglied der Rock and Roll Hall of Fame Musikgruppe als Namensgeber für einen Asteroiden David Gilmour Roger Waters Richard Wright (Musiker) Syd Barrett
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jaroslawl
Jaroslawl
Jaroslawl (, wiss. Transliteration nach deutscher Norm Jaroslavlʹ, nach internationaler Norm Âroslavlʹ, englische Transkription Yaroslavl) ist eine Großstadt in Russland mit Einwohnern (Stand ) und gleichzeitig Hauptstadt der Oblast Jaroslawl. Sie liegt an der Mündung des Flusses Kotorosl in die Wolga im europäischen Teil des Landes, 282 Kilometer nordöstlich von Moskau. Jaroslawl, das im September 2010 sein 1000-jähriges Bestehen feierte, gehört zu den ältesten Städten Zentralrusslands. Im Mittelalter war Jaroslawl die Hauptstadt eines Fürstentums, Anfang des 17. Jahrhunderts war es für einige Monate De-facto-Hauptstadt des russischen Zarentums, und vor der Gründung Sankt Petersburgs galt Jaroslawl als zweitgrößte russische Stadt. Heute ist die Stadt ein beliebtes Touristenzentrum und wird zum Goldenen Ring Russlands gezählt, einer Gruppe altrussischer Städte nordöstlich von Moskau. Die Altstadt mit vielen Kirchen aus dem 17. Jahrhundert, dem Ensemble des Erlöser-Verklärungs-Klosters sowie einem gut erhaltenen Straßennetz aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit vorwiegend klassizistischen Profanbauten ist seit 2005 als Weltkulturerbe in die Liste der UNESCO eingetragen. Geographie Lage und natürliche Umgebung Die Stadt liegt im östlichen Teil der Oblast Jaroslawl, die eines der 85 Subjekte der Russischen Föderation ist, und 282 Kilometer nordöstlich von Moskau. Die nächstgelegenen Städte sind Tutajew (34 km Luftlinie nordwestlich von Jaroslawl), Gawrilow-Jam (37 km südlich) und Nerechta (47 km südöstlich). Der Stadtkern von Jaroslawl liegt unmittelbar nördlich der Mündung der Kotorosl am rechten Ufer der Wolga, das gesamte Stadtgebiet verteilt sich jedoch auf eine Gesamtfläche von über 205 km² und umfasst auch Territorien südlich der Kotorosl und am linken Ufer der Wolga. Mit über 600.000 Einwohnern stellt Jaroslawl die größte Stadt an der Wolga flussaufwärts von Nischni Nowgorod dar und ist ein Verkehrsknotenpunkt von mehreren regionalen und überregionalen Straßen sowie Eisenbahnlinien (darunter der Transsibirischen Eisenbahn). Jaroslawl und die Oblast Jaroslawl befinden sich im zentralen Teil der Osteuropäischen Ebene, die in Gebieten nordöstlich von Moskau durch eine Hügellandschaft mit Höhen von meist nicht mehr als 200 Meter geprägt ist. Typisch für die natürliche Landschaft der Oblast Jaroslawl ist der Reichtum an Misch- und Nadelwäldern, stellenweise gibt es auch größere Sumpfflächen. Klima Jaroslawl und seine nähere Umgebung weisen ein für Zentralrussland typisches gemäßigtes Kontinentalklima auf, für das ein im Vergleich zu Mitteleuropa kalter, schneereicher und trockener Winter sowie ein gemäßigt warmer Sommer typisch sind. Der Winter in und um Jaroslawl beginnt bereits gegen Anfang November und dauert rund fünf Monate. Der kälteste Monat des Jahres ist Januar mit einer mittleren Tagestemperatur von −8,2 °C; nicht selten sind zu dieser Zeit Temperaturen von unter −20 °C, in Ausnahmefällen (wie zuletzt im Januar 2006) kann es −35 bis −40 °C kalt werden, gelegentlich kommen aber auch im Januar Plusgrade vor (so im Jahr 1932, als ein Tauwetter 17 Januartage lang dauerte). Die Flüsse einschließlich der Wolga frieren in den Wintermonaten im Regelfall zu. Die Schneedecke ist im Durchschnitt 35 bis 50 cm dick, kann jedoch in besonders schneereichen Wintern bis zu 70 cm betragen. Die Frühlingsmonate sind durch eine relativ geringe Niederschlagsmenge charakterisiert. Ende März bis Anfang April setzt ein stabiles Tauwetter mit Schnee- und Eisschmelze ein, im April kann es bereits gelegentlich zu Temperaturen von über 20 °C kommen. Typisch für den Sommer in Jaroslawl ist die relativ große Niederschlagsmenge, die im Juli ihren Höhepunkt erreicht. Auch ist Juli der wärmste Monat des Jahres mit einer mittleren Tagestemperatur von 23,3 °C und gelegentlichen Werten von über 30 °C. Ab September beginnt der rund zwei Monate lange Herbst, der sich durch relativ hohe Luftfeuchtigkeit, eine geringe Anzahl von Sonnentagen und rasch sinkende Temperaturen (erster Bodenfrost bereits im September möglich) abzeichnet. Die durchschnittliche Jahresniederschlagsmenge in der Stadt beträgt 591 mm, dabei fallen im Juli mit 84 mm die meisten Niederschläge, während sie in den Wintermonaten (insbesondere jedoch im Februar und März) ihr Minimum erreichen. Die tabellarischen und grafischen Übersichten der Durchschnittstemperaturen und Niederschlagsmengen für Jaroslawl auf Basis der Zeitreihe 1961–1990 sind nachfolgend dargestellt. Stadtgliederung Wie bei russischen Großstädten üblich, ist Jaroslawl verwaltungstechnisch in Stadtbezirke (sogenannte Rajons) unterteilt, deren Gebiete im Allgemeinen nicht den historischen Ortsteilen, sondern durch Flüsse, große Straßen oder Eisenbahnlinien voneinander räumlich abgetrennten Teilen des Stadtgebietes entsprechen. Insgesamt hat Jaroslawl sechs solche Stadtbezirke mit einer Einwohnerzahl jeweils zwischen 60.000 und 170.000. Fünf Stadtbezirke liegen am rechten Wolga-Ufer, während der Rajon Sawolschski den am linken Ufer liegenden Teil des Stadtgebietes vollständig abdeckt. Die Übersicht der Jaroslawler Stadtrajons mit Einwohnerzahlen ist in der folgenden Tabelle dargestellt. Geschichte Stadtgründung und Mittelalter Als Datum der Stadtgründung Jaroslawls wird heute im Allgemeinen das Jahr 1010 angenommen, jedoch existierten erste menschliche Siedlungen an der Stelle der heutigen Stadt noch mehrere Jahrtausende zuvor. So wurden bei Ausgrabungen jungsteinzeitliche Siedlungsreste aus dem 3. bis 5. Jahrtausend v. Chr. am linken Wolga-Ufer gegenüber der Mündung der Kotorosl gefunden. Im 1. Jahrtausend n. Chr. wurde die Jaroslawler Gegend, ebenso wie die meisten anderen Gebiete des heutigen Zentralrusslands, von den finno-ugrischen Stämmen der Merja bewohnt. Erst ab dem 9. Jahrhundert muss es die ersten slawischen Siedler an der Wolga gegeben haben. Sie waren immer noch Anhänger des Heidentums und zogen aus der Kiewer Rus Richtung Norden und Osten, um dort Landwirtschaft und Jagd zu betreiben. Mit den Slawen ist auch die Gründung der heutigen Stadt verbunden: 1010 legte der Kiewer Fürst Jaroslaw der Weise an der Mündung der Kotorosl exakt an der Stelle einer slawischen Ansiedlung eine Festung an und nannte sie sich selbst zu Ehren „Jaroslawl“. Zu dieser Gründung existiert die folgende Legende. Die Stelle an der Mündung der Kotorosl in die Wolga, in deren Nähe sich heute das historische Zentrum Jaroslawls befindet, wies für die damaligen Verhältnisse eine überaus günstige Lage auf. Der Handel wurde mangels Festlandstraßen fast ausschließlich auf Wasserwegen betrieben, und die Wolga galt dabei als eine der wichtigsten Routen. Entsprechend häufig waren auch Raubüberfälle auf Handelsschiffe. Einmal soll Jaroslaw der Weise, der mit seiner Gefolgschaft gerade die Kotorosl-Mündung passierte, Zeuge eines solchen Überfalls gewesen sein, der von den dort ansässigen Heiden verübt wurde. Der Legende nach setzte sich Jaroslaw für die überfallenen Kaufleute ein und besiegte die Heiden. Er nahm diesen das Versprechen ab, nie wieder Schiffe zu überfallen, und versuchte sie zum Christentum zu bekehren. Diese lehnten es jedoch ab, und als Jaroslaw kurze Zeit später die Siedlung mit Missionaren wieder aufsuchte, ließen die erbosten Heiden eine Bärin auf Jaroslaw los. Dieser schaffte es jedoch, das mächtige Tier mit einer Streitaxt zu töten. Daraufhin gaben die Heiden auf und unterwarfen sich Jaroslaw. Dieser ließ den Ort an der Kotorosl-Mündung weihen und stiftete dort eine Kirche. Wenig später ließ Jaroslaw, der um die strategisch günstige Lage des Ortes wusste, dort eine Festung aufbauen. Anhand historischer Urkunden, die das Wirken Jaroslaw des Weisen beschreiben, wird angenommen, dass dessen vermeintlicher Kampf gegen den Bären und somit die Stadtgründung Jaroslawls im Jahr 1010 geschah. Unter Jaroslaw dem Weisen wie auch später diente die von ihm neugegründete Stadt als Festung zum Schutz des Wasserweges von der Wolga in die im Oberlauf der Kotorosl gelegene Fürstenresidenz Rostow, wo Jaroslaw von 988 bis 1010 geherrscht hatte. Außerdem war Jaroslawl in seiner Anfangszeit eine der am östlichsten gelegenen Städte der Kiewer Rus. Obwohl das Entstehen der Stadt Fürst Jaroslaw zugeschrieben wird, wurde Jaroslawl erst 1071 in einer schriftlichen Urkunde, der Nestorchronik, erwähnt. Von der Entwicklung der Stadt im 11. und 12. Jahrhundert ist lediglich bekannt, dass diese ursprünglich aus einer hölzernen Festung ähnlich den altrussischen Kreml bestand, jedoch zum Anfang des 13. Jahrhunderts inzwischen deutlich über die Festungsmauern hinaus gewachsen war. Auch muss das Jaroslawler Erlöser-Verklärungs-Kloster bereits spätestens seit Anfang des 13. Jahrhunderts bestanden haben. Anfang des 13. Jahrhunderts gehörte Jaroslawl zum Fürstentum Wladimir-Susdal und diente dessen damaligem Machthaber Großfürst Konstantin als eine der Residenzen. Als Konstantin kurz vor seinem Tod 1218 das Erbe an diesen Residenzen unter seinen Söhnen aufgeteilt hatte, erhielt sein zweiter Sohn Wsewolod das Jaroslawler Land, welches er seitdem nunmehr als Fürstentum Jaroslawl regierte. Dieses Fürstentum, zu dessen Hauptstadt Jaroslawl wurde und das auch Territorien nordwestlich davon (u. a. mit der heutigen Stadt Poschechonje) beinhaltete, existierte bis zu seinem Anschluss an das Großfürstentum Moskau im Jahre 1463. Das Stadtbild Jaroslawls im 13. und 14. Jahrhundert war von hölzerner Bausubstanz geprägt, weswegen es sehr oft zu Feuersbrünsten kam, die in Einzelfällen nahezu die gesamte Stadt verwüsteten; so geschehen kurz nach der Machtübernahme Wsewolods im Jahr 1221. Eine weitere ständige Gefahr für die Stadt waren Angriffe ausländischer Krieger, von denen russische Fürstentümer gerade in den Jahrhunderten der Mongolischen Invasion Russlands oft heimgesucht wurden. Ein besonders schwerer Angriff auf Jaroslawl ereignete sich im Jahr 1257, als Truppen der Goldenen Horde unter Möngke Khan das Jaroslawler Fürstentum überfielen und den Großteil der Stadtbewohner einschließlich des Fürsten Konstantin, des jüngsten Sohnes des Fürstentumsgründers Wsewolod, ermordeten. An der Stelle des missglückten Kampfes gegen die Tataren, auf einer als Gramberg (russ. ) bezeichneten Anhöhe am rechten Ufer der Kotorosl, steht heute eine zum Gedenken an die Schlacht errichtete Kirche sowie ein Hochkreuz auf dem Kirchhof. 1293 und 1322 kam es zu weiteren zerstörerischen Angriffen der Goldenen Horde auf Jaroslawl, 1278 und 1364 ereigneten sich dort verheerende Pestepidemien. Oft musste Jaroslawl vollständig neu erbaut werden, wobei teilweise auch Vorgängerbauten von bis heute erhaltenen Sakralbauwerken entstanden, so das Erlöser-Verklärungs-Kloster sowie das 1314 am linken Wolga-Ufer gegründete Kloster zu Mariä Tempelgang von Tolga. 1463 ging das Jaroslawler Fürstentum im Zuge der Expansion des Großfürstentums Moskau in letzterem auf, dabei wurde das vormalige Gebiet des Fürstentums zu einem Ujesd (Kreis) innerhalb des Großfürstentums Moskau. Ab diesem Zeitpunkt war die Geschichte Jaroslawls mit jener des Moskauer und später des einheitlichen russischen Staates untrennbar verbunden. 16. Jahrhundert und die Zeit der Wirren Auch im 16. Jahrhundert wurde die Stadt immer wieder von großflächigen Bränden heimgesucht, die zur Folge hatten, dass von der mittelalterlichen Bausubstanz Jaroslawls nichts mehr erhalten blieb und an ihrer Stelle allmählich Bauten in Stein entstanden. Das prominenteste Beispiel hierfür ist das Erlöser-Verklärungs-Kloster, das 1501 zerstört und einige Jahre später neu erbaut wurde. Dabei entstand in den Jahren 1506–1516 unter anderem die Erlöser-Verklärungs-Kathedrale des Klosters, die heute als das älteste erhaltene Bauwerk in Jaroslawl gilt. Bis Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden im Kloster weitere Einzelbauten, außerdem wurde es erstmals in der Stadtgeschichte mit einer steinernen Befestigungsmauer mit Wachtürmen versehen. In der Herrschaftszeit Iwan IV. „des Schrecklichen“, als sich die russischen Fürstentümer einschließlich Moskowiens zum einheitlichen Zarentum Russland vereinigten, profitierten die beiden wichtigsten Klöster Jaroslawls außerdem von reichhaltigen Spenden aus dem Zarenhof, da Iwan öfters dorthin pilgerte. Begünstigt wurden die Bauaktivitäten auch durch einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, den Jaroslawl in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlebte. Zurückzuführen war die Steigerung des Wohlstands der Stadt vor allem auf ihre Lage an der Wolga, welche einen Teil des Handelsweges zwischen Moskau und dem Nordmeerhafen von Archangelsk darstellte. Folglich wurde Jaroslawl zu einem wichtigen Umschlagplatz für den internationalen Handel, verfügte über Schiffsanlegestellen und hatte etliche Warenlager, die teilweise von englischen oder deutschen Kaufleuten betrieben wurden. Der wirtschaftlichen Prosperität Jaroslawls des späten 16. Jahrhunderts setzten die Jahre der Missernten und die darauffolgende Periode der sogenannten Smuta (Zeit der Wirren) 1598 bis 1613 ein vorläufiges Ende. Wie alle anderen russischen Gebiete war auch Jaroslawl von den extremen Hungersnöten betroffen und stellte ein potentielles Angriffsziel für polnisch-litauische Interventen dar, die sich die desolate politische und wirtschaftliche Lage im russischen Staat zu Nutze machten. Unmittelbar in Mitleidenschaft von der Invasion geriet Jaroslawl im Jahre 1608, als der von der polnisch-litauischen Macht unterstützte und aufgerüstete Hochstapler Pseudodimitri II. einen Feldzug gegen Moskau (welches er jedoch nicht unter seine Kontrolle zu bringen vermochte) und mehrere russische Städte nördlich und nordöstlich davon startete. Nachdem es Pseudodimitris Truppen gelang, unter anderem Rostow einzunehmen, beschloss der Jaroslawler Statthalter mit Unterstützung der Oberschicht, die Stadt den Angreifern widerstandslos zu überlassen. Obwohl sich die Stadt obendrein verpflichtet hatte, eine hohe Tributzahlung an die Polen zu leisten, kam es im Winter 1608/1609 immer wieder zu Plünderungen und Willkürakten durch die in der Stadt herrschenden Angreifer. Dies provozierte mehrfach Volksaufstände, die jedoch von Pseudodimitris Soldaten jedes Mal niedergeschlagen wurden. Erst im Frühjahr 1609 gelang es einem in Wologda gebildeten russischen Volksheer, mehrere Städte an der Wolga von den Polen zu befreien, darunter auch Jaroslawl. Bereits im Mai 1609 unternahm ein weiteres polnisches Heer um Aleksander Józef Lisowski den Versuch, das strategisch wichtig gelegene Jaroslawl unter Kontrolle der Invasoren zu bringen. Es gelang ihm dabei, bis in die unbefestigten Vorstädte vorzudringen, woraufhin sich die meisten Stadtbewohner in den Stadtkern, der damals durch Erdwälle gesichert war, zurückzogen. Nachdem Lisowski durch einen Verrat auch hinter die Erdwälle gelangen konnte, zogen sich die Jaroslawler in den alten Holzkreml und in das Verklärungskloster zurück und verteidigten von dort aus die Stadt hartnäckig. Die Belagerung der Stadt dauerte bis zum 22. Mai, trotz militärischer Überlegenheit gelang es den Polen nicht, sie einzunehmen. Trotz der Misserfolge der Invasoren im Nordosten Russlands hielten diese seit August 1610 Moskau unter Kontrolle. 1611 versuchte ein russisches Volksheer erstmals und ohne Erfolg, die Polen aus dem Moskauer Kreml zu vertreiben. Ein Jahr später initiierten Kusma Minin und Fürst Dmitri Poscharski in Nischni Nowgorod ein weiteres Volksheer, das auf dem Weg nach Moskau mehrere Monate lang zunächst in Jaroslawl stationiert war. In dieser Zeit von April bis Juli 1612 war Jaroslawl De-facto-Hauptstadt des russischen Staates, da die wichtigsten Staatsfragen in dieser Zeit durch ein Ratsgremium entschieden wurden, das aus Vertretern der wichtigsten Adelsgeschlechter sowie den Anführern des Volksheeres bestand. Nach der Stationierung in Jaroslawl steuerte das Volksheer direkt Moskau an. Nicht zuletzt dank der Unterstützung seitens Jaroslawler Freiwilliger gelang es ihm im Oktober 1612, Moskau zu befreien und der polnisch-litauischen Intervention damit endgültig ein Ende zu setzen. Jaroslawl als Handelszentrum und Gouvernementhauptstadt Mit der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung des russischen Staates nach dem Ende der Smuta erlangte auch Jaroslawl wieder seine Bedeutung als Handelsplatz. Es befand sich damals gleich an mehreren Handelswegen: Über die Wolga bis zu deren Unterlauf wurde Handel mit Indien und Ländern des Orients betrieben, die nördliche Handelsroute über die Stadt Wologda führte zum Archangelsker Nordmeerhafen, außerdem gab es Straßenverbindungen über den Ural nach Sibirien. Diese günstige Lage war sehr förderlich für die wirtschaftliche Prosperität der Stadt und begünstigte neben dem Handel mit importierter Ware auch eigene handwerkliche Aktivitäten in hohem Maße. Am weitesten verbreitet war das Gerber- und Lederhandwerk, in dem sich Mitte des 17. Jahrhunderts in Jaroslawl bereits rund 700 Meister spezialisierten; weitere wichtige Handwerke jener Zeit in Jaroslawl waren das Textilwesen, die Silberschmiede und die Herstellung von Kosmetik- und Parfümerieerzeugnissen. Die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt begünstigte im Laufe des 17. Jahrhunderts ein früher nie dagewesenes Bevölkerungswachstum, das dazu führte, dass Jaroslawl zum Ende des Jahrhunderts bereits rund 15.000 Einwohner zählte und damit zur zweitgrößten Stadt des Zarentums nach Moskau aufgestiegen war. Gleichzeitig war diese Periode prägend für die städtebauliche Entwicklung Jaroslawls, da gerade im 17. Jahrhundert eine Vielzahl von Kirchengebäuden in Stein entstand, von denen einige bis heute ein wichtiger Bestandteil des altstädtischen Ensembles darstellen. Hierzu zählen unter anderem die Nikolaus-Kirche „der Hoffnungsverheißende“ (1621), die Christi-Geburts-Kirche (1644), die Prophet-Elija-Kirche (1650) sowie das Kirchenensemble in der Vorstadt Korowniki (1649–1669). Die meisten dieser Kirchen wurden von reichen Jaroslawler Kaufleuten gestiftet, die es sich mitunter leisteten, für die Innengestaltung der neuen Gotteshäuser renommierte Fresken- und Ikonenmaler zu engagieren, wie am Beispiel der Prophet-Elija-Kirche bis heute erkennbar. 1658 ereignete sich in Jaroslawl erneut ein größerer Flächenbrand, der fast alle bis dahin bestandenen Holzbauwerke in der Stadt einschließlich des Kremls vernichtete. Ab dieser Zeit begann sich die bis heute erhaltene städtebauliche Struktur Jaroslawls zu bilden, bei der nunmehr sowohl sakrale als auch profane Gebäude in Stein errichtet wurden. Durch die rege Bauaktivität erfuhr in Jaroslawl binnen weniger Jahrzehnte auch das Ziegeleihandwerk eine beachtliche Verbreitung. Ab dem Anfang des 18. Jahrhunderts wandelte sich Jaroslawl von einem Handelszentrum zunehmend zu einem Hort des Handwerks und der Industrie, was auch darauf zurückzuführen war, dass mit der Gründung Sankt Petersburgs 1703 die einstige Bedeutung des russischen Nordmeerhafens von Archangelsk für den Außenhandel zurückging. Das von Jaroslawler Kaufleuten in den Jahrzehnten des florierenden Außenhandels angesammelte Kapital erlaubte es ihnen jedoch, in neue ehrgeizige Projekte zu investieren und damit die Entwicklung Jaroslawls als Industriestadt einzuleiten. 1722 wurde mit der Textilmanufaktur von Iwan Tames am rechten Kotorosl-Ufer das erste Industriebetrieb der Stadt und seinerzeit eine der ersten Textilmanufakturen Russlands eröffnet. Sie ist als Textilfabrik Krasny Perekop (russ. ) bis heute in Betrieb. Neben der Textilindustrie spielte das Lederhandwerk auch im 18. Jahrhundert unvermindert eine Schlüsselrolle im wirtschaftlichen Leben der Stadt. In den 1770er-Jahren stieg Jaroslawl aufgrund seiner wirtschaftlichen Wichtigkeit und der hohen Bevölkerungszahl zu einem Provinzzentrum auf: Im Zuge der im gesamten Russischen Reich unter Kaiserin Katharina II. „der Großen“ vorangetriebenen Verwaltungsreform erhielt Jaroslawl 1778 ein eigenes Stadtwappen und wurde 1777 Zentrum einer Statthalterschaft und 1796 eines Gouvernements des Zarenreichs. Als Verwaltungszentrum eines hohen Rangs erhielt Jaroslawl wie alle anderen Provinzhauptstädte des Reichs 1778 einen Bebauungs-Generalplan. Dies leitete eine neue Welle von Bauaktivitäten in der Stadt ein, deren Spuren vielfach bis heute zu sehen sind. Um den als zentralen Platz der Stadt gewählten Elija-Platz mit der Prophet-Elija-Kirche herum bildete sich ein fächerartiges Netz aus repräsentativen Straßen mit zwei- bis dreigeschossigen Bauten vorwiegend im klassizistischen Stil. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das ehemalige Haus der Wohltätigkeit (1786), das heute eines der Gebäude der Universität Jaroslawl ist. Das 19. Jahrhundert war für Jaroslawl sowohl durch weitere bedeutende städtebauliche Aktivitäten als auch durch stetige Industrialisierung und Ausbau der Infrastruktur gekennzeichnet. 1803 wurde mit der Lehranstalt höherer Wissenschaften eine Höhere Schule eröffnet. Als Alexandre Dumas 1858/1859 Russland bereiste und Jaroslawl besuchte, war dieses Gymnasium eines von nur sieben Gymnasien in ganz Russland. Dieses Gymnasium gilt als Vorläufer der heutigen Universität Jaroslawl. 1812 entstand gegenüber dem Verklärungs-Kloster die erste feste Brücke über die Kotorosl, und 1820 wurde das Uferstück der Wolga nahe dem Jaroslawler Stadtkern befestigt und zu einer Promenade ausgebaut, an der später etliche weitere Bauten im klassizistischen Stil (darunter das Haus des Gouverneurs (1821–1823), heute ein Gebäude des Kunstmuseums) erbaut wurden. 1860 wurde Jaroslawl durch die erste Telegrafenlinie mit Moskau und anderen Städten verbunden, 1870 folgte mit der Strecke zwischen Jaroslawl und Moskau der erste Eisenbahnanschluss. 1873 wurde in der Stadt eine Wasserleitung in Betrieb genommen, und 1899 begannen die Bauarbeiten an der ersten Linie der elektrischen Straßenbahn, die Ende 1900 eröffnet wurde. Kurz vor der Jahrhundertwende hatte Jaroslawl laut der ersten gesamtrussischen Volkszählung von 1897 rund 71.600 Einwohner. 20. und 21. Jahrhundert Noch unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges galt Jaroslawl als wohlhabende Industriestadt mit einer für damalige Verhältnisse gut ausgebauten Infrastruktur. Jedoch führten die Ereignisse der Oktoberrevolution 1917 und des Bürgerkrieges 1917–1920 für mehrere Jahre zum wirtschaftlichen Niedergang, was in Jaroslawl zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang führte. Besonders gravierende Folgen für die Stadt hatte der sogenannte Aufstand von Jaroslawl, der sich vom 6. bis zum 21. Juli 1918 ereignete. Dabei versuchte eine Gruppe konservativer Aktivisten, die neue bolschewistische Staatsmacht im Gouvernement Jaroslawl durch einen bewaffneten Aufstand zu stürzen. Den Aufständischen gelang es zunächst, große Teile der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, daraufhin kesselten die Bolschewisten Jaroslawl ein, beschossen die Stadt mehrere Tage lang mit Artillerie und bombardierten sie aus der Luft. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, über 600 Menschen kamen in der Stadt ums Leben, außerdem wurden mehr als 2000 Gebäude zerstört oder schwer beschädigt. Die Wirtschaft Jaroslawls kam erst wieder in der Frühsowjetzeit im Zuge der rasch vorangetriebenen Industrialisierung der Sowjetunion in Schwung. Als wichtige Meilensteine für die Jaroslawler Wirtschaft in dieser Zeit gelten die Inbetriebnahme des ersten Kraftwerkes im Jahre 1926, der Beginn der Massenproduktion von Synthesekautschuk im Werk SK-1, die wiederum den Weg frei machte für die heimische Herstellung von Automobil- und Flugzeugreifen im 1928 gegründeten Jaroslawler Reifenwerk, sowie die Inbetriebnahme des Gummi-Asbest-Kombinats im Jahre 1933. Auch das 1916 gegründete Automobilwerk Jaroslawl erlangte in den 1930er-Jahren überregionale Bekanntheit, indem es unter anderem Muldenkipper, Sattelzüge und Autobusse, aber auch Straßenbahnen und Oberleitungsbusse für den Einsatz in Moskau herstellte. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs blieb Jaroslawl zwar von einer Besetzung durch die deutsche Wehrmacht verschont, da diese letztlich nicht bis Moskau und östlich davon vorrücken konnte. Dennoch wurde die Stadt, vor allem aufgrund ihrer verkehrstechnisch bedeutenden Lage, – die 1913 errichtete Eisenbahnbrücke über die Wolga in Jaroslawl war damals die einzige Brücke im Oberlauf des Flusses – in den Jahren 1942–1943 mehrmals von Luftangriffen heimgesucht. So kamen bei einem der folgenschwersten Luftangriffe in der Nacht auf den 11. Juni 1943 über 120 Menschen in der Stadt ums Leben, rund 150 weitere wurden verletzt, zudem wurden über 200 Gebäude (darunter einige Werkshallen der Reifenfabrik) vollständig zerstört. Die meisten Industriebetriebe der Stadt, darunter das Reifenwerk sowie die Automobil- und die Textilfabrik, stellten ihre Produktion in den Kriegsjahren auf Rüstungsgüter und Armeebedarf um. Insgesamt fielen an den Fronten des Zweiten Weltkrieges über 200.000 Menschen aus der Jaroslawler Gegend. An sie erinnert ein 1968 aufgestelltes Mahnmal mit Gedenkflamme an der Mündung der Kotorosl. Während der Belagerung Leningrads fand eine Vielzahl von Kindern, die von dort über den zugefrorenen Ladogasee (die sogenannte Straße des Lebens) evakuiert werden konnten, in Jaroslawl Zuflucht und eine neue Heimat. Darüber hinaus bestand in Jaroslawl in den Nachkriegsjahren das Kriegsgefangenenlager 276 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich die Industrialisierung und der Ausbau der Stadt fort: 1961 wurde eine Erdölraffinerie in Betrieb genommen, und ab den 1960er-Jahren entstanden neue Wohnviertel im gesamten Stadtgebiet, darunter auch am linken Ufer der Wolga, das 1965 durch eine neue Straßenbrücke mit der Innenstadt verbunden wurde. 1968 überstieg die Bevölkerungszahl Jaroslawls erstmals in seiner Geschichte 500.000 Einwohner und stieg bis in die 1990er-Jahre hinein stetig weiter an. Im Juli 2005 wurde das architektonische Ensemble der Jaroslawler Innenstadt von der UNESCO in die Welterbeliste aufgenommen. Die Unterschutzstellung erfolgte nach den Kriterien 2 („ein herausragendes Beispiel des Zusammenwirkens kultureller und architektonischer Einflüsse zwischen Westeuropa und dem Russischen Reich“) und 4 („ein herausragendes Beispiel der von Kaiserin Katharina der Großen angeordneten Stadtplanungsreform in ganz Russland, verwirklicht zwischen 1763 und 1830“). Im gleichen Jahr begannen die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Bestehen Jaroslawls, die am zweiten Septemberwochenende 2010 begangen wurden. Im Rahmen der Vorbereitungen des Jubiläums wurde von der Stadtverwaltung zahlreiche Maßnahmen zur Modernisierung und Ausweitung der städtischen Infrastruktur durchgeführt, für deren Realisierung die Stadt Zuschüsse aus dem russischen Staatshaushalt erhielt. So wurde im Rahmen dieses Investitionsprogramms im Jahr 2006 eine neue Straßenbrücke über die Wolga in Betrieb genommen, die aus diesem Anlass Jubiläumsbrücke benannt wurde, und im August 2008 wurde der Jaroslawler Zoo eröffnet, der zum September 2010 nochmals erweitert wurde. Am 7. September 2011 ereignete sich bei Jaroslawl ein Flugzeugabsturz mit über 40 Todesopfern. Im Jahr 2012 wählten die Bürger Jewgenij Urlaschow, der sich von der Kreml-Partei „Einiges Russland“ losgesagt hatte, trotz jeglicher möglicher Obstruktion durch die Behörden zum Bürgermeister. Nach nur einem Jahr – und nachdem er erklärt hatte, bei den Wahlen zum Gouverneur zu kandidieren – wurde er unter dem Vorwurf einer angeblich geforderten Schmiergeldzahlung verhaftet und 2016 zu 12,5 Jahren strenger Lagerhaft und einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet rund einer Million Euro verurteilt. Einwohnerentwicklung und Bevölkerung Die Volkszählung im Jahr 2010 ergab für Jaroslawl eine Bevölkerungszahl von 591.486 Einwohnern, womit Jaroslawl Platz 23 unter den größten Städten Russlands belegt. Die Bevölkerung der Stadt setzt sich fast ausschließlich aus ethnischen Russen zusammen, die meisten Einwohner sind russisch-orthodoxen Glaubens. Andere Ethnien und Glaubenskonfessionen spielen in Jaroslawl nur eine untergeordnete Rolle, jedoch gibt es in der Stadt eine Moschee, die 1914 auf Initiative der tatarischen Gemeinde der Stadt erbaut wurde, sowie ein jüdisches Gemeindezentrum mit Synagoge. Die höchste Bevölkerungszahl seiner Geschichte mit über 636.000 Einwohnern erreichte Jaroslawl Anfang der 1990er-Jahre, in den nachfolgenden Jahren schrumpfte die Zahl erheblich, wie es in den meisten Städten Russlands während der Wirtschaftskrisen der 1990er-Jahre der Fall war. Die folgende Tabelle zeigt die gerundeten Einwohnerzahlen seit dem Beginn der Erfassung im Jahr 1811 an. Auffallend ist die beinahe Verdoppelung der Einwohnerzahl binnen eines Jahrzehnts in den 1930er-Jahren – eine Folge der Zwangskollektivierung und der resultierenden Landflucht in der Sowjetunion zu jener Zeit. Ein signifikanter Bevölkerungsrückgang war hingegen in den Jahren der Revolutionen und des Bürgerkriegs (zwischen 1914 und 1923) zu verzeichnen. Politik Heraldik Jaroslawl verfügt mit einem Stadtwappen und einer Stadtflagge über zwei eigene heraldische Symbole. Beiden ist das an die Stadtgründungslegende angelehnte Motiv mit dem Bären und der Streitaxt gemein. Das erste Wappen Jaroslawls wurde am 31. August 1778 zum offiziellen Stadtsymbol erhoben. Damals bestand es lediglich aus einem silberfarbenen Schild mit der Abbildung eines Bären, der mit der linken Vordertatze eine goldene Streitaxt mit einem ebenfalls goldenen Griff hält. 1856 wurde das Wappen durch eine neue Fassung ersetzt, bei der die Abbildung des Bären zusätzlich mit einer stilisierten kaiserlichen Krone oberhalb des Schildes sowie mit goldenen Eichenzweigen und dem Blauen Band des Andreasordens rund um den Schild versehen ist. In dieser Ausführung blieb das Wappen bis 1918 als Stadtsymbol in Kraft. Nach der Abschaffung der zaristischen Stadt- und Provinzsymbole durch die sowjetische Staatsmacht hatte Jaroslawl bis Ende des 20. Jahrhunderts offiziell kein Stadtwappen. Die dritte und aktuelle Fassung wurde am 23. August 1995 durch die Stadtverwaltung gebilligt. Sie ist motivisch an die Fassung von 1856 angelehnt, enthält jedoch keine Darstellung der Eichenzweige und des Blauen Bandes. Auch wurde dort die Zarenkrone oberhalb des Schildes durch die Mütze des Monomach – ein Symbol der russischen Autokratie und auch sonst ein häufiges Motiv in der Heraldik russischer Städte – ersetzt. Die Stadtflagge Jaroslawls wurde als zusätzliches Stadtsymbol mit Wirkung vom 22. Mai 1996 eingeführt. Sie zeigt das Stadtwappen in der Fassung von 1995 auf hellblauem rechteckigem Flaggentuch, wobei das Wappen mindestens ein Drittel der Fläche des Tuchs einnehmen muss. Verwaltung Die Stadtverwaltung Jaroslawls besteht aus dem Bürgermeisteramt (merija, russ. ), dessen Chef (und damit Oberhaupt der Stadt) der Bürgermeister ist, sowie aus der Munizipalität (), deren Mitglieder im Zuge der Kommunalwahlen bestimmt werden. Das Bürgermeisteramt nimmt in der Machtstruktur der Stadt die Rolle der Exekutive ein. An seiner Spitze steht der Bürgermeister, der alle vier Jahre von Bürgern der Stadt direkt gewählt wird. Dieses Amt wurde von Dezember 1991 bis April 2012 von Wiktor Wladimirowitsch Wolontschunas von der Partei Einiges Russland bekleidet, der seine erste Amtszeit nach der Ernennung durch den damaligen Präsidenten Jelzin antrat und danach viermal wiedergewählt wurde. Ab April 2012 hatte der als Unabhängiger gegen den Kandidaten der Regierungspartei angetretene Jewgeni Robertowitsch Urlaschow von der Partei Bürgerplattform das Amt des Bürgermeisters von Jaroslawl inne. Er wurde 2013 "mittels eines dubiosen Korruptionsprozesses" aus dem Amt gedrängt. Neben dem Bürgermeister gibt es acht Vize-Bürgermeister, von denen jeder über ein bestimmtes Ressort verantwortlich zeichnet. Innerhalb eines Ressorts bestehen jeweils etwa zwei bis sechs Fachdepartements, die dem jeweiligen Vize-Bürgermeister unterstehen. Beispielsweise sind dem Apparat des Vize-Bürgermeisters für Sozialpolitik und Kultur sechs Departements (Soziale Sicherung und Arbeitsförderung, Körperkultur und Sport, Jugendpolitik, Bildung, Gesundheitswesen sowie Kulturpolitik) untergeordnet. Die Munizipalität der Stadt stellt das legislative Organ der lokalen Selbstverwaltung dar und entspricht damit in ihrer Funktion im Wesentlichen einem Stadtparlament bzw. einer Stadtduma. Sie besteht aus 36 Abgeordneten, die für die Dauer von vier Jahren in ihren jeweiligen Wahlkreisen gewählt werden. In den regelmäßigen Sitzungen der Munizipalität wird unter anderem über die Zusammensetzung und Verwendung des Stadthaushalts entschieden. Ein Rechnungshof sowie vier Fachkommissionen haben die Kontrollfunktion über dem Handeln der Munizipalität inne. Jeder der sechs Stadtbezirke verfügt über eine eigene territoriale Verwaltung, die zum Bürgermeisteramt der Stadt gehört. Neben der Stadtverwaltung haben ferner auch die Verwaltung und die Duma der Oblast Jaroslawl ihren Sitz in der Stadt. Partnerstädte Jaroslawl unterhält Partnerschaftsbeziehungen zu sieben ausländischen Städten: Jyväskylä, Finnland (seit 1966) Poitiers, Frankreich (seit 1970) Coimbra, Portugal (seit 1984) Kassel, Deutschland (seit 1988) Burlington, Vereinigte Staaten (seit 1988) Exeter, Vereinigtes Königreich (seit 1989) Hanau, Deutschland (seit 1994) Die Partnerschaft zwischen Jaroslawl und Kassel wurde am 25. Januar 1988 durch ein Abkommen besiegelt, das unter anderem auf eine Initiative der ehemaligen Kosmonautin Walentina Tereschkowa, damals Vorsitzende des Verbandes der sowjetischen Vereine für Auslandsfreundschaften, zurückgeht. Das Abkommen wurde zwischen dem damaligen Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel und dem Jaroslawler Exekutivkomiteevorsitzenden Alexander Rjabkow unterzeichnet. Die Beziehungen der Stadt Jaroslawl zu Deutschland wurden im Mai 1994 durch ein weiteres Partnerschaftsabkommen ergänzt, diesmal mit der Stadt Hanau. Gleichzeitig wurde im Zentrum von Jaroslawl nach rund fünf Jahren Vorbereitungszeit das Haus der Russisch-Deutschen Freundschaft eröffnet, das allen Interessierenden u. a. Austauschprogramme, Beratungsleistungen zum Auslandsstudium sowie deutsche Sprachkurse anbietet. Außerdem ist im Haus ein Hotel untergebracht. In Deutschland werden die Partnerschaftsbeziehungen zwischen Jaroslawl und Kassel vom Verein Partner für Jaroslawl e. V. und diejenigen zwischen Jaroslawl und Hanau vom Verein Freundschaft mit Jaroslawl e. V. koordiniert. Kultur und Sehenswürdigkeiten Jaroslawl gehört zu den acht Städten der Touristenroute des Goldenen Rings nordöstlich von Moskau und ist gleichzeitig die größte unter diesen Städten. Schwerpunktmäßig ist die Stadt durch ihre Architektur bekannt, weist jedoch auch ein nicht zu vernachlässigendes Angebot an kulturellen Attraktionen auf. Bauwerke In Jaroslawl sind trotz der im Bürgerkrieg und bei den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg angerichteten Schäden große Teile der historischen Bausubstanz aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert erhalten geblieben, die die Altstadt zu einem Denkmal des Städtebaus im Russischen Zarenreich machen. Insgesamt zählt das Stadtzentrum Jaroslawls rund 140 einzelstehende Baudenkmäler auf einer Fläche von knapp 600 Hektar. Seit 2005 steht das Ensemble einschließlich des Erlöser-Verklärungs-Klosters auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Markante Architekturdenkmäler finden sich aber auch abseits des Stadtzentrums. Altstadt Zur Altstadt zählt ein ungefähr dreieckförmiges Areal, das im Süden und im Osten durch die Flüsse Kotorosl bzw. Wolga begrenzt wird und sich auf dem Stadtplan durch ein geometrisches, teilweise fächerartiges Straßennetz aus dem 18. und 19. Jahrhundert kenntlich macht. Die bekannteste Sehenswürdigkeit dort ist das Erlöser-Verklärungs-Kloster (, Spasso-Preobraschenski monastyr) an der Kotorosl. Es wurde vermutlich noch im 12. Jahrhundert gegründet und gilt damit als die älteste Sehenswürdigkeit der Stadt. Zugleich beinhaltet es in seinem Ensemble das älteste erhaltene Bauwerk in Jaroslawl, die Erlöser-Verklärungs-Kathedrale (, Spasso-Preobraschenski sobor) aus dem Jahr 1516. Wie es für mittelalterliche russische Klöster oft galt, erfüllte auch das Jaroslawler Erlöser-Verklärungs-Kloster ursprünglich nicht nur die Funktion eines religiösen Stiftes, sondern auch die einer Zitadelle bzw. eines Kremls, was man anhand der bis heute vollständig erhaltenen Befestigungsmauern mit Wachtürmen aus dem 16. Jahrhundert sehen kann. Innerhalb dieser Mauern stellen die massiven weißen Kirchenbauten mit vielen scheinbar asymmetrisch angeordneten Türmen und aufwändig dekorierten Innenräumen repräsentative Beispiele typisch altrussischer Architektur dar. Außerdem gibt es eine Torkirche, an die sich die ehemaligen Mönchszellen und das Schatzhaus anschließen. Neben seiner historisch wertvollen Architektur spielte das Kloster eine herausragende Rolle in der Geschichte sowohl der Stadt Jaroslawl als auch des russischen Staates. So konnte es in der Zeit der Wirren Anfang des 17. Jahrhunderts eine Belagerung durch polnisch-litauische Truppen erfolgreich abwehren, und von der Klostermauer aus steuerte wenig später das Volksheer um Minin und Poscharski Moskau an, um letzteres ebenfalls von Fremdherrschern zu befreien. Ende des 18. Jahrhunderts wurde hinter den Klostermauern das älteste erhaltene Manuskript des Igorliedes, des bekanntesten Werkes mittelalterlicher russischsprachiger Literatur, gefunden. Dem Igorlied ist auch eine ständige Ausstellung im Kloster gewidmet, in der unter anderem ein mit maximal möglicher Originaltreue nachgebildeter Arbeitsplatz aus dem 12. Jahrhundert des unbekannten Autors des Epos zu sehen ist. Der ausgedehnte und bis heute sehr verkehrsreiche Platz vor dem Nordtor des Klosters, das als Haupteingang zum selbigen dient, heißt Epiphanien-Platz (, Bogojawlenskaja ploschtschad). Seinen Namen verdankt er der Epiphanien-Kirche () am südlichen Ende des Platzes und in unmittelbarer Nähe des Kotorosl-Ufers. Dieses Gotteshaus, das mit seinem fünfkuppeligen Abschluss, den halbrunden Kokoschnik-Ornamenten unterhalb des Daches und einem separat angebauten Glockenturm an die traditionelle Moskauer Sakralbaukunst angelehnt ist, entstand in den Jahren 1684–1693 und stellt eines der bekanntesten Beispiele der in der Blütezeit Jaroslawls im 17. Jahrhundert erbauten Kirchen dar. Die aufwändige Freskenbemalung im Innenraum wurde beim Bau der Kirche von Jaroslawler Künstlern ausgeführt. Die beiden vom Epiphanien-Platz aus in nordwestliche Richtung parallel zueinander verlaufenden Straßen stellen einen Teil des aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden städtebaulichen Konzeptes für Jaroslawl dar. Sie wurden 1820–1821 als neue Prachtboulevards exakt an der Stelle einer Stadtbefestigungsanlage aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts angelegt, welche seinerzeit die Befestigung des Verklärungs-Klosters sowie den aus der Stadtgründungszeit stammenden Holzkreml um eine Reihe von Erdwällen sowie einen künstlichen Wassergraben zwischen der Kotorosl und der Wolga ergänzte. Die Anlagen verloren bis zum 18. Jahrhundert an Bedeutung und wurden Anfang des 19. Jahrhunderts abgerissen. Bis heute erhalten sind lediglich zwei Wachtürme, die während des letzten Umbaus der Stadtbefestigung Mitte des 17. Jahrhunderts in Stein errichtet wurden. Der eine von ihnen heißt Blasius-Turm (, Wlasjewskaja baschnja) und steht an der ehemaligen Befestigungslinie nordwestlich des Verklärungsklosters, der zweite heißt Wolgaturm (, Wolschskaja baschnja) und befindet sich am Wolgaufer am äußersten südöstlichen Ende der ehemaligen Befestigungslinie. An der ehemaligen Befestigungslinie finden sich bedeutende Bauten des Klassizismus, insbesondere die Handelsreihen (, Gostiny dwor) – diese wurden 1813–1818 kurz nach dem Abriss der Erdwälle erbaut und erinnern mit ihrem ionischen Portikus äußerlich an vergleichbare Markthallenbauten aus dem 19. Jahrhundert in vielen anderen russischen Städten – sowie der 1911 entstandene neoklassische Prachtbau des Wolkow-Theaters. Letzterer steht am Wolkow-Platz (, Ploschtschad Wolkowa); dort macht der Boulevard entlang der ehemaligen Wälle einen Knick Richtung Nordosten und führt weiter zum Roten Platz (, Krasnaja Ploschtschad) in der Nähe des Wolgaufers. Dieser Platz hat einen gänzlich anderen Namensursprung als der gleichnamige Platz in Moskau: Bedeutete letzterer im altrussischen Sprachgebrauch ursprünglich „schöner Platz“, erhielt der Platz in Jaroslawl seinen heutigen Namen erst in den 1920er-Jahren zu Ehren der Roten Garde. Auch hier sind historische Prachtbauten zu sehen, darunter das dreistöckige ehemalige Haus der Adelsversammlung (, Dworjanskoje sobranije), das Hauptgebäude der Universität Jaroslawl in einem ehemaligen Gymnasialgebäude sowie die 1911 im Jugendstil erbaute Feuerwehr-Beobachtungswarte, die bis in die 1970er-Jahre hinein ihrem ursprünglichen Zweck diente. Östlich des Boulevards, in den Grenzen der ehemaligen Erdbefestigungen, befindet sich der bis zum Wolgaufer reichende Kern der Altstadt, ein durch ein geometrisches Netz kleiner Straßen geprägtes Viertel, in dessen Mittelpunkt eines der bekanntesten Kirchengebäude Jaroslawls steht. Es ist die Prophet-Elija-Kirche (, Zerkow Ilii Proroka), die, genauso wie die Epiphanien-Kirche, ein prominentes Denkmal der Stadtentwicklung im 17. Jahrhundert darstellt. Vor der Fertigstellung des heutigen Baus im Jahr 1650 standen an dessen Stelle verschiedene Vorgängerkirchen, von denen bereits die älteste, die noch zu Herrschaftszeit des Stadtgründers Jaroslaw des Weisen bestand, dem Propheten Elija geweiht war. Die mit fünf Zwiebeltürmen bekrönte Kreuzkuppelkirche, deren Architektur ebenfalls an Moskauer Traditionen angelehnt ist, ist besonders durch ihre Innenbemalung bekannt, welche in ihrer Geschichte von Großbränden und Kriegshandlungen verschont wurde und daher bis heute sehr gut erhalten ist. Die Fresken am Gewölbe und an den Wänden wurden um 1680 von insgesamt 15 Meistern aus Jaroslawl und Kostroma fertiggestellt und stellen ein besonders komplexes und prunkvolles Ensemble an Wandmalereien mit eingängigen Motiven unter anderem aus dem Alten Testament dar. Der Platz, an dem die Kirche samt einem Glockenturm mit Zeltdach und einer ähnlich zeltförmigen Nebenkapelle steht, galt bei der Stadtplanung Jaroslawls im 18. und 19. Jahrhundert als zentraler Platz der Stadt und diente damals auch als Veranstaltungsort für Märkte und Volksfeste. Im architektonischen Bild der Straßen des Stadtkerns wechseln sich Kirchengebäude mit vorwiegend klassizistischen Profanbauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert ab. Als Beispiele für repräsentative Profanbauten zu nennen sind das im Jugendstil gehaltene ehemalige Privathaus des Großkaufmanns Wachromejew (russ. , Dom Wachromejewa, Ende des 18. Jh.) am Platz vor der Elija-Kirche, die ebendort erbaute ehemalige Gouvernementverwaltung (1785, auch Gebäude der Amtsstellen (, Sdanije prissutstwennych mest) genannt) sowie das ehemalige Haus der Wohltätigkeit (, Dom prisrenija blischnego, 1786), in dem sich seinerzeit das erste Waisenhaus der Stadt befand und das heute eines der Campusgebäude der Universität Jaroslawl ist. Klassizistisch geprägt ist auch die in den 1820er-Jahren angelegte Wolgapromenade, an der beispielsweise das dekorative Säulenpavillon (1840er-Jahre) über dem Fluss, das Verwaltungsgebäude der Eisenbahndirektion Nord (Mitte des 19. Jh.) und das heutige Gebäude des Jaroslawler Kunstmuseums (1821–1823) auffallen. Im Bereich der Wolgapromenade finden sich ebenfalls mehrere Kirchen: Zu nennen ist die einkuppelige Kirche des Heiligen Nikolaus „der Hoffnungsverheißende“ (, Zerkow Nikoly Nadeina), die, 1620–1621 errichtet, zu den Frühbeispielen des Jaroslawler Kirchenbaus gehört und unter anderem durch die in ihrem Inneren erhaltene prunkvolle Ikonostase bekannt ist, deren Ausgestaltung Fjodor Wolkow, dem Gründer des ersten Jaroslawler Theaters, zugeschrieben wird. Bei der etwas weiter nördlich stehenden Christi-Geburts-Kirche (, Zerkow Roschdestwa Christowa) aus den Jahren 1635–1644 fällt insbesondere der zeltförmige Glockenturm als eines der seltenen Beispiele eines direkt über dem Kirchentor errichteten Glockenturms auf. Am südlichen Ende der Wolgapromenade steht eines der ältesten erhaltenen Profanbauten der Stadt: Es ist das in den 1680er-Jahren erbaute ehemalige Metropolitenpalais (, Mitropolitschji palaty), ein zweigeschossiges und vergleichsweise schmuckloses Rechteckgebäude, das heute einen Teil der Exposition des Kunstmuseums beherbergt. Der südliche Teil des Stadtkerns, der am Zusammenfluss der Kotorosl mit der Wolga endet, ist ein von Grünflächen geprägtes Areal, dessen erheblicher Teil bis ins 17. Jahrhundert hinein von den hölzernen Befestigungsanlagen des Jaroslawler Kremls (auch Holzstadt (, Rubleny gorod) genannt) umfasst war. Der Kreml selbst brannte 1658 aus und wurde nicht wiederhergestellt, an seine genaue Lage erinnert jedoch bis heute die 1695 erbaute Nikolaus-Kirche in der Holzstadt (, Zerkow Nikoly Rublenogo). Dort in der Nähe stand seit 1642 bis zu ihrem Abriss 1937 die Mariä-Entschlafens-Kathedrale (, Uspenski sobor), die seit 2004 an der gleichen Stelle originalgetreu wiederaufgebaut und während der Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum am 12. September 2010 von Patriarch Kyrill geweiht wurde. Folgt man von der ehemaligen Holzstadt dem Verlauf der Uferstraße Richtung Erlöser-Verklärungs-Kloster, sind rechterhand noch zwei weitere Kirchen zu sehen: die 1672 erbaute Erlöser-Kirche in der Stadt (, Zerkow Spassa na Gorodu) und die feierlich anmutende Erzengel-Michael-Kirche (, Zerkow Archangela Michaila) aus dem Jahr 1682. Südliche Innenstadt Westlich des Epiphanien-Platzes lassen sich an der Uferpromenade der Kotorosl und in deren Nähe weitere bedeutende Bauwerke ausfindig machen. Bekannt ist beispielsweise ein 1671–1677 errichtetes Ensemble aus zwei Kirchen, der Kirche des Heiligen Dimitrios von Thessaloniki (, Zerkow Dimitrija Solunskogo) und der Kirche der Huldigung der Gottesmutter (, Zerkow Pochwaly Preswjatoi Bogorodizy). Während es beim ersteren um einen eher schlichten einkuppeligen Bau mit angrenzendem Zeltdach-Glockenturm handelt, weist die Kirche der Huldigung der Gottesmutter eine für Jaroslawler Verhältnisse eher unübliche Konstruktion aus einer rechteckigen Basis mit einem toskanischen Acht-Säulen-Portal und einer seitlich angebauten halbrunden Apsis auf. Die Fresken im Inneren der Kirchen stammen aus den 1680er-Jahren. In fußläufiger Nähe des Ensembles, fast unmittelbar am Ufer der Kotorosl, fällt ein weiteres Sakralbaudenkmal aus der Blütezeit Jaroslawls auf: das ist die Kirche des Hl. Nikolaus „der Wasserträger“ (, Zerkow Nikoly Mokrogo) aus den Jahren 1665–1672. Bei ihr handelt es sich um eine fünfkuppelige Kreuzkuppelkirche mit zwei nördlich und südlich angebauten Zeltdachkapellen. Die Fresken im Kircheninneren stammen aus dem Jahr 1673 und beinhalten schwerpunktmäßig Motive aus dem Leben Nikolaus' von Myra, des Schutzheiligen dieses Gotteshauses. Ein markantes Beispiel für klassizistische öffentliche Bebauung an der Kotorosl-Promenade ist das ehemalige Gebäude des Geistlichen Konsistoriums (, Duchownaja konsistorija), das 1815 nach einem Entwurf des italienischstämmigen Stadtbaumeisters Luigi Rusca erbaut wurde. Es hat eine streng symmetrische Konstruktion mit einem Mittelteil, dessen zur Kotorosl hin gewandte Fassade mit einem bis ins zweite Stockwerk reichenden Portal aus ionischen Säulen geschmückt ist, und zwei Mitte des 19. Jahrhunderts angebauten Seitenflügeln. Südlich der Kotorosl Am rechten Ufer der Kotorosl erstreckt sich direkt gegenüber dem Erlöser-Verklärungs-Kloster eine sehr ländliche Gegend, die von kleinen Straßen mit typisch russischen Holzhäusern geprägt ist. Inmitten dieser Gegend erhebt sich ein Hügel, der auch als Gramberg (, Tugowa gora) bekannt ist. Obendrauf ist ein Kirchengebäude mit anliegendem Friedhof zu sehen. Dabei handelt es sich um die 1691 errichtete Kirche der Märtyrerin Paraskewa Pjatniza (, Zerkow Paraskewy Pjatnizy), die an der Stelle einer älteren Kirche erbaut wurde und dem Gedenken an die hier im Jahre 1257 stattgefundene Schlacht der Bewohner Jaroslawls gegen die tatarischen Angreifer dient. Die Jaroslawler verloren damals die Schlacht; viele von ihnen waren gefallen, weshalb diese Anhöhe noch lange Zeit danach als Ort der Trauer diente und vermutlich aus diesem Grund den Namen „Gramberg“ erhielt. Der Friedhof, auf dem seinerzeit auch die Gefallenen der Schlacht ihre letzte Ruhe fanden, gilt als eine der ältesten bis heute erhaltenen Begräbnisstätten in Jaroslawl. Im gleichen Stadtviertel südlich der Kotorosl, direkt gegenüber der Mündung der letzteren in die Wolga, befindet sich am Flussufer im alten Vorort Korowniki ein bekanntes Ensemble aus zwei Kirchengebäuden, dessen Errichtung 1649 begann und 20 Jahre später vollendet wurde. Als erste der beiden wurde die Kirche des Heiligen Johannes Chrysostomos (, Zerkow Ioanna Slatousta) fertiggestellt. Sie weist eine streng symmetrische Gestalt mit fünf Kuppeln und zwei zeltartigen Seitenanbauten auf – diese Symmetrie war eine Folge der kurz vor dem Bau der Kirche in Kraft getretenen Reformen des Moskauer Patriarchen Nikon, der dabei unter anderem die Gestalt der neu zu bauenden Kirchen reglementierte. Während die Johannes-Chrysostomos-Kirche als (unbeheizte) Sommerkirche errichtet wurde, wurden im zweiten Gotteshaus des Ensembles, der Kirche der Gottesmutter-Ikone von Wladimir (, Zerkow Wladimirskoi ikony Boschijei Materi), von Anfang an auch im Winter Gottesdienste durchgeführt. Es sieht der Johannes-Chrysostomos-Kirche ähnlich aus, hat jedoch keine Zeltanbauten, und den im Stil des sogenannten Moskauer Barocks ausgeführten Turm über dem Kirchentor erhielt es erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Zum Ensemble von Korowniki, das heute der Russisch-Orthodoxen Altritualistischen Kirche gehört, zählt neben den beiden Kirchen ein in den 1680er-Jahren errichteter 37 Meter hoher Glockenturm mit achteckigem Schaft. Wegen seiner sehr schlank wirkenden Gestalt erhielt der Turm den Beinamen Jaroslawler Kerze (, Jaroslawskaja swetscha). Ebenfalls am rechten Ufer der Kotorosl, jedoch wenige Kilometer weiter flussaufwärts, steht mit der Kirche des Gedenktags der Enthauptung Johannes des Täufers in Toltschkowo (, Zerkow Usseknowenija glawy Ioanna Predtetschi w Toltschkowe) das größte Gotteshaus in Jaroslawl. Die Kirche wurde 1671–1687 erbaut und weist zusammen mit den beiden seitlich angebauten Apsiden einen komplexen Abschluss von insgesamt 15 Zwiebeltürmen auf, was für altrussische Kirchen eine einzigartige Erscheinung ist. Im Inneren der Kirche beinhaltet die Freskenbemalung über 500 verschiedene Motive, darunter insbesondere Szenen der Apokalypse. Der südlich der Kirche stehende siebenrangige Glockenturm ist 45 Meter hoch und wurde stilistisch an den Moskauer Barock angelehnt. Wenige Gehminuten von der Johannes-der-Täufer-Kirche entfernt findet sich ein weiteres Sakralbaudenkmal aus dem späten 17. Jahrhundert: Hierbei handelt es sich um die 1687 fertiggestellte Kathedrale der Theodor-Ikone der Gottesmutter (, Sobor Fjodorowskoi ikony Boschijei Materi), die durch das ungewohnt hohe Verhältnis zwischen den Höhen des zentralen Kirchturms (22 Meter) und des Basisrechtecks des Gebäudes (14 m) auffällt. Linkes Wolga-Ufer Auch der Teil des Jaroslawler Stadtgebietes am linken Ufer der Wolga ist vorwiegend ländlich geprägt. Die bekannteste Sehenswürdigkeit dort ist das Kloster zu Mariä Tempelgang von Tolga (, Swjato-Wwedenski Tolgski monastyr), das sich etwas flussaufwärts von der Jubiläumsbrücke in der namensgebenden Ortslage Tolga befindet. Neben dem Erlöser-Verklärungs-Kloster ist es das einzige vollständig erhaltene Kloster in Jaroslawl. Es wurde laut Überlieferungen im Jahre 1314 gegründet und beherbergt bis heute eine Originalikone der Gottesgebärerin aus dem 13. Jahrhundert, die gemeinhin als Tolga-Ikone (, Tolgskaja ikona) bekannt ist und aufgrund der ihr nachgesagten Wunderwirkung zahlreiche Pilger ins Kloster zieht. Das heutige architektonische Ensemble des Tolga-Klosters stammt zu einem wesentlichen Teil aus dem 17. Jahrhundert. Dies gilt für die Befestigung des Klosters, die traditionsgemäß aus einer Umfriedungsmauer mit mehreren Wachtürmen besteht, aber auch für bekannte Bauwerke im Inneren des Klosters, darunter das Refektorium mit der Kreuzerhöhungskirche (, Krestowosdwischenskaja zerkow, 1625) und die Hauptkirche zu Mariä Tempelgang (, Wwedenski sobor, 1681–1688). Museen Als Touristenzentrum verfügt Jaroslawl über mehrere überregional bedeutende Museen. Hier ist vor allem das Staatliche Museumsreservat Jaroslawl () zu nennen, das auf dem Gelände des Erlöser-Verklärungs-Klosters ansässig ist und zu dem neben den Bauwerken und Expositionen des Klosters mehrere Kirchengebäude außerhalb des selbigen (darunter die Prophet-Elija-Kirche) sowie unter anderem das Gedenkmuseum im Jaroslawler Geburtshaus des Operntenors Leonid Sobinow gehören. Innerhalb des Klosters bieten sich dem Besucher mehrere ständige Ausstellungen und Wechselexpositionen, unter anderem mit historischen Gegenständen der angewandten Kunst aus der Schatzkammer des Klosters in der Ausstellung Schätze Jaroslawls sowie einer Schau frühmittelalterlicher Waffen und einem nachgebauten Arbeitsplatz aus dem 12. Jahrhundert in der Themenausstellung zum Igorlied. Insgesamt beherbergt das Jaroslawler Museumsreservat über 200.000 Exponate. Das 1919 gegründete Jaroslawler Kunstmuseum () an der Wolgapromenade ist das einzige Museum seiner Art in der Oblast Jaroslawl und mit rund 70.000 Exponaten eines der größten in der russischen Provinz. Zu sehen sind hier Werke und Gegenstände der dekorativen und angewandten Kunst ab dem Mittelalter. Die Ikonensammlung des Museums beinhaltet Werke Jaroslawler Maler, von denen einige aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammen, in der Gemäldesammlung sind Originalwerke von Künstlern wie Repin, Kramskoi oder Brüllow zu sehen, und in der Abteilung für angewandte Kunst findet sich unter anderem eine Sammlung von Porzellan- und Glaserzeugnissen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Ebenfalls an der Wolgapromenade befinden sich sowohl das Geschichtsmuseum der Stadt Jaroslawl (), zu dem auch das Hausmuseum des weißrussischen Dichters Maksim Bahdanowitsch gehört, als auch das 1993 gegründete Privatmuseum Musik und Zeit (). Letzteres, seinerzeit eines der ersten Privatmuseen im postsowjetischen Russland, bietet dem Besucher Einblicke in eine ausgedehnte Antiquitätensammlung mit Schwerpunkt auf Klang erzeugenden Gegenständen (darunter Spieluhren, Musikboxen, Glöckchen u. ä.). 2009 wurde das Museumsangebot Jaroslawls um das Museum Mein Lieblingsbärchen () ergänzt, dessen Exposition, als eine Art Tribut an das Wappentier Jaroslawls, rund 700 Teddybären verschiedenen Alters und Designs beinhaltet, die vorwiegend aus Privatbeständen gespendet wurden. Erwähnenswert neben den Museen im Stadtgebiet ist der 15 km südlich der Stadt gelegene Komplex Karabicha (), der aus einem Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten klassizistischen Herrenhaus samt Nebenbauten und einem 15 Hektar großen Landschaftsgarten besteht. Das Anwesen ist vor allem dadurch bekannt, dass es in den Jahren 1861–1875 dem prominenten Dichter Nikolai Nekrassow gehörte und der Entstehungsort einer Reihe seiner bekannten Werke ist. Heute ist dort unter anderem ein Hausmuseum des Dichters zu besichtigen. Theater und Kino In Jaroslawl gibt es drei Schauspielhäuser. Das weithin bekannteste von ihnen ist das Wolkow-Theater, das in einem 1911 errichteten repräsentativen neoklassischen Gebäude in der Altstadt untergebracht ist. Es ist nach dem Laienschauspieler Fjodor Wolkow benannt, der 1750 auf Eigeninitiative in Jaroslawl die erste öffentliche Schauspielstätte Russlands gründete und aus diesem Grund heute als Pionier des russischen Theaters gilt. Obwohl die Truppe Wolkows seinerzeit nur wenige Monate in Jaroslawl spielte und es nach deren Beordnung nach Sankt Petersburg in Jaroslawl erst ab Anfang des 19. Jahrhunderts wieder einen regulären Theaterbetrieb gab, wird die Stadt oft als Heimat des russischen Theaters bezeichnet. Heute beinhaltet die Schauspielstätte zwei Bühnen mit insgesamt über 1000 Zuschauerplätzen und gilt als eines der bekanntesten Theater der russischen Provinz. Außer dem Wolkow-Theater gibt es in Jaroslawl ein Puppentheater (Staatliches Puppentheater Jaroslawl, gegründet 1927), ein Kinder- und Jugendtheater (Staatliches Jaroslawler Theater des Jungen Zuschauers, gegründet 1984) sowie das private Jaroslawler Kammertheater (gegründet 1999). Ergänzt wird das Bühnenangebot der Stadt durch eine Philharmonie (Staatliche Philharmonie Jaroslawl, gegründet 1937) und einen stationären Zirkus (gegründet 1963). Unter den rund zehn Filmtheatern der Stadt finden sich sowohl einige auf eine längere Geschichte zurückblickende Häuser aus der Sowjetzeit (wie das 1959 erbaute Rodina, das heute auch 3D-Filme vorführen kann) als auch moderne Multiplex-Kinos der russischen Ketten Cinema-Star und Kinomax. Eine für russische Provinzstädte eher ungewöhnliche Freizeiteinrichtung ist das Jaroslawler Planetarium. Es wurde 1948 gegründet und befand sich lange Zeit in einem ehemaligen Kirchengebäude. Im April 2011 wurde nach zweijähriger Bauzeit ein neues Planetarium errichtet, das nun den Namen von Walentina Tereschkowa trägt. Grünanlagen Auf dem Stadtgebiet Jaroslawls gibt es rund 30 Parks und Stadtgärten, die zusammen mit kleineren Grünanlagen eine Gesamtfläche von rund 2000 Hektar (knapp 10 % der Stadtfläche) einnehmen. Als relativ reich an Grünflächen gilt der ländlich geprägte Bezirk am linken Ufer der Wolga, wo es mehrere Kiefern-Stadtwälder gibt. Die bekannteste Grünanlage der Stadt ist jedoch der Park im Stadtkern am Zusammenfluss der Kotorosl mit der Wolga. Daran, dass sich laut Stadtgründungslegende der Kampf Jaroslaw des Weisen gegen den Bären genau dort ereignet haben soll, erinnert heute ein Gedenkstein. Südlich an den Park schließt sich eine etwa 400 Meter lange Landzunge an, die als Strelka () bekannt ist und an deren Ende sich die Mündung der Kotorosl befindet. Ebenfalls im Mündungsbereich der Kotorosl gegenüber der Strelka befindet sich eine Insel, die im Sommer mit Stränden, Cafés, Bootsstationen und Fahrgeschäften ein beliebtes Naherholungsziel darstellt. Im Rahmen des Investitionsprogramms zum 1000-jährigen Stadtjubiläum wurde am 20. August 2008 der erste Bauabschnitt des Jaroslawler Zoos eröffnet, womit die Stadt erstmals in ihrer Geschichte einen eigenen Tierpark erhielt. Er hat gegenwärtig eine Fläche von über 100 Hektar und ist als Landschaftspark mit geräumigen Tiergehegen konzipiert, die allen Anforderungen einer artgerechten Haltung genügen. Zu sehen sind heimische Wildtiere (darunter Elch, Braunbär, Rothirsch, Wolf), aber auch exotische Arten (Zebra, Bennettkänguru, Trampeltier u. a.). Sport Zu den bekanntesten Sportvereinen Jaroslawls gehört der Eishockey-Club HK Lokomotive Jaroslawl, der an der Kontinentalen Hockey-Liga (KHL) teilnimmt und dreifacher russischer Meister (1997, 2002 und 2003) ist. Seine Heimspielstätte ist die 2001 fertiggestellte Mehrzweckhalle Arena 2000, die knapp 9000 Zuschauerplätze hat und außer für Eishockeyspiele auch für Veranstaltungen in diversen Hallensportarten sowie für Konzerte und Ausstellungen genutzt wird. Am 7. September 2011 kam ein Großteil der Mannschaft der Saison 2011/12 bei einem Flugzeugabsturz nahe der Stadt ums Leben. Im Fußball ist die Stadt durch den Verein FK Schinnik Jaroslawl vertreten, der in den 2000er-Jahren für mehrere Saisons in der höchsten russischen Klasse, der Premjer-Liga, spielte, gegenwärtig jedoch im eine Klasse tieferen Perwenstwo FNL vertreten ist. Auch dieser Verein besitzt mit dem 1957 eröffneten und bis zu 22.900 Zuschauer fassenden Schinnik-Stadion eine eigene Spielstätte. Als dritter professioneller Sportclub ist in Jaroslawl der Volleyball-Verein Jaroslawitsch beheimatet, der in der russischen Volleyball-Superliga vertreten ist. Die Spiele dieses Vereins werden im Sportkomplex Atlant ausgetragen, allerdings ist es seit Jahren geplant, die Heimspielstätte in die nahe gelegene Stadt Tutajew zu verlegen, in der eine moderne Volleyball-Arena im Bau ist. 2006 wurden von der Stadtverwaltung mehrere Zielprogramme zur Modernisierung und zum Ausbau der Sportinfrastruktur der Stadt bis zur 1000-Jahre-Feier im Jahr 2010 in Angriff genommen. Unter anderem wurde eine neue Tribüne für das Schinnik-Stadion errichtet, und bereits im September 2009 konnte nach dreijähriger Umbauzeit die Mehrzweckarena Torpedo wiedereröffnet werden. Zur Fußball-Weltmeisterschaft 2018, im Rahmen derer einzelne Spiele in Jaroslawl ausgetragen werden sollten, war der Bau eines neuen, 40.000 Zuschauer fassenden Stadions geplant. Jedoch wurde Jaroslawl neben Krasnodar aus der vorläufigen Liste der Spielorte gestrichen. Regelmäßige Veranstaltungen Die wichtigste jährliche Veranstaltung in Jaroslawl ist das Stadtfest, das am letzten Maiwochenende anlässlich der Gründung der Stadt begangen wird. Es findet dann ein großes Volksfest mit Abendfeuerwerken, Konzerten, Fallschirmjäger-Vorführungen und ähnlichen Events statt. Da der genaue Tag der Stadtgründung allerdings nicht bekannt ist, hat der Termin des Stadtfestes keinen historischen Datumsbezug. Die Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Stadtbestehen 2010 sind abweichend vom traditionellen Termin auf das zweite Septemberwochenende verlegt worden. Überregional bekannt sind auch Festivals, die auf dem Gelände des Erlöser-Verklärungs-Klosters regelmäßig veranstaltet werden. Zu nennen ist etwa das jährlich im August stattfindende Festival Verklärung des Glockenspiels und der Kirchenmusik sowie das frühjährliche Festival Blumige Metamorphosen, bei dem Blumenarrangements mit Sonnenblumen oder christlichen Themen zu sehen sind. Ebenfalls veranstaltet das älteste Schauspielhaus der Stadt seit 2000 das Wolkow-Theaterfestival, das jedes Jahr im Herbst namhafte Schauspielkollektive zu Gastauftritten nach Jaroslawl kommen lässt. Eine wichtige musikalische Veranstaltung in Jaroslawl ist das Festival Jazz an der Wolga. Es wird seit 1979 alle zwei Jahre im März veranstaltet und gilt als ältestes russisches Festival der Jazzmusik. Es nehmen an jedem Festival etwa 20 bis 40 Künstler und Bands sowohl aus Russland als auch aus dem Ausland teil. Seit 2009 ist Jaroslawl darüber hinaus Veranstaltungsort des jährlich stattfindenden Weltpolitischen Forums Jaroslawl. Das zweite Forum fand zeitgleich mit den Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Stadtjubiläum statt mit dem Schwerpunktthema „Der moderne Staat: demokratische Standards und Effizienzkriterien“; es nahmen unter anderem Russlands Präsident Dmitri Medwedew, Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi und Südkoreas Präsident Lee Myung-bak teil. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Jaroslawl ist heute sowohl eine der größten Industriestädte im europäischen Teil Russlands als auch ein Touristenzentrum mit einem weit entwickelten Angebot im Dienstleistungssektor. Industrie Von den im Oktober 2009 rund 28.800 in Jaroslawl ansässigen Unternehmen handelte es sich bei rund 2200 um verarbeitende Betriebe. Deren gemeinsamer Umsatz betrug im Zeitraum von Januar bis September 2009 rund 58,2 Milliarden Rubel. Im gleichen Zeitraum des Jahres 2008, vor Zuspitzung der internationalen Wirtschaftskrise, belief sich ihr Umsatz auf 77,16 Milliarden Rubel. Seit der Industrialisierung der Jaroslawler Region in der Frühsowjetzeit spielt der Maschinenbau eine Schlüsselrolle in deren wirtschaftlichem Leben. In Jaroslawl ist dieser vordergründig mit dem Motorenwerk Jaroslawl vertreten, das 1916 vom Luftfahrtpionier Wladimir Lebedew gegründet wurde und in den 1920er- und 1930er-Jahren unter anderem Lastkraftwagen, Muldenkipper, Autobusse und Oberleitungsbusse (darunter die Doppeldecker-Obus-Baureihe JaTB-3, die 1939–1948 in Moskau im Linieneinsatz war) produzierte und in andere Regionen verkaufte. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs stellte das Werk seine Produktion auf Rüstungsgüter um, und inzwischen gehört es zum russischen GAZ-Maschinenbaukonzern und spezialisiert sich auf die Herstellung von Dieselmotoren für Lastkraftwagen, Busse und Schienenfahrzeuge. Ein weiterer traditionell wichtiger Industriezweig in Jaroslawl ist die Rohölverarbeitung und die chemische Industrie. Hier sind die größten Betriebe die Raffinerie Jaroslawnefteorgsintes – eine Tochtergesellschaft des Mineralölunternehmens Slawneft, das wiederum von den Konzernen TNK-BP und Sibneft kontrolliert wird – sowie das seit den 1930er-Jahren bestehende Reifenwerk Jaroslawl. Letzteres gilt als eines der bekanntesten Unternehmen des Jaroslawler Gebietes und stellt heute über 160 Modelle von Reifen sowohl für alle Arten von Kraftfahrzeugen als auch für die Luftfahrt her. Andere Betriebe der chemischen Industrie in Jaroslawl stellen unter anderem Kunststofferzeugnisse, Industrieruß, Lacke und Farben sowie Baumaterialien her. Weitere wichtige Industrien in der Stadt sind die Elektrotechnik (hier vor allem das Elektromaschinenwerk Jaroslawl, das sich auf die Produktion von Drehstrom-Asynchronmaschinen spezialisiert hat), der Schiffbau (in Jaroslawl ist seit 1920 die Jaroslawler Werft ansässig, die unter anderem Schiffe für die Grenztruppen Russlands baut, jedoch auch zivile Schiffe z. B. für die Fischerei herstellt) und die Eisenbahnindustrie (darunter das Waggonausbesserungswerk Remputmasch). Zu erwähnen ist darüber hinaus die mit einer Vielzahl von mittleren und kleineren Betrieben in Jaroslawl vertretene Nahrungs- und Genussmittelproduktion sowie Leicht- und Textilindustrie. In letzterer spielt das aus der seinerzeit ältesten Manufaktur der Stadt hervorgegangene Kombinat Krasny Perekop auch heute noch eine wichtige Rolle. Ein weiterer historisch bedeutsamer Industriebetrieb in Jaroslawl ist die 1850 gegründete Tabakwarenfabrik Balkanskaja Swesda. Handel und Dienstleistungen Im Stadtgebiet waren im Oktober 2009 insgesamt 12.175 Handelsunternehmen (darunter 741 Gastronomiebetriebe) und rund 5000 weitere Firmen im Dienstleistungssektor ansässig. Wie auch in den meisten Regionen Russlands durchlebte vor allem der Einzelhandel in Jaroslawl im Laufe der 2000er-Jahre einen erheblichen Aufschwung, der sich nunmehr in einer Vielzahl von Einkaufszentren und großen Supermärkten im gesamten Stadtgebiet bemerkbar macht. Neben einheimischen Handelsketten wie Perekrjostok, Magnit oder Kopeika sind in Jaroslawl heute auch bekannte ausländische Einzelhandelskonzerne mit ihren Märkten vertreten, darunter Spar, Metro Cash & Carry, Globus und Real. Es gibt aber auch, wie in Russland üblich, traditionelle Bauernmärkte und in jedem der sechs Stadtbezirke auch jeweils eine größere Markthalle. Im Dienstleistungssektor nimmt der Tourismus und Fremdenverkehr eine wichtige Rolle in Jaroslawl ein. Ende 2009 verfügte die Stadt über 22 Hotels mit insgesamt 1753 Betten (darunter das Vier-Sterne-Hotel Ring Premier Hotel sowie ein schwimmendes Hotel an der Wolga), vier weitere Hotels befinden sich im Bau. In der Stadt sind 138 Reiseunternehmen ansässig. Nach Angaben des Gebietskomitees für Fremdenverkehr wurde die Oblast Jaroslawl im Jahr 2009 von rund 1,392 Millionen Touristen, darunter 213.000 Ausländern, besucht. Verkehr Jaroslawl ist ein wichtiger Knotenpunkt im Straßen-, Schienen- und Binnenschiffsverkehr und profitiert in dieser Hinsicht von der Lage an der Wolga und von der relativen Nähe zu Moskau. Auch innerhalb der Stadtgrenzen verfügt es über ein gut ausgebautes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln. Schienenverkehr Den ersten Eisenbahnanschluss erhielt Jaroslawl im Jahr 1870 mit der Verlängerung der damaligen Moskau-Jaroslawl-Archangelsker Eisenbahn, die ursprünglich nur von Moskau nach Sergijew Possad führte, bis an die Wolga in Richtung Norden. Im Zeitraum von 1870 bis 1898 wurde Jaroslawl durch Bau weiterer Eisenbahn-Teilstrecken auch mit Wologda, Kostroma und Sankt Petersburg verbunden, und im Jahr 1913 wurde die Eisenbahnbrücke über die Wolga in Jaroslawl fertiggestellt. Die Strecke vom Jaroslawler Bahnhof in Moskau nach Jaroslawl ist heute ein Teilstück der Transsibirischen Eisenbahn und somit ist Jaroslawl ein Durchreiseziel für Touristen, die mit dem Zug (sofern dieser nicht über den alternativen Streckenzweig via Nischni Nowgorod verkehrt) von Moskau Richtung Nowosibirsk, Wladiwostok oder Peking reisen. Heute kreuzen sich in Jaroslawl vier Eisenbahnlinien. Ebenso ist die Stadt Verwaltungssitz der Nördlichen Regionaldirektion der Russischen Staatsbahn. Die Direktion, meist abgekürzt als „Nordeisenbahn“ bezeichnet, betreibt nicht nur alle Eisenbahnlinien samt zugehöriger Infrastruktur im Großraum Jaroslawl, sondern auch ein fast 6000 Kilometer langes Schienennetz, das bis weit in den Nordosten des europäischen Teils Russlands (darunter die Oblast Archangelsk und die Teilrepublik Komi) reicht. Innerhalb der Stadtgrenzen sind 16 Personenbahnhöfe und Haltepunkte in Betrieb, davon zwei Fernbahnhöfe. Als Hauptbahnhof der Stadt gilt der westlich des Stadtzentrums gelegene Fernbahnhof Jaroslawl-Glawny (russ. , wörtlich „Jaroslawl Haupt[bahnhof]“), der bei seinem Bau im Jahr 1898 noch eine relativ unbedeutende Station war und erst nach der Inbetriebnahme der Wolgabrücke zum wichtigsten Schienenknotenpunkt der Stadt wurde. Heute verfügt der Bahnhof in seinem Bereich über mehr als 20 Gleise für den Fern-, Regional-, Güter- und Industrieverkehr, ebenso über ein repräsentatives Empfangsgebäude aus dem Jahr 1952 mit einem Erweiterungsbau aus dem Jahr 1977. Hier halten die meisten Fernzüge von und nach Moskau, darunter alle über Jaroslawl verkehrenden Transsib-Züge, ferner Regionalzüge u. a. nach Rostow, Alexandrow, Rybinsk, Danilow, Kostroma und Iwanowo. Der zweite Fernbahnhof Jaroslawls befindet sich südlich der Kotorosl und heißt Jaroslawl-Moskowski (, wörtlich „Jaroslawl Moskauer [Bahnhof]“). Er entstand 1870 mit der ersten Eisenbahnanbindung der Stadt und diente ursprünglich als Endpunkt der Züge aus Moskau, verlor jedoch nach dem Bau der Wolga-Brücke an Bedeutung zugunsten von Jaroslawl-Glawny. Heute halten dort nur noch wenige Fernzüge (darunter Züge aus Moskau Richtung Kostroma), ansonsten werden dort Regionalzüge in und aus Richtung Rostow/Alexandrow, Kostroma, Iwanowo und Rybinsk abgefertigt. Die meisten dieser Züge halten jedoch auch in Jaroslawl-Glawny. Bis heute ist in Jaroslawl-Moskowski ein langgestrecktes symmetrisches Empfangsgebäude aus dem späten 19. Jahrhundert erhalten. Bei den weiteren 14 Eisenbahnstationen Jaroslawls handelt es sich um reine Regionalbahnhöfe und Haltepunkte für den Vorortverkehr. Alle Eisenbahnstrecken, die sich in Jaroslawl kreuzen, sind mit Ausnahme der Linie nach Rybinsk elektrifiziert; bei den Zügen nach Iwanowo, die innerhalb Jaroslawls die elektrifizierte Strecke Richtung Kostroma befahren, handelt es sich jedoch um Dieselzüge. Am östlichen Stadtrand links der Wolga ist seit 1970 auch eine Parkeisenbahn in Betrieb. Sie wurde 1970 eröffnet und ersetzte damals eine andere Parkeisenbahnlinie nahe der Wolga, die seit 1945 bestand und 1958 wegen eines Hochwassers geschlossen wurde. Im Zuge der Vorbereitungen auf das Stadtjubiläum wurde die Parkeisenbahn bis 2008 durch die Nordeisenbahn-Direktion runderneuert und besteht nunmehr aus fünf Stationen auf einer Länge von 5,7 km. Die Strecke wird in den Sommermonaten mehrmals am Tag von zwei diesellokbespannten Zügen bedient. Öffentlicher Personennahverkehr Das heute älteste innerstädtische Verkehrsmittel in Jaroslawl ist die elektrische Straßenbahn, die bei ihrer Eröffnung im Dezember 1900 eines der ersten Straßenbahnsysteme des Russischen Reichs gewesen war. Bestand das Jaroslawler Netz noch Mitte der 1980er-Jahre aus neun Linien, sind es heute nur noch vier, da seit den 1990er-Jahren eine Reihe von Strecken insbesondere in der Altstadt gekürzt bzw. stillgelegt wurden. Inzwischen fahren Straßenbahnen in Jaroslawl fast nur noch in Außenbezirken; ein Verknüpfungspunkt mit der Eisenbahn fehlt seit der Stilllegung einer Endhaltestelle nahe dem Bahnhof Jaroslawl-Glawny im August 2009. Obwohl im Rahmen der Vorbereitungen zum 1000-jährigen Stadtjubiläum einige Modernisierungsmaßnahmen für die Straßenbahn der Stadt in Angriff genommen wurden (darunter Erneuerung des Wagenparks und der Gleise), gelten weitere Jaroslawler Straßenbahnstrecken nach wie vor als stilllegungsbedroht, womit Jaroslawl freilich das Schicksal der meisten russischen Städte mit Straßenbahnen teilt. Ein wichtiges und nach wie vor auch im Stadtzentrum häufig anzutreffendes Verkehrsmittel ist in Jaroslawl der Trolleybus, der hier seit 1949 in Betrieb ist und von dem es gegenwärtig zehn Linien gibt. Im Gegensatz zur Straßenbahn wird das Netz gelegentlich erweitert, dabei ersetzen einzelne neue Strecken die ebendort zuvor stillgelegten Straßenbahnlinien. Sowohl die Straßenbahn als auch die Trolleybusse werden in Jaroslawl vom städtischen Verkehrsunternehmen Jargorelektrotrans betrieben. Die Fahrkarten sind vergleichsweise billig: Eine einfache Fahrt kostet für beide Verkehrsmittel einheitlich 12 Rubel (umgerechnet knapp 0,30 Euro), wobei beim Umsteigen allerdings ein neues Ticket gelöst werden muss. Ein Ticketkauf vor Fahrtantritt ist nicht erforderlich, da in jedem Waggon immer eine Schaffnerin mitfährt. Das innerstädtische ÖPNV-Angebot wird durch Linienbusse und Linientaxis ergänzt, wobei hier sowohl städtische Verkehrsbetriebe als auch konzessionierte private Anbieter aktiv sind. Die Fahrpreise innerhalb der Stadt entsprechen denen für Straßenbahn und Trolleybus, bei Linientaxis können sie geringfügig höher sein. Die Busse spielen auch eine wichtige Rolle im Vorort- und Überlandverkehr. Viele von ihnen fahren vom zentralen Busbahnhof ab, der sich in der Nähe des Bahnhofs Jaroslawl-Moskowski befindet. Sonstiger Verkehr Jaroslawl ist Knotenpunkt mehrerer Autostraßen, von denen die wichtigste die direkt durch das Stadtgebiet Jaroslawls führende Fernmagistrale M8 „Cholmogory“ ist. Sie beginnt in Moskau und verläuft bis Jaroslawl ungefähr parallel zur Transsibirischen Eisenbahn. Weiter nördlich überquert sie die Wolga und führt über Danilow und Wologda in die nordwestrussische Oblast Archangelsk, darunter in deren Hauptstadt Archangelsk und in den für die Straße namensgebenden Ort Cholmogory. Im Bereich von Jaroslawl zweigt eine Nebenstrecke der M8 in das benachbarte Oblastzentrum Kostroma ab, die als Fernstraße föderaler Bedeutung R600 (bis 2010 A113) nach Iwanowo, Endpunkt einer Zweigstrecke der M7 „Wolga“ ab Wladimir, führt. Die Gesamtlänge der Straßen im Stadtgebiet Jaroslawls beträgt 611,4 km. Im Stadtzentrum gilt die Straße Uliza Swobody (russ. , zu deutsch „Straße der Freiheit“) als Hauptverkehrsader. Sie beginnt in der Altstadt am Wolkow-Platz, wo das Gebäude des Wolkow-Theaters steht, verläuft rund zwei Kilometer Richtung Westen und endet am Vorplatz des Bahnhofs Jaroslawl-Glawny. Es gibt im Stadtgebiet drei Straßenbrücken über die Kotorosl und zwei über die Wolga; von den beiden Wolgabrücken wurde die erste (auch Oktoberbrücke () genannt) 1966 fertiggestellt, die zweite (Jubiläumsbrücke ()) folgte 2006. Im Schiffsverkehr hat Jaroslawl seit 1948 einen kleinen Binnenhafen für Frachtschiffe an der Wolga im Süden der Stadt. Nahe dem historischen Stadtzentrum befindet sich an der Wolgapromenade zudem der sogenannte Flussbahnhof (), bestehend aus dem Empfangsgebäude ähnlich einer gewöhnlichen Bahnhofshalle sowie mehreren Anlegestellen für Schiffe. Gegenwärtig werden diese Anlegestellen vorwiegend von Kreuzfahrtschiffen genutzt. Zu Sowjetzeiten und bis in die 1990er-Jahre hinein führten vom bzw. über den Flussbahnhof Jaroslawls in den Frühjahrs-, Sommer- und Herbstmonaten viele Linien von Fahrgastschiffen und den schnellen Tragflächenbooten „Meteor“ und „Raketa“, darunter auch in weit entfernte Wolgastädte wie Uljanowsk oder Astrachan. Inzwischen sind jedoch die meisten dieser Linien eingestellt worden, so dass Linienschiffe praktisch nur noch nah gelegene Ziele wie Tutajew oder Rybinsk ansteuern. Es gibt nahe Jaroslawl auch einen kleinen Passagierflughafen (Flughafen Tunoschna), der zwar den Status eines internationalen Flughafens besitzt, faktisch jedoch lediglich saisonale Inlandsverbindungen (regelmäßig nur Flüge von und nach Moskau-Domodedowo und Sankt Petersburg) bietet. Medien 1784 ging in Jaroslawl die erste Druckerei in Betrieb, bereits zwei Jahre später erschien in der Stadt erstmals eine lokale gedruckte Zeitschrift, und ab 1831 wurde dort regelmäßig das Nachrichtenblatt Gubernskije Westi gedruckt. Gegenwärtig werden in Jaroslawl rund 40 Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben, zu denen sowohl rein lokale Blätter als auch Regionalausgaben gesamtrussischer Zeitungen zählen. Zu den bekanntesten gehören die lokale Tageszeitung Sewerny Krai und die Wochenblätter Jaroslawskije Nowosti und Jaroslawskaja Nedelja, ferner die Jaroslawler Ausgaben der Moskauer Zeitungen Komsomolskaja Prawda und Argumenty i Fakty. In Jaroslawl und Umgebung sind weitgehend alle Hörfunk- und Fernsehsender zu empfangen, die ihr Programm auf Zentralrussland ausstrahlen. Dabei besitzt der staatliche Fernsehsender Rossija 1 mit Jaroslawija einen Filialbetrieb in Jaroslawl und strahlt regelmäßige lokale Nachrichtensendungen auf den Großraum Jaroslawl aus. Ergänzend können in der Region drei weitere lokale Fernsehsender empfangen werden. Nachrichten aus Jaroslawl und dem Umland bieten auch Internet-Dienste aus der Region, darunter die Agentur YarLand und das Portal Yarcom.ru. Bildung Ein wesentlicher Bestandteil der Bildungsinfrastruktur Jaroslawls sind rund 90 allgemeinbildende Schulen und Gymnasien, über 20 Fach- und Sportschulen und rund 30 technische Berufsschulen. Außerdem ist Jaroslawl ein Hochschulstandort und zählt neun eigenständige weiterführende Bildungseinrichtungen mit insgesamt knapp 23.000 Studierenden. Die älteste und bekannteste Hochschule der Stadt ist die Staatliche Universität Jaroslawl, die 1803 vom Großindustriellen Pawel Demidow als Lehranstalt für Höhere Wissenschaften gestiftet wurde und heute seinen Namen trägt. Im 19. Jahrhundert stellte die Hochschule eine reine Juristenschmiede dar, nach der Oktoberrevolution wurde sie zunächst in eine Volluniversität umgewandelt, später jedoch aufgelöst und erst 1970 neu gegründet. Heute besteht sie aus neun Fakultäten, an denen insgesamt rund 7000 Studenten eingeschrieben sind. Weiterhin verfügt Jaroslawl über eine eigene Staatliche Technische Universität, die 1944 gegründet wurde und ursprünglich vornehmlich als technologische Kaderschmiede für die petrochemische und Kautschuk-Industrie der Stadt diente. Heute hat sie acht Fakultäten mit über 5000 Studierenden und unterhält internationale Kooperationsbeziehungen, auch zu deutschen Hochschulen. Ergänzt wird die Universitätslandschaft Jaroslawls durch die Staatliche Pädagogische Universität, die 1908 als Jaroslawler Lehrer-Institut gegründet wurde und heute den Namen des bekannten Pädagogen Konstantin Uschinski trägt. Weitere Hochschulen der Stadt sind die Staatliche Medizinische Akademie Jaroslawl, die Staatliche Landwirtschaftliche Akademie Jaroslawl, das Staatliche Institut für Theaterkunst Jaroslawl, das Flugabwehrinstitut Jaroslawl, die Internationale Akademie für Business und neue Technologien sowie die Jaroslawler Geistliche Akademie. Darüber hinaus existieren in der Stadt mehrere Filialen und Einrichtungen von Hochschulen aus anderen Regionen Russlands (darunter die Offene Akademie für Verkehrswesen der Staatlichen Universität für Verkehrswesen Moskau). Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Iwan Afanassjewitsch Dmitrewski (1734–1821), Schauspieler, Übersetzer, Dramatiker und Theaterlehrer Semjon Bobrow (1763/1765–1810), Dichter und Beamter Peter von Oldenburg (1812–1881), Prinz aus dem Haus Oldenburg Ismail Sresnewski (1812–1880), Philologe, Paläograph, Slawist und Ethnograph Alexander Ljapunow (1857–1918), Mathematiker und Physiker Sergei Ljapunow (1859–1924), Komponist und Pianist Konstantin Satunin (1863–1915), Zoologe Iwan Sokolow (1867–1947), Metallurg und Hochschullehrer Michail Kusmin (1872–1936), Autor und Komponist Leonid Sobinow (1872–1934), Opernsänger Nikolai Newski (1892–1945), Forscher des Brauchtums in Japan und China Michail Wiktorow (1892–1938), Oberkommandierender der sowjetischen Seekriegsflotte Ilja Oschanin (1900–1982), Sprachwissenschaftler und Sinologe Bonifati Kedrow (1903–1985), Philosoph und Wissenschaftshistoriker Tichon Rabotnow (1904–2000), Geobotaniker Waleri Borog (1907–2000), Luftfahrtingenieur Alexander Dodonow (1907–1994), Pilot Juri Ljubimow (1917–2014), Schauspieler, Theatergründer und -regisseur Weniamin Basner (1925–1996), Komponist und Violinist Soja Abramowa (1925–2013), Prähistorikerin, Archäologin und Hochschullehrerin Pawel Koltschin (1930–2010), Skilangläufer Juwenali Pojarkow (* 1935), russisch-orthodoxer Erzbischof Waleri Tarakanow (* 1941), Skilangläufer Andrei Chomutow (* 1961), Eishockeytrainer Oleg Kisseljow (* 1967), Handballspieler und -trainer Maxim Tarassow (* 1970), Stabhochspringer Alexei Kostygow (* 1973), Handballspieler Wjatscheslaw Posdnjakow (* 1978), Fechter Alexei Sagorny (* 1978), Hammerwerfer Tatjana Andrianowa (* 1979), Mittelstreckenläuferin Alexander Schibajew (* 1990), Tischtennisspieler Anastassija Galaschina (* 1997), Sportschützin Iwan Proworow (* 1997), Eishockeyspieler Ljubow Nikitina (* 1999), Freestyle-Skierin Wladislaw Schitow (* 2003), Fußballspieler Bekannte Ehrenbürger Walentina Tereschkowa (* 1937), Kosmonautin, erste Frau im Weltall; ging in Jaroslawl zur Schule und arbeitete in den 1950er-Jahren im Jaroslawler Reifenwerk und in der Textilfabrik Krasny Perekop Tichon (Patriarch) (1865–1925), Patriarch von Moskau ab 1917; war 1907–1913 Erzbischof von Jaroslawl Sonstiges Jaroslawl ist auf dem 2001 in Umlauf gebrachten 1000-Rubel-Schein abgebildet und gehört damit zu den sieben Städten Russlands, die auf nationalen Banknoten verewigt wurden. Auf der Vorderseite des Geldscheins ist das Erlöser-Verklärungs-Kloster mit einer Gedenkkapelle und dem 1993 aufgestellten Denkmal für Jaroslaw den Weisen zu sehen, das Motiv der Rückseite besteht aus der Abbildung der Johannes-der-Täufer-Kirche zu Toltschkowo und des dortigen Glockenturms. Literatur Weblinks Offizielle Website der Stadt Jaroslawl (russisch, englisch) (russisch) Stadtansichten vom Anfang des 20. und des 21. Jahrhunderts (russisch) Verzeichnis der Jaroslawl-Organisationen (russisch) Jaroslawl und die Städte des Goldenen Rings Einzelnachweise Ort in der Oblast Jaroslawl Ort an der Wolga Ehemalige Hauptstadt (Russland) Hochschul- oder Universitätsstadt in Russland Gegründet 1010 Hauptstadt eines Föderationssubjekts Russlands Welterbestätte in Europa Welterbestätte in Russland Weltkulturerbestätte Ort mit Binnenhafen Jaroslaw der Weise
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https://de.wikipedia.org/wiki/New%20Deal
New Deal
Der New Deal (amerikanisches Englisch: []) war eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Franklin Delano Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchgesetzt wurden. Er stellt einen großen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der Vereinigten Staaten dar. Die zahlreichen Maßnahmen wurden von Historikern unterteilt in solche, die kurzfristig die Not lindern sollten ( ‚Erleichterung‘), in Maßnahmen, welche die Wirtschaft beleben sollten (recovery ‚Erholung‘), und in langfristige Maßnahmen (reform ‚Reform‘). Unter relief fielen die Hilfen für die zahlreichen Arbeitslosen und Armen, unter recovery unter anderem die Änderung der Geldpolitik und unter reform zum Beispiel die Regulierung der Finanzmärkte und die Einführung von Sozialversicherungen. Die Frage, wie erfolgreich der New Deal war, ist bis heute umstritten. Der desolate Zustand der amerikanischen Wirtschaft konnte überwunden werden, andererseits wurde erst 1941 Vollbeschäftigung erreicht. Mit dem Social Security Act von 1935 wurde der Grundstein des amerikanischen Sozialstaates gelegt, soziale Sicherheit für alle und eine „gerechte“ Einkommens- und Vermögensverteilung wurden jedoch nicht erreicht. Unbestritten ist, dass der Staat mit seiner massiven Interventionspolitik einer entmutigten und desorientierten Nation neue Hoffnung gab. Anders als im Deutschen Reich und in vielen anderen Ländern konnte die Demokratie in den Vereinigten Staaten während der Weltwirtschaftskrise bewahrt werden. Die Marktwirtschaft wurde gerettet, indem vor allem durch Regulierung des Bankensystems und des Wertpapierhandels eine stabilere Wirtschaftsordnung geschaffen wurde. Seit dem New Deal wird Liberalismus in den Vereinigten Staaten eher mit einer arbeitnehmerfreundlichen Politik als mit der Verteidigung unternehmerischer Freiheit assoziiert. Als „liberals“ gelten seit den 1960er Jahren solche Bürger und Politiker, die sich auf die Tradition des New Deal berufen, eine arbeitnehmerfreundliche Politik betreiben und für die Erweiterung der Bürgerrechte eintreten. New Deal ist eine Redewendung der englischen Sprache und bedeutet so viel wie „Neuverteilung der Karten“. Roosevelt verwandte die Redewendung im Präsidentschaftswahlkampf von 1932 zunächst nur als suggestiven Slogan. New Deal setzte sich dann in der Folgezeit als Begriff zur Bezeichnung der Wirtschafts- und Sozialreformen durch. Vorgeschichte (1929–1933) Finanz- und Wirtschaftskrise Beginnend mit dem Börsencrash von 1929 (Schwarzer Donnerstag) entwickelte sich die Weltwirtschaftskrise, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1932/33 erreichte. Neben dem Deutschen Reich gehörten die Vereinigten Staaten zu den am schwersten betroffenen Ländern. Von 1929 auf 1933 hatte sich das Bruttoinlandsprodukt beinahe halbiert. Infolge der Finanzkrise mussten 40 % der Banken (9.490 von ursprünglich 23.697 Banken) wegen Insolvenz aufgelöst werden. Der landwirtschaftliche Sektor befand sich ebenfalls in einer Krise, eine große Zahl von Landwirten konnte die Kreditzinsen nicht mehr zahlen. Zusätzlich wurden die Great Plains von 1930 bis 1938 von der Dust-Bowl-Periode heimgesucht, in der viele Dörfer und Farmen unter Staub begraben wurden. Infolge des Dust Bowl mussten 2,5 Millionen Menschen ihre Farmen aufgeben. Die Arbeitslosenquote stieg von 3 % im Jahr 1929 auf 24,9 % im Jahr 1933. Viele Firmen versuchten durch Arbeitszeitkürzungen Entlassungen zu vermeiden. Im Jahr 1931 musste jeder dritte Arbeitnehmer unter hohen Lohnkürzungen mit Teilzeitarbeit auskommen. Damals gab es in den Vereinigten Staaten noch kein soziales Sicherheitsnetz, vor allem keine öffentliche Arbeitslosenversicherung und keine öffentliche Rentenversicherung. Einige Arbeitgeber und Gewerkschaften hatten zwar für ihre Arbeiter private Arbeitslosenversicherungen abgeschlossen, dieser Versicherungsschutz betraf aber weniger als 1 % der Arbeiter und Angestellten. Es gab auch noch keinen Einlagensicherungsfonds. Als Tausende von Banken in Insolvenz fielen, verloren viele Bürger all ihre Ersparnisse. Da die Bundesstaaten und die Städte rechtlich verpflichtet waren, jedes Jahr für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen, reagierten sie auf den in der Krise stark angestiegenen Bedarf an Sozialhilfe zumeist mit Absenkung des Sozialhilfeniveaus, so dass Sozialhilfe nur den Ärmsten der Armen gewährt wurde. Im Jahr 1932 erhielt nur ein Viertel aller Arbeitslosen und ihrer Familien staatliche Unterstützung. Dabei orientierte sich die Sozialhilfe in den meisten Städten am physischen Existenzminimum, in Philadelphia beispielsweise musste die Unterstützung auf ein Niveau gekürzt werden, mit dem nur noch zwei Drittel der zur Gesundheitserhaltung notwendigen Nahrungsmenge gekauft werden konnte. Trotz einer erheblichen Überproduktion an Lebensmitteln herrschte in vielen Teilen des Landes Hungersnot, vereinzelt gab es Hungertote. In vielen Städten entstanden Elendsviertel, die nach dem amtierenden Präsidenten als Hooverville bezeichnet wurden. Reaktion der Regierung Hoover Präsident Herbert Hoover befürwortete als Libertärer eine größtmögliche staatliche Zurückhaltung in Bezug auf die Regulierung der Wirtschaft und setzte auf das Prinzip der Selbsthilfe der Bürger. Er hoffte zunächst, dass die Krise von selbst ein Ende finden werde. Ab Oktober 1930 versuchte er, die Situation der Arbeitslosen und ihrer Familien durch Gründung privater Hilfsorganisationen zu lindern. Das President's Emergency Committee for Employment und seine Nachfolgeorganisation, die President's Organization on Unemployment Relief sammelten private Spenden, die an Bedürftige verteilt wurden. Den Organisationen gelang es zwar, die Summe der Privatspenden zu erhöhen, als Mittel zur Linderung der Not waren diese Summen jedoch bei weitem nicht ausreichend. Nachdem sich die Krise in ihrem dritten Jahr (1931) erheblich verschärft hatte, wechselte Hoover die Strategie und eröffnete eine Phase des Experimentierens, um nach möglichen Lösungen zu suchen. Im Präsidentschaftswahlkampf von 1932 erklärte er die Wiederherstellung des Vertrauens in die Wirtschaftskraft des Landes zum größten Problem. Dieses stelle sich am sichersten wieder ein, wenn der Staat wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen könne. Der Revenue Act von 1932 brachte eine deutliche Steuererhöhung. Damit wollte Hoover sicherstellen, dass der Staat keine Kredite mehr aufnehmen musste und somit auch nicht mehr mit Privaten konkurrierte, die verzweifelt um Kredite nachsuchten. Unter Wahrung der Doktrin staatlicher Nichteinmischung in die Wirtschaft versuchte er, die Unternehmen zu privaten Initiativen gegen die Rezession zu bewegen (Voluntarismus). Solche Initiativen, wie zum Beispiel die National Credit Association, mit der starke Banken schwache stützen sollten, scheiterten jedoch. Aufgrund dieser Erfahrungen kam Hoover in seinem letzten Regierungsjahr zu der Erkenntnis, dass freiwillige Lösungen nicht ausreichten. Mit Gründung der Reconstruction Finance Corporation machte er Bankenrettungen schließlich zur Staatsaufgabe. Die im Kongress erfolgreiche Gesetzesinitiative von Robert F. Wagner zur Einführung einer öffentlichen Arbeitslosenversicherung verhinderte er, indem er als Präsident ein Veto einlegte. Widerstrebend unterzeichnete er ein vom Kongress als Kompromiss verabschiedetes Gesetz, das Arbeitsbeschaffungsprogramme mit einem Volumen von 1,5 Milliarden Dollar schuf. Das Geld wurde unter anderem für die Errichtung des Hoover Dam eingesetzt. Roosevelts Wahlkampf (1932) Franklin D. Roosevelts politisches Programm blieb im Wahlkampf unscharf und unklar, seine generelle Haltung war jedoch allgemein bekannt. Wie sein Cousin Theodore Roosevelt, der von 1901 bis 1909 Präsident der Vereinigten Staaten gewesen war, war auch er ein Progressiver. Seiner Ansicht nach sollte der Staat überall da eingreifen, wo es im öffentlichen Interesse notwendig war. Sein Bestreben ging dahin, der Mittel- und Unterschicht der Gesellschaft ein Mindestmaß an ökonomischer Sicherheit zu gewährleisten, eine Sicherheit, die für die Oberschicht selbstverständlich war, der Roosevelt als „Patrizier“ von Geburt an angehörte. Als Gouverneur von New York hatte er als einer der ersten mit einem beherzten Notprogramm auf die Depression reagiert und öffentliche Arbeitsprogramme geschaffen. Damit konnte er sich im Wahlkampf als klare Alternative zu Hoover präsentieren. Bei seiner Nominierungsrede 1932 sprach er zum ersten Mal von einem „New Deal“: Wie Hoover wollte er das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts nicht aufgeben. Er sprach sich dafür aus, die Steuern deutlich zu erhöhen, damit das Existenzminimum eines jeden Bürgers gesichert werden könne. Er war der Ansicht, dass das tiefere Problem in einer zu ungleichen Verteilung der Kaufkraft – gepaart mit einem Übermaß an spekulativen Investitionen – liege. Am 2. Juli 1932, dem Tag seiner Nominierung als demokratischer Präsidentschaftskandidat, versprach Roosevelt einen „new deal for the American people“, ein Begriff, der sich später zur Bezeichnung der von ihm durchgeführten Reformen durchsetzte. Der Brain Trust Im Wahlkampf 1932 stellte Roosevelt erstmals seinen Brain Trust vor. Es handelte sich um eine offene Gruppe von Wirtschafts- und Rechtsexperten, die Roosevelt beraten sollten. Gründungsmitglieder waren der Professor für Rechtswissenschaft Raymond Moley, der Ökonom Rexford Tugwell, der Professor für Rechtswissenschaft Adolf Augustus Berle, der Richter Samuel Rosenman, der Rechtsanwalt Basil O’Connor und der General Hugh S. Johnson. Diese Berater waren sich nicht in allen Fragen einig, es bestand aber Konsens in der grundsätzlichen Richtung der politischen Empfehlungen. Erstens gingen sie davon aus, dass sowohl die Gründe für die Depression als auch die Mittel dagegen in den Vereinigten Staaten selbst zu finden waren. Damit unterschieden sie sich von der Regierung Hoover, welche die Ursachen in Europa sah und einen Teil der Lösung in Protektionismus. Tugwell erklärte die Ursache der Großen Depression im Sinne der Unterkonsumtionstheorie damit, dass die Lohnzuwächse in den 1920er Jahren unter dem Produktivitätszuwachs geblieben seien, so dass den produzierten Gütern keine ausreichende Nachfrage mehr gegenüberstand. Diese Analyse beeinflusste auch einige Reden Roosevelts. Zweitens waren sie alle Progressive; sie gingen davon aus, dass die Konzentration von wirtschaftlicher Macht in großen Konzernen eine Verstärkung der staatlichen Regulierung erforderlich machte. Insbesondere Berle und Tugwell hatten sich intensiv mit Wettbewerbsrecht und insbesondere Kartellrecht befasst. Für die spätere Phase, den Second New Deal, wurden auch die stärker in der Tradition der Anti-Trust-Gesetzgebung zur Entflechtung von Trusts stehenden Felix Frankfurter und Louis Brandeis einflussreich. Am 22. Februar 1933 bat Roosevelt die engagierte Sozialpolitikerin Frances Perkins, das Arbeitsministerium zu übernehmen. Sie stimmte unter der Bedingung zu, dass sie sich für ein Verbot von Kinderarbeit, die Schaffung einer Rentenversicherung und die Einführung von Mindestlöhnen einsetzen durfte. Roosevelt willigte ein, betonte jedoch, dass sie nicht sehr viel Hilfe von ihm erwarten könne. Sie wurde der erste weibliche Minister der Vereinigten Staaten und gehörte zu den wenigen Ministern, die über drei Legislaturperioden im Amt waren. Mit Unterstützung insbesondere durch Robert F. Wagner gelang ihr gegen erhebliche Widerstände die Grundsteinlegung des amerikanischen Sozialstaates. Entwicklung des New Deal Historiker unterscheiden eine erste Phase („First New Deal“ – 1933 bis 1934) und eine zweite Phase („Second New Deal“ – 1935 bis 1938). Der „First New Deal“ befasste sich mit den dringlichsten wirtschaftlichen und sozialen Problemen der krisengeschüttelten Wirtschaft. Der „Second New Deal“ umfasste überwiegend längerfristige Maßnahmen. Eine weitere geläufige Unterteilung ist die Einteilung in Maßnahmen, welche die soziale Situation der Menschen kurzfristig etwas erträglicher machen sollten (relief), in solche die eine wirtschaftliche Erholung herbeiführen sollten (recovery) und in Maßnahmen die längerfristig durch strukturelle Veränderungen eine Besserung herbeiführen sollten (reform). First New Deal (1933–1934) 100-Tage-Programm Nach dem Gewinn der Präsidentschaftswahl von 1932 trat Roosevelt am 4. März 1933 das Amt an. Zu diesem Zeitpunkt fürchteten die Bürger, dass alle Versuche, die Krise zu überwinden, an dem politischen System der Vereinigten Staaten scheitern könnten, in dem jede Initiative aufgrund der amerikanischen Ausprägung der Checks and Balances sehr stark von Kooperation abhängig ist. Der einflussreiche Journalist Walter Lippmann sah damals die größte Gefahr weniger darin, dass der Kongress Roosevelt zu viel Macht geben könnte, als vielmehr darin, dass ihm die nötige Unterstützung versagt würde. Diese Befürchtungen waren aber grundlos. In einer ersten Sondersitzungsperiode des 73. Kongresses vom 9. März bis zum 15. Juni, dem sogenannten „100-Tage-Programm“, gelang es Roosevelt, eine Reihe von grundlegenden Gesetzen zu verabschieden. Aufgrund der allgemeinen Sehnsucht nach einem Ende der Krise konnte Roosevelt das 100-Tage-Programm in einem beispiellosen Klima der überparteilichen Zustimmung abarbeiten. Dies gab den US-Bürgern neues Selbstvertrauen, die Vereinigten Staaten erholten sich nach dem Beinahezusammenbruch wieder. Reform des Bankensystems Von 1929 an wurde das US-Finanzsystem durch Bank Runs destabilisiert. Diese entstanden, weil bekannt wurde, dass viele Banken faule Kredite angehäuft bzw. im Investmentbanking hohe Verluste gemacht hatten. Aus Angst um ihr Vermögen versuchten daraufhin viele Bankkunden, ihre Bankeinlagen abzuheben, was zu Zahlungsunfähigkeit und Bankrott von Banken führte, weil sie längerfristig angelegtes Geld nicht sofort verfügbar machen konnten. Bank Runs entstanden oft auf Basis von Gerüchten, so dass auch relativ gesunde Banken Opfer einer solchen Entwicklung werden konnten. Dadurch, dass immer mehr Bürger ihr Geld vorsorglich zuhause horteten, stand den Banken insgesamt auch immer weniger Geld zur Verfügung. Hieraus entwickelte sich eine Kreditknappheit, welche die Vergabe oder Verlängerung von Privat- und Firmenkrediten vielfach unmöglich machte. Dadurch gerieten sehr viele Privatleute und Firmen in den Bankrott, was wiederum die Bankenkrise verschärfte und der Realwirtschaft einen großen Schaden zufügte. Der durch den Zusammenbruch des Bankensystems verursachte wirtschaftliche Schaden war ein wesentlicher Grund für die außergewöhnliche Länge und Schwere der Großen Depression. Als Maßnahme gegen die Bank Runs hatte bereits Hoover den Bank Holiday geplant, dann aber verworfen, weil er befürchtete, dadurch eine Panik auszulösen. Roosevelt hingegen hielt über das Radio verbreitet eine Ansprache, die in der Atmosphäre eines Kamingesprächs gehalten war, und erklärte der Bevölkerung in einfachen Worten die Ursachen der Bankenkrise, was die Regierung dagegen tun werde und wie die Bevölkerung helfen könne. Bereits zwei Tage nach Roosevelts Amtsübernahme, am 6. März 1933, wurden alle Banken angewiesen, für vier Tage zu schließen (Bank Holiday). In dieser Zeit wurde geprüft, welche Banken durch staatliche Kreditvergabe gerettet werden konnten und welche für immer schließen mussten. In dieser Zeit wurde auch die Emergency Banking Bill verabschiedet, mit der die Banken zukünftig unter Aufsicht des United States Department of the Treasury gestellt wurden. So gelang es, das Vertrauen der Bürger in das Bankensystem kurzfristig wiederherzustellen: Unmittelbar nach Wiedereröffnung der Banken erhöhte sich der Einlagenbestand um eine Milliarde Dollar. Als weitere Gründe für die Bankenkrise sah der Gesetzgeber neben den Bank Runs das hohe Engagement vieler Banken in volatilen Wertpapieren, die mit dem plötzlichen Wertverfall im Zuge des Börsencrashs von 1929 existenzbedrohende Verluste verursacht hatten. Weiterhin hatten die Banken in den 1920er Jahren außergewöhnlich viele riskante Kredite vergeben. Es wurde vermutet, dass die hohe Risikobereitschaft vieler Banken auch darin begründet war, dass diese Wertpapiere niedriger Qualität, insbesondere Kreditverschreibungen mit hohem Ausfallrisiko, an weniger gut informierte Bankkunden verkauft werden konnten. Dem vermuteten bankinternen Interessenskonflikt, einerseits die Kunden gut zu beraten und andererseits mit eigenen Wertpapiergeschäften möglichst hohe Gewinne zu erzielen, wollte der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben. Nach der Wiedereröffnung der Banken wurde der Glass-Steagall Act verabschiedet. Mit diesem Gesetz wurde das Trennbankensystem eingeführt. Geschäftsbanken wurden riskante Wertpapiergeschäfte verboten. Das für die Realwirtschaft bedeutsame Kredit- und Einlagengeschäft der Geschäftsbanken sollte so von risikoträchtigen Wertpapiergeschäften getrennt werden, die zukünftig spezialisierten Investmentbanken vorbehalten blieben. Weiterhin wurde die Federal Deposit Insurance Corporation gegründet. Dieser Einlagensicherungsfonds garantierte den Bankkunden eine Auszahlung der Bankeinlagen im Falle eines eventuellen Bankrotts einer Geschäftsbank. (Investmentbanken waren hingegen von dieser staatlichen Garantie ausgeschlossen). Diese Maßnahmen stärkten das Vertrauen in das Finanzsystem weiter. In der Folgezeit kam es zu keinen weiteren Bank Runs mehr. Auch brachten die Regelungen dem amerikanischen Bankensystem eine nie da gewesene Stabilität: Während selbst in der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise mehr als fünfhundert Banken pro Jahr zusammenbrachen, waren es nach 1933 weniger als zehn pro Jahr. Der Glass-Steagall Act wurde 1999 aufgehoben, erlebte aber in der Finanzkrise ab 2007 eine Renaissance. Finanzmarktregulierung Vor 1933 wurden an der Wall Street Wertpapiere gehandelt, über die keine zuverlässigen Informationen verfügbar waren. Viele Unternehmen verzichteten darauf, regelmäßig Geschäftsberichte zu publizieren, oder publizierten auch nur ausgewählte Daten, welche die Anleger eher irreführten. Um die Art von wilden Spekulationen zu unterbinden, die zu dem Börsencrash von 1929 geführt hatten, wurde der Securities Act of 1933 erlassen. Mit diesem Gesetz wurden Wertpapier-Emittenten verpflichtet, realistische Informationen über ihre Wertpapiere herauszugeben. 1934 wurde die Securities and Exchange Commission (SEC) geschaffen, welche seither die Aufsicht über die US-Wertpapiergeschäfte führt. Diese Maßnahmen stärkten die Glaubwürdigkeit der Wall Street. Geldpolitik Aufgrund des damals bestehenden Goldstandards, also der Bindung des Dollar an den Goldpreis, musste die amerikanische Notenbank FED so viel Gold halten, dass jeder Bürger jederzeit seine Dollars in eine äquivalente Goldmenge tauschen konnte. Die FED hätte in den Jahren der Rezession (1929–1933) eine expansive Geldpolitik verfolgen müssen, um die Deflation zu bekämpfen und das Bankensystem zu stabilisieren. Aufgrund des Goldautomatismus war eine antizyklische Geldpolitik aber nicht möglich, denn eine Senkung des Leitzinses hätte zu einem relativen Rückgang der Goldreserven geführt. Die FED hatte nur die Wahl, entweder der Deflation und der Bankenkrise freien Lauf zu lassen oder den Goldstandard zugunsten einer expansiven Geldpolitik aufzugeben, und entschied sich für ersteres. Nach monetaristischer Analyse der 1960er Jahre vertiefte die Kontraktion der Geldmenge die Rezession, die Reaktion der FED gilt heute als schwerer Fehler. Dieser Zusammenhang war in den 1930er Jahren allerdings noch unzureichend bekannt, erste Kritik an den Auswirkungen des Goldstandards kamen seinerzeit von Wirtschaftswissenschaftlern wie John Maynard Keynes. Um die Deflation zu beenden und die Geldmenge auszuweiten, ergriff die Regierung Roosevelt Maßnahmen, die bereits in Europa erfolgreich angewandt worden waren. Die Ausfuhr und privater Besitz von Gold und Silber wurden verboten, größerer Goldbesitz musste an die FED für $20,67 je Unze verkauft werden (Executive Order 6102). Mit dem Gold Reserve Act von 1934 wurde der Goldpreis (weit über dem Marktpreis) bei $35 je Unze festgesetzt. Da die Unze Gold nun mehr Dollar kostete, führte die Erhöhung des Goldpreises zu einer Abwertung des Dollar auf 59 % seines letzten offiziellen Wertes. Die Abwertung des Dollar bewirkte, dass Ausländer 15 % mehr amerikanische Güter kaufen konnten, der Export wurde so gefördert (Beggar thy neighbour). Durch diese Maßnahmen kam es zu einer faktischen Abkehr vom Goldstandard. Maßnahmen gegen die Deflation Die Idee, die Unternehmer auf freiwilliger Basis zu dem Verzicht auf unfaire Preisunterbietungen und die Entlassung von Arbeitnehmern zu verpflichten, stammte ursprünglich von Präsident Hoover. Dieser wollte auf die Art die Deflation bekämpfen. Diese Idee wurde von Roosevelt aufgegriffen, sollte aber erheblich konsequenter umgesetzt werden. Hierzu wurde im Juni 1933 die National Recovery Administration (NRA) gegründet. Geführt wurde sie von Hugh S. Johnson. Die NRA erarbeitete in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsvertretern einen Verhaltenskatalog, auf den sich Unternehmer freiwillig verpflichten konnten. Dazu gehörten der Verzicht auf unfairen (Preis-)Wettbewerb, Mindestpreise, Mindestlöhne, die Anerkennung von Gewerkschaften, die Einführung der 40-Stunden-Woche etc. Durch diesen Verhaltenskatalog sollte die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften gestärkt und der marktwirtschaftliche Wettbewerb kontrolliert werden. Der Hintergedanke war, dass dadurch Preise und Löhne stabilisiert und die Deflation folglich eingedämmt werde. Dies sollte die Unternehmen in die Lage versetzen, wieder Arbeitnehmer einzustellen. Allerdings war die Selbstverpflichtung faktisch nicht ganz freiwillig. Die Teilnehmer an dem Programm durften in ihren Schaufenstern und auf ihren Waren mit dem Blue Eagle, dem Symbol der NRA, werben. Unternehmen, die mit diesem Symbol nicht werben konnten, gerieten in die Gefahr, von Kunden boykottiert zu werden. Auch beschwerten sich viele kleinere Firmen, dass es für größere Firmen viel leichter sei den Mindestlohn zu zahlen. Kurz vor Auslaufen des auf zwei Jahre befristeten Programms wurde die NRA 1935 vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten für verfassungswidrig erklärt und musste die Tätigkeit einstellen. Die Einkommen der Landwirte waren seit Mitte der 1920er Jahre kontinuierlich gefallen, allein zwischen 1929 und 1933 um 60 %. Im Kongress waren schon seit längerem etliche Hilfsmaßnahmen konzipiert worden, z. B. die Subvention von Exporten. Herbert Hoover hatte die Bildung von Genossenschaften zur Reduzierung der Investitionskosten und der laufenden Kosten angeregt, wieder andere hatten den staatlichen Ankauf und die Vernichtung von Lebensmitteln vorgeschlagen. Roosevelt wollte ähnlich wie in der Industrie auch in der Landwirtschaft den Preisverfall stoppen. Es wurden Beihilfen für Landwirte beschlossen, die ihre Produktion verringerten. Dadurch sollten die Preise für landwirtschaftliche Produkte stabilisiert werden. Die US-Regierung gewährte den Farmern dafür Geldmittel aus dem Agricultural Adjustment Act (AAA) vom 12. Mai 1933. Urheber dieser Idee war Rexford Tugwell, der damit argumentierte, dass die Verhinderung von Überproduktion für den Staat billiger sei, als ein späterer Ankauf und die Vernichtung überschüssiger Lebensmittel. Die Preise stabilisierten sich bald. Ein unerwünschter Nebeneffekt der Maßnahme war jedoch, dass Großgrundbesitzer die Produktivität ihres landwirtschaftlichen Betriebes erhöhten, indem sie Pächtern kündigten. Der AAA wurde 1936 vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ebenfalls für verfassungswidrig erklärt. Auch weil das Gesetz bei der ländlichen Bevölkerung sehr populär war, wurde der AAA hinsichtlich der Einwände des Obersten Gerichtshofs reformiert und neu verabschiedet. Er besteht im Wesentlichen noch heute. Sonstige Hilfen für Landwirte Die Schuldenkrise der Landwirte sollte mit dem Emergency Farm Mortgage Act gelindert werden. Die 1933 gegründete Farm Credit Administration organisierte die Umschuldung in längerfristige zinsgünstige Kredite. Die 1935 gegründete Resettlement Administration organisierte die Umsiedlung von Farmern, insbesondere solchen aus den vom Dust Bowl besonders betroffenen Regionen. Sie wurde 1937 durch die Farm Security Administration ersetzt, die Hilfen für in Not geratene Landwirte leistete. Sozialpolitik Entsprechend der Haltung der meisten US-Bürger war auch die Roosevelt-Regierung der Ansicht, dass es für die Arbeitsmoral besser sei, Arbeitslosenunterstützung durch bezahlte Arbeit zu leisten. Aufgrund der sehr hohen Arbeitslosigkeit wurden Arbeitsbeschaffungsprogramme aufgelegt, welche die Situation kurzfristig erleichtern sollten (Relief). Durch Gründung des Civilian Conservation Corps (CCC) wurde für arbeitslose junge Männer im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, deren Familien Sozialhilfe empfingen, Arbeitsplätze geschaffen. Der CCC wurde zu Aufforstungen, zur Bekämpfung von Waldbränden, zum Bau von Straßen und zur Bekämpfung von Bodenerosion eingesetzt. Bis 1942 beschäftigte der CCC insgesamt 2,9 Millionen junge Männer. Für die US-Bürger, denen keine Arbeit durch den CCC angeboten werden konnte, wurde die Federal Emergency Relief Administration gegründet, welche die von den Bundesstaaten gezahlte Sozialhilfe um ein Drittel aufstockte. In Bezug auf die vom progressiven Flügel der Demokraten geforderten öffentlichen Bauvorhaben (public works) gab sich Roosevelt reserviert, weil diese bei ungeeigneten Projekten schnell zu einer relativ teuren Form der Armenfürsorge werden konnten. Er forderte, dass nur solche Projekte in Angriff genommen werden sollten, die sich einigermaßen selbst finanzierten. Der Arbeitsministerin Frances Perkins gelang es erst nach mehreren Anläufen, das Budget auf 3,3 Milliarden Dollar hochzuhandeln. Mit diesem Budget wurde die von Innenminister Harold L. Ickes geführte Public Works Administration gegründet, die vor allem in unterentwickelten Regionen die Infrastruktur (Straßen, Brücken, Staudämme, Schulgebäude, Kanalisationssysteme) ausbauen sollte. Einfacher war es in der Energiepolitik, wo Roosevelt einen längerfristigen ökonomischen Nutzen sah. Mit dem 1927 fertiggestellten Wilson-Staudamm gab es ein frühes, von Progressiven initiiertes öffentliches Bauprojekt, dessen Nutzung zur Stromerzeugung mit Hilfe der Präsidenten Calvin Coolidge und Hoover aus ideologischen Gründen erfolgreich sabotiert worden war. Der Staudamm war bis dahin gleichermaßen Symbol der Hoffnung wie auch der Frustration der Progressiven. Der Wilson Dam inspirierte jedoch Roosevelt und George W. Norris 1933 zur Gründung der Tennessee Valley Authority (TVA). Die Tennessee Valley Authority erwarb den Wilson Dam und ließ 20 weitere Staudämme im Tennessee Valley durch die Public Works Administration erbauen. Mit diesen Staudämmen sollten zukünftig Überschwemmungen verhindert, die Malaria ausgerottet und die bis dahin unterentwickelte Region mit Elektrizität versorgt werden. Wohnungspolitik In der Wohnungspolitik bestand grundsätzlich die Wahl zwischen öffentlichem Wohnungsbau und der Förderung des Eigenheimbaus. Anders als in den meisten europäischen Staaten setzte Roosevelt den Schwerpunkt auf die Eigenheimförderung. Die 1934 gegründete Federal Housing Administration (FHA) versicherte unter gewissen Umständen Eigenheimkredite der Banken. Vor 1934 bestand die Situation, dass Banken Eigenheimkredite nur mit einer kurzen Laufzeit von 5–10 Jahren vergaben. In den Fällen, in denen eine Garantie der FHA erfolgreich beantragt werden konnte, gewährten Banken zinsgünstigere Kredite mit Laufzeiten von bis zu 30 Jahren. In der Folgezeit erhöhte sich die Zahl der Eigenheimbesitzer von 4 % auf 66 % der Bevölkerung, wodurch auch die Bauindustrie gefördert wurde. Aufgrund der ursprünglich strikten Vergabekriterien profitierten in erster Linie weiße Mittelschichtsfamilien von der Eigenheimförderung. Diese Politik wurde teilweise dafür kritisiert, dass das untere Drittel der Bevölkerungsschicht von der Eigenheimförderung nicht profitieren konnte. In den 1990er Jahren wurde unter den Präsidenten George H. W. Bush, Bill Clinton und George W. Bush eine großzügigere Vergabepraxis initiiert, damit auch ärmere Familien bei einem Hauskauf unterstützt wurden. Es zeigte sich jedoch, dass diese riskanteren Kredite zu einem großen Teil notleidend wurden. Im Rahmen des Second New Deal wurde 1937 die United States Housing Authority gegründet, die durch eine öffentliche Wohnungsbaupolitik Slums beseitigen sollte. Die Politik blieb aber auf die Hilfe für die Ärmsten der Armen beschränkt. Außenhandelspolitik Bereits mit dem Fordney–McCumber Tariff von 1922 hatten die Vereinigten Staaten als Reaktion auf die Rezession von 1920/21 das Prinzip des Freihandels aufgegeben. Mit dem unter der Präsidentschaft von Hoover verabschiedeten Smoot-Hawley Tariff Act von 1930 wurde schließlich eine ausgeprägte Schutzzollpolitik ergriffen. Es besteht mittlerweile ein großer Konsens unter Historikern und Wirtschaftswissenschaftlern, dass der Smoot-Hawley Tariff Act die Weltwirtschaftskrise verschärft hat. Politisch umstritten war er bereits von Beginn an, neben vielen prominenten Wissenschaftlern hatte sich auch Roosevelt gegen das Gesetz ausgesprochen. Auf Betreiben von Cordell Hull wurde 1934 der Reciprocal Trade Agreement Act verabschiedet. Mit dem Gesetz legte die Roosevelt-Regierung die ersten Grundlagen für eine Zollpolitik nach dem Prinzip der Meistbegünstigung. Durch den Abschluss von bilateralen Handelsverträgen wurde der amerikanische Außenhandel nach und nach wieder liberalisiert. Second New Deal (1935–1938) Die Periode der Jahre 1935 bis 1938 wird oftmals als Second New Deal bezeichnet. In dieser Phase ging es überwiegend um langfristige Lösungen. Politischer Druck auf Roosevelt Nach der für die Demokratische Partei sehr erfolgreich verlaufenen Kongresswahl von 1934, einer sogenannten midterm election, konnte sich Roosevelt auf eine noch größere demokratische Mehrheit stützen. Zugleich änderte sich aber das politische Klima. Aufgrund der schweren Wirtschaftskrise hatte der First New Deal große überparteiliche Unterstützung in der Öffentlichkeit und im Kongress gefunden. Hinter dieser Einigkeit hatten sich jedoch die zwischen Demokraten und Republikanern sowie innerhalb der Demokratischen Partei bestehenden tiefen politischen Differenzen nur verborgen. Diese brachen wieder auf, als sich die konjunkturelle Situation wieder aufhellte. Nachdem sich die Wirtschaft zu erholen begann, kritisierten vor allem wohlhabende Geschäftsleute zunehmend den New Deal. Sie wandten sich gegen staatliche Regulierung der Wirtschaft, gegen die Höhe der Steuern, gegen den Umfang der Sozialhilfe und der öffentlichen Arbeitsbeschaffungsprogramme. Konservative („conservative“) Demokraten unter Führung von Al Smith, der 1932 in den Vorwahlen der demokratischen Partei gegen Roosevelt unterlegen war, gründeten 1934 die American Liberty League, die bis zu 36.000 Mitglieder hatte. Mit finanzieller Unterstützung zahlreicher Geschäftsleute führte die American Liberty League eine öffentliche Kampagne gegen den angeblichen Radikalismus des New Deal. Die Gesellschaft unterstützte auch eine rassistische Gruppe, die in den Südstaaten der USA Bilder verbreitete, auf denen die als Bürgerrechtlerin bekannte First Lady zusammen mit Afroamerikanern abgebildet war. Ein wichtiger Financier der American Liberty League war der DuPont-Erbe Irénée du Pont, der Roosevelt für einen „von Juden kontrolliert[en]“ Kommunisten hielt. Du Pont plante Anfang 1934 zusammen mit seinen Brüdern einen Putsch gegen den Präsidenten. Als der dafür vorgesehene General und New-Deal-Gegner Smedley D. Butler Roosevelt informierte, stritt du Pont ab, etwas damit zu tun zu haben. Kritik am New Deal kam auch von links- und rechtsaußen. Die in der Krise erstarkte Communist Party USA kritisierte den New Deal als einen Versuch, den Kapitalismus zu bewahren. Der von Historikern als Demagoge eingestufte Charles Coughlin, der als Radiomoderator bis zu 30 Millionen Zuhörer hatte, versuchte mit antisemitischen und gegen den New Deal gerichteten Slogans eine eigene politische Karriere zu begründen. Politisch einflussreich waren zu dieser Zeit insbesondere auch einige bisweilen als Populisten bezeichnete Persönlichkeiten. Francis Everett Townsend erlitt das für ältere Arbeitnehmer damals typische Schicksal, in der Großen Depression seine Arbeit und seine finanziellen Rücklagen verloren zu haben und keine neue Arbeit mehr finden zu können. Er warb für seinen Townsend Plan, der eine staatliche Altersrente für alle Bürger im Alter von über 60 Jahren vorsah. Der Plan galt als unfinanzierbar, da eine Altersrente von 200 $ im Monat versprochen wurde; diese lag also höher als ein durchschnittlicher Arbeitslohn. Außerdem sollten die Renten durch eine neue Umsatzsteuer finanziert werden, diese Art der Finanzierung hätte Menschen mit geringem Einkommen überdurchschnittlich stark belastet. Dennoch konnte er für seine Petition 20 Millionen Unterstützer vorweisen. Der demokratische Senator Huey Long hatte zunächst den New Deal unterstützt, sich dann aber 1934 von Roosevelt abgewandt, dessen Politik er für unzureichend hielt. Er gründete die Share Our Wealth Society, die jeder amerikanischen Familie ein jährliches Grundeinkommen von 2.000 $ versprach, das durch eine radikale Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen gegenfinanziert werden sollte. Der Plan war zwar fiskalisch so nicht durchführbar, die Gesellschaft hatte jedoch 7 Millionen Mitglieder, und es bestand kein Zweifel, dass Long eine Präsidentschaftskandidatur anstrebte. Die Erfolge der Populisten zeigten Roosevelt einerseits, dass es in der Bevölkerung durchaus große Unterstützung für die von Teilen seines Think Tanks befürworteten weitreichenderen Maßnahmen gegen die Depression und für soziale Sicherheit geben würde. Andererseits zeigten sie, dass politische Konkurrenz nicht nur von den Konservativen zu befürchten war. In den Kongress waren viele reformwillige Abgeordnete gewählt worden und Roosevelt war entschlossen, die Initiative zu behalten. Er wollte die von seinem Think Tank vorbereiteten und von ihm unterstützten Maßnahmen Gesetz werden lassen, bevor der Kongress in eigener Initiative Gesetze erlassen würde, die er vielleicht nicht würde mittragen können. Einige Historiker vertreten die Ansicht, dass der zweite Teil des New Deal nur als Reaktion auf den Druck durch die Populisten entstand. Dagegen spricht nach David M. Kennedy allerdings, dass die meisten Projekte bereits lange vor den Erfolgen der Populisten geplant und vorbereitet worden waren. Aufgrund der zeitlichen Perspektive könne lediglich der Wealth Tax Act als Antwort auf die Herausforderung durch die Populisten gesehen werden. Einführung des Sozialstaates Die Große Depression hatte ältere Menschen besonders schwer getroffen, die überdurchschnittliche Schwierigkeiten hatten, Arbeit zu finden, und zu 50 % unter die Armutsgrenze fielen. Bis 1935 bestanden viele einzelne Sozialhilfeprogramme der Bundesländer zur Linderung der Armut, die mit Bundeszuschüssen aufgestockt wurden. Eine Arbeitslosenversicherung gab es bis dahin nur im Bundesstaat Wisconsin (eingeführt 1932, wirksam wurde sie ab 1934). Öffentliche Rentenversicherungen gab es formell in einigen Bundesstaaten, sie waren aber ausnahmslos alle stark unterfinanziert und damit praktisch bedeutungslos. Das Fehlen einer Sozialversicherung machte die Vereinigten Staaten unter den modernen Industriestaaten zu einem Ausnahmefall. Unter dieser Tatsache litten die Bürger während der Depression. Unter dem Vorsitz von Frances Perkins wurde die Einführung eines Sozialstaates nach europäischem Vorbild entwickelt. Mit seiner Hilfe sollten die sozialen Probleme bewältigt werden. Mit Verabschiedung des Social Security Act von 1935 wurden in den Vereinigten Staaten erste Sozialversicherungen eingeführt, so die Rentenversicherung (Social Security), eine Witwenrente für die Angehörigen der Opfer von Industrieunfällen und Hilfen für Behinderte sowie für alleinerziehende Mütter. Weiterhin wurden Bundeszuschüsse zu den in Verwaltung der Einzelstaaten betriebenen Arbeitslosenversicherungen eingeführt. Zur Finanzierung wurde eine neue Steuer (die Payroll tax) eingeführt, mit der ein Arbeitgeberanteil und ein Arbeitnehmeranteil an die Staatskasse abgeführt wird. Roosevelt hatte auf einer separaten Steuer bestanden, damit die Steuereinnahmen nicht für andere Zwecke genutzt werden können. Der ursprüngliche Social Security Act blieb hinter vielen europäischen Vorbildern zurück, unter anderem weil Finanzminister Henry Morgenthau erfolgreich dahingehend intervenierte, dass Landwirte, Hausangestellte und Selbständige nicht in die Renten- und Arbeitslosenversicherung einbezogen wurden. Morgenthau berief sich darauf, dass die Sozialversicherungen unbezahlbar würden, wenn diese Bevölkerungsgruppen als typische Geringverdiener ebenfalls Versicherungsleistungen erhielten. Andererseits wurden damit faktisch 65 % aller Schwarzen in den USA und zwischen 70 % und 80 % in den Südstaaten von den Sozialversicherungen nicht erfasst. Die National Association for the Advancement of Colored People bezeichnete die Sozialversicherung als Sicherheitsnetz, das „wie ein Sieb [sei], mit Löchern gerade groß genug, damit die Mehrheit der Schwarzen hindurch fielen“. Auch die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung war zunächst nicht mehrheitsfähig. Roosevelt hoffte aber, dass der Social Security Act zu einem späteren Zeitpunkt erweitert werden könnte. Mit diesem von Gegnern heftig bekämpften Gesetz, wurde erstmals eine staatliche Verantwortung für soziale Sicherheit in den Vereinigten Staaten begründet. Die Payroll tax wurde ab 1937 erhoben, aufgrund des Umlageverfahrens erfolgten die ersten Rentenzahlungen (nach 3-jähriger Mindestbeitragszeit) ab 1940. Arbeitsrecht Gewerkschaften gab es bereits lange vor 1935. Da die meisten Arbeitgeber Gewerkschaften nicht anerkannten, liefen Streiks oft gewaltsam ab, indem Streikende die Streikbrecher gewaltsam am Betreten der Fabrik hinderten und Arbeitgeber Schläger anheuerten, welche die Fabrik schützen und Streikende zerstreuen sollten. Gelegentlich wurde auch die Polizei gegen Streikende eingesetzt bzw. von Gouverneuren der Notstand ausgerufen und sogar die Armee eingesetzt. Dabei kam es immer häufiger zu schweren Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten und manchmal sogar Toten. 1934 wurden bei einer solchen Auseinandersetzung in San Francisco zwei Gewerkschaftsmitglieder getötet. Daraufhin riefen die lokalen Gewerkschaften einen Generalstreik aus, an dem sich 130.000 Arbeiter beteiligten. Dem Präsidenten bereiteten nicht nur die zunehmende Radikalisierung der Arbeitskämpfe, sondern auch der Einfluss der Communist Party USA innerhalb der wachsenden Arbeiterbewegungen Sorge. Ein Versuch, über die National Recovery Administration (NRA) eine Anerkennung von Gewerkschaften durch die Arbeitgeber auf freiwilliger Basis zu erreichen, war durch das Verbot der NRA gegenstandslos geworden. Vor allem Robert F. Wagner drängte daher auf eine gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften. Mit dem 1935 verabschiedeten Wagner Act wurde den Arbeitnehmern das Recht zugestanden, Gewerkschaften zu bilden und Löhne und Arbeitsbedingungen kollektiv zu verhandeln. Arbeiter durften seitdem nicht mehr wegen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft entlassen werden. Auch ein formelles Streikrecht wurde eingeführt. Auch nach Verabschiedung des Wagner Act kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Ein letzter großer Höhepunkt war das Memorial Day Massacre von 1937, als die Chicagoer Polizei eine Demonstration von Arbeiterfamilien gewaltsam auflöste. Dem mit dem Wagner Act eingeführten National Labour Relations Board gelang es in der Folgezeit aber immer häufiger, bei Arbeitskämpfen zu vermitteln. Die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verdoppelte sich von 1929 bis 1938 auf 7 Millionen. Der Zuwachs ging zu einem großen Teil auf die Ausweitung gewerkschaftlicher Organisation auf die Massenfertigungsindustrien mit großen Unternehmen wie z. B. Ford oder General Motors zurück, die sich bis dahin erfolgreich gegen Gewerkschaften gewehrt hatten. In einer Übergangszeit von mehreren Jahren kam es vermehrt zu Streiks. Der Einfluss der Arbeitnehmer auf die Höhe der Löhne und die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen nahm zu. 1938 wurde der Fair Labor Standards Act verabschiedet, mit dem ein Mindestlohn von 25 Cent pro Stunde und eine Arbeitszeitbegrenzung auf 44 Stunden pro Woche festgesetzt wurde. Weiterhin wurde Kinderarbeit von Kindern unter 16 Jahren verboten. Um das Gesetz durch den Kongress zu bringen, in dem Südstaaten-Abgeordnete eine entscheidende Fraktion bildeten, mussten Hausangestellte und Farmarbeiter vom Schutzbereich ausgenommen werden. Die Roosevelt Administration hoffte aber, den Anwendungsbereich des Gesetzes zu einem günstigeren Zeitpunkt später auch auf diese Berufsgruppen erweitern zu können. Nach Erlass des Gesetzes erhöhten sich unmittelbar die Löhne von 300.000 Menschen, für 1,3 Millionen Menschen verringerte sich die Arbeitszeit. Arbeitsmarkt- und Konjunkturpolitik Die wirtschaftliche Erholung hatte mit Beginn des New Deal eingesetzt und fiel mit einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 7,7 % pro Jahr auch recht hoch aus, die Arbeitslosenquote sank aber nur langsam. Diese Entwicklung stellte auch der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes in das Zentrum seiner Überlegungen. Er bezeichnete die Lage als Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung. Keynes hatte mehrfach versucht, Roosevelt von einem Konjunkturstimulus durch Deficit spending zu überzeugen. Roosevelts Brain Trust war jedoch von Anfang an gespalten in Befürworter der Strategie, die Depression durch höhere Staatsausgaben zu bekämpfen und in Befürworter der Strategie, durch Haushaltskürzungen einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Zu letzteren gehörte insbesondere der Finanzminister Henry Morgenthau. Im Ergebnis wurde zwischen 1933 und 1941 in den Vereinigten Staaten nicht die von Keynes empfohlene antizyklische Fiskalpolitik betrieben. Die Maßnahmen gegen die Depression, insbesondere die Arbeitsbeschaffungsprogramme, erhöhten zwar die Staatsausgaben. Dies wurde jedoch durch andere Maßnahmen weitgehend kompensiert. Bereits unter Hoover war eine deutliche Erhöhung der Einkommensteuer verabschiedet worden, welche die Staatseinnahmen erhöhte. Zudem hatte Roosevelt bei Regierungsantritt deutliche Ausgabenkürzungen beispielsweise bei den Pensionen durchgesetzt (Economy Act). Im Ergebnis betrug das Haushaltsdefizit des Bundeshaushalts von 1933 bis 1941 ca. 3 % pro Jahr. Arthur M. Schlesinger meint, der Brain Trust sei während des Second New Deal gegenüber der Idee einer keynesianischen Konjunkturpolitik aufgeschlossener gewesen als noch während des First New Deal. David M. Kennedy bezweifelt das, eine solche Entwicklung lasse sich an der konkreten Politik kaum festmachen. Roosevelt und sein Brain Trust kamen zu der Überzeugung, dass die Arbeitslosigkeit nicht wieder genauso schnell verschwinden würde, wie sie 1929 ausbrach. Sie sahen eine Notwendigkeit, die Maßnahmen zur Verringerung der Arbeitslosigkeit zu verlängern. Mit der Emergency Relief Appropriation Bill wurde 1935 das Budget für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um 4 Milliarden Dollar aufgestockt. Damit wurde 3,5 Millionen arbeitsfähigen Arbeitslosen eine bezahlte Arbeit angeboten. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mussten auf Weisung Roosevelts so konzipiert werden, dass die verwirklichten Projekte arbeitsintensiv und zugleich längerfristig sinnvoll waren, und die Arbeiter mussten schlechter bezahlt werden, als in der privaten Wirtschaft. Es wurden u. a. 125.000 öffentliche Gebäude, mehr als eine Million Kilometer Autobahnen und Straßen, 77.000 Brücken, Bewässerungssysteme, Stadtparks, Schwimmbäder etc. gebaut. Darunter waren auch prominente Projekte wie der Lincoln-Tunnel, die Triborough Bridge, der Flughafen New York-LaGuardia, der Overseas Highway und die Oakland Bay Bridge. Verantwortlich dafür waren neben der bereits 1933 gegründeten Public Works Administration seit 1935 vor allem die Works Progress Administration unter der Leitung von Harry Hopkins. Mit diesen Mitteln arbeitete auch die 1935 gegründete Rural Electrification Administration, die ländliche Regionen mit günstigem Strom versorgen sollte. 1935 hatten nur 20 % der amerikanischen Farmen Zugang zu Strom, zehn Jahre später lag die Quote bereits bei 90 %. Wettbewerbsrecht Große Holding-Gesellschaften verursachten einige Probleme. Zum Beispiel dominierten einige wenige Holdinggesellschaften den gesamten Energiemarkt. Viele waren auch so groß, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben konnten. Zu dieser Zeit gab es in den Vereinigten Staaten viele pyramidenförmig organisierte, also mehrstufige Holdings. Hier musste der operative Teil der Gesellschaft exzessiv hohe Gewinne erwirtschaften, um die verschiedenen übergeordneten Gesellschaften zu finanzieren. Mit dem Public Utility Holding Company Act von 1935 mussten alle Holdinggesellschaften bei der Securities and Exchange Commission (SEC) registriert werden. Alle mehr als zweistufigen Holdinggesellschaften, die keine triftigen Gründe für diese Struktur nennen konnten, wurden zerschlagen. Steuerrecht 1935 wurde auch der Wealth Tax Act verabschiedet, mit dem der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer auf 79 % heraufgesetzt wurde. Das Gesetz war jedoch in erster Linie dazu gedacht, den Wahlkampf für Roosevelt zu erleichtern, denn es war eine Antwort auf die Bedrohung der Demokratischen Partei durch die als radikal bezeichneten Huey Long und Charles Coughlin. Finanzminister Morgenthau bezeichnete den Wealth Tax Act gegenüber Finanzbeamten als ein Wahlkampfdokument, ein Gesetz, das die Staatseinnahmen nur unwesentlich erhöhen sollte. Der Spitzensteuersatz von 79 % war zwar sehr hoch, er sollte allerdings erst ab einem sehr hohen Einkommen angewandt werden. Tatsächlich gab es nur einen einzigen Steuerzahler, der nach Erlass dieses Gesetzes den Spitzensteuersatz von 79 % zahlen musste: John D. Rockefeller. 1936 wurde eine Körperschaftsteuer mit Steuersätzen zwischen 7 % und 27 % eingeführt. Im Kongress wurde das Gesetz abgeschwächt – kleinere Kapitalgesellschaften waren von den Regelungen weitgehend ausgenommen. Anders als bei dem Wealth Tax Act stand bei diesem Gesetz eine Erhöhung des Steuerertrags im Vordergrund, da der Kongress kurz zuvor auf eigene Initiative ein Gesetz verabschiedet hatte, das die Auszahlung der ausstehenden Bonuszahlungen für Veteranen des Ersten Weltkriegs – insgesamt 2 Milliarden Dollar – von 1945 auf 1936 vorzog. Verfassungswandel von 1937 Bei der Amtsübernahme durch Roosevelt war der Oberste Gerichtshof überwiegend mit Richtern (auf Lebenszeit) besetzt, die von republikanischen Präsidenten nominiert worden waren. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden vier der Richter am Obersten Gerichtshof als die Four Horsemen of Reaction bekannt, denen es immer wieder gelang, eine Mehrheit (mindestens 5 der 9 Richter) zu organisieren, mit der etliche progressive Gesetze für verfassungswidrig erklärt wurden. Am 27. Mai 1935 (Black Monday) wurden die ersten New-Deal-Gesetze, unter anderem die Arbeit der National Recovery Administration, für verfassungswidrig erklärt. Zu diesem Zeitpunkt hoffte Roosevelt noch, dass einer der Richter in Ruhestand gehen würde und die Mehrheitsverhältnisse durch eine neue Richternominierung geändert werden könnten. Nachdem 1936 weitere Gesetze, vor allem der Agricultural Adjustment Act und das Mindestlohngesetz des Bundesstaates New York, für verfassungswidrig erklärt wurden, kam Roosevelt zu der Überzeugung, dass der Oberste Gerichtshof alle wesentlichen Teile des New Deal kassieren würde und das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative zugunsten der Judikative faktisch unterlaufen wolle. Auch der ehemalige Präsident Hoover kritisierte die Entscheidungen als einen zu weitgehenden Eingriff in legislative Kompetenzen. In der Öffentlichkeit war die Kritik verbreitet (etwa auch in dem Bestseller von Drew Pearson und Robert Allen mit dem Titel Nine Old Men), dass die zumeist über 70-jährigen Richter die Probleme der Gegenwart gar nicht mehr erkannten. Bestätigt durch den hohen Wahlsieg in der Präsidentschaftswahl von 1936 und verärgert über den Kommentar von Richter McReynolds „Ich werde niemals in Ruhestand gehen, solange der verkrüppelte Hurensohn noch im Weißen Haus ist.“ entschied Roosevelt, seine Pläne zur Justizreform im Januar 1937 öffentlich zu machen. Mit der Judicial Procedures Reform Bill of 1937 sollte dem amerikanischen Präsidenten die Befugnis eingeräumt werden, für jeden über 70-jährigen Richter, der sich weigerte, in Ruhestand zu gehen, zusätzliche neue Richter zu ernennen. Hinter der Gesetzesinitiative stand zunächst eine ausreichende Mehrheit der demokratischen Abgeordneten in Repräsentantenhaus und Senat. Sie wurde aber von den Republikanern sowie von einigen demokratischen Abgeordneten als Eingriff in die Gewaltenteilung scharf kritisiert. Darüber hinaus fürchteten Abgeordnete der Demokratischen Partei aus den Südstaaten, dass progressive Richter die Separate-but-equal-Rechtsprechung zur Rassentrennung kritisch überprüfen könnten. Zu diesem Zeitpunkt kam es, beginnend mit dem 29. März 1937 (White Monday), zu einer Änderung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Richter Owen Roberts, der zuvor häufig mit den Four Horsemen gestimmt hatte, stimmte nun mit dem progressiven Flügel des Gerichts. Am deutlichsten wurde der Wechsel in der richterlichen Entscheidung, mit der das Mindestlohngesetz im Bundesstaat Washington für verfassungskonform erklärt wurde – nur ein Jahr zuvor war das Mindestlohngesetz von New York für verfassungswidrig erklärt worden. Auch der Wagner Act und der Social Security Act wurden für verfassungskonform erklärt. Der Historiker David M. Kennedy geht davon aus, dass die zunehmende öffentliche Kritik an der Rechtsprechungspraxis der Four Horsemen of Reaction und der erdrutschartige Wahlsieg Roosevelts im November 1936 bei der Änderung der Rechtsprechung eine Rolle gespielt haben. Trotz dieser Wende versuchte Roosevelt, das Gesetz zur Justizreform durch den Kongress zu bekommen, scheiterte aber mit diesem Vorhaben. Durch das freiwillige Ausscheiden der Four Horsemen (Van Devanter 1937, Sutherland 1938, Butler 1939 und McReynolds 1941) sowie von drei weiteren Richtern konnte der Oberste Gerichtshof weitgehend neu besetzt werden. Nach der Phase konservativer Rechtsprechung begann im Jahr 1937 eine längere Phase liberaler Verfassungsrechtsprechung. William Rehnquist fasste den Verfassungswandel wie folgt zusammen: Nachwirkungen des New Deal Seit 1939 gab es keine Reformankündigungen mehr. Roosevelts Bestreben ging seitdem dahin, den New Deal zu verstetigen. Er bezeichnete ihn fortan als eine „Economic Bill of Rights“, welche die politische Agenda auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmen sollte. Die Idee, die Einkommen der Arbeiter, Angestellten und Landwirte zu stabilisieren, Finanzinstitute und große Konzerne zu regulieren, Ausgabenprogramme zum Ausbau der Infrastruktur und zur Schaffung von Arbeitsplätzen aufzulegen und durch eine deutlich höhere Besteuerung der Reichen eine gewisse Einkommensumverteilung zu bewirken, war noch weitere 30 Jahre lang eine Richtschnur der in dieser Zeit dominierenden Demokratischen Partei. Wandel des Begriffs „Liberal“ 1941 definierte Roosevelt liberale Regierungen als solche, die staatliche Interventionen in Notzeiten befürworten, während konservative Regierungen staatliche Interventionen generell ablehnen. Mit der Neubestimmung des Begriffs Liberal bezog er sich auf den Philosophen John Dewey, der bereits 1935 für ein neues Liberalismusverständnis plädiert hatte. Diese Neudefinition wurde in der politischen Diskussion übernommen. Seitdem wird Liberalismus in den Vereinigten Staaten weniger mit der Verteidigung unternehmerischer Freiheit, als mit einer arbeitnehmerfreundlichen Politik assoziiert. In den 1960er Jahren erweiterten die demokratischen Präsidenten Kennedy und Johnson das Programm des New Deal um Bürgerrechts- und Minderheitenpolitik. Als „liberals“ gelten seither solche Bürger und Politiker, die sich auf die Tradition des New Deal berufen, eine arbeitnehmerfreundliche Politik betreiben und für die Erweiterung der Bürgerrechte eintreten. Radikalismusvorwürfe und Rote Angst In der Anfangszeit des New Deal war den Menschen nicht klar, ob es einen klaren demokratischen Weg jenseits von Kommunismus und Faschismus geben könnte. Sie beobachteten mit Sorge, dass sich in Europa totalitäre Regime ausbreiteten. Dies veranlasste manche Kritiker dazu auch den New Deal dieser Tendenz zuzuordnen. Manche Kritiker warfen dem New Deal vor, von einigen Personen „kommunistisch unterwandert“ zu sein bzw. eine faschistische Idee zu sein. Als Anhaltspunkt wurde vor allem der „Krieg“ der National Recovery Administration gegen die Deflation genannt. Diese auf drei Jahre befristete Maßnahme basierte allerdings entgegen manchen Spekulationen nicht auf sowjetischen oder italienischen Ideen. Sie entstand vielmehr in lockerer Anlehnung an das zu Zwecken der Koordinierung der kriegswichtigen Industrie (Kriegswirtschaft) im Ersten Weltkrieg unter Woodrow Wilson zeitweilig eingerichtete War Industries Board, zu dem mit Hugh S. Johnson auch personelle Kontinuität bestand. Dem Argument, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des New Deal gegen Deflation (und damit auch gegen die schwere Wirtschaftskrise) müssten geradewegs in den Faschismus führen, hatte bereits Roosevelt entgegengehalten, dass das Gegenteil der Fall sei: die Fortführung einer Wirtschaftspolitik, die auf Interventionen verzichte, würde die USA schließlich einer Diktatur ausliefern. Von Historikern werden Vorwürfe des Extremismus nicht geteilt. Der Faschismusforscher Stanley Payne kommt in A History of Fascism, 1914–1945 (1995) zu dem Ergebnis, dass die Idee des Faschismus nicht in die Vereinigten Staaten ausstrahlte und in den USA vorhandene präfaschistische Aspekte, wie etwa Rassismus, während der 1930er in ihrer Bedeutung eher ab- statt zunahmen. Historiker haben zwei wesentliche Gründe für die Angriffe eines Teils der Konservativen gegen Liberale während der zweiten Welle der Roten Angst ausgemacht. Einerseits führte die überwältigende Popularität von Franklin D. Roosevelt und der in der Bevölkerung plötzlich aufgetretene Enthusiasmus für Staatsinterventionismus zu einer kontinuierlichen demokratischen Mehrheit im Kongress. Andererseits mussten Konservative hilflos zusehen, wie sich die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes innerhalb weniger Jahre stark veränderten, was sie als zutiefst schockierend empfanden. Denn viele Konservative befürworteten eine Freie (unregulierte) Marktwirtschaft und sahen Staatseingriffe in die Wirtschaft als Sündenfall an. New-Deal-Konsens Zwischen 1940 und 1980 bestand in den Vereinigten Staaten ein New Deal-Konsens (bzw. liberal consensus). Der Fair Deal des demokratischen Präsident Harry S. Truman brachte vor allem eine Ausweitung der mit dem New Deal eingeführten Sozialversicherungen auf 10,5 Millionen bisher unversicherte Bürger und eine Erhöhung der Versicherungsleistungen um durchschnittlich 80 %. Die republikanische Partei nominierte seit 1940 mit Wendell Willkie und Thomas E. Dewey solche Präsidentschaftskandidaten, welche dem New Deal nicht feindlich gegenüberstanden. Erfolgreich war Dwight D. Eisenhower, der auch als gewählter Präsident zu dem allgemeinen New-Deal-Konsens stand. In einem privaten Brief erklärte er seinen Standpunkt wie folgt: Auch unter dem republikanischen Präsidenten Eisenhower erfolgte eine Ausweitung der Sozialversicherungen und eine Erhöhung des Mindestlohns. Unter den demokratischen Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson erfolgte ebenfalls eine Sozialpolitik in der Tradition des New Deal, wobei Johnsons Great-Society-Programm mit der Einführung öffentlicher Krankenversicherungen eine wesentliche Lücke des Social Security Act von 1935 füllte. Ein erster Versuch der Republikanischen Partei, aus dem New Deal Konsens auszubrechen, war die Nominierung des Sozialstaatsgegners Barry Goldwater als Präsidentschaftskandidat bei der Wahl im Jahr 1964. Die Präsidentschaftswahl endete zwar in einer deutlichen Niederlage, die Spekulationen über den Niedergang der Republikanischen Partei anheizte. Aus den Unterstützern Goldwaters formte sich jedoch die New Right, welche sechzehn Jahre später maßgeblich zum Wahlsieg von Ronald Reagan beitrug. Seit den 1980er Jahren sind die politischen Auseinandersetzungen in den USA stets auch vom Gegensatz zwischen Regulierung und Deregulierung der Wirtschaft geprägt. Auch wurde Nachfragepolitik offiziell abgelehnt und reine Angebotspolitik als Alternative propagiert. Bekannt wurden insbesondere die Deregulierungsmaßnahmen von Präsident Reagan (siehe Reaganomics). Gleichzeitig erhöhte die Regierung Reagan die Rüstungsausgaben deutlich, was mit ihren typischen Auswirkungen (Belebung der Wirtschaft, Erhöhung der Staatsverschuldung) eine Form staatlicher Nachfragepolitik war. Politische Metapher In jüngster Zeit wurden unter Bezugnahme auf den New Deal Vorschläge zur Überwindung der durch die Finanzkrise ab 2007 aufgetretenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gemacht. Im „World Economic and Social Survey 2008: Overcoming Economic Insecurity“ der Vereinten Nationen wurde ein globaler New Deal vorgeschlagen, um die weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Innerhalb der USA werden vor allem von dem linken Flügel der Demokratischen Partei und von dem parteilosen ehemaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg die Forderung nach einem New New Deal als Lösungsansatz für die kriselnde amerikanische Wirtschaft erhoben. Auf den New Deal nimmt auch das Konzept des Green New Deal Bezug, mit dem verschiedene Ansätze zu einer ökologischeren Gestaltung der Marktwirtschaft formuliert werden. Auswirkungen des New Deal Die Fragen, was der New Deal eigentlich gewesen ist und wie erfolgreich er war, sind bis heute umstritten. Die Beantwortung der Frage nach seinem Erfolg hängt auch von der Perspektive ab. Es ist zu klären, ob man den Erfolg oder Misserfolg des New Deal an der Überwindung des bei Roosevelts Amtsantritt bestehenden desolaten Zustands der amerikanischen Wirtschaft misst oder an dem Wunsch nach Vollbeschäftigung, voller Produktionsauslastung und hoher Massenkaufkraft. Auch die Bewertung der Sozialpolitik im Zeichen des New Deal ist von solchen Überlegungen abhängig. Einerseits können in der Grundsteinlegung eines Sozialstaates und darin, dass das Recht eines jeden Amerikaners auf einen anständigen Lebensunterhalt zum Bestandteil des Alltags wurde, Meilensteine amerikanischer Sozialpolitik gesehen werden. Andererseits lässt sich auch betonen, dass soziale Sicherheit für alle und eine „gerechte“ Einkommens- und Vermögensverteilung in Roosevelts Amtszeit nicht erreicht werden konnten. Jenseits der Kontroversen gibt es eine Reihe von Feststellungen, auf die sich alle Interpreten einigen können: Mit der massiven Interventionspolitik des Staates in fast allen Gesellschaftsbereichen gab der New Deal einer entmutigten, verunsicherten und richtungslosen Nation neue Hoffnung. Anders als im Deutschen Reich und in vielen anderen Ländern konnte in den Vereinigten Staaten die Demokratie durch die Phase der Unsicherheit im Zuge der Weltwirtschaftskrise hindurch bewahrt werden. Es steht fest, dass der New Deal die hohe Arbeitslosigkeit und soziale Not linderte, dass Vollbeschäftigung jedoch erst mit Kriegseintritt der USA erreicht wurde. Ergebnis der Sozialpolitik Mit dem New Deal übernahm der Staat erstmals Verantwortung für die Sicherung des Existenzminimums der Bürger. 1930 gaben die Bundesstaaten lediglich $9 Millionen für Sozialhilfe aus, Arbeitslosengeld gab es noch nicht. Bis 1940 erhöhten sich die Zahlungen für Sozialhilfe auf $479 Millionen und die Zahlungen für Arbeitslosengeld auf $480 Millionen. In Anbetracht der von der Großen Depression ausgezehrten Bevölkerung waren aber auch diese Summen noch sehr niedrig. Zwar vollzogen die USA den sozialpolitischen Eintritt in das 20. Jahrhundert, die sozialpolitischen Gesetze stellten aber lediglich bescheidene Anfänge dar. Mit dem New Deal veränderte sich auch das Verhältnis der Bundesregierung zu den Bundesstaaten. Die Bundesregierung übernahm erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten Kompetenzen in der Sozialpolitik. Diese Ausweitung ging einher mit einer Verringerung der politischen Bedeutung der Bundesstaaten, die vor dem New Deal eine alleinige Kompetenz für Sozialpolitik gehabt hatten. Die Bürger begannen sich mit ihren Problemen eher an die Bundesregierung zu wenden. Außerdem wurden gemeinsame Aufgaben geschaffen, welche das Aufgabenspektrum sowohl der Bundesregierung als auch der Bundesstaaten erweiterten, so z. B. die öffentliche Arbeitslosenversicherung. Gleichzeitig erhöhte sich durch die gemeinsamen Aufgaben die Abhängigkeit der Bundesstaaten von Finanzhilfen der Bundesregierung. Ergebnis der Wirtschaftspolitik Recovery-Maßnahmen Die wirtschaftliche Erholung setzte 1933 ein und mit Ausnahme eines scharfen Einbruchs im Jahr 1937 blieb das Wirtschaftswachstum anhaltend hoch. Im Durchschnitt der Jahre 1933 bis 1941 betrug das Wirtschaftswachstum 7,7 % pro Jahr. Im Jahr 1933 endete auch die Deflation. Die Arbeitslosigkeit sank bis 1940 um 25 %, lag aber immer noch deutlich über dem Vorkrisenniveau. Es besteht Einigkeit, dass erst die hohen Staatsdefizite im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu Vollbeschäftigung führten. Da die Ursachen der Großen Depression unter Historikern und Volkswirten jedoch umstritten sind, gibt es auch zur Bewertung der Recovery-Maßnahmen im Zuge des New Deal unterschiedliche Auffassungen. Bereits zu Beginn der Großen Depression wandten sich Keynesianer gegen den „Treasury View“ nachdem staatliches Deficit spending private Investitionen verdrängen müsste (Crowding-out). Über den Multiplikatoreffekt würde staatliches Deficit spending vielmehr einen selbstverstärkenden Wachstumsimpuls setzen. Keynes analysierte die gesamtwirtschaftliche Situation als Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung, weshalb trotz der starken wirtschaftlichen Erholung eine hohe konjunkturelle Arbeitslosigkeit erhalten blieb. Roosevelt verfolgte zwischen 1933 und 1941 das Ziel einer geringen Neuverschuldung. Die Fiskalpolitik der Regierung schonte daher den Staatshaushalt, trug andererseits aber nicht viel zur Erholung bei. Nach keynesianischer Ansicht haben die Maßnahmen des New Deal die wirtschaftliche Erholung unterstützt, aber erst die ab Ende 1941 durch den Zweiten Weltkrieg verursachte expansive Fiskalpolitik habe das Ende der Depression und Vollbeschäftigung bewirkt. So sieht Paul Krugman, bezogen auf die Konjunkturpolitik, die kurzfristige Wirkung des New Deal als weniger erfolgreich an als die langfristige Wirkung. Im internationalen Vergleich zeigt sich auch, dass Staaten, die massives Deficit Spending eingesetzt hatten wie Schweden oder das Deutsche Reich, die Depression schneller überwanden. Nach monetaristischer Analyse war eine Kontraktion der Geldmenge der Hauptgrund für die Große Depression. Es besteht heute weitgehende Einigkeit in der Literatur, dass die Kursänderung in der Geldpolitik ein Faktor war, der wesentlich zur Erholung beitrug. Zwischen der Abkehr vom Goldstandard und dem Beginn der Erholung besteht nach fast einhelliger Ansicht ein klarer zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhang. Von 1933 bis 1941 nahm die nominale Geldmenge um 140 % zu, die reale Geldmenge um 100 %. Christina Romer kommt in ihrer Arbeit What ended the Great Depression? (1992) zu dem Ergebnis, dass die US-Produktion im Jahr 1937 um 25 % niedriger und im Jahr 1942 sogar um 50 % niedriger gewesen wäre, wenn es die Wende in der Geldpolitik nicht gegeben hätte. Dabei besteht Einigkeit, dass die US-Zentralbank zur wirtschaftlichen Erholung nichts beitrug. Die Stabilisierung des Bankensystems und die Ausweitung der Geldmenge gingen allein auf Initiative der Regierung unter Präsident Roosevelt zurück. Nach J. Bradford DeLong, Lawrence Summers und Christina Romer war die wirtschaftliche Erholung von der Wirtschaftskrise bereits vor 1942 (also vor dem starken Anstieg der Kriegsausgaben in den Vereinigten Staaten) im Wesentlichen abgeschlossen. Sie gehen davon aus, dass vor allem die Geldpolitik des New Deal dazu beitrug. Solche Historiker und Ökonomen, welche die keynesianische Erklärung ablehnen, sehen nur für die Phase von 1929 bis 1935 eine überwiegend konjunkturelle Arbeitslosigkeit. Danach sei das Problem eher eine strukturelle Arbeitslosigkeit. gewesen. Insbesondere die Erfolge der Gewerkschaften in der Durchsetzung hoher Lohnsteigerungen hätten bei den Unternehmen zur Einführung von effizienzorientierten Einstellungsverfahren geführt. Dadurch endeten ineffiziente Beschäftigungsverhältnisse wie Kinderarbeit, Gelegenheitsarbeiten für ungelernte Hilfskräfte zu Hungerlöhnen und Sweatshop-Arbeitsverhältnisse. Dies führte auf längere Sicht zu hoher Produktivität, hohen Löhnen und einem allgemein hohen Lebensstandard. Das erforderte aber gut ausgebildete und hart arbeitende Arbeitskräfte. Erst als die massiven Staatsausgaben im Zuge des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten Vollbeschäftigung brachten, sei die hohe Zahl an ungelernten Arbeitskräften zurückgegangen; dies habe die strukturelle Arbeitslosigkeit beseitigt. Zu den Historikern und Volkswirten, welche der Ansicht sind, dass der New Deal die Große Depression erfolgreich bekämpft hat, zählen z. B. Peter Temin, Barry Wigmore, Gauti B. Eggertsson und Christina Romer. Sie sehen auch einen psychologischen Effekt des New Deal als wesentliche Voraussetzung. Der Politikwechsel weg von den Dogmen des Goldstandards, einem ausgeglichenen Haushalt auch in Krisenzeiten und Minimalstaatlichkeit habe die Erwartungen der Menschen dahingehend positiv beeinflusst, dass diese nicht mehr mit einer weiteren wirtschaftlichen Kontraktion (Rezession, Deflation), sondern mit wirtschaftlicher Erholung (Wirtschaftswachstum, Inflation, höhere Löhne) rechneten, was Investitionen und Nachfrage stimuliert habe. Nach dieser Analyse sind 70 bis 80 % der wirtschaftlichen Erholung auf die Politik des New Deal zurückzuführen. Im Falle einer (hypothetischen) Fortführung der untätigen Wirtschaftspolitik des ehemaligen Präsidenten Hoover wäre nach dieser Ansicht die amerikanische Wirtschaft auch über 1933 hinaus in der Rezession gewesen, so dass das Bruttoinlandsprodukt bis 1937 um weitere 30 % gefallen wäre. Demgegenüber vertreten manche Historiker und Volkswirte die Ansicht, dass der New Deal in der Summe seiner Maßnahmen die Große Depression eher verlängert habe. Die Anerkennung der Gewerkschaften habe zu höheren Löhnen und geringeren Gewinnen der Unternehmen geführt, was zu fortbestehender Arbeitslosigkeit geführt habe. Hohe Steuern hätten wachstumshemmend gewirkt, öffentliche Investitionen hätten private verdrängt (Crowding-out) und staatliche Eingriffe Unternehmer und Geschäftsleute verunsichert. Eine prominente Vertreterin dieser Ansicht ist Amity Shlaes. Sie analysiert und bewertet den New Deal in ihrem Buch The Forgotten Man: A New History of the Great Depression (2007) aus der Perspektive einer Befürworterin Freier (unregulierter) Märkte. Das Buch wurde von Konservativen begeistert aufgenommen und Shlaes als eines der größten Pfunde der Republikanischen Partei bezeichnet. Von Liberalen wurde das Buch unter anderem dafür kritisiert, dass Shlaes als Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung anstelle der dynamischen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts die verhaltene Entwicklung des Dow-Jones-Index darstellte. Eric Rauchway bezeichnete dies als einen Versuch, die wirtschaftliche Erholung durch Bezugnahmen auf einen weniger repräsentativen Indikator herunterzuspielen. Der Keynesianer J. R. Vernon ist ebenfalls der Ansicht, dass die wirtschaftliche Erholung von der Wirtschaftskrise bis 1941 (gemessen am fortgedachten Trend des Vorkrisenwachstums) weniger als zur Hälfte vorangeschritten war. Er sieht die expansive Fiskalpolitik ab 1942 als entscheidenden und die Geldpolitik nur als unterstützenden Faktor zur Beendigung der Großen Depression. Der Ansicht, dass der New Deal die Große Depression eher verlängert habe, stimmten in einer Erhebung von 1995 6 % der Historiker und 27 % der Wirtschaftswissenschaftler vorbehaltlos zu. Hingegen wurde sie von 74 % der Historiker und 51 % der Wirtschaftswissenschaftler vorbehaltlos abgelehnt. Reform-Maßnahmen Der Sinn der Wirtschaftsreformen bestand darin, die Marktwirtschaft zu retten, indem die schlimmsten Exzesse unterbunden und eine stabilere Wirtschaftsordnung geschaffen wurden. Durch Regulierung des Bankensystems und des Wertpapierhandels wurden die Finanzmärkte weniger krisenanfällig. Die Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie dem Staat als vermittelnder Instanz entwickelten sich mit Anerkennung der Gewerkschaften zu einem eher partnerschaftlichen Verhältnis. Die durch den New Deal geschaffene neue Wirtschaftsordnung überstand den Zweiten Weltkrieg und auch Wahlerfolge der republikanischen Partei unbeschadet, insbesondere auch weil die republikanische Partei keine ernsthaften Versuche mehr unternahm, wesentliche Teile des New Deal zu ändern oder rückgängig zu machen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die neue Wirtschaftsordnung ein bestimmender Faktor für die Länge und das Ausmaß des außergewöhnlichen Nachkriegsbooms war. Die Bankreform des New Deal wurde seit den 1980er Jahren gelockert. Die Aufhebung des Glass-Steagall Act 1999 erlaubte ein schnelles Wachstum der Schattenbanken. Da diese weder staatlich reguliert noch durch ein finanzielles Sicherheitsnetz abgesichert waren, waren die Schattenbanken ein zentraler Grund für die Finanzkrise ab 2007 und die Weltwirtschaftskrise ab 2007. Auswirkung auf Minderheiten Der Indian Reorganization Act brachte eine bescheidene Besserung der Situation der Indianer. Die Schwarzen und andere Minderheiten erlangten aber auch durch den New Deal keine Gleichberechtigung. Von Roosevelts Brain Trust setzten sich vor allem Eleanor Roosevelt, Harry Hopkins und Harold Ickes sehr für die Rechte der Schwarzen ein. Roosevelt war sich jedoch bewusst, dass er politisch auf die Stimmen der demokratischen Abgeordneten aus den Südstaaten angewiesen war, die von einer Gleichberechtigung der Schwarzen nichts wissen wollten. Er unternahm daher keinen Versuch, die Gleichberechtigung gesetzlich zu erzwingen. Allerdings profitierten die von Arbeitslosigkeit und Armut überdurchschnittlich stark betroffenen Schwarzen in besonderem Maß von den diskriminierungsfreien Arbeits- und Sozialprogrammen des New Deal. Dies wirkte sich auch bei den Wahlen aus. Die Schwarzen hatten bis 1932 traditionell die Partei gewählt, die im amerikanischen Bürgerkrieg die Abschaffung der Sklaverei erzwungen hatte, also die Republikaner. Ebenso wie viele in Armut lebende Weiße begannen aber auch viele Schwarze, Roosevelt als Retter in der Not zu sehen. In einer Wahlumfrage vor der Präsidentschaftswahl von 1936 zeigten sich 76 % der Schwarzen bereit, für Roosevelt zu stimmen. Durch die Wählerwanderung ergab sich nach und nach auch ein zunehmender Einfluss der Bürgerrechtsbewegung auf die Demokratische Partei. Dennoch kam es erst in den 1960er Jahren unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson zu großen Erfolgen in der Frage der Gleichberechtigung der Schwarzen. Schlüsseldebatten Arthur M. Schlesinger und William E. Leuchtenburg sehen den New Deal als eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise, die vor allem von Anteilnahme an dem Leid der Bevölkerung geprägt war. Der Zeitzeuge und New-Deal-Anhänger Schlesinger erinnert in seiner Trilogie The Age of Roosevelt (1957, 1958, 1960) daran, dass die vor allem der Mittelschicht zugutekommenden sozialstaatlichen Reformen gegen den Widerstand der Oberschicht hatten durchgesetzt werden müssen. Leuchtenburgs Franklin D. Roosevelt and the New Deal 1932–1940 (1963) ist ebenfalls aus einer grundsätzlichen Sympathie heraus geschrieben, beleuchtet den New Deal aber mit etwas kritischerer Distanz. Er argumentiert, dass der New Deal eine gerechtere Gesellschaft geschaffen hat, indem bisher ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen eine gewisse Anerkennung erfuhren, so z. B. die Gewerkschaften. Andererseits bemängelt er, dass diese Probleme nur teilweise gelöst wurden; für die Bewohner von Elendsvierteln, Pachtfarmer und Schwarze besserte sich die Situation wenig. Verstärkte staatliche Intervention sei notwendig gewesen, weil die bis dahin vielgerühmte Unsichtbare Hand des unregulierten Marktes versagt habe. In den 1960er Jahren kritisierte die Historikergeneration der Neuen Linken den New Deal als eine verschwendete Chance zu radikalen Änderungen. Barton J. Bernstein bemängelt, dass der New Deal den Verarmten wenig geholfen habe und keine Umverteilung des Einkommens bewirkt habe. Paul Conkin moniert ganz ähnlich, dass die Ziele sozialer Gerechtigkeit und einer zufriedeneren und erfüllteren Gesellschaft verfehlt worden seien. Im Gegensatz dazu wurde der New Deal in den 1970er Jahren von solchen Historikern und Ökonomen, die eine freie (unregulierte) Marktwirtschaft befürworten, aus gegenteiligen Gründen kritisiert. Die Maßnahmen seien viel zu weit gegangen, staatliche Ausgaben hätten die Inflation angeheizt. Die Übernahme staatlicher Verantwortung für das Existenzminimum der Bürger habe diese von Sozialhilfe abhängig gemacht und unternehmerische Kreativität erstickt. Ein prominenter Vertreter dieser Richtung ist Milton Friedman. Friedman war unter der Roosevelt-Regierung in der Works Progress Administration beschäftigt, für die er Einkommen amerikanischer Familien analysierte, um das Ausmaß der Not einzuschätzen. Er erklärte 1999 rückblickend, dass er die reform-Maßnahmen des New Deal ablehnte, insbesondere die Arbeit der National Recovery Administration, den Agricultural Adjustment Act und die Einführung eines rudimentären Sozialstaates. Die relief- und recovery-Maßnahmen erachtete er hingegen für sinnvoll. Die Belebung der Wirtschaft und insbesondere die expansive Geldpolitik hielt er für notwendig. Die Arbeitsbeschaffungsprogramme und die Sozialhilfemaßnahmen sah er ebenfalls als situationsangemessen an. In seinem erst in den 1970er Jahren breit rezipierten Buch The Road to Serfdom (1944) schrieb Friedrich August von Hayek, dass er fürchte, die Ausweitung staatlicher Verantwortung durch den New Deal könne zu einer Zentralverwaltungswirtschaft und zu politischer Sklaverei führen. Diese Autoren sahen die Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten als Wendepunkt an, sie erwarteten, dass Reagan die Ausweitung staatlicher Verantwortung rückgängig machen würde. Den Werken der 1980er Jahre lag die Tendenz zugrunde, den New Deal nicht daran zu messen, was nicht erreicht wurde, sondern daran, was gegen die Beharrungskräfte des politischen Systems der Vereinigten Staaten erreicht wurde. Das Buch The Rise and fall of the New Deal order, 1930–1980 (1989) von Steve Fraser und Gary Gerstle beschäftigt sich vor dem Hintergrund der beginnenden Reagan-Ära vor allem mit der Kontinuität und Folgewirkung des New Deal. Neuere Literatur der 1980er Jahre von Robert Eden, The New Deal and its legacy: critique and reappraisal (1989) und Harvard Sitkoff Fifty years later: the New Deal evaluated (1985) bestätigte, dass der New Deal ein großer Umbruch in der Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte war. Anthony Badgers The New Deal (1989) bewertete die Erfolge bei den Sozialreformen als bescheiden, betonte dabei aber die Hartnäckigkeit der zu überwindenden Widerstände bei konservativen Demokraten, Republikanern und Wählern. Alan Brinkley kam in seinem Buch The New Deal and the Idea of the State (1989) zu dem Ergebnis, dass dem New Deal kein konsistentes Konzept zugrunde lag, sondern die Forderung nach einer möglichst aktiven Regierung. Ein hoher Anspruch an Verantwortung und Effektivität der Regierung sei bis heute ein Unterscheidungsmerkmal zwischen liberalen Demokraten und konservativen Republikanern. Der Historiker David M. Kennedy sieht in seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Werk Freedom From Fear, The American People in Depression and War 1929–1945 (1999) ein Leitmotiv des New Deal darin, den Bürgern Unsicherheit zu nehmen. Dieses Motiv ziehe sich durch die gesamte Gesetzgebung: von der Reform des Banken- und Börsenwesens, welche den Anlegern mehr Sicherheit gab, über die Arbeit der National Recovery Administration, welche den Unternehmen mehr Planungssicherheit verschaffen sollte, bis hin zur Begründung des Sozialstaates und der Unterstützung in Not geratener Landwirte. Es gebe einiges, was der New Deal nicht erreicht bzw. zum Teil auch nicht bezweckt habe, wie z. B. die Umverteilung von Einkommen oder die Abschaffung der Marktwirtschaft. Gleichwohl sei vieles erreicht worden, insbesondere hätten die Wirtschaftsreformen dafür gesorgt, dass die im marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem erzielten Gewinne gleichmäßiger verteilt werden konnten (Great Compression). Als wesentlich hierfür nennt er insbesondere die Anerkennung der Gewerkschaften, die Regulierung der Banken und Börsen, mit der weiteres Marktversagen verhindert worden sei, und die Einführung von Sozialversicherungen, welche den Bürgern größere finanzielle Sicherheit verschafft hätten. Aus systemtheoretischer Sicht gilt die Entscheidung für den „New Deal“ als Entscheidung gegen den Totalitarismus sozialistischer und faschistischer Prägung. Durch „Konstitutionalisierungen“ sei die Wirtschaft nationalstaatlichen Limitationen unterworfen worden, ohne ihre grundsätzliche Autonomie zu opfern. Maßnahmen des New Deal im Überblick Unbefristete Maßnahmen Reconstruction Finance Corporation (RFC): von der Hoover-Administration 1932 gegründete und unter der Roosevelt-Administration unter Führung von Jesse Holman Jones erweiterte Behörde, die Banken und Unternehmen mit Krediten versorgte. Sie wurde 1954 aufgelöst. Abschaffung des Goldstandards im Jahr 1933. (bis heute). Tennessee Valley Authority (TVA): eine 1933 gegründete Gesellschaft, die das unterentwickelte Tennessee Valley u. a. mit Strom versorgte. (Besteht heute noch). Agricultural Adjustment Act (AAA): ein 1933 erlassenes und 1935 geändertes Gesetz, das Finanzhilfen zur Stabilisierung der Preise für Agrarprodukte vorsah. (Besteht heute noch). Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC): versichert private Bankeinlagen und Finanzaufsicht über die Banken. (Besteht heute noch). Glass-Steagall Act: 1933 verabschiedet. Regulierte das Finanzsystem, insbesondere durch Einführung des Trennbankensystems. 1999 abgeschafft, seit der Finanzkrise ab 2007 wird die Wiedereinführung diskutiert. Securities Act of 1933: 1933 verabschiedetes Gesetz, das u. a. die United States Securities and Exchange Commission zur Aufsicht über die Wertpapiergeschäfte schuf. (Besteht heute noch). Indian Reorganization Act: 1934 verabschiedetes Gesetz, welches den Indianern mehr Eigenständigkeit ermöglichen sollte. (Besteht heute noch). Social Security Act: 1935 verabschiedetes Gesetz, mit dem ein Sozialstaat in den Vereinigten Staaten begründet wurde. (Besteht heute noch). Wagner Act: 1935 verabschiedetes Gesetz, mit dem Gewerkschaften als Tarifpartei anerkannt und das heute noch bestehende National Labor Relations Board gegründet wurde. Das Gesetz wurde 1947 durch das Taft-Hartley-Gesetz etwas modifiziert. (Besteht heute noch.) Aid to Families with Dependent Children (AFDC): Ein Programm zur zeitlich unbefristeten Unterstützung besonders alleinerziehender Eltern mit Kindern. (Wurde 1996 unter Protesten durch die Temporary Assistance for Needy Families ersetzt, die zeitlich befristet ist) Judicial Procedures Reform Bill of 1937: eine Gesetzesinitiative von 1937 zur Justizreform, die scheiterte, aber zu dem Verfassungswandel von 1937 beitrug. Federal Crop Insurance Corporation (FCIC): 1938 geschaffene Behörde, die Landwirte gegen Ernteausfälle versichert, wurde 1996 reorganisiert. (Besteht heute noch). Surplus Commodities Program: 1936 eingeführtes Programm, mit dem Lebensmittel an Arme verteilt wurden. (Besteht heute noch als Supplemental Nutrition Assistance Program). Fair Labor Standards Act: 1938 verabschiedetes Gesetz, mit dem die Wochenarbeitszeit auf maximal 44 Stunden festgesetzt wurde. Außerdem wurde ein Mindestlohn eingeführt und Kinderarbeit verboten. Die Wochenarbeitszeit wurde später auf 40 Stunden reduziert und der Mindestlohn verschiedentlich angehoben. (Besteht heute noch). Rural Electrification Administration, (REA): eine Behörde, welche in abgelegenen Gegenden die Stromversorgung organisiert. (Besteht heute noch als Rural Utilities Service). Resettlement Administration (RA): eine Behörde, welche die Umsiedlung verarmter Landwirte (insbesondere aus Dust-Bowl-Regionen) organisierte. Wurde 1935 durch die Farm Security Administration ersetzt. Farm Security Administration (FSA): eine Behörde die Hilfe für sehr verarmte Landwirte organisierte. (Besteht heute weiter als Farmers Home Administration). Befristete Maßnahmen United States bank holiday: im Jahr 1933 wurden alle Banken für einige Tage geschlossen. In dieser Zeit wurde evaluiert, welche Banken mit Staatshilfe gerettet werden konnten und welche für immer geschlossen bleiben mussten. Homeowners Loan Corporation (HOLC): Half überschuldeten Hauseigentümern eine Zwangsvollstreckung und den Banken einen Kreditausfall zu vermeiden. Die Maßnahme lief 1951 aus. National Recovery Administration (NRA): wurde 1933 gegründet, um die Deflation zu bekämpfen. Sie versuchte, möglichst viele Unternehmen zu einem freiwilligen Verzicht auf unfairen (Preis-)Wettbewerb, Mindestpreisen, Mindestlöhnen, der Anerkennung von Gewerkschaften etc. zu bewegen. Sie wurde 1935 vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt. Federal Emergency Relief Administration (FERA): Nachfolgerin der noch 1932 unter der Hoover-Administration gegründeten Emergency Relief Administration. Sie initiierte kleinere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und wurde 1935 durch die Works Progress Administration ersetzt. Works Progress Administration (WPA): 1935 gegründete Behörde, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für mehr als 2 Millionen Arbeitslose schuf. Das Programm lief 1942 aus. Public Works Administration (PWA): wurde 1933 zur Planung und Durchführung von Großprojekten als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegründet. Das Programm lief 1938 aus. Civilian Conservation Corps (CCC): bestand von 1933 bis 1942 als Arbeitsbeschaffungsprogramm für junge Männer. Der CCC wurde zu Aufforstungen, zur Bekämpfung von Waldbränden, zum Bau von Straßen und zur Bekämpfung von Bodenerosion eingesetzt. Civil Works Administration (CWA): initiierte zwischen 1933 und 34 einige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Literatur Englisch John Braeman, Robert H. Bremner, David Brody (Hrsg.): The New Deal. 2 Bände. Ohio State University Press, Columbus OH 1975. (Digitalisat auf den Seiten des Verlags im Vollzugriff: Band 1, Band 2) Robert Eden: The New Deal and its legacy: critique and reappraisal. Greenwood Press, 1989, ISBN 0-313-26181-4. Ronald Edsforth: The New Deal: America's Response to the Great Depression (Problems in American History). Blackwell, Malden 2000, ISBN 1-57718-143-3. Fiona Venn: The New Deal. Routledge, 2013, ISBN 978-1-135-94290-8. Stephanie Fitzgerald, Derek Shouba, Katie Van Sluys: The New Deal: Rebuilding America. Compass Point Books, 2006, ISBN 0-7565-2096-7. Susan E. Hamen: The New Deal. 1. Auflage. Essential Lib, 2010, ISBN 978-1-61613-684-0. William E. Leuchtenburg: Franklin D. Roosevelt and the New Deal. Harper and Row, New York 1963, ISBN 0-06-133025-6. Kiran Klaus Patel: The New Deal: A Global History. Princeton University Press, Princeton 2016, ISBN 978-0-691-14912-7. Patrick D. Reagan: Designing a New America: The Origins of New Deal Planning, 1890–1943. 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VSA Verlag, Hamburg 2020, ISBN 978-3-96488-073-4. Weblinks What Was The New Deal?, Projekt der University of California, Berkeley Von Roosevelt lernen: Sein „New Deal“ und die große Krise Europas, Stephan Schulmeister, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung Audio «Roosevelt war ein Meister der Propaganda» In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 2. März 2013 (Audio) Einzelnachweise Wirtschaftspolitik (Vereinigte Staaten) 1930er
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rippenquallen
Rippenquallen
Die Rippen- oder Kammquallen (Ctenophora von „Kamm“ [Genitiv ] und „tragen“) sind ein Stamm des Tierreichs. Ihr wissenschaftlicher Name bezieht sich auf die kammartigen Plättchen, mit denen die im Deutschen namensgebenden „Rippen“ bedeckt sind. Auch wenn sie oberflächlich betrachtet wie Quallen aussehen, gelten sie zoologisch nicht als echte Quallen; nicht zuletzt weil ihnen die für diese charakteristischen Nesselzellen fehlen. Die mehr als 100 Arten der Rippenquallen sind weltweit in den Ozeanen verbreitet und stellen regional einen bedeutenden Anteil der gesamten Plankton-Biomasse. Einige Arten, wie etwa die auch in der Nordsee heimische Seestachelbeere (Pleurobrachia pileus), können in so hoher Zahl auftreten, dass sie als unerwünschter Beifang die Fischernetze der Küstenfischer verstopfen. Von anderen Arten treten dagegen nur wenige Exemplare auf. Der fragile Bau der Rippenquallen erschwert die Erforschung ihrer Lebensweise erheblich. Altersangaben liegen aus diesem Grunde nicht vor, obwohl bekannt ist, dass Rippenquallen schon vor dem Erreichen ihrer Erwachsenengröße mit der Fortpflanzung beginnen können und daher vermutlich einen kurzen Generationszyklus haben. In der klassischen Taxonomie wurden die Rippenquallen mit den Nesseltieren (Cnidaria) zu den Hohltieren (Coelenterata) zusammengefasst. Eine enge Verwandtschaftsbeziehung zu den Nesseltieren ist aber nach Untersuchungen, die auch molekulare Methoden, wie den Vergleich von DNA-Sequenzen, mit einbeziehen, eher unwahrscheinlich. Die tatsächliche Stellung und Verwandtschaft der Rippenquallen ist umstritten. Aufbau Rippenquallen sind, von einer durch symbiotisch lebende Algenzellen hervorgerufenen Färbung abgesehen, in der Regel farblos und werden oft nur einige Zentimeter groß. Ausnahmen sind etwa die Arten der Gattung Cestum, die einen Durchmesser von anderthalb Metern erreichen können. Einige Arten, die in tieferen Gewässern vorkommen, sind rot gefärbt, zum Beispiel die in mehreren Hundert Metern Wassertiefe gefundene, 2020 neu beschriebene Vampyroctena delmarvensis (Ordnung Cydippida). Es wird angenommen, dass die Farbe der Tarnung dient: Rot ist zwar im direkten Sonnenlicht auffällig, unter Schwachlicht in großer Wassertiefe aber von Schwarz nicht zu unterscheiden. Andere rotgefärbte Arten, wie die sogenannte Rote Tortuga, sind nur von Filmaufnahmen in der Tiefsee bekannt. Die Art Eurhamphaea vexilligera kann eine leuchtend rote Tinte freisetzen, die möglicherweise der Ablenkung von Fressfeinden dient. Rippenquallen sind beinahe ausnahmslos radialsymmetrisch; ihre Hauptkörperachse verläuft zwischen dem Mund und dem Statocyste genannten Gleichgewichtsorgan, das dem Mund genau gegenüberliegt. Diese Symmetrie wird im unteren Teil der Tiere äußerlich durchbrochen von den beiden Tentakeln, im oberen Bereich durch den Bau des Verdauungsraumes, der in mehrere Kanäle aufgetrennt ist. Die untere Symmetrieebene ist gegenüber der oberen um 90 Grad versetzt, man spricht von einer Disymmetrie oder einem biradialen Bau der Tiere. Der Körper besteht aus zwei transparenten Zellschichten, die als Außenhaut (Ectodermis) und Innenhaut (Gastrodermis) bezeichnet werden. Die von zwei Zellschichten gebildete Ectodermis ist meist von einer Schutzschicht aus Schleim bedeckt, der von speziellen Drüsenzellen abgesondert wird. Die Gastrodermis umschließt einen Hohlraum, der als Magen dient und nur von der Mundöffnung zugänglich ist, an die sich ein langer schmaler Schlund anschließt. Gefangene Beute wird im Schlund durch starke Verdauungsenzyme vorverdaut und im Magen vollends zersetzt. Außer zwei kleinen, so genannten Analporen, die allerdings nicht der Ausscheidung dienen, gibt es keinen separaten Ausgang aus dem Magen, so dass die unverdaulichen Abfallstoffe durch den Mund entfernt werden. Der Zwischenraum von Innen- und Außenschicht wird von einer dicken transparenten geleeartigen Schicht, der von Kollagen und Bindegewebszellen gebildeten Mesogloea, eingenommen, die von zahlreichen kleinen Kanälchen durchzogen ist, die dem Transport und der Speicherung der aufgenommenen Nährstoffe dienen. Die Lage der Kanäle ist von Art zu Art verschieden, doch verlaufen sie meist direkt unterhalb der von ihnen versorgten Gewebe. Das extrazelluläre Netz aus Strukturproteinen wird von speziellen amöbenartigen Zellen aufrechterhalten. Auch für den statischen Auftrieb der Tiere spielt die Mesogloea vermutlich eine Rolle. Geißelrosetten, die sich in den Kanälen des Verdauungssystems befinden, dienen vermutlich dazu, Wasser aus der Mesogloea heraus oder in sie hineinzupumpen, wenn sich der osmotische Wasserdruck verändert, etwa weil das Tier aus salzhaltigem Meerwasser in küstennahes Brackwasser schwimmt. Ein spezielles Kreislaufsystem gibt es bei den Rippenquallen nicht, auch für die Atmung gibt es keine besonderen Organe; der Gasaustausch und wohl auch die Ausscheidung von Abfallprodukten des Zellstoffwechsels wie Ammoniak erfolgt über die gesamte Körperoberfläche hinweg durch einfache Diffusion. Den Körper durchzieht ein einfaches Nervennetz ohne „Gehirn“, das um Schlund, Tentakel, „Rippen“ und Statocyste herum konzentriert und mit den in der Mesogloea und der inneren Zellschicht der Außenhaut befindlichen Muskelzellen verbunden ist. Statocyste und Tentakel Ein spezialisiertes System der Rippenquallen ist die Statocyste, die als Gleichgewichtsorgan dient und die Fortbewegung der Tiere kontrolliert. Sie befindet sich auf der der Mundöffnung abgewandten Körperseite und besteht aus einer als Statolith bezeichneten Ansammlung von einigen hundert Kalkzellen einerseits und vier horizontal angeordneten Gruppen von schlangenförmigen Geißeln andererseits. Verändert die Rippenqualle durch äußere Einflüsse ihre Lage im Raum, so übt der Statolith auf eine der vier Geißelgruppen stärkeren Druck aus als auf die drei anderen. Dieser Sinneseindruck wird auf die Außenhaut weitergeleitet, die von insgesamt acht längsseitigen Bändern, den namensgebenden Rippen durchzogen ist. Auf diesen Bändern befinden sich in einer Reihe hintereinander angeordnet kleine Plättchen, die aus Hunderten miteinander verschmolzener und etwa zwei Millimeter langer Geißeln bestehen und auch als Membranellen bezeichnet werden. Durch reihenweise Aufrichtung dieser Plättchen kommt es zu einem regelrechten Ruderschlag, der, wenn er zwischen den acht Rippen richtig synchronisiert ist, die ursprüngliche Lage wiederherstellen kann. Eine Geißelgruppe der Statocyste ist für die Anregung der Schlagbewegung auf je einem Quadranten zuständig und kontrolliert als Schrittmacher jeweils zwei Kammrippen. Der Schlagrhythmus wird auf mechanische Weise und nicht durch Nervenimpulse übertragen. Die Schlagbewegung der angeregten Geißelplättchen setzt sich in Wellen über die Rippen fort. Die so entstehenden Bewegungsmuster erzeugen bei geeigneter Beleuchtung Interferenzfarben und sind zum Beispiel im Sonnenlicht mit bloßem Auge als regenbogenfarbig durchlaufende Lichtreflexe entlang der Rippen sichtbar. Ob erhöhter Druck auf die Geißelgruppen der Statocyste die Schlagfrequenz herauf- oder herabsetzt, hängt von der „Stimmung“ oder Geotaxis der Rippenqualle ab: Ist sie positiv, wird die Frequenz bei Druckzunahme herabgesetzt, so dass sich die Rippenqualle mit dem Mund nach unten ausrichtet und von der Wasseroberfläche wegschwimmt. Ist sie dagegen negativ, nimmt die Frequenz zu, die Rippenqualle richtet ihr Vorderende nach oben und schwimmt auf die Wasseroberfläche zu. Die „Stimmung“ der Rippenqualle wird durch vom Nervennetz verarbeitete Sinneseindrücke bestimmt. Bei den meisten Arten finden sich vor der Mundöffnung zwei einander gegenüberstehende einziehbare Tentakel, die aus je einer Tentakelscheide entspringen und dem Fang von Beutetieren dienen. Sie tragen oft seitlich eine Reihe fadenartiger Filamente, die Tentillen, die anders als bei den Nesseltieren nicht mit Nessel-, sondern mit so genannten „Lassozellen“, den Colloblasten besetzt sind. Diese bestehen aus einem mit kleinen Klebekörperchen übersäten Kopf, einem kurzen schlanken Haltefaden und einem längeren darumgewundenen Spiralfaden. Bei Berührung wirkt diese Konstruktion wie eine Sprungfeder, die den Klebekopf auf die Beute schleudert. Die Colloblasten werden wie auch die Tentakel als ganzes regelmäßig regeneriert. Alle Rippenquallen mit Ausnahme der Arten der Gattung Beroe (deswegen als Nuda oder Atentaculata bezeichnet) besitzen Tentakel. Auch manche Lobata setzen anstelle der Tentakel eher ihre muskeldurchzogenen Mundlappen zur Nahrungsbeschaffung ein, die dann einfach über ihre Beute gestülpt werden. Rippenquallen sind erstaunlich regenerationsfähige Tiere: Selbst wenn die Hälfte eines Individuums zerstört wird, kann sie von der verbleibenden Hälfte oft wiederhergestellt werden. Dies gilt auch für einzelne Organe wie die Statolithen, die selbst nach Totalverlust noch regeneriert werden können. Fortbewegung Viele Rippenquallen lassen sich einfach von der Meeresströmung treiben. Auf kurze Distanzen können sie auch durch den Ruderschlag ihrer Geißelplättchen aktiv schwimmen und zwar je nach „Ruderrichtung“ in Bezug auf die Mundöffnung vorwärts oder rückwärts. Sie sind damit die größten Tiere, die zur Fortbewegung noch Geißeln benutzen, und erreichen damit immerhin Geschwindigkeiten von etwa fünf Zentimetern pro Sekunde. Ein möglicher evolutionärer Vorteil wird darin gesehen, dass durch den gleichmäßigen Ruderschlag weder Beutetiere noch mögliche Fressfeinde wie andere Rippenquallen durch von Muskelbewegungen ausgelöste Vibrationen auf sie aufmerksam werden. Manche Arten setzen allerdings zusätzlich die Muskelzellen ihrer Mundlappen zum Schwimmen ein, andere bewegen sich durch wellenförmige Körperbewegungen voran oder kriechen wie ein Plattwurm. Ernährung und Fressfeinde Rippenquallen leben räuberisch. Durch ihre Tentakel fangen sie Plankton, Tierlarven, Würmer, Krebse, Nesseltiere und andere Rippenquallen, aber zuweilen auch kleine Fische. Sind die Tentakel mit Nahrungspartikeln behaftet, können sie eingezogen und an der Mundöffnung abgestreift werden. Durch abgesonderten Schleim oder innere Geißeln werden sie von dort in den Magen befördert. Die Arten der Gattung Haeckelia ernähren sich beinahe ausschließlich von Nesseltieren, deren Nesselzellen jedoch nicht verdaut, sondern als so genannte Kleptocniden in den Tentakeln eingebaut werden. Dieser „Diebstahl“ hat historisch unter Zoologen lange Zeit für Verwirrung gesorgt, da fälschlicherweise angenommen wurde, dass auch Rippenquallen in der Lage sind, Nesselzellen zu bilden. Wie eine ganze Reihe von Nesseltieren leben auch die Rippenquallen zuweilen mit diversen Algen, die sie durch Photosynthese mit energiereichen Kohlenhydraten versorgen, in einer symbiotischen Beziehung zusammen. Parasitismus scheint nur bei einer einzigen Art, Lampea pancerina vorzukommen, die in Manteltieren (Tunicata) schmarotzt. Zu den Fressfeinden der Rippenquallen zählen Nesseltiere, Meeresschildkröten (Cheloniidae), verschiedene Fische wie zum Beispiel Makrelen (Scombridae) oder der Seehase (Cyclopterus lumpus), Seevögel sowie nicht zuletzt andere Rippenquallen. Lebensraum Alle Rippenquallen leben im Meer, manche davon in bis zu drei Kilometern Tiefe. Ihr Verbreitungsgebiet wird in erster Linie durch Wasserströmungen bestimmt, insbesondere durch die Gezeiten. Auch in der Nordsee kommen einzelne Arten vor, so beispielsweise die so genannte Seestachelbeere (Pleurobrachia pileus) oder die Melonenqualle (Beroe gracilis) und die Meerwalnuss (Mnemiopsis leidyi). Die bekanntesten Arten leben als Teil des Planktons in den oberflächennahen, lichtdurchfluteten Gewässerschichten. Da sie allerdings weitgehend durchsichtig und extrem fragil aufgebaut sind sowie meist nur wenige Millimeter groß werden, sind sie den meisten Menschen unbekannt. An den Küsten finden sich vor allem die kugeligen Pleurobrachia-Arten, zu denen auch die Seestachelbeere gehört. Auch Bolinopsis und Mnemiopsis sowie die tentakellosen Beroe sind nicht selten dort anzutreffen. Etwa 35 Arten leben am Meeresboden. Diese Arten werden in das Taxon Platyctenida eingeordnet, da sie sich durch ihre abgeplattete Form auszeichnen und so eher Schnecken oder Plattwürmern ähneln als „Quallen“. Rippenquallen stellen in arktischen Gewässern mit der „Seenuss“ Mertensia ovum die vorherrschende Gruppe des Zooplanktons. Fortpflanzung Rippenquallen vermehren sich abgesehen von den Arten der Ordnung Platyctenida, die sich auch ungeschlechtlich fortpflanzen können, grundsätzlich auf geschlechtliche Weise. Fast immer handelt es sich um Zwitter, jedes Tier besitzt also sowohl männliche (Hoden) als auch weibliche Keimdrüsen (Ovarien), die sich direkt unter den „Rippen“ neben den kleinen Kanälchen der Mesoglea befinden. Bei fast allen Arten werden, wohl durch die äußeren Lichtverhältnisse ausgelöst, die Keimzellen durch kleine Öffnungen in der Außenhaut, die Gonoporen, an das umgebende Wasser abgegeben, wo dann auch die Befruchtung stattfindet. Selbstbefruchtung ist eher selten und kommt anscheinend nur in der Gattung Mnemiopsis vor. Eine einzige Art, Tjalfiella tristoma, ist lebendgebärend, die Jungtiere wachsen hier in einer eigenen Bruthöhle heran. Bei den befruchteten Eizellen ist nach zwei Zellteilungen die spätere Körpersymmetrie der Rippenqualle schon festgelegt; sie entwickeln sich über ein bereits freischwimmendes so genanntes Cydippea-Stadium, das bei allen Rippenquallen sehr ähnlich aussieht und manchmal als Larve bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber meist bereits eine Miniaturversion des erwachsenen Tieres darstellt. Bei einigen stark spezialisierten Gruppen wie den Platyctenida nehmen Cydippea und erwachsenes Tier allerdings unterschiedliche ökologische Nischen ein, so dass die Bezeichnung Larve dort angebrachter ist. Rippenquallen als Neozoen Obwohl Rippenquallen in der Regel kaum bemerkt werden und ihr Einfluss auf ein Ökosystem scheinbar nur sehr gering ist, können sie doch erheblichen Schaden anrichten, wenn sie in nichtheimische Gewässer gelangen. So wurde die nordatlantische Art Mnemiopsis leidyi mit dem Ballastwasser von Schiffen in den frühen 1980er Jahren in das Schwarze Meer verbracht und breitete sich dort rasant aus. Innerhalb von zehn Jahren kollabierte der Sardellen-Fischfang rund um das Meer, da die neu eingeführte Art sich von demselben Plankton ernährte, welches auch die Fischlarven fressen. Die Biomasse der Rippenquallen im Schwarzen Meer wurde zum Höhepunkt dieser Entwicklung auf eine Million Tonnen geschätzt. Die Rippenquallen können ihr Gewicht mitunter in 24 Stunden verdoppeln. Forscher der zur Helmholtz-Gemeinschaft gehörenden Biologischen Anstalt Helgoland (BAH) wiesen zuletzt darauf hin, dass sich die Rippenqualle aufgrund wärmerer Winter auch in der Ost- und Nordsee zu einem Problem entwickeln könnte. Durch das ebenso plötzliche Auftreten einer weiteren Rippenquallenart, Beroe ovata, im Jahre 1997, die sich von Mnemiopsis leidyi ernährt, pendelte sich das Gleichgewicht wieder ein, das Schwarze Meer ist seitdem jedoch von beiden fremden Arten besiedelt. Das gleiche Szenario spielt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit den gleichen Arten im Kaspischen Meer ab. Auch für dieses Ökosystem sind entsprechend schwerwiegende Veränderungen zu erwarten. In der westlichen Ostsee wurde die nordatlantische Art Mnemiopsis leidyi im Oktober 2006 zum ersten Mal nachgewiesen. Forschungsgeschichte Rippenquallen sind, da sie bei genauer Beobachtung von Schiffen aus sichtbar sind, wohl schon seit der Antike bekannt. Die erste erhaltene Zeichnung wurde allerdings erst 1671 durch einen Schiffsarzt angefertigt. Der schwedische Taxonom Carl von Linné stellte sie bei seiner Klassifikation des Tierreichs zusammen mit anderen „primitiven“ wirbellosen Tieren wie Schwämmen (Porifera) oder Nesseltieren zu den Zoophyta (übersetzt etwa Tierpflanzen) und spielte damit auf den passiven, „pflanzenähnlichen“ Charakter der Tiere an. Auch der französische Zoologe Georges Cuvier hielt diese Einteilung noch aufrecht. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Rippenquallen als eigenständiges Taxon erkannt. Stammesgeschichte Die in der Einleitung angeführte Klassifikation ist nicht unumstritten. Nach der zurzeit führenden systematischen Methode, der Kladistik, sind die Rippenquallen enger mit den spiegelsymmetrisch aufgebauten Bilateria als mit den Nesseltieren verwandt. Dafür spricht auch, dass sie über zwei einander gegenüberstehende Tentakel verfügen, welche die Radialsymmetrie durchbrechen und zu einer Bilateral- oder Spiegelsymmetrie machen. Von den Nesseltieren unterscheidet sie zudem das Vorhandensein echten Muskelgewebes und die beschriebenen, aus hunderten kleiner Plättchen bestehenden, „Rippen“. Ein wichtiges Indiz für das Schwesterngruppenverhältnis der Rippenquallen mit den Bilateria ist außerdem der Aufbau der Spermien. Diese besitzen bei beiden Gruppen ein einzelnes, großes Akrosom und eine darunterliegende subakrosomale Perforationsplatte. Bei den Nesseltieren liegen mehrere Akrosomalbläschen vor. Aus diesem Grunde steht der „klassischen“ Gruppierung der Hohltiere das alternative Taxon der Acrosomata gegenüber: Alternative 1 Hohltiere (Coelenterata): Alternative 2 Acrosomata: Daneben ist auch eine enge Verwandtschaft der Rippenquallen mit Plattwürmern vorgeschlagen worden; als Begründung werden unter anderem die Ähnlichkeiten zwischen diesen und den abgeflachten Rippenquallen der Ordnung Platyctenida angeführt. Diese gelten allerdings den meisten Zoologen nur als oberflächliche Gemeinsamkeiten, die nicht auf eine enge Verwandtschaftsbeziehung hindeuten. Alternative 3 ParaHoxozoa/Planulozoa: Zu guter Letzt werden die Rippenquallen in der Kombination der ParaHoxozoa/Planulozoa-Alternative an die Basis der Metazoen gestellt und bilden hierin die ursprünglichsten mehrzelligen Tiere. Der weiche Körper der Rippenquallen, der von keinerlei Hartteilen bedeckt ist, macht eine Fossilisierung im Allgemeinen sehr unwahrscheinlich, so dass die Stammesgeschichte der Rippenquallen fossil sehr schlecht dokumentiert ist. Einzelfunde, Archaeocydippida hunsrueckiana und Paleoctenophora brasseli, die sich in die Ordnung Cydippida einteilen lassen, sind aus dem Zeitalter des Devon bekannt; in feinkörnigem Schiefergestein aus dem Hunsrück haben sich hier genug Details erhalten, um eine Identifikation zu ermöglichen. Die aus der Chengjiang-Fauna des unteren Kambriums bekannte Art Matianoascus octonarius ist in ihrer Zugehörigkeit zu den Rippenquallen umstritten, dafür sind drei Arten, Ctenorhabdotus capulus, Fasciculus vesanus und Xanioascus canadensis aus dem kambrischen Burgess-Schiefer bekannt. Systematik Derzeit sind etwa hundert Arten bekannt, die traditionell in die beiden Klassen der Tentaculata (auch Tentaculifera) und Nuda (auch Atentaculata) aufgeteilt werden. Die Tentaculata umfassen den weitaus größten Teil der Artenvielfalt; wie der Name bereits andeutet, verfügen sie über Tentakel, die allerdings gegebenenfalls sehr stark verkümmert sein können. Man unterscheidet die folgenden sechs Ordnungen: Ordnung Cydippida, unter anderem mit der Seestachelbeere (Pleurobrachia pileus) Ordnung Platyctenida Ordnung Ganeshida Ordnung Thalassocalycida Ordnung Lobata Ordnung Cestida, unter anderem mit dem Venusgürtel (Cestum veneris) Zur Klasse Nuda wird lediglich eine einzige Ordnung, Beroida, gerechnet, zu der unter anderem die Melonenqualle (Beroe gracilis) und die Seemelone (Beroe ovata) gehören. Auch hier zeigt der Name des Taxons schon an, dass sich Nuda-Arten durch die vollkommene Abwesenheit von Tentakeln auszeichnen. Wegen der weiterbestehenden Unsicherheiten über die Einordnung der Rippenquallen insgesamt ist derzeit unklar, ob die obige Klasseneinteilung die tatsächlichen stammesgeschichtlichen Verhältnisse innerhalb des Taxons korrekt wiedergibt. Dies ist nur der Fall, wenn sich die tentakelbesitzenden Arten aus tentakellosen Vorfahren entwickelt haben. Wenn stattdessen die Tentakel bei den Arten der Klasse Nuda sekundär verloren gegangen sind, ist sehr wahrscheinlich, dass die Klasse Tentaculata eine paraphyletische Gruppe darstellt, also nicht alle Nachkommen ihres gemeinsamen Vorfahren umfasst. Nach den Vorstellungen der modernen Systematik, der Kladistik, wäre sie dann nur eine unnatürliche Zusammenfassung nicht näher verwandter Arten. Molekulargenetische Untersuchungen stützen die letztere Sicht und sehen zudem die Ordnung Cydippida als polyphyletisch an; diese umfasst, wenn sich die Resultate dieser Studien bestätigen, also nicht einmal den letzten gemeinsamen Vorfahren der Gruppe und wäre somit ein künstliches Taxon. Das folgende Diagramm zeigt die mutmaßlichen stammesgeschichtlichen Verhältnisse innerhalb der Rippenquallen auf der Basis morphologischer und molekulargenetischer Daten (ribosomaler RNA): Die Stellung der Ganeshida ist unbekannt. Die vorstehenden Angaben sind allerdings noch mit großen Unsicherheiten behaftet – bis auf weiteres müssen die stammesgeschichtlichen Verhältnisse innerhalb der Rippenquallen als ungeklärt betrachtet werden. Literatur Donald T. Anderson: Invertebrate Zoology. Kap. 3. Oxford Univ. Press, Oxford 2001, S. 54. ISBN 0-19-551368-1. Richard S. Barnes, Peter Calow, Peter J. Olive, David W. Golding, John I. Spicer: The invertebrates. A synthesis. Kap. 3.4.3. Blackwell, Oxford 2001, S. 63. ISBN 0-632-04761-5. Richard C. Brusca, Gary J. Brusca: Invertebrates. Kap. 9. Sinauer, Sunderland Mass. 2003, S. 269. ISBN 0-87893-097-3. Janet Moore: An Introduction to the Invertebrates. Kap. 5.4. Cambridge University Press, Cambridge 2001, S. 65. ISBN 0-521-77914-6. Edward E. Ruppert, Richard S. Fox, Robert D. Barnes: Invertebrate Zoology. A functional evolutionary approach. Kap. 8. Thomson Brooks Cole, Belmont, Calif. 2004, S. 181. ISBN 0-03-025982-7. Wilhelm Schäfer: Ctenophora, Rippenquallen. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger: Spezielle Zoologie, Bd 1: Einzeller und wirbellose Tiere. Gustav Fischer, Stuttgart 1996. S. 182. ISBN 3-437-20515-3. Bruno Wenzel: Glastiere des Meeres. Rippenquallen (Acnidaria). (Neue Brehm-Bücherei; Bd. 213). Westarp Wissenschaftlicher Verlag, Hohenwarsleben 2010, ISBN 978-3-89432-659-3 (Nachdr. d. Ausg. Wittenberg 1958). Spezielle Literatur Mark Q. Martindale, Jonathan Q. Henry: Ctenophora. In: Scott F. Gilbert, Anne M. Raunio: Embryology. Constructing the Organism. Sinauer, Sunderland Mass. 1997, S. 87. ISBN 0-87893-237-2. Mircea Podar, Steven H. Haddock, Mitchell L. Sogin, G. Richard Harbison: A molecular phylogenetic framework for the phylum Ctenophora using 18S rRNA genes. In: Molecular Phylogenetics and Evolution, Bd. 21 (2001), S. 218. Einzelnachweise Weblinks Ctenophora-Seite der Washington State University (auf Englisch) Ctenophores from the São Sebastião Channel, Brazil (auf Englisch und Portugiesisch) Die Rippenquallen und der Stammbaum des Tierreichs (auf Deutsch)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Republik%20Venedig
Republik Venedig
Die Republik Venedig ( bzw. ; ‚Durchlauchtigste Republik des Heiligen Markus‘) nach dem Wahrzeichen der Stadt, dem Markuslöwen, auch als Markus- oder Löwenrepublik bezeichnet, war vom 7./8. Jahrhundert bis 1797 eine See- und Wirtschaftsmacht, deren Zentrum im Nordwesten der Adria lag. Ihre Vorherrschaft kulminierte in einem Kolonialreich, das von Oberitalien bis Kreta und zeitweise bis zur Krim und nach Zypern reichte und von Venedig aus gelenkt wurde. Darüber hinaus unterhielt Venedig Kaufmannskolonien in Flandern und dem Maghreb, in Alexandria und Akkon, in Konstantinopel und Trapezunt sowie in zahlreichen Städten an der Adria. Eine Handels- und Seemacht Der Reichtum der Adelsrepublik resultierte daraus, dass sie als Umschlagplatz zwischen dem Byzantinischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich fungierte und zugleich wichtige Waren monopolisierte. Dabei nutzte sie als Haupthandelswege die Flüsse Oberitaliens und vor allem die Adria. Auch die machtpolitische Zersplitterung Italiens war für sie vorteilhaft. Dabei übte ausschließlich der Adel den gewinnträchtigen Fernhandel (Levante) aus und kontrollierte zunehmend die politische Führung – bis hin zur Abschaffung der Volksversammlung. Über die Anfangszeit berichten hauptsächlich Legenden und nur wenige historisch zuverlässige Quellen. Erst ab dem 13. Jahrhundert gibt es eine breite schriftliche Überlieferung, die dann aber vom Ausmaß mit der von Rom verglichen werden kann. Zur Legendenbildung hat die staatlich kontrollierte Geschichtsschreibung erheblich beigetragen. Sie projizierte die als wegweisend wahrgenommenen Eigenheiten der venezianischen Gesellschaft oftmals in die Vergangenheit zurück. Dabei verschwieg sie vieles dessen, was den Idealen von Geschlossenheit, Gerechtigkeit und Machtbalance widersprach, oder deutete es um. Der Seemacht gelang es, trotz geringer Ressourcen und eines verstreuten Herrschaftsgebiets, eine erstrangige Rolle in der Politik des Mittelmeerraumes zu spielen. Dabei lavierte Venedig fast von Anfang an zwischen den Großmächten wie Byzanz und dem Heiligen Römischen Reich oder der päpstlichen Macht, nutzte rigoros die Schlagkraft seiner Kriegsflotte und seiner überlegenen Diplomatie, setzte Handelsblockaden und Berufsarmeen ein. Dabei hatte es sich der Konkurrenz italienischer Handelsstädte, wie etwa Amalfi, Pisa, Bologna, vor allem aber Genuas zu erwehren. Erst die großen Flächenstaaten wie das Osmanische Reich und Spanien drängten den Einfluss Venedigs militärisch, die aufstrebenden Handelsnationen wie die Vereinigten Niederlande, Portugal und Großbritannien wirtschaftlich zurück. Frankreich besetzte 1797 die Stadt; kurz zuvor hatte der Große Rat am 12. Mai für die Auflösung der Republik gestimmt. Entstehung und Aufstieg Besiedlung der Lagune Ausgangspunkt der Besiedlung Venedigs war eine Gruppe von Inseln im Umkreis und in der Lagune, die die Ablagerungen des Brenta und anderer kleiner Flüsse immer weiter in die Adria vorschoben. So ist der Canal Grande die Verlängerung des Nordarms des Brenta. Die ältesten menschlichen Spuren in der Lagune stammen aus dem späten Mesolithikum. Die Bevölkerungszahl der an und in der Lagune liegenden Fischersiedlungen, die bis in etruskische Zeit zurückreichen, wuchs in römischer Zeit an. In der Antike entstanden Städte wie Altinum am Rand der Lagune, aber auch Ammiana, im Norden der Lagune gelegen. Die Zahl der Bewohner auf den Inseln stieg durch Flüchtlinge an, die sich der Legende nach 408 vor den Westgoten Alarichs, besonders aber 452 vor den Truppen des Hunnen Attila dort in Sicherheit brachten. Als 568 die Langobarden in Oberitalien einfielen, erreichte ein weiterer Flüchtlingsstrom die Lagune. Das legendäre Gründungsdatum Venedigs, der 25. März 421, könnte eine Erinnerung an die frühen Zuwanderer darstellen. Venedig ist aber keineswegs eine Gründung von Flüchtlingen, denn schon im 5. Jahrhundert war die nördliche Lagune dicht besiedelt, zahlreiche Artefakte weisen auf römische Siedlungen und Straßen hin. Die Legende der Flüchtlingsgründung entstand wohl erst im 10. Jahrhundert, sie wurde zuletzt von Roberto Cessi aufrechterhalten. Dieser sah einen starken Kontrast zwischen der germanischen und der venezianischen Welt, eine Ansicht, die inzwischen der Vorstellung gewichen ist, dass es diesen Kontrast zwischen einer barbarischen und einer römischen Zivilisation so nicht gegeben habe. Stattdessen geht man von zwei stark gemischten Gesellschaften aus. Die römische Epoche war sehr stark von ökologischen Veränderungen der Lagune geprägt, vor allem vom Anstieg des Wasserspiegels. Der frühmittelalterliche Handel basierte dabei viel stärker auf den Wasserwegen, während die römischen Straßen verfielen oder im Wasser versanken. Funde von Amphoren erweisen zugleich einen weitläufigen mediterranen Handel, der Konstantinopel zwar einschloss, aber nicht auf die Metropole ausgerichtet war. Diese Einbindung in einen weiteren politischen und wirtschaftlichen Rahmen dürfte durch die Flüchtlinge, zu denen auch die oströmischen Eliten zählten, gefördert worden sein. Welche Binnenkonflikte daraus erwuchsen, ließ sich bisher nicht aufzeigen. Den Baugrund der Stadt bildeten neben der Insel Rialto, die im frühen 9. Jahrhundert zum Kern Venedigs gemacht wurde, die benachbarten Luprio, Canaleclo, Gemine, Mendicola, Ombriola, Olivolo und Spinalunga. Dichte Pfahlroste aus Baumstämmen wurden in den Untergrund gerammt, um die Siedlungen zu erweitern. Die Flotte verschlang ebenfalls große Mengen Holz. Byzantinische Herrschaft Mit der Eroberung des Ostgotenreiches unter Kaiser Justinian I. (Restauratio imperii ca. 535 bis 562) kam die Lagune unter oströmisch-byzantinische Herrschaft. Die Eroberung großer Teile Italiens durch die Langobarden ab 569 zwang jedoch Kaiser Maurikios, den verbliebenen Randprovinzen größere Eigenständigkeit zu gewähren, und so wurde Ende des 6. Jahrhunderts das Exarchat von Ravenna geschaffen. Der Exarch ernannte den Magister militum als militärischen und zivilen Oberbefehlshaber der Provinz. Ihm unterstanden in der Lagune wiederum Tribunen. Provinzhauptstadt war zunächst Oderzo, das jedoch 639 von den Langobarden erobert und 666 zerstört wurde. Damit löste sich die Provinz weitgehend auf und die Lagune war zunehmend auf sich selbst gestellt. Der Bischofssitz wurde 635 von Altinum in das sicherere Torcello verlegt. Dennoch spielte der Handel mit dem Festland, vor allem mit Salz und Getreide, bereits im 6. Jahrhundert eine wichtige Rolle, die im 8. Jahrhundert offenbar noch zunahm. Im Gegensatz zu den Standesgenossen außerhalb Venedigs erwarb der venezianische Adel, der sich überwiegend auf römische Wurzeln zurückführte, wohl um 800 bereits sein Vermögen nicht nur aus immobilem Besitz, sondern zunehmend im Handel. Paulicius wurde 697 – folgt man der Überlieferung – zum ersten Dogen erhoben. Wenige Jahrzehnte später wird erstmals ein Dux (Führer oder Herzog) Ursus erwähnt. Die Verlegung seines Amtssitzes erfolgte unter seinen Nachfolgern zunächst nach Heraclea und später nach Alt Malamocco. 811 wurde während der Amtszeit des Dogen Agnello Particiaco Rialto zum endgültigen Amtssitz. Bei der Wahl des ersten Dogen erscheinen entsprechend der venezianischen Tradition zum ersten Mal die so genannten zwölf „apostolischen“ Familien der Badoer, Barozzi, Contarini, Dandolo, Falier, Gradenigo, Memmo, Michiel, Morosini, Polani, Sanudo und Tiepolo. Von Byzanz zunehmend unabhängig zeigte sich Venedig erstmals im beginnenden byzantinischen Bilderstreit (726/27), als sich die Stadt auf die päpstliche Seite stellte. Darüber hinaus kam es erstmals zu einem Vertrag aus eigener Autorität, also ohne byzantinische Bestätigung, mit den Langobarden. In diesem Zusammenhang soll der Doge den Beinamen „Ipato“ (griech. Hypatos), also „Konsul“ erhalten haben, allerdings wohl nicht, wie vielfach angenommen, in Anerkennung seiner Verdienste bei der Rückeroberung Ravennas und der Pentapolis nach 729. Die Rückeroberung fand wohl 739/740 statt. Bereits 732 wurden die Orte der Lagune einem eigenen Bischof unterstellt, was ihre Zusammengehörigkeit verstärkt haben wird und sie zugleich deutlicher sichtbar machte. Zwischen Byzanz, den Langobarden und dem Frankenreich Mit der zweiten Eroberung Ravennas durch die Langobarden (751) war die byzantinische Herrschaft in Oberitalien beendet. Trotzdem wusste Venedig die weiterhin bestehende formale Abhängigkeit von Byzanz zu schätzen, denn nur diese versetzte es in die Lage, seine Unabhängigkeit zu bewahren: zunächst gegenüber den Langobarden, aber mehr noch gegenüber den Franken (der fränkische König Karl der Große eroberte 774 das Langobardenreich). Dessen Sohn, König Pippin von Italien, unternahm zwischen 803 und 810 mehrere Versuche, Venedig zu erobern, auch eine Belagerung der Stadt blieb am Ende erfolglos. Im Frieden von Aachen wurde Venedig 812 schließlich als Teil des Byzantinischen Reiches anerkannt. Dies und die Verlegung des Dogensitzes an die Stelle des heutigen Dogenpalastes um 810 bildeten Grundlagen für die spätere Sonderentwicklung der Stadt gegenüber dem übrigen Italien. Innerhalb der Lagune, dessen Hauptstadt nun erst Venedig war, herrschte während dieses Prozesses keineswegs Einmütigkeit. Der vierte Doge Diodato, Sohn des wahrscheinlich ersten Dogen Orso, fiel 756 offenbar den Kämpfen zwischen prolangobardischer und probyzantinischer Fraktion zum Opfer. Auch der probyzantinische Nachfolger Galla, der ihn gestürzt hatte, fiel nach wenigen Monaten einem Attentat zum Opfer. Domenico Monegario wiederum führte bis zu seinem Sturz im Jahr 764 eine prolangobardische Fraktion, was dem oberitalienischen Handel Venedigs zugutekam. Zugleich wurden erste Versuche unternommen, die Macht des Dogen durch zwei Tribunen zu beschränken. Maurizio Galbaio, der von 764 bis 787 das Dogenamt innehatte, versuchte gegen starke Widerstände eine Dogendynastie durchzusetzen, indem er seinen Sohn Giovanni zum Nachfolger machte. Doch dieser überwarf sich mit dem Klerus der Stadt und unterlag schließlich einer profränkischen Fraktion unter der Führung des Obelerio, der dann allerdings im Vorfeld der Belagerung durch König Pippin, einen Sohn Karls des Großen, mitsamt seiner Familie 804 fliehen musste. Unter der Dynastie der Particiaco machte die Vergrößerung der Stadt deutliche Fortschritte. Ihr Selbstbewusstsein wuchs, aber es fehlte noch eine spirituelle Erhöhung, ein Symbol für die Bedeutung der Stadt. Nach dem Raub der Markusreliquien aus Alexandria (828), wo sich bereits eine venezianische Kaufmannskolonie befand, wurde der Evangelist Markus Schutzpatron der Stadt. Die Republik wurde ihm geweiht und das Symbol des Evangelisten, der geflügelte Löwe, wurde zum Hoheitszeichen der „Republik“. Noch heute findet man ihn im gesamten Bereich ehemals venezianischer Besitzungen. Damit war ein weiterer Schritt zur Unabhängigkeit getan, jetzt gegenüber dem Patriarchen von Aquileia, der eine geistliche Oberherrschaft beanspruchte und damit Zugriff auf venezianische Bistümer forderte. Venedigs Anspruch wurde durch die Überführung der Reliquien des Evangelisten Markus nach Venedig symbolisiert. Als Hüter dieser hochrangigen Reliquie konnte Venedig seine spirituelle Stellung und die Unabhängigkeit vom Patriarchen von Aquileia dadurch unterstreichen, dass der Heilige, dem die Gründung des Patriarchats zugeschrieben wurde, „körperlich“ in Venedig anwesend war. Doch die politischen Misserfolge des Dogen Iohannes Particiaco, der 829 aus Venedig fliehen und Zuflucht beim fränkischen Kaiser Lothar suchen musste, während der byzantinische Tribun Caroso für sechs Monate die Lagune beherrschte, kontrastierten scharf mit diesem symbolischen Erfolg. Nur mit Hilfe der Franken konnte der Doge zurückkehren. Er ließ Caroso blenden und verbannen, da er als Senator von Konstantinopel nicht hingerichtet werden durfte. Zugleich sollte das byzantinische Amt des Tribunen bald verschwinden. Doch schon 832 wurde Iohannes in ein Kloster verbannt. Unter „Venetia“ verstand man nunmehr ein Gebiet, das von Grado bis Chioggia reichte. Im Pactum Lotharii, in dem Kaiser Lothar I. Venedig mit zahlreichen Rechten ausstattete (840) sind 18 verschiedene Orte angeführt, darunter Rialto und Olivolo (Castello). Ihre Unabhängigkeit wurde damit endgültig anerkannt. Unter dem Dogen Tribunus Memus erfolgte die Einbeziehung dieser beiden Inselkomplexe in ein gemeinsames Verteidigungssystem, aus dem die eigentliche Stadt Venedig hervorging. Auslöser für diese Anstrengung waren Angriffe der Ungarn, die 900 bis in die Lagune eingedrungen waren. Innerhalb der Stadt verfestigte sich eine Gruppe von vermögenden Händlern, die überwiegend aus den adligen Familien stammten. Im Gegensatz zu den Standesgenossen auf dem Festland stand bei ihnen der Handel in hohem Ansehen. Die Dogendynastie der Particiaco Die Schwäche des Byzantinischen Reiches veranlasste Venedig zur Einmischung in die durch Slawen, Ungarn und Muslime (Sarazenen) ausgelösten Plünder- und Eroberungszüge. Schon 827/828 schickte Venedig auf Verlangen des Kaisers eine Flotte gegen die Sarazenen, die mit der Eroberung Siziliens begonnen hatten. Zugleich bekämpfte Venedig Piratenflotten der Narentaner (im Süden des heutigen Kroatien), denen der Doge Pietro Candiano 887 zum Opfer fiel. Um 846 drangen Slawen bis Caorle vor, 875 die Sarazenen bis Grado – sie hatten schon in der Seeschlacht vor der Insel Sansego (Susak, südöstlich von Pola) den Venezianern schwer zugesetzt. Um 880 gelang es Venedig jedoch, seine Stellung als regionale Vormacht auszubauen, eine Entwicklung, die auch das Vordringen der Ungarn (900) nicht aufhalten konnte, die Altino zerstörten. 854 und 946 wurde Comacchio, das die Mündung des Po beherrschte, durch die Venezianer erobert und zerstört. Damit geriet Venedig jedoch mit dem Kirchenstaat in Konflikt, denn dieser war durch die Pippinische Schenkung von 754 Oberherr von Comacchio geworden. Die Eroberer wurden erstmals von der päpstlichen Exkommunikation getroffen. Das Verhältnis zu Byzanz nahm währenddessen zunehmend den Charakter eines Bündnisses an. Diese Phase der venezianischen Geschichte wurde von der Dynastie der Particiaco dominiert (810 bis 887, erneut 911 bis 942), wenn auch die Herrschaft des Pietro Tradonico, die überaus erfolgreich war, die Dominanz der Particiaco von 837 bis 864 unterbrach. Zugleich kam es zu mehreren Verträgen mit den Königen von Italien, wie 888 mit Berengar I., 891 mit Wido, 924 mit Rudolf von Burgund und 927 mit Hugo I. Die Dynastie der Candiano und Otto I. Schon unter Pietro II. Candiano (932–939) setzte Venedig seine Vormachtstellung gegenüber Capodistria (Koper), einem der wichtigsten Handelsorte auf Istrien, durch. Dazu genügte erstmals eine Blockade, ein Machtmittel, das Venedig in den Anrainerländern der Adria über Jahrhunderte erfolgreich einsetzte. Die Familie Candiano hatte schon früher eine bedeutende Rolle gespielt und 887 mit Pietro I. Candiano einen ersten Dogen gestellt. Er war jedoch bereits nach kaum einem halben Jahr beim Kampf gegen die Narentaner ums Leben gekommen. Unter der Dynastie der Candiano, die zwischen 942 und 976 ununterbrochen die Dogen stellten, schien es fast, als könnten westeuropäische, am Feudalsystem orientierte Vasallitätsverhältnisse die Oberhand gewinnen. Dabei musste Pietro III. Candiano (942–959) seinem Sohn Pietro IV. weichen, der von den Feudalherren des Festlands und König Berengar II., unterstützt wurde. Dieser wiederum lehnte sich an Otto I. an, der 962 zum Kaiser erhoben wurde, und der den Dogen dazu veranlasste, ihm Tribut zu leisten – im Tausch gegen den Zugriff auf die Kirchengüter in seinem Gebiet. Umsturz und Brand Venedigs (976), Bruch mit Otto II., Handelsembargos (981–983) Die imperiale Politik Ottos II. brach jedoch gegenüber Venedig grundsätzlich mit der Tradition seines Vaters Ottos I., die seit 812 Bestand hatte. In der Folge wurde 976 die pro-ottonische Dynastie der Candiano gestürzt. Der Doge und sein Sohn wurden niedergestochen, der Dogenpalast und Hunderte von Häusern niedergebrannt. Der Witwe Pietros, Waldrada, beließ der neue Doge ihr Erbe, denn sie stand unter dem Schutz der Kaiserwitwe Adelheid. Als die weiterhin Otto II. loyale Familie Coloprini mit den pro-byzantinischen Morosini und Orseolo in offenen Konflikt geriet, wandte sie sich an Kaiser Otto. Während die erste, im Januar oder Februar 981 angeordnete Handelsblockade Venedig kaum beeinträchtigte, fügte die zweite im Juli 983 verhängte Handelssperre der Stadt erhebliche Schäden zu. Die in Venedig verbliebenen Coloprini wurden nun gefangengesetzt, ihre Stadtpaläste zerstört, wenige Jahre später wurden auch die zurückgekehrten Coloprini von den Morosini umgebracht. Nur der frühe Tod Ottos II. (Ende 983) verhinderte möglicherweise die Unterwerfung Venedigs unter das Imperium. Die Orseolo, Aufstieg zur Großmacht Mit der Regierungszeit des Dogen Pietro II. Orseolo (991–1008) begann der Aufstieg Venedigs zur Großmacht, und zwar wirtschaftlich und politisch. 992 erhielt Venedig ein Privileg des Kaisers Basileios II., das die Handelsabgaben in Byzanz erheblich reduzierte und die Venezianer gegenüber den konkurrierenden Städten begünstigte. Zugleich nannte das Privileg die Venezianer Extranei, also Fremde, was sicherlich keine Bezeichnung mehr für byzantinische Untertanen war, noch nicht einmal mehr dem Anspruch nach. Ebenso richtungweisend war die Durchsetzung der freien Schifffahrt durch die Adria. 997 bis 998 gelang ein erster Feldzug gegen die narentanischen Piraten Dalmatiens, bis 1000 wurden die als Schlupfwinkel für Piraten geltenden Inseln Curzola und Lastovo erobert. Weiter im Süden der Adria gelangen ebenfalls wichtige Erfolge. 1002–1003 konnte die Flotte die sarazenischen Belagerer vor dem byzantinischen Bari besiegen. Pietro wird die Zeremonie der alljährlichen Verehelichung Venedigs mit dem Meer zugeschrieben (Festa della Sensa). Dieses Staatsschauspiel unterstrich symbolisch Venedigs Anspruch auf Beherrschung der Adria, wenn nicht gar des gesamten Mittelmeeres. Die Fraktion der auf die Adria und den Fernhandel ausgerichteten Gruppen hatte sich endgültig durchgesetzt. Der Doge beanspruchte nun den Titel Dux Veneticorum et Dalmaticorum. Politische Institutionen, innere Machtbalance, Abriegelung der Führungsschicht Diese lange Phase, in der sich mächtige Familien mit ihrer Klientel blutige Kämpfe um die Dogenmacht lieferten und versuchten, eine Dynastie zu gründen, und in der vor allem auswärtige Mächte immer wieder als Zünglein an der Waage auftraten, hat in der venezianischen Historiographie tiefe Spuren hinterlassen – vor allem aber hat sie politische Reformen angestoßen. Diese zielten darauf ab, den mächtigen Dogen zu einer Repräsentationsfigur zu machen, die einer engen Kontrolle und Überwachung unterlag, ohne gänzlich den politischen Einfluss zu verlieren. Venedigs ständische Ordnung korrespondierte bereits im Hoch- und Spätmittelalter mit der Arbeitsteilung. Die Nobilhòmini waren für die Politik und die gehobene Verwaltung sowie für die Kriegs- und Flottenführung zuständig. Ihre wirtschaftliche Grundlage war aber ebenso der Fernhandel wie bei den Cittadini, jenen Kaufleuten, deren Familien keinen Zugang zu den politisch entscheidenden Institutionen Venedigs hatten. Nobilhòmini und Cittadini sorgten für Geldmittel und Wertschöpfung durch Handel und Produktion, die Populani, die Mehrheit der Bevölkerung, stellte Soldaten, Matrosen, Handwerker, Dienstboten, leistete Handarbeit und trieb Kleinhandel. Die frühen Institutionen sind in einer Gesellschaft entstanden, die schriftliche Dokumente nur relativ selten brauchte und sie nur begrenzt aufbewahrte. So entstanden der Kleine Rat als beratendes Gremium für den Dogen und der Arengo, eine Art Volksversammlung, die in der Frühzeit wohl noch Mitbestimmungsrechte hatte, doch bald zum reinen Akklamationsorgan wurde. Während der Arengo zunehmend an Bedeutung verlor, wuchs der Einfluss des Kleinen Rates, dessen sechs Mitglieder die Stadtsechstel (Sestieri) vertraten, aus denen Venedig bestand. Bereits ab dem frühen 13. Jahrhundert existieren umfangreiche schriftliche Zeugnisse in Form von Ratsprotokollen und Bürgschaften. Die Dokumentation der Verfassungsentwicklung sowie der Innen- und Außenpolitik Venedigs ist von da an umfangreich, lückenarm und in ihrer Dichte wohl nur mit der des Vatikans zu vergleichen. Dies stand in enger Wechselwirkung mit den Institutionen, die sich stetig veränderten und entwickelten. Beachtet wurde dabei stets das Prinzip einer sorgfältigen Austarierung von Macht und gegenseitiger Kontrolle der verschiedenen Gremien; dieses Prinzip war einer der Gründe für die einzigartige Stabilität dieses Staates im unruhigen Europa. Ziel aller Reformen war, die Vorherrschaft einer einzigen Familie, wie sie in den Stadtstaaten Oberitaliens üblich war und mit der Venedig selbst so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, zu verhindern. Die Kehrseite war jedoch ein strenges Polizei- und Spitzelsystem. Zwischen 1132 und 1148 wurde der Alleinherrschaft des Dogen ein Gremium gegenübergestellt, aus dem sich der Große Rat entwickelte. Hierin hatten Vertreter der bedeutendsten Familien Sitz und Stimme. Um 1200 wenig mehr als 40 Mitglieder umfassend, wuchs er zeitweilig auf über 2.000 Mitglieder an. Mit dem Jahr 1297 kam es zur sogenannten Schließung des Großen Rates (Serrata), ein längerer Prozess, der sich bis ins 14. Jahrhundert hinzog. Hiermit wurde der Zugang zum Großen Rat mit dem Recht aktiver und passiver Wahl des Dogen und aller Führungsämter auf die ratsfähigen Familien beschränkt. „Lebenslänglich erbliche Mitgliedschaft in diesem Rat gab allen Angehörigen der herrschenden Klasse die Sicherheit, dass sie sich nicht plötzlich ausgeschlossen finden würden.“ Am 16. September 1323 wurde geklärt, dass zum Großen Rat zugelassen war, wessen Vater oder Großvater im Großen Rat gesessen hatte. 1350 zählten zu den zwölf großen Familien die Badoer, Baseggio, Contarini, Cornaro, Dandolo, Falier(o), Giustiniani, Gradenigo mit ihrer Nebenlinie Dolfin, Morosini, Michiel (der Überlieferung nach ein Zweig der Frangipani), Polani und Sanudo. Ihnen folgten im Rang die zwölf weiteren Familien Barozzi, Belegno, Bembo, Gauli, Memmo, Querini, Soranzo, Tiepolo, Zane, Zen, Ziani und Zorzi. (Den Belegno folgten später die Bragadin nach und den Ziani die Salamon.) Im Range nach diesen kamen 116 ratsfähige Familien, die als curti oder Case Nuove bezeichnet wurden (darunter so namhafte wie die Barbarigo, Barbaro, Foscari, Grimani, Loredan, Mocenigo, Pisani, Polo, Tron, Vendramin oder Venier) sowie 13 Familien, die aus Konstantinopel eingewandert waren. Später wurden noch einige weitere einheimische und zugewanderte Familien kooptiert. Im 15. Jahrhundert wurde das Patriziat ehrenhalber an etwa 15 „ausländische“ Adelsfamilien verliehen, die sich vor allem durch militärische Unterstützung um die Serenissima verdient gemacht hatten. Am 31. August 1506 wurde die Eintragung der Kinder der ratsfähigen Familien in ein Geburtsregister (Libro d’oro di nascita) geregelt und seit dem 26. April 1526 gibt es das Libro d’oro dei matrimonio, in dem die Eheschließungen der Nobilhòmini eingetragen wurden. Nur wer in diesen Listen, die später Goldenes Buch genannt wurden, eingetragen war und sich mit Erreichen der Volljährigkeit erneut hat registrieren lassen, gehörte dem Großen Rate (maggior consiglio) auf Lebenszeit an. Der Große Rat war keine eigentliche Legislative, musste jedoch zu allen Gesetzesvorlagen gehört werden. Zugleich wurden hier alle politischen Ämter besetzt, so dass er gelegentlich als „Wahlmaschinerie“ bezeichnet wurde. Eine Art Präsidium des Großen Rates war die Signoria, das höchste Kontrollorgan. In ihr waren – neben dem Dogen und dem Kleinen Rat – die Häupter der Quarantia vertreten, die Vorsitzenden des obersten Gerichts. Mitte des 13. Jahrhunderts ging aus dem Großen Rat der Senat hervor, der ursprünglich ein Ratsgremium aus altgedienten Händlern und Diplomaten war, das sich mit Handels- und Schifffahrtsfragen befasste. Da sich um diese Fragen in Venedig alle anderen politischen Fragen drehten, zogen die zunächst als Pregati bezeichneten Senatoren nach und nach vielerlei Aufgaben an sich und bildeten damit eine Art Regierung. Umgekehrt veranlasste dies alle Fernhändlerfamilien dazu, ihren Einfluss hier zu konzentrieren, wo alle Wirtschaftsfragen verhandelt und entschieden wurden. Daneben gab es ab 1310 den Rat der Zehn, eine Kontrollinstanz, in der, wie in fast allen bedeutenden Gremien, auch der Doge Sitz und Stimme hatte. Der Rat der Zehn war nach einem Adelsaufstand geschaffen worden, um weitere Unruhen zu verhindern. Er war eine Art oberstes Polizei- und Verwaltungsorgan, das mit umfassenden Rechten ausgestattet war. Es ist bezeichnend für Venedig, dass dieses Organ öffentlicher Kontrolle und Überwachung zeitweise in scharfe Konkurrenz zum Senat trat, vor allem in Krisenzeiten. Eines der höchsten Ämter nach dem Dogen war das der ebenfalls auf Lebenszeit gewählten Prokuratoren, die eine Art Finanz- und Schatzministerium darstellten. Sie residierten in den Prokuratien am Markusplatz. Neben diesen Hauptgremien entstanden zu jedem größeren Fragenkomplex Sondergremien, die sich etwa mit dem Siedleraufstand auf Kreta befassten, mit der Reinigung der Kanäle und wasserwirtschaftlicher Regulierung in der Lagune, mit den öffentlichen Sitten und der Mode usw. Alle Ämter – außer das des Dogen, der Prokuratoren und des Kanzlers – wurden nur kurzfristig, maximal auf ein oder zwei Jahre, besetzt. Oftmals überschnitten sich auch Zuständigkeiten und Aufgaben unterschiedlicher Gremien, was auch der gegenseitigen Kontrolle diente. Bei Verfehlungen im Amt ermitteln Advocatores und erhoben gegebenenfalls Anklage gegen die Verantwortlichen. Eine regelrechte Berufsausbildung existierte bis zum Ende der Republik nicht, so dass alle Positionen von mehr oder minder erfahrenen Laien ausgefüllt wurden. Im Dogenpalast leitete der Kanzler, ein als einziger auf Lebenszeit nicht von einem Nobilhòmine eingenommener Posten, den Schriftverkehr. Er war der einzige, an dessen Befähigung überprüfbare Kriterien gestellt wurden, während alle anderen nur als geeignet eingeschätzt und gewählt werden mussten. Auch andere untergeordnete Verwaltungsposten wurden mit Cittadini besetzt, wobei dafür nur solche in Frage kamen, die sowie deren Vater und Großväter aus rechtmäßiger Ehe in Venedig geboren und ins sogenannte „Silberne Buch“ eingetragen worden waren. Die politische Führung einschließlich der Finanzorgane ballte sich um den Markusplatz, während die Insel Rialto das ökonomische Zentrum bildete. Großmacht und Niedergang Vormacht in der Adria, Handelsdrehscheibe zwischen Ost und West Neben den Konflikten mit dem Heiligen Römischen Reich, besonders mit dem Patriarchen von Aquileia, bedrohten vor allem die Normannen Süditaliens Venedigs Machtstellung in der Adria. Zugleich drängten Ungarn und Kroaten an die Adriaküste. Als 1075 die dalmatinischen Städte die Normannen um Hilfe gegen die Kroaten ersuchten und der Normannenführer Robert Guiscard auf Eroberungszug gen Konstantinopel bereits in Albanien Fuß fasste, drohten Venedigs Handelswege durch die Adria abgesperrt zu werden. Diese Befürchtung sollte die Stadt nicht mehr loslassen und veranlasste sie dazu, die Herrschaft einer einzigen politischen Macht über beide Adria-Ufer mit allen Mitteln zu verhindern. Nur so konnte Venedigs Existenzgrundlage, der Fernhandel, gesichert werden. Schon früher hatte Venedig Privilegien erhalten, doch seine Handelsvormacht beruhte in der Hauptsache auf zwei Privilegien. Diese hatte die Stadt dadurch errungen, dass sie einerseits Heinrich IV. im Investiturstreit mit Papst Gregor VII. unterstützte. Andererseits stand sie Kaiser Alexios I. von Byzanz gegen die türkischen Seldschuken und die Normannen Süditaliens bei, die Konstantinopel von Osten und Westen zugleich bedrohten. Durch das Privileg Heinrichs IV. war es den Händlern des Heiligen Römischen Reichs verboten, ihre Waren über Venedig hinaus nach Osten zu bringen. Umgekehrt durften griechische, syrische oder ägyptische Händler ihre Waren nicht im Reich anbieten. So fungierte Venedig als Makler zwischen den beiden Kaiserreichen, eine Funktion, die durch Handelshäuser für die verschiedenen Händlernationen zum Ausdruck kam, deren Gebühren und Zölle große Mengen an Gold und Silber in die Stadt brachten. Als besonders konfliktreich erwies sich dennoch bald das Verhältnis zu seinem alten Verbündeten, dem Byzantinischen Reich. Das Kaiserreich war nach der Schlacht von Manzikert (1071) zunehmend gegen die türkischen Seldschuken in die Defensive geraten. Venedig bot Kaiser Alexios I. die Unterstützung seiner Flotte im Kampf gegen die Türken und die Normannen an und erhielt hierfür Handelsprivilegien, die seine Händler ab 1082 von allen Abgaben befreiten. Dazu kam ein großes Händlerquartier am Goldenen Horn. Hierdurch gelang es den Venezianern innerhalb weniger Jahrzehnte, das Byzantinische Reich wirtschaftlich zu dominieren. Diese Vorherrschaft ging so weit, dass das wirtschaftliche Fundament des byzantinischen Staates gefährdet wurde. Das Morgenländische Schisma (1054) sowie der Erste Kreuzzug von 1096 bis 1099 trugen weiter zur Entfremdung zwischen Venedig und Byzanz bei. Doch die Kreuzzüge eröffneten den italienischen Handelsstädten neue Möglichkeiten. Um sich hier einzuschalten, schickte Venedig 1099, nachdem es sich lange vom Kreuzzug ferngehalten hatte, 207 Schiffe unter dem Kommando des Dogensohns Giovanni Vitale und des Bischofs von Olivolo aus. Im Dezember kam es vor Rhodos zu einer Seeschlacht mit Konkurrenten aus Pisa, nach deren Niederlage die Venezianer Reliquien des Hl. Nikolaus aus Myra mitnahmen. Venedig erhielt Abgabenfreiheit und Kolonien in allen noch zu erobernden Städten des entstehenden Königreichs Jerusalem. Konflikt mit Ungarn, Friedrich Barbarossa und der Friede von Venedig Mit dem Königreich Kroatien, das in Personalunion zum Königreich Ungarn gehörte und vom Papst unterstützt wurde, kam es schon seit dem frühen 10. Jahrhundert immer wieder zu Konflikten um die Städte Istriens und Kroatiens und um den Bischofssitz Grado. Dabei verbündeten sich die Gegner Venedigs mit den Normannen und nahmen bei einer Seeschlacht vor Korfu den Sohn des Dogen Domenico Silvo (1070–1084) gefangen. Die Gegnerschaft der Normannen basierte wiederum darauf, dass sie versuchten, das Byzantinische Reich zu erobern, während der Doge, der mit einer Tochter des Kaisers verheiratet war, dort Handelsinteressen verfolgte. Kaiser Alexios I. übertrug dem Dogen den Titel Herzog von Dalmatien und Kroatien. Gleichzeitig setzte jedoch Ladislaus einen Neffen als König in Dalmatien und Kroatien ein. 1105 bis 1115 eskalierte der Konflikt in einem Krieg, in dessen Verlauf Venedig einige Küstenorte zurückerobern konnte. 1125 fiel Split. 1133–1135 eroberten die Kroaten wiederum Šibenik, Trogir und Split. Zugleich versuchte Padua das venezianische Salzmonopol abzuschütteln, und Ancona versuchte Venedig die Vorherrschaft in der Adria streitig zu machen. Papst Eugen III. ließ Venedig und seinen Dogen exkommunizieren. Bei internen Machtkämpfen wurden die mächtigen Badoer und Dandolo zeitweise entmachtet. Besonders gefährlich wurde die Situation, als sich ein Ehebündnis zwischen Ungarn und Byzanz abzeichnete. Das Konfliktfeld wurde noch dadurch ausgeweitet, dass sich Friedrich Barbarossa in die italienische Politik einschaltete. Venedig verband sich 1167 mit der Lega Lombarda, einem oberitalienischen Städtebund, der vom Papst unterstützt wurde (vgl. Ghibellinen und Guelfen). Selbst mit den Normannen Süditaliens befand sich Venedig nun im Bund, denn, eine weitere Konstante venezianischer Politik, die Stadt hatte kein Interesse an einem übermächtigen Nachbarn auf dem Festland. 1177 vereinbarten Friedrich I. und Papst Alexander III. einen Friedensschluss in Venedig unter Vermittlung des Dogen Sebastiano Ziani. Unter Kaiser Manuel I. (1143–1180), dessen Mutter aus Ungarn stammte, gelang Byzanz die Unterwerfung erheblicher Teile des heute zu Serbien gehörenden Raszien. 1167 unterlagen ihm die Ungarn, wodurch Byzanz erneut zum unmittelbaren Nachbarn Venedigs wurde. Offener Konflikt mit Byzanz, Vierter Kreuzzug Die Beziehungen zu Byzanz waren seit Jahrzehnten äußerst gespannt. Seit dem Privileg von 1082 beharrte Venedig zunehmend auf einer monopolartigen Stellung in Konstantinopel. Dies führte zu schweren Konflikten vor allem mit Pisa, die sich im Laufe der Kriege um das Heilige Land weiter steigerten. Der Doge Domenico Michiel fuhr mit 40 Galeeren, 40 Frachtschiffen und weiteren 28 Schiffen im April 1123 zur Unterstützung Balduins II. nach Jerusalem, schlug vor Askalon eine ägyptische Flotte und am 7. Juli 1124 fiel Tyros. Der Doge lehnte zwar die Königskrone von Jerusalem ab, fuhr aber mit seiner Flotte gegen Byzanz, als er von der Privilegierung der Pisaner durch Kaiser Johannes hörte. Dabei plünderte die Flotte Rhodos, Samos, Chios, Lesbos, Andros, Modon und Kephallenia. 1126 erneuerte der Kaiser das Handelsprivileg von 1082. Kaiser Manuel I. (1143–1180), der Sohn und Nachfolger Johannes’, betrieb nicht nur eine Restaurationspolitik in Kleinasien und Italien (Ancona war für fast zwei Jahrzehnte byzantinischer Brückenkopf), sondern auch eine Annäherung an Ungarn. Beide Ziele der byzantinischen Politik richteten sich gegen die Interessen Venedigs, da Konstantinopel bei ihrer Verwirklichung seinen Machtbereich bis nach Istrien ausgedehnt und darüber hinaus mit der Kontrolle der Adria die Macht über Venedigs Seewege erlangt hätte. Kaiser Manuel wollte außerdem das Abkommen von 1082 widerrufen. Er beschlagnahmte am 12. März 1171 in einer offenbar völlig überraschenden Aktion sämtlichen venezianischen Besitz und inhaftierte in einer Nacht die Venezianer in seinem gesamten Machtbereich. Zwar führte eine venezianische Flotte unter der persönlichen Führung des Dogen Vitale Michiel II. einen Rachefeldzug durch, musste sich aber unverrichteter Dinge zurückziehen. In Venedig führte dies zu Tumulten, in deren Verlauf der Doge auf offener Straße ermordet wurde. Noch erheblich mehr Opfer forderten die Lateinerpogrome von 1182 unter Manuels Nachfolger Alexios II. Komnenos. Hiervon waren die konkurrierenden italienischen Städte jedoch stärker betroffen als Venedig, dessen Händler 1185 wieder Zugang zum byzantinischen Markt erhielten, wenn auch unter deutlich stärkeren Beschränkungen als vor 1171. Mit einem Sieg über die pisanische Flotte konnte Venedig 1196 wieder sein Handelsmonopol in der Adria durchsetzen. Alexios III. stellte Venedig 1198 ein weit reichendes Handelsprivileg aus. Die Katastrophe von 1171 führte offenbar zur Überwindung der sozialen Spannungen und der Gegensätze innerhalb der Führungsschicht. Die sechs Stadtquartiere (Sestieri) entstanden, von je einem Vertreter im Kleinen Rat repräsentiert, Kontroll- und Steuerungsorganisationen für Handel und Produktion wurden eingerichtet, der Lebensmittelmarkt streng reguliert, kriegswirtschaftliche Anstrengungen unternommen. Zudem wurden alle Vermögenden einem rigorosen Beleihungssystem unterworfen, bei dem gegen Zins kurzfristig große Geldmengen aufgebracht werden konnten, um Kriege zu bezahlen, aber auch, um die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln zu sichern. Den Vierten Kreuzzug (1201–1204) nutzte der Doge Enrico Dandolo zur Eroberung der immer noch reichen Metropole Konstantinopel am Bosporus – der bei weitem größten Stadt Europas. Dabei kam ihm zustatten, dass das Byzantinische Reich zu zerfallen begann, denn Trapezunt, Kleinarmenien, Zypern und Teile Mittelgriechenlands um Korinth hatten sich bereits von der Hauptstadt losgesagt. Das unter Geldmangel leidende Kreuzfahrerheer, das sich ab 1201 bei Venedig sammelte, akzeptierte Dandolos Vorschlag, das katholische Zara (Zadar) – zur Kompensation der Überfahrt ins Heilige Land bzw. nach Ägypten auf venezianischen Schiffen – für Venedig zurückzuerobern. Nach der Eroberung gab Dandolo die Flucht eines byzantinischen Thronprätendenten den Vorwand in die Hand, vor Konstantinopel zu ziehen. Nach zwei Belagerungen kam es zu einer der größten Plünderungen des Mittelalters. Sie brachte ungeheure Schätze in den Süden und Westen Europas. In Venedig war die Quadriga auf der Markuskirche ein Symbol für Dandolos Triumph. Zahlreiche Venezianer brachen auf, um sich aus dem zerfallenden Byzanz ein Stück zu sichern. Die wichtigste territoriale Beute für Venedig war die Insel Kreta. Den Eroberern fiel nur ein verhältnismäßig kleiner Teil des Byzantinischen Reichs zu, während sich in Kleinasien und Griechenland Teilreiche (z. B, das Despotat Epirus) bildeten, die das unter maßgeblicher Beteiligung Venedigs gegründete Lateinische Kaiserreich in den folgenden Jahrzehnten immer stärker bedrängten; dem Kaiserreich Nikaia gelang schließlich 1261 die Rückeroberung Konstantinopels. Diese Kämpfe überforderten jedoch nicht nur die Ressourcen der griechischen Teilreiche, sondern entlasteten auch die türkischen Emirate, die ihre Siedlungs- und Machtstrukturen stabilisieren konnten. Dabei wandelten die Beys von Aydın und Mentesche ihre küstennahen Herrschaftsgebiete in Seemächte um und wurden damit zu einer ernsten Gefahr. Andererseits etablierte Venedig dort einen Konsul, unterhielt Handelskontakte und nutzte türkische Söldner, um sein Kolonialreich zusammen zu halten. Kolonialreich, Konkurrenz Genuas, Umsturzversuche Venedig profitierte beinahe ein halbes Jahrhundert lang von der Errichtung des Lateinischen Kaiserreichs, das es faktisch kontrollierte. Die vertraglichen Abmachungen sicherten der Serenissima ausdrücklich die Herrschaft über drei Achtel des Reiches, eine Herrschaft, die Venedig allerdings nur entsprechend seinen Handelsinteressen ausübte – und seinen begrenzten militärischen Möglichkeiten. Es errichtete demzufolge in den folgenden Jahren ein Kolonialreich in der Ägäis mit dem Schwerpunkt Kreta. Eine Kette von Festungen zog sich von der Ostküste der Adria über Kreta und Konstantinopel bis ins Schwarze Meer (vgl. Venezianische Kolonien). Unter dem Schutz des Mongolenreiches erschloss es sich bald den Handel bis tief nach Asien. 2004 und 2005 wurden in Alaska venezianische Glasperlen gefunden, die irgendwann zwischen 1400 und 1480 als Handelsgut auf dem Landweg und über die Beringstraße dorthin gelangt sein müssen. Der bekannteste venezianische Asienreisende ist Marco Polo. Doch diese Vormachtstellung blieb nicht ungefährdet. Die mächtigste Rivalin war zunächst Pisa, dann Genua. Lange hatten Genuesen versucht, die Eroberung Kretas zu verhindern, und die Insel zeitweise selbst besetzt. Zudem verbündete sich der byzantinische Exilprätendent im kleinasiatischen Nikaia mit Genua. 1261 gelang es den Verbündeten überraschend, Konstantinopel zurückzuerobern. Venedig musste einen Teil seines Gebietes und seiner Privilegien an den Erzrivalen Genua abtreten. Dieser Dauerkonflikt zwischen den beiden oberitalienischen Handelsmetropolen eskalierte im 13. und 14. Jahrhundert in vier jeweils mehrjährigen Kriegen. 1379 gelang den Genuesen im Bündnis mit Ungarn sogar eine einjährige Eroberung Chioggias. Zugleich versuchte Venedig sich in den Auseinandersetzungen zwischen den Staufern, allen voran Friedrich II., und dem Papst zu behaupten. Schließlich gelang es Karl von Anjou, die Macht der Staufer in Süditalien zu brechen (1266, endgültig 1268). Da Karl die Politik der Normannen fortsetzte und versuchte Byzanz zu erobern, war er der gegebene Verbündete Venedigs zur Rückgewinnung seiner dortigen Privilegien. Doch 1282 machte die Sizilianische Vesper den gemeinsamen Plänen ein Ende und Sizilien fiel an das iberische Königreich Aragón. Es dauerte weitere drei Jahre, bis Venedig in Konstantinopel wieder zugelassen wurde, doch zu ungünstigen Bedingungen. Zudem geriet es mit den Nachfolgern Karls in Konflikt, denen es gelang, die Königskrone in Ungarn zu erwerben. Damit bestand erneut die Gefahr einer Abriegelung der Adria und Venedig verlor seine Vorherrschaft in Dalmatien. Eine weitere Entwicklung brachte Venedigs Herrschaft in Gefahr, die Entstehung der Signorien, wie die der Scaligeri in Verona oder der Este in Ferrara. Nachdem es Venedig seit etwa 1200 zunehmend gelungen war, die benachbarten Festlandsstädte gegeneinander auszuspielen, sie durch Handelsblockaden, Umstürze oder militärische Gewalt seinen Interessen unterzuordnen – zu diesen Städten gehörten etwa Ferrara, Padua, Treviso, Ancona und Bologna – gefährdeten die Signori seine Vormacht. Diese Herrschaftsform in den Städten Oberitaliens brachte bald mehrere dieser recht schnell wachsenden Zentren in eine Hand, was Venedig politisch erpressbar machte. Besonders von Mailand und Verona sah sich Venedig bedroht. Trotzdem gelang es Venedig, seine Vormachtstellung im östlichen Mittelmeerraum zu behaupten, obwohl in der ersten Pestwelle von 1348 mehr als die Hälfte der Bevölkerung ums Leben kam und obwohl 1379 die Genuesen im Bunde mit Ungarn beinahe die Stadt eroberten. Zudem erschütterte 1310 ein Adelsaufstand unter Führung des Baiamonte Tiepolo die Republik, 1355 versuchte der Doge Marino Falier einen Staatsstreich und es erhoben sich 1363 die venezianischen Siedler auf Kreta in einem Jahre andauernden Aufstand gegen die rigide Politik Venedigs. Prosperität, Expansion in Italien, Osmanisches Reich Der Friede von Turin (1381) läutete eine neue Phase der Prosperität ein, zumal Genua, durch innere Kämpfe geschwächt, keine große Gefahr mehr darstellte. Nach langen Kämpfen mit Ungarn, das die Stützpunkte in Dalmatien bedrohte, gelang es den Venezianern zwischen 1410 und 1420 sogar, ganz Dalmatien zu erobern. Doch es gelang ihnen nicht, ihr altes Herrschaftsgebiet im südlichen Istrien nach Norden auszudehnen; der Nordteil geriet in den Einflussbereich der Habsburger. Die Grenzziehung stand ab etwa 1500 fest, als die Grafschaft Görz durch Erbschaft an Habsburg fiel und so Triest dem venezianischen Einfluss entzogen wurde. Hingegen kam 1386 Korfu durch Kauf an Venedig, darüber hinaus die Ionischen Inseln und eine Reihe von Städten entlang der albanischen Küste. Währenddessen gelang es den Türken – zunächst unter verschiedenen Dynastien, dann unter Führung der Osmanen –, Kleinasien zu erobern. Mitte des 14. Jahrhunderts setzten sie nach Europa über und reduzierten Byzanz zunehmend auf seine Hauptstadt, womit sie zu Rivalen Venedigs wurden. Denn trotz der Rückeroberung von 1261 war die Durchfahrt durch den Bosporus, den Konstantinopel schützte, von größter Bedeutung für Venedig. Dies umso mehr, als 1291 der letzte Handelsstützpunkt im Heiligen Land fiel. Venedig musste sich infolgedessen auf die Handelswege über Kleinarmenien und Täbriz sowie über Famagusta, Konstantinopel und das Schwarze Meer konzentrieren. Das wiederum verschärfte die Rivalität mit Genua, die – selbst in Zeiten relativen Friedens – immer wieder zu Überfällen auf die gegnerischen Stützpunkte und zu offener Piraterie führte. Etwa zur selben Zeit begann Venedig, sich auf das Festland auszudehnen, die Terra Ferma, wo der Adel bereits umfangreiche Ländereien besaß und wo häufig Venezianer im Amt eines Podestà tätig waren. Die 1402 einsetzende Eroberungspolitik war in Venedig heftig umstritten, denn sie führte zwangsläufig zu Konflikten mit dem Reich, dem Papst und den mächtigsten Staaten Italiens. So waren schon die Angriffe auf Ferrara, das Venedig als erste Festlandsstadt 1240 erobert hatte, gescheitert, ebenso wie im Krieg von 1308 bis 1312. In beiden Fällen scheiterte Venedig vor allem am päpstlichen Widerstand. 1339 hingegen wurde Treviso im Zuge eines Krieges gegen die Scaliger von Verona erobert, wenn diese Eroberung auch erst 1388 endgültig abgeschlossen wurde. In den Jahren nach 1402, dem Todesjahr des Mailänders Gian Galeazzo Visconti, der große Teile Oberitaliens beherrscht hatte, brachte Venedig die Herrschaft über ganz Venetien und Friaul an sich, ebenso wie über die dalmatinische Küste. Mit diesen Eroberungen forderte Venedig den König von Ungarn und des Heiligen Römischen Reiches Sigismund heraus, dessen Rechte damit in beiden Fällen verletzt wurden. Schließlich war das bedrohte Aquileja ein Reichslehen, und als König von Ungarn hatte Sigismund seit dem Frieden von Turin (1381) Anspruch auf die Küstenstädte Dalmatiens. So kam es 1411 bis 1413 zu einem ersten Krieg, der aber trotz Blockademaßnahmen zu keinerlei Resultaten führte. 1418–1420 kam es zu einem zweiten Krieg zwischen Venedig und dem König, an dessen Ende Feltre, Belluno, Udine und der übrige Friaul an Venedig fielen. Beschleunigt wurde diese Eroberung unter Führung des Dogen Francesco Foscari (1423–1457). 1425 besiegte eine venezianische Armee die Mailänder bei Maclodio (in der Provinz Brescia) und schob die Grenze bis an die Adda vor. Doch 1446 verbündeten sich Mailand, Florenz, Bologna und Cremona gegen Venedig. Bei Casalmaggiore siegte Venedig abermals, und in Mailand wurden die Visconti gestürzt. Venedig verbündete sich zeitweise mit dem neuen Herrn Mailands, Francesco Sforza, wechselte aber angesichts seiner zunehmenden Macht wieder zu seinen Feinden über. Erst im Frieden von Lodi 1454 erfolgte eine vorläufige Grenzziehung: Die Adda wurde als venezianische Westgrenze festgelegt. Diese Eroberungen und mehrere Versuche, Ferrara, auf das der Kirchenstaat Anspruch erhob, zu erobern, führten dazu, dass der Kirchenstaat und die meisten anderen italienischen Staaten nun in Venedig ihren schärfsten Rivalen sahen. Venedig war bei diesen langwierigen Kriegen als zentraler Finanzplatz im Vorteil, weil es leichter die große Geldsummen verschlingenden Berufsarmeen der Condottieri bezahlen konnte, die nun die Kriege in Italien führten. Doch versuchten seine Gegner mit verschiedenen geld- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen diese Stellung ins Wanken zu bringen. Die Mittel reichten dabei von der Handelsblockade bis zur Ausgabe von gefälschten Münzen (s. Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig). Viele dieser Mittel standen gegenüber den Osmanen nicht zur Verfügung, die spätestens mit der ersten Belagerung Konstantinopels (1422) zur Großmacht geworden waren, die nun daranging, die zahlreichen kleinen Herrschaftsgebiete zu erobern. Venedig verteidigte von 1423 bis 1430 vergebens Thessaloniki. Auch die Ungarn wurden zurückgeschlagen. 1453 gelang es den Osmanen endgültig, Konstantinopel zu erobern. Schlagartig riss damit der immer noch bedeutende Handel mit dem Ägäis- und dem Schwarzmeerraum ab. Dennoch gelang es der venezianischen Diplomatie, neue Fäden anzuknüpfen, so dass das Quartier in der nunmehr osmanischen Hauptstadt erneut bezogen werden konnte. 1460 eroberten osmanische Truppen die letzte nennenswerte byzantinische Bastion Mistra, womit das Osmanische Reich zum unmittelbaren Nachbarn der venezianischen Festungen Koron und Modon auf der Peloponnes wurde. 1475 kam die Krim hinzu, wodurch der von Genuesen vermittelte Handel einbrach. Schon in der Zeit vor der Eroberung Konstantinopels setzte eine griechische Flüchtlingswelle nach Westen ein, so dass die Griechen zur größten Gemeinde in Venedig wurden. Ihre rund 10.000 Mitglieder erhielten 1514 das Recht, eine orthodoxe Kirche zu errichten, San Giorgio dei Greci. Ebenso stieg die Zahl der Armenier an, die bereits 1496 ihre Kirche Santa Croce weihten. Hinzu kamen jüdische Flüchtlinge aus Spanien, von wo sie 1492 vertrieben wurden. 1463–1479 stand Venedig erneut im Krieg mit der türkischen Großmacht. Trotz vereinzelter venezianischer Erfolge eroberten die Osmanen 1470 die Insel Negroponte. Selbst Bündnisversuche mit dem Schah von Persien sowie Angriffe auf Smyrna, Halikarnassos und Antalya brachten keine greifbaren Ergebnisse. Als die Herrscher von Persien und Karaman von den Osmanen geschlagen wurden und Skanderbeg, der Albanien verteidigt hatte, starb, führte Venedig den Krieg allein fort. Zwar konnte es Skutari zunächst gegen die Belagerer verteidigen, verlor die Stadt zwei Jahre später dennoch. Die Hohe Pforte versuchte sogar einen Angriff im Friaul sowie in Apulien. Erst am 25. Januar 1479 kam es zu einem Friedensschluss, der fünf Jahre später bestätigt wurde. Venedig musste auf die Argolis, Negroponte, Skutari und Lemnos verzichten und darüber hinaus jedes Jahr 10.000 Golddukaten Tribut zahlen. Umso mehr schien sich Venedig auf das italienische Festland zu konzentrieren. Gegen den Widerstand von Mailand, Florenz und Neapel versuchte es im Bund mit dem Papst Ferrara zu erobern. Trotz schwerer Niederlagen zu Lande gelang es, Gallipoli in Apulien zu erobern. Außerdem fielen Venedig im Frieden von 1484 die Polesine und Rovigo zu. In den Kämpfen gegen den französischen König Karl VIII., der 1494 versuchte, Italien zu erobern, und im Zusammenhang mit der spanischen Eroberung des Königreichs Neapel, besetzte die venezianische Flotte einen großen Teil der apulischen Küstenstädte. Insgesamt hatte Venedig seine Vormachtstellung im Osten weitgehend eingebüßt, profitierte aber nach wie vor vom Mittelmeerhandel in einem Ausmaß, das sie zur reichsten und einer der größten Städte Europas machte. Darüber hinaus werteten Meliorationen auf dem Festland die Erträge auf, so dass auch von hier umfangreiche Gewinne nach Venedig flossen. Mit rund 180.000 Einwohnern erreichte sie annähernd ihre maximale Einwohnerzahl, wobei in ihrem Kolonialreich rund zwei Millionen Menschen lebten. Der Ausbau der Stadt nach innen, durch Landgewinnung und Trockenlegung von Sümpfen, durch höhere Häuser und dichtere Bebauung, beschleunigte sich. Zudem prägten Zuwanderer aus dem gesamten Handelsgebiet die Stadt zunehmend. Perser, Türken, Armenier, Bewohner des Heiligen Römischen Reiches, Juden, dazu Bewohner zahlreicher italienischer Städte fanden eigene Handelshäuser, Quartiere und Straßenzüge. Neben dem Fernhandel und dem Handel mit Salz und Getreide wuchsen die Glasindustrie und der Schiffbau zu den bedeutendsten Einnahmequellen heran. Kriege um Oberitalien, Verlust des Kolonialreichs, Streit mit Päpsten und Habsburgern Unter der Führung Papst Julius' II. versuchte die Liga von Cambrai, die venezianische Expansion rückgängig zu machen. Kaiser Maximilian I. forderte die Terra Ferma als entfremdetes Reichsgebiet zurück, Spanien forderte die apulischen Städte, der König von Frankreich Cremona, der König von Ungarn Dalmatien. Die venezianische Armee erlitt in der Schlacht von Agnadello am 14. Mai 1509 eine vernichtende Niederlage. Trotzdem gelang es der Serenissima im selben Jahr, das verlorene Padua zurückzuerobern, und bald kamen Brescia und Verona wieder an Venedig. Trotz der Rückeroberungen kam die venezianische Expansion zum Stillstand. Spanien erlangte weitgehende Vorherrschaft in Italien, der Süden fiel ihm ganz zu. 1511 entstand jedoch eine neue Koalition gegen die französische Expansion nach Italien, von der sich Venedig allerdings 1513 wieder abwandte. 1521 bis 1522 und 1524 bis 1525 unterstützte Venedig König Franz I. von Frankreich gegen den Papst und die Habsburger. Von nun an betrieb die Republik gegenüber den italienischen Staaten eine Politik der strikten Neutralität, verbündete sich aber immer wieder gegen die Habsburger, wie etwa in der Liga von Cognac (1526 bis 1530). Während der Kriege mit den Osmanen von 1499 bis 1503 und von 1537 bis 1540 war Venedig mit Spanien verbündet. 1538 erlitt der Admiral der Bundesflotte, Andrea Doria, bei Prevesa eine schwere Niederlage gegen die osmanische Flotte, der es erstmals gelang, ihre Überlegenheit auf See durchzusetzen. Das Herzogtum Naxos wurde von den Osmanen in Besitz genommen. Venedig war durch seine vergleichsweise geringen Ressourcen nur noch mühsam in der Lage, im Konzert der damaligen Großmächte mitzuspielen. So sah sich die Stadt ab 1545 gezwungen, ähnlich wie andere Seemächte, auf Galeerenhäftlinge zurückzugreifen, die an die Ruderbank angekettet waren. Ein letztes Mal spielte Venedig 1571 eine weltpolitische Rolle, als es im Rahmen der Heiligen Liga 110 Galeeren zur Bündnisflotte beitrug, die insgesamt 211 Schiffe umfasste. In der Seeschlacht von Lepanto, unweit des griechischen Patras, konnte diese Flotte die osmanische besiegen und 117 von deren 260 Galeeren erobern. Doch Venedig konnte keinen Vorteil daraus ziehen – die Insel Zypern war schon vor der Seeschlacht verloren gegangen (der Verlust der Insel wurde 1573 vertraglich anerkannt) und es fehlten längst die Kräfte für eine Rückeroberung. Zudem umfasste die osmanische Flotte schon wenig später wieder 250 Kriegsschiffe. Aus der Perspektive der Venezianer hatten die (bis dato fünf) Türkenkriege weiterhin oberste Priorität. Dabei versuchten sie, sich nicht in Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen, wie sie die Uskoken durch ihre Piraterie immer wieder auslösten. Die Uskoken waren christliche Flüchtlinge aus den türkisch besetzten Gebieten Bosniens und Dalmatiens. Sie waren nach Lepanto als Untertanen der Habsburger in den Grenzgebieten zur Verteidigung angesiedelt worden. Als Venedig 1613 militärisch gegen sie vorging und Gradisca attackierte, fand es sich in einem mehrjährigen Konflikt mit den Habsburgern wieder, der erst 1617 beigelegt werden konnte. In diesem Jahr versuchte der spanische Vizekönig von Neapel die Vorherrschaft Venedigs in der Adria – mit geringem Erfolg – zu brechen. Der hierin verwickelte spanische Gesandte wurde abberufen, drei seiner Männer gehenkt. Das Misstrauen gegen Spaniens Intrigen ging so weit, dass 1622 der – wie sich später herausstellte – unschuldige Gesandte Antonio Foscarini zwischen den Säulen der Piazzetta hingerichtet wurde. Politisch war die Stadt dabei gespalten. Einerseits wehrten sich die so genannten giovani, die Jungen, gegen die Einmischung des Papstes in die Politik Venedigs und unterstützten dabei über die Konfessionsgrenzen hinweg die protestantischen Herrscher. Zudem misstrauten sie den katholischen Habsburgern, vor allem den spanischen. Führer dieser anti-päpstlichen und anti-jesuitischen Gruppe, die in weltlichen Dingen dem Papst keine Vorrechte einräumen wollte, war Paolo Sarpi, auf den mehrere Anschläge verübt wurden. Die Gegner der giovani waren die vecchi, die Alten, auch papalisti, Papstanhänger genannt. Sie unterstützten Spanien, das bereits die meisten Gebiete Italiens beherrschte. 1628 wurde Venedig in die Kämpfe um das Machtgleichgewicht innerhalb Italiens durch den Franzosen Charles von Gonzaga-Nevers hineingezogen. Venedig verband sich mit Frankreich gegen die Habsburger, die im Bündnis mit Savoyen standen. Die Venezianer erlitten bei dem Versuch, Mantua von den deutschen Belagerern zu entsetzen, eine schwere Niederlage. Diese Niederlage in Verbindung mit der 16-monatigen Pest von 1630 bis 1632, die Venedig, eine Stadt von 140.000 Einwohnern, rund 50.000 Menschenleben kostete, war der Beginn seines außenpolitischen Niedergangs. Die Kirche Santa Maria della Salute wurde zum Dank für das Ende der Katastrophe errichtet. 1638 drang eine tunesisch-algerische Korsarenflotte in die Adria ein und zog sich in den osmanischen Hafen von Valona zurück. Die venezianische Flotte beschoss die Stadt, kaperte die Piratenflotte und befreite 3.600 Gefangene. An der Hohen Pforte bereitete man nun die Eroberung Kretas vor. Die Belagerung der Hauptstadt Candia (Iràklion) dauerte 21 Jahre. Zugleich griffen türkische Flottenverbände Dalmatien an, das allerdings gehalten werden konnte. Jedoch kapitulierte Candia am 6. September 1669. Die letzten Festungen um Kreta hielten sich bis 1718. Veränderung der herrschenden Familienverbände, Neuaufnahmen Die Herrschaft des Adels blieb trotz der äußeren Erschütterungen stabil, der Stand scharf nach außen abgegrenzt. 1594 wies Venedig 1.967 mindestens 25-jährige Adlige auf, die sich im Großen Rat versammelten und den Adel insgesamt repräsentierten. Doch war diese Gruppe keineswegs homogen, im Gegenteil stieg ein erheblicher Teil der Familien wirtschaftlich sehr weit ab. So kam es spätestens in den 1620er Jahren zu ersten Debatten über die schrumpfende Zahl der Adligen und die kleiner werdende Zahl der führenden Familien, die in wachsendem Gegensatz zur anschwellenden Zahl der Ämter stand, aber auch über die Klientelverhältnisse, denn viele verarmte Patrizier votierten nun gegen materielle Leistungen. Dies wiederum verschärfte die Konflikte zwischen den Großfamilien, deren Herrschaftssystem eher Züge einer Plutokratie annahm. Doch erst unter dem wirtschaftlichen und finanziellen Druck des Kampfes um Kreta gegen die Osmanen gestattete dieser Adel ausnahmsweise die Aufnahme von hundert neuen Familien gegen Zahlung von 100.000 Dukaten, um die Kriegslasten tragen zu können. Dennoch beherrschten nach dieser Aggregation weiterhin die 24 „alten Familien“ (case vecchie) die Politik, die behaupteten, sich bis in die Zeit vor 800 zurückverfolgen zu können. Hinzu kamen etwa 40 weitere Familien, die über zahlreiche Ämter Zugang zum Kernbereich der Machtausübung hatten. Gelegentlich stießen neue Familien in den innersten, weniger scharf abgegrenzten Machtkern vor, andere mussten ihn verlassen. Dabei sank die Zahl der Adligen insgesamt trotz der Aggregation bis 1719 auf nur noch 1.703, die sich auf rund 140 Familien mit zahlreichen Zweigen verteilten. Deren Bindung untereinander wurde dadurch begünstigt, dass die Brüder innerhalb einer Familie ohne Vertrag eine Handelsgesellschaft darstellten. Die Vermögensverteilung wurde innerhalb des steuerpflichtigen Adels – was in Europa eine Ausnahme war – 1581, 1661 und 1711 erhoben. Von den 59 Haushalten, die über ein Jahreseinkommen aus ihren Häusern und Liegenschaften von mehr als 2.000 Dukaten pro Jahr verfügten, waren 1581 nur drei nicht adlig. 1711 gehörte gar von den 70 Haushaltsvorständen, denen mehr als 6.000 Dukaten zuflossen, nur einer nicht dem Adel an. Vermögen und Adel waren praktisch identisch, sieht man von wenigen Ausnahmen ab. Dabei sind die mobilen Vermögen nicht berücksichtigt, die sich über die Testamente analysieren ließen. Depositen bei der Zecca, der staatlichen Münze, spielten dabei eine große Rolle, ähnlich wie im 14. Jahrhundert bei der Weizenkammer, der Camera del frumento. Der 1701 verstorbene Alvise da Mosto hatte dort eine Summe von 39.000 Dukaten hinterlegt. Hinzu kamen Einlagen in Familienunternehmen, wie die des Antonio Grimani, der bis 1624 20.000 Dukaten in eine Seifensiederei investiert hatte. Außerdem trug der Handel mit den Produkten der eigenen Güter, wie Getreide und Vieh erheblich zum Vermögen bei. Der Adel erwarb vor allem zwischen etwa 1650 und 1720 fast 40 % des frei werdenden Gemeindelands auf dem Festland. Wichtig waren auch Mitgiften, die zwischen 5.000 und 200.000 Dukaten schwankten, sowie Einnahmen aus Staats- und Kirchenämtern. Insgesamt zählten etwa 7.000 Menschen zum Adel, der die rund 150.000 Einwohner zählende Stadt und das 1,5 bis 2,2 Millionen Einwohner zählende Kolonialreich beherrschte, politisch und ökonomisch. Die Machtausübung geschah weiterhin in einem Turnus von über 400 dem Adel vorbehaltenen Ämtern, die meist jährlich ausgeübt wurden, sieht man einmal vom Dogen und den Prokuratoren und einigen wenigen weiteren Ämtern ab, die auf Lebenszeit vergeben wurden. Eine Professionalisierung der Politik im Sinne einer Ausbildung oder eines Studiums hat sich in Venedig nie durchgesetzt. Letzte Eroberungen in Griechenland Erst nachdem 1683 die Zweite Wiener Türkenbelagerung der osmanischen Armee gescheitert war, gelang es, ein neuerliches Bündnis zu schließen. 1685 landete eine venezianische Armee unter Francesco Morosini und Otto Wilhelm von Königsmarck auf Santa Maura (Lefkas), dann auf Morea (dem heutigen Peloponnes), eroberte Patras, Lepanto und Korinth und stieß weiter bis Athen vor. 1686 wurden Argos und Nauplia eingenommen. Die Rückeroberung von Euböa scheiterte jedoch 1688. Obwohl der venezianischen Flotte Seesiege bei Mytilini, vor Andros und sogar den Dardanellen gelangen (1695, 1697 und 1698), nahmen die eigentlichen Sieger, die österreichischen Habsburger und Russland, Venedigs Forderungen nicht ernst. Schließlich sicherte der Frieden von Karlowitz im Jahr 1699 die Eroberungen Venedigs nur notdürftig, immerhin blieb die Halbinsel Morea für einige Zeit venezianisch. Im Dezember 1714 begannen die Osmanen mit der Wiedereroberung. Daniele Dolfin, Admiral der venezianischen Flotte, war nicht bereit, diese für die Halbinsel Morea aufs Spiel zu setzen. 1716 wehrte der Oberkommandierende der Landtruppen, Feldmarschall Johann Matthias von der Schulenburg, die türkische Belagerung von Korfu ab. Trotz dieses Sieges und der Niederlagen, die die Osmanen gleichzeitig gegen die habsburgischen Armeen unter Prinz Eugen von Savoyen einstecken mussten, gelang es Venedig nicht, die Wiederherausgabe von Morea durchzusetzen, wohingegen die Habsburger im Frieden von Passarowitz (1718) große territoriale Gewinne erzielten. Dieser Krieg war der letzte zwischen dem Osmanischen Reich und Venedig. Venedigs Kolonialreich, der Stato da Mar, bestand weitestgehend nur noch aus Dalmatien und den Ionischen Inseln. In realistischer Einschätzung der noch verbliebenen Kräfte bereitete Schulenburg diese Besitzungen in den folgenden Jahrzehnten auf ihren letzten Abwehrkampf vor. Niedergang und Ende Ausschlaggebend für den allmählichen Niedergang Venedigs als Handelsmacht, und damit als europäischer Machtfaktor, war der im Zeitalter der Entdeckungen zunehmende Bedeutungsverlust des Handels in der Levante und der damit einhergehende Aufstieg neuer Mächte. Diese Mächte verfügten zudem über Organisations- und Kreditformen, die in Venedig nicht zur Verfügung standen. Durch seine geografische Lage und durch Fehleinschätzung der Bedeutung der Entdeckungen der neu erschlossenen Ressourcen der Neuen Welt und Ostindiens und damit von den sich verlagernden Handelsströmen (atlantischer Dreieckshandel und Indienhandel) abgeschnitten, wurde Venedig durch die aufstrebenden Staaten Portugal, Spanien, Niederlande und Großbritannien wirtschaftlich und machtpolitisch allmählich überflügelt. Es besaß zudem aufgrund seiner relativ geringen Bevölkerungszahl und des Mangels an rohstoffreichen Kolonien nicht die Möglichkeiten einer merkantilen Wirtschaftspolitik im großen Stil. Einzig die Produzenten von Glasperlen gewannen durch den Handel der neuen Kolonialmächte in Amerika, Asien und Afrika riesige neue Märkte. In Europa spezialisierte sich Venedig auf den Handel mit Luxuswaren, vor allem mit Glas, und die Landwirtschaft. Venedig und die italienischen Stadtstaaten sanken insgesamt von Regionalmächten zu Lokalmächten herab, die Landwirtschaft wurde zum Haupttätigkeitsfeld eines wachsenden Teils des Adels. Dennoch gelang es Venedig, seine bis heute bestehenden Verteidigungsanlagen auszubauen, ein System, das praktisch die gesamte Lagune umschloss und das zwischen 1744 und 1782 entstand. Zudem hielt sich Venedig keineswegs aus den Konflikten, wie im Maghreb, heraus. 1778 operierte seine Flotte vor Tripolis, 1784–1787 entspann sich ein Krieg mit Tunesien, den Angelo Emos Flotte führte, 1795 mit Marokko und noch im Oktober 1796 mit Algier. Auf seinem Italienfeldzug bot Napoleon Bonaparte ein Bündnis an, doch lehnte der Senat ab. Er unterstützte stattdessen den bewaffneten Aufstand auf der Terra ferma, als Bonaparte gegen die Österreicher zog. Ganz Oberitalien war ab 1796 zum Schlachtfeld für die französischen und österreichischen Truppen geworden. Am 15. April 1797 stellte der französische General Andoche Junot dem Dogen ein Ultimatum, in dem er die Republik des Verrats bezichtigte, was die Republik nicht akzeptierte. Nachdem am 17. April die französische Flotte von den Kanonen am Lido zurückgeschlagen wurde, erklärte Napoleon, der „Attila für Venedig“ sein zu wollen. Am 18. April wurde in einem geheimen Zusatz zum Friedensvertrag von Leoben zwischen Frankreich und Österreich vereinbart, dass Venetien, Istrien und Dalmatien an Österreich fallen sollten. Eine Woche später, am 25. April, lag eine französische Flotte vor dem Lido. Venedigs Kanonen versenkten zwar ein Schiff samt Kapitän, der Einzug der Franzosen war jedoch nicht aufzuhalten. Am 12. Mai legte der letzte Doge, Ludovico Manin, sein Amt zugunsten einer provisorischen Verwaltung nieder, der municipalità provvisoria. Zwei Tage später verließ er den Dogenpalast für immer. Am 16. Mai standen zum ersten Mal in Venedigs Geschichte fremde Truppen auf dem Markusplatz. Am selben Tag wurde der Kapitulationsvertrag unterzeichnet, Venedig unterwarf sich der französischen Herrschaft. Der 4. Juni, Tag der Einsetzung einer provisorischen Regierung, wurde als revolutionärer Tag der Freiheit zum Nationalfeiertag erklärt. Es gab insgesamt nur noch 962 Patrizier aus 192 Familien, die fast alle ihre Ämter verloren. Im Vertrag von Campoformio vom 17. Oktober 1797 fielen dann Venetien, Dalmatien und Istrien als Herzogtum Venedig an Österreich, die Republik der Ionischen Inseln an Frankreich. Am 18. Januar 1798 begann mit dem Einzug seiner Truppen die Besatzung der Stadt durch die Habsburgermonarchie. 1805 bis 1814 war Venedig nach dem Frieden von Pressburg (im Rahmen des Königreichs Italien) wieder unter französischer Hoheit. Ein erheblicher Teil seiner historischen Kunstschätze und Archivalien wurde nach Paris gebracht. Nach der endgültigen Niederschlagung der napoleonischen Herrschaft in Europa und dem die Restauration einleitenden Wiener Kongress fiel es 1815 zusammen mit der Lombardei erneut an Österreich (vgl. Königreich Lombardo-Venetien), doch nur ein Teil der Kunstwerke und Archivstücke kehrte zurück. Die Stadt erhob sich im Zuge der Revolutionen von 1848 (für Italien vgl. unter Risorgimento) gegen die Habsburger und rief unter der Führung des demokratisch-republikanischen Revolutionärs Daniele Manin am 23. März 1848 die Repubblica di San Marco aus. Diese wurde am 23. August 1849 von österreichischen Truppen niedergeschlagen. Nach der Niederlage der Habsburger im Krieg gegen Preußen und Italien wurde Venedig 1866 an das 1861 ausgerufene Königreich Italien angeschlossen. Im Jahre 1997, am 200. Jahrestag des Endes der Republik, entführten acht Männer eine Fähre und brachten damit einen Blechpanzer vom Lido zum Markusplatz, wo sie auf dem Glockenturm von San Marco die Kriegsflagge Venedigs hissten, die den Heiligen Markus mit Schwert zeigt. Die acht als „Löwen“ oder „Serenissimi“ bezeichneten Besetzer wurden zu Haftstrafen bis zu sechs Jahren verurteilt, jedoch nach einem Jahr freigelassen. Quellen und Editionen Die Dichte der mittelalterlichen venezianischen Überlieferung lässt sich nur mit der des Vatikans vergleichen, allerdings setzen die erzählenden Quellen erst um 1000 mit der Istoria Veneticorum des Johannes Diaconus ein. Vor allem ab etwa 1220 setzen zudem die Protokolle der Ratsgremien ein, dazu kommen zahllose Regelwerke für die Korporationen, die bedeutenden Industrien und die Finanzverwaltung. Die Zahl der Quelleneditionen ist im Verhältnis zum Fundus des Staatsarchivs, der Biblioteca Marciana und des Museo Civico Correr immer noch gering. Bei der Geschichtsschreibung hängt dies damit zusammen, dass immer wieder von vier Autoren abgeschrieben wurde: Andrea Dandolo, sein Fortsetzer Rafaino de’ Caresini, Nicolo Trevisan und Giangiacopo Caroldo. Dazu kamen als bedeutende Verfasser Martino da Canale und das Städtelob des Marin Sanudo. Da Venedig die staatliche Geschichtsschreibung strikt kontrollierte und entsprechende Verfasser berief, sind nicht-venezianische Schriften ein wichtiges Korrektiv. Für das Frühmittelalter stehen Diplomatarien zur Verfügung sowie die Editionen der Kaiserpacta und der zahlreichen Verträge mit den italienischen Städten. Von besonderer Bedeutung für die Urkundenüberlieferung sind die Editionen von Tafel und Thomas zur älteren Handels- und Staatsgeschichte der Republik Venedig. Die ältesten überlieferten Protokolle entstanden im Kleinen Rat und stammen aus den Jahren 1223 bis 1229. Für die Zeit von 1232 bis 1299 bilden die von Roberto Cessi edierten Protokolle des Großen Rates eine Hauptquelle. Typisch für die Aufteilung vorhandener Gremien entsprechend enger gefasster Zuständigkeiten ist der Rat der Vierzig (die XL). Er entstand gegen 1220, stieg zu einem bedeutenden Gremium auf, verlor jedoch im Laufe des 14. Jahrhunderts seine politische Bedeutung und wurde zum Gerichtshof. Im 14. Jahrhundert entstand die XL Nuova für das Zivilrecht, die der alten XL das Strafrecht überließ. Gegen 1420 wurde diese nach neuen Kriterien der Kompetenzzuweisung abermals aufgeteilt, so dass man nun neben der Quarantia Criminal, auch von der Quarantia Civil Vecchia, bzw. Nuova sprach. Der älteste erhaltene Band enthält die Beschlüsse von 1342/1347. Die Vorgängerbände sind verschollen, die erhaltenen in schlechtem Zustand. Antonino Lombardo erarbeitete die dreibändige Edition, die die Zeit von 1342 bis 1368 umfasst. Besonders wichtig für das 14. und 15. Jahrhundert sind die Sammlungen des Senats, insbesondere Misti, Secreta und Sindicati. Die Misti setzen sich aus 60 Bänden für die Jahre 1293 bis 1440 zusammen, allerdings sind die ersten 14 verschollen. Die Bände 1–14 umfassen (fast) nur die Rubriken von 4.267 Beschlüssen, die unedierten Bände 15 bis 60 umfassen über 7.000 Blätter. Die Secreta setzen regelmäßig ab dem Jahr 1401 ein und umfassen 135 Bände mit 10 Registerbänden. Aus dem 14. Jahrhundert sind nur vier weitere von ursprünglich 19 Bänden erhalten (Libri secretorum collegii rogatorum 1345–1350, 1376–1378, 1388–1397), so dass insgesamt 139 Bände für die Zeit von 1401 bis 1630 vorliegen. Sie stellten das Register dar, in dem sich Magistrate und Archivare bedienen konnten. Bei den Sindicati handelt es sich ausschließlich um Anweisungen an Magistrate oder Gesandte vonseiten des Senats (s. Venezianische Diplomatie). Insbesondere die Register für die Jahre 1329–1332 sind von großer Bedeutung, da für diese Zeit nur die Rubriken der Misti vorliegen. Für das 14. Jahrhundert liegen als Editionen das Notatorio del Collegio (1327–1383), die Secreta Collegii, der Liber secretorum Collegii Band I (1363–1366) und (1408–1413), schließlich die von Predelli edierten Regesten der Beschlüsse des Collegio, des Großen Rates und des Senates (Regesti dei Commemoriali) vor. Auch der Rat der Zehn hinterließ Aufzeichnungen, von denen Ferruccio Zago inzwischen 5 Bände veröffentlichen konnte. Der wichtigste Fundus für die Kolonialgeschichte sind die Beschlüsse des Duca di Candia, des Herrn Kretas. Eine Beschwerdesammlung zur Piraterie in der Ägäis ist bereits von Tafel und Thomas veröffentlicht worden. Sie beleuchtet die Verhältnisse zwischen 1268 und 1278. Die zahlreichen Inschriften Venedigs sind von Cicogna ediert worden. Erst ab dem 15. Jahrhundert setzt die Überlieferung der Diarien ein. Besonders wichtig sind die des Girolamo Priuli (sie umfassen die Jahre 1494 bis 1512) und die Marin Sanudos des Jüngeren. Letztere reichen von Januar 1496 bis September 1533. 1531 erhielt nicht er, sondern Pietro Bembo den Staatsauftrag zur Abfassung einer Geschichte Venedigs (Geschichtsschreiber der Stadt wurden ausdrücklich ernannt). Seine Diarien wurden vom Rat der Zehn unter Verschluss genommen und waren bis zur Auffindung im Jahr 1784 verschollen. Für die Wirtschaftsgeschichte sind die Kaufmannsbriefe und -bücher von größter Bedeutung, wie die Briefe des Pignol Zucchello oder die (unedierten) Briefe der Bembo für das späte 15. Jahrhundert sowie die im 13. Jahrhundert einsetzende Pratiche della mercatura (Kaufmannshandbücher). Hervorzuheben sind dabei Giovanni da Uzzano, Benvenuto Stracca und v. a. Francesco Balducci Pegolottis Pratica della mercatura. Das gilt auch für den berühmten Zibaldone da Canal und den Tariffa de pesi e mesure des Bartholomeo di Pasi. Zwar ediert, aber kaum erschlossen sind die Rechnungsbücher des Giacomo Badoer, die die Jahre 1436–1439 umfassen. Für die Geschichte der Zünfte und des Handwerks sind die zahlreichen Statuten (mariegole) von Bedeutung. Im Spätmittelalter setzen die Aufzeichnungen der großen, behörden- und staatsbankartigen Institutionen ein, wie der Salz- (Provveditori al Sal) und der Getreidekammer (Provveditori alle Biave), die nicht ediert sind. Seit 1947 erscheinen die Fonti relative alla storia di Venezia, auch Fonti per la storia di Venezia genannt. Dort erschienen neben Quellen der staatlichen Institutionen auch solche aus Notars-, kirchlichen und privaten Institutionen, aber auch von Händlern, dann der gesellschaftlichen Organisationen, wie der Scuole oder der Handwerkerzünfte. Riesige Quelleneditionen wurden hingegen, vor allem im 19. Jahrhundert, unter räumlichen Aspekten zusammengestellt. Dazu zählen die Editionen zu Albanien, die Belgrader Acta, die Serbien betreffen, das Gegenstück aus dem kroatischen Zagreb, dann für den Friaul, Istrien, Ferrara, für die Levante und die Romania oder zu Kreta. Weniger nach räumlichen, als nach finanzgeschichtlichen Kriterien wurden die Documenti finanziari zusammengestellt. Frederic C. Lane legte mit seinem Schüler Reinhold C. Mueller die 1985 erschienene, umfangreichste Arbeit zum venezianischen Bankwesen vor, die auf diesem Sektor ein Standardwerk darstellt: Money and Banking in Medieval and Renaissance Venice, 1: Coins and Moneys of Account. Die Fertigstellung des zweiten Bandes, The Venetian Money Market. Banks, Panics, and the Public Debt, 1200-1500 besorgte gleichfalls Reinhold Mueller. Karten und Stadtpläne wurden schon früh zu einer präzisen Quelle, wie der Plan des Jacopo de’ Barbari von 1500 beweist, dessen Druckstöcke sich in der Biblioteca Marciana befinden. Literatur Überblickswerke Eric Dursteler (Hrsg.): A Companion to Venetian History, 1400-1797, Brill, Leiden 2013. Gerhard Rösch: Venedig. Geschichte einer Seerepublik, Kohlhammer, Stuttgart 2000. Alberto Tenenti, Ugo Tucci (Hrsg.): Storia di Venezia, 8 Bde., dazu 3 Bde. (L’ Ottocento e il Novecento) und 3 Themenbände (Il Mare, 2 Bde. L’Arte), Rom 1992–2002. John Julius Norwich: A History of Venice, Knopf/Random House, New York 1982, 2. Auflage 2003, Penguin Books, 2011 (dominierte im Angelsächsischen seit 1977). ISBN 978-0-241-95304-4 Kurt Heller: Venedig. Recht, Kultur und Leben in der Republik 697–1797, Böhlau, Wien 1999. ISBN 3-205-99042-0 Manfred Hellmann: Grundzüge der Geschichte Venedigs, 2. Aufl., Darmstadt 1989. ISBN 3-534-03909-2 Elizabeth Horodowich: A Brief History of Venice. A New History of the City and Its People, Robinson, London 2009. ISBN 978-1-84529-611-7 Arne Karsten: Kleine Geschichte Venedigs, C. H. Beck, München 2008. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Gepard
Gepard
Der Gepard [] (Acinonyx jubatus) ist ein hauptsächlich in Afrika verbreitetes Raubtier, das zur Familie der Katzen gehört. Die in ihrem Jagdverhalten hoch spezialisierten Geparde sind die schnellsten Landtiere der Welt. Damit verbunden gibt es in Gestalt und Körperbau deutliche Unterschiede zu anderen Katzenarten, weshalb dem Gepard traditionell eine Sonderstellung in der Verwandtschaft eingeräumt wurde. Genetische Untersuchungen zeigten jedoch, dass sie entwicklungsgeschichtlich nicht gerechtfertigt ist; die nächsten Verwandten des Gepards sind amerikanische Katzen (Puma und Jaguarundi). Wortherkunft Das Wort Gepard stammt über das französische guépard vom italienischen gattopardo ab, das sich aus gatto für ‚Katze‘ und pardo für ‚Panther‘ zusammensetzt. Der Gattungsname Acinonyx wiederum besteht aus den griechischen Wörtern und . Der Artname jubatus (deutsche Schreibweise) stammt von . Merkmale Das Gepardfell hat eine goldgelbe Grundfarbe, wobei die Bauchseite meist deutlich heller ist. Es ist mit schwarzen Flecken übersät, die auffallend kleiner sind als die eines Leoparden und keine Rosetten bilden. Das Gesicht ist dunkler und ungefleckt, trägt aber zwei schwarze Streifen, die von den Augen zu den Mundwinkeln laufen (Tränenstreifen). In Bezug auf die Fleckung ähnelt der Gepard zwar dem Leoparden, in seiner Gestalt unterscheidet er sich jedoch beträchtlich von ihm wie auch von allen anderen Katzen. Geparde haben extrem lange, dünne Beine und einen sehr schlanken Körper, der dem eines Windhundes sehr ähnelt. Der Kopf ist klein und rund, der Schwanz lang. Die Pfoten tragen dicke, schuppige Sohlen; die Krallen sind nur bedingt einziehbar (daher der Gattungsname). Aufgrund seines Körperbaus ist der Gepard das schnellste Landtier der Welt. Es werden Spitzengeschwindigkeiten jenseits der 100 km/h angenommen. Während der Jagd durch Vegetation wurden Geschwindigkeiten bis 93 km/h nachweisbar gemessen, Er kann diese hohe Geschwindigkeit aber nur etwa ein bis zwei Sekunden durchhalten. Die durchschnittliche Jagdgeschwindigkeit des Gepards liegt mit rund 53 km/h deutlich darunter, was mit dem Aufrechterhalt einer möglichst hohen Manövrierfähigkeit und der Motivation erklärt wird. Die Anatomie des Gepards ist auch in weiteren Punkten auf Schnelligkeit ausgelegt: seine Nasengänge sind erheblich verbreitert, so dass wenig Platz für das Gebiss bleibt, das gegenüber anderen Katzen stark verkleinert und damit eine relativ schwache Waffe ist. Auch Lungen, Bronchien und Nebennieren sind proportional stark vergrößert. Ein Gepard erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 150 cm, hinzu kommen 70 cm Schwanz. Die Schulterhöhe beträgt 80 cm. Trotz dieser stattlichen Größe bringt er es nur auf ein Gewicht von 60 kg. Nach neueren Untersuchungen gibt es nur zwei Unterarten oder gar nur zwei Populationen, nämlich den Afrikanischen und den Asiatischen Gepard. Zugleich stellte man eine auffällig niedrige genetische Variabilität mit Inzuchtraten fest, die beinahe denen von Labormäusen entsprechen; demzufolge vermutete man, die Geparde könnten auch gegenüber Krankheiten und Umweltveränderungen anfällig sein. Es ist jedoch noch nicht geklärt, ob diese genetische Einförmigkeit in freier Wildbahn einen wesentlichen Nachteil für die Tiere bedeutet. Als weitgehend gesichert gilt, dass man ohne Abstoßungsreaktion Gewebe unter Geparden übertragen kann – etwas, das sonst nur bei genetischer Identität für möglich gehalten wurde (→ eineiige Zwillinge). Durch genetische und immunologische Untersuchungen konnte ermittelt werden, dass die heutigen Geparde Süd- und Ostafrikas wahrscheinlich alle von einer sehr kleinen Stammgruppe abstammen (→ genetischer Flaschenhals), die vor etwa 10.000 Jahren gelebt hat. Damals starb der Amerikanische Gepard aus, und der Gewöhnliche Gepard entging offenbar nur knapp diesem Schicksal. Er breitete sich danach in den Savannen Afrikas und Asiens wieder aus (→ Purging) und konnte daher bis in unsere Zeit überleben. Diese Untersuchung genießt in Fachkreisen hohes Ansehen und wird mittlerweile als klassisches Beispiel in der Populationsgenetik benutzt. Verbreitungsgebiet und Lebensraum Der Gepard war einst über fast ganz Afrika mit Ausnahme der zentralafrikanischen Waldgebiete verbreitet; außerdem waren Vorderasien, die indische Halbinsel und Teile Zentralasiens besiedelt. Heute ist er fast nur noch in Afrika südlich der Sahara anzutreffen. In Asien gibt es winzige Restbestände, die von Ausrottung bedroht sind (siehe Unterarten). Der letzte Gepard wurde in Indien in den Jahren 1967/1968 gesichtet, und die Art galt seitdem als dort ausgestorben. Am 17. September 2022 wurden die ersten zwei von zunächst acht Geparden aus Namibia im Kuno-Nationalpark in Madhya Pradesh freigelassen. Geparde sind reine Savannen- und Steppentiere. Sie bevorzugen Bereiche mit hohem, Deckung bietendem Gras und Hügeln als Ausschaupunkten. Zu viele Bäume und Sträucher machen eine Landschaft für Geparde ungeeignet, da sie dort ihre Schnelligkeit nicht ausnutzen können. In Halbwüsten kommen Geparde dagegen gut zurecht, wenn sie genügend Beutetiere finden. Aktuelle Populationsgröße und Schutzstatus Man schätzt, dass noch etwa 7500 Geparde (Stand 2017) in 25 afrikanischen Ländern in freier Wildbahn leben, wobei im südlichen Afrika die größte Subpopulation vorkommt (Namibia, Botswana, Südafrika). Dabei ist Namibia Heimat der weltweit größten Population mit etwa 3500 Tieren (Stand 2016). Weitere 60 bis 100 Tiere leben schätzungsweise im Iran (siehe Unterarten). Die meisten befinden sich nicht in Schutzgebieten, was vielfach zu Konflikten mit Viehzüchtern führt. Die Art wird auf der roten Liste der IUCN als „gefährdet“ gelistet, wobei die afrikanischen Unterarten als „gefährdet“ bis „stark gefährdet“, die asiatische Unterart als „vom Aussterben bedroht“ gelten. Zuchtprogramme in Zoos und die Anwendung von künstlicher Befruchtung sind erfolgreich. Die Sterblichkeit ist jedoch hoch. 2015 wurden 216 Geparde geboren. Davon starben 67, bevor sie 6 Monate alt waren. Unterarten Man unterschied bisher üblicherweise fünf Unterarten des Gepards; von diesen leben vier in Afrika und eine in Asien. Alle Unterarten müssen als gefährdet eingestuft werden; zwei gelten sogar als vom Aussterben bedroht. Asiatischer Gepard (A. j. venaticus): Einst von Nordafrika nördlich der Sahara über Zentralasien bis Indien verbreitet; heute nur noch im Iran. Es gibt nach Schätzung der Iranischen Umweltbehörde etwa 60 bis 100 Tiere im Norden des Iran, vor allem im Kawir-Nationalpark, dem Touran-Nationalpark, dem Naybandan-Wildreservat und zwei weiteren Reservaten um die Wüste Dascht-e Kawir. Um den Schutz der stark vom Aussterben bedrohten Unterart zu verbessern, wurden einige Tiere mit GPS-Halsbändern ausgestattet. Im Jahr 2022 erfolgte in einer Einrichtung im Iran die erste Nachzucht von Asiatischen Geparden in Menschenhand weltweit. Nordwestafrikanischer Gepard (A. j. hecki): Zu dieser Unterart werden meist alle Geparde des nordwestlichen Afrika gerechnet, bisweilen aber auch nur die westafrikanischen Vorkommen südlich der Sahara. Die Unterart kennzeichnet sich durch ein besonders blasses Fell, besitzt allerdings die typischen Augenstreifen. Der Gesamtbestand dürfte bei unter 250 Tieren liegen. Gesicherte Vorkommen existieren nur noch in den Staaten Algerien, Niger, Benin und Burkina Faso. In Algerien existieren nur noch wenige Tiere in der Zentralsahara im Bereich der Nationalparks Ahaggar und Tassili n’Ajjer. Grobe Schätzungen gehen von 20 bis 40 Tieren in diesem Bereich aus. Im Niger gibt es im Bereich des Aïr und Ténéré Naturreservates noch über 50 Geparde. Im Schutzgebiet wurden in den letzten Jahren regelmäßig ausgewachsene und junge Geparde beobachtet. Etwas südlich davon, um das Termit-Massiv, hält sich noch ein schrumpfender Bestand von etwa 30–40 Tieren. Außerhalb der Sahara existiert im Niger ein weiteres wichtiges Vorkommen im Gebiet des W-Nationalparks. Man geht von mindestens 15–25 Tieren in diesem Bereich aus, mit steigender Tendenz. Im angrenzenden Pendjari-Nationalpark in Benin dürften weitere 5–20 Exemplare leben. Wenige leben in dieser Region auf dem Territorium des Nachbarstaates Burkina Faso. Nordostafrikanischer Gepard (A. j. soemmeringii): Nordostafrika, zwischen dem Tschadsee und Somalia. Blass gefärbt. In Ägypten scheint die Unterart im Aussterben begriffen zu sein. Ostafrikanischer Gepard (A. j. fearsoni): Östliches Afrika. Dieses Gebiet stellt neben dem Südlichen Afrika einen Populationsschwerpunkt dar. Das Östliche Afrika (Äthiopien, Südsudan, Uganda, Kenia und Tansania) besitzt etwa 2.500 ausgewachsene Geparde. Der wichtigste Reservatskomplex in diesem Bereich liegt im Serengeti-Ökosystem. Südafrikanischer Gepard (A. j. jubatus): Südliches Afrika, das die Hochburg der heutigen Gepardpopulation darstellt. Im südlichen Afrika leben insgesamt etwa 4.500 ausgewachsene Tiere. Hier befinden sich mehrere Schutzgebiete, die große Populationen beherbergen, darunter der Kgalagadi-Transfrontier-Nationalpark, Chobe, Nxai-Pan, die Reservate im Okavangodelta, Etosha und Liuwa-Plain. Ein Großteil der Population lebt allerdings, ähnlich wie in Ostafrika, auch hier außerhalb von Schutzgebieten auf Farmland. Genetischen Analysen zufolge sind Südafrikanische und Ostafrikanische Geparde eng verwandt und nahezu identisch. Die übrigen Unterarten wurden diesbezüglich bisher nicht untersucht: Deshalb erkennt die Cat Specialist Group der IUCN in ihrer im Jahr 2017 veröffentlichten Revision der Katzensystematik nur vier Unterarten an und synonymisiert A. j. fearsoni mit A. j. jubatus. Als weitere Unterart des Gepards galt lange der Königsgepard – ein Tier, dessen Existenz bis 1975 angezweifelt wurde. Die Flecken sind bei ihm zu Längsstreifen verschmolzen. Inzwischen steht fest, dass es sich hierbei nicht um eine Unterart (A. j. rex), sondern um eine seltene Mutation handelt, die über ein rezessives Gen vererbt wird. In einem Wurf können sich normal gefleckte Geparde zusammen mit Königsgeparden befinden. Königsgeparde sind in ganz Afrika verbreitet, und obwohl sie immer noch große Seltenheit haben, scheint ihre Anzahl in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen zu haben. Biologen beobachten diese Entwicklung mit Interesse, da sie auf eine wachsende genetische Diversität bei den Geparden hinweist. Der Zoo Wuppertal beherbergte mit dem Weibchen Helen (auch Marula gerufen) das erste Exemplar eines Königsgepards, das in Europa geboren wurde. Helen stammte aus der Zucht des Tiergartens Nürnberg und verstarb im Frühjahr 2010 an Nierenversagen. Externe Systematik Da sich der Gepard morphologisch und anatomisch sehr stark von anderen Katzen unterscheidet, war es bisher üblich, ihn in eine eigene Unterfamilie Acinonychinae zu stellen und weder den Groß- noch den Kleinkatzen zuzuordnen. Man sah in ihm eine Sonderentwicklung der Katzen, die er in konvergenter Evolution zu den Hunden nachvollzogen hatte. Allerdings können Geparde wie alle Kleinkatzen nicht brüllen; im Gegenteil, ihre sehr leisen Laute erinnern stark an die Lautäußerungen von Hauskatzen. Ebenso können Geparde wie alle Kleinkatzen beim Ein- und Ausatmen schnurren, was Großkatzen nicht können. Neue genetische Untersuchungen haben nun zu der Erkenntnis geführt, dass der Gepard den anderen Katzen doch nicht so fernsteht und seine nächsten lebenden Verwandten mit ziemlicher Sicherheit der Puma und der Jaguarundi sein dürften. Der Amerikanische Gepard (Miracinonyx) des Pleistozäns wurde bis vor kurzem für einen nahen Verwandten des rezenten Gepards gehalten. Tatsächlich sieht er diesem morphologisch sehr ähnlich. Es scheint sich jedoch vielmehr um eine Schwesterart des Pumas gehandelt zu haben, die sich aufgrund ähnlicher ökologischer Voraussetzungen konvergent zum afrikanisch-asiatischen Gepard entwickelte. Die ältesten Überreste des modernen Gepards (A. jubatus) stammen aus Afrika, doch wenig später erschien die Art auch in Eurasien. Die europäische Gepardart Acinonyx pardinensis aus dem Pleistozän war um einiges größer als heutige Geparde. Die letzten Funde dieser Art sind 500.000 Jahre alt und stammen aus den Mosbacher Sanden bei Wiesbaden. Lebensweise Sozialverhalten Geparde sind tagaktive Tiere. Dadurch vermeiden sie weitgehend Begegnungen mit den eher nachtaktiven Löwen, Leoparden, Tüpfel-, Streifen- und Schabrackenhyänen, die Geparden leicht die Beute streitig machen können und auch eine große Gefahr für den Nachwuchs darstellen. Sie sind geselliger als die meisten anderen Katzen. Die Weibchen leben meistens allein – mit Ausnahme der Zeit, in der sie Junge führen. Männchen hingegen formen Verbände, in denen sie (meistens Wurfbrüder) zu zweit oder dritt leben. Selten gibt es größere Gepardgruppen von bis zu 15 Individuen. Männchen und Weibchen kommen nur zur Paarung zusammen und trennen sich gleich darauf wieder. Das Revier wird durch Urinmarkierungen abgegrenzt. Fortpflanzung Im Alter von etwa drei Jahren ist ein Gepard geschlechtsreif. Die Tragzeit beträgt etwa 95 Tage, ein Wurf besteht zumeist aus einem bis fünf Jungen. Es kommen aber auch Würfe mit bis zu acht Jungtieren vor. Das Weibchen bringt sie in einem Bau zur Welt, in dem sie für etwa acht Wochen bleiben. Dies ist nötig, da Geparde nicht die körperlichen Voraussetzungen besitzen, ihren Nachwuchs erfolgreich gegen die stärkeren Großkatzen – Löwe und Leopard – oder auch Hyänen zu verteidigen. Die Jungen haben auf dem Rücken lange silbrige Haare, die wahrscheinlich der Tarnung dienen und die sie nach etwa drei Monaten rasch verlieren. Trotz dieser natürlichen Schutzvorrichtungen ist die Mortalität während des ersten Lebensjahres hoch; meistens fallen sie Raubfeinden zum Opfer. Haben sie die erste kritische Phase überstanden, können sie ein Lebensalter von 15 Jahren erreichen. Ernährung und Jagd Das Spektrum der Beutetiere eines Gepards ist für gewöhnlich nicht besonders breit und er gilt unter den mittelgroßen Katzenarten als am stärksten spezialisierte Art. Seine bevorzugte Beute sind kleinere Huftierarten wie Gazellen und Böckchen und seine Verbreitung ist eng an das Vorkommen dieser Beutetiere gebunden. In Ostafrika ernähren sich Geparde fast ausschließlich von Thomson-Gazellen, Grant-Gazellen und Impalas. Regional, vor allem in der Serengeti und im Kalahari-Gemsbok-Nationalpark, kann der Anteil der Thomson-Gazellen an der Beute mehr als 90 % betragen, im Kruger-Nationalpark und im Transvaal sind Impalas die Hauptbeute. Zudem sind etwa 50 % der Beutetiere Jungtiere oder Heranwachsende. Diese Antilopen sind leicht und sehr viel einfacher zu überwältigen als ausgewachsene Zebras oder Gnus, die für einen Gepard nahezu unbezwingbar sind. Allerdings werden die Jungtiere beider Arten gelegentlich von in der Gruppe jagenden Geparden überwältigt. Normalerweise halten sich die schnellen Jäger jedoch an Beutetiere unter 60 kg Körpergewicht, im Schnitt liegt das Gewicht der Beute bei weniger als 40 kg. In Notzeiten jagt ein Gepard auch Hasen, Kaninchen und Vögel. Zur Jagd pirschen sich Geparde in der Regel zunächst auf eine erfolgversprechende Distanz an ihre Beutetiere heran. Teils treten sie dann mit einem lockeren Trab hervor, um in dieser Phase anhand des Verhaltens zu klären, welches Individuum genau die Beute sein soll. Dann erfolgt der Angriff mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 km/h. Die Angaben der Höchstgeschwindigkeit sind selbst bei wissenschaftlichen Quellen unterschiedlich und reichen von 93 km/h bis 102 km/h. Nahe beim Beutetier bremst der Gepard etwas ab, um besser auf ein etwaiges Hakenschlagen reagieren zu können. Ob erfolgreich oder nicht, die Jagd ist auf jeden Fall nach wenigen hundert Metern bzw. im Schnitt 38 Sekunden beendet. Somit legt der Gepard – wie auch der Löwe – unter den Katzen zwar unüblich lange Strecken dabei zurück, innerhalb der Formen der Hetzjagd handelt es sich dennoch um das Gegenmodell zur ausdauernden Vorgehensweise z. B. von Wölfen und Hyänen. Bei Erreichen versucht der Gepard das Beutetier meist mit einem Prankenschlag ins Straucheln zu bringen und niederzureißen. Dann drückt er ihm mit den Zähnen die Kehle zu. Er zerbeißt also nicht die Nacken- oder Halswirbel, um seine Beute zu töten, sondern erstickt sie. Seine Erfolgsquote von 50 bis 70 % wird von keinem anderen einzeln jagenden Raubtier übertroffen, nur von rudelweise jagenden. Anschließend muss sich der Gepard erst einmal eine ganze Weile von der Anstrengung erholen, bevor er fressen kann. Während dieser Zeit kann es passieren, dass er die Beute an die stärkeren Raubtiere Tüpfelhyäne, Löwe oder Leopard verliert; auch er selbst befindet sich dann in gewisser Gefahr. Kulturgeschichte Schon früh hat der Mensch es verstanden, den Gepard zu dressieren und als Jagdbegleiter nutzbar zu machen. Deswegen hat man ihn für die Jagd abgerichtet, und er erhielt seinen synonym verwendeten Namen „Jagdleopard“. Sowohl in Mesopotamien als auch im alten Ägypten hat man – seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend – Geparde auf diese Weise verwendet. Im mittelalterlichen Europa war die Jagd mit Geparden ein Luxus, den man sich nur an Königshöfen leisten konnte. Da sich diese Katze aber in Gefangenschaft nicht vermehrte, musste man immer neue Geparde fangen. Außer in Ägypten spielten vor allem in Indien Geparde historisch eine Rolle als Helfer zum Einsatz bei der Jagd auf Hirsche, Gazellen und Hirschziegenantilopen. Die Tiere wurde in der Wildnis eingefangen und danach für die Jagd trainiert, wobei ihnen eine Kappe aufgesetzt wurde, die erst bei der Jagd selbst entfernt wurde. Diese Praxis wurde im Mogulreich vor allem unter dem Großmogul Akbar im 16. Jahrhundert perfektioniert; allein er soll zu seinen Lebzeiten mehr als 9000 für die Jagd dressierte Geparde besessen haben. Seinem Nachfolger Jahangir gelang zufällig mit einem Wurf von drei Jungtieren die erste dokumentierte Zucht von in Gefangenschaft gehaltenen Geparden; erst 1956 konnte dies im Philadelphia Zoo wiederholt werden. Als Geparde um 1900 in Indien sehr selten wurden, wurden Tiere aus Afrika importiert. Der Jagdsport mit Geparden starb nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 aus, indische Geparde wurden in der Wildnis zuletzt in den 1960ern beobachtet und sind dort heute ausgestorben. Im Januar 2023 wurde vermeldet, dass Indien mehr als hundert Südafrikanische Geparde über einen Zeitraum von 10 Jahren aus Südafrika zur „Wiederansiedlung“ importieren will. In Indien lebten lange Asiatische Geparde, bis diese Subspezies im Jahr 1952 für im Land ausgerottet erklärt wurde. In den Golfstaaten sind Geparde beliebte Luxushaustiere, obwohl sie als Haustiere nicht geeignet sind. Zu ihrer Dezimierung trug außerdem bei, dass sie wegen ihres Fells getötet wurden. Literatur Matto Barfuss: Leben mit Geparden. Naturbuch Verlag, Augsburg 1998, Goldmann, München 2005, ISBN 3-442-15311-5. Fritz Pölking, Norbert Rosing: Geparde. Die schnellsten Katzen der Welt. Tecklenborg, Steinfurt 1993, ISBN 3-924044-11-2. P. Leyhausen: Katzen. In: Grzimek’s Enzyklopädie. Band 3: Nagetiere, Raubtiere. Brockhaus – Die Bibliothek. Brockhaus Verlag, Leipzig/Mannheim 1997, ISBN 3-7653-6111-9. R. Conniff: Geparden – Die Geister der Savanne. In: National Geographic. Deutsche Ausgabe. Dezember 1999, S. 10. . Luke Hunter, D. Hamman: Cheetah. Struik Publishers, Cape Town 2003, ISBN 1-86872-719-X. Gus Mills, M. Harvey: African Predators. Struik Publishers, Cape Town 2001, ISBN 1-86872-569-3. Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. 6. Auflage. Band 1, Johns Hopkins Univ. Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9, S. 834. Richard D. Estes: The behaviour guide to African mammals. Chapter 21. Univ. of Calif. Press, Berkeley 1991, ISBN 0-520-05831-3, S. 377. Reinhard Künkel: Geparde: Ich nannte sie Tanu, Tatu und Tissa. In: Geo-Magazin. Hamburg 5/1978, S. 60–78. („Einen Monat lang lebte und jagte Reinhard Künkel in der Serengeti mit den schnellsten Landtieren der Erde.“) . Weblinks www.catsg.org: Artenprofil Gepard (Acinonyx jubatus); IUCN/SSC Cat Specialist Group (englisch) www.catsg.org: Artenprofil Asiatischer Gepard (Acinonyx jubatus venaticus); IUCN/SSC Cat Specialist Group (englisch) Website ausschließlich über Geparde auf Gepardenland.de Sendermarkierung des Asiatischen Gepards im Iran (mit Foto) High-Speed-Videoaufnahmen von National Geographic Einzelnachweise Katzen Wikipedia:Artikel mit Video Tierischer Rekord
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https://de.wikipedia.org/wiki/Euthydemos
Euthydemos
Der Euthydemos () ist ein in Dialogform verfasstes frühes Werk des griechischen Philosophen Platon. Den Inhalt bildet ein fiktives Gespräch von Platons Lehrer Sokrates mit dem Sophisten Euthydemos, nach dem der Dialog benannt ist, dessen Bruder Dionysodoros, Sokrates’ Freund Ktesippos und dem Jugendlichen Kleinias. Das Thema ist die von den Sophisten praktizierte und gelehrte Kunst des Streitgesprächs (Eristik) und ihr Verhältnis zur Philosophie. Auf Wunsch des Sokrates führen Euthydemos und Dionysodoros die auf Trugschlüssen basierende eristische Debattierkunst vor. Angestrebt wird dabei nicht Wahrheitsfindung, sondern nur der Sieg über den Gegner, dessen Ansichten mit allen Mitteln widerlegt werden sollen. Der eristische Diskurs bedeutet Kampf; er kontrastiert mit der philosophischen Wahrheitssuche des Sokrates, die ein gemeinsames, freundschaftliches Bemühen um Erkenntnis ist. Der Dialog führt zu einer Aporie, einer anscheinend ausweglosen Lage: Die Eristik wird zwar als untauglich entlarvt, doch es gelingt vorerst nicht, eine schlüssige philosophische Alternative zu erarbeiten. Nur der Weg zu einer solchen Alternative wird deutlicher erkennbar. In der modernen Forschung wird der spielerische, humoristische und komödienhafte Aspekt des Werks betont und die literarische Brillanz gewürdigt. Die Frage, inwieweit Platon darüber hinaus auch ein ernsthaftes philosophisches Anliegen zur Geltung bringen wollte, wird unterschiedlich beantwortet. Philosophiegeschichtlich ist der Euthydemos als Quelle für die Frühgeschichte der antiken Logik bedeutsam. Außerdem ist er das älteste überlieferte Werk, in dem die Protreptik, die Hinführung zur Philosophie, ein Hauptthema darstellt. Ort, Zeit und Teilnehmer Der Dialog spielt sich im Lykeion-Gymnasion ab, einer weiträumigen Anlage am östlichen Stadtrand von Athen. Alle Gesprächspartner sind historische Personen, doch muss damit gerechnet werden, dass Platon sie mit teils fiktiven Zügen ausgestattet hat. Die Brüder Euthydemos und Dionysodoros stammten aus Chios. Von dort waren sie zunächst nach Thurioi, einer griechischen Kolonie am Golf von Tarent, ausgewandert. Später mussten sie aus Thurioi fliehen. Sie ließen sich dann in der Gegend von Athen nieder, wo sie zur Zeit der fiktiven Dialoghandlung schon seit vielen Jahren lebten und Unterricht erteilten. Ktesippos, der auch in Platons Dialog Lysis am Gespräch teilnimmt, war ein junger Freund des Sokrates; später war er bei dessen Tod im Gefängnis anwesend. Kleinias, der jüngste Dialogteilnehmer, war ein Sohn des Axiochos, der ein Onkel des berühmten Staatsmanns Alkibiades war. Der Zeitpunkt der Dialoghandlung lässt sich nur annäherungsweise erschließen; er liegt im Zeitraum zwischen etwa 420 und 404 v. Chr. Aus einzelnen Angaben über historische Personen lassen sich Anhaltspunkte für die Datierung gewinnen. Der 404 ermordete Alkibiades ist noch am Leben, der im Dialog erwähnte berühmte Sophist Protagoras hingegen, der im Jahr 421 noch aktiv war, scheint bereits verstorben zu sein. Der 469 geborene Sokrates sowie Euthydemos und Dionysodoros sind schon alt, Ktesippos ist ein Jüngling, Kleinias noch ein Jugendlicher. Inhalt Einleitende Rahmenhandlung Den Dialog leitet eine Rahmenhandlung ein. Sokrates wird von seinem Freund und Altersgenossen Kriton gefragt, mit wem er sich am Vortag im Lykeion unterhalten hat. Er berichtet, dass es Euthydemos und Dionysodoros waren, zwei „Allkämpfer“, die sowohl die körperliche als auch die geistige Fechtkunst meisterhaft beherrschen und in beidem Unterricht erteilen. Früher haben sie, wie Sokrates erzählt, militärische Fähigkeiten vermittelt und sich zugleich als Redenschreiber und Rhetoriklehrer bewährt. Neuerdings haben sie trotz ihres bereits fortgeschrittenen Alters noch die Debattierkunst erlernt und schon nach ein bis zwei Jahren Studium auch auf diesem Gebiet zu lehren begonnen. Nun gelten sie als unübertreffliche Meister der Eristik. Sie können alles widerlegen, was jemand sagt, ganz unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt, und auch jedem Schüler diese Kunst in kurzer Zeit beibringen. Sokrates erzählt Kriton, dass er trotz seines Alters bei den beiden Sophisten Unterricht nehmen will, aber das Bedenken hat, er werde vielleicht seinen Lehrmeistern Schande machen. Die bombastische Schilderung der erstaunlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Sophisten lässt erkennen, dass das Lob ironisch gemeint ist und Sokrates die beiden in Wirklichkeit für Scharlatane hält. Sokrates schlägt Kriton vor, ebenfalls an dem Debattierunterricht teilzunehmen. Kriton stimmt zu, will aber erst erfahren, von welcher Art die Weisheit der Sophisten ist. Darauf beginnt Sokrates mit der Wiedergabe der Szenen vom Vortag, die einen Eindruck von der Einstellung und Vorgehensweise der beiden Lehrer vermitteln. Erste Szene Im Lykeion erblickt Sokrates Euthydemos und Dionysodoros, die mit zahlreichen Schülern in einem Gang spazieren. Kleinias kommt herein und nimmt neben Sokrates Platz. Da er ein auffallend attraktiver Jugendlicher ist, erregt er in dem homoerotischen Milieu große Aufmerksamkeit. Ihm folgt eine Schar seiner Bewunderer, darunter Ktesippos. Auch die beiden Sophisten sind offensichtlich von seinem Anblick stark beeindruckt und treten herbei. Sokrates begrüßt sie und stellt sie Kleinias ironisch als weise Männer vor, wobei er sie überschwänglich als bedeutende Lehrer der Kriegskunst und der Gerichtsrhetorik preist. Euthydemos stellt dazu herablassend fest, er und sein Bruder seien auf diesen Gebieten nur noch nebenbei tätig. Sie hätten sich nun in erster Linie der Aufgabe zugewandt, ganz allgemein ihren Schülern „Vortrefflichkeit“ (aretḗ) – das heißt optimale Tüchtigkeit – beizubringen, und darin seien sie unübertroffen. Sokrates bemerkt dazu ironisch, wenn das stimme, seien sie wie Götter und mehr als der persische Großkönig mit all seiner Macht vom Glück begünstigt. Die arrogant auftretenden Brüder bemerken die Ironie nicht. Sie erklären sich bereit, sogleich eine Probe ihrer Kunst zu liefern. Sokrates fragt die Sophisten, ob sie in der Lage seien, nicht nur ihre Schüler zu vortrefflichen Menschen zu machen, sondern auch jemand, der von ihrem Angebot noch nicht überzeugt ist, zur Einsicht zu bringen, dass Vortrefflichkeit lehrbar sei und dass sie selbst dafür die besten Lehrer seien. Dionysodoros bejaht dies. Darauf fordert ihn Sokrates auf, Kleinias zu überzeugen; es sei allen Anwesenden ein Herzenswunsch, dass dieser Knabe sich optimal entwickle und nicht missrate. Euthydemos beginnt mit der Fangfrage an Kleinias, ob Lernende wissend oder unwissend seien. Dionysodoros flüstert Sokrates zu, der Knabe werde widerlegt werden, wie auch immer er antworte. Damit lässt er erkennen, dass die Widerlegung Selbstzweck ist und nicht der Wahrheitsfindung dient. Kleinias entscheidet sich für die Antwort, Lernende seien wissend, und wird sogleich von Euthydemos widerlegt. Darauf macht sich Kleinias die gegenteilige Auffassung zu eigen, und nun zeigt ihm Dionysodoros, dass er wiederum Unrecht hat. Die Sophisten arbeiten mit einem Trick: Sie machen sich bei ihrer Argumentation den Umstand zunutze, dass das griechische Verb manthanein sowohl „lernen“ als auch „verstehen“ bedeutet. Durch die Fehlschläge gerät der hilflose Kleinias in größte Verwirrung. Die Verehrer der Sophisten lachen ihn bei jeder Niederlage lärmend aus, was seine Verlegenheit noch steigert. Es folgen weitere Widerlegungen mit Trugschlüssen, an denen Kleinias mit seinen Antworten mitwirken muss und denen er nichts entgegensetzen kann. Zweite Szene Sokrates greift ein, um dem arg bedrängten Jugendlichen Erleichterung zu verschaffen. Er macht ihn darauf aufmerksam, dass man sich, um solche Fragen beantworten zu können, erst mit dem Gebrauch der Wörter vertraut machen muss. Im hier vorliegenden Fall geht es um die Mehrdeutigkeit des Verbs manthanein, das stillschweigend in unterschiedlichem Sinn verwendet worden ist. Es bezeichnet sowohl die Informationsaufnahme durch Lernende ohne Vorkenntnisse als auch das Begreifen eines bestimmten Sachverhalts auf der Basis eines bereits vorhandenen Wissens. Wer sich der Mehrdeutigkeit nicht bewusst ist, lässt sich leicht mit einer Argumentation, die Eindeutigkeit unterstellt, verwirren. Dies ist aber – wie Sokrates erklärt – nur ein Spiel mit Worten, das nichts einbringt. Um wirklich zur Weisheit und Tugend anzuspornen, muss man solche Scherze beiseitelassen und sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen. Dazu fordert der Philosoph die Sophisten auf. Die folgenden Ausführungen haben einen protreptischen Charakter, sie sollen für die sokratisch-platonische Philosophie werben. Wie ein konstruktives gemeinsames Bemühen um philosophische Erkenntnis – als Kontrast zur Eristik – gestaltet werden kann, demonstriert Sokrates, indem er Kleinias hilfreiche, weiterführende Fragen stellt. Dabei stellt sich heraus, dass alle Menschen danach streben, dass es ihnen gut geht. Dieses Ziel erreichen sie, wenn sie reichlich mit Gütern ausgestattet sind. In Betracht kommen unterschiedliche Güter: Reichtum, Gesundheit, Schönheit, Macht und Ansehen, aber auch Tugenden wie Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit sowie die Weisheit. Das, was allen Menschen als das wichtigste Gut erscheint, ist der Erfolg (eutychía). Erfolg ist auf jedem Gebiet nur für den Kompetenten erreichbar, für den, der über das erforderliche Wissen verfügt. Daher benötigt der Mensch nichts dringender als Wissen (sophia: „Kenntnisse“, „Einsicht“, „Weisheit“). Da der Weise die Zusammenhänge versteht, handelt er immer richtig und ist in allem erfolgreich. Ressourcen wie Reichtum und Macht erhalten einen Wert erst dadurch, dass man von ihnen den richtigen Gebrauch macht, und dies setzt Weisheit voraus; wer diese nicht besitzt, dem schaden seine Ressourcen sogar. Die Dinge sind an sich weder gut noch schlecht, erst die Weisheit macht sie zu Gütern und die Torheit zu Übeln. Daher ist es die Aufgabe jedes Menschen, in erster Linie Weisheit anzustreben. Wenn ihm dies gelingt, erlangt er den damit verbundenen erfreulichen Gemütszustand, die Eudaimonie („Glückseligkeit“). Hier stellt sich die Frage, ob eine Bitte um Unterstützung bei der Weisheitssuche sinnvoll ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn Weisheit nicht spontan entsteht, sondern mit der Hilfe einer erfahrenen Person erlernt werden kann. Zur Freude des Sokrates entscheidet sich Kleinias für das Prinzip der Lehrbarkeit. Damit erübrigt sich in der aktuellen Situation eine Untersuchung des grundsätzlichen Problems der Vermittelbarkeit. An diesem Punkt beendet Sokrates seinen Gedankengang. Er fordert die Sophisten auf, den Faden aufzunehmen und nun darzulegen, auf welches Wissen es dabei ankommt. Sie sollen klären, ob jedes Wissen zum Erreichen des Ziels, der Eudaimonie, beiträgt oder ob es eine bestimmte einzelne Erkenntnis gibt, die der Schlüssel zur Vortrefflichkeit ist. Dritte Szene Dionysodoros und Euthydemos kommen wieder zum Zug. Wie schon in der ersten Szene setzen sie sich nicht inhaltlich mit der Frage auseinander, sondern erzeugen mit Wortfechtereien und Trugschlüssen (Sophismen) Verwirrung. Dionysodoros bringt vor, wenn aus einem Unwissenden ein Wissender gemacht werde, so werde aus ihm ein anderer Mensch. Er existiere dann nicht mehr als der, der er zuvor war. Wer einen Menschen ändere, verwandle ihn in einen anderen. Damit führe er den Untergang desjenigen, der dieser Mensch bisher war, herbei. Ktesippos, der in Kleinias verliebt ist, versteht dies als Unterstellung, er wolle den geliebten Knaben vernichten, und weist diese „Lüge“ energisch zurück. Dies nimmt Euthydemos zum Anlass, die Frage zu stellen, ob es überhaupt möglich ist zu lügen. Seiner Argumentation zufolge spricht jeder, der etwas sagt, etwas über das aus, von dem die Rede ist. Der Gegenstand seiner Aussage ist etwas Bestimmtes, das heißt ein bestimmter Teil der Dinge, die sind. Das Nichtseiende ist nicht, es kann nirgends seiend sein, und niemand kann etwas damit tun. Etwas, was nirgends ist, kann niemand erzeugen. Das Seiende hingegen existiert, seine Existenz macht es wahr. Da sich jede Aussage auf ein bestimmtes Seiendes bezieht und Wahrheit auf dem Sein beruht, ist jede Aussage, die gemacht wird, aufgrund ihrer bloßen Existenz notwendigerweise wahr. Somit kann es keine Lüge geben. Ktesippos weigert sich, diese Argumentation zu akzeptieren. Daraufhin schließt Dionysodoros aus der Nichtexistenz von Unwahrheit, dass es auch keinen Widerspruch geben könne. Demnach hat ihm Ktesippos gar nicht widersprochen. Aus seiner Überlegung folgert der Sophist nicht nur, dass man nichts Falsches sagen könne, sondern sogar, dass man sich etwas Falsches nicht einmal vorstellen könne. Demnach kann kein Irrtum existieren. Dagegen bringt Sokrates vor, durch diese Folgerung werde der Unterschied zwischen Wissen und Unwissenheit aufgehoben. Damit werde der Anspruch der Sophisten, Wissen zu vermitteln, hinfällig. Ihre Argumentation sei selbstwidersprüchlich, denn wenn man ihr folge, würden sie selbst als Lehrer überflüssig. Außerdem sei es, wenn es keine falschen Aussagen gebe, auch nicht möglich, ihn – Sokrates – zu widerlegen. Ktesippos wirft den Eristikern vor, Unsinn zu reden, doch Sokrates besänftigt ihn, um keinen Konflikt aufkommen zu lassen. Vierte Szene Nachdem die Diskussion durch die Trugschlüsse in eine Sackgasse geraten ist, ruft Sokrates zur Ernsthaftigkeit auf. Er wendet sich wieder Kleinias zu und kehrt zu seiner Frage zurück, welche Erkenntnis zur Erlangung von Weisheit nötig ist. Sein Gedankengang lautet: Erkenntnis muss einen Nutzen haben. Ein Wissen darüber, wie man aus Steinen Gold macht, ist unnütz, wenn man dann mit dem erzeugten Gold nichts Rechtes anzufangen weiß. Sogar ein Wissen, das Unsterblichkeit verschafft, wäre nutzlos, wenn man die Unsterblichkeit nicht zu gebrauchen versteht. Daher ist es nötig, dass der Weise das Herstellungswissen und das Gebrauchswissen in sich vereint. Die Weisheit muss etwas sein, das jeder, der es erlangt, zwangsläufig auch richtig zu nutzen versteht. Der Weise soll nicht einem Handwerker gleichen, der ein Musikinstrument herstellt, aber selbst nicht auf dem Instrument spielen kann. Kleinias, der Sokrates zustimmt, zeigt sein Verständnis, indem er zusätzliche Beispiele für die Trennung von Herstellungs- und Gebrauchswissen anführt: Redenschreiber können ihre Reden nicht halten; Feldherrn erringen militärische Siege, müssen dann aber deren Früchte den Politikern überlassen. Fortsetzung der Rahmenhandlung Hier setzt die Wiedergabe der Dialoghandlung aus und die Rahmenhandlung wird fortgesetzt, denn Kriton unterbricht die Erzählung des Sokrates. Er ist ungeduldig und will endlich erfahren, zu welchem Ergebnis die Suche geführt hat. Sokrates bekennt, dass das Ergebnis negativ ist: Die Dialogteilnehmer haben nur erkannt, dass kein ihnen bekanntes Fachwissen zur Weisheit und Eudaimonie führt, auch nicht die königliche Herrscherkunst. Die Frage, welches Wissen das Weisheitswissen ist, ist nach der Prüfung der verschiedenen Wissensgebiete offengeblieben. Darauf hat sich Sokrates nochmals an die „allwissenden“ Sophisten gewandt und sie flehentlich gebeten, die Lösung, die sie zu kennen behaupten, zu enthüllen. Wie zu erwarten war, hat sich Euthydemos zugetraut, das Problem zu lösen. An dieser Stelle nimmt Sokrates die wörtliche Wiedergabe des Gesprächsverlaufs wieder auf. Fünfte Szene Die Eristiker tragen auf ihre bereits vertraute Weise einen spitzfindigen Trugschluss vor. Dieser läuft darauf hinaus, dass jeder, der irgendetwas weiß, ein Wissender ist und als solcher alles weiß, denn da gegenteilige Aussagen einander ausschließen, kann man nicht zugleich wissend und unwissend sein. Demnach ist jeder Mensch von Geburt an allwissend. Darauf beharren die beiden Sophisten, doch die konkrete Frage des Ktesippos, wie viele Zähne der andere hat, können sie nicht beantworten. Stattdessen präsentieren sie weitere absurde Folgerungen, die sich aus ihrem Verständnis sprachlicher Logik ergeben und aus ihrer Sicht zwingende Schlüsse sind. Inzwischen hat Ktesippos das Prinzip der Eristik gut erfasst, und es gelingt ihm, die Sophisten mit ihren eigenen Tricks in die Enge zu treiben. So erfüllt sich das Versprechen, dass man bei ihnen schnell lerne. Schließlich treibt Dionysodoros ein Spiel mit dem Possessivpronomen: „mein“ und „dein“ bezeichnen Eigentum, darunter Lebewesen wie Ochsen und Schafe, die jemandem gehören. Mit solchen Lebewesen darf der Besitzer tun, was er will, er darf die Tiere verschenken, verkaufen oder auch schlachten. Auch Götter sind Lebewesen. Wenn Sokrates von „seinen“ Göttern spricht, behauptet er demnach, er könne sie verschenken oder verkaufen wie Nutztiere. Dies löst bei den Zuhörern große Heiterkeit aus. Abschließend würdigt Sokrates ironisch die Leistung der Sophisten. Ihre Ausführungen seien zwar hervorragend, aber nur für sie selbst und den kleinen Kreis ihrer Schüler geeignet. Die meisten Menschen und insbesondere die ernsthaften könnten nichts damit anfangen. Ihnen sei die eristische Debattierkunst nicht beizubringen. Immerhin habe die Eristik zwei Vorzüge: Sie lasse sich schnell erlernen, wie Ktesippos demonstriert habe, und sie lasse sich nicht nur gegen andere einsetzen, sondern diene ebenso zur Widerlegung der Behauptungen ihrer eigenen Urheber. Abschließende Rahmenhandlung Nachdem Kriton solche Kostproben der Eristik erhalten hat, zeigt er an ihrem Erlernen kein Interesse mehr. Er erzählt Sokrates von seiner Begegnung mit einem nicht namentlich genannten Gerichtsredenschreiber, der den Auftritt der Eristiker im Lykeion miterlebt hat. Dieser übte Kritik an Männern, die jetzt als die weisesten gälten, aber nur schwätzten und sich mit Wertlosem abgäben. Damit meinte er zwar aus gegebenem Anlass die Scharlatane Euthydemos und Dionysodoros, doch richtete er seine Kritik ausdrücklich gegen die Philosophie im Allgemeinen und auch speziell gegen Sokrates. Er wollte die Philosophie diskreditieren, indem er sie mit der Trugschlusstechnik in einen Topf warf. Sein Tadel an Sokrates war scharf; er meinte, der Philosoph habe sich geschmacklos verhalten, als er sich auf eine solche Debatte einließ. Wer sich mit so etwas abgebe, mache sich lächerlich. Kriton hält die Kritik an der Philosophie zwar für verfehlt, teilt aber die Ansicht, dass Sokrates eine solche öffentliche Diskussion nicht hätte führen sollen. Sokrates bemerkt zu dem Angriff des Redenschreibers, er kenne diesen Typus von Gegnern der Philosophie. Es handle sich um Leute, die sich für die Weisesten hielten, ruhmsüchtig seien und die Philosophen als Konkurrenten betrachteten. Sie stünden zwischen Philosophie und Politik und befassten sich mit beidem, aber nur soweit es für ihre Zwecke nötig sei und ohne dabei Risiken einzugehen. Kriton ist besorgt über die Zukunft seiner beiden noch jungen Söhne, besonders des älteren. Er habe ihnen zwar ein förderliches Elternhaus geschaffen, finde nun aber keinen guten Lehrer und Erzieher, der zur Philosophie hinführen könne. Keiner von denen, die sich als Erzieher ausgäben, wirke vertrauenswürdig. Sokrates verallgemeinert dies: Auf jedem Gebiet gebe es nur wenige echte Könner. Es gehe aber nicht darum, wie kompetent oder inkompetent einzelne Philosophen und Erzieher seien, sondern um die Sache selbst, um den Wert der Philosophie. Kriton solle die Philosophie prüfen und sich ein eigenes Urteil bilden. Wenn sie ihm dann gut erscheine, solle er sie selbst praktizieren, zusammen mit seinen Kindern. Anderenfalls solle er jedem von ihr abraten. Philosophische Bilanz Die Frage nach dem Wissen, das Weisheit ausmacht und Eudaimonie herbeiführt, bleibt im Euthydemos ungeklärt. Offen bleibt auch die Frage, ob Weisheit lehrbar ist. Somit endet der Dialog aporetisch, das heißt in einer anscheinend ausweglosen Lage. Es ist nur gelungen, die Anforderungen zu klären, die an das Weisheitswissen zu stellen sind, und die Eristik als untaugliches Mittel der Erkenntnisgewinnung zu entlarven. Es hat sich herausgestellt, dass die Eristik einerseits von Prinzipien der Logik ausgeht, andererseits aber diese mit ihren Trugschlüssen aufhebt. Damit verunmöglicht sie den Vernunftgebrauch und vernichtet so die Grundlage der philosophischen Wahrheitssuche. Alle Trugschlüsse der Eristiker beruhen auf mangelnder Differenzierung. Entweder wird nicht zwischen verschiedenen Bedeutungen eines Wortes unterschieden oder die Begrenzung des Gültigkeitsbereichs einer Aussage wird missachtet. Es wird irrtümlich vorausgesetzt, dass man nicht von demselben etwas aussagen und es ihm in anderer Hinsicht absprechen könne, ohne das Widerspruchsprinzip zu verletzen. Unter dieser Voraussetzung lässt sich jede nicht-tautologische Aussage widerlegen. In manchen Fällen werden relative mit absoluten Eigenschaften verwechselt oder es wird nicht zwischen prädizierendem und identifizierendem „ist“ unterschieden. Eine Verwechslung von Prädikation und Identität liegt beispielsweise vor, wenn aus den Aussagen „x ist von y verschieden“ und „x ist ein F“ gefolgert wird, dass y kein F sein könne. Zeit und Hintergrund der Abfassung Der Euthydemos wird aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen zu Platons Frühwerken gezählt und innerhalb der Gruppe der frühen Dialoge zu den späteren. Auffallend ist seine Nähe zum Dialog Menon, die zu einer intensiven Debatte über die chronologische Reihenfolge der beiden Werke geführt hat. Heute wird meist angenommen, dass Platon den Euthydemos bald nach seiner ersten Reise nach Sizilien verfasst hat, doch kommt auch die Zeit kurz vor der Reise in Betracht. Jedenfalls soll die Abfassung in die erste Hälfte der 380er Jahre fallen. Den Hintergrund bildet wohl die Gründung von Platons Philosophenschule, der Akademie, um 387 v. Chr. Damals war es eines seiner vordringlichen Anliegen, sein Konzept einer philosophischen Schulung von konkurrierenden Wegen des Wissenserwerbs abzugrenzen. Er wollte den Kontrast zwischen seiner Dialektik und der Eristik drastisch veranschaulichen. Euthydemos und Dionysodoros zeigen in Platons Darstellung eine Reihe von Merkmalen sophistischer Lehrer. Dazu gehört, dass sie als Ausländer in Athen gegen Bezahlung Unterricht erteilen, „Vortrefflichkeit“ lehren, den Umfang ihres Wissens herausstreichen und ihren Schülern schnellen Erfolg versprechen. Die Schnelligkeit des Lernens, die sie als Vorzug ihres Unterrichts hervorheben, ist für Platon ein Zeichen mangelnder Seriosität; sie kontrastiert mit seinem Konzept einer langen, gründlichen Philosophenausbildung. Ihre besondere Betonung der Eristik rückt die Brüder aber auch in die Nähe der Megariker, einer im 4. Jahrhundert mit den Platonikern rivalisierenden Richtung. Daher ist es möglich, dass Platons karikierendes Bild der beiden Brüder auch der Polemik gegen die Megariker dienen sollte. Die ontologische Argumentation der Eristiker ist von der eleatischen Philosophie beeinflusst, mit der sich Platon intensiv auseinandergesetzt hat. Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis des Hintergrunds bietet die Gestalt des nicht namentlich genannten Gerichtsredenschreibers, die am Schluss eingeführt wird. Der Unbekannte greift Sokrates und die Philosophie heftig an und wird seinerseits von Sokrates scharf kritisiert. Hier hatte Platon offenbar eine bestimmte Gruppe von Rhetorikern im Auge, die Gegner seines Philosophieverständnisses waren. Vielleicht ist der anonyme Kritiker als beliebiger typischer Repräsentant der gegnerischen Richtung aufzufassen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Platon eine bestimmte Person im Auge hatte. Sehr wahrscheinlich zielte er auf seinen Rivalen Isokrates, dessen Erziehungskonzept und Weltanschauung mit der platonischen Lehre unvereinbar waren. Der anonyme Redenschreiber erscheint im Euthydemos in ungünstigem Licht: Er hört die ganze Debatte an und ist dann nicht in der Lage, den eklatanten Gegensatz zwischen der eristischen und der sokratischen Vorgehensweise zu erkennen, sondern trägt als Fazit eine pauschale Verdammung „der Philosophie“ vor. Damit fällt Platon implizit ein vernichtendes Urteil über die Fähigkeit des gegnerischen Rhetorikers zur Einschätzung philosophischer Kompetenz. Rezeption Antike und Mittelalter In der Antike war das Interesse am Euthydemos relativ bescheiden, wie die geringe Zahl der Scholien zeigt. Aristoteles setzte sich in seiner Schrift „Über die sophistischen Widerlegungen“ mit verschiedenen Trugschlüssen auseinander, die auch im Dialog vorkommen. Ob er aber seine Kenntnis dieser Sophismen dem Euthydemos oder einer anderen Quelle verdankte, ist unbekannt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. verfasste der Epikureer Kolotes von Lampsakos die polemische Schrift „Gegen Platons Euthydemos“, die nur fragmentarisch erhalten ist. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Euthydemos zur sechsten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte ihn zu den „widerlegenden“ Schriften und gab als Alternativtitel „Der Eristiker“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos. Auch der Mittelplatoniker Alkinoos ordnete in seinem „Lehrbuch (didaskalikós) der Grundsätze Platons“ den Euthydemos unter den Widerlegungsdialogen ein; er betrachtete ihn als Lehrbuch für die Auflösung von Sophismen. Ein antikes Papyrus-Fragment aus dem 2. Jahrhundert enthält ein kleines Textstück; es ist der einzige antike Textzeuge. Die älteste erhaltene mittelalterliche Handschrift wurde am Ende des 9. Jahrhunderts im Byzantinischen Reich angefertigt. Im Mittelalter war der Euthydemos in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Westens unbekannt, er wurde erst im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Frühe Neuzeit Der Humanist Marsilio Ficino übersetzte den Euthydemos ins Lateinische. Die Übersetzung veröffentlichte er 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner lateinischen Platon-Übersetzungen. Ficino war überzeugt, dass die Aporie im Dialog nur scheinbar sei und dass Sokrates gewusst habe, wie die Ratlosigkeit zu überwinden sei. Er meinte – eine moderne Interpretation vorwegnehmend –, die scheinbare Verwirrung des Sokrates sei Teil einer didaktischen Strategie, welche die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Gesprächspartner des Philosophen berücksichtige. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio im Rahmen der von Markos Musuros herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Platons. Moderne Im 19. Jahrhundert wurde Platons Autorschaft mitunter bezweifelt oder bestritten, in der neueren Forschung gilt sie aber als unzweifelhaft gesichert. Die Absurdität der karikierend dargestellten eristischen Argumentation hat manche Gelehrte zur Einschätzung bewogen, es handle sich bei diesem Dialog um eine Posse, eine bloße Spielerei und eine Sammlung sophistischer Spitzfindigkeiten. So verzichtete Paul Natorp darauf, „auf die aus einer Art Karnevalslaune hervorgegangene Polemik dieser Schrift näher einzugehen“. Die komödienhaften Züge werden in der Forschungsliteratur oft hervorgehoben. Der Herausgeber Louis Méridier bezeichnete den Euthydemos als Komödie, in der die Schüler der Sophisten den Chor bilden. Dies schließt jedoch ein ernsthaftes Anliegen des Autors nicht aus. Manche Philosophiehistoriker finden im Euthydemos auch wichtige Einsichten; sie weisen darauf hin, dass sich hinter den eristischen Spielereien jeweils eine ernsthafte philosophische Problematik verberge, beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Nichtsein. Gewürdigt wird der Umstand, dass der Euthydemos den ältesten bekannten protreptischen Text enthält und damit am Anfang der Geschichte dieser Gattung steht. Franz von Kutschera sieht in den protreptischen Teilen „die Werbung für eine bedeutende, neue Konzeption der Philosophie, in der originale, systematisch sehr wichtige Gedanken zur Sprache gebracht werden“. Strittig ist die Frage, inwieweit Platon die logischen Konsequenzen der Argumente, die er den Dialogfiguren in den Mund legte, selbst durchschaut und analysiert hat. Jedenfalls ist der Euthydemos eine wichtige Quelle für die Geschichte der voraristotelischen Logik. Verschiedentlich ist herausgearbeitet worden, dass die Sophistik und Eristik in der Darstellung dieses Dialogs eine karikierende Version der sokratisch-platonischen Philosophie ist; beispielsweise karikiert das eristische Konzept der Allwissenheit die Anamnesis-Lehre Platons. Die Untersuchung von Michael Erler hat ergeben, dass im Euthydemos „ein negatives Spiegelbild von dem geboten wird, was Platon für richtig hält“. Eine weitere in der Forschung kontrovers diskutierte Frage ist, ob für Platons Sokrates im Euthydemos die Weisheit allein und unmittelbar die Eudaimonie herbeiführt oder sogar mit ihr identisch ist, oder ob auch äußere Faktoren einen – wenn auch relativ unwesentlichen – Beitrag zum Wohlergehen leisten. Damit verbunden sind die Fragen, welche Bedeutung äußere, nichtmoralische Gegebenheiten in dieser Lehre überhaupt erhalten können und ob es Sokrates gelungen ist plausibel zu machen, dass die Eudaimonie allein vom richtigen Handeln abhängt, Zufälle also für sie keine Rolle spielen. Zwar steht fest, dass Platon die Weisheit als hinreichende Bedingung für die Eudaimonie betrachtet hat, doch hinsichtlich der Art des Verhältnisses von ethischem Wissen und Wohlergehen bleibt Klärungsbedarf. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff meinte, der Euthydemos pflege „nicht nach Verdienst eingeschätzt zu werden“; der Grund dafür sei, dass die Gegner des Sokrates „diesen Aufwand von Witz nicht zu verdienen scheinen“, zudem fehle ein positiver Ertrag für Platons Philosophie. Es sei hier aber „eine Kunst des Aufbaus und der Dramatik aufgeboten, die den Werken der höchsten Meisterschaft ebenbürtig“ sei; „in dem architektonischen Aufbau kommt ihm kein Dialog an Geschlossenheit und Harmonie gleich“. Auch Karl Praechter rühmte den „Reiz höchster schriftstellerischer Kunst, die sich hier entfaltet“ und die „bei jeder erneuten und vertieften Lektüre sich auftuenden Feinheiten der Einzeldarstellung“. Paul Friedländer fand an der „reichen Kontrapunktik, die diesen Dialog auszeichnet“, Gefallen. Olof Gigon wies auf die „Geschlossenheit und souveräne Durchformung“ hin; der Euthydemos sei „unter den frühen Dialogen Platons unzweifelhaft das Meisterwerk“. Auch Michael Erler lobte die kunstvolle Gliederung. Charles H. Kahn macht auf die Mehrschichtigkeit des Werks aufmerksam; es sei für Leser mit unterschiedlichen philosophischen Vorkenntnissen gedacht und geeignet. Es handle sich um ein brillantes Stück komischer Literatur. Auch Thomas Alexander Szlezák sieht im Euthydemos ein Meisterwerk platonischen Humors; dies könne man aber erst erkennen, wenn man den Hintergrund kenne und wenn man verstehe, in welchen größeren Zusammenhang innerhalb der platonischen Philosophie sich der Dialog einordne. Thomas Chance hält den Euthydemos für eine perfekte Mischung von Ernstem und Spielerischem. Ausgaben und Übersetzungen Otto Apelt (Übersetzer): Platons Dialog Euthydemos. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 3, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (Übersetzung mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922) Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden, Band 2, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 109–219 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Louis Méridier, 4. Auflage, Paris 1964, mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1818) Michael Erler (Übersetzer): Platon: Euthydemos (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch u. a., Band VI 1). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, ISBN 978-3-525-30413-6 (Übersetzung und Kommentar) Rudolf Rufener (Übersetzer): Platon: Frühdialoge (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 1). Artemis, Zürich und München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 267–329 (mit Einleitung von Olof Gigon) Franz Susemihl (Übersetzer): Euthydemos. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 1, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 481–539 (nur Übersetzung) Literatur Übersichtsdarstellungen Louis-André Dorion: Euthydème. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Band 5, Teil 1, CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 750–759 Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 121–128, 591–594 Untersuchungen und Kommentare Thomas H. Chance: Plato's Euthydemus. Analysis of What Is and Is Not Philosophy. University of California Press, Berkeley 1992, ISBN 0-520-07754-7 (online) Michael Erler: Platon: Euthydemos. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch u. a., Band VI 1). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, ISBN 978-3-525-30413-6 Ralph S. W. Hawtrey: Commentary on Plato’s Euthydemus. American Philosophical Society, Philadelphia 1981, ISBN 0-87169-147-7 Vittorio Hösle: Platons ‚Protreptikos‘. Gesprächsgeschehen und Gesprächsgegenstand in Platons Euthydemos. In: Rheinisches Museum für Philologie 147, 2004, S. 247–275 Hermann Keulen: Untersuchungen zu Platons „Euthydem“. Harrassowitz, Wiesbaden 1971, ISBN 3-447-01239-0 Lucia Palpacelli: L’„Eutidemo“ di Platone. Una commedia straordinariamente seria. Vita e Pensiero, Milano 2009, ISBN 978-88-343-1828-7 Thomas M. Robinson, Luc Brisson (Hrsg.): Plato: Euthydemus, Lysis, Charmides. Proceedings of the V Symposium Platonicum. Selected Papers. Academia Verlag, Sankt Augustin 2000, ISBN 3-89665-143-9 Weblinks Euthydemos, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1903 Euthydemos, deutsche Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher Anmerkungen Corpus Platonicum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kiemenlochtiere
Kiemenlochtiere
Die Kiemenlochtiere (Hemichordata) sind ein Tierstamm, zu dem nur gut 100 bekannte rezente Arten gehören. Sie umfassen zwei Gruppen, die in der klassischen Systematik im Rang von Klassen geführt werden – die wurmartigen Eichelwürmer (Enteropneusta) und die koloniebildenden, festsitzenden (sessilen) Flügelkiemer (Pterobranchia). Die Kiemenlochtiere zählen zum Überstamm der Neumünder (Deuterostomia), zu denen auch die Chordatiere (Chordata) und mit diesen die Wirbeltiere (Vertebrata) gehören. Der wissenschaftliche Name Hemichordata („halbe Chordatiere“) spiegelt die traditionelle Ansicht wider, sie seien die Urform der Chordata. Tatsächlich stehen die Hemichordata mit den Stachelhäutern (Echinodermata) – Seesterne (Asteroidea), Seeigel (Echinoidea) und andere – in einem Schwestergruppenverhältnis und bilden mit ihnen ein Taxon, das Ambulacraria genannt wird. Anatomie Kiemenlochtiere haben einen weichen, wurmähnlichen, aber (von einer groben Dreiteilung abgesehen) innerlich unsegmentierten Körper, der wie bei allen zweiseitig symmetrisch gebauten Tieren eine Spiegelsymmetrie aufweist und somit über drei klar definierte Körperachsen verfügt. Sie kommen in verschiedenen Farben von weiß bis dunkelviolett vor und können bis zu 2,50 m lang werden, andererseits finden sich aber auch nur millimetergroße Tiere. Charakteristisch ist die Gliederung des Körpers in drei Teile: Der vorderste Abschnitt ist der Kopflappen (Prosoma), der in der Klasse der Flügelkiemer (Pterobranchia) schildförmig geformt ist und daher auch als Kopf- oder Rostralschild bezeichnet wird. Darauf folgt ein kurzer Kragen (Mesosoma), in dem die Mundöffnung untergebracht ist und ein langer Rumpf (Metasoma). Diese grundlegende Dreiteilung des Körpers betrifft auch die Leibeshöhle, das Coelom, welche in Pro-, Meso- und Metacoel gegliedert ist, die räumlich in den entsprechenden Körperabschnitten liegen. Insbesondere in der Klasse der Eichelwürmer (Enteropneusta) befinden sich im Rumpfabschnitt bis zu hundert für die Gruppe namensgebende Kiemenspalten, durch welche die Tiere atmen und an denen das durch den Mund eingesogene Wasser unter Rückhaltung der Nahrungspartikel wieder ausströmen kann. Sie verbinden den ersten Darmabschnitt, den Kiemendarm, mit der Außenwelt. Bei den Flügelkiemern dagegen sind entweder nur zwei paarig angelegte Kiemen vorhanden oder diese fehlen ganz. Als Ausstülpung des Magens in den Mundlappen (Buccaltasche) existiert bei den Eichelwürmern eine weitere charakteristische Struktur, nämlich das Stomochord. Früher galt es als möglicher Vorläufer des Notochords, also der elastischen, stabförmigen Stützstruktur der Chordatiere. Da es mit diesem allerdings keine wesentlichen Gemeinsamkeiten aufweist und auch zu keinem Zeitpunkt als hydrostatisches Skelett dient, wird diese Ansicht heute wissenschaftlich kaum mehr vertreten. Das offene Blutgefäßsystem der Kiemenlochtiere ist recht primitiv ausgebildet, nur im Kragen und Kopflappen befinden sich zwei echte Blutkanäle. Im Kopflappen liegt auch das sehr elementare „Herz“, das lediglich aus einem einzigen zusammenziehbaren (kontraktilen) Blutgefäß besteht, das rückseitig (dorsal) ankommendes Blut in die bauchseitige (ventrale) Ader pumpt. Der Blutfluss ist also gerichtet (unidirektional). Die Ausscheidung flüssiger Abfallstoffe geschieht hauptsächlich durch die Haut, darüber hinaus existiert ein Glomerulus genanntes Membransystem, in dem aus dem Herz einströmendes Blut mehrfach gefiltert wird. Der entstehende Urin wird in die Leibeshöhle des Kopflappens entlassen und gelangt von dort durch eine Pore nach außen. Das Nervensystem besteht im Wesentlichen aus je einem bauchseitigen und rückseitigen Nervenstrang, die im Kopflappen und um den Darm herum ringförmig verbunden sind und Nervenenden in die Außenhaut (Epidermis) entsenden. Bei den Eichelwürmern verläuft der rückseitige Nerv in einer speziellen Falte im Kragen. Dieser hohle Nervenstrang, das „Kragenmark“ der Eichelwürmer, wird vor allem wegen seiner embryonalen Entstehung manchmal als Homologon des Rückenmarks der Chordatiere angesehen, beide wären also stammesgeschichtlich aus derselben Vorgängerstruktur hervorgegangen. Ernährung, Lebensraum und Verbreitung Kiemenlochtiere können sich auf zwei verschiedenen Wegen ernähren: Entweder graben sie sich durch das Sediment des Meeresbodens, das heißt, sie nehmen Bodenschlamm auf und verdauen den darin enthaltenen organischen Inhalt, in etwa wie ein Regenwurm, oder sie filtrieren frei im Wasser schwebende Nahrungsteilchen wie zum Beispiel Algen. Sie leben daher meist in oder unterhalb der Gezeitenzone, auf oder im Grund des Meeres (benthisch), zum Teil bis in Tiefen von 5000 Metern, und bilden dort oft U-förmige Wohnhöhlen. Nur wenige Arten leben im offenen Meer (pelagisch). Kiemenlochtiere sind weltweit in allen Meeresgewässern von den Tropen bis in polare Zonen verbreitet. Fortpflanzung Kiemenlochtiere haben getrennte Geschlechter, die sich allerdings äußerlich kaum unterscheiden. Aus den befruchteten Eiern entwickeln sich meist erst bewimperte Larven („Tornaria-Larven“), die den Larven der Stachelhäuter ähneln und aus denen sich die erwachsenen Tiere entwickeln. Sie verbringen einen Teil ihres Lebenszyklus vor der Metamorphose im Plankton, wo sie sich von feinen Nahrungspartikeln ernähren, die in Wimpernbändern der Larve hängenbleiben und von dort zum Mund transportiert werden; man bezeichnet sie daher auch als planktotroph. Bei manchen Arten geschieht die Entwicklung allerdings auch direkt, das heißt ohne ein dazwischengeschaltetes Larvenstadium. Neben der geschlechtlichen Fortpflanzung findet man auch die ungeschlechtliche: Dabei schnürt sich ein Jungtier in einem Knospung genannten Vorgang einfach vom genetisch identischen Elterntier ab. Daneben kann es auch vorkommen, dass ein Individuum einfach in zwei Teile zerfällt, die dann unabhängig voneinander fortbestehen. Fossilien Die ersten fossilen Funde von Kiemenlochtieren entstammen der chinesischen Chengjiang-Faunengemeinschaft und dem etwas jüngeren kanadischen Burgess-Schiefer, die im erdgeschichtlichen Zeitalter des Kambrium entstanden sind. Eine heute ausgestorbene Gruppe von Kiemenlochtieren, die Graptolithen (Graptolithina), bilden sogar wichtige Leitfossilien für Ordovizium und Silur. Systematik Man unterscheidet zwei Klassen noch heute lebender Kiemenlochtiere. Die Eichelwürmer (Enteropneusta) umfassen ungefähr 90 bis 100 Arten in vier Familien. Sie leben als Einzeltiere und sind im Gegensatz zu den Flügelkiemern nicht mit Tentakeln ausgestattet. Ihre Größe variiert zwischen 2,5 und 250 Zentimetern. Die etwa zwanzig Arten der Flügelkiemer (Pterobranchia) haben einen eher vasenförmigen Körper, verfügen über Tentakel und werden höchstens einen Zentimeter lang. Anders als die Eichelwürmer leben sie in Kolonien, in denen die Einzeltiere (Zooide) durch röhrenförmige Ausläufer, nämlich Stolons, miteinander verbunden sind. Eine solche Kolonie ist oft von einem aus Kollagen bestehenden Netzwerk von Höhlungen umgeben. Unsicher und rätselhaft ist die Zuordnung der Art Planctosphaera pelagica, für die manchmal eine eigene Klasse Planctosphaeroidea unterschieden wird. Von dieser Art ist allerdings nur die charakteristische rundliche Tornaria-Larve bekannt, die im freien Ozean lebt und bis zu einem Zentimeter groß werden kann. Die meisten Forscher nehmen an, dass sie zu einer bisher unbekannten Eichelwurm-Art gehört, die vermutlich in der Tiefsee lebt. Die Graptolithen (Graptolithina) bilden darüber hinaus eine wichtige Gruppe ausgestorbener Kiemenlochtiere; ihre Fossilien sehen wie spiralig aufgewundene kleine Sägeblätter aus. Es wird vermutet, dass dies eine Anpassung an das Schweben im freien Ozeanwasser (ihre pelagische Lebensweise) darstellt. Nach der Entdeckung der Flügelkiemer-Art Cephalodiscus graptolitoides vor der Küste Neukaledoniens, die in ihrem Körperbau verblüffende Übereinstimmung mit den fossilen Graptolithen zeigt, nehmen die meisten Forscher an, dass auch die Graptolithen zu den Flügelkiemern gehört haben. Stammesgeschichte Nach einigen Zweifeln, die Monophylie der Kiemenlochtiere und ihrer Teilgruppen betreffend, gilt heute die Monophylie aller drei Taxa nach morphologischen und genetischen Daten als wahrscheinlichste Hypothese, wenn auch die genetischen Daten gewisse Zweifel offenlassen, ob nicht die Flügelkiemer innerhalb der Eichelwürmer positioniert werden müssten (was diese in diesem Fall paraphyletisch machen würde). Das folgende Kladogramm gibt die nach heutigem Wissen wahrscheinlichsten Verwandtschaftsverhältnisse wieder: Literatur D. T. Anderson: Invertebrate Zoology. Kap. 17. Oxford Univ. Press, Oxford 2001 (2. Aufl.), S. 418, ISBN 0-19-551368-1 Richard S. K. Barnes, P. Calow, P. J. W. Olive, D. W. Golding, J. I. Spicer: The invertebrates - a synthesis. Kap. 7.2. 3. Aufl., Blackwell, Oxford 2001, S. 147, ISBN 0-632-04761-5 Richard C. Brusca, G. J. Brusca: Invertebrates. Kap. 23. Sinauer, Sunderland Mass 2003 (2. Aufl.), S. 847, ISBN 0-87893-097-3 A. Goldschmid: Hemichordata (Branchiotremata). in: Wilfried Westheide: Spezielle Zoologie. Teil 1. Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer, Stuttgart-Jena 1996, Akademie Verlag, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-1482-2 E. E. Ruppert, R. S. Fox, R. P. Barnes: Invertebrate Zoology - A functional evolutionary approach. Kap. 27. Brooks/Cole 2004, S. 857, ISBN 0-03-025982-7 J. van der Land: Hemichordata. in: M. J. Costello u. a. (Hrsg.): European register of marine species - a check-list of the marine species in Europe and a bibliography of guides to their identification. Collection Patrimoines Naturels. Bd 50. Publication scientifiques du M.N.H.N., Paris 2001, S. 336f, ISBN 2-85653-538-0 Einzelnachweise Weblinks Hemichordata World Database, by Noa Shenkar and Billie J. Swalla
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https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische%20Sommerspiele%201936
Olympische Sommerspiele 1936
Die Olympischen Sommerspiele 1936 (offiziell Spiele der XI. Olympiade genannt) wurden vom 1. bis 16. August 1936 in Berlin ausgetragen. Die meisten Wettkämpfe fanden auf dem Reichssportfeld statt, mit dem Olympiastadion als zentraler Arena. Mit 49 teilnehmenden Nationen und 3961 Athleten stellten die Olympischen Spiele in Berlin einen neuen Teilnehmerrekord sowie einen neuen Besucherrekord auf. Erstmals fand ein olympischer Fackellauf statt und im neuen Medium Fernsehen waren ausgewählte Wettkämpfe zu sehen. Herausragender Sportler war der US-amerikanische Leichtathlet Jesse Owens, der vier Goldmedaillen gewann. Erfolgreichster deutscher Athlet war Konrad Frey. Der Kunstturner errang drei Goldmedaillen, eine Silbermedaille und zwei Bronzemedaillen. Neben der sportlichen Bedeutung waren die beiden im Deutschen Reich stattfindenden Winter- und Sommerspiele 1936 besonders dadurch gekennzeichnet, dass sie von Hitler und der NSDAP dazu instrumentalisiert wurden, den NS-Staat im Ausland positiv darzustellen, während im Inland die NS-Propaganda vorwiegend die Leistungen der deutschen Olympiateilnehmer und -sieger hervorhob. Wahl des Austragungsortes Bereits die VI. Olympischen Spiele 1916 waren vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nach Berlin vergeben worden. Mitten in die Vorbereitungen fiel der Beginn des Ersten Weltkriegs, der schließlich zur Absage der Spiele führte. Nach Kriegsende schloss das IOC Deutschland als „offiziellen Kriegsverursacher“ aus der olympischen Gemeinschaft aus. Der Bann dauerte bis 1925. Seit der Wiederaufnahme in das IOC beschäftigte sich die Führung des Deutschen Olympischen Ausschusses mit dem Gedanken, die Spiele erneut nach Berlin zu holen. Theodor Lewald, Präsident des Ausschusses, schrieb am 25. Februar 1929 einen Brief an Oberbürgermeister Gustav Böß, in dem er eine wiederholte Bewerbung Berlins vorschlug. Beim Ende Mai 1930 in Berlin stattfindenden IX. Olympischen Kongress stellte die Reichshauptstadt ihre Kandidatur vor. Reichsinnenminister Joseph Wirth legte den Plan in seiner Eröffnungsrede im Audimax der Friedrich-Wilhelms-Universität dar, ohne allerdings konkret auf einen Austragungsort oder das Jahr der Spiele einzugehen. Die Bewerbung für 1936 wurde erst am Abend bei einem Bankett im Roten Rathaus ausgesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich außer Berlin auch Alexandria, Barcelona, Budapest, Buenos Aires, Dublin, Frankfurt am Main, Helsinki, Köln, Lausanne, Nürnberg, Rio de Janeiro und Rom beworben. Ein Jahr später, zur 30. Session des IOC in Barcelona, waren aber nur noch vier Kandidaten übrig geblieben. Als dann auch noch Budapest und Rom ihre Kandidaturen zurückzogen, kam es zu einer Stichwahl zwischen Barcelona und Berlin. Eine erste Abstimmung ergab eine Mehrheit für Berlin. Da aufgrund der Unruhen in Spanien bei diesem Treffen jedoch nur 20 der damals 67 IOC-Mitglieder anwesend waren, schlug IOC-Präsident Henri de Baillet-Latour mit Zustimmung der beiden deutschen Delegierten vor, den abwesenden Mitgliedern die Möglichkeit einer telegrafischen Abstimmung oder einer Briefwahl einzuräumen. Die endgültige Auszählung der Stimmen fand am 13. Mai 1931 im Sitz des IOC in Lausanne in Anwesenheit von Bürgermeister Paul Perret und IOC-Vizepräsident Godefroy de Blonay statt. Schließlich hatten sich 43 IOC-Mitglieder für Berlin und 16 für Barcelona entschieden sowie 8 der Stimme enthalten. Aufruf zum Boykott Als 1931 das offizielle Ergebnis der Abstimmung über die Vergabe der Spiele nach Berlin bekannt gegeben wurde, schien die Durchführung der Spiele nach den Grundsätzen der „olympischen Idee“ für das Deutschland der Weimarer Republik noch möglich zu sein. Nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 rief aber insbesondere in den USA die Diskriminierung der Juden eine Welle der Empörung und Verachtung hervor und führte zu Überlegungen, die Olympischen Spiele in Deutschland zu boykottieren. Eine breite Öffentlichkeit, aus der die Fair-Play-Bewegung hervorging, hatte erhebliche Zweifel an der Einhaltung und Achtung der „Olympischen Charta“ durch Deutschland und forderte Chancengleichheit für alle Teilnehmer, unabhängig von Konfession und Rasse. IOC-Präsident Henri de Baillet-Latour sah sich deshalb auf der 32. Tagung des IOC vom 5. bis 7. Juni 1933 in Wien dazu bewegt, eine mögliche Verlegung der Olympischen Spiele 1936 auf die Tagesordnung zu setzen, sollte die deutsche Reichsregierung nicht bereit sein, eine schriftliche Garantieerklärung abzugeben, die Regeln der „olympischen Idee“ einzuhalten. Außenpolitisch kompromissbereit, verpflichtete sich die NS-Regierung, die olympischen Regeln konsequent zu erfüllen. Sie versprachen freien Zugang für alle Rassen und Konfessionen in die Olympiamannschaften sowie Duldung eines politisch unabhängigen Organisationskomitees (OK). Dies wurde in der Praxis jedoch nicht umgesetzt. Von dieser Zusage auf Verwaltungsebene war Hitler nicht informiert, so dass sich nach seinem längeren Gespräch mit dem IOC-Mitglied Gen. Charles H. Sherrill ein erheblicher Streit anbahnte, den erst der Reichssportführer beendete, indem er feststellte, dass Juden die moralische Qualität fehle, Deutschland zu vertreten. Eine besondere Rolle spielten deutsche linksintellektuelle Emigranten in Frankreich, die vor allem im „Pariser Tageblatt“ gegen die Durchführung der Olympischen Spiele in Deutschland protestierten. Um diese verschiedenen Aktivitäten gegen die Austragung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin zu koordinieren, gründete sich am 7. Dezember 1935 in Paris das „Comité international pour le respect de l’esprit olympique“. Es bestand aus Mitgliedern der Komitees zur Verteidigung der olympischen Idee Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande, der skandinavischen Länder, der Tschechoslowakei sowie der Schweiz und hatte auch Verbindung zum US-amerikanischen Fair-Play-Komitee. Das Komitee unterstützte auch die Vorbereitungen der als Gegenolympiade geplanten Volksolympiade vom 19. bis 26. Juli 1936 in Barcelona, die wegen des einsetzenden Spanischen Bürgerkrieges abgebrochen werden musste, sowie die antifaschistische Kunstausstellung „de olympiade onder dictatuur“ in Amsterdam. Insgesamt blieb dieser Widerstand jedoch chancenlos gegenüber der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie, der das IOC gerne Glauben schenkte. Größeres Gewicht kam da den Boykottbestrebungen in den USA zu, die bereits 1933 begonnen hatten und durch die Verabschiedung der „Nürnberger Rassengesetze“ vom 15. September 1935 nachhaltig bekräftigt wurden. Hier hatte sich eine breite Fair-Play-Bewegung gebildet, die von den großen Sportverbänden der „Amateur Athletic Union“ (AAU), der größten Gewerkschaftsorganisation „American Federation of Labor“ (AFL), Universitäten und prominenten Sportlern getragen wurde. Der damalige Präsident der AAU, Avery Brundage, übernahm die Terminologie der Olympiagegner und forderte seinerseits „Fair Play for American Athletes“, indem man sie zu den Olympischen Spielen reisen lassen solle, um dort zu zeigen, dass das freiheitliche amerikanische System dem Faschismus überlegen sei. Ein Boykott der Olympischen Spiele in Deutschland durch die USA hätte einen erheblichen Imageverlust für das nationalsozialistische Regime bedeutet. Die US-amerikanische Regierung wollte ausdrücklich keinen Einfluss auf die Diskussion nehmen und stellte der AAU die Entscheidung über Teilnahme oder Boykott frei. Auf der Jahreshauptversammlung der US-amerikanischen „Amateur Athletic Union“ sollte im Dezember 1935 über die Olympiateilnahme der USA entschieden werden. Als Avery Brundage in seiner Funktion als Vorsitzender des US-amerikanischen NOKs und ein entschiedener Befürworter einer US-Teilnahme sah, dass er die Abstimmung möglicherweise verlieren würde, verzögerte er die Entscheidung um einen Tag. Über Nacht zitierte er per Telegramm weitere stimmberechtigte Delegierte herbei. Die Befürworter setzten sich am 8. Dezember 1935 mit 58:56 Stimmen gegen die Boykottunterstützer um AAU-Präsident Jeremiah T. Mahoney durch und die USA nahmen an den Olympischen Spielen in Berlin teil. Die meisten anderen Nationen schlossen sich darauf dieser Haltung an. Nur die Sowjetunion sagte ihre Teilnahme ab, wie zuvor schon bei allen Olympischen Spielen nach dem Ersten Weltkrieg. Mit der Abwehr des Boykotts der US-Mannschaft war es für Avery Brundage nicht getan. Er sorgte dafür, dass eine „vorzeigbare“ Mannschaft antrat, d. h. ohne jüdische Sportler. Für das Finale der 4-mal-100-Meter-Staffel der Männer waren zwei jüdische Sprinter aufgestellt worden: Sam Stoller als Startläufer, Marty Glickman als zweiter. Doch am Tag vor dem Finale wurden sie aus der Staffel genommen. Fackellauf Idee und Route Zu diesen Olympischen Spielen fand zum ersten Mal ein olympischer Fackellauf statt. Nach der Idee von Carl Diem wurde eine olympische Fackel in Griechenland entzündet und durch 3400 Fackelläufer zur Eröffnungsveranstaltung nach Berlin getragen. Der Lauf führte durch sieben Länder über eine Distanz von 3075 Kilometern. Die Strecke war von Mitarbeitern des Propagandaministeriums festgelegt und vermessen worden. Der Lauf begann in Olympia (20. Juli) und führte über die Stationen Athen, Delphi, Sofia (25. Juli), Belgrad (27. Juli), Budapest (28. Juli), Wien (29. Juli) und Prag (30. Juli). Am 1. August um 11:42 Uhr erreichte die Fackel das Berliner Stadtgebiet. Bevor das olympische Feuer ins Olympiastadion gebracht wurde, feierte man seine Ankunft in einer „Weihestunde“ mit 20.000 Hitlerjungen und 40.000 SA-Männern im Lustgarten. Zwei „Altäre“, einer im Lustgarten und einer vor dem gegenüberliegenden Berliner Stadtschloss, wurden von Fackelläufer Siegfried Eifrig entzündet. Sie brannten während der gesamten Olympischen Spiele. Der Schlussläufer des Fackellaufes war der Leichtathlet Fritz Schilgen, er entzündete während der Eröffnungsveranstaltung die olympische Flamme. Anschließend brachten Fackelläufer die Flamme zu den olympischen Wettkampfstätten in Kiel (2. August) und Berlin-Grünau (7. August). Die Fackel (Fackelhalter) Entworfen hatten die Fackel Walter E. Lemcke und Peter Wolf, die Firma Krupp stellte die Fackelhalter kostenlos zur Verfügung. Auf dem Schaft wurde die Strecke des Laufes als stilisierte Routenkarte eingraviert. Darüber ist ein Adler mit angelegten Schwingen abgebildet, der die olympischen Ringe in den Fängen trägt. Unter dem Adler steht der Schriftzug (in Großbuchstaben) „Fackel-Staffellauf/Olympia-Berlin/1936“. Auf dem Teller ist kreisrund „Als Dank dem Träger * Organisations-Komitee für die XI. Olympiade Berlin 1936“ eingraviert, auf der Unterseite des Tellers „Krupp Nirosta V2A Stahl“ und „Stiftung der Fried. Krupp A. G., Essen“. Der Fackelhalter ist 27 Zentimeter hoch und wiegt 474 Gramm. In diesen Fackelhalter wurde oben in die Öffnung die eigentliche Fackel gesteckt. Die Spitze dieser Fackel bestand aus Magnesium, das ungefähr zehn Minuten lang brannte. Alle 3400 der von den NOK der sieben Länder ausgewählten Fackelläufer durften im Anschluss an den Fackellauf diesen Fackelhalter kostenlos als Andenken behalten und zusätzlich wurde eine Urkunde ausgehändigt. Zu den Olympischen Spielen 1972 wurde von der Krupp A.G. ein fast identisches Stück mit nur geringen Abweichungen, wie z. B. Gewicht, an V.I.P Gäste mit unbekannter Auflage ausgegeben. Logo und Hymne Der Künstler Johannes Boehland entwarf ein Zeichen, das die fünf olympischen Ringe, einen Adler und das Brandenburger Tor zeigt. Der Präsident des Organisationskomitees, Theodor Lewald, war mit diesem Entwurf jedoch nicht zufrieden und regte an, den unteren Teil des Zeichens zu öffnen und somit die Form einer Glocke entstehen zu lassen. Auf der Seite der Glocke sollte die Inschrift „Ich rufe die Jugend der Welt!“ stehen. Johannes Boehland erhielt den Auftrag, das Zeichen neu zu entwerfen und die Ideen umzusetzen. Das endgültige Zeichen zeigte somit die olympische Glocke, auf der die olympischen Ringe mit dem deutschen Adler abgebildet waren. Genauso wie die olympischen Ringe, die olympische Flamme und der olympische Eid wurde auch die Glocke ein Symbol der Olympischen Spiele 1936. In der Nähe des Berliner Olympiastadions entstand 1934 nach den Plänen von Professor Werner March der etwa 77 Meter hohe Berliner Glockenturm. Für eine olympische Hymne wandte sich das Organisationskomitee zunächst an den Dichter Gerhart Hauptmann, der auch versprach, einen Text zu schreiben. Da er diesen jedoch nicht lieferte, regte Börries von Münchhausen ein Preisausschreiben an, das 3000 Einsendungen hatte. Börries von Münchhausen wählte davon vier Texte aus und schickte sie für die Vertonung an den Komponisten Richard Strauss, der sich für denjenigen des erfolglosen Schauspielers und Rezitators Robert Lubahn entschied: Weltpremiere feierte die Hymne am 1. August 1936 während der Eröffnungsveranstaltung im Olympiastadion Berlin. Olympische Standorte Wettkampfstätten Die Wettkampfstätten in Berlin und Umgebung verteilten sich über die damaligen Bezirke Charlottenburg, Köpenick, Spandau, Wilmersdorf und den Landkreis Osthavelland in der Provinz Brandenburg. Das zentrale Gelände wurde „Reichssportfeld“ genannt und vereinte die größten Sportanlagen. Die Errichtung des Reichssportfeldes kostete etwa 77 Millionen Reichsmark. Das Zentrum der Sportanlagen bildete das Olympiastadion, das 100.000 Zuschauern Platz bot und eine 400 Meter lange Aschenbahn hatte. Dort wurden die Wettbewerbe in der Leichtathletik, die Springwettbewerbe im Reiten, im Feldhandball und die Spiele im Fußball ab dem Halbfinale ausgetragen. Außerdem fanden dort die Eröffnungs- und die Abschlusszeremonie statt. Die Vor- und Zwischenrundenspiele des olympischen Fußballturniers wurden im Poststadion, im Mommsenstadion und im Stadion am Gesundbrunnen (der „Plumpe“) ausgetragen. Die Feldhandballwettbewerbe nutzten auch das Polizeistadion und den BSV-Platz. Das direkt neben dem Olympiastadion gelegene Schwimmstadion war Austragungsort für die Schwimmwettbewerbe und die Wasserballspiele. Es hatte 18.500 Zuschauerplätze und ein Schwimmbecken in der Größe von 50 Meter × 20 Meter. Für das Wasserspringen stand ein 20 Meter × 20 Meter großes Sprungbecken zur Verfügung. In der Deutschlandhalle, die 20.000 Zuschauern Platz bot, fanden die Wettbewerbe im Gewichtheben, Ringen und Boxen statt. Das Hockeyturnier wurde in einem für die Spiele erbauten Hockeystadion ausgetragen, das ebenfalls 20.000 Zuschauerplätze hatte. Die Wettbewerbe im Fechten wurden an verschiedenen Orten im Sportforum ausgetragen: im Kuppelsaal des Hauses des deutschen Sports, im Hockeystadion sowie auf den Tennisplätzen. Auch die Basketballspiele fanden auf den Tennisplätzen des Reichssportfeldes statt. Die Reitwettbewerbe wurden an den verschiedensten Lokalitäten durchgeführt: das Springreiten im Olympiastadion, das Poloturnier und das Dressurreiten auf dem Maifeld und der Geländeritt im Vielseitigkeitswettbewerb wie auch im Modernen Fünfkampf auf dem Truppenübungsplatz Döberitz. Die Schießwettbewerbe fanden in Berlin-Wannsee auf dem Schießplatz der „Deutschen Versuchsanstalt für Handfeuerwaffen“ statt. Außerdem war der Schießplatz Ruhleben der Austragungsort der Schießwettbewerbe des Modernen Fünfkampfs. Das Olympische Radstadion hatte eine 400 Meter lange Holzbahn und bot 12.000 Zuschauern Platz. Hier fanden die Wettbewerbe im Bahnradsport statt. Es existierte nur zwei Monate lang auf dem Sportplatz des Berliner Sport-Clubs am nördlichen Ende der AVUS und wurde danach abgerissen. Start und Ziel für die Straßenwettbewerbe war die Nordschleife der AVUS. Die Strecke führte über die Südschleife der AVUS, Schildhorn, die Heerstraße, Staaken, Dallgow, Döberitz, das Olympische Dorf, Priort, Kartzow, Fahrland, Krampnitz, Groß Glienicke, Karolinenhöhe, die Heerstraße und Schildhorn wieder zur Südschleife der AVUS und zurück zu Start und Ziel. Auf der Dietrich-Eckart-Freilichtbühne fanden vor 20.000 Zuschauern die Wettbewerbe im Turnen statt. Polo wurde auf dem Maifeld gespielt. Der Golf- und Land-Club Berlin-Wannsee war Austragungsort für den Geländelauf im Modernen Fünfkampf. In Berlin-Grünau wurden die Wettbewerbe im Rudern und im Kanufahren auf einer 2000 Meter langen Regattastrecke ausgetragen, auf deren Tribüne 9000 Zuschauer Platz fanden. Die Wettbewerbe im Segeln wurden vor dem Olympiahafen Kiel auf der Kieler Förde ausgetragen. Der Kunstwettbewerb begann am 15. Juli 1936. Bis zum Abschluss der Olympischen Spiele in Berlin konnte die Ausstellung in der Halle VI des Messegeländes besichtigt werden. Die Demonstrationssportart Baseball wurde im Olympiastadion dargeboten, die Demonstrationssportart Segelflug auf dem Flugplatz Staaken. Unterkünfte Das Internationale Olympische Komitee war in Berlin-Mitte im Hotel Adlon untergebracht. In der Charlottenburger Hardenbergstraße war der Sitz des Organisationskomitees. Die Sportlerinnen fanden ebenfalls im Deutschen Sportforum Charlottenburg Unterkunft. Einige männliche Athleten waren in Köpenick im Schloss, in der Polizeioffiziersschule und in der Dorotheenschule untergebracht. Der Großteil der männlichen Olympiateilnehmer residierte jedoch im Olympischen Dorf bei Döberitz. Das Dorf sollte ein Ort der Ruhe sein, an den sich die Sportler zurückziehen konnten. Zugleich ermöglichte es die kostengünstige Unterbringung und Verpflegung der Athleten und bot ihnen Trainingsmöglichkeiten sowie ein Unterhaltungsprogramm. Das Organisationskomitee hatte ein Team von Architekten und Landschaftsgärtnern mit der Planung der Anlage beauftragt. Die Gesamtleitung lag beim Architekten Werner March, der schon für die Planung des Reichssportfeldes und des Olympiastadions verantwortlich war. Ihm standen außerdem sein Bruder Walter March, der Architekt Georg Steinmetz und der Gartenarchitekt und Landschaftsplaner Heinrich Wiepking-Jürgensmann zur Seite. Die künstlerische Gestaltung (u. a. Wandbilder) wurde von Johann Vincenz Cissarz, Hugo Bäppler, Albert Windisch und Franz Karl Delavilla ausgeführt, die hierfür die „Olympia-Medaille“ bekamen. Das olympische Dorf bestand aus einem Empfangsgebäude, etwa 140 einstöckigen und 5 zweistöckigen Wohnbauten, einem großen Speisehaus, einem Küchenhaus, dem Hindenburghaus, dem Kommandantenhaus, einer Sporthalle, einer Schwimmhalle, einer Sauna sowie einem Ärzte- und Krankenhaus. Das Speisehaus hatte 38 Speisesäle, die jeweils bestimmten Nationen vorbehalten waren. Im Hindenburghaus fanden die abendlichen Unterhaltungsveranstaltungen statt, die durch die Leitung der NS-Kulturgemeinde veranstaltet wurden. Dazu gehörten Berichte über die Olympischen Spiele, Filmwochenschauen, Spielfilme, Sportfilme, Kabarett, Konzerte, Ballett und Kulturfilme. Nach Ende der Olympischen Spiele 1936 verwendete die deutsche Wehrmacht das Gelände des olympischen Dorfes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zu einem sowjetischen Kasernengelände umfunktioniert. Teilnehmer Mit 49 teilnehmenden Nationen wurde in Berlin ein neuer Teilnehmerrekord aufgestellt. Die Staaten Afghanistan, Bermuda, Bolivien, Costa Rica und Liechtenstein feierten ihre Premieren bei Olympischen Sommerspielen. Außerdem war für Haiti der Gewichtheber Rene Ambroise gemeldet. Er traf auch in Berlin ein, verletzte sich aber im Training, bevor er seinen Wettkampf bestreiten konnte. Medaillen Für die Olympischen Spiele in Berlin wurden insgesamt 960 Gold-, Silber- und Bronzemedaillen hergestellt. Sie waren jeweils 81 Gramm schwer und hatten einen Durchmesser von 55 Millimetern. Entworfen wurde die Medaille von Giuseppe Cassioli aus Florenz und hergestellt von B. H. Mayer aus Pforzheim. Auf der Vorderseite ist die Göttin des Sieges dargestellt, die in ihrer linken Hand eine Palme und in ihrer rechten Hand eine Krone hält. Daneben prägte man die Inschrift „XI. OLYMPIADE BERLIN 1936“. Die Rückseite der Medaille zeigt einen Sieger, der von jubelnden Massen getragen wird; im Hintergrund ist ein olympisches Stadion zu sehen. Außerdem erhielten alle Medaillengewinner Urkunden, Eichenkränze und jeder Sieger ein Eichbäumchen, die Olympia-Eiche. Bei diesen 70 Zentimeter großen Bäumchen handelte es sich um die deutsche Stieleiche (Quercus pedunculata). Sie befand sich in einem braunen Keramiktöpfchen mit der Aufschrift „Wachse zur Ehre des Sieges – rufe zur weiteren Tat“. Außerdem wurden die Namen aller Sieger auf Tafeln am Marathontor des Olympiastadions verewigt. Den Vorschlag der Internationalen Sportverbände, direkt an den Sportstätten die Siegerehrungen vorzunehmen, lehnte das IOC ab. Es bestand auf zentrale Siegerzeremonien im Olympiastadion. Dort fanden diese oftmals aber mit dreitägiger Verspätung statt. Erstmals wurden während der Siegerehrung die Nationalhymnen der Sieger abgespielt. Insgesamt wurden in 129 Wettbewerben in 19 Sportarten Medaillen vergeben, außerdem fanden 15 Kunstwettbewerbe statt. Wettkampfprogramm Es wurden 129 Wettbewerbe (110 für Männer, 15 für Frauen und 4 offene Wettbewerbe) in 19 Sportarten/25 Disziplinen ausgetragen. Das waren 13 Wettbewerbe und 5 Sportarten/Disziplinen mehr als in Los Angeles 1932. Nachfolgend die Änderungen im Detail: Die Mannschaftssportarten Basketball und Feldhandball wurden olympisch. Basketball war zuvor nur in St. Louis 1904 als Demonstrationssportart olympisch gewesen. Fußball für Männer wurde nach einer Pause in Los Angeles 1932 wieder olympisch. Kanu wurde mit C1 1000 m, C2 1000 m, C2 10.000 m, K1 1000 m, K1 10.000 m, K2 1000 m, K2 10.000 m, Faltboot K1 10.000 m und Faltboot K2 10.000 m Teil für Männer des olympischen Programms. Kanusport gehörte zuvor in Paris 1924 zu den Demonstrationssportarten. Polo war wieder im Programm. Beim Schießen wurde die Männerklasse Freie Pistole 50 m wieder eingeführt. Beim Segeln ersetzte die offene Klasse O-Jolle die offene Klasse Snowboard. Im Gerätturnen entfielen für die Männer Keulenschwingen, Tauhangeln und Tumbling. Für Frauen wurde der Mannschaftsmehrkampf wieder ins Programm aufgenommen. Olympische Sportarten/Disziplinen Basketball Gesamt (1) = Männer (1) Boxen Gesamt (8) = Männer (8) Fechten Gesamt (7) = Männer (6)/Frauen (1) Fußball Gesamt (1) = Männer (1) Gewichtheben Gesamt (5) = Männer (5) Handball Feldhandball Gesamt (1) = Männer (1) Hockey Gesamt (1) = Männer (1) Kanu Gesamt (9) = Männer (9) Leichtathletik Gesamt (29) = Männer (23)/Frauen (6) Moderner Fünfkampf Gesamt (1) = Männer (1) Polo Gesamt (1) = Männer (1) Radsport Bahn Gesamt (4) = Männer (4) Straße Gesamt (2) = Männer (2) Reiten Dressur Gesamt (2) = Männer (2) Springen Gesamt (2) = Männer (2) Vielseitigkeit Gesamt (2) = Männer (2) Ringen Freistil Gesamt (7) = Männer (7) Griechisch-römisch Gesamt (7) = Männer (7) Rudern Gesamt (7) = Männer (7) Schießen Gesamt (3) = Männer (3) Schwimmsport Schwimmen Gesamt (11) = Männer (6)/Frauen (5) Wasserball Gesamt (1) = Männer (1) Wasserspringen Gesamt (4) = Männer (2)/Frauen (2) Segeln Gesamt (4) = Offen (4) Turnen Gesamt (9) = Männer (8)/Frauen (1) Anzahl der Wettkämpfe in Klammern Zeitplan Farblegende Wettbewerbe Basketball Am Turnier im Basketball nahmen insgesamt 199 ausschließlich männliche Sportler aus 21 Ländern teil. Basketball war zwar bereits 1904 als olympische Sportart vorgeschlagen worden, war aber in Berlin erstmals eine offizielle Sportart. In jeder Mannschaft durften bis zu sieben Spieler eingesetzt werden. Die Begegnungen fanden im Freien auf Tennisplätzen statt. Neu war, dass die Ständer mit dem Korb außerhalb des Spielfeldes standen. Die Spielzeit lag bei zweimal 20 Minuten, und das Turnier wurde im doppelten Pokalsystem durchgeführt. Dies bedeutete, dass eine besiegte Mannschaft nicht sofort ausschied, sondern in einer Trostrunde nochmals die Chance hatte, sich für die nächste Runde zu qualifizieren. Als 22. Mannschaft war jene aus Spanien gemeldet, die aufgrund des Spanischen Bürgerkrieges jedoch nicht antreten konnte. So wurden insgesamt 40 Spiele ausgetragen. Die beiden Halbfinals fanden am 13. August statt. Qualifiziert hatten sich die Mannschaften aus den Vereinigten Staaten, Mexiko, Kanada und Polen. Im ersten Halbfinale schlugen die Vereinigten Staaten Mexiko mit 25:10, das zweite Halbfinale zwischen Kanada und Polen endete 42:15. Am 14. August um 18:25 Uhr setzten sich in einem vom Regen beeinträchtigten Finale die USA gegen Kanada mit 19:8 durch und errangen somit die Goldmedaille. Silber ging an Kanada, Bronze an Mexiko, das am selben Tag Polen mit 26:12 besiegt hatte. Die Siegerehrung nahm James Naismith vor, der aus Kanada stammende Erfinder des Spiels. Boxen Im Boxen nahmen insgesamt 183 Sportler in acht Gewichtsklassen teil. Jedes Land durfte je Gewichtsklasse mit nur einem Sportler an den Start gehen. In der Deutschlandhalle wurde erstmals in zwei Ringen geboxt. Die Organisatoren taten außerdem sehr viel, um die Bedingungen für die Athleten zu verbessern. So führten beispielsweise die Wasserleitungen direkt bis zu den Ringen, und auch die Ecken waren ausgeleuchtet. Große Sorgfalt legte man auch auf die Auswahl der Kampfrichter, nur in einem von fast 200 Kämpfen musste das Urteil revidiert werden. Dies betraf Richard Shrimpton (Großbritannien), der wegen eines Niederschlags von Chin Kuai-ti (China) disqualifiziert wurde. Nach einem Protest hob die Jury diese Disqualifikation aber wieder auf. Eine weitere Neuerung stellte das tägliche Wiegen der Athleten dar, womit für manche die Wettkämpfe schon vorzeitig beendet waren. Um dies zu vermeiden, reisten einige Mannschaften mit doppelter Besetzung an. Die erfolgreichsten Boxer kamen aus Deutschland; sie holten insgesamt zwei Gold-, zwei Silbermedaillen und eine Bronzemedaille. Fechten Im Fechten gab es sieben Wettbewerbe, sechs für Männer und einen für Frauen. Erstmals kam bei Olympischen Spielen eine elektrische Trefferanzeige zum Einsatz. In allen Waffenarten wurde nicht nach Siegen, sondern nach Punkten gewertet. In den Einzelwettbewerben waren drei Fechter pro Land startberechtigt, eine Mannschaft bestand aus sechs Fechtern. Pro Vergleich konnten davon vier eingesetzt werden. Als Waffen dienten Floretts, Degen und Säbel. Die erfolgreichsten Fechter kamen aus Italien, sie holten insgesamt vier Gold-, drei Silber- und zwei Bronzemedaillen. Auch die Fechter aus Ungarn waren mit drei Goldmedaillen und einer Bronzemedaille sehr erfolgreich. Fußball Am olympischen Turnier im Fußball der Männer nahmen insgesamt 201 Sportler aus 16 Ländern teil. Erst 1935 war Fußball wieder in das Programm Olympischer Spiele aufgenommen worden, allerdings unter der Voraussetzung, dass die NOK keine Profis nominierten. Kein Spieler durfte für seinen Verdienstausfall eine Entschädigung erhalten. Im Turnier gab es zwei Gruppen mit je acht Mannschaften. Gruppe A: Ägypten, Deutschland, Vereinigtes Königreich, Italien, Norwegen, Peru, Polen, Schweden Gruppe B: China, Finnland, Japan, Luxemburg, Österreich, Türkei, Ungarn, Vereinigte Staaten Je ein Land der Gruppe A wurde dann einem Gegner aus Gruppe B zugelost. Die Sieger der Vorrunde gelangten in die Zwischenrunde, die Sieger der Zwischenrunde in die Halbfinals. Das Ausscheiden der deutschen Fußballmannschaft in der Zwischenrunde mit einem 0:2 gegen Norwegen in dem einzigen jemals von Adolf Hitler besuchten Fußballspiel der Nationalmannschaft trübte die Stimmung der Deutschen. Nach diesem frühzeitigen Scheitern wurde Reichstrainer Otto Nerz beurlaubt. Ebenfalls in der Zwischenrunde wurde Österreich in der Verlängerung eindeutig mit 4:2 von Peru besiegt. Da in der Pause jedoch peruanische Zuschauer auf das Spielfeld gestürmt waren und einen österreichischen Spieler getreten hatten, wurde das Spiel annulliert und neu angesetzt. Dazu trat Peru jedoch nicht mehr an, womit die Mannschaft ausschied. In Peru kam es daraufhin zu Demonstrationen vor der deutschen und der österreichischen Botschaft. Die beiden Halbfinale fanden am 10. und 11. August statt. Qualifiziert hatten sich bis dahin die Mannschaften aus Italien, Norwegen, Österreich und Polen. Im ersten Halbfinale trennten sich Italien und Norwegen mit einem 2:1 nach Verlängerung, das zweite Halbfinale zwischen Österreich und Polen endete 3:1. Im Spiel um Platz 3 am 13. August standen sich die Mannschaften aus Norwegen und Polen gegenüber, das Spiel endete 3:2. Am 15. August um 16:00 Uhr spielten im Finale dann Italien und Österreich gegeneinander. Italien gewann 2:1 und errang somit die Goldmedaille. Silber ging an Österreich, Bronze an Norwegen. Gewichtheben Bei den nach Gewichtsklassen unterteilten fünf Wettbewerben im Gewichtheben nahmen insgesamt 80 Sportler teil. Im Leichtgewicht wurde je eine Goldmedaille an den Ägypter Anwar Misbah und den Österreicher Robert Fein vergeben, weshalb es keinen Silbermedaillengewinner gab. Der Sprecher des olympischen Eides, der Deutsche Rudolf Ismayr, erreichte im Mittelgewicht die Silbermedaille. In vier der fünf Wettbewerbe wurden neue Weltrekorde aufgestellt: Federgewicht, Anthony Terlazzo (USA): 312,50 kg Leichtgewicht, Anwar Misbah (EGY) und Robert Fein (AUT): jeweils 342,50 kg Mittelgewicht, Khadr Sayed El Touni (EGY): 387,50 kg Schwergewicht, Josef Manger (GER): 410,00 kg Die erfolgreichsten Gewichtheber kamen aus Ägypten, sie holten insgesamt zwei Goldmedaillen, eine Silbermedaille und zwei Bronzemedaillen. Auch die Deutschen waren mit einer Goldmedaille, zwei Silber- und zwei Bronzemedaillen sehr erfolgreich. Handball Feldhandball der Männer war nur 1936 in Berlin eine olympische Disziplin. Insgesamt nahmen 105 Sportler aus sechs Ländern an diesem Wettkampf teil. Gespielt wurde auf einem Fußballfeld mit einem 13-Meter-Torraum und einer 14-Meter-Strafwurfmarke. Die Spielzeit lag bei zweimal 30 Minuten. Im Spiel um Platz 3 am 14. August standen sich die Mannschaften aus der Schweiz und Ungarn gegenüber, das Spiel endete 10:5. Am selben Tag um 16:50 Uhr spielten dann im Finale vor 100.000 Zuschauern Deutschland gegen Österreich. Deutschland gewann 10:6 und errang somit die Goldmedaille. Silber ging an Österreich, Bronze an die Schweiz. Auf den weiteren Plätzen folgten Ungarn, Rumänien und die Vereinigten Staaten. Hockey Es wurde ein Turnier im Hockey der Herren ausgetragen, an dem 171 Sportler aus elf Ländern teilnahmen. Erstmals in der olympischen Geschichte war ein Hockeystadion gebaut worden. Die beiden Halbfinale fanden am 12. August statt. Qualifiziert hatten sich bis dahin die Mannschaften aus Indien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Im ersten Halbfinale trennten sich Indien und Frankreich mit 10:0, das zweite Halbfinale zwischen Deutschland und den Niederlanden endete 3:0. Im Spiel um Platz 3 zwei Tage später standen sich die Mannschaften aus den Niederlanden und Frankreich gegenüber, das Spiel endete 4:3. Das Finale hätte ursprünglich ebenfalls am 14. August stattfinden sollen, musste aber wegen starker Regenfälle um einen Tag verschoben werden. Am 15. August um 11:00 Uhr spielten im Finale dann Indien und Deutschland gegeneinander. Indien gewann 8:1 und errang somit die Goldmedaille. Silber ging an Deutschland, Bronze an die Niederlande. Kanu Im Kanurennsport wurden neun Wettbewerbe ausgetragen. Die Aufnahme von Kanurennsport in das olympische Programm war 1933 noch mit 15:9 Stimmen vom IOC abgelehnt worden. Ein Jahr später revidierte das IOC diesen Beschluss und nahm die Sportart mit 14:8 Stimmen auf. Pro Wettbewerb war ein Kanu je Land zugelassen. Die Langstreckenrennen fanden nicht auf einem Rundkurs statt, sondern auf einer geraden Strecke. Die erfolgreichsten Kanuten kamen aus Österreich, sie holten insgesamt drei Gold-, drei Silbermedaillen und eine Bronzemedaille. Die Deutschen waren mit zwei Gold-, drei Silber- und zwei Bronzemedaillen ebenfalls sehr erfolgreich. Leichtathletik In der Leichtathletik wurden 23 Wettbewerbe für Männer und sechs Wettbewerbe für Frauen ausgetragen. Auf einem Kongress der IAAF 1934 in Stockholm war ein neuer Hürdentyp, ein umgekehrtes „L“, beschlossen worden. Außerdem hatte man die Regel abgeschafft, wonach ein Läufer, der eine gewisse Anzahl Hürden gerissen hatte, disqualifiziert werden musste. Im Zehnkampf kam eine neue Zählweise, die Finnische Mehrkampftabelle, zur Anwendung. Eine Diskussion entbrannte um die Höchstgrenze der zulässigen Windunterstützung. Während die Deutschen die Obergrenze bei 0,7 m/s Rückenwind und 1,0 m/s Seitenwind vorschlugen, bestanden die US-Amerikaner auf der Regel, keine Rekorde auf geraden Strecken anzuerkennen, die mit mehr als 1,34 m/s Rückenwind unterstützt wurden. Schließlich einigte man sich auf ein seitdem gültiges Limit von 2,0 m/s. Der heute übliche Startblock wurde erst 1938 autorisiert und ab 1939 eingeführt. Als Zeitmessgerät wurden die von Omega entwickelten Handstoppuhren sowie der Rattrapantezähler verwendet. Im Marathonlauf gewannen die beiden Koreaner Son Kitei und Nan Shōryū Gold beziehungsweise Bronze unter der Flagge des japanischen Kaiserreiches. Auf der im Bereich des Marathontors des Olympiastadions angebrachten Siegerliste ist zu erkennen, dass das Wort „Japan“ auf deutlich hellerem Untergrund als die Namen der anderen Länder geschrieben steht. Hintergrund ist eine Aktion, zu der sich später ein südkoreanischer Diplomat bekannte, der sich über Nacht ins Stadion einschließen ließ und an die Stelle von „Japan“ das Wort „Korea“ setzte. Die Änderung muss professionell ausgeführt gewesen sein, denn sie blieb jahrelang unentdeckt. Heute steht dort wieder „Japan“ geschrieben, wie dies vom IOC entschieden wurde. Im Hammerwurf gewann der deutsche Karl Hein Gold und erzielte eine Rekordweite von 56,49 Metern mit seinem letzten Wurf. Damit startete er eine Siegesserie der Schüler von Sepp Christmann zusammen mit seinem Teamkollegen Erwin Blask, denn dieser holte sich auch noch die Silbermedaille für die deutschen Hammerwerfer. Der herausragende Leichtathlet war der US-Amerikaner Jesse Owens, der vier Goldmedaillen über 100 Meter, 200 Meter, 4-mal 100 Meter und im Weitsprung gewann. In den Leichtathletikwettbewerben der Männer wurden neben vielen Olympiarekorden auch einige Weltrekorde aufgestellt: Die deutsche 4-mal-100-Meter-Staffel der Frauen, die in der Qualifikation mit 46,4 Sekunden einen neuen Weltrekord erzielt hatte, führte im Finale beim letzten Wechsel mit acht Metern Vorsprung vor den Vereinigten Staaten. Jedoch missglückte dann die Staffelübergabe von Marie Dollinger auf Ilse Dörffeldt. Der Stab fiel zu Boden, und die Deutschen mussten disqualifiziert werden. Der als sicher geltende Olympiasieg für die deutsche Mannschaft ging somit an die Vereinigten Staaten. Mit 14 Gold-, 7 Silber- und 4 Bronzemedaillen war die US-amerikanische Mannschaft die erfolgreichste in den Leichtathletikwettbewerben. Moderner Fünfkampf Beim Modernen Fünfkampf nahmen insgesamt 42 Sportler aus 16 Ländern teil. Am ersten Tag wurde der 5000-Meter-Geländeritt ausgetragen. Dabei gab es 1,10 m hohe und bis zu 3,50 m breite Hindernisse, die mit einer Geschwindigkeit von 450 m/min überwunden werden mussten. Diese Strecke war in maximal 11:06,7 min zu absolvieren, ansonsten wurden für jede angefangene Mehrsekunde ein halber Strafpunkt berechnet. Am zweiten Wettkampftag fand das Fechten statt. Hierbei kämpfte jeder gegen jeden. Für einen Sieg gab es zwei Punkte, für einen Doppeltreffer einen Punkt. Am darauf folgenden Tag wurde das Pistolenschießen, aus 25 Metern Entfernung, ausgetragen. Hierbei hatten die Sportler 20 Schuss in vier Serien mit je fünf Schuss abzufeuern. Geschossen wurde auf eine Zehnerringscheibe, das maximal erreichbare Ergebnis lag bei 200 Ringen. Am vierten Tag fand das 300-Meter-Freistilschwimmen statt, am letzten Wettkampftag der 4000-Meter-Geländelauf. Hierbei starteten die Sportler im Abstand von einer Minute, die Reihenfolge ergab sich durch Platzziffern. Der Deutsche Gotthard Handrick gewann mit nur 31,5 Punkten, die Silbermedaille holte sich Charles Leonard aus den Vereinigten Staaten mit 39,5 Punkten und die Bronzemedaille ging an den Italiener Silvano Abbà mit 45,5 Punkten. Polo Am Poloturnier der Männer nahmen insgesamt 21 Sportler aus fünf Ländern teil. Nach 1900, 1908, 1920 und 1924 fand in Berlin das letzte Mal bei Olympischen Spielen ein Poloturnier statt. Gespielt wurden im K.-o.-System sieben Chukkers (Spielabschnitte) zu je acht Minuten, mit einem Seitenwechsel nach jedem Tor. Die Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten und das berühmte indische Team teilnehmen würden, erfüllte sich nicht. Da das Spiel Ungarn gegen Deutschland in der Vorrunde trotz Verlängerung 8:8 endete, wurde eine Wiederholung angesetzt, die Ungarn klar mit 16:6 gewann. Im Spiel um Platz 3 am 8. August standen sich die Mannschaften aus Mexiko und Ungarn gegenüber, das Spiel endete 16:2. Bereits am 7. August um 14:00 spielten im Finale Argentinien und das Vereinigte Königreich gegeneinander. Argentinien gewann 11:0 und errang somit die Goldmedaille. Silber ging an das Vereinigte Königreich, Bronze an Mexiko. Auf den weiteren Plätzen folgten Ungarn und Deutschland. Radsport Im Radsport wurden für Männer vier Wettkämpfe auf der Bahn und zwei auf der Straße ausgetragen. Im Sprint, beim 1000-Meter-Zeitfahren, beim 2000-Meter-Tandemrennen und in der 4000-Meter-Mannschaftsverfolgung durfte nur ein Starter beziehungsweise Team je Land an den Start gehen. Im Finale des Radsprintens foulte der Deutsche Toni Merkens den Niederländer Arie van Vliet. Anstatt disqualifiziert zu werden, erhielt er eine Geldbuße von 100 Mark und durfte seine Goldmedaille behalten. Das Straßenrennen wurde erstmals seit 1906 mit Massenstart ausgetragen. Da der Kurs jedoch nur 100 Kilometer lang und sehr flach war, kam das Feld nahezu geschlossen im Abstand von wenigen Sekunden an, so dass das Kampfgericht nicht in der Lage war, jeden Fahrer zu platzieren. Auch konnte dadurch Rang sechs der Mannschaftswertung nicht vergeben werden. Die Durchschnittsgeschwindigkeit dieses Rennens lag bei 39,2 km/h. Besonders erfolgreich schnitt der Franzose Robert Charpentier ab, der drei Goldmedaillen gewann. Durch ihn war Frankreich auch die beste Nation bei den Radsportwettbewerben, sie holten insgesamt drei Gold-, zwei Silber- und zwei Bronzemedaillen. Ähnlich erfolgreich waren die deutschen und die niederländischen Teilnehmer. Reiten Es fanden sechs Wettbewerbe im Reiten statt. Beim Geländeritt der Einzelwertung stürzte Konrad Freiherr von Wangenheim mit seinem Pferd „Kurfürst“ und brach sich das linke Schlüsselbein. Trotz der Verletzung stieg er wieder auf sein Pferd und beendete den Ritt. Mit unbeweglichem Arm startete er am nächsten Tag wieder, stürzte erneut und zwang sich wieder, den Ritt zu beenden, so dass er die Goldmedaille für die deutsche Mannschaft rettete. Bei den Reitwettbewerben erwiesen sich die Deutschen als überlegen und gewannen alle sechs Goldmedaillen, außerdem eine Silbermedaille. Elf andere Länder holten jeweils eine Medaille bei diesen Wettbewerben. Ringen Im Ringen wurden je sieben Wettkämpfe im Freistil und im griechisch-römischen Stil ausgetragen. Beim Freistilringen nahmen insgesamt 100 Sportler in den verschiedenen Gewichtsklassen teil, beim griechisch-römischen Ringen 110. Erstmals lag das Reglement in schriftlicher Form vor. Die Höchstdauer für einen Kampf betrug im Freistil 15 Minuten, im griechisch-römischen Stil 20 Minuten. Die Kampfrichter konnten nach den ersten zehn Minuten eine Bodenrunde von zwei Mal drei Minuten sowie eine folgende Periode von vier Minuten stehend anordnen. Die Ringer wurden mit einem roten beziehungsweise grünen Band gekennzeichnet. Der Ringer, der fünf Fehlerpunkte hatte, musste aus dem Turnier ausscheiden. Die erfolgreichsten Ringer kamen aus Schweden, sie holten insgesamt vier Gold-, drei Silber- und zwei Bronzemedaillen. Ähnlich erfolgreich war Ungarn. Deutschland erreichte keine Goldmedaille, jedoch drei Silber- und vier Bronzemedaillen. Der deutsche Ringer und Kommunist Werner Seelenbinder hatte vor, als Zeichen des Protests bei der Siegerehrung den erwarteten Hitlergruß zu verweigern und stattdessen eine obszöne Geste zu machen. Nach einer Erstrundenniederlage musste Seelenbinder diesen Plan aufgeben. Am Ende belegte er Platz vier im olympischen Wettkampf. Rudern Im Rudern gab es sieben Wettbewerbe. Pro Klasse konnte ein Boot je Land teilnehmen. Die deutschen Athleten waren in dieser Sportart am erfolgreichsten und gewannen fünf Goldmedaillen, eine Silber- sowie eine Bronzemedaille. Sportschießen Drei Wettbewerbe wurden im Sportschießen ausgetragen. Dabei gab es zwei neue Weltrekorde: Kleinkaliber liegend, Willy Røgeberg (NOR): 300 Ringe Freie Scheibenpistole, Torsten Ullman (SWE): 559 Ringe Deutschland errang bei diesen Wettkämpfen eine Gold- und zwei Silbermedaillen. Schwimmen Im Schwimmen wurden sechs Wettbewerbe für Männer und fünf für Frauen ausgetragen. Auch die Disziplinen Wasserball mit einem Wettbewerb (nur Männer) und Wasserspringen mit vier Wettbewerben (je zwei für Männer und Frauen) werden der Sportart Schwimmen zugerechnet. Die 4-mal-200-Meter-Freistilstaffel aus Japan erreichte im Finale einen neuen Weltrekord mit einer Zeit von 8:51,5 Minuten. Japan war mit vier Gold-, zwei Silber- und fünf Bronzemedaillen in den reinen Schwimmwettbewerben die erfolgreichste Nation. Es folgten die Niederlande und die Vereinigten Staaten. Deutschland gewann drei Silbermedaillen und eine Bronzemedaille. Beim Wasserballturnier nahmen 140 Sportler aus 16 Ländern teil. Die ersten zwei der Vorrundengruppen kamen in die Zwischenrunde, die jeweils beiden Besten der Zwischenrunden spielten um die Plätze eins bis vier, die übrigen um die Ränge fünf bis acht. Für einen Sieg gab es zwei, für ein Unentschieden einen Punkt. Bei Punktgleichheit entschied das Torverhältnis. Ungarn gewann die Gold-, Deutschland die Silber- und Belgien die Bronzemedaille. Beim Wasserspringen gingen zehn der zwölf Medaillen an Sportler aus den Vereinigten Staaten, zwei Bronzemedaillen an deutsche Sportler. Segeln Die vier Wettbewerbe im Segeln wurden auf der Kieler Förde vor Kiel ausgetragen. Das Wertungssystem war das gleiche wie bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Für jede ordnungsgemäß beendete Wettfahrt erhielt die Jacht einen Punkt zuzüglich je eines Punktes pro besiegter Jacht. Die Niederlande, Deutschland, Italien und das Vereinigte Königreich gewannen je eine Goldmedaille. Im Starboot gewannen Peter Bischoff und sein Vorschotmann Hans-Joachim Weise als erste deutsche Segler eine olympische Goldmedaille. Turnen Im Turnen wurden acht Wettbewerbe für Männer und einer für Frauen ausgetragen. Aus dieser Sportart ging der erfolgreichste deutsche Sportler der Olympischen Spiele in Berlin hervor. Konrad Frey errang drei Goldmedaillen – am Barren, am Seitpferd und mit der Mannschaft im Zwölfkampf. Außerdem erreichte er eine Silbermedaille am Reck sowie zwei Bronzemedaillen am Boden und im Zwölfkampf. Am Boden wurden zwei Bronzemedaillen vergeben, da Konrad Frey und der Schweizer Eugen Mack die gleiche Punktzahl erzielten. Insgesamt errang Deutschland in dieser Sportart sechs Goldmedaillen, eine Silbermedaille und sechs Bronzemedaillen. Die Schweiz erkämpfte sich eine Goldmedaille (Georges Miez im Bodenturnen), sechs Silber- und zwei Bronzemedaillen. Kunstwettbewerbe Während der Olympischen Sommerspiele in Berlin fanden 15 Kunstwettbewerbe statt. Prämiert wurden kulturelle Beiträge aus den Bereichen Baukunst, Literatur, Musik, Malerei und Grafik sowie Bildhauerkunst. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels eröffnete die Kunstausstellung in der Halle VI des Messegeländes bereits am 15. Juli 1936. Etwa 70 Kunstwerke wurden anschließend verkauft. Auch bei diesem Wettbewerb war Deutschland mit fünf Gold-, fünf Silber- und zwei Bronzemedaillen die erfolgreichste Nation. Außerdem wurde bei den Spielen in Berlin zum dritten und letzten Mal der olympische Bergsteigerpreis Prix olympique d’alpinisme verliehen. Die beiden Schweizer Hettie Dyhrenfurth und Günter Dyhrenfurth erhielten die Goldmedaille für ihre Himalayaexpeditionen in den Jahren 1930 und 1934. Den Schweizer Hermann Schreiber ehrte man mit der Goldmedaille für einen Segelflug über die Alpen. „San Min Chu-i“ („Drei Prinzipien des Volkes“), die chinesische Nationalhymne, wurde zur weltbesten Nationalhymne der Olympischen Spiele gewählt. Demonstrationssportarten und Vorführungen Als Demonstrationssportarten fanden Baseball und Segelfliegen statt. Die Baseballdemonstration war ein einziges Spiel, das am 12. August um 20:30 Uhr im Olympiastadion unter Flutlicht ausgetragen wurde. Es standen sich die beiden US-amerikanischen Mannschaften „Weltmeister“ und „Olympics“ gegenüber. Das Spiel endete 6:5 für die Weltmeistermannschaft. Auch die Segelflugwettbewerbe auf dem Flugplatz Staaken hatten keinen Wettkampfcharakter. 14 Piloten (darunter eine Frau) aus sieben Ländern sind namentlich bekannt, es gab jedoch noch weitere Teilnehmer. Die Piloten stammten aus Bulgarien, Italien, Ungarn, Jugoslawien, der Schweiz, Deutschland und Österreich. Der Schweizer Hermann Schreiber, der außerdem für einen Segelflug über die Alpen mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde, nahm auch an diesem Wettbewerb teil. Die Vorführung fand am 4. August um 11:00 Uhr statt. Bereits am 3. August ereignete sich ein schwerer Unfall bei den Übungen für die Vorführungen. Der Österreicher Ignaz Stiefsohn stürzte beim Kunstflug infolge eines Flügelbruchs tödlich ab. Außerdem gab es Vorführungen von Turnerinnen und Turnern aus China, Dänemark, Finnland, Norwegen, Ungarn, Schweden und Deutschland. Im Innenraum des Radstadions fanden Darbietungen im Kunstradfahren, Kunstreigen und Radball statt. Am 16. August wurde im Schwimmstadion ein Schauspringen aller Medaillengewinner im Wasserspringen veranstaltet. Am Austragungsort der Kanuwettbewerbe fanden Kenterübungen von 40 deutschen Kanuten und eine Auffahrt von 116 Zehnerkanadiern statt. Des Weiteren gab es ohne Medaillenvergabe eine deutsche Vorführung mit Viererkajaks über 1000 Meter: 1. Platz: V.K.C. Köln 3:41,3 min 2. Platz: K.G. Wanderfalke Essen 3:42,1 min 3. Platz: V.K.B. Berlin 4:24,2 min Den Charakter eines Demonstrationswettkampfes hatten auch die Erdteilstaffeln im Schwimmen. Hier trafen jeweils die USA und Asien (Japan) auf eine europäische Auswahl. Ebenso fand ein Wasserballspiel zwischen Europa und „Übersee“ statt, welches die Europäer mit 6:2 gewannen. 45 Minuten Deutsche Leibesübungen 45 Minuten Deutsche Leibesübungen war eine sportliche Großveranstaltung am 9. August 1936 im Berliner Olympiastadion. Insgesamt 4000 deutsche Turnerinnen und Turner vollführten am Vorabend der olympischen Turnwettkämpfe ein Massen-Schauturnen. Es wurden Freiübungen, Keulenschwingen und Ballspiele geboten. Die Präsentation integrierte u. a. eine „Körperschule“ der Männer, Gymnastik und Tänze von Frauen unter der Regie von Carl Loges. Meisterturner aus Hamburg und Berlin zeigten u. a. Vorführungen an den Ringen. Die Hamburger Turner hatten sich in einem Ausscheidungsturnen am 6. Juli 1936 qualifiziert. Außerdem zeigten der vierfache Olympiasieger von 1896 Carl Schuhmann und eine Altersriege drei Übungen. Herausragende Sportler und Leistungen Der österreichische Reitsportler Arthur von Pongracz de Szent-Miklós und Óvár war mit 72 Jahren und 48 Tagen der zweitälteste Teilnehmer der Geschichte. Nur der schwedische Sportschütze Oscar Swahn war bei den Olympischen Spielen 1920 mit 72 Jahren und 279 Tagen zum Zeitpunkt des Wettkampfes noch älter gewesen. Die dänische Schwimmerin Inge Sørensen wurde im Alter von 12 Jahren und 24 Tagen die jüngste Olympiamedaillengewinnerin, sie gewann über 200 Meter Brust die Bronzemedaille. Die US-amerikanische Wasserspringerin Marjorie Gestring wurde mit 13 Jahren und 266 Tagen die jüngste Olympiasiegerin der Geschichte und entschied den Wettbewerb im Kunstspringen für sich. Propaganda Für Deutschland, das als Angreifer und Verlierer des Ersten Weltkrieges angesehen wurde und aus diesem Grund zu den Olympischen Spielen 1920 und 1924 nicht eingeladen worden war, bedeutete die Vergabe der Olympischen Spiele einen Vertrauensbeweis sowie eine neue Chance, sich der Welt als guter Gastgeber zu präsentieren, der nach dem Ersten Weltkrieg zur Normalität zurückgefunden habe. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war jedoch zunächst völlig unsicher, ob die Olympischen Spiele 1936 aufgrund der ideologischen Sichtweisen der neuen deutschen Regierung tatsächlich stattfinden konnten. Angesichts der propagandistischen Möglichkeiten, die eine erfolgreiche Durchführung der Olympischen Spiele 1936 bieten würde, betonte Reichskanzler Adolf Hitler, dass er alles tun werde, um die Spiele so vollkommen wie möglich zu gestalten. Mit den Olympischen Spielen wollte er der ganzen Welt zeigen, dass Deutschland unter seiner Führung ein friedliebendes, soziales und wirtschaftlich aufstrebendes Land sei. Um dieses Ziel zu erreichen, duldete Adolf Hitler sogar die Tatsache, dass Theodor Lewald, der Präsident des Organisationskomitees, nach nationalsozialistischer Vorstellung ein „Halbjude“ war. Um eine Verlegung der Spiele ins Ausland zu verhindern, ging Adolf Hitler offiziell auf die Forderungen des IOC nach Einhaltung der olympischen Regeln ein. Die Regierung verpflichtete sich dazu, einen freien Zugang „für alle Rassen und Konfessionen“ in die Olympiamannschaften zu erlauben. Um den Boykottbestrebungen entgegenzutreten, verpflichteten sich die Veranstalter gegenüber dem IOC, auch deutsche Juden prinzipiell nicht von den Spielen auszuschließen. Am Ende gehörte aber nur eine „Halbjüdin“ der deutschen Olympiamannschaft an, die Fechterin Helene Mayer, die eine Silbermedaille gewann. Kurz vor dem Antritt zu den Spielen wurde Gretel Bergmann vom NS-Regime aus rassistischen Gründen und mit der Begründung einer angeblichen Verletzung an der Teilnahme gehindert. Die Nationalsozialisten zwangen die Leichtathletin zuvor zur Rückkehr aus England, wohin sie emigriert war, und zum Training für die Spiele in Berlin, indem sie ihrer in Deutschland verbliebenen Familie mit Repressalien drohten. Eine ähnliche Alibifunktion hatte Werner Seelenbinder, der populäre mehrfache deutsche Meister im Ringen, der als bekannter Kommunist an den Spielen teilnehmen durfte. Seelenbinder war auch nach den Spielen noch sportlich aktiv, wurde aber 1942 verhaftet und 1944 im Zuchthaus Brandenburg enthauptet. Neben der Möglichkeit, durch die Spiele das Ausland über den wahren Charakter des NS-Staates zu täuschen, war die Gelegenheit, mit diversen Baumaßnahmen der wirtschaftlichen Misere zu begegnen, die Arbeitslosenzahl zu verringern und auf diese Weise die Popularität der Regierung zu steigern, ein weiteres Motiv für Hitlers Bestreben. Seinen Entschluss für das umfangreiche Bauprojekt des Reichssportfeldes begründete Adolf Hitler wie folgt: Propagandistischen und wirtschaftlichen Nutzen erhoffte sich die nationalsozialistische Regierung auch durch den zunehmenden Fremdenverkehr. Die Olympischen Spiele waren außerdem ein willkommener Anlass, die von der NS-Ideologie geforderte körperliche Ertüchtigung, das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ für einen gesunden „Volkskörper“ im Hinblick auf Wehrertüchtigung und Einsatz im Krieg, auf breiter Basis zu propagieren und auch in die Tat umzusetzen. Durch die Integration aller Landsleute in die Vorbereitung der Olympischen Spiele 1936 sollte die Identifikation und Loyalität mit dem Regime erreicht werden. So betonte die Propaganda, dass kein Deutscher sich nur als Besucher der Olympischen Spiele fühlen solle, sondern dass jeder Deutsche in sich das Bewusstsein haben solle, Träger und damit Teilnehmer der Spiele zu sein. Mit der Parole „Olympia – eine nationale Aufgabe“, von Propagandaminister Joseph Goebbels und Innenminister Wilhelm Frick deklamiert, wurden die Deutschen in gewünschter Richtung auf die Olympischen Spiele vorbereitet. Eine erfolgreiche Olympiade soll nicht nur als Ausruf an die konkurrierenden Staaten dienen, sondern auch dem deutschen Volk neues Selbstvertrauen verleihen. Einem Olympia-Propaganda-Ausschuss und dem ihm angeschlossenen Amt für Sportwerbung oblag die gesamte Propaganda. In einer Heftreihe wurden dem Volk die teilweise komplizierten Regeln der Wettbewerbe erläutert. Als besonderer Aspekt der Propaganda galt die fahrbare Olympia-Wanderausstellung, die ein Jahr lang durch Deutschland zog und in fast hundert Städten zu sehen war. Daneben wurde mit Plakaten, Prospekten, Olympiazeitungen, Filmen und Diavorträgen im In- und Ausland für die Olympischen Spiele 1936 und für Deutschland geworben. Im Ausland lockten die Filialen der Reichsbahnzentrale für den deutschen Reiseverkehr mit üppig aufgemachten Schaufensterdekorationen zu einem Besuch Deutschlands anlässlich der Spiele. Auf besondere Zustimmung stieß die Reduzierung der Fahrpreise für Eisenbahnfahrten nach Deutschland um 60 Prozent. Wenige Wochen vor Eröffnung der Olympischen Sommerspiele wurde die deutsche Bevölkerung aufgerufen, durch besonders zuvorkommendes und höfliches Verhalten gegenüber den Gästen der Olympischen Spiele „alle Vorurteile gegenüber dem deutschen Volk aus der Welt zu schaffen“. Das propagandistische Hauptereignis aber waren die Olympischen Sommerspiele selbst. Gegen alle Mahnungen des IOC, die Gastgeberrolle nicht zur Selbstdarstellung zu missbrauchen, nutzte das Regime alles, um mit einem „propagandistischen Gesamtkunstwerk“ sich selbst gut in Szene zu setzen, mit begeisterten Volksmassen Ekstase und Einigkeit von Volk und Führer zu demonstrieren. Mit Rahmenveranstaltungen wie Theater- und Opernaufführungen, dem von Carl Diem geschaffenen Festspiel „Olympische Jugend“, verschiedenen Kunstausstellungen, der Deutschlandausstellung und sportlichen Begleitveranstaltungen wollten die nationalsozialistischen Machthaber der Welt die Größe und Bedeutung Deutschlands vorhalten, alle bisherigen Olympischen Spiele übertrumpfen und sich als friedliebend und weltoffen darstellen. Die Zwiespältigkeit des Systems offenbarte sich allerdings in der zynischen und skrupellosen Art, mit der die Nationalsozialisten vor den Gästen die wahren Zustände in Deutschland schönfärbten. Mit flaggen- und girlandengeschmückten Häusern und Straßen wurde eine perfekte Fassade aufgebaut, um den Eindruck eines ordentlichen, sauberen, zivilen und sozialen Deutschlands zu vermitteln. Um die internationalen Gäste über die fortwährende Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Deutschland zu täuschen, veranlasste Karl Ritter von Halt, der Organisator der Winterspiele, die Entfernung aller antisemitischen Schilder (wie solche mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“) in Berlin für die Zeit der Spiele. In der Hitlerjugend sang man deshalb Jede judenfeindliche Äußerung sollte während der Spiele unterbleiben. Vor dem Erscheinen musste jede Ausgabe der antisemitischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ der Polizeidienststelle des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zur Prüfung vorgelegt werden. Redakteure, die gegen diese Anordnung verstießen und weiterhin antisemitische Hetzkampagnen publizierten, wurden in Schutzhaft genommen. Die „Prestigeveranstaltung Olympische Spiele“ sollte dadurch nicht gefährdet werden. War die nationalsozialistische Propaganda bei den Winterspielen bemüht, jedes Anzeichen von Antisemitismus zu vermeiden, so wurden kurz vor Eröffnung der Olympischen Sommerspiele die in Berlin lebenden Roma und Sinti in ein in Marzahn eingerichtetes Zwangslager am Stadtrand verbracht. Während die NS-Propaganda das „Weltfriedensfest“ feierte, entstand nahe Berlin zeitgleich das Konzentrationslager Sachsenhausen. Die Nationalsozialisten haben das Instrument der Propaganda offensichtlich gekonnt eingesetzt, denn viele Gäste und Funktionäre sahen während der Olympischen Spiele nur das, was sie sehen sollten. Im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda hielt Sven Hedin am 4. August die Ansprache Sport als Erzieher und Leni Riefenstahl drehte den zweiteiligen Dokumentarfilm „Olympia“ über die Olympischen Sommerspiele von 1936, der zu den bekanntesten Filmen des Nationalsozialismus gehört. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin sowie der Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen bejubelten die Zuschauer die Olympiamannschaften beim Eintritt in das Stadion, als die Athleten den rechten Arm hoben und zum vermeintlichen Hitlergruß ausstreckten. Was zu dieser Zeit allerdings kaum jemand wusste war, dass diese Ehrerbietung mit dem ausgestreckten Arm auch der olympische Gruß war. Ebenfalls im Rahmen der Eröffnungsfeier wurde das von den Ausmaßen her überwältigende Luftschiff Hindenburg eingesetzt, auf dessen vier Heckflossen Hakenkreuze angebracht waren. Kurz bevor Adolf Hitler zu der Eröffnungszeremonie erschien, zog das Luftschiff die olympische Flagge an einem langen Seil befestigt über die Zuschauerränge. Auch wirtschaftlich waren die Olympischen Spiele für Deutschland ein großer Erfolg. Bei Gesprächen in der Wolfsschanze verkündete Hitler am 12. April 1942, dass die Spiele eine halbe Milliarde Devisen eingebracht hätten. Bei den Berliner Banken wurden während der Olympischen Spiele 23 Millionen Devisen eingewechselt, außerdem mussten alle Ausländer ihre Eintrittskarten in Devisen bezahlen. Der Erlös der Eintrittskarten brachte 9.034.442,79 Reichsmark, die Gesamteinnahmen sind jedoch unbekannt. Eine Karte zum Ringen oder Polo kostete eine Reichsmark, zu den Leichtathletikveranstaltungen oder der Baseballvorführung etwa vier Reichsmark. Insgesamt wurden fast 3,8 Millionen Eintrittskarten verkauft. Die Organisationskosten beliefen sich auf etwa 6,5 Millionen Reichsmark, außerdem investierte die Stadt Berlin 16,5 Millionen Reichsmark in den Ausbau der Infrastruktur und fast 100 Millionen Reichsmark in den Bau der Sportanlagen. Was die „reinen“ Olympiakosten angeht, gab es laut Carl Diem einen Überschuss von 4,5 Millionen Reichsmark. Berichterstattung Erstmals wurden Olympische Spiele direkt im Rundfunk übertragen. 41 Rundfunkgesellschaften waren zugelassen, es gab 68 Übertragungsstätten und 3000 Sendungen in 40 Ländern. Ein Sonderdienst des Deutschen Kurzwellensenders verbreitete die Olympianachrichten mit Ausnahme von Australien auf allen Kontinenten. Auch das Fernsehen hatte Premiere. Aus dem Olympiastadion übertrug eine Farnsworth-Kamera 15 Sendungen mit einer Gesamtzeit von 19 Stunden. Im Schwimmstadion war das Ikonoskop der Reichspost installiert. Erstmals in der Sportgeschichte wurden die Schwimmer unter Wasser aufgenommen. Der Fernsehsender Paul Nipkow sendete täglich von 10 bis 12 und von 15 bis 19 Uhr. In 138 Stunden wurden so 175 Wettkämpfe übertragen. Die Zahl der privaten Empfänger war allerdings gering, weil kaum jemand einen Fernseher besaß. Stattdessen gab es in Berlin 25 Fernsehstuben, in Leipzig zwei und in Potsdam eine. In diesen zählte man 162.228 zahlende Besucher. Siehe auch: Geschichte des Fernsehens in Deutschland Insgesamt waren ungefähr 1800 Journalisten akkreditiert. Da die Pressekarten unpersönlich und übertragbar waren, ist es jedoch nicht möglich, die exakte Zahl der anwesenden Journalisten zu nennen. Namentlich erfasst wurden 700 ausländische Journalisten aus 58 Staaten. In Berlin waren 117 Fotografen bei den Wettbewerben anwesend. Der Reichssportverlag veröffentlichte vom 21. Juli bis zum 19. August insgesamt 30 Ausgaben der „Olympia Zeitung“, die über die aktuellen Olympiaereignisse berichteten. 1937 gab das Organisationskomitee einen zweiteiligen offiziellen Bericht heraus. In deutscher und englischer Fassung wurden darin auf mehr als 1200 Seiten Infos zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin veröffentlicht. Sonstiges Nach den Olympischen Spielen 1936 hatte Hitler im September 1937 bekanntgegeben, dass Deutschland an keinen Spielen mehr teilnehmen werde. In Zukunft, so meinte er, würden in Nürnberg die großartigsten Sportveranstaltungen der Welt und die größten Sportwettkämpfe, die je stattgefunden haben, in eigener Regie unter uns abgehalten werden. Hinter Hitlers Aussage steckte nicht nur eine Phantasterei. Bereits Ende November 1936 wurde eine Verfügung unterzeichnet, der zufolge unter der Schirmherrschaft der SA künftig sogenannte Nationalsozialistische Kampfspiele stattfinden sollten. Diese Kampfspiele waren also eine Art nationale Olympiade und als Fortsetzung bzw. Ersatz der Olympischen Spiele gedacht. Albert Speer setzte Hitler im Laufe des Jahres 1937 davon in Kenntnis, dass die bisherigen Planungen für das Deutsche Stadion nicht mit den olympischen Maßen konform seien. Daraufhin erhielt er von Hitler eine Rückantwort, dass dies ganz unwichtig sei, da nach 1940, so meinte Hitler, die Olympischen Spiele für alle Zeiten in Deutschland stattfinden würden und zwar in diesem jenen Stadion. Und wie das Sportfeld bemessen sei, so fuhr er fort, das bestimmen dann wir! Rezeption In den drei Versionen des Musikvideos zu Peter Gabriels Antikriegs-Lied Games Without Frontiers von 1980 werden auch Szenen aus dem Propagandafilm Olympia von Leni Riefenstahl über die Olympische Sommerspiele von 1936 verwendet. Die Band Rammstein verwendete Ausschnitte aus diesem Film für ihr Musikvideo zu dem Lied Stripped (1998). Literatur Jürgen Bellers: Berichte des Reichspropagandaministeriums. LIT, Münster 1985, ISBN 3-88660-193-5. Volker Boch: Die Olympischen Spiele unter Berücksichtigung des jüdischen Sports. Hartung-Gorre, Konstanz 2002, ISBN 3-89649-819-3. Friedrich Bohlen: Die XI. Olympischen Spiele Berlin 1936. Pahl-Rugenstein, Köln 1979, ISBN 3-7609-5016-7. Susanne Dost: Das Olympische Dorf 1936 im Wandel der Zeit. Neddermeyer, Berlin 2003, ISBN 3-933254-12-4. Alexander Emmerich: Olympia 1936. Trügerischer Glanz eines mörderischen Systems. Fackelträger-Verlag, Köln 2011, ISBN 978-3-7716-4472-7 (wieder aufgelegt als Olympia 1936. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015). Armin Fuhrer: Hitlers Spiele – Olympia 1936 in Berlin. be.bra, Berlin 2011, ISBN 978-3-89809-089-6. Ewald Grothe: Die Olympischen Spiele von 1936 – Höhepunkt der NS-Propaganda? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2008), S. 291–307. Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August. Siedler, München 2016, ISBN 978-3-8275-0059-5. Emanuel Hübner: Olympia in Berlin – Amateurfotografen sehen die Olympischen Spiele 1936. Morisel, München 2017, ISBN 978-3-943915-29-7. Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik I. Athen 1896 – Berlin 1936. Sportverlag Berlin, Berlin 1997, ISBN 3-328-00715-6. Christian Koller: Vor 80 Jahren: Proteste gegen die Olympischen Spiele in Nazi-Deutschland, in: Sozialarchiv Info 3 (2016). S. 11–16. Arnd Krüger (Hrsg.): The Nazi Olympics: sport, politics and appeasement in the 1930s, Univ. of Illinois Press, 2003, ISBN 0-252-02815-5. Richard D. Mandell, The Nazi Olympics, University of Illinois Press 1987, ISBN 0-252-01325-5. Gustav Rau: Die Reitkunst der Welt an den Olympischen Spielen 1936. Olms, Berlin 1978, ISBN 3-487-08156-3. Reinhard Rürup: Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus. Argon, Berlin 1996, ISBN 3-87024-350-3. Christian Schulz: Die Olympische Fackel 1936 – Der Fackelhalter und seine Fälschungen ISBN 978-3-7565-4933-7 Christian Schulz: Die XI. Olympiade Berlin 1936 – Erinnerungsstücke – Raritäten ISBN 978-3-7565-4531-5 Weblinks Objekte zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin im Deutschen Sport & Olympia Museum LeMO. Deutsches Historisches Museum Seite des IOC Ehemaliges Olympisches Dorf Dallgow Elstal auf geschichtsspuren.de (vormals lostplaces.de) – Sehr viele Bilder und Informationen zum Olympischen Dorf von 1936 Fernseh-Programmablauf der Eröffnungsfeier am 1. August 1936 Einzelnachweise 1936 Olympische Spiele (Deutschland) Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus Sport (Deutsches Reich, 1933–1945) Sportveranstaltung in Berlin Fernsehen (Nationalsozialismus) Zwischenkriegszeit Olympiastadion Berlin Multisportveranstaltung 1936 Veranstaltung im Nationalsozialismus
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https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4ngurus
Kängurus
Die Kängurus (Macropodidae; von „groß“ und , Gen. „Fuß“) – in Abgrenzung zu den Rattenkängurus auch als Echte oder Eigentliche Kängurus bezeichnet – sind eine Familie aus der Beuteltierordnung Diprotodontia. Sie zählen zu den bekanntesten Beuteltieren und gelten als typische Vertreter der Fauna Australiens, leben aber auch auf Neuguinea. Kängurus sind durch ihre besonders langen Hinterbeine charakterisiert. Sie sind Pflanzenfresser und vorwiegend dämmerungs- oder nachtaktiv. Die Familie umfasst rund 65 rezente Arten, von denen vier ausgestorben sind. Merkmale Allgemeiner Körperbau Kängurus unterscheiden sich deutlich in ihren Ausmaßen. Während die größte Art, das Rote Riesenkänguru bis zu 1,8 Meter Höhe und ein Gewicht von 90 Kilogramm erreichen kann, bringt das Zottel-Hasenkänguru nur 0,8 bis 1,8 Kilogramm auf die Waage und hat eine Kopfrumpflänge von 31 bis 39 Zentimetern. Bei nahezu allen Arten sind die Hinterbeine deutlich länger und stärker als die Vorderbeine; Ausnahme sind die Baumkängurus, die sich an das Leben in den Bäumen angepasst haben und sich nicht mehr hüpfend fortbewegen, und bei denen Hinter- und Vorderbeine annähernd gleich lang sind. Der Schwanz ist lang, muskulös und meistens behaart, er wird oft als Stütze oder zur Balance benutzt, kann aber nicht als Greifschwanz eingesetzt werden. Bei den Nagelkängurus ist er mit einer knöchernen Spitze ausgestattet. Das Fell ist meistens in Grau- oder Brauntönen gefärbt, es gibt auch gemusterte Arten, beispielsweise die Felskängurus. Die Vorderpfoten sind klein und enden in fünf Fingern; sie dienen zur Nahrungsaufnahme und zum Abstützen. Der Hinterfuß ist schmal und langgestreckt, Kängurus sind Sohlengänger (plantigrad). Die erste Zehe der Hinterfüße fehlt, die zweite und die dritte Zehe sind wie bei allen Diprotodontia zusammengewachsen, enden aber in zwei getrennten Nägeln, die zur Fellpflege verwendet werden. Die vierte Zehe ist die längste und kräftigste, die fünfte ist mittelgroß. Kopf und Zähne Der Kopf ist zwar langgestreckt, aber verglichen mit der Körpergröße relativ klein. Die Ohren sind groß. Im Oberkiefer haben Kängurus insgesamt sechs Schneidezähne, im Unterkiefer nur zwei. Die unteren Schneidezähne sind wie bei allen Diprotodontia vergrößert und treffen beim Zubeißen auf eine harte Stelle im Gaumen hinter den oberen. Die oberen Schneidezähne sind U- oder V-förmig angeordnet und liegen nicht wie bei anderen Diprotodontia hintereinander. Diese Anordnung bildet ein effektives Werkzeug zum Abrupfen auch harter Pflanzenmaterialien und findet sich in konvergenter Form auch bei manchen Paarhufern. Die unteren Eckzähne fehlen, die oberen fehlen ebenfalls oder sind stark zurückgebildet, so dass eine große Lücke (Diastema) die Schneide- und die Backenzähne trennt. Die Prämolaren sind schmal und klingenförmig, die Molaren sind breit und hochkronig. Die Backenzähne kommen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander aus dem Zahnfleisch; erst wenn die vorderen abgenutzt sind und ausfallen, kommen die nächsten und wandern dann im Mund nach vorne. Insgesamt lautet die Zahnformel der Kängurus I 3/1, C 0-1/0, P 2/2, M 4/4 – insgesamt haben sie also 32 oder 34 Zähne. Innere Anatomie und Fortpflanzungstrakt Der Magen der Kängurus hat sich analog zu dem der Wiederkäuer mehrkammerig entwickelt. Er weist drei Abschnitte auf: der erste Abschnitt, der Vormagensack, dient als Fermentationskammer, wo ähnlich wie im Pansen Pflanzennahrung mit Hilfe von Mikroorganismen verarbeitet wird. Die weitere Verdauung erfolgt im schlauchförmigen Vormagentubus und im Hintermagen. Der Darm ist wie bei den meisten Pflanzenfressern lang, der Blinddarm gut entwickelt. Das Herz-Kreislauf-System zeigt gegenüber anderen Beuteltieren keine Besonderheiten. Auch der Fortpflanzungstrakt entspricht weitgehend dem der übrigen Beutelsäuger. Der Penis der Männchen liegt in Ruhe eingezogen und s-förmig gebogen in einer Penistasche, die Hoden liegen vor dem Penis. Weibchen haben zwei Uteri und zwei Vaginen und, im Gegensatz zu vielen anderen Beutelsäugern, einen dauerhaft angelegten Beutel (Marsupium). Seine Öffnung ragt nach vorne und er beinhaltet vier Zitzen. Juvenile Kängurus steigen vorwärts in den Beutel und drehen sich darin um. Männliche Kängurus haben keinen Beutel. Verbreitung und Lebensraum Kängurus kommen in Australien einschließlich vorgelagerter Inseln wie Tasmanien sowie in Neuguinea vor. Sie bewohnen unterschiedliche Lebensräume und sind in tropischen Regenwäldern ebenso zu finden wie in Busch- oder Grasländern und trockenen Steppen- und Wüstenregionen des Outbacks. Manche Arten wie die Fels- und Buschkängurus bewohnen auch gebirgige Regionen und sind in Höhen von über 3100 Metern zu finden. Lebensweise Aktivitätszeiten und Sozialverhalten Auch in Bezug auf Aktivitätszeiten und Sozialverhalten sind die Kängurus variabel. Die meisten Arten sind zwar dämmerungs- oder nachtaktiv, in unterschiedlichem Ausmaß sind sie jedoch auch tagsüber zu beobachten, etwa beim Sonnenbaden am Nachmittag. Den Tag verbringen sie im Schatten von Bäumen, in Höhlen oder Felsspalten und in anderen Unterschlupfen. Diese Tiere entwickeln keine ausgeprägten Sozialstrukturen; manchmal kommt es zur Bildung lockerer Verbände aus mehreren Individuen, die jedoch nicht dauerhaft sind. Fortbewegung Je nach Geschwindigkeitsbedürfnis kennen viele Känguruarten zwei Arten der Fortbewegung: Bei höherem Tempo springen sie nur mit den Hinterbeinen, der Schwanz bleibt in der Luft und dient der Balance. Auf diese Weise können sie kurzzeitig eine Geschwindigkeit von 50 km/h erreichen. Bei den größeren Arten sind diese Sprünge oft 9 Meter weit, bei einem Grauen Riesenkänguru wurden 13,5 Meter gemessen. Diese Sprünge sind kaum höher als 1,5 Meter. Bei langsamer Gangart benutzen Kängurus „fünf Gliedmaßen“: Während sich das Tier mit Vorderpfoten und Schwanz abstützt, schwingen die Hinterbeine nach vorne; sobald diese stehen, werden Vorderpfoten und Schwanz wieder nachgeholt. Die hüpfende Fortbewegung ist bei hoher Geschwindigkeit sehr effizient. Dank spezieller hoch elastischer Muskelbänder können sie ohne großen Energieaufwand schnell vorankommen, was bei einem trockenen Klima und teils dürftigem Nahrungsangebot von Vorteil ist. Bei niedriger Geschwindigkeit jedoch ist dieser Bewegungsablauf eher ineffizient und energieaufwändig. Kängurus können sich nicht rückwärts und die Hinterbeine nicht einzeln fortbewegen. Die Baumkängurus hüpfen nicht, können aber gut klettern. Die kurzschwänzigen Quokkas und die Filander bewegen sich hauptsächlich auf allen vieren fort. Nahrung Kängurus sind Pflanzenfresser, die sich je nach Lebensraum von unterschiedlichsten Pflanzen ernähren. Vereinfacht können eher grasfressende (zum Beispiel Rote und Graue Riesenkängurus) und eher blätterfressende Vertreter (zum Beispiel die Baumkängurus) unterschieden werden, die auch in der Form ihrer Backenzähne deutlich voneinander abweichen. In unterschiedlichem Ausmaß nehmen sie auch andere Pflanzenteile wie Früchte, Knospen und anderes zu sich. Dank ihres effizienten Verdauungstraktes können sie die schwer verdauliche Pflanzennahrung gut verwerten, manche Arten käuen auch wieder. Diese Anpassungen – verbunden mit der Fähigkeit, mit wenig Wasser auszukommen – führen dazu, dass sie auch in trockenen Gebieten mit wenig Vegetation überleben können. Fortpflanzung Wie bei allen Beuteltieren kommen Kängurubabys nach einer kurzen Tragzeit von rund 20 bis 40 Tagen, verglichen mit Plazentatieren, relativ unterentwickelt zur Welt. Selbst bei der größten Känguruart, dem Roten Riesenkänguru, misst das Jungtier bei der Geburt nur 2,5 Zentimeter und wiegt 0,75 Gramm. Üblicherweise kommt nur ein einzelnes Jungtier zur Welt, Zwillinge sind selten. Es krabbelt nach der Geburt selbstständig vom Geburtskanal in den Beutel und hängt sich mit dem Maul an eine Zitze, die es während der nächsten zwei bis drei Monate nicht loslässt. Bei vielen Arten kommt es zu einer „verzögerten Geburt“: Unmittelbar nach der Geburt eines Jungtieres paart sich das Weibchen erneut. Dieser Embryo wächst jedoch kaum weiter, bis das große Jungtier den Beutel endgültig verlassen hat. Erst dann entwickelt der Embryo sich weiter und kommt zur Welt. Der evolutionäre Vorteil dürfte in den teils unwirtlichen Lebensräumen dieser Tiere stecken: Sollte das Jungtier sterben oder die Mutter es verlassen müssen, ist sofort ein Nachfolger da. Nach rund einem halben Jahr verlässt das Jungtier erstmals den Beutel; mit rund acht Monaten ist es endgültig zu groß geworden, um noch hineinzupassen. Jungtiere werden aber bis zum Alter von rund einem Jahr gesäugt. Zu diesem Zweck stecken sie den Kopf in den Beutel der Mutter, wo häufig bereits ein weiteres kleines Jungtier genährt wird. In solchen Fällen trinken großes und kleines Jungtier an verschiedenen Zitzen, die auch Milch in verschiedener Zusammensetzung abgeben. In Australien werden die Jungtiere der meisten Beuteltierarten „Joeys“ genannt. Kängurus und Menschen Entdeckung und Name Eines der frühesten schriftlichen Zeugnisse zur Wahrnehmung des Kängurus durch Europäer sind Tagebucheinträge des britischen Seefahrers James Cook vom Juli 1770, die auch eine Beschreibung enthalten. Die Bezeichnung Känguru (englisch: kangaroo) stammt aus der Sprache des Aborigines-Stamms der Guugu Yimidhirr, die auf der Kap-York-Halbinsel leben. Er ist abgeleitet von dem Wort „gangurru“ (bzw. gang-oo-roo), das als Bezeichnung für ein graues Riesenkänguru dient. Der Stamm hat mehrere Wörter für die verschiedenen Arten. Nach einer weitverbreiteten Geschichte hätte Cooks Mannschaft als erste Europäer diese Tiere gesichtet; der Name Känguru bedeute in dieser Aboriginesprache „Ich verstehe (dich) nicht“ und soll den Briten auf „Was ist das für ein Tier?“ geantwortet worden sein. Dass diese Geschichte nicht den Tatsachen entspricht, fand erst in den 1970er-Jahren der Linguist John B. Haviland bei seinen Forschungen mit den Guugu Yimidhirr heraus. 1771 brachte Cook zwei Känguru-Felle nach Großbritannien, die nach dem Ausstopfen dem Tiermaler George Stubbs als Vorlage für ein vielfach reproduziertes Ölgemälde dienten. Gemäß alter deutscher Rechtschreibung war die Schreibweise Känguruh; diese wurde im Zuge der Rechtschreibreform 1996 geändert, in Känguru. Nutzung Kängurus waren bereits für die Aborigines wichtige Beutetiere – sie jagten sie wegen ihres Fleisches (Kängurufleisch) und verarbeiteten auch das Kängurufell. Andererseits hat die von den Aborigines betriebene Brandrodung, sei es zur Jagd oder in neuerer Zeit für einfachen Ackerbau, neuen Lebensraum geschaffen. Das Nebeneinander von abgebrannten Flächen, Flächen mit jungem Grün und dicht bewucherten Flächen bot den Tieren Nahrung und Zufluchtsmöglichkeiten. Auch die Europäer machten nach ihrer Ankunft Jagd auf diese Tiere. Heute sind die meisten australischen Känguruarten geschützt. Die Roten und Grauen Riesenkängurus jedoch, die sich seit Ankunft der Europäer deutlich ausgebreitet haben und keine natürlichen Feinde besitzen, werden bejagt. Im Gegensatz zu vielen anderen kommerziell genutzten Tieren gibt es keine Zuchtbetriebe. Der Abschuss ist strikten Quoten unterworfen; jährlich werden in Australien rund drei Millionen Tiere erlegt. Kängurufleisch hatte lange Zeit einen schlechten Ruf. Es galt als Arme-Leute-Essen nur für diejenigen, die sich kein anderes Fleisch leisten konnten. In Australien ist das Fleisch wenig beliebt und wird zu Tierfutter verarbeitet. Ein Großteil wird exportiert – 80 % nach Europa. Auch Leder wird aus den gejagten Kängurus produziert. Känguruleder gilt unter anderem aufgrund der gleichmäßigen Ausrichtung der Kollagenfasern als sehr reißfest und wird unter anderem zur Herstellung von Handschuhen (z. B. Handinnenflächen von Motorradhandschuhen), Schuhen und Stiefeln eingesetzt. Bedrohung Eine größere Bedrohung als die Bejagung – die nur die größeren Arten betrifft – war und ist für die Kängurus die Zerstörung ihres Lebensraums. Das Konzept der Brandrodung der Aborigines wurde zugunsten großflächiger Weide- und Landwirtschaft aufgegeben, was den Lebensraum vieler Arten stark einschränkte. Eine weitere Rolle spielt die Nachstellung durch eingeschleppte Räuber wie den Rotfuchs. Je nach Lebensraum und Verhalten haben die Arten unterschiedlich auf die veränderten Lebensumstände reagiert. Vier Arten (zwei Hasenkänguruarten, das Mondnagelkänguru und das Östliche Irmawallaby) sind ausgestorben. Andere Arten bewohnen nur mehr einen Bruchteil ihres früheren Lebensraums – so lebt das Gebänderte Hasenkänguru nur mehr auf zwei kleinen Inseln vor der Küste Western Australias. Es gibt auch weniger bedrohte Arten: So leben die Felskängurus vorwiegend in gebirgigen Regionen, die als Tierweiden unbrauchbar sind – daher haben sie aus dieser Richtung keine Bedrohung zu fürchten. Auch die Riesenkängurus sind weitverbreitet und nicht gefährdet. Die Arten auf Neuguinea waren nicht der Besiedlung ihres Lebensraumes durch die Europäer ausgesetzt, jedoch leiden auch sie heute unter der Abholzung der Wälder und dem damit einhergehenden Verlust ihres Lebensraumes. So gelten mehrere Arten der Baum- und Buschkängurus auf dieser Insel laut IUCN als bedroht. Die größte Bedrohung der Kängurus ist nach wie vor der Mensch. Australische Farmer bekämpfen sie, da sie ihre Felder abfressen: Tränken werden vergiftet und viele Kängurus erschossen. Trotz eindeutiger Gesetzeslage, die Tiere nach einer Verletzung sofort zu töten, werden sie oft lebendig zu den Schlachthöfen gebracht. Die Regierung Australiens gibt jedes Jahr eine Anzahl an Kängurus frei, die getötet werden dürfen. Jedoch weisen Tierschützer darauf hin, dass es zu wenige Kontrollen gibt, vor allem wird der Regierung vorgeworfen, damit die Kängurus verarbeitende Industrie zu schützen. Weitere häufige Ursache für den Tod von Kängurus sind Autos und die weit verbreiteten Road Trains. Absichtliches Überfahren der Tiere kommt trotz Verbots öfter vor. Kulturelle Bezüge In den Mythen der Traumzeit der Aborigines gibt es ein „großes Känguru“. Es sorgte dafür, dass die animal people (die Tierleute) das Wasser zurückhielten, als die große Flut kam. Danach spie es alle Worte aus, die die Menschen auf der Erde sprechen. Damit wurde es zum Schöpfer aller Töne, der Laute und Sprachen. Ein Känguru und ein Emu sind die Wappentiere Australiens. Beide Tiere können sich nur vorwärts bewegen, was für den Fortschritt steht. Daneben sind Kängurus als Symboltiere in Australien allgegenwärtig, beispielsweise auf dem Emblem der Fluglinie Qantas Airways oder auf der australischen Ein-Dollar-Münze. Systematik Äußere Systematik und Entwicklungsgeschichte Kängurus gehören innerhalb der Beutelsäuger zur Ordnung Diprotodontia und innerhalb dieser Gruppe zur Unterordnung der Macropodiformes oder Macropodoidea. Diese Unterordnung umfasst neben den Eigentlichen Kängurus noch die Rattenkängurus (Potoroidae) und das urtümliche Moschusrattenkänguru, das in einer eigenen Familie Hypsiprymnodontidae geführt wird. Wahrscheinlich haben sich die Kängurus aus baumbewohnenden Tieren entwickelt, die dem Moschusrattenkänguru ähnelten. Dieses Tier hat eine Reihe von Besonderheiten, die sich bei anderen Arten nicht mehr finden: es ist sehr klein, hat noch annähernd gleich lange Vorder- und Hintergliedmaßen und einen nackten Schwanz. Die Schwestergruppe der Kängurus sind die Rattenkängurus. Die Abstammungsverhältnisse innerhalb der Macropodiformes kommen in folgendem Kladogramm zum Ausdruck: Innerhalb der Kängurus erschien die Unterfamilie der Kurzschnauzenkängurus (Sthenurinae) erstmals im Miozän, erreichte ihre größte Vielfalt jedoch im Pleistozän. Sie war generell durch einen festeren Körperbau als die heutigen Arten gekennzeichnet. In dieser Unterfamilie entwickelten sich mit der Gattung Procoptodon die größten Kängurus. Als einziger heute noch lebender Vertreter der Sthenurinae galt früher das Gebänderte Hasenkänguru. Mittlerweile wird es jedoch in die Unterfamilie der Lagostophinae gestellt. Die Sthenurinae sind demnach seit dem späten Pleistozän ausgestorben. Die restlichen rezenten Arten gehören alle zur Unterfamilie der Macropodinae, die ebenfalls seit dem Miozän belegt ist. Im Pleistozän, also vor rund 51.000 bis 38.000 Jahren, kam es in Australien zu einem Massenaussterben größerer Tiere, von dem neben einigen riesenhaften Kängurus (Procoptodon, Simosthenurus) auch andere Beuteltiergruppen wie die Diprotodonten und die Beutellöwen betroffen waren. Dieses Aussterben hat weltweite Parallelen, der Zeitpunkt dieser Quartären Aussterbewelle korreliert ungefähr mit der Siedlungsgeschichte des Menschen. Unklar ist, in welchem Ausmaß die menschliche Bejagung (Overkill-Hypothese) oder klimatische Faktoren dafür verantwortlich sind – durch die Bindung großer Wassermassen während der Würm-Eiszeit herrschte eine starke Trockenheit. Denkbar ist auch eine Vermischung der beiden Ursachen: Die durch die klimatischen Veränderungen in Mitleidenschaft gezogene Tierwelt könnte dem mit der Ankunft des Menschen einsetzenden Jagddruck nicht mehr standgehalten haben. Innere Systematik – Die rezenten Gattungen Innerhalb der Kängurus unterscheidet man heute 13 Gattungen mit rund 65 rezenten Arten; hiervon gelten 4 Arten als bereits ausgestorben: Das Gebänderte Hasenkänguru (Lagostrophus fasciatus) ist der urtümlichste lebende Vertreter der Kängurus und wird in einer eigenen Unterfamilie, Lagostrophinae, eingeordnet. Die Buschkängurus (6 Arten in den beiden Gattungen Dorcopsis und Dorcopsulus) sind Regenwaldbewohner Neuguineas. Die Baumkängurus (Gattung Dendrolagus) sind baumbewohnende Tiere in Neuguinea und auf der australischen Kap-York-Halbinsel. Es werden 12 Arten unterschieden. Die Felskängurus (Petrogale) sind mittelgroße, oft gemusterte Tiere, die in Bergländern in Australien leben. Die Gattung umfasst 17 Arten. Die Filander (Thylogale) sind durch einen kaum behaarten Schwanz charakterisiert. Die 7 Arten dieser Gattung leben in Australien und Neuguinea. Die Hasenkängurus (Lagorchestes) haben ihren Namen, weil sie von der Größe und Fortbewegung her an Hasen erinnern. Von den vier Arten sind zwei bereits ausgestorben. Das Quokka oder Kurzschwanzkänguru (Setonix brachyurus) ist durch die kurzen Ohren und den kurzen Schwanz gekennzeichnet. Die Nagelkängurus (Onychogalea) haben einen knöchernen Nagel am Schwanzende. Die Gattung umfasst zwei lebende und eine ausgestorbene Art. Das Sumpfwallaby (Wallabia bicolor) ist eine kleine Art aus Südostaustralien. Die Gattung der Grauen Riesenkängurus (Macropus) setzt sich aus zwei Arten zusammen. Die Gattung Osphranter besteht aus den drei Arten der Bergkängurus und aus dem Roten Riesenkänguru, der größten lebenden Känguruart. Die Gattung der Wallabys (Notamacropus) zählt 8 Arten, darunter eine ausgestorbene. Die stammesgeschichtlichen Beziehungen der Gattungen zueinander kommen in dem folgenden Kladogramm zum Ausdruck. Dieses wurde 2019 durch den Vergleich der Zellkern- und mitochondrialen DNA aller in der heutigen Zeit lebenden Känguruarten entwickelt. Literatur Terence J. Dawson: Kangaroos. Cornell University Press, Comstock, Cornell 1995, ISBN 0-8014-8262-3. Tim Flannery: Mammals of New Guinea. Cornell University Press, Cornell 1995, ISBN 0-8014-3149-2. Udo Gansloßer (Hrsg.): Die Känguruhs. Filander, Fürth 1999, 2004, ISBN 3-930831-30-9. Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Band 10, Säugetiere 1. Droemer-Knauer, München / dtv, München / Bechtermünz, Augsburg 1979, 2000, ISBN 3-8289-1603-1, S. 128–164. John A. Long, u. a.: Prehistoric Mammals of Australia and New Guinea. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2003, ISBN 0-8018-7223-5. Ronald Strahan: Mammals of Australia. Smithsonian Books, Washington DC 1996, ISBN 1-56098-673-5. Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9. Weblinks Informationen bei Animal Diversity Web Einzelnachweise Nationales Symbol (Australien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ohrenrobben
Ohrenrobben
Die Ohrenrobben (Otariidae) sind eine Familie meist großer Robben, die an zahlreichen Felsenküsten der Weltmeere große Kolonien bilden. Aufgrund ihrer kräftigeren Gliedmaßen können sie sich im Vergleich zu den Hundsrobben besser an Land bewegen. Die meisten Arten werden aufgrund äußerer Merkmale zu den Seebären und Seelöwen gezählt. Dabei sind Seebären üblicherweise stärker behaart und im Schnitt kleiner als Seelöwen, aber ausweislich genetischer Untersuchungen entspricht dies nicht den realen Verwandtschaftsverhältnissen. Die Familie wurde 1825 durch den britischen Zoologen John Edward Gray wissenschaftlich beschrieben und erhielt ihren wissenschaftlichen Namen, der sich vom Gattungsnamen Otaria ableitet; in diese Gattung wurden früher verschiedene Arten der Ohrenrobben gestellt, heute nur noch die Mähnenrobbe (Otaria flavescens). Merkmale Habitus Ohrenrobbenmännchen der Neuseeländischen Seelöwen (Phocarctos hookeri) können bis zu 3,50 Meter groß werden, während Weibchen der Galápagos-Seebären (Arctocephalus galapagoensis) manchmal nur eine Körperlänge von einem Meter erreichen. Das Gewicht hat je nach Art und Geschlecht eine Spannbreite von 25 Kilogramm bei manchen Weibchen der Südlichen Seebären (Arctocephalus) bis über 500 Kilogramm bei Männchen der Stellerschen Seelöwen (Eumetopias jubatus). Auffällig ist der deutliche Sexualdimorphismus aller Arten: Die Männchen können je nach Art bis zu 2,5-mal so groß und bis zu 6-mal so schwer werden wie die Weibchen. Bei den Nördlichen Seebären (Callorhinus ursinus) sind die Männchen zum Beispiel ungefähr viereinhalb mal so schwer wie die Weibchen. Generell sind die ausgewachsenen Seelöwen etwas größer als die Seebären, wobei ein ausgewachsenes Seelöwen-Männchen zwischen 360 und 600 Kilogramm und ein Seebären-Männchen zwischen 60 und 270 und ein Weibchen 34 bis 56 Kilogramm wiegt. Das Gewicht der Männchen ist dabei wesentlich bedingt durch eingelagertes Fett, dass die Tiere während der Paarungszeit und bei Rivalenkämpfen als Energiereserve nutzen. Der Körper ist schlank und spindelförmig. Im Vergleich zu den Hundsrobben haben sie einen im Verhältnis längeren Hals und dafür einen kürzeren, gedrungeneren Körper zwischen den Flossen. Die Schultern und der Nacken sind muskulös, vor allem bei den kräftigeren Männchen. Neben dem kräftigen Nacken weisen die Männchen zudem eine Nackenmähne auf, die von längeren Haaren im Nackenbereich gebildet wird. Im Gegensatz zu den Hundsrobben haben Ohrenrobben Flossen, die auch bei der Fortbewegung an Land von großem Nutzen sind. Die Vorderflossen sind muskulös mit einer glatten, ledrigen Oberfläche. Sie sind, ganz besonders bei den Seebären, sehr lang mit einer breiten Vorderkante und weisen je fünf Zehen mit rudimentär erhaltenen Nägeln auf, wobei die Zehenlänge von außen nach innen abnimmt. Die kürzeren Hinterflossen können unter den Körper gedreht und bei der Fortbewegung benutzt werden. Im Vergleich zu den Hundsrobben, denen dies nicht möglich ist, sind sie vergleichsweise lang und werden zum Ende breiter. Die fünf Zehen sind etwa gleich lang oder die beiden äußeren sind artabhängig etwas länger, wobei dann der erste Zeh auch kräftiger ist. Auf den drei mittleren Zehen befinden sich gut entwickelte Zehennägel, die beiden äußeren Nägel sind hingegen meist weitgehend degeneriert. Auch die Hinterflossen sind mit einer ledrigen schwarzen Haut bedeckt, rückenseits weisen sie eine kurze Behaarung auf. Alle Ohrenrobben haben zudem einen sehr kurzen Schwanz, der breit ansetzt und sich dann sehr schnell verjüngt. Fell Ohrenrobben sind von einem Fell besetzt, insgesamt gibt es bei ihnen vier verschiedene Fell- bzw. Pelztypen. Das Fell der Seelöwen ist kurz aus borstenartigem Deckhaar. Bei den Seebären wird das Deckhaar gegen ein dichtes Unterfell ergänzt, das aus weicheren Wollhaaren gebildet wird. Bei den männlichen Tieren bildet sich zudem eine Nackenmähne aus längeren Deckhaaren, die vom Kopf über den Nacken bis auf die Schultern reicht. Jungtiere besitzen einen Pelz aus längeren Deckhaaren, der als „Geburtsfell“ bezeichnet wird. Während sich die Tiere im Wasser befinden, legen sich die Haare dicht an den Körper an und solang sie nass sind, folgen sie der Kontur des Körpers. Sobald das Fell getrocknet ist, stellen sich die Haare vor allem im Bereich der Mähne auf. Das Wollhaar der Seebären trägt durch darin enthaltene Luftbläschen im Wasser zur Wärmeisolierung und Thermoregulation bei und wird in regelmäßigen Abständen erneuert. Das Fell erscheint dadurch an einige Stellen mit älterem Haar stumpfer und an neu gebildeten Stellen heller, dadurch wirkt es teilweise fleckig. Der Fellwechsel findet in der Regel vom Kopf und von den Flossen zum Körper hin statt, ein vollständiger Fellwechsel findet etwa jährlich statt und dauert in der Regel mehrere Wochen. Bei den Seebären werden erst die Haare des Unterfells und dann die vorstehenden Deck- oder Grannenhaare ersetzt. Anders als bei den Hundsrobben läuft dieser Vorgang weitgehend kontinuierlich ab, so dass nie alle Haare auf einmal abgestoßen werden. Die unter der Haut gelegene Fettschicht ist bei Ohrenrobben meist dünner als bei Hundsrobben. Die Farbe der Tiere wird vor allem durch die Fellfarbe und die darunter liegende dunkle Haut bestimmt. Sie verändert sich über die Entwicklung zu den ausgewachsenen Tieren. Jungtiere sind durch ihr Geburtsfell in der Regel dunkelbraun bis schwarz gefärbt. Dieses Fell wird in den ersten Wochen nach und nach abgerieben und durch das normale Fell der Tiere ersetzt. Bei den heranwachsenden und den ausgewachsenen Tieren kann die Färbung schwarz, dunkel- und hell- bis sandbraun oder in sehr seltenen Fällen als Leuzismus auch cremeweiß sein; bei antarktischen Seebären kommt dies bei einem von etwa 1000 Tieren vor. Eine Zeichnung haben die Tiere nicht, mit zunehmendem Alter kommt es jedoch zu Unterschieden in der Färbung einzelner Körperbereiche, etwa im Bereich des Kopfes, der Kehle und des Bauches mit häufig Färbungen. Zudem werden bei ausgewachsenen Männchen häufig die Haarspitzen der Mähne grau. Auch Piebaldismus mit einzelnen weißen Flecken kommt in seltenen Fällen vor. Sinnesorgane Wie schon der deutsche Name der Familie verrät, verfügen alle Tiere über äußerlich sichtbare Ohren. Sie sind meist etwa fünf Zentimeter lang, von knorpeliger Konsistenz und laufen nach außen spitz zu. Die Spitze weist nach hinten und unten. Bei den Seebären sind die Ohrmuscheln etwas länger und abstehender als bei den Seelöwen und somit deutlicher sichtbar. Zudem sind sie bei Jungtieren besonders gut zu sehen. Ohrenrobben können zwar hören, sie lokalisieren aber die Quelle der Geräusche nicht. Die Nase und vor allem das Rhinarium ist fleischig und mit einer ledernen schwarzen Haut mit nur sehr wenigen Haaren bedeckt. Die Nasenlöcher befinden sich mittig oder leicht unterhalb der Mittellinie auf den Rhinarium und weisen meist leicht abwärts. Das Rhinarium selbst kann bei den verschiedenen Arten stumpf, zugespitzt, vergrößert oder sogar mit einer deutlichen Blasenartigen Verdickung besetzt sein. Im Bereich der Schnauze haben Ohrenrobben teilweise lange und meist weiche Fühl- oder Barthaare (Vibrissae), die bei einzelnen Arten sehr lang werden können. Die Vibrissae der Jungtiere sind schwarz, mit dem Alter werden sie heller und bei ausgewachsenen Tieren können sie fast weiß sein. Die Vibrissae stellen hochsensible Sinnesorgane dar, mit denen im Wasser geringe Veränderungen der Strömung, etwa durch fliehende Beutetiere, registriert werden. An Land könnten sie zudem eine unterstützende Funktion beim Hören haben. Im Gegensatz zu den Hundsrobben kommen oberhalb der Augenhöhle grundsätzlich keine Fühlhaare vor. Die Augen sind vergleichsweise klein und schwarz. Sie sind oval bis mandelförmig und mit einer Nickhaut ausgestattet. Wenn sich die Tiere an Land befinden, produzieren sie Tränenflüssigkeit, die die Umgebung der Augen benetzt und dadurch dunkel erscheinen lässt. Schädel- und Skelettmerkmale Schädel und Gebiss Der Schädel der Ohrenrobben ähnelt stark dem Bärenschädel. Wie dort ist jeweils der große Flügel des Flügelbeins (Os sphenoidale) von einem Kanal durchzogen, durch den die interne Kopfschlagader (Arteria carotis interna) verläuft, die das Gehirn versorgt. Auch der Warzenfortsatz (Processus mastoideus) des Schläfenbeins (Os temporale), an dem eine kräftige Muskulatur ansetzt, ist wie bei Bären deutlich ausgeprägt, aber von der verknöcherten Kapsel des Mittelohrs (Bulla tympanica) klar getrennt. Der Gelenkkopf für das obere Kopfgelenk (Articulatio atlanto-occipitalis), der Condylus occipitalis, ist weit nach oben versetzt. Die Augenhöhlen (Orbita) sind nur unvollständig voneinander getrennt; an ihrem hinteren und oberen Rand besitzt das Stirnbein (Os frontale) je zwei gut entwickelte Fortsätze, die als Processus postorbitalis und Processus supraorbitalis bezeichnet werden. Die beiden Unterkieferhälften sind bei Ohrenrobben nicht fest an der Symphyse (Symphysis mandibulae) verwachsen. Bei den erwachsenen Männchen ist der Schädel etwas anders proportioniert als bei den Weibchen und weist in vielen Fällen einen auffälligen Scheitelkamm auf, der als Ansatz für die kräftige Kiefermuskulatur dient und auch von außen sichtbar ist. Das Ohrenrobben-Gebiss verfügt auf jeder Seite über drei obere und zwei untere Schneidezähne; bis auf den äußersten oberen Schneidezahn sind sie alle zweihöckrig. Die ersten beiden oberen Schneidezähne sind vergleichsweise klein und zapfenförmig mit gut ausgeprägter Kerke, der dritte ist kräftiger und eckzahnartig mit rundem oder ovalem Querschnitt. Dahinter liegt je ein gut ausgebildeter Eckzahn, der vor allem bei den Männchen sehr kräftig ist. Die nachfolgenden Zähne sind kleiner und homodont, also gleichgeformt; sie können zapfenartig oder flach ausgebildet sein. Dabei handelt es sich um je vier obere und untere kegelförmige Vormahlzähne und im Unterkiefer pro Seite je ein Backenzahn, im Oberkiefer schwankt die Anzahl artabhängig zwischen eins und drei. Die Jungtiere werden mit einem Milchgebiss geboren, das in der Regel in den ersten Monaten ausgetauscht wird. Axialskelett Die Wirbelsäule zeigt deutliche Verstärkungen im Bereich der Halswirbelsäule und der etwa 15 Brustwirbel, die als Adaptation an die starken mechanischen Belastungen verstanden werden können, die von den zur Fortbewegung eingesetzten Vorderflossen ausgehen. Sie läuft in einem kurzen Schwanz aus. Das Brustbein (Sternum) der Ohrenrobben ist am Griff (Manubrium sterni) verknöchert. Das Becken ist so gebaut, dass die Hinterflossen zur Fortbewegung an Land unter den Körper gedreht werden können. Innere Organe, Weichteile und Genetik Bei den meisten Arten ist die rechte Lunge vergrößert. Die für die Wärmeregulation wichtigen arteriovenösen Anastomosen, Querverbindungen zwischen Arterien und Venen, die eine erhöhte Blutversorgung der äußeren Körperschichten und damit einen schnelleren Wärmeaustausch erlauben, existieren bei Ohrenrobben nur in den Flossen, die sie daher an Land gelegentlich mit Urin benetzen, um die Verdunstungskälte zur Abkühlung zu nutzen. Alle Ohrenrobben haben eine schlitzförmige Nabelnarbe Im Bereich des Abdomens und bei den Männchen bildet sich zudem eine Vorhaut zwischen der Nabelnarbe und dem Anus. Anders als bei den Hundsrobben befinden sich die Hoden der Männchen saisonal in einem externen lederartigen Hodensack (Scrotum); zur Paarungszeit erfolgt ein Hodenabstieg. Der Penis befindet sich innerhalb des Körpers und wird nur bei der Paarung oder bei starker Erregung ausgefahren, er besitzt einen Penisknochen zur Verstärkung. Der Vaginalschlitz der Weibchen befindet sich abdominal zwischen der Nabelnarbe und dem Rektum. Die Weibchen haben zudem zwei Paar Zitzen im Lendenbereich, davon jeweils ein Paar vor und eines hinter der Nabelnarbe. Sie sind flach und stehen nicht vor, in der Regel sind die Brustwarzen aufgrund der dunkleren Färbung erkennbar. Die Nieren der Ohrenrobben sind wie die anderer Robben und Meeressäugern in mehrere Einheiten, Reniculi, unterteilt, die unabhängig voneinander funktionieren. Durch diesen Aufbau sind sie in der Lage, hochkonzentrierten Urin zu produzieren und eine maximale Menge Wasser im Körper zu halten. Der Karyotyp des Taxons umfasst 2n = 36 Chromosomen. Verbreitung und Lebensraum Ohrenrobben sind in polaren, gemäßigten und subtropischen Meeren verbreitet; den größten Individuenreichtum erreichen sie jedoch in den subpolaren Meeren der Arktis und Antarktis. Sie sind dabei in der Regel gebunden an kalte und nahrungsreiche Meeresströmungen und nur einzelne Arten leben abseits von diesen. Arten der Ohrenrobben finden sich in arktischen Gewässern an der Nordküste Sibiriens und Nordamerikas, im Pazifischen Ozean an der Westküste Nord- und Südamerikas von Alaska bis Mexiko und von Nordperu bis Kap Hoorn sowie an der Ostküste Nordasiens von Japan bis Nordostrussland, bei der Südinsel Neuseelands sowie auf den Galápagosinseln. Im Atlantik kommen sie an der südamerikanischen Ostküste von Feuerland bis Südbrasilien sowie an der Süd- und Südwestküste Südafrikas und Namibias vor. Wichtige Kolonien im Indischen Ozean liegen an der Südküste Australiens. Dazu kommen zahlreiche isolierte Inseln in den Gewässern um Antarktika. Wie alle Robben verbringen Ohrenrobben eine große Zeit ihres Lebens in küstennahen Meeresgewässern und leben vor allem im Bereich der flachen Kontinentalschelfe, seltener findet man sie auch im Brackwasser der Mündungssysteme großer Flüsse oder gar im Süßwasser dieser Flüsse selbst. Paarung und Jungenaufzucht finden an Land, insbesondere auf Felseninseln sowie an isoliert gelegenen Stränden statt, wo es keine landlebenden Fressfeinde gibt. Eisbewohnende Arten sind, anders als bei den Hundsrobben, nicht bekannt und der Antarktische Seebär ist die einzige Art, die bis in die Polarregion der Antarktis vorstößt; Ohrenrobben bevorzugen auch allgemein etwas wärmere Wassertemperaturen. Im Äquatorialbereich kommen sie allerdings nur bei den Galápagosinseln vor, wo sie von dem subtropischen Nahrungsreichtum profitieren. Während das Verbreitungsgebiet einzelner Arten wie des Neuseeländischen Seebären, des Galapágos-Seebären und des Galapágos-Seelöwen auf vergleichsweise kleine Gebiete wie etwa einzelne Inselgruppen beschränkt ist, gibt es andere Arten mit einem sehr großen Verbreitungsgebiet, darunter vor allem der Subantarktische Seebär, der von den subantarktischen Gewässern aus in großen Teilen des Atlantischen, Pazifischen und Indischen vorkommt, oder der Nördliche Seebär in nördlichen Pazifik. Diese Arten entfernen sich zudem auch weiter vom Land und bleiben teilweise wochenlang in pelagischen Meereszonen zur Nahrungssuche. Lebensweise Die verschiedenen Ohrenrobben leben sowohl im Wasser wie auch an Land. Dabei sind Seelöwen häufiger an Land und kommen auch nach ausgedehnteren Schwimm- und Jagdphasen immer wieder dorthin zurück, während Seebären teilweise sehr lange Phasen in der Hochsee verbringen, ohne an Land zu gehen. Sie schlafen dabei an der Wasseroberfläche und lassen sich treiben, die Flossen strecken sie dabei in die Luft oder falten sie vor dem Bauch. Da Ohrenrobben wie alle Säugetiere gleichwarme Tiere sind und entsprechend sowohl an Land wie auch im Wasser ihre Körpertemperatur regulieren müssen, gibt es bei ihnen zahlreiche morphologische wie auch ethologische Anpassungen zur Thermoregulation. Zum einen besitzen vor allem die Seelöwen eine dicke Fett- bzw. Speckschicht als Isolationsschicht unter der Haut, bei den Seebären übernimmt das Fell diese Funktion. Sie haben zudem ein optimales Verhältnis von Körpergröße zu Oberfläche und folgen damit der Bergmannschen Regel: ein großer Körper hat durch das geringere Oberfläche-Volumen-Verhältnis einen geringeren Wärmeaustausch und mit zunehmender Körpergröße verringert sich in kalter Umgebung der Wärmeverlust. Hinzu kommen die gut durchbluteten Flossen, die eine Wärmeübertragung ermöglichen. Verhaltensweisen, die einer Auskühlung entgegenwirken, beinhalten vor allem die Kältevermeidung, indem die Tiere kältere Meeresgebiete meiden, das enge Beieinander- und Aufeinanderliegen am Strand und auch das Hinausstrecken der Flossen aus dem Wasser in Ruhephasen. Zugleich haben sie Verhaltensweise entwickelt, die an warmen Tagen vor Überhitzung schützt; in diesem Fall gehen sie in das kühle Wasser oder nutzen feuchte Liegeflächen, zudem urinieren sie zur Abkühlung auf ihre Flossen. Auch das Aufsuchen von schattigeren Plätzen oder Höhlen dient dem Schutz vor Überhitzung. An Land verbringen die Tiere die meiste Zeit damit, auszuruhen oder mit der Fellpflege, während sie vergleichsweise wenig Zeit darauf verwenden, mit Artgenossen zu interagieren. Alle Ohrenrobben sind allerdings sehr soziale Tiere und halten sich vor allem an Land häufig in Gruppen auf; zur Kommunikation haben sie ein großes Lautrepertoire entwickelt. Besonders auffällig ist dies in der Paarungszeit, in der sich die Tiere in großen Kolonien sammeln. Dies hängt nicht zuletzt mit der vergleichsweise geringen Zahl geeigneter Aufzuchtstätten für die Jungtiere zusammen, so dass sich die Robben an jenen Stätten, die zur Verfügung stehen, konzentrieren. Zumindest die Weibchen sind in vielen Fällen philopatrisch, kehren also immer wieder in ihre Geburtskolonie zurück. Die Fellpflege ist eine wichtige Verhaltensweise der Ohrenrobben. Die Tiere reinigen ihr Fell mit ihren an den Flossen befindlichen Fingern und Zehen und dem Kopf und den Zähnen. Dabei fetten sie das Fell zudem mit öligen Drüsensekreten ein, damit es wasserabweisend bleibt. Bei den Seebären, bei denen das Unterfell eine wichtige Funktion bei der Thermoregulation hat, wird mehr Zeit in die Fellpflege investiert als bei den Seelöwen. Fortbewegung Ohrenrobben nutzen zum Vortrieb im Wasser ausschließlich ihre kräftigen Vorderflossen, mit denen sie gleichsam rudern; die Hinterflossen werden dagegen beim Schwimmen passiv nach hinten ausgestreckt. Die auf diese Weise erreichten Geschwindigkeiten liegen bei bis zu 27 Kilometern pro Stunde, wobei sie im Vergleich zu den meisten Hundsrobben mit Ausnahme des Seeleoparden (Hydrurga leptonyx) auch bei diesen Geschwindigkeiten sehr wendig sind. Sie können beim Schwimmen ähnlich wie Delfine in hohen Bögen aus dem Wasser springen und können weite Strecken schwimmend zurücklegen. Sie sind auch in der Lage, lange zu tauchen, wobei sie in der Regel nicht so lange und so tief tauchen können wie verschiedene Arten der Hundsrobben. Die maximalen Tauchtiefen liegen bei den Ohrenrobben bei etwa 200 Metern, selten bis 450 Metern, und sie halten ihre Luft für maximal sieben oder acht Minuten an, im Vergleich dazu liegen bei den Hundsrobben die Tauchtiefen bei bis zu 1500 Metern und Tauchzeiten von bis zu 120 Minuten. Anders als Hundsrobben können sich Ohrenrobben auch an Land gut fortbewegen. In unebenem Gelände sind sie in der Lage, einem laufenden Menschen zu entkommen; dressierte Tiere können sogar Leitern hochklettern. Bei der Fortbewegung ruht das Hauptgewicht auf den seitlich ausgestreckten Vorderflossen, die am „Handgelenk“ um 90 Grad abgeknickt sind, so dass die der Hand entsprechenden Flossenteile flach auf dem Untergrund aufliegen. Selbiges gilt auch für die Hinterflossen, die an Land unter den Körper gebracht werden und so ausgerichtet sind, dass die Zehen nach vorne zeigen. Auf diese Weise können die Tiere ihr Gewicht anheben und an Land laufen und klettern. Ernährung Die meisten Ohrenrobbenarten sind Generalisten, ihr Nahrungsspektrum ist also je nach Angebot relativ breit gefächert und besteht in der Regel aus kleinen Schwarmfischen, Tintenfischen sowie diversen Krebstieren. Eine Ausnahme bilden die Antarktischen Seebären (Arctocephalus gazella), die sich neben Fischen fast ganz auf Krill spezialisiert haben. Einige Seelöwenarten haben dieses Spektrum um Seevögel wie Pinguine oder die Jungtiere anderer Robben erweitert und jagen unter anderen Jungtiere von Seebären, Ringelrobben (Pusa hispida) oder Seehunden (Phoca vitulina). Bei Stellerschen Seelöwen und Neuseeländischen Seelöwen wurde zudem über Infantizid und Kannibalismus bei Jungtieren der eigenen Art berichtet. Für Südafrikanische Seebären gehören Brillenpinguine (Spheniscus demersus) und Kaptölpel (Morus capensis) zum Beutespektrum, Antarktische Seebären jagen unter anderen Goldschopfpinguine (Eudyptes chrysolophus) und Eselspinguine (Pygoscelis papua) und auch andere Seebären und Seelöwen der südlichen Hemisphäre erbeuten Pinguine. Im Gegensatz zu den Hundsrobben tauchen Ohrenrobben und vor allem die Seelöwen meist nur in vergleichsweise flachen Gewässern, obwohl einige Arten vor allem der Seebären nachgewiesenermaßen Tiefen von mehr als 100 Metern im offenen Meer erreichen. Bei küstenlebenden Robben spielen benthische Kopffüßer wie Kraken und Tintenfische neben Krebsen eine wichtige Rolle im Nahrungsspektrum, pelagische Kalmare und auch die vor allen nachts aus der Tiefsee aufsteigenden Laternenfische (Myctophidae) sind vor allem für die Arten wichtig, die in der Hochsee jagen. Der Kalifornische Seelöwe jagt zudem in brackigen Ästuaren oder auch in Flüssen nach Fischen und anderen Beutetieren. Sie sind schnelle Schwimmer und jagen auch schnellschwimmenden Fischen und anderen Beutetieren hinterher. Sie jagen allein, auch wenn häufig mehrere Robben gemeinsam und nebeneinander in Fischschwärmen jagen. Gelegentlich werden Kalifornische Seelöwen beobachtet, die mit Schulen von Delfinen jagen. Die Beutetiere werden in der Regel unter Wasser gepackt und dann meistens im Ganzen geschluckt, nur größere Beutetiere werden an der Wasseroberfläche in mehrere Teile zerbissen. Den Wasserbedarf decken die Tiere über ihre Beutetiere und sie vermeiden es, bei der Nahrungsaufnahme zu viel Salzwasser zu schlucken. Vor allem Männchen setzen enorme Fettreserven an, die ihnen Reserven für lange Fastenzeiten während der Fortpflanzungszeit bieten. Weibchen setzen dagegen nur geringere Fettreserven an und verbrauchen diese schneller aufgrund der Laktation während der Säugezeiten ihrer Jungtiere, daher müssen sie in der Regel bereits wenige Wochen nach den Würfen wieder ins Meer zur Beutejagd. Zudem werden de Jungtiere teilweise recht lange gesäugt und bei Stellerschen Seelöwen gibt es Beobachtungen, bei denen Weibchen drei Jahrgänge von Jungtieren säugen. Fortpflanzung und Entwicklung Bei allen Ohrenrobben wachen die Männchen, Bullen genannt, in den Kolonien über einen Harem von Weibchen (Kühe). An den Paarungsstätten treffen stets zuerst die Bullen ein. Hier streiten sie um die Plätze, was oft in blutigen Kämpfen geschieht, die manchmal auch zum Tod einzelner Tiere führen. Schwächere Bullen werden dabei an unattraktive Plätze am Rand der Kolonie oder im Landesinneren gedrängt, während die stärksten Männchen die besten Plätze am Ufer ergattern. Wenn die Weibchen eintreffen, sind die Territorien festgelegt, die stärksten Bullen können nun über bis zu 80 Kühe wachen. Dennoch müssen sie ihr beanspruchtes Gebiet permanent aktiv verteidigen und Nachbarn durch Drohgebärden von der Ausdehnung ihres Territoriums abhalten; bei gelegentlichen Kämpfen werden regelmäßig Jungtiere zu Tode getrampelt. Da ein vorübergehendes Verlassen ihres Territoriums einer vollständigen Aufgabe gleichkäme, müssen die Männchen für bis zu zehn Wochen ganz auf Nahrung verzichten und leben in dieser Zeit von ihren Fettreserven. Dieser Faktor hat vermutlich wesentlich zu den deutlichen Unterschieden in Gewicht und Größe zwischen den Geschlechtern beigetragen. Wegen der extremen Anforderungen, welche die Eroberung und Verteidigung eines Territoriums mit sich bringt, sind die meisten Bullen allenfalls für zwei oder drei Jahre in der Lage, ihren Status zu wahren und werden danach von jüngeren Tieren verdrängt. Zunächst bringen die Kühe jedoch zwei bis drei Tage nach ihrer Ankunft die im Vorjahr gezeugten Jungen zur Welt. Ihre Tragzeit beträgt gewöhnlich etwa 11 bis 12 Monate, kann aber bei Australischen Seelöwen (Neophoca cinerea) bis zu 18 Monate andauern; fast immer wird nur ein Junges geboren. Es trägt bei seiner Geburt ein besonders dichtes Fell, das gegen Auskühlung schützt und als Lanugo bezeichnet wird. Erst nach zwei bis drei Monaten wird es durch das Erwachsenenfell ersetzt. Neugeborene sind sofort in der Lage zu schwimmen und können sich innerhalb einer halben Stunde auch an Land holprig fortbewegen. Etwa eine Woche später paaren sich die Kühe dann mit dem Bullen ihres Territoriums, dessen Aggression nun auf dem Höhepunkt ist. Kühe, die ein Territorium verlassen wollen, werden in dieser Zeit oft mit Gewalt daran gehindert. Erst nach der Paarung können sie die Kolonie verlassen und auf Nahrungssuche gehen. In regelmäßigen Abständen kehren sie an Land zurück, um ihren Nachwuchs zu versorgen. Über einen Zeitraum von vier bis sechs Monaten wird das Junge nun von seiner Mutter gesäugt. Die Kommunikation zwischen ihr und ihrem Kind findet vor allem durch Laute statt: Jedes Jungtier hat seinen eigenen charakteristischen Ruf, mit dem es auf Lautäußerungen der Mutter antwortet und den die Mutter aus dem Lärm einer größeren Gruppe von Tieren heraushören kann. Anhand des Geruchs wird die Identität des Nachwuchses bestätigt. Anders als bei den Hundsrobben wird die Mutter-Kind-Beziehung über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten. Manche Jungtiere erhalten sogar noch unregelmäßig Milch, nachdem ihre Mutter das nächste Junge geboren hat. Von Stellerschen Seelöwen (Eumetopias jubatus) ist sogar bekannt, dass Kühe gleichzeitig drei Jungtiere aus drei aufeinander folgenden Jahren säugen können. Das jüngste Tier ist in diesen Fällen aber immer in der schlechtesten Ausgangsposition und stirbt oft wegen Nahrungsmangels. Ohrenrobben können ein Alter von mehr als 20 Jahren erreichen. Systematik Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Ohrenrobben (Otariidae) als Familie erfolgte durch Gray im Jahr 1825. Er ordnete diese neben den von ihm bereits 1821 beschriebenen Hundsrobben (Phocidae) innerhalb der Robben (Pinnipedia) ein, 1880 wurde zudem durch Joel Asaph Allen das Walross einer eigenen Familie mit dem Namen Odobenidae innerhalb der Robben etabliert. Alle Robben wiederum werden den Hundeartigen Raubtieren (Caniformia) zugeordnet. Die Ohrenrobben bilden eine natürliche Verwandtschaftsgruppe (monophyletische Gruppe) und umfassen entsprechend alle Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahren. Historisch wurden diese Gattungen in zwei Unterfamilien eingeordnet, den Arctocephalinae mit den beiden als „Seebären“ bezeichneten Gattungen und den Otariinae mit den restlichen als „Seelöwen“ bezeichneten Gattungen. Unterschieden wurden sie dabei vor allem danach, ob sie ein dichtes Fell mit Unterwolle besitzen oder nicht. Die Familie wird in sieben Gattungen mit 15 rezenten Arten eingeteilt: Gattung Nördliche Seebären (Callorhinus) Nördlicher Seebär (Callorhinus ursinus) Gattung Südliche Seebären (Arctocephalus) Guadalupe-Seebär (Arctocephalus townsendi) Juan-Fernández-Seebär (Arctocephalus philippii) Galápagos-Seebär (Arctocephalus galapagoensis) Südamerikanischer Seebär (Arctocephalus australis) Subantarktischer Seebär (Arctocephalus tropicalis) Antarktischer Seebär (Arctocephalus gazella) Neuseeländischer Seebär (Arctocephalus forsteri) Südafrikanischer Seebär (Arctocephalus pusillus) Gattung Eumetopias Stellerscher Seelöwe (Eumetopias jubatus) Gattung Otaria Mähnenrobbe (Otaria flavescens) Gattung Zalophus Kalifornischer Seelöwe (Zalophus californianus) Galápagos-Seelöwe (Zalophus wollebaeki) Japanischer Seelöwe (Zalophus japonicus) † Gattung Neophoca Australischer Seelöwe (Neophoca cinerea) Gattung Phocarctos Neuseeländischer Seelöwe (Phocarctos hookeri) Der Japanische Seelöwe (Zalophus japonicus) gilt seit Mitte des 20. Jahrhunderts als ausgestorben, wurde jedoch bei Wilson & Reeder 2005 noch als rezente Art gelistet. Eine taxonomische Unterteilung in Seebären und Seelöwen gilt als veraltet, da sie nur auf dem Merkmal der Behaarung beruht, die bei Seebären sehr ausgeprägt und bei Seelöwen eher spärlich ist. 2009 wurde eine umfassende molekulargenetische Analyse zur Revision der Verwandtschaftsverhältnisse aller Ohrenrobben vorgenommen. Dabei wurde bestätigt, dass der Nördliche Seebär eine basale Art ist, die sich vor etwa 11 Millionen Jahren von der Hauptevolutionslinie der Ohrenrobben getrennt hat. Die meisten übrigen Arten diversifizierten sich vor 7 bis 4 Millionen voneinander. Das folgende Kladogramm zeigt die Ergebnisse der Studie: Für die sechs letzten Arten wurde vorgeschlagen „Arctophoca“ als neue Gattungsbezeichnung einzuführen. Diese Gattungsbezeichnung wurde bereits 1866 von W.C.H. Peters für die südlichen Seebärenarten vorgeschlagen. Bis 2015 wurde dieser Vorschlag allerdings nicht umgesetzt. Stammesgeschichte Der Ursprung der Robben ist noch nicht abschließend geklärt. Eine Hypothese ist die Annahme, dass sich Robben zweimal unabhängig voneinander innerhalb der Hundeartigen Raubtiere entwickelt haben. Demnach geht man davon aus, dass sich die Hundsrobben von marderartigen Raubtieren entwickelt haben, während die Ohrenrobben gemeinsame Vorfahren mit den Bären besitzen. Damit wären die Robben als Taxon nicht mehr monophyletisch, da sie Vertreter unterschiedlicher Entwicklungslinien umfassen. Demgegenüber steht die Annahme, dass es sich bei den Robben um eine einzelne, monophyletische, Verwandtschaftsgruppe mit einem gemeinsamen Vorfahren handelt. Dieser war wahrscheinlich ein basaler Vertreter der Arctoidea, zu denen neben den Robben dann auch die Bären und die Marderverwandten gehören. Diese Hypothese wird aktuell präferiert und durch genetische und molekularbiologische Untersuchungen gestützt. Als älteste Vertreter der Robben werden die fünf Arten der Gattung Enaliarctos sowie Pteronarctos betrachtet, die den heutigen Robben in ihren wesentlichen Merkmalen weitgehend entsprechen und bereits vollständig zu Flossen umgewandelte Vorder- und Hinterflossen besitzen. Die Schwestergruppe der Ohrenrobben sind vermutlich die Walrosse (Odobenidae), mit denen sie im Taxon Otarioidea vereinigt sind. Innerhalb der Robben gelten die Ohrenrobben als ursprünglichste Formen, die ältesten bekannten Fossilien beider Robbengruppen sind allerdings ungefähr gleich alt. Die ältesten Vertreter der Ohrenrobben stammen aus dem späten Oligozän und dem früher Miozän vor etwa 15 bis 19 Millionen Jahren mit Vertretern, die anhand der Flossenanatomie klar als Ohrenrobben erkennbar sind. Eotaria crypta lebte vor etwa 15 bis 17 Millionen Jahren im mittleren Miozän, Pithanotaria existierte vor etwa 12 bis 13 Millionen Jahren und war mit einer Länge von kaum eineinhalb Metern etwa so groß wie ein Galápagos-Seebär. Aus dem späten Miozän ist Thalassoleon bekannt und war bereits deutlich größer, die Tiere zeigen bereits den typischen Geschlechtsdimorphismus der Gruppe. Alle Arten kamen im Nordpazifik vor der Küste Nordamerikas vor, vor allem an der Küste Kaliforniens, wo sich die Ohrenrobben wahrscheinlich entwickelt haben, und nutzten vermutlich das große Nahrungsangebot der ausgedehnten küstennahen Tangwälder. Angehörige der Seebärengattungen Callorhinus und Arctocephalus sowie der Seelöwengattung Zalophus tauchten erstmals im unteren Pliozän auf. Alle anderen heute lebenden Gattungen sind fossil erst seit dem Pleistozän vor maximal 2,5 Millionen Jahren belegt und entwickelten sich wahrscheinlich aus Arctocephalus-ähnlichen Vorgängern. Die polygyne Fortpflanzungsweise, bei der ein Männchen sich mit mehreren Weibchen paart, entwickelte sich vermutlich aufgrund der amphibischen Lebensweise: Weil die Weibchen darauf angewiesen sind, ihren Nachwuchs an Land zur Welt zu bringen, sammeln sie sich wegen des oft eingeschränkten Platzes und der Notwendigkeit, in der Nähe des Ufers zu bleiben, auf engstem Raum. Dort können sie dann von den aggressivsten und größten Männchen monopolisiert werden. Aus diesem Grund und wegen der notwendigen Nahrungsreserven war ein großes „Kampfgewicht“ für den evolutionären Erfolg eines Männchens zentral. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede lassen sich daher sehr wahrscheinlich durch sexuelle Selektion erklären. Obwohl die Ausbreitungsgeschichte der Ohrenrobben wohl nie bis in alle Einzelheiten aufgeklärt werden wird, lassen sich die groben Züge heute mit einiger Wahrscheinlichkeit erkennen: Demnach liegt der Ursprung der modernen Ohrenrobben mit den Gattungen Otaria, Zalophus und Eumetopias wie der Robben insgesamt an der amerikanischen Nordpazifikküste. Von dort erweiterte sich ihr Verbreitungsgebiet zunächst nach Norden und Westen, bis sie schließlich auf beiden Seiten des Nordpazifiks zu finden waren. Erst als einige Millionen Jahre später die Landverbindung zwischen Nord- und Südamerika entstand, breiteten sich die Tiere entlang der Westküste Südamerikas nach Süden aus, wo sich die verschiedenen Gattungen der südlichen Hemisphäre ausbildeten. Von dort gelangten sie um das Kap Hoorn herum in den Südatlantik, indem sie der Ostküste Amerikas nach Norden folgten, bis tropische Gewässer anscheinend ihre weitere Ausbreitung verhinderten. Dem antarktischen Zirkumpolarstrom folgend gelangten andere Populationen wohl nach Südafrika und zu vereinzelten Inseln im südlichen Indischen Ozean. Der von Arten der südlichen Hemisphäre abstammende Guadalupe-Seebär (Arctocephalus townsendi) gelangte parallel zurück in den Nordpazifik in sein heutiges Verbreitungsgebiet. Dieser ersten Radiation folgte vermutlich eine zweite von seelöwenartigen Ohrenrobben, die wiederum ihren Ausgangspunkt im Nordpazifik nahm. Nach kurzer Zeit überschritten einige Populationen den Äquator und breiteten sich ebenso wie ihre seebärenähnlichen Vorgänger um die Südspitze Amerikas herum bis in den Atlantik aus. Die Besiedelung Neuseelands und Australiens erfolgte vermutlich von Südamerika aus. Gefährdung und Schutz Während Seelöwen und Seebären wohl über die gesamte Geschichte der Menschheit hinweg gejagt wurden, bedroht dies erst seit den letzten Jahrhunderten ganze Populationen. Die Verfolgung des Südamerikanischen Seebären begann zwar schon im 16. Jahrhundert, doch die systematische Eliminierung ganzer Kolonien erstreckte sich zumeist auf die folgenden Jahrhunderte. Von 1786 bis 1867 wurden etwa auf den Pribilof Islands im Beringmeer geschätzte 2,5 Millionen Nördliche Seebären getötet, während die Antarktischen Seebären bis Ende des 19. Jahrhunderts beinahe ausgerottet wurden. Zwei Arten, der Guadalupe-Seebär und der Juan-Fernández-Seebär wurden sogar lange als ausgestorben angesehen, bis sie 1954 beziehungsweise 1965 wiederentdeckt wurden. Erst gegen Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführte Schutzmaßnahmen besserten die Situation. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts geht die Gefährdung weniger von den noch erlaubten Jagden aus, die etwa auf den Aleuten noch in begrenztem Ausmaß gestattet sind. Vielmehr sind die Tiere am meisten von Meeresverschmutzung und Fischerei bedroht. Besonders in den Fettschichten der Tiere reichern sich Spurenelemente wie Kupfer und Selen oder organische Verbindungen wie Butylzinn, Polychlorierte Biphenyle (PCB) und Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) an. Während die Belastung bei Männchen altersabhängig ist, sinkt sie bei säugenden Weibchen, was vermuten lässt, dass die entsprechenden Substanzen in der Muttermilch an die Jungtiere weitergegeben werden. Da zahlreiche Arten mit weit verstreuten Lebensräumen vor Japan, Kalifornien, Alaska oder Sibirien betroffen sind, handelt es sich nicht um ein lokales Problem. Die industriell organisierte Fischerei hat zahlreiche Fischbestände in einem so rapiden Tempo dezimiert, dass es auch für Robben schwierig ist, noch genug Nahrung zu finden. Für Populationen des Stellerschen Seelöwen in Alaska liegt etwa der Grund für den nachweislichen Rückgang der Individuenzahl mit großer Wahrscheinlichkeit darin, dass viele Jungtiere schlicht verhungern. Ein zweiter Einfluss ist der Fischfang in der Nähe von Robbenkolonien, der oft dazu führt, dass sich die Tiere in den Netzen verheddern und als Beifang verenden. Zumindest dieses Problem wird allerdings zunehmend durch geeignete Fangvorrichtungen und -praktiken verringert. Die gegenwärtige Gefährdungssituation lässt sich der Roten Liste der International Union for Conservation of Nature (IUCN), der Weltnaturschutzorganisation, entnehmen: drei Arten, der Australische Seelöwe (Neophoca cinerea), der Galápagos-Seebär (Arctocephalos galapagoensis) und der Galápagos-Seelöwe (Zalophus wollebaeki) gelten demnach als stark gefährdet (Endangered); zwei Arten sind als gefährdet (Vulnerable) gelistet, dies sind der Nördliche Seebär (Callorhinus ursinus) und der Neuseeländische Seelöwe (Phocarctos hookeri); zwei weitere Arten werden als gering gefährdet (Near Threatened) angesehen, das sind der Juan-Fernández-Seebär (Arctocephalos phillippi) und der Stellersche Seelöwe (Eumetopias jubatus). Darüber hinaus stehen acht Arten in diesen Roten Listen, die derzeit mit nicht gefährdet (Least Concern) beurteilt werden. Der Japanische Seelöwe (Zalophus japonicus) gilt als ausgestorben (Extinct). Belege Literatur M.A. Webber: Family Otariidae. In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier: Handbook of the Mammals of the World. 4. Sea Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2014; S. 34–87. ISBN 978-84-96553-93-4. Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. 6th Edition. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals. Above the Species Level. Columbia University Press, New York 2000, ISBN 0-231-11013-8 Weblinks Robben
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https://de.wikipedia.org/wiki/Panzerkampfwagen%20VI%20Tiger
Panzerkampfwagen VI Tiger
Der Panzerkampfwagen VI Tiger war ein schwerer deutscher Panzer, der vom Alleinhersteller Henschel in Kassel von 1942 bis 1944 gefertigt und von der Wehrmacht ab Spätsommer 1942 eingesetzt wurde. Aufgrund seiner starken Hauptwaffe und des hohen Panzerschutzes war der Tiger einer der kampfstärksten Panzer des Zweiten Weltkrieges. Als schwerwiegende Nachteile galten neben der konventionellen Form – ohne geneigte Panzerung – die aufwendige Herstellung, die geringe Fahrreichweite sowie die schwere Bergungsfähigkeit aufgrund seiner enormen Masse. Infolgedessen gingen mehr Fahrzeuge durch Aufgabe bzw. Selbstzerstörung verloren als bei anderen Panzermodellen. Die oft kritisierte kompliziertere Technik führte zwar zu einem höheren Instandsetzungsbedarf, jedoch lag die Bereitschaftsquote des Tigers mit 65 bis 70 Prozent auf dem Niveau des Panzerkampfwagen IV und der des Panzerkampfwagen V Panther. Obwohl die strategische Bedeutung des Tigers aufgrund der niedrigen Produktionszahl von nur 1350 Exemplaren gering war, ist er einer der bekanntesten Panzer des Krieges. Stand 2023 existieren noch sechs Tiger-1-Panzer. Entwicklungsgeschichte Vorstufen Obwohl der eigentliche Konstruktionsauftrag für den Tiger erst im Frühjahr 1941 vergeben wurde, lässt sich die Entwicklungsgeschichte bis ins Jahr 1937 zurückverfolgen. Damals bekam das Kasseler Unternehmen Henschel vom Heereswaffenamt den Auftrag, einen Infanterie-Unterstützungspanzer in der 30-t-Klasse als Nachfolger für den Panzerkampfwagen IV zu entwickeln. Der als Durchbruchwagen „DW 1“ bezeichnete Prototyp sollte als Hauptwaffe die auch im Panzer IV verwendete 7,5-cm-KwK 40 Kampfwagenkanone besitzen. Nach dem Bau eines Fahrgestelles wurden die Versuche 1938 eingestellt, da ein neuer Auftrag für den nur minimal veränderten Nachfolger „DW 2“ vorlag, von dem Henschel ebenfalls nur ein Fahrgestell produzierte. In der Zwischenzeit beschäftigte sich Henschel auch mit einem 65 t schweren Nachfolger des Neubaufahrzeuges in Form des „VK 65.01“, der – wie der spätere Tiger – eine Frontpanzerung von 100 mm und eine Seitenpanzerung von 80 mm besaß und dessen Bewaffnung ebenfalls aus der kurzen 7,5-cm-Kanone bestand. Nachdem das Heereswaffenamt neue Grundanforderungen festgelegt hatte, reichte Henschel – neben MAN, Daimler-Benz und Porsche – einen überarbeiteten Vorschlag des DW 2 unter der Bezeichnung „VK 30.01 (H)“ ein (VK für Vollketten-Kraftfahrzeug). Von den drei gebauten Fahrgestellen wurde eines bis Kriegsende betriebsinternen Versuchen unterzogen, während die anderen zwei als Chassis für die Panzerselbstfahrlafette für 12,8-cm-Kanone 40 dienten. Gleichzeitig entstand bei Henschel der „VK 36.01 (H)“, der aufgrund einer Forderung Hitlers nach höherer Panzerung und stärkerer Bewaffnung entwickelt wurde und als direkter Vorläufer des Tigers gilt. Ein auffälliger Unterschied war das nicht über das Laufwerk hängende Panzerkastenoberteil. Bei einer Frontpanzerung von 100 mm und einer Seitenpanzerung von 60 mm betrug das Gewicht knapp 40 Tonnen. Die Hauptwaffe sollte aus einer 7,5-cm-Kanone mit konischem Rohr bestehen. Die vier hergestellten Fahrgestelle dienten später als Schleppfahrzeuge. Prototypen Nachdem der Mangel an Wolfram die Verwendung der konischen Waffe ausschloss und die kurze Kanone des Panzer IV in den ersten Gefechten nur unbefriedigende Durchschlagsleistungen aufwies, erteilte das Heereswaffenamt (HWA) am 26. Mai 1941 mit dem „VK 45.01“ den endgültigen Entwicklungsauftrag an Henschel und Porsche für den späteren Tiger. Der Kampfwagen in der 45-t-Klasse sollte stärker als bisher gepanzert sein und die als Acht-Acht bekannte Flugabwehrkanone als Hauptwaffe besitzen. Da die Vorführung des Prototyps am Geburtstag Hitlers am 20. April 1942 stattfinden sollte, griffen beide Unternehmen angesichts der knappen Zeit auf Bauteile ihrer vorangegangenen Entwicklungen zurück. Infolge des erhöhten Bedarfs solcher Kampfwagen kurz nach Beginn des Russlandfeldzuges bestellte die Wehrmacht schon im Sommer 1941 die Fahrzeuge vom Reißbrett weg und vergab Bauaufträge für 90 Panzer von Porsche und 60 von Henschel. Einen unkonventionellen Entwurf stellte der von Professor Ferdinand Porsche konstruierte und auch Porsche-Tiger genannte VK 45.01 (P) mit seinem benzinelektrischen Antrieb dar, bei dem zwei jeweils 320 PS starke Zehnzylindermotoren zwei Generatoren antrieben, mit deren Strom die zwei an den hinteren Antriebsrädern angeflanschten Elektromotoren gespeist wurden. Große Nachteile waren der hohe Bodendruck des Fahrzeuges, die geringe Reichweite im Gelände von nur 50 km und technische Schwierigkeiten mit den luftgekühlten Motoren. Da beim VK 36.01 von Henschel nach dem Wegfall der konischen Kanone der Turmdrehkranz für den jetzt einzusetzenden – und ursprünglich für den Porsche-Tiger konstruierten – Krupp-Turm mit seiner 8,8-cm-Kanone zu klein war, musste das Chassis vergrößert werden. Da zusätzlich eine Verstärkung der Panzerung erfolgte, überschritt die Gesamtmasse des Kampfwagens die vorgegebene Gewichtsgrenze um 12 Tonnen. Daneben projektierte Henschel noch eine weitere Ausführung mit einem Turm von Rheinmetall-Borsig, der fast baugleich mit dem Turm des Panthers war und auch dessen überlange 7,5-cm-Kanone besitzen sollte. Nach dem Bau eines Holzmodells wurde dieser Plan zu den Akten gelegt. Die Erprobung der Prototypen erfolgte bei der Versuchsstelle für Kraftfahrt (Verskraft) in Kummersdorf und auf dem Truppenübungsplatz Senne bei der Henschel Panzerversuchsstation 96 in Haustenbeck. Bei Letzterer fanden neben Fahr- und Schießerprobungen auf dem Truppenübungsplatz auch die Prüfungen für gasdichte Panzerfahrzeuge in Sondergebäuden sowie Dichtigkeitsprüfungen in Tauchdurchfahrtsbecken statt. Prototypen-Vorführung Nur unter größten Anstrengungen konnten der Henschel- und der im Nibelungenwerk hergestellte Porsche-Prototyp zum angegebenen Termin fertiggestellt werden. Ohne jegliche Tests hatten beide Fahrzeuge insgesamt erst wenige Meter zurückgelegt. Da der Henschel-Panzer über das Lademaß des Eisenbahnwaggons herausragte, musste die Strecke von Kassel bis zum Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen für den Gegenverkehr gesperrt werden. Angesichts der persönlichen Freundschaft zwischen Porsche und Hitler widmete dieser von vornherein dem Porsche-Prototyp die volle Aufmerksamkeit, während er dem Prototyp von Henschel fast gar keine Beachtung schenkte. Bei den anschließenden Versuchsfahrten fiel der Porsche-Tiger schon auf der Straße aus, während das Henschel-Fahrzeug trotz kleiner technischer Defekte auch leichte Geländefahrten absolvieren konnte. Produktionsentscheidung Trotz schwerer Bedenken bezüglich des ungewöhnlichen und noch nicht ausgereiften Antriebes des Porsche-Tigers bestand Hitler auf der Weiterführung beider Projekte. Im Sommer 1942 erfolgten umfangreiche Testfahrten bei der Versuchsstelle für Kraftfahrt, bei denen der Henschel-Tiger bis Ende Juli knapp 1000 km zurücklegte. Das Fahrzeug galt aber aufgrund zahlreicher Kinderkrankheiten noch nicht als frontreif. Aufgrund andauernder Motorprobleme verzögerte sich die Ankunft des Porsche-Tigers, der in der folgenden Versuchsfahrt in schwerem Gelände vollständig versagte. Daraufhin wurden Porsche weitere drei Monate für eine Überarbeitung zugestanden. Welche Rolle der Porsche-Tiger in den Überlegungen Hitlers spielte, zeigte nicht nur seine Anordnung, die Fertigung mit allen Mitteln zu beschleunigen und auf eine sonst übliche Erprobung nach Möglichkeit zu verzichten, sondern auch seine Forderung vom September, in der die noch gar nicht vorhandenen Fahrzeuge schnellstens auf den nordafrikanischen Kriegsschauplatz verlegt werden sollten. Im Oktober richtete Rüstungsminister Albert Speer eine Tiger-Kommission ein, die sich auf das endgültige Produktionsmodell festlegen sollte und nach einer nochmaligen Begutachtung beider Ausführungen Ende Oktober 1942 den Henschel-Tiger zur Serienherstellung bestimmte. Die bis dahin hergestellten Porschewannen wurden später zum Jagdpanzer Ferdinand umgebaut. Serienproduktion Im August 1942 lief die Produktion bei Henschel in Kassel-Mittelfeld an, nachdem das dortige Werk III umfangreich ausgebaut worden war. In der Panzerfertigung arbeiteten 8000 Beschäftigte in 12-Stunden-Schichten, wobei die Nachtschicht ein bedeutend geringeres Arbeitspensum als die Tagschicht erreichte. Aufgrund einer Anweisung von 1943 war bei der Tigerfertigung eine Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte ohne Genehmigung ausdrücklich untersagt. Die Fertigungsstraße bestand aus neun Takten mit jeweils sechs Stunden Bearbeitungsdauer. Die Herstellungsdauer eines Fahrzeuges belief sich auf etwa 14 Tage. Ein Großteil der Komponenten wurde fertigmontiert angeliefert, wobei folgende Unternehmen die wichtigsten Hauptlieferanten waren: Wanne: Krupp (Essen), Dortmund-Hörder Hüttenverein (Dortmund) und Škoda (Königgrätz) Turm: Wegmann (Kassel; Entwicklung von Krupp) Motor: Maybach (Friedrichshafen) und Lizenzfertigung durch die Auto Union (Chemnitz) Getriebe: Maybach Elektrik: Bosch (Stuttgart) Hauptwaffe: Buckau-Wolf (Magdeburg) und Dortmund-Hörder Hüttenverein (Entwicklung von Krupp) Wie die meisten deutschen Panzer wurde der Tiger in qualitativ hochwertiger Arbeit fabriziert, so dass in Kombination mit seiner komplizierten Konstruktion eine rationelle Massenfertigung nicht möglich war. Zudem war der Anteil der spanenden Bearbeitung bei der Wannen- und Turmherstellung sehr hoch und stellte hohe Anforderungen an die Fertigungstechnik. Um eine stabile Waffenplattform zu schaffen, wurden die Panzerplatten so groß wie möglich gehalten, so dass unter anderem die Bodenwanne und der Turm – mit Ausnahme der Front – aus einem einzigen Stück bestanden. Um Brüchen oder Rissen durch Beschuss vorzubeugen, wurden die Panzerplatten nur leicht oberflächengehärtet, so dass beispielsweise die Frontplatten einen Härtegrad von 265 Brinell aufwiesen, halb soviel wie beim Panzer IV. Trotzdem handelte es sich um eine sehr harte Panzerung, die keine Anzeichen von Sprödigkeit aufwies. Nach der Montage wurden die Panzer ohne Turm auf einer Teststrecke rund 100 km eingefahren, wobei Flaschengas als Treibstoff verwendet wurde, um Benzin zu sparen. Danach wurde der Turm aufgesetzt, das Fahrzeug komplett ausgerüstet und offiziell übergeben. Die Kosten für einen Tiger beliefen sich – ohne Waffen, Optik und Funk – auf 250.800 Reichsmark; voll ausgerüstet betrug der in Rechnung gestellte Preis 300.000 RM. In der Dienstvorschrift D 656/27 (Tigerfibel) wurde der Preis mit 800.000 Reichsmark beziffert. Bei allen anfangs ausgelieferten Fahrzeugen traten massive Probleme mit dem halbautomatischen Schaltgetriebe auf, so dass der Tiger zu diesem Zeitpunkt als nicht betriebssicher angesehen wurde. Neben andauernden Defekten wie Motorbränden, Lecks im Kühlwasserkreislauf und Kurzschlüssen traten zusätzlich Ölverluste am Motor von bis zu 15 l auf 100 km auf, was als gerade noch tragbar hingenommen wurde. Erst gegen Ende 1942 konnten die gröbsten Schwierigkeiten gelöst werden, wohingegen eine Zunahme von Montagefehlern infolge der erhöhten Belastung der Fabrikarbeiter festzustellen war. Insgesamt produzierte Henschel 1350 Exemplare: Spätestens im September 1943 hatten die Alliierten Informationen über die Produktion des Tigerpanzers. Die Widerstandsgruppe rund um Kaplan Heinrich Maier ließ dem amerikanischen Office of Strategic Services entsprechende Dokumente zukommen. Mit den Lageskizzen der Fabrikanlagen wurden den alliierten Bombern genaue Luftschläge ermöglicht. Bei den Luftangriffen auf Kassel im Oktober 1943 wurde das Werk getroffen, was zu einem Produktionsrückgang führte. Im August 1944 wurde die Herstellung des Tigers endgültig eingestellt. Parallel dazu lief die schon Anfang 1944 gestartete Produktion des auch „Königstiger“ bezeichneten Nachfolgers Tiger II sowie für einige Monate 1943 der Lizenzbau des Panthers. Technische Beschreibung Die Bezeichnung des Panzers lautete „Panzerkampfwagen VI Tiger Ausführung E.“ Im Gegensatz zu den vorangegangenen deutschen Panzern existierte vom Tiger nur diese eine Ausführung, auch wenn es im Verlauf der Produktion zu einigen Änderungen kam. Ab Februar 1944 hieß das Fahrzeug aufgrund einer Führeranweisung nur noch „Panzerkampfwagen Tiger Ausführung E“. Um Verwechslungen mit dem Tiger II genannten Nachfolger zu vermeiden ist auch die Bezeichnung Tiger I anzutreffen. Turm und Bewaffnung Der Panzerkampfwagen Tiger bestand aus der Wanne und dem darauf aufgesetzten Drehturm. Dieser bestand, abgesehen von der Front, aus einem einzigen Stück Panzerstahl, das hufeisenförmig gebogen war. Vorne befand sich die über die gesamte Breite gehende Blende mit der Haupt- und Nebenbewaffnung. Am Heck war ein Gepäckkasten für die Utensilien der Besatzung montiert, rechts daneben war eine runde Notausstiegsluke in der Turmwand vorhanden. Auf dem Turmdach befanden sich der Lukendeckel für den Ladeschützen und die Kommandantenkuppel, die anfangs überhöht fünf mit Panzerglasbausteinen geschützte Sehschlitze besaß. Später wurde auf Grund von Erfahrungen an der Ostfront, wo sowjetische Panzerabwehr wiederholt die Kuppel durchschlagen hatte, die vom Panther bekannte Kuppel mit sechs Winkelspiegeln übernommen. Das sollte die Sicherheit des nunmehr tiefer im Turmschacht befindlichen Panzerkommandanten gewährleisten. Der Turmboden war mit drei Tragarmen am Turmring aufgehängt, so dass die Turmbesatzung mitgeschwenkt wurde. Der Ladeschütze hatte seinen Platz rechts neben der fast durch den gesamten Innenraum ragenden Kanone, während der Richtschütze und der Kommandant links hintereinander saßen. Der Turm wurde mit einem Hydraulikgetriebe geschwenkt, das mit einem Nebenabtrieb der unter dem Kampfraum verlaufenden Hauptantriebswelle verbunden war. Eine 360°-Drehung dauerte eine Minute. Die seitliche Feinjustierung und das Richten in der Höhe erfolgte mit einem Handrad. Bei ausgeschaltetem Motor musste der Turm manuell gedreht werden, wobei der Kommandant mit einem weiteren Handrad Unterstützung leisten konnte. Als Zieloptik stand das binokulare Turmzielfernrohr TZF 9b zur Verfügung, das eine 2,5fache Vergrößerung hatte. Ab April 1944 wurde das monokulare TZF 9c mit zusätzlich wählbarer fünffacher Vergrößerung eingebaut. Neben der Primärwaffe bediente der Richtschütze mit einem Pedal auch das achsparallel angeordnete Maschinengewehr MG 34. Bei der Hauptwaffe, der Kampfwagenkanone 8,8-cm-KwK 36, handelte es sich um eine modifizierte Ausführung der bekannten und auch schon bei der Panzerabwehr erfolgreich verwendeten 8,8-cm-Flak, welche von Schlagzündung auf elektrische Zündung umgestellt und mit einer Mündungsbremse versehen wurde. Sie besaß neben einer guten Durchschlagsleistung eine hohe Schussgenauigkeit, so dass zusammen mit der hochpräzisen Zieloptik die Treffgenauigkeit beim praktischen Schießen mit dem ersten Schuss auf 1000 m bei 93 Prozent lag. Für das Geschütz gab es 92 Schuss Munition, von denen 64 Schuss in den Seitenkästen der überhängenden Wanne und der Rest an den Seiten des Kampfraumes verstaut waren. Üblicherweise bestand der Kampfsatz je zur Hälfte aus panzerbrechenden Granaten und aus Sprenggeschossen. Fahrer- und Funkerstand Vorne in der Wanne saßen links der Fahrer und rechts der Funker, zwischen ihnen befand sich das Schaltgetriebe. Beiden Besatzungsmitgliedern stand eine eigene Einstiegsluke zur Verfügung. Zur Sicht nach vorne hatte der Fahrer einen Sehschlitz mit einem schützenden Panzerglasbaustein, der mit einem vertikal verschiebbaren Panzerriegel abgedeckt werden konnte. In diesem Fall schaute er durch einen im Lukendeckel befindlichen Winkelspiegel. Rechts auf dem Getriebe befand sich sein Armaturenbrett, links von ihm ein Kurskreisel. Der Funker bediente neben dem Funkgerät auch das hinter einer Kugelblende sitzende Bug-MG, das er mittels einer Kopfstütze ausrichtete. Die Funkausstattung befand sich links neben ihm auf dem Getriebe. Antrieb und Laufwerk Der von Maybach-Motorenbau entworfene wassergekühlte Zwölfzylinder-V-Motor mit einer Leistung von 700 PS und 23 Litern Hubraum war im Heck mittig in Längsrichtung eingebaut. Dieser auch im Panther verwendete, 13.000 Reichsmark teure und 1,3 t schwere Ottomotor löste die in den ersten 250 Fahrzeugen eingebaute 650 PS starke Maschine mit 21 Litern Hubraum ab. Bei tiefen Temperaturen bestand die Möglichkeit, durch eine kleine Öffnung das Kühlwasser mit einer Lötlampe vorzuwärmen. Im Motorraum war eine automatische Halon-Feuerlöschanlage installiert. Auf beiden Seiten des Motors befanden sich Tanks, dahinter die Kühler mit den Lüftern. Letztere wurden von einem komplizierten System aus 19 Zahnrädern angetrieben. Vom Triebwerk ging der Kraftfluss über eine abgedeckt in der Wanne unterhalb des Kampfraumes verlaufende Kardanwelle über das Abzweiggetriebe des mechanischen Turmantriebs weiter zu der Ölbad-Scheibenkupplung an dem zusammengeflanschten Schalt- und Lenkgetriebe. Von dort ging es über an der Wanne angeflanschte Seitenvorgelege zu den vorneliegenden Kettenantriebsrädern. Zum Ausbau des zusammengeflanschten Schalt- und Lenkgetriebes musste der Turm, meistens mit einem Strabokran, abgehoben werden. Das Schaltgetriebe vom Typ Maybach-Olvar (Öl-Variorex) war ein halbautomatisches Vorwählgetriebe mit acht Vorwärts- und vier Rückwärtsgängen, das nach dem Wählen des Ganges selbsttätig den Kupplungs- und Schaltvorgang hydraulisch durchführte. Bei Ausfall der Automatik war eine Notschaltung per Hand möglich. Erstmals bei einem deutschen Panzer erfolgte die Steuerung durch ein Lenkrad. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Panzern I bis IV mit ihren von Lenkhebeln gesteuerten Kupplungs-Lenkgetrieben kam ein öldruckbetätigtes Zweiradien-Überlagerungslenkgetriebe von Henschel zum Einbau, das je nach Lenkradeinschlag die Ketten verzögerte, sodass in jedem Gang eine Kurvenfahrt in zwei bestimmten Radien möglich war. Ein Wenden auf der Stelle war ebenso möglich. Bei einem Lenkgetriebedefekt konnte der Fahrer das Fahrzeug mit zwei auf die normale Bremse wirkenden Behelfslenkhebeln steuern. Diese Betriebsbremse war – weltweit erstmals für ein serienmäßig hergestelltes Kraftfahrzeug – mit Scheibenbremsen von Argus versehen, deren Betätigung mechanisch per Pedal erfolgte. Das hohe Gefechtsgewicht von 57 t machte viele Brücken für den Tiger unpassierbar, weswegen das Fahrzeug anfangs eine Tauchfähigkeit bis 4½ m besaß. Aus diesem Grund waren alle Luken und sonstige Öffnungen mit Gummidichtungen wasserdicht verschließbar. Über dem Motor wurde ein 3 m langer Schnorchelturm für die Zuführung von Verbrennungsluft angebracht; die Abgase wurden ins Wasser geleitet. In Versuchen konnte eine Einsatzzeit von bis zu 2½ Stunden unter Wasser erlangt werden. Nach 495 produzierten Fahrzeugen wurde dieses komplizierte System nicht mehr eingebaut. Da der Tiger ein höheres Gewicht als anfangs geplant hatte, mussten die Ketten verbreitert und zusätzliche Laufrollen an der Außenseite des Laufwerkes angebracht werden. Da die mit Buna-Kautschuk bandagierten Laufrollen nur eine geringe Lebensdauer hatten, kamen nach etwa 800 gebauten Fahrzeugen im Februar 1944 neue, mit innenliegendem Gummiring gefederte, stählerne Laufrollen zum Einsatz, die zwar geräuschintensiver, aber dafür langlebiger waren und in der Herstellung weniger Kautschuk benötigten. Zugleich entfiel mit diesem System die äußere Reihe der Laufrollen, womit ein Wechsel der Laufrollen für den Bahntransport nicht mehr nötig war. Alle drei Laufrollen einer Achse waren an einem Schwingarm mit Drehstabfeder aufgehängt. Das erstmals in einem Panzerkampfwagen zum Einsatz kommende Schachtellaufwerk sorgte für einen guten Federungskomfort, hatte aber im Winter die negative Eigenschaft, dass zwischen den Laufrollen festgesetzter Matsch über Nacht festfrieren und den Panzer bewegungsunfähig machen konnte. Der erste Prototyp besaß zum Schutz des Laufwerkes noch ein kompliziertes System mit hydraulisch absenkbaren Seitenschürzen, das nach der ersten Vorführung sofort verworfen wurde. Da die ursprüngliche Kette von 52 cm auf 72 cm verbreitert werden musste, ragte der Panzer über das Lademaß der Eisenbahnwaggons. Henschel schlug als Lösung den Einbau von zwei Ketten nebeneinander vor, aber das Heereswaffenamt lehnte diesen Vorschlag ab, so dass bei jedem Eisenbahntransport schmalere Verladeketten aufgezogen und die äußeren Laufrollen abgenommen werden mussten. Das Wechseln einer rund 3 t schweren Kette dauerte knapp 30 Minuten. Einsatz Die Panzerkampfwagen Tiger kamen nicht in den Bestand einer regulären Panzerdivision, sondern wurden den speziell dafür aufgestellten schweren Panzerabteilungen zugeordnet, von denen insgesamt elf beim Heer und drei bei der Waffen-SS existierten. Der Sollbestand dieser selbstständigen und zur Schwerpunktbildung herangezogenen Einheiten betrug 45 Tiger-Panzer. Die Verlegung der Fahrzeuge erfolgte gewöhnlich per Eisenbahn mit SSyms-Flachwaggons. Längere Märsche sollten aufgrund der hohen Fahrzeugbelastung vermieden werden, zumal die durchschnittliche Marschgeschwindigkeit kaum höher als 50 Prozent über den Fußtruppen einer regulären Infanteriedivision lag. Darüber hinaus sollten Märsche nicht zusammen mit anderen motorisierten Truppenteilen erfolgen, da ein technischer Halt nach den ersten fünf Kilometern und danach alle 15 km notwendig war, was in Kombination mit der Störanfälligkeit zu Bewegungseinschränkungen der restlichen Truppen führen könnte. An sich besaßen die Fahrzeuge auf normalem Untergrund eine gute Mobilität, hatten jedoch aufgrund des hohen Bodendrucks Probleme in schwerem oder matschigem Gelände, so dass selbst ein Überwinden von nur kurzen morastigen Abschnitten kaum möglich war. Aus diesem Grund war eine Aufklärung der Geländeverhältnisse vor einem Einsatz von großer Wichtigkeit. Der Ausbildung der Besatzung und der Instandsetzungseinheiten für dieses wertvolle Fahrzeug wurde ein hoher Stellenwert beigemessen. Als Lehrmaterial diente dabei auch die ungewöhnliche und mit humorvollen Versen versehene Tigerfibel. Laut einer offiziellen Anweisung sollte der Tiger nicht für Aufklärungs- und Sicherungsaufgaben oder – wegen seiner seitlich weit überstehenden Kanone – für Wald- und Stadtkämpfe verwendet werden. Die Hauptaufgabe des Tigers war die Bekämpfung gegnerischer Panzer. Diese wurden im Gefecht bis zu einer Entfernung von 1200 Metern direkt angerichtet, bei Entfernungen darüber wurde eingegabelt. Die reguläre Kampfentfernung lag bei 2000 m, bei optimalen Verhältnissen konnte ein stehendes Ziel auch bis 3000 m bekämpft werden. Von dem Beschuss fahrender Ziele über eine Entfernung von 2000 m sollte abgesehen werden. Zwecks Erhöhung des Panzerschutzes war es von Vorteil, das Chassis im Kampf schräg versetzt zum Gegner zu positionieren, damit dessen Geschosse nicht im rechten Winkel auf die senkrechte und dadurch ballistisch ungünstige Tiger-Panzerung auftrafen. Ostfront Der erste Einsatz des Tigers fand am 29. August 1942 im Abschnitt der Heeresgruppe Nord bei Mga in der Nähe von Leningrad statt, an dem neben vier Panzern auch Techniker von Henschel teilnahmen. Der wegen Hitlers Ungeduld verfrühte Einsatz der noch unausgereiften Konstruktion endete in einem Fehlschlag, da in dem für schwere Panzer ungeeigneten Gelände drei der vier Fahrzeuge wegen technischer Defekte ausfielen und umständlich mit jeweils drei schweren Zugkraftwagen Sd.Kfz. 9 geborgen werden mussten. Die havarierten Panzer konnten nur durch aufwendige Reparaturen mit extra aus Deutschland eingeflogenen Ersatzteilen wieder einsatzklar gemacht werden, jedoch fielen beim nächsten Einsatz Mitte September wieder alle vier aus, wovon ein nicht mehr bergefähiger Panzer gesprengt werden musste. Neben diesem Ausfall führte die erfolglose Operation zum Verlust der Geheimhaltung und des Überraschungsmomentes. Die nächsten Kampfhandlungen fanden zu Jahresanfang 1943 unter anderem in der Zweiten Ladoga-Schlacht statt. Obwohl immer nur wenige Tiger gleichzeitig im Einsatz waren, beherrschten sie das Gefechtsfeld und schossen bis März 160 feindliche Panzer ab, wohingegen bei sechs verlorengegangenen Fahrzeugen nur drei auf Feindeinwirkung zurückzuführen waren. Es zeigte sich, dass die Rote Armee keinen adäquaten Panzer gegen den Tiger zur Verfügung hatte. Der Standardpanzer T-34 war dem Tiger vollkommen unterlegen, da er dessen Frontpanzerung nicht durchschlagen und wirksame Treffer an der Seite erst bei einer Entfernung von etwa 100 m ansetzen konnte, während der Tiger einen T-34 schon auf 2000 m zerstören konnte. Auch die SU-122 war gegen den Tiger so gut wie wirkungslos. Die gut ausgebildeten Tiger-Besatzungen trafen in der Regel auf 1000 m mit dem ersten Schuss gegnerische Panzer wie den T-34, wobei die Treffer fast immer zur Zerstörung des anvisierten Fahrzeuges führten. Während der Gefechte konnten mehrere Tiger, darunter ein intaktes Fahrzeug, erbeutet werden, wodurch das sowjetische Verteidigungsministerium das Potential des Fahrzeuges erkannte und spezielle Vorschriften zur Bekämpfung dieses Panzers erließ. Der erste große Einsatz erfolgte in der letzten deutschen Großoffensive im Osten während der Schlacht im Kursker Bogen, an der zusammen mit 19 später zugeführten Fahrzeugen 152 Tiger teilnahmen, von denen 113 Kampfwagen einsatzbereit waren. Das Unternehmen sollte eigentlich schon im Frühjahr stattfinden, jedoch wurde der Angriffstermin entgegen militärischer Vernunft aufgrund der überzogenen Erwartungen an die neuen Tiger und Panther bis zu deren Verfügbarkeit in den Sommer verschoben, so dass die Rote Armee eine tief gestaffelte Verteidigungslinie aufbauen konnte. Da die Tigerverbände entgegen ihrer Doktrin als Schwerpunktwaffe teilweise sogar kompanieweise aufgesplittet wurden und darüber hinaus in den ersten zwei Tagen der Offensive außergewöhnlich hohe Ausfälle durch – teils auch eigene – Panzerabwehrminen zu verzeichnen hatten, war ein konzentrierter Einsatz dieser Einheiten nicht möglich. Trotzdem erreichten die Tiger während der Schlacht hohe Abschusszahlen; so zerstörte die schwere Panzerabteilung 505 in den ersten zwei Tagen 111 gegnerische Panzer. Unter den sowjetischen Panzerformationen lösten die Tiger in einigen Fällen panikähnliche Auflösungserscheinungen aus, woraufhin die Rote Armee Militärgerichte einschaltete. Aufgrund der Überlegenheit der Tiger wurden die sowjetischen Panzerbesatzungen von ihrer Führung angewiesen, entgegen allen taktischen Grundkenntnissen mit Höchstgeschwindigkeit auf einen Tiger zuzufahren, um ihn aus nächster Nähe von der Seite oder von hinten zumindest kampfunfähig zu schießen. In Anbetracht der verheerenden Verluste und im Bewusstsein der Unterlegenheit ihres T-34 gegenüber dem Tiger – aber nicht gegenüber den kampfwertgesteigerten und ebenfalls überlegenen Panzer IV – vermuteten die sowjetischen Militärs überall Tiger-Panzer. Mit einem Anteil von nur rund fünf Prozent aller eingesetzten deutschen Panzerfahrzeuge hatte der Tiger jedoch nur geringen Einfluss auf den Schlachtverlauf, zumal die Einsatzbereitschaft aller Fahrzeuge durchschnittlich unter 50 % lag. Bis zum Abbruch der Operation hatten die eingesetzten Tiger-Verbände trotz der schweren Kämpfe lediglich 13 Fahrzeuge als Totalverlust zu verzeichnen. Auch während der nachfolgenden sowjetischen Gegenoffensiven waren Tiger-Verbände beteiligt. Angesichts des Fehlens von Geschützen, welche die Panzerung des Tigers durchschlagen konnten, ging die Rote Armee dazu über, das Feuer aus allen zur Verfügung stehenden Waffen auf die oft nur vereinzelt eingesetzten Tiger zu konzentrieren, so dass diese häufig durch Sekundärschäden außer Gefecht gesetzt wurden. Ein Beispiel solcher Taktik waren die Kämpfe der mit 45 Tigern voll aufgefüllten sPzAbt 506 im Herbst 1943, in deren Bestand nach einer Woche Einsatz neben sechs Totalverlusten kein einsatzbereiter Tiger aufgrund Gefechtsschäden – größtenteils an Optik, Bewaffnung und Laufwerk – mehr vorhanden war. Nach den schweren Verlusten bei Kursk führte die Sowjetunion ab 1944 neben durchschlagskräftigeren Hartkerngeschossen sukzessive stärkere Panzermodelle ein. Der neue T-34/85 mit seiner 85-mm-Kanone konnte bis 500 m die Front eines Tiger durchschlagen, war aber aufgrund seiner nur geringfügig verstärkten Panzerung diesem weiterhin unterlegen, wohingegen der schwere IS-2 einen konkurrenzfähigen Gegner darstellte. Die Durchschlagskraft der 122-mm-Kanone war identisch mit der des Tigers. Der Vorteil bestand in seiner abgeschrägten Panzerung, die jedoch im Frontbereich der Wanne bei der ersten Serie infolge des ungünstig abgestuften Bugs noch leicht zu durchschlagen war. Erst das verbesserte Modell mit der durchgängigen Wannenfrontpanzerung war in diesem Bereich kaum zu durchschlagen, wobei jedoch die schlechte Qualität des russischen Gussstahls den ballistischen Schutz häufig stark einschränkte. Die übrige Panzerung sowie die Turmfront konnte der Tiger auf 1000 m durchschlagen, während der Tiger ebenfalls auf diese Entfernung vom IS-2 außer Gefecht gesetzt werden konnte. Nachteilig für den IS-2 war die hohe Nachladezeit wegen der zweigeteilten Munition, die geringe Munitionskapazität, eine bedeutend schlechtere Zieloptik und die meist im Gegensatz zu den erfahrenen Tigerbesatzungen schlechter ausgebildeten sowjetischen Panzersoldaten. Dass Ausbildung und Erfahrung häufig entscheidender waren als einzelne technische Parameter, zeigte beispielsweise ein Gefecht von fünf Tigern im Juli 1944 bei Dünaburg, als diese laut dem Gefechtsbericht der sPzAbt 502 innerhalb von zehn Minuten ohne eigene Verluste 16 IS-2 zerstörten. Zusätzlich wurden neue Typen von Jagdpanzern wie bspw. das SU-100 oder ISU-152 in der Roten Armee eingeführt, die den Tiger ebenfalls wirkungsvoll bekämpfen konnten. Die Summe aller an die Ostfront verlegten Tiger I belief sich auf folgende Stückzahlen: 1942: 9 Stück 1943: 434 Stück 1944: 507 Stück 1945: 11 Stück Die höchste Einsatzzahl an der Ostfront wurde im Mai 1944 mit knapp 300 Tigern erreicht, wobei anzumerken ist, dass während des gesamten Feldzuges die Anzahl der reparaturbedürftigen Tiger die der einsatzbereiten häufig überstieg. Während der Operation Bagration genannten russischen Sommeroffensive 1944, an deren Ende die schwerste Niederlage der deutschen Militärgeschichte stand, konnten die eingesetzten Tiger punktuell zwar einige Vorstöße aufhalten, jedoch wurden infolge der oft unübersichtlichen Rückzugskämpfe und der nicht ausreichenden Bergekapazität sowie der quantitativ völlig überlegenen und auch qualitativ verbesserten sowjetischen Waffentechnik alle drei eingesetzten schweren Panzerabteilungen aufgerieben, so dass im Juli 1944 mit 125 Totalverlusten die höchsten jemals an der Ostfront erlittenen Monatsverluste zu verzeichnen waren. Im weiteren Verlauf des Krieges traten die Fahrzeuge größtenteils als Alarmeinheiten auf, wo sie den sowjetischen Vormarsch aber trotz teils noch beträchtlicher Abschusszahlen aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit der sowjetischen Panzerverbände nicht aufhalten konnten. Durch die hohen Verluste der deutschen Verbände wurden Tiger – entgegen ihrer Einsatzdoktrin – häufig als Stütze der Hauptkampflinie in der stationären Verteidigung eingesetzt, wodurch jedoch die oft einzeln eingesetzten und 3 m hohen Fahrzeuge die gesamte gegnerische Abwehrkapazität auf sich zogen, was zwangsläufig zu Verlusten führte. Nordafrika Nach dem Erfolg der Briten bei der Schlacht von El Alamein kam es zu Truppenverstärkungen, in deren Rahmen die ersten Tiger im November 1942 nach Afrika befohlen wurden. Nach der alliierten Landung in Nordwestafrika wurden die Verbände nach Tunesien umgeleitet, so dass ab Ende November zwei schwere Panzerabteilungen mit insgesamt 31 Tigern größtenteils mit Leichtern nach Tunesien verlegt wurden, von denen kein einziger beim sonst so verlustreichen Transport verlorenging. Da es sich um die ersten Produktionsfahrzeuge handelte und diese noch mit einer Vielzahl technischer Mängel behaftet waren, kam es in Verbindung mit den noch fehlenden Werkstatteinheiten und dem mangelhaften Nachschub von Ersatzteilen zu vielen Ausfällen, so dass nur wenige Fahrzeuge gleichzeitig im Kampf standen. Die Tiger kamen in der Schlacht um Tunesien zum Einsatz, wo sie allen alliierten Panzern weit überlegen waren. Selbst aus geringster Entfernung konnte der M3-Panzer die Tiger-Panzerung nicht durchschlagen. Auch der immer häufiger auftretende M4 Sherman konnte die Panzerung des Tigers von allen Seiten unter normalen Umständen nicht durchschlagen, während die Tiger problemlos die alliierten Panzer auch auf größere Entfernung ausschalten konnten. Die britische Sechs-Pfünder-Pak war mit normalen Panzerabwehrgeschossen ebenfalls machtlos gegen den Tiger, jedoch gelang es dieser während eines Gefechtes, zwei Tiger mit speziellen Hartkerngeschossen außer Gefecht zu setzen, wobei ein Tiger nach der Entzündung seiner Munition ausbrannte und später gesprengt wurde, während bei dem anderen trotz fünf Durchschüssen an der Seite bei insgesamt 24 Treffern der Innenraum intakt blieb und das Fahrzeug geborgen werden konnte. Die zwei eingesetzten schweren Panzerabteilungen zerstörten bis zur Kapitulation der Achsenmächte im Mai 1943 etwas mehr als 300 Panzer, wohingegen nur sieben Tiger durch feindliches Feuer verlorengingen. Die restlichen Tiger fielen aufgrund technischer Defekte oder wegen Laufwerksschäden durch Beschuss, Artillerie oder Minen aus und wurden fast alle selbst gesprengt. Britische Beschussversuche nach Beendigung der Kämpfe an zwei erbeuteten Tigern zeigten, dass die Panzerung gegenüber den alliierten Standardwaffen eine gute Schutzwirkung besaß. Die 40-mm-Zweipfünder-Kanone eines Churchill-Panzers konnte auch mit Hochgeschwindigkeitsgeschossen keine Stelle der Panzerung durchschlagen. Die 57-mm-Sechspfünder-Standard-Pak hinterließ mit normalen AP-Panzergranaten entweder nur Einkerbungen, oder die Geschosse zerbrachen an der oberflächengehärteten Panzerung. Die amerikanische 75-mm-Kanone eines M4 Sherman konnte die Front nicht durchschlagen, jedoch gelang es, bei einem fast senkrechten Auftreffwinkel die Wannenseite aus einer Entfernung von 90 m zu durchschlagen. Als der Auftreffwinkel auf über 15° vergrößerte wurde, hinterließ auch hier das Geschoss nur Einkerbungen. Italien Nach der Kapitulation der Achsenmächte in Nordafrika folgte die alliierte Invasion auf Sizilien. Von 17 zu diesem Zeitpunkt auf der Insel stationierten und der Panzerdivision „Hermann Göring“ unterstellten Tigern konnte infolge unzureichender Bergungs- und Instandsetzungskapazitäten nur einer auf das italienische Festland zurücktransportiert werden, während die anderen nach technischen Defekten oder Festfahren im schlecht erkundeten Gelände von der eigenen Truppe gesprengt werden mussten. Im Rahmen der Abwehr der Alliierten Invasion in Italien befanden sich ab Spätsommer 1943 zwei kleinere Verbände mit insgesamt 35 Tigern auf dem Kampfschauplatz des italienischen Festlandes, zu denen im Februar und im Juni 1944 jeweils eine vollständige schwere Panzerabteilung dazu stieß. Nach dem Durchbruch der Alliierten nach der Schlacht um Monte Cassino kam es während des deutschen Rückzuges ab Mitte Mai 1944 in dem schwierigen Gelände zu vielen Fahrzeugausfällen, so dass bis zur Stabilisierung der Front an der Gotenstellung im Juli insgesamt 64 Tiger als Totalverlust abgeschrieben werden mussten, wovon nur fünf auf feindliche Waffeneinwirkung zurückzuführen waren. Westfront Nach der alliierten Invasion in der Normandie wurden in den folgenden Wochen drei schwere Panzerabteilungen mit insgesamt 126 Tigern in das Kampfgebiet verlegt. Wegen der nur schrittweise eintreffenden Verbände und der marschbedingten Ausfälle kamen die Tiger immer nur in geringer Anzahl gleichzeitig zum Einsatz, so dass sie keinen operativen Einfluss auf den Verlauf der Schlacht hatten, obwohl ihnen dies in der westalliierten Nachkriegsliteratur häufig zugeschrieben wurde. Wie schon zuvor in Nordafrika war der Tiger allen alliierten Panzern weit überlegen, lediglich der nur in geringen Stückzahlen eingesetzte „Sherman Firefly“, eine britische Spezialversion des M4 Sherman mit einer 17-Pfünder-Kanone, war zumindest in Bezug auf Feuerkraft dem Tiger ebenbürtig. Bis Mitte August gingen allein auf das Konto der nur in kleinen Gruppen eingesetzten Tiger rund 500 zerstörte Panzer, die jedoch die Alliierten aufgrund ihrer industriellen Übermacht innerhalb kürzester Zeit ersetzen konnten. Bis zum Abschluss der Operation Ende August, wozu auch der verlustreiche Kessel von Falaise zählte, gingen sämtliche Tiger verloren, so dass sich zu diesem Zeitpunkt kein einziger Tiger an der Westfront befand. Eine Analyse der Verluste von 105 verlorengegangenen Tigern ergab, dass nur 38 auf direkte Feindeinwirkung zurückzuführen waren, während der Rest aufgegeben oder gesprengt wurde. Darüber hinaus waren während der gesamten Kämpfe in der Normandie entgegen den hohen alliierten Erfolgsmeldungen insgesamt nur dreizehn Verluste auf Fliegerangriffe zurückzuführen. Im nachfolgenden Zeitraum gingen die Alliierten aufgrund der Unterlegenheit ihrer Panzer dazu über, lokalisierte Tiger-Einheiten großräumig zu umgehen, wodurch die untermotorisierten und defektanfälligen Tiger zwecks Vermeidung einer Einkesselung zum verlustreichen Rückzug gezwungen wurden. Im weiteren Verlauf konnten die Fahrzeuge häufig nur noch einzeln eingesetzt werden. An der Ardennenoffensive nahmen 35 Tiger I teil, die in der Schlacht keine Totalverluste erlitten. Im März 1945 belief sich der Bestand von Tiger I an der Westfront auf nur noch 13 Exemplare. Mit der erweiterten Verbreitung von unterkalibrigen APCR-Hartkerngeschossen waren jetzt auch mehr und mehr reguläre Panzerabwehrwaffen in der Lage, einen Tiger zu bekämpfen. Einen vergleichbaren Panzer besaßen die Alliierten aber erst gegen Ende des Krieges mit dem M26 Pershing, von dem jedoch wegen diverser Verzögerungen nur 20 Stück in die Kämpfe auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingreifen konnten. Nachbetrachtung Entwurfsanalyse Der Panzerkampfwagen Tiger war einer der kampfstärksten Panzer des Zweiten Weltkrieges. Durch die hohe Durchschlagsleistung seiner Hauptwaffe, die schnelle Nachladefähigkeit, die präzise Zieloptik und die exakt schießende Kanone war der Tiger in Sachen Feuerkraft allen gegnerischen Standard-Panzern überlegen. Obwohl die Panzerung ballistisch ungünstig geformt war, entwickelte sie aufgrund ihrer Dicke eine hohe Schutzwirkung, so dass der Tiger gegenüber den gegnerischen Standard-Panzerabwehrwaffen auf normale Kampfentfernung so gut wie unverwundbar war. Das Fahrzeug besaß jedoch auch schwerwiegende Nachteile: Neben der viel zu geringen Reichweite galt die konventionelle Formgebung der Panzerung mit den senkrechten und somit nicht geschossabweisenden Flächen als rückständig. Technische Innovationen wie das mit einem Lenkrad betätigte Lenkgetriebe, das halbautomatische Schaltgetriebe und die Scheibenbremsen ermöglichten zwar eine gute Steuerbarkeit, jedoch erwies sich diese komplizierte und wartungsintensive Technik als äußerst störanfällig, wodurch im Nachhinein kaum vertretbare Logistik- und Instandsetzungskapazitäten beansprucht werden mussten. In Kombination mit der Untermotorisierung kam es zu einer Vielzahl von Fahrzeugausfällen, wobei es hier von besonderem Nachteil war, dass die Abschlepp-Problematik für diese schweren Fahrzeuge bis zum Kriegsende nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte. In der Regel war von einer voll ausgestatteten Tiger-Abteilung nach zwei bis drei Einsatztagen im Kampf nur noch die Hälfte einsatzbereit. Trotz des höheren Instandsetzungsbedarfs, lag die Bereitschaftsquote des Tigers mit 65 bis 70 Prozent jedoch insgesamt auf dem Niveau des Panzerkampfwagen IV (68 bis 71 Prozent) und der des Panzerkampfwagen V Panther (62 bis 65 Prozent). Des Weiteren versuchten die übergeordneten Führungsebenen, mit den ihnen nur temporär unterstellten Tiger-Einheiten so viel wie möglich zu erreichen, ohne im Gegenzug Verständnis für die taktischen Besonderheiten und das hohe Instandsetzungs-Bedürfnis der Tiger aufzubringen. Zusammen führte dies zu der – für einen im Zweiten Weltkrieg serienmäßig produzierten Panzer – ungewöhnlichen Tatsache, dass die meisten Verluste nicht auf Feindeinwirkung, sondern auf technische Defekte sowie auf Liegenbleiben oder Festfahren im Gelände in Kombination mit fehlenden Bergemöglichkeiten und anschließender Selbstzerstörung zurückzuführen waren. Eine Untersuchung der Verluste an Tigern bei den Kämpfen in der Normandie von Juni bis August 1944 bestätigt mit 44 Prozent die hohe Quote an Fahrzeugen, die durch Aufgabe/Selbstzerstörung verlorengegangen sind. Die Quote an Fahrzeugen, die im selben Zeitraum durch direkte Feindeinwirkung verloren ging, lag hier mit 56 Prozent jedoch höher (darin inbegriffen 10 Prozent Verluste durch Luftangriffe). Darüber hinaus fielen bei der Produktion der Fahrzeuge enorme personelle und materielle Kosten an und das zu einem Zeitpunkt, als die wirtschaftliche Lage im Reich immer prekärer wurde. Trotz zeitgenössischer Kritik an den hohen Entwicklungs- und Produktionskosten des „plumpen und schwerfälligen Panzers“ in Höhe von einer halben Milliarde RM wird dessen Herstellung nachträglich nicht zwangsläufig als Fehlentscheidung betrachtet. Fakt ist aber auch, dass für das Heer der Panther oder ein zuverlässigerer, leichter zu produzierender und dementsprechend in größerer Anzahl verfügbarer Panzer in der 35-Tonnen-Klasse vorteilhafter gewesen wäre. Selbst die Henschel-Ingenieure waren der Meinung, dass der Panther besser zur Massenproduktion geeignet war und taktisch mehr Vorteile besaß. Legendenbildung Während seiner Dienstzeit war der Tiger ein bevorzugtes Objekt der Propaganda, in der naturgemäß der Hang zur übertriebenen Darstellung deutlich wurde. In der Nationalsozialistischen Propaganda wurde der Tiger zum „unverwundbaren Rammbock“ hochstilisiert und als „Lebensversicherung der Besatzung“ bezeichnet. Unvorhergesehenerweise wurde der Tiger dadurch zum Teil das Opfer der eigenen Propaganda, da übergeordnete Stäbe manchmal unrealistische Aufgaben an die ihnen nur kurzzeitig unterstellten Tiger-Abteilungen stellten, die diese nicht immer bewältigen konnten. Darüber hinaus neigten aufgrund des tatsächlich guten Panzerschutzes einige Tiger-Besatzungen zu übersteigertem Selbstbewusstsein und gingen hohe Risiken ein, so dass der Generalinspekteur der Panzertruppe nach unnötigen Verlusten darauf hinwies, dass der Status der Unverwundbarkeit unrealistisch sei und taktische Grundregeln einzuhalten seien. Zur gegnerischen Propaganda gab es bezüglich Übertreibung kaum Unterschiede. Die Sowjetarmee gab nach der Schlacht im Kursker Bogen an, über 700 Tiger abgeschossen zu haben, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt erst knapp die Hälfte dieser Zahl überhaupt hergestellt war. Auch die Westalliierten berichteten, fast überall vor ihrer Front Tiger-Panzer gesichtet und eine nicht unerhebliche Anzahl zerstört zu haben. Während der Ardennenoffensive waren sie der Meinung, mehr als die Hälfte der deutschen Panzer seien Tiger, obwohl Panzer IV und Panther die eigentliche Masse bildeten. Aufgrund der geringen Verfügbarkeit des Tigers infolge der mechanischen Unzuverlässigkeit und der niedrigen Produktionsziffern gab es während des Krieges nicht einmal eine Handvoll Beispiele, in denen ein konzentrierter Einsatz gemäß seiner eigentlichen Doktrin als Durchbruchswaffe erfolgte. Darüber hinaus gab es keinen einzigen strategischen Durchbruch; alle erfolgreich abgeschlossenen Angriffe waren lediglich taktischer Natur. Trotzdem war der Tiger der deutsche Panzer, dem die Gegner den meisten Respekt entgegenbrachten. Gewöhnlich traten feindliche Panzerfahrzeuge, sobald sie Tiger-Panzer gesichtet hatten, umgehend den Rückzug an. Vor allem bei den Westalliierten führte sein Erscheinen an der Front nicht selten zu panikähnlichen Zuständen. Während der Landung in der Normandie waren Tiger-Einheiten die einzigen deutschen Verbände unterhalb der Divisionsebene, die in den strategischen Lagekarten der Alliierten verzeichnet waren. In einem von General Eisenhower für das Kriegsministerium erstellten Bericht amerikanischer Soldaten schildern diese ausführlich die Überlegenheit des Tiger gegenüber ihren Panzern. Auch Feldmarschall Montgomery war sich bewusst, dass der Tiger einen negativen Einfluss auf die Moral seiner britischen Truppen ausübte. Laut dem Autor Horst Scheibert ist der heutige legendäre Ruf des Tigers aber mehr der alliierten Berichterstattung sowie der Rezeption der ausländischen Militärliteratur geschuldet als tatsächlich realistisch begründet. Abwandlungen Panzerbefehlswagen Im Gegensatz zu den anderen deutschen Panzerkampfwagen gab es vom Tiger kaum Abarten. Die häufigste war mit 89 Stück der Panzerbefehlswagen, der von außen nur durch eine zusätzlich auf dem Turm angebrachte Sternantenne zu erkennen war. Als Veränderung entfiel das koaxiale Turm-MG, und die Munition wurde von 92 auf 66 Granaten reduziert. Stattdessen war ein zusätzliches Funkgerät im Turm verbaut, das vom Ladeschützen als zweitem Funker bedient wurde. Sturmtiger Beim Sturmtiger handelte es sich um einen schwer gepanzerten Sturmpanzer, bei dem ein abgeschrägter Kastenaufbau auf dem Tiger-Fahrgestell aufgesetzt wurde. Die Hauptbewaffnung war ein 38-cm-Raketenmörser, dessen Geschosse eine enorme Wirkung im Ziel entfalteten. Von dem 66 Tonnen schweren Fahrzeug wurden lediglich 18 Stück hergestellt. Bergetiger Bei dem sogenannten Bergetiger handelt es sich um ein einzelnes, fotografisch belegtes Fahrzeug, welches als Truppenumbau bei der schweren Panzer Abteilung 508 in Italien mit Beschädigungen von den amerikanischen Streitkräften erbeutet wurde. Bei diesem Fahrzeug war die Hauptwaffe entfernt und stattdessen am Turm eine Aufhängung für einen kleinen Kran montiert worden, der allerdings nur leichte Lasten heben konnte. Dieses Fahrzeug wird in vielen Publikationen als Bergetiger erwähnt, wobei jedoch auch teilweise angenommen wird, dass das Fahrzeug die Aufgabe hatte, Sprengladungen zum Räumen von Minengassen zu legen. Es gibt keine zeitgenössischen Unterlagen, die dies noch klären könnten. Weiterhin wird in der Literatur darüber berichtet, dass bei der schweren Panzer Abteilung 509 drei Tiger I zu „Bergetigern“ umgerüstet worden wären, angesichts der Aussage, dass diese drei Fahrzeuge im September 1944 an die schwere Panzer Abteilung 501 übergeben worden sind, liegt die Annahme nah, dass es sich um eine Umbauaktion mit Fahrgestellen handelte, die erst im Juni 1944 im Rahmen einer Neuausrüstung mit Tiger I an diese Einheit gingen. Möglicherweise handelte es sich, wie bei anderen Panzertypen um turmlose Fahrzeuge, bei denen die Türme irreparabel beschädigt worden waren. Es liegen keine fotografischen Unterlagen vor, welche die Meldungen der Abteilung bestätigen. Exkurs Berge-Panzer VI Aus den zur Verfügung stehenden Fahrgestellen des Porsche-Tigers wurden fünf Stück als Bergepanzer umgebaut. Der Umbau der Antriebsanlage erfolgte wie beim Jagdpanzer Elefant, jedoch erhielt das Fahrzeug nicht die Zusatzpanzerung und statt des großen Aufbaus nur einen niedrigen Aufbau am Heck, in dem zur Selbstverteidigung ein MG 34 eingebaut war. Das Fahrzeug verfügte über einen kleinen Kran, aber nicht über eine leistungsfähige Bergetechnik. Projekte Nach den schweren Straßenkämpfen in Stalingrad kam es zu dem Vorschlag, drei Porsche-Fahrgestelle zu Rammpanzern umzubauen. Das mit einer rundherum geschlossenen und nach allen Seiten stark abgeschrägten Panzerung versehene Fahrzeug sollte mit seiner spitz zulaufenden Frontramme Gebäude zum Einsturz bringen. Das Projekt wurde ebenso eingestellt wie der Plan, zwei Tiger-Fahrgestelle als Lastenträger für eine dazwischenliegende 24-cm-Kanone 4 zu verwenden oder vom Tiger eine Version als Sturmgeschütz mit der auch im Nachfolgemodell Tiger II bzw. „Königstiger“ verwendeten 8,8-cm-KwK 43 herzustellen. Auch für das Serienmodell gab es Pläne zur Kampfwertsteigerung. So kam es im Sommer 1942 zu Untersuchungen, ob die Frontpanzerung auf 120 mm verstärkt werden könne. Im Herbst 1943 wurde ein Fahrzeug zur Verstärkung der Feuerkraft mit der KwK 43 aus dem „Königstiger“ ausgestattet. Wegen der anfänglichen massiven Probleme mit den Schaltgetrieben wurde im Oktober 1942 ein Tiger mit einem 12-Gang-Elektrogetriebe von ZF ausgerüstet, das die Schaltvorgänge elektrisch durchführte. Bezüglich einer verbesserten Kraftübertragung wurde auch der Einbau von Strömungsgetrieben der Firma Voith untersucht. Alle genannten Projekte wurden nicht weiter verfolgt. Im Rahmen der Erhöhung der spezifischen Leistung kam es zu mehreren Entwicklungen mit stärkeren Motoren. In Versuchen konnte mittels Direkteinspritzung die Leistung des Maybachmotors von 700 auf 800 PS gesteigert werden. Die nächste Entwicklungsstufe führte zu einem 1000-PS-Motor mit Aufladung, von dem ein Versuchsmodell in einen Tiger eingebaut, aber nicht getestet wurde. Eine Version dieses Aggregates kam nach dem Krieg in einem französischen AMX-50-Prototyp zum Einbau. Aufgrund des Kriegsverlaufes blieben diese Versuche, ebenso Projekte wie ein 12-Zylinder-Dieselmotor mit 800 PS von Argus, ein luftgekühlter 16-Zylinder-X-Motor von Porsche, der auf dem Prüfstand eine Leistung von 1500 PS erreichte, ein 12-Zylinder-Ottomotor mit 900 PS von der Auto Union, ein 12-Zylinder-Ottomotor mit 1050 PS von Adler sowie ein neuartiges Antriebskonzept von Porsche mit einer 1000 WPS starken Gasturbine, unvollendet. Technische Daten Anmerkungen zur Tabelle „Technische Daten“ Verweise Siehe auch Liste von Kettenfahrzeugen der Wehrmacht Panzer (1933–1945) Literatur Wolfgang Fleischer: Der Panzerkampfwagen VI „Tiger“ bei der Truppe. Podzun-Pallas 1998, ISBN 3-7909-0637-9. Wolfgang Fleischer, Horst Scheibert: Panzer-Kampfwagen Tiger. Edition Dörfler im Nebel Verlag, Utting (2002?), ISBN 3-89555-051-5. Roger Ford: Tiger-Panzer. Dörfler im Nebel Verlag, Utting 2000, ISBN 3-89555-768-4. George Forty: Die deutsche Panzerwaffe im Zweiten Weltkrieg. Bechtermünz 1998, ISBN 3-8289-5327-1. Thomas L. Jentz: Tiger I & II: Kampf und Taktik. Podzun-Pallas Verlag 2000, ISBN 3-7909-0691-3. Egon Kleine, Volkmar Kühn: Tiger – Die Geschichte einer legendären Waffe 1942–1945. Motorbuch Verlag, Stuttgart, ISBN 3-87943-414-X. Horst Scheibert: Tiger I im Einsatz. Waffen-Arsenal Sonderband S-20, Podzun-Pallas, ISBN 3-7909-0410-4. F. M. von Senger und Etterlin: Die deutschen Panzer 1926–1945. Bernard & Graefe Verlag, ISBN 3-7637-5988-3. Walter J. Spielberger: Der Panzerkampfwagen Tiger und seine Abarten. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 3-87943-456-5. Christopher W. Wilbeck: Sledgehammers. Aberjona Press, 2004, ISBN 0-9717650-2-2 (englisch) Wehrmacht: Merkblatt 47a/27 Schießanleitung und Schulschießübungen für den Panzerkampfwagen Tiger, 1944, ISBN 978-3-7534-8196-8 Weblinks Tiger I Information Center (englisch; mit Bildern des Porsche-Tigers und des Chefkonstrukteurs Erwin Aders; daneben Kill-Ratio-Listen der Tiger I und II) Tiger in Allied Intelligence (englisch; mit Original-Texten damaliger Beschreibungen, Kennzeichnung verwundbarer Stellen und Taktik-Anweisungen der Alliierten) Restaurierung des im Bovington Tank Museum ausgestellten Tigers bis zum fahrfähigen Zustand (englisch) & (englisch) sowie (englisch; mit Bildern des Berge- und Rammtigers) (PDF; 4,4 MB) PDF-Bilddatei mit heute noch existierenden Fahrzeugen vom Typ Panzerkampfwagen Tiger (englisch; 4,14 MB) Einzelnachweise Schwerer Panzer Kampfpanzer der Wehrmacht
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https://de.wikipedia.org/wiki/Augusta%20Treverorum
Augusta Treverorum
Augusta Treverorum (lateinisch für „Stadt des Augustus im Land der Treverer“) war eine römische Stadt an der Mosel, aus der das heutige Trier hervorgegangen ist. Der Zeitpunkt der Stadtgründung wird angesetzt zwischen dem Bau der ersten Trierer Römerbrücke (18/17 v. Chr.) und der späten Regierungszeit des Augustus († 14 n. Chr.). In der Kaiserzeit bildete Trier den Hauptort der civitas der Treverer, in dem mehrere zehntausend Menschen lebten, und gehörte zur Provinz Gallia Belgica. Besondere Bedeutung erlangte das römische Trier in der Spätantike, als zwischen dem späten 3. und dem ausgehenden 4. Jahrhundert mehrere Herrscher, darunter Konstantin der Große, die Stadt als eine der westlichen Kaiserresidenzen nutzten, wovon Monumentalbauten wie die Kaiserthermen oder die Konstantinbasilika noch heute zeugen. Mit einer hohen fünfstelligen Einwohnerzahl im Jahr 300 war Augusta Treverorum, nun manchmal auch Treveris genannt, die größte Stadt nördlich der Alpen und hatte damit den Status einer Weltstadt. Die bis in die Gegenwart erhaltenen römischen Bauwerke wurden 1986 als UNESCO-Welterbe Römische Baudenkmäler, Dom und Liebfrauenkirche in Trier ausgezeichnet. Lage Im Unterschied zu fast allen anderen Römerstädten im heutigen Deutschland gehörte Augusta Treverorum nicht zu einer der beiden germanischen Provinzen, sondern zu Gallien. Die Stadt liegt in einem weiten Bogen der Mosel, an dem sich zwischen dem Fluss und den umliegenden Höhen des Hunsrücks eine weite, hochwasserfreie Talebene befindet. Zwischen der Einmündung der Saar und dem Eintritt in die Talmäander der Mittel- und Untermosel ist die Trierer Talweite zwischen Konz und Schweich die größte Siedlungskammer der Region. Die Lage des Flusses dürfte sich seit der letzten Kaltzeit nicht mehr wesentlich verschoben haben. Die tief eingeschnittenen Bachläufe von Olewiger Bach/Altbach, Aulbach und Aveler Bach sorgten sowohl für Frischwasser wie auch für einen leichten Zugang zu den umliegenden Höhen. Bereits seit der Altsteinzeit wurde das Gebiet deshalb wiederholt von Menschen aufgesucht. Geschichte Vor- und frührömische Zeit Früheste Siedlungen auf Trierer Stadtgebiet sind in der Nähe der späteren römischen Töpfereien am Pacelliufer nachgewiesen. Es handelt sich um Funde der linearbandkeramischen Kultur. Bereits in der vorrömischen Eisenzeit dürfte das Trierer Tal weitgehend gerodet und besiedelt gewesen sein. Bevor im Jahr 17 v. Chr. die erste nachweisbare römische Moselbrücke erbaut wurde, befand sich wahrscheinlich an der Stelle bereits eine Furt. In der späten Latènezeit scheint sich die Besiedlung verstreut auf dem rechten Moselufer befunden zu haben. Eine Konzentration von Siedlungsbefunden konnte bei einer Flächengrabung zwischen Mosel, St. Irminen, Ostallee und Gilbertstraße festgestellt werden. Die bedeutenden Zentren dieser Zeit werden nicht in derartigen Talsiedlungen vermutet. Der für Trier namensgebende Stamm der Treverer ist in der Region vor allem durch bedeutende Höhensiedlungen (oppida) greifbar, darunter das Oppidum am Titelberg in Luxemburg, der Castellberg bei Wallendorf, der Ringwall von Otzenhausen oder das Oppidum auf dem Martberg. Die kleine Siedlung war allerdings Grund genug, dass wenige Jahre nach der römischen Eroberung Galliens unter Gaius Iulius Caesar oberhalb der Trierer Talweite auf dem Petrisberg eine römische Militärstation errichtet wurde. Wenige Funde, darunter arretinische Terra Sigillata sowie ein dendrochronologisch datiertes Holzfragment weisen auf die Zeit um 30 v. Chr. Vermutet wird ein Zusammenhang mit den Straßenbaumaßnahmen Agrippas, die meist seiner ersten Statthalterschaft in Gallien in den Jahren 39/38 v. Chr. zugerechnet werden. Gründung Die Stadt wurde wahrscheinlich 18/17 v. Chr. durch Kaiser Augustus gegründet, worauf in erster Linie der Name hindeutet, der aber erst in späterer Zeit belegt ist. Die Ehre, nach seinem Namen benannt zu werden, wurde im heutigen deutschen Sprachraum ansonsten nur Augusta Vindelicum (Augsburg) und Augusta Raurica (Augst) in der Nordschweiz zuteil. Der genaue Zeitpunkt ist aus den Quellen nicht zu erschließen und kann nur näherungsweise angegeben werden. Als historische Fixpunkte gelten: Die Neuordnung der gallischen Provinzen unter Augustus, die 27 v. Chr. mit einem Zensus begann und im Jahr 12 v. Chr. mit der Stiftung des Altars der Roma und des Augustus (ara Romae et Augusti) bei Lugdunum (Lyon) ihren Abschluss fand. Innerhalb dieses Zeitraumes wäre auch die Gründung eines Zentralortes der Treverer anzunehmen. Die zweite Statthalterschaft Agrippas in Gallien 19 v. Chr. Der Aufenthalt des Augustus in Gallien 16–13 v. Chr. Bedeutend eingeschränkt werden kann dieser Zeitraum durch archäologische Funde. Hier sind an erster Stelle die Gründungspfähle der ersten römischen Holzbrücke über die Mosel zu nennen. Sie belegen, dass im Rahmen der Straßenbaumaßnahmen dieser Zeit die Brücke in den Jahren 18/17 v. Chr. errichtet wurde. Fragmente einer Monumentalinschrift für die in den Jahren 2 und 4 n. Chr. verstorbenen Augustus-Enkel Lucius und Gaius Caesar zeigen, dass spätestens zum Ende der Regierungszeit des Augustus gewisse städtische Strukturen vorhanden waren, da eine solche Inschrift nur an öffentlichen Orten mit der Funktion eines Zentralortes denkbar ist. Eine Auswertung der frührömischen Funde aus dem Stadtareal hat gezeigt, dass mit einer flächigen Besiedlung nicht vor spätaugusteischer Zeit (Halternhorizont) zu rechnen ist. Dies fällt zusammen mit der Aufgabe der Siedlung auf dem Titelberg, so dass hier möglicherweise eine Übertragung des administrativen Stammeszentrums der Treverer vorliegt. Ähnliche Bauprogramme lassen sich in der gesamten Gallia Belgica und benachbarten Regionen an Rhein und Donau in dieser Zeit nachweisen. Frühe und hohe Kaiserzeit Die Maßnahmen des Augustus in den gallischen Provinzen umfassten die Dreiteilung der bisherigen Gallia comata in die neuen Provinzen Gallia Aquitania, Gallia Lugdunensis und Gallia Belgica, wobei Trier Teil der Letzteren mit der Hauptstadt Durocortorum Remorum (Reims) wurde. Trier war Sitz des für die Belgica und später auch für beide germanischen Provinzen zuständigen Finanzprokurators (procurator provinciae Belgicae et utriusque Germaniae). Während über die Siedlung zur Zeit der Gründung nur unsichere Angaben gemacht werden können, ist im 1. Jahrhundert die Entwicklung zu einer planmäßigen Koloniestadt gut erkennbar. Das Straßennetz weicht in den nördlichen und südlichen Außenbezirken stärker vom regelmäßigen Zuschnitt der Insulae ab, so dass sich für den Kernbereich eine quadratische Gründungsstadt mit der Breite von drei Insulae ergibt. In Flussnähe wurde gegen Ende des 1. Jahrhunderts eine erhebliche Anschüttung vorgenommen, um hochwasserfreie Nutzflächen zu gewinnen. Mehrere Pfeiler der Moselbrücken wurden dabei zugeschüttet. Ebenfalls am westlichen Brückenkopf der Pfahlrostbrücke befand sich ein triumphbogenähnliches Tor. Die früheste Erwähnung der Steinbrücke über die Mosel lässt sich dem Bericht des Tacitus über den Bataveraufstand des Jahres 69 n. Chr. entnehmen. Tacitus erwähnt ebenfalls, dass es sich bei Trier um eine Koloniestadt handele (colonia Trevirorum). Vermutlich hatte die Stadt ähnlich wie Köln diesen privilegierten Status unter Kaiser Claudius erhalten. Als terminus post quem kann ein Meilenstein aus Buzenol aus dem Jahr 43/44 n. Chr. gesehen werden, der Trier nur als Aug(usta), nicht als colonia bezeichnet. Mit der Koloniegründung war hier aber anders als in Köln keine Ansiedlung von Legionsveteranen, also römischen Bürgern, verbunden. Es gibt daher im Grunde zwei verschiedene Ansichten über die Art des Trierer Koloniestatus. Eine Deutung geht von einer reinen Titularkolonie aus; mit dem Titel colonia sei hier also anders als im Falle einer regulären colonia keine Verleihung der civitas Romana an alle freien Einwohner verbunden gewesen. Gegner dieser These haben darauf hingewiesen, dass es für solche Verleihungen ehrenhalber keine Belege gebe, und vermuten stattdessen eine Verleihung des ius Latii. Unklar ist zudem, ob Tacitus die Bezeichnung rechtlich präzise oder nur als allgemeine Charakterisierung verwendete. Nicht ganz gesichert ist damit die Rechtsstellung der Stadtbewohner und der Stammesgemeinde der Treverer in der Kaiserzeit. Es fällt auf, dass einerseits die Bezeichnung als Treverer (Treveri oder cives Treveri) in Inschriften weiterhin verwendet wird, was keinen Schluss auf das Bürgerrecht zulässt. Andererseits legen Erwähnungen der Stadt (colonia) und der Stammesgemeinde (civitas) nahe, dass beide parallel existiert haben könnten. Unabhängig von der Rechtsstellung der Treverer und ihrer civitas war die Stadt Trier als ihr Hauptort ein integrierender Bestandteil der Romanisierung. Bereits in den 40er Jahren des ersten Jahrhunderts erwähnt der Geograph Pomponius Mela Trier als blühende, reiche Stadt (urbs opulentissima). Der Wert dieser Nachricht ist allerdings umstritten, da Mela sich noch an der Dreiteilung Galliens aus Caesars Gallischem Krieg orientiert und bedeutende Städte wie Lugdunum oder Köln nicht erwähnt. Der archäologische Befund bezeugt jedoch, dass der Ort im 1. Jahrhundert einen raschen Aufschwung nahm. Es wurden zahlreiche Bauten errichtet, so etwa um 80 die Thermen am Viehmarkt oder um 100 das Amphitheater. In der Mitte des zweiten Jahrhunderts waren die Thermen am Viehmarkt bereits zu klein geworden, so dass man über die Fläche mehrerer Insulae die Barbarathermen erbaute. Sie galten in ihrer Zeit als einer der größten Thermenbauten im Römischen Reich. Unter Mark Aurel und Commodus entstand ab 170 die Stadtbefestigung und damit das Nordtor, die Porta Nigra, was die Bedeutung der Stadt im 2. und 3. Jahrhundert unterstreicht. Möglicherweise stehen die Baumaßnahmen im Zusammenhang mit der Erhebung der Stadt zur Provinzhauptstadt der Gallia Belgica. Der Zeitraum, wann Trier Reims in dieser Funktion ablöste, kann nicht genauer angegeben werden als vor der Mitte des 3. Jahrhunderts. Grundlage des Aufstiegs der Stadt war, neben der verkehrsgünstigen Lage an der Mosel und den ins Innere Galliens führenden Straßen, Handel und Gewerbe. Die Trierer Terra Sigillata-Manufakturen erlangten neben den Töpfereien von Rheinzabern (Tabernae) im späten 2. und 3. Jahrhundert eine marktbeherrschende Stellung. Die zugehörigen Werkstätten befanden sich vorwiegend südöstlich der Stadt am Pacelliufer. Ebenfalls sehr beliebt waren in den Nordwestprovinzen des römischen Reichs die sogenannten Trierer Spruchbecher, engobierte Becher, die mit Trinksprüchen beschriftet waren. Gelegentlich sind Hinweise für Handwerk und Gewerbe auf Steindenkmälern erhalten, mit denen sich städtische Eliten repräsentierten. Einen Hinweis auf das Gewerbe gibt die Igeler Säule, Grabdenkmal der Tuchhändler-Familie Secundinius, auf deren Reliefs verschiedene Tätigkeiten der Tuchherstellung und des Handels dargestellt sind. Bereits in der Römerzeit dürfte der Anbau und Handel mit Wein eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, worauf unter anderem das Neumagener Weinschiff verweist. Im Bürgerkrieg der Jahre 193 bis 197 (Zweites Vierkaiserjahr) belagerten Truppen des Clodius Albinus Trier, das auf der Seite seines Rivalen Septimius Severus stand. Die Stadt konnte dem Angriff standhalten und wurde schließlich durch ein aus Mainz herangeführtes Heer entsetzt, dem die Stadt später in einer erhaltenen Inschrift dankte. Sowohl der Fund eines großen Münzschatzes aus dem Jahr 196/197 als auch der Umstand, dass die Arbeiten an der Porta Nigra offenbar nie ganz abgeschlossen wurden, werden mit dieser Belagerung in Verbindung gebracht. Zu vermuten ist allerdings, dass der letztlich siegreiche Severus die Stadt, wie es in solchen Fällen üblich war, im Anschluss für ihre Treue belohnte. Von den Germaneneinfällen während der so genannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts, die zur Aufgabe des Obergermanisch-Raetischen Limes führten (Limesfall), blieb Trier aufgrund seiner Lage im Hinterland lange Zeit verschont. Residenz des in den Wirren der Krise entstandenen Gallischen Sonderreiches wurde zunächst Köln. In den letzten Jahren des Sonderreiches wurde die Residenz aber zwischen 271 und 274 unter Tetricus nach Trier verlegt, das wegen seiner Lage sicherer war. Da sich die Stadt dabei als Kaiserresidenz und Verwaltungszentrum bewährt zu haben scheint, wies diese Maßnahme in die Zukunft. Bald nach dem Tod Kaiser Aurelians im Jahr 275 wurde die Stadt aber zunächst von marodierenden Franken und Alamannen geplündert und teilweise zerstört. Spätantike Zwischen 293 und 401 war Trier dann einer der wichtigsten Orte im Westen des Römischen Reiches. Durch die diokletianischen Reformen wurde die Stadt zum Sitz des praefectus praetorio Galliarum und damit Verwaltungszentrale der diocesis Galliarum, die das heutige Westeuropa und Teile Nordafrikas umfasste. Die Provinz Belgica wurde aufgeteilt und Trier zur Hauptstadt der dadurch entstandenen Belgica prima. Während der Tetrarchie wählte zunächst der Caesar Constantius I. im Jahr 293 Trier zu seiner Residenz. Später wurde es von seinem Sohn Konstantin I., der sich zwischen 306 und 324 für mehrere Jahre in der Stadt aufhielt, repräsentativ ausgebaut. Um seinen – der eigentlichen Thronfolgeregelung widersprechenden – Machtanspruch propagandistisch zu festigen, ließ Konstantin eine (auch nach spätantiken Maßstäben) monumentale Palastanlage nach dem Vorbild des Palatin in Rom errichten. Zur Legitimation seiner Herrschaft diente ihm dabei unter anderem die Vergöttlichung seines Vaters, der in einem Mausoleum nahe der heutigen Kirche St. Maximin beigesetzt wurde. Ebenfalls in diese Zeit fällt der Baubeginn der Kaiserthermen sowie der Palastaula, bei der es sich um das größte bekannte Exemplar dieses Bautyps handelt. Am Moselufer in der Nähe von St. Irminen wurde zudem eine große Doppelspeicheranlage (horreum) aus dem 4. Jahrhundert entdeckt. Angelockt vom Kaiserhof und den im Umfeld stationierten comitatenses ließen sich viele Menschen in der Stadt nieder, die Einwohnerzahl dürfte sich vervielfacht haben. Genaue Zahlen sind wegen mangelnder Kenntnis über das bebaute Areal innerhalb der Stadtmauern nicht zu ermitteln. Für die mittlere Kaiserzeit geht man von rund 20.000 Einwohnern aus, von denen etwa 18.000 im Trierer Amphitheater Platz gefunden hätten. Der im 4. Jahrhundert erbaute Circus fasste hingegen mindestens 50.000, vielleicht sogar 100.000 Besucher, doch kann in beiden Fällen nicht gesagt werden, ob man bei der Planung dieser Gebäude Rücksicht auf die Bevölkerung des Umlandes nahm. Mehr als 100.000 Menschen werden auch im 4. Jahrhundert kaum in Trier gelebt haben; andere Überlegungen gehen sogar davon aus, dass auch in der Spätantike eine Bevölkerung von mehr als 30.000 Menschen in dieser Gegend kaum zu versorgen gewesen wäre. Nach dem Abzug des kaiserlichen Hofes und der Prätorianerpräfektur im frühen 5. Jahrhundert dürfte die Bevölkerung der Stadt recht rasch auf zuletzt vielleicht 10.000 Menschen gesunken sein. Konstantins Sohn Konstantin II. residierte hier von 328 bis zu seinem Tod 340, der Usurpator Decentius von 351 bis 353. Erneut war Treveris dann von 367 bis 388 Residenz römischer Kaiser (Valentinian I., Gratian, Magnus Maximus); zuletzt residierte hier um 390 noch einmal der junge Valentinian II. Auch in der Literatur dieser Zeit fand diese Blütezeit ihren Niederschlag. In Trier wirkten die kaiserlichen Erzieher Lactantius (um 317) und Ausonius (367–388), Letzterer setzte der Landschaft in seiner Mosella ein literarisches Denkmal. Unter Ausonius erreichte auch die Trierer Hochschule ihre größte Bedeutung. Sie gehörte zu den bedeutendsten Schulen im Westreich, übertroffen nur von der Schule in Burdigala (Bordeaux). Zwar liegen über sie einige Schriftquellen vor, ein genaues Bild lässt sich über die Schule aber nicht gewinnen. Der bedeutendste Sohn der spätantiken Stadt war Ambrosius von Mailand. Durch die Anwesenheit des Verwaltungs- und Militärpersonals, des Hofstaats und der Münzprägestätte stieg die Bedeutung Triers im 4. Jahrhundert. Im Umland der Stadt entstanden mehrere palastartige Villenanlagen, die dem Kaiserhaus oder hohen Beamten zugeschrieben werden, etwa das Palatiolum in Trier-Pfalzel. Der Nachteil dieser Entwicklung lag in einer erheblichen Zwangswirtschaft zur Versorgung der Stadt und des Hofes; der Abzug der Institutionen um 400 hinterließ eine nicht zu schließende Lücke. Die Nähe zur Kaiserresidenz bedeutete in dieser Zeit eine gewisse Sicherheit; in anderen Teilen des Römischen Reichs waren die Villae rusticae wie die gesamte ländliche Besiedlung stark bedroht, so dass nur noch die befestigten Städte der provinzialrömischen Bevölkerung Schutz boten. Wohl um 402, einige Jahre nach der Verlegung des Hofes nach Mediolanum und dem Tod Theodosius’ I. (395), wurde auch die gallische Prätorianerpräfektur von Trier nach Arles verlegt (spätestens 418). Mit dem Abzug dieser bedeutenden Wirtschaftsfaktoren begann der endgültige Niedergang der einst bedeutenden Römerstadt. Bestehen blieb lediglich die bischöfliche Verwaltung, mit der das Christentum Träger der Kontinuität römischer Kultur wurde, gestützt durch die weiterhin einflussreiche gallorömische Oberschicht. Nach mehrfacher Zerstörung und Plünderung fiel die Stadt um 480 endgültig an die Franken. Die römische Herrschaft in Nordgallien bestand zu dieser Zeit nur noch nominell: Während bis dahin im Raum von Trier der romanisierte Franke Arbogast regierte, bestand das von Aegidius nach 461 in Nordgallien errichtete gallorömische Sonderreich unter seinem Sohn Syagrius noch bis 486/487 fort. Trier als Bischofssitz Den frühesten Fixpunkt für einen Bischofssitz in Trier stellt das Jahr 314 dar, als der Bischof Agritius an der Synode von Arles teilnahm. Trier ist damit der älteste nachgewiesene Bischofssitz auf deutschem Boden. Möglicherweise hatte Agritius bereits mehrere Vorgänger, die allerdings nur in wenig glaubwürdigen mittelalterlichen Quellen überliefert sind. Von dem spätantiken Bischofssitz zeugen noch heute die Großbauten des Trierer Doms und der Liebfrauenkirche sowie die großen vorstädtischen Kirchen St. Maximin, St. Paulin und St. Matthias. Sie erhielten ihre Namen von weiteren frühen Trierer Bischöfen, um deren Grablegen sich große frühchristliche Gräberfelder entwickelten. Durch zeitgenössische Schriftquellen sind Trierer Bischöfe wie Agritius in den großen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts erwähnt. Durch die Position in der Nähe zur Kaiserresidenz kam ihnen eine besondere Bedeutung zu. Entsprechend sind Verbindungen prominenter Kirchenmänner dieser Zeit wie Athanasius, Ambrosius und Martin von Tours zum Trierer Bischofssitz zu verschiedenen Anlässen belegt. Um 370 hielt sich Hieronymus zu Studien in Trier auf. Reichsmünzstätte Nach dem Fund mehrerer Inschriften könnte vermutet werden, dass bereits die gallischen Usurpatoren in Trier Münzen schlagen ließen. Die Zuweisung der gallischen Prägungen an Trier ist jedoch problematisch; gesichert ist die Prägung von Reichsmünzen in der Münzstätte Trier erst ab 293/294, unter dem Caesar Constantius I. Die Trierer Münzstätte gehörte zu den wichtigsten Prägestätten des spätantiken Reiches. Während knapp 150 Jahren wurden in Trier 39 Kaiser, Usurpatoren, Kaiserinnen und Kaisersöhne auf Münzen geprägt, darunter alle im Westteil regierenden Kaiser mit Ausnahme Jovians. Bekannt sind mehr als 520 Gold-, 310 Silber- und 1250 Bronzemünzen mit verschiedenen Vorder- und Rückseiten. Trierer Prägungen waren meist durch die Buchstabengruppe TR gekennzeichnet. Die spätesten nachweisbaren Prägungen der Trierer Reichsmünzstätte stammen von dem Usurpator Eugenius (392–394). Umstritten ist, ob noch Prägungen unter Honorius (395–423) stattgefunden haben, da Eichgewichte mit dem Namen des Kaisers gefunden wurden, jedoch bislang keine entsprechenden Münzen dazu bekannt sind. Fränkische Zeit Die mit dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft verbundenen häufigen kriegerischen Ereignisse und wechselnde Machtverhältnisse veränderten das Siedlungsbild im 5. Jahrhundert nachhaltig. Verfüllungen der unterirdischen Bedienungsanlagen in den Kaiser- und Barbarathermen belegen, dass der Betrieb in der ersten Hälfte des Jahrhunderts aufgegeben wurde. Auch die Ruwerwasserleitung konnte nicht mehr instand gehalten werden und wurde aufgegeben. Die bisherigen städtischen Wohnquartiere wurden zunächst nur noch in kleineren Teilen genutzt. Große Teile des Grabens vor der nordöstlichen Stadtmauer wurden verfüllt, weil sie aufgrund ihrer Größe nicht mehr zu verteidigen war. Als Zuflucht der Bevölkerung dienten vermutlich die Großbauten der ehemaligen Kaiserresidenz. Ab der Mitte des 5. Jahrhunderts sind die Funde äußerst spärlich und beschränken sich meist auf Kirchengebäude wie die Doppelkirchenanlage Dom/Liebfrauen und die Kirche St. Maximin, wo eine lückenlose Abfolge vom spätantiken Coemeterialbau zur frühmittelalterlichen Kirche nachweisbar ist. Weiterhin genutzt wurden die Gräberfelder südlich und nördlich der Stadt, wobei das Namensmaterial der frühchristlichen Inschriften einen hohen romanischen Bevölkerungsanteil aufweist. Funde der älteren Merowingerzeit sind im Stadtgebiet selten. Im Altbachtal ist seit dem 7. Jahrhundert ein kleiner Weiler nachweisbar, der teilweise auf den antiken Ruinen aufbaut. Während sich die Funde des 6. Jahrhunderts auf Einzelfunde und den Bereich der Heiligen- und Reliquienverehrung um die vorstädtischen Kirchen beschränkte, ist seit der jüngeren Merowingerzeit mit einem Anstieg der Bevölkerung zu rechnen. Im Stadtkern blieb das römische Straßennetz teilweise bestehen, bis sich im Mittelalter an der Domburg der Markt etablierte. Stadtanlage Durch die naturräumliche Lage war die Form der römischen Stadt weitestgehend vorgegeben. Der Decumanus maximus orientierte sich an der Verbindung von der Moselbrücke zum Olewiger Tal. Er wurde allerdings um 100 durch den Bau des Forums durchschnitten, wobei der Durchgangsverkehr auf die nördliche und südliche Parallelstraße ausweichen musste. Das erklärt wahrscheinlich auch die Verlegung der Moselbrücke beim Neubau der Steinpfeilerbrücke um 25 m stromaufwärts gegenüber der früheren Pfahlrostbrücke sowie den kleineren Zuschnitt der insulae entlang des Decumanus. Ein Raster rechtwinklig angelegter Straßen ergab insulae zwischen 70 und 100 Meter Breite und eine Länge von meist 100 Meter. Im Kernbereich war der Zuschnitt regelmäßiger, während mit dem Wachstum der Stadt im 1. und 2. Jahrhundert in den Außenbezirken der Flächenzuschnitt variierte und gelegentlich mehrere insulae zu einer langrechteckigen zusammengefasst wurden. Auch wiesen die Straßen im Kernbereich bis zu 17 künstliche Aufhöhungen auf, während in den Außenbezirken nur eine bis vier solcher Erhöhungen nachweisbar sind. In den repräsentativeren Siedlungsbereichen wurden sie im 4. Jahrhundert mit Kalksteinplatten oder polygonalen Basaltplatten belegt. In den Außenbezirken der Stadt, vorwiegend südlich und in Nähe zur Mosel, befanden sich handwerkliche Betriebe. Sie waren auf die Nähe zur Wasserstraße für den Güterverkehr angewiesen. Neben den erwähnten Töpfereien gehören dazu Textilmanufakturen, metallverarbeitende Betriebe und Produktionsstätten für Glaswaren. Nur schwer lässt sich der Tempelbezirk im Altbachtal in das regelmäßige Siedlungsraster einpassen. Die Lage des vom 1. bis zum 4. Jahrhundert durchgehend genutzten Areals war bestimmt durch die dortigen Bachläufe, Quellen und dazugehörigen Taleinschnitte. Die Wohngebäude der Stadt bestanden zunächst aus Fachwerkbauten. Die frühesten Steingebäude wurden nachgewiesen im Areal der späteren Kaiserthermen. Nach mehreren Umbauphasen und teilweise prächtiger Ausstattung mit Mosaiken und Wandmalerei wurden sie nach 293 n. Chr. für den Bau der Thermen abgerissen. Die Abfolge der Ausbauphasen, zunächst in Holz-Fachwerk-Bauweise, ab dem späten 1. Jahrhundert Kalkstein und schließlich roter Sandstein, ist an vielen privaten Gebäuden zu beobachten, so auch an einem Wohnkomplex, der in der Nähe von St. Irminen 1976/1977 aufgedeckt wurde. Zu diesem gehörte auch eine kleine Badeanlage, welche die typische Raumgliederung römischer Bäder in Kaltbad (frigidarium), Laubad (tepidarium) und Heißbad (caldarium) aufwies. Die Häuser erhielten im Laufe der Zeit eine luxuriöse Ausstattung mit Wandmalereien, Mosaiken, opus-signinum- oder ornamentierten Ziegelplattenböden. Für die Dachdeckung wurden Ziegel oder Schiefer verwendet. Forum Das Forum der Stadt befand sich am Kreuzungspunkt von decumanus maximus und cardo maximus. Über die Frühzeit der Anlage können nur wenige Aussagen getroffen werden. In vespasianischer Zeit wurde es stark erweitert, sodass es sechs Quartierflächen beiderseits der W-O-Achse der Stadt mit einer Größe von 140 × 278 m einnahm. Bei der Erweiterung wurden einige private Wohnquartiere planiert sowie die benachbarten Thermen am Viehmarkt der Anlage hinzugefügt. Am westlichen Ende des Forums befand sich eine Basilika (100 × 25 m), welche die gesamte Breite des Platzes einnahm. Östlich davon lagen beiderseits eines langrechteckigen Platzes entlang der Hauptstraße Portiken mit unterirdischer Kryptoportikus und Ladengeschäfte. Auf beiden westlich des Forums gelegenen insulae wurde zunächst frühe Wohnbebauung des 1. Jahrhunderts festgestellt. Sie wurde in der nördlichen insula (unter dem heutigen Stadttheater) im 3. Jahrhundert durch ein vornehmes Stadthaus ersetzt. Es besaß einen großen Innenhof mit Säulengang (Peristylhaus) sowie eine reiche Ausstattung mit Marmorvertäfelungen, Wandmalereien und Mosaiken. Die Inschrift auf einem dieser Mosaike weist es als Wohnhaus des Prätorianer-Tribunen Victorinus, des späteren Kaisers des Gallischen Sonderreichs, aus. Mächtige Mauerzüge auf den beiden südlichen insulae lassen sich in dieser Phase zu symmetrisch anschließenden Bauten ergänzen, sodass hier öffentliche Gebäude vermutet werden. Stadtbefestigung Bereits die Stadt des 1. Jahrhunderts n. Chr. besaß Torbögen an den Grenzen der zivilen Bebauung, die aber keinen fortifikatorischen Charakter hatten, sondern als Triumph- oder Ehrenbögen gestaltet waren. Fundamente solcher Bauten konnten archäologisch am stadtseitigen Brückenkopf der Moselbrücke, zwischen Simeon- und Moselstraße sowie als verbauter Rest in einem Bogen der Kaiserthermen nachgewiesen werden. Sie bildeten vermutlich den Abschluss der Gründungsstadt des 1. Jahrhunderts noch vor der Erbauung von Circus und Amphitheater. Die 6418 m lange römische Stadtmauer umschloss dann eine Fläche von 285 ha. Früher nahm man oft an, sie sei erst im 3. Jahrhundert errichtet worden, als Bürgerkriege und plündernde Germanen die Städte Galliens bedrohten. Heute hingegen herrscht Konsens, dass die Stadtmauer bereits im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts gebaut wurde. Diese Datierung ergibt sich unter anderem daraus, dass sie im Norden an der Porta Nigra Teile des dortigen Gräberfeldes durchschneidet. Die spätesten Bestattungen innerhalb der Mauern datieren in das dritte Viertel des 2. Jahrhunderts. (Die Römer bestatteten ihre Toten grundsätzlich außerhalb der Stadtmauern, die Gräber müssen also älter als die Mauer sein.) Kleinfunde im Mauerbereich weisen auf das späte 2. Jahrhundert. Im Süden durchtrennt die Mauer den Töpfereibezirk, der aber im 3. Jahrhundert beidseitig der Mauer weiter produzierte. Markierungen an den Steinen der Porta Nigra verweisen zudem auf Kaiser Mark Aurel (161–180) und seinen Sohn Commodus (180–192). Die Anlage scheint verteidigungsbereit gewesen zu sein, als Clodius Albinus’ Truppen die Stadt 195 vergeblich attackierten. Die Mauer wurde als typisches römisches Gussmauerwerk errichtet. Der Kern bestand aus Schiefer, kleinen Steinen und reichlich Mörtel, während außen Sand- oder Kalksteinquader vorgeblendet wurden. Die Höhe des Laufgangs lässt sich anhand der erhaltenen Mauerausgänge an der Porta Nigra auf 6,2 m rekonstruieren. Die Breite betrug im Fundamentbereich bis zu 4 Meter, reduzierte sich zum Abschluss auf bis zu 3 Meter. Regelmäßig waren runde Türme eingefügt, die sich meist an den Enden der Straßenfluchten befanden. Die insgesamt 48 oder 50 Türme der Trierer Stadtmauer sprangen dabei noch an beiden Seiten gleichmäßig aus der Mauer hervor. Spätere römische Befestigungen besaßen dagegen meist weit nach außen vorspringende Türme, die es erlaubten, die seitlichen Mauerbereiche besser zu schützen und Angreifer ins Kreuzfeuer zu nehmen. Auch die Form der Türme deutet also auf eine Erbauung im späten 2. Jahrhundert hin. Die moderne Forschung geht zumeist davon aus, dass die Trierer Stadtmauer – ähnlich wie die vieler anderer römischer Städte im überwiegend friedlichen 1. und 2. Jahrhundert – nicht errichtet wurde, um auf eine konkrete Bedrohung zu reagieren; sie war weniger eine militärische Anlage als ein Prestigeprojekt, das die Bedeutung des Ortes unterstreichen sollte. Von der Mauer sind lediglich im Norden und entlang der Mosel kleinere Abschnitte erhalten, die in die spätere mittelalterliche Stadtmauer integriert wurden (Schießgraben, an der Berufsschule; Keller des Hauses Schützenstraße 20, von außen einsehbar). In den südlichen Abschnitten wurde sie bis auf das Fundament ausgebrochen. An der Langstraße ist ein Teil auf der Länge von 70 m zugänglich. Die Stadtmauer besaß insgesamt fünf Torbauten, von denen einige wie die Porta Nigra sehr aufwendig gestaltet waren und zur Zeit ihrer Errichtung bereits den später verbreiteten Bautyp der Torburg vorwegnahmen. Das südliche Tor (Porta Media) gegenüber der Porta Nigra wurde bereits im Mittelalter abgebrochen, weshalb von ihm nur Fundamente bekannt sind. Das Westtor an der Moselbrücke wurde im Mittelalter weiter benutzt und trug zu dieser Zeit den Namen Porta Inclyta („berühmtes Tor“). Von Osten her gelangte man durch ein Tor südlich des Amphitheaters, das als Nebeneingang genutzt wurde, in die Stadt. Im späten 4. Jahrhundert wurde noch ein Südosttor hinzugefügt, das seit dem Mittelalter Porta Alba genannt wurde. Die großzügige Befestigungsanlage war zur Zeit ihrer Erbauung noch auf Zuwachs ausgelegt, wie viele Freiflächen in den Randbereichen zeigen. In militärischer Hinsicht war die Mauer dagegen wenig nützlich. Das Bauwerk musste sich in den ersten 200 Jahren seines Bestehens kaum bewähren – die einzigen bekannten Ausnahmen bilden der Angriff von 195 und die fränkisch-alamannische Attacke um 275, und bei dieser konnte die Mauer die Angreifer nicht aufhalten. Im 5. Jahrhundert war es dann kaum möglich, die Stadt mit der eher auf Repräsentation denn auf Verteidigungswert angelegten Anlage wirksam zu verteidigen. Vor dem Überfall der Vandalen als Folge des Rheinübergangs von 406 konnte sich die Restbevölkerung der von Hof und Verwaltung geräumten Stadt nur schützen, indem sie sich im Amphitheater verschanzte. Porta Nigra Die Porta Nigra ist das einzige erhaltene Tor der römischen Stadtmauer Triers und neben den Kaiserthermen das wohl bekannteste Denkmal. Wie die Stadtmauer stammt sie ursprünglich aus dem letzten Viertel des 2. Jahrhunderts n. Chr.; der Baubeginn konnte 2018 dendrochronologisch auf das Jahr 170 datiert werden. Ihre Erhaltung verdankt sie dem Umstand, dass sich im Mittelalter Simeon von Trier in dem Gebäude als Einsiedler niederließ und das Nordtor der römischen Stadt daraufhin zu einer Kirche umgebaut wurde. Auf Befehl Napoleons wurde sie seit 1804 von späteren Anbauten befreit. Porta Media Die Porta Media als südliches Stadttor und Gegenstück zur Porta Nigra befand sich am Ende der heutigen Saarstraße. Von diesem Stadttor sind nur Fundamentreste nachgewiesen. Porta Alba Die Porta Alba wurde im 4. Jahrhundert als Südosttor hinzugefügt und befand sich an der Straße nach Straßburg (Argentoratum). Sie war schmaler als die älteren Stadttore und besaß nur einen einfachen Tordurchgang. Ihr Name stammt aus dem Mittelalter, als sie verschiedentlich als Schutzburg genutzt wurde. Amphitheater Das Amphitheater am Fuße des Petrisberges wurde um 100 n. Chr. errichtet, möglicherweise besaß es bereits einen kleineren, hölzernen Vorgängerbau. Die Zuschauerränge (cavea) wurden in den Hang eingetieft, der entstandene Abraum zur Aufschüttung der talseitigen Ränge benutzt. Von der Anlage, die bis zu 18.000 Menschen Platz bot, sind im Wesentlichen die ovale Arena (70,5 × 49 m) mit ihren Begrenzungen sowie einige unterirdische Gewölbe (vomitoria) erhalten geblieben. Beim Bau der Stadtmauer wurde das Amphitheater in diese integriert und diente als östliche Zufahrt. Im Mittelalter verfiel das Amphitheater, wurde als Steinbruch genutzt, die Arena allmählich zugeschwemmt. Seit den Ausgrabungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es wieder für Veranstaltungen nutzbar. Im Fundmaterial, das im Rheinischen Landesmuseum Trier aufbewahrt wird, ist neben Steindenkmälern besonders eine Gruppe von Fluchtäfelchen interessant, die in der Antike hier deponiert wurden. Das übrige Fundmaterial stammt vorwiegend aus dem 4. Jahrhundert, was mit der langen Nutzungsdauer zusammenhängen dürfte. Noch in der Zeit Konstantins sind blutige Spiele in der Arena belegt. Circus Der römische Circus Triers ist nicht erhalten und nur anhand des Verlaufs einiger Straßen unterhalb von Amphitheater und Petrisberg zu erahnen. Hinweis auf seine Lage gibt die deutliche Einsattelung im Verlauf von Egbert- und Helenenstraße, während sich die nördliche Abrundung an der heutigen Agritiusstraße befunden haben dürfte. Damit ergäbe sich eine Anlage mit etwa 500 Meter Länge. Wagenrennen spielten vor allem in der Spätantike eine wichtige Rolle für die Selbstdarstellung der römischen Kaiser und erfreuten sich größter Beliebtheit. Auf den Trierer Circus weisen zahlreiche bildliche Darstellungen hin. Hier ist an erster Stelle das Polydus-Mosaik zu nennen, das einen Wagenlenker mit seinem Gespann zeigt. Eine ähnliche Darstellung liegt auf einem in Trier gefundenen Kontorniaten vor, außerdem existiert in den Neumagener Grabdenkmälern ein Relief mit Pferdeführer. Da die Treverer in den Schriftquellen als gute Reiter beschrieben werden, wird vermutet, dass bald nach dem Amphitheater im 2. Jahrhundert auch eine Pferderennbahn errichtet wurde. Spätestens aber als der Ort Kaiserresidenz wurde, muss es einen Circus gegeben haben. Der Circus wurde aufgrund seiner Lage im Frühmittelalter schneller als andere römische Großgebäude zerstört, die Steine wiederverwendet und das Areal landwirtschaftlich genutzt. Im 19. Jahrhundert wurde das Gelände südlich des Trierer Hauptbahnhofes mit einem Wohngebiet bebaut, wobei die wahrscheinlich nur sehr geringen Überreste der Anlage nicht untersucht wurden. Thermen Thermen am Viehmarkt Die Thermen am Viehmarkt sind die ältesten öffentlichen Thermen von Augusta Treverorum. Sie nahmen eine komplette Insula nördlich des römischen Forums im Zentralbereich der Siedlung ein. Die Thermen wurden anstelle einer älteren Wohnbebauung um das Jahr 80 errichtet. Münz- und Keramikfunde machen eine Nutzung mit mehreren Umbauten bis in das 4. Jahrhundert wahrscheinlich. Ob es sich bei der Anlage wirklich um einen reinen Thermenkomplex handelt, ist umstritten. Bemerkenswert ist der Umstand, dass die dafür notwendigen Heizanlagen erst in einer zweiten Bauphase hinzugefügt wurden, nach anderen Angaben sogar erst im 4. Jahrhundert. Die heute sichtbaren Räume wurden seit 1615 durch die Anlage eines Kapuzinerklosters überformt. Der Viehmarkt entstand erst nach Auflösung des Klosters ab 1812. Durch kleinere Kanalaufschlüsse und Beobachtungen in der Nachkriegszeit hatte man hier ein größeres palastartiges Gebäude erwartet. Bei Ausschachtungsarbeiten zum Bau einer Tiefgarage und des Hauptgebäudes der Stadtsparkasse wurden ab Oktober 1987 die Thermen entdeckt. Teile der Anlage sind heute zusammen mit einer freigelegten Straße in einem gläsernen Schutzbau, der vom Architekten Oswald Mathias Ungers entworfen wurde, unter dem Viehmarkt zugänglich. Barbarathermen Bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts waren die Thermen am Viehmarkt für die wachsende Stadtbevölkerung zu klein geworden. Südlich des decumanus maximus wurden in der Nähe zur Mosel die Barbarathermen erbaut. Mit einer Fläche von 172 m × 240 m (42.500 m²) nahmen sie mehr als zwei Insulae ein und gehörten zu den größten Thermenbauten ihrer Zeit. Übertroffen wurden sie nur von den Trajansthermen in Rom sowie den späteren Thermenanlagen des 3. und 4. Jahrhunderts. Die Funde legen nahe, dass sie auch nach den ersten Germaneneinfällen bis zum Ende des 4. Jahrhunderts genutzt wurden. Im Mittelalter entwickelte sich in den teilweise aufrecht stehenden Ruinen die Vorstadt St. Barbara sowie vermutlich der Adelssitz der Familie De Ponte. Erst in der Neuzeit wurden die letzten aufrecht stehenden Reste abgetragen. Die freigelegten Grundmauern waren zeitweise wegen Sanierung nicht zugänglich, seit 2015 ist die Anlage wieder für Besucher geöffnet. Tempel Tempelbezirk Altbachtal In der Talmulde des Altbaches unterhalb des Amphitheaters wurden seit dem 19. Jahrhundert häufig Götterbilder und Terrakotten gefunden. Die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ließ hier 1926–1934 Ausgrabungen durch Siegfried Loeschcke durchführen, die unter bis zu 5 m starken Schwemmschichten erstaunliche Ergebnisse erbrachten. Auf einer Fläche von 5 ha wurden über 70 Tempel, Kapellen, heilige Bezirke und Priesterhäuser sowie ein Kulttheater freigelegt. Die heute im Rheinischen Landesmuseum befindlichen Fundstücke stellen die größte Sammlung von Kultdenkmälern aus einem geschlossenen Bezirk in der römischen Welt dar. Tempel am Herrenbrünnchen Nach dem Fund mehrerer Architekturteile des 1. Jahrhunderts oberhalb des Tempelbezirks im Altbachtal wurde auf dem Gelände des Weinguts Charlottenau 1909/1910 eine Grabung durch das Rheinische Landesmuseum durchgeführt. Freigelegt wurden auf einer Fläche von 65 × 23 m die Reste eines monumentalen Podiumstempels mit vorgelagerter Säulenvorhalle (Pronaos), Freitreppe und Altarpodium. Das Gebäude hatte bis zu 4,1 m starke Mauern. Gefundene Architekturteile lassen eine Tempelfront mit sechs 15 m hohen Säulen rekonstruieren, die Architrav und Giebel trugen. Mehrere aufwändig gestaltete Kapitelle im Trierer Dom, die als Ersatz für nach einem Brand im 5. Jahrhundert geborstene Granitsäulen verbaut wurden, stammen möglicherweise als Spolien vom Tempel am Herrenbrünnchen. Asklepius-Tempel Nahe der Römerbrücke und nördlich der Barbarathermen befand sich einer der monumentalsten Tempel der römischen Stadt. Seine Reste wurden 1977–1979 beim Bau einer Tiefgarage freigelegt. Die Anlage nahm eine Fläche von 170 m × 88 m und damit mehr als eine komplette Insula-Breite ein. Zu seiner Erbauung wurden am Fluss erhebliche Aufschüttungen zum Hochwasserschutz vorgenommen. Zusammen mit den Großbauten der Barbarathermen dürfte der Tempel das Stadtbild oberhalb der Moselbrücke weitgehend dominiert haben. Eine heute verschollene Marmorskulptur sowie die Inschrift eines Finanzprokurators weisen auf die Weihung an den Gott Asclepius. Am Nordrand der Anlage wurde 1993 ein außergewöhnlich großer Münzschatz entdeckt. Er enthielt 2570 aurei mit einem Gesamtgewicht von 18,5 kg. Die spätesten Münzen stammen aus der Regierungszeit des Septimius Severus, der Münzhort befindet sich heute im Rheinischen Landesmuseum. Die Errichtung des Tempels selbst ist aufgrund des Fundmaterials im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts n. Chr. anzusetzen. Lenus-Mars-Tempel und Theater Ein weiteres großes Tempelareal wurde auf dem westlichen Moselufer am Fuß des Markusberges entdeckt. Es befand sich an einem leichten Taleinschnitt, wo die später als Heideborn als heilkräftig verehrte Quelle austritt. Im Bereich des Irminenwingert (deshalb auch als Tempel am Irminenwingert bezeichnet) konnte ein ummauerter Bezirk in Form eines unregelmäßigen Vierecks von über 100 Meter Seitenlänge nachgewiesen werden. Die Gesamtanlage mit Herberge, Haupttempel und Kulttheater wird als treverisches Nationalheiligtum mit monumentaler Ausstattung angesprochen. Verehrt wurde hier die lokale Gleichsetzung des Gottes Mars mit dem treverischen Lenus, der auch in anderen regionalen Heiligtümern wie dem Martberg eine bedeutende Rolle spielte. An der Ausstattung der Anlage zeigt sich auch der weniger kriegerische Charakter des Lenus, der eher als Heilgott verehrt wurde. Nach Ausweis der Münzreihe wurde die Anlage von der vorrömischen Zeit bis in die Zeit Gratians († 383 n. Chr.) genutzt. Römerbrücke Die heute sichtbare Römerbrücke über die Mosel besaß mindestens zwei Vorgängerbauten, die archäologisch nachgewiesen wurden. Dies erklärt sich mit der Lage an den römischen Fernstraßen, die Römerbrücke hatte aber auch innerstädtischen Verkehr zum inschriftlich auf dem westlichen Ufer nachgewiesenen Vicus Voclanionum sowie dem dortigen Lenus-Mars-Tempel aufzunehmen. Der dendrochronologische Nachweis einer Brücke im Jahr 18/17 v. Chr. ist somit ein wichtiger Fixpunkt für die Gründung von Augusta Treverorum. Diese erste hölzerne Brückenkonstruktion hat anscheinend bei den von Tacitus erwähnten Kämpfen im Bataveraufstand im Jahr 69 Schaden genommen. Der Bau einer Pfahlrostbrücke lässt sich auf das Jahr 71 in die Regierungszeit Kaiser Vespasians fixieren. Sie erhielt mächtige, fünfeckige Strompfeiler aus bis zu 31 cm dicken Eichenstämmen, die in den Fluss gerammt wurden. Die Brückenpfeiler bestanden aus Kalkstein, die Fahrbahn wurde von einer Balkenbinderkonstruktion getragen. Die heutige Römerbrücke entstand zwischen 144 und 155 unter Antoninus Pius. Oberhalb der bestehenden Brücke wurden neue Strompfeiler errichtet, die aber nicht mehr aus Holzpfählen, sondern aus Kalksteinquadern bis zu sechs Lagen bestanden, weshalb diese Brücke als Steinpfeilerbrücke bezeichnet wird. Da am stadtseitigen Ufer in der frühen Kaiserzeit erhebliche Aufschüttungen vorgenommen wurden, benötigte diese Brücke nur noch neun statt elf Pfeiler. Türme und Tore an beiden Brückenköpfen schützten das Bauwerk. Vermutlich wegen des erhöhten Wasserstandes durch die Verengung des Flusses und Problemen mit Hochwasser erhielt die Brücke zunächst keine massive Steinwölbung, sondern eine Fahrbahn aus Holz, die regelmäßig erneuert werden musste. Diese wurde erst 1343 unter Erzbischof Balduin von Luxemburg hinzugefügt. Bedeutend sind die zahlreichen Flussfunde aus dem Brückenbereich, die im Rheinischen Landesmuseum ausgestellt werden. Darunter befinden sich Werkzeuge, Münzen (als Flussopfer), Bleiplomben, Schmuck, Kleinbronzen und sogar Steindenkmäler. Wasserversorgung Die Versorgung der Stadt mit Trinkwasser wurde durch die geographische Lage besonders begünstigt. Neben dem Flusswasser der Mosel konnten mehrere von Osten in die Trierer Talweite einmündende Bäche genutzt werden. Im Stadtgebiet wurden Quellaustritte gefasst und an die örtlichen Wasserleitungen angeschlossen. Auch heilkräftige Quellen wie der sogenannte Römersprudel südöstlich der Stadt wurden mit Quellfassungen versehen. Auf der Niederterrasse wurden im privaten Bereich zusätzlich Brunnen auf grundwasserführende Schichten gegraben, auf der Mittelterrasse reichten diese auf Schichten im schiefrigen Untergrund mit zu Tal fließendem Wasser. Eine Kanalleitung führte von einer Quelle am Heiligkreuzberg zu einer Verteilerkammer in der Nähe des Tempels am Herrenbrünnchen. Zwei nacheinander errichtete Verteilerbecken wurden auf dem Areal der Kaiserthermen freigelegt. Für die Gründungsstadt des 1. Jahrhunderts waren diese Einrichtungen zunächst ausreichend. Um den Bedarf der wachsenden Stadt zu decken, errichtete man im frühen 2. Jahrhundert die Ruwertal-Wasserleitung. Sie führte Wasser, das bei Waldrach aus der Ruwer abgezweigt wurde, über eine Strecke von 12,798 km in die Stadt, die sie beim Amphitheater erreichte. Es handelt sich um einen gemauerten begehbaren Kanal, der streckenweise (Taleinschnitt von Kürenz, nachgewiesen an den Kaiserthermen) über Aquädukt-Konstruktionen geführt wurde. Die weitere Verteilung in der Stadt erfolgte durch gemauerte Kanäle, die mit wasserfestem Kalkmörtel mit Ziegelmehlzuschlag ausgekleidet waren, in den Außenbezirken sind gelegentlich Leitungen in Holzstämmen mit eisernen Deichelringen nachgewiesen. Von gehobener Ausführung sind Wasserleitungen aus Blei, wie die Holzstämme waren sie gewöhnlich etwa 3 m (10 römische Fuß) lang. Spätantike Bauten Bereits im 2. Jahrhundert war im Nordosten der Stadt durch Zusammenlegung von vier insulae ein Repräsentations- und Verwaltungsbereich entstanden, dessen Kern eine zentrale Halle bildete, die als Legatenpalast angesprochen wird. Die Umgestaltungen ab Beginn des 4. Jahrhunderts im Rahmen der Einrichtung der kaiserlichen Residenz konzentrieren sich ebenfalls auf diesen Bereich, wenn auch kleinere Baumaßnahmen am Forum und den Straßen der Stadt belegt sind. Durch Niederlegung eines Wohnviertels wurde Platz für den Monumentalbau der Kaiserthermen geschaffen. Auf dem ehemaligen Legatenpalast wurde die Palastaula (Konstantinbasilika) erbaut, die mit umliegenden Vorhöfen und Nebengebäuden den Kern der Residenz bildete. Gleichzeitig deutet die Verfüllung mit Bauschutt eines Altarms der Mosel, der bis in diese Zeit einen See gebildet hatte, auf großflächige Abbrucharbeiten innerhalb der Stadt hin. Ebenfalls in der Nähe des Hafens an der Mosel entstand um 300 auf dem heutigen Gelände der Vereinigten Hospitien eine große Doppelspeicheranlage (horrea, ca. 70 m × 20 m), die der Versorgung der Stadt und des kaiserlichen Hofs diente. Erhalten sind davon mehrere durch Blendarkaden gegliederte Wände. Die Bautätigkeit geriet allerdings schon in konstantinischer Zeit ins Stocken. Wahrscheinlich war sie erst unter Gratian um 379 vollständig abgeschlossen. Basilika, Kaiserthermen und der Circus bildeten eine Einheit als Palastbezirk. Das Nebeneinander von Circus und Residenzbereich ist bewusst hergestellt als Parallele zur stadtrömischen Topographie (Circus Maximus und Palatin). Sie wiederholt sich beim Circus Neronis (in den Gärten des Caesar), der Villa des Maxentius an der Via Appia und der Residenz des Galerius in Thessaloniki. Kaiserthermen Die Kaiserthermen gehören heute zu den bekanntesten Römerbauten Triers. Die Zeit ihrer Errichtung ist nicht vollkommen geklärt; wahrscheinlich sind sie nach 294 entstanden, als Trier zur Residenz ausgebaut wurde. Ob sie von Constantius I. oder dessen Sohn Konstantin in Auftrag gegeben wurden, ist unbekannt. Die älteste Besiedlung des Areals bestand aus einfachen Holzgebäuden mit Kellern und Vorratsgruben; sie ist wahrscheinlich vor der Mitte des 1. Jahrhunderts anzusetzen. Danach entstanden zwei größere Steingebäude, die später zu einem prachtvollen Wohnhaus zusammengefasst wurden. Die reichhaltigen Funde (darunter das Polydus-Mosaik) belegen die Nutzung des Gebäudes bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts. Die daraufhin entstandene Thermenanlage gehört nach der ursprünglichen Konzeption zu den größten Bauten dieser Art im Römischen Reich; größer waren nur die stadtrömischen Thermenanlagen der Kaiser Trajan, Caracalla und Diokletian. Der Grundriss entspricht dem sogenannten kleinen Kaisertyp, der aber schon von den älteren Barbarathermen geläufig ist. Allerdings wurden die Kaiserthermen niemals wirklich in Betrieb genommen. Vermutlich bereits mit der Verlegung der Residenz in den Osten nach 324 blieben die Arbeiten daran liegen, obwohl große Teile des Baus bereits über das Erdgeschoss hinaus vollendet waren. Erst mit Valentinian I., der Trier wieder zu seiner Residenz wählte, wurden die Arbeiten wieder aufgenommen, allerdings mit einer völlig anderen Konzeption. Die bereits fertiggestellten Badeeinrichtungen wurden entfernt und der westliche Teil mit dem frigidarium abgerissen. Der Rundsaal des tepidarium wurde als Eingangshalle verwendet, die palaestra deutlich vergrößert und zu einem gepflasterten Platz umgewandelt. Die Deutungen variieren zwischen Wohnpalast, Kaiserforum und – nach Meinung des Ausgräbers am wahrscheinlichsten – einer Kaserne für die kaiserliche Leibgarde (scholae palatinae). Im Mittelalter wurden große Teile der Anlage in die Stadtbefestigung integriert, wodurch etwa die über 20 Meter hohe Ostfassade erhalten blieb. Konstantinbasilika Obwohl Name und Erscheinung der heutigen Konstantin(s)basilika auf ein antikes Kirchengebäude hinzuweisen scheinen, ist das Bauwerk ursprünglich als Empfangssaal der kaiserlichen Residenz errichtet worden. Der häufig verwendete Name Palastaula oder Aula Palatina trifft es zwar genauer, ist aber im klassischen Latein unbelegt. Die Basilika besitzt eine Länge von 69,8 m (einschließlich der 12,4 m langen Apsis) bei einer Breite von 27,2 m. In der Antike besaß sie eine Höhe von etwa 30 m. Die 2,7 m dicken Außenmauern bestanden aus Ziegelmauerwerk und waren außen verputzt. Teile aus Rotsandstein sind moderne Ergänzungen. Der Innenraum wies eine qualitätvolle Wandverkleidung auf: Langhaus und Apsis besaßen Fußboden und Wandverkleidung aus eingelegten Marmorplatten (opus sectile) bis auf die Höhe der obersten Fenstergesimse, wovon sich Reste und vor allem die Löcher der eisernen Halterungen erhalten haben. Darüber folgten Stuckarbeiten bis zur frei tragenden Decke, die der heutigen, 1955 eingezogenen Kassettendecke nicht unähnlich gewesen sein dürfte. Bemerkenswert sind die Heizanlagen, durch die der 1600 m² große Innenraum über ein dreigeteiltes Hypokaustum mit fünf Praefurnien heizbar war. Die Basilika war in der Antike kein allein stehendes Gebäude. Im Süden befand sich vor dem Haupteingang eine ebenfalls marmorverkleidete Vorhalle, außen waren Portiken mit Innenhöfen angelehnt. Die Reste dieser Gebäude sind entweder konserviert oder im Pflaster des heutigen Platzes markiert. Die Palastaula wurde vermutlich mit der Umgestaltung zur Residenz in den Jahren 305–311 als Repräsentationsbau errichtet. Das monumentale Gebäude diente dabei als Kulisse für Audienzen, Empfänge und das Hofzeremoniell, wobei der Kaiserthron in der Apsis anzunehmen ist. Für den Großbau, der auch eine Straßenkreuzung überdeckte, waren erhebliche Planierungen notwendig. Im westlichen Block befand sich zuvor der Amtssitz eines hohen kaiserlichen Beamten. Nach dem Ende der römischen Herrschaft wurde der ausgebrannte Bau dem fränkischen Königsgut zugeschlagen. 902 gelangte die Ruine als Schenkung an den Trierer Bischof. In der Folge wurde die Basilika zu einer burgartigen Anlage umgebaut, die Apsis zum Turm geschlossen, während im ummauerten Innenraum der Kirche Wirtschafts- und Kellergebäude angelegt wurden. Nach 1614 wurde die Süd- und Ostwand abgerissen, das Mauerwerk in das neue Kurfürstliche Palais integriert oder als Innenhof genutzt. Nach einer Plünderung durch französische Revolutionstruppen 1794 diente die Anlage als Kaserne und Militärlazarett. 1844 ordnete der preußische König Friedrich Wilhelm IV. den Wiederaufbau als Gotteshaus für die evangelische Gemeinde Triers an. Im Zweiten Weltkrieg wurden Palais und Basilika stark zerstört. Der Wiederaufbau konnte erst 1954 angegangen werden und ermöglichte Grabungen und genaue Aufnahmen der Bausubstanz. Dom Der Übergang der Stadt von der Spätantike zum Mittelalter ist am Dom als Keimzelle des mittelalterlichen Trier abzulesen. Entsprechend wurde er seit 1843 archäologisch erforscht. Größere Ausgrabungen fanden nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1981 statt; sie stellten als älteste Schicht ein vornehmes römisches Wohnquartier des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. fest. Dazu gehörte ein reich mit Wand- und Deckenmalereien verzierter Prunksaal. Unter der Vierung des Doms sind Teile des Gebäudes konserviert, die rekonstruierten Fresken werden im Dom- und Diözesanmuseum ausgestellt. Die reiche Ausstattung hat dazu geführt, dass die Anlage teilweise auch einem spätantiken Palastbau zugeschrieben wird. Die Wohnbebauung wurde im frühen 4. Jahrhundert abgerissen und planiert. Es entstand eine Doppelkirchenanlage mit zwei nach Osten ausgerichteten, dreischiffigen Basiliken. Die Säulen der Nordbasilika bestanden aus Odenwälder Granit, der vom Felsenmeer bei Lautertal über Rhein und Mosel hierher transportiert wurde. Der vor dem Dom liegende Domstein weist noch darauf hin. Die Breite der beiden Kirchenanlagen einschließlich der Querbauten und Peristylhöfe lag vermutlich zwischen 40 (Nordbasilika) und 30 Meter (Südbasilika unter der heutigen Liebfrauenkirche) bei einer Länge von je 150 m. Zwischen beiden Kirchen befand sich ein quadratisches Baptisterium, das heute im Pflaster des Domfreihofs markiert ist. Nach einer Zerstörung gegen Ende des vierten Jahrhunderts wurde die nördliche Basilika umgebaut und im Bereich der Vierung ein Quadratbau mit einer Seitenlänge von 41,5 m errichtet. Entlang der Windstraße an der Nordseite des Doms ist das zugehörige Ziegelmauerwerk noch bis auf eine Höhe von 30 m sichtbar. Gräberfelder Die Gräberfelder der mittleren Kaiserzeit sind nur in Teilen erforscht und ihre Ausdehnung größtenteils unbekannt. In der frühesten Siedlungsphase bis um die Mitte des 2. Jahrhunderts wurden kleinere siedlungsnahe Nekropolen nahe der Mosel und entlang der Olewiger Straße zum Amphitheater hin angelegt. Mit dem Bau der Stadtmauer mussten diese Gräberfelder aufgegeben werden. Die Gräberfelder südlich und nördlich der Stadt wurden verlagert, sodass einige frühere Bestattungen auch innerhalb des später ummauerten Areals entdeckt wurden. Die übliche Bestattungsform dieser Zeit war die Brandbestattung. Körpergräber kommen erst ab dem 2. Jahrhundert auf, Sarkophage sind ab der Mitte des 2. Jahrhunderts nachgewiesen. Nach dem Bau der Stadtmauer befanden sich die größten Nekropolen entlang der nördlichen und südlichen Ausfallstraßen. Im nördlichen Gräberfeld konzentrierten sich die Bestattungen zunächst entlang der Straße, die leicht westlich der heutigen Paulinstraße verlief. Nach der Trockenlegung eines Moselaltarms konnte auch dieses Areal bis zur heutigen Steinhausenstraße für Bestattungen genutzt werden, sodass sich hier insbesondere Bestattungen des 4. Jahrhunderts finden. Das südliche Gräberfeld erstreckte sich entlang der heutigen Matthiasstraße. Aus der mittleren Kaiserzeit sind mehr als 2000 Inventare von Brandgräbern an das Landesmuseum gelangt. Spätere Sarkophagbestattungen konzentrierten sich unter der dortigen Kirche, im Nordwesten wurde das Gräberfeld durch den Töpfereibezirk begrenzt. Östlich der Stadt vor der Stadtmauer nördlich des Amphitheaters fanden sich Brand- und Körpergräber, die heute überbaut sind. Ein Gräberfeld mit Körperbestattungen des 3. und 4. Jahrhunderts befindet sich am Hang oberhalb des Amphitheaters. Aus diesem Gräberfeld sind reiche Beigaben aus Glas- und Keramikgefäßen bekannt. Auf dem westlichen Moselufer befanden sich Friedhöfe in den heutigen Stadtteilen Trier-West/Pallien und Euren entlang der nach Reims führenden Straße. Die oberirdische Gestaltung der Gräber konnte sehr verschieden sein. Steindenkmäler von den zugehörigen Gräberstraßen sind im Trierer Land besonders mit den Neumagener Steindenkmälern und der Igeler Säule bekannt. Besonders Wohlhabende ließen sich gelegentlich unterirdische Grabkammern mit darüberliegendem Tempelbau errichten, wie sie etwa auf dem West-Friedhof, mit der Grabkammer am Reichertsberg oder dem Grutenhäuschen konserviert wurden. Nicht sicher geklärt ist, ob es sich bei dem sogenannten Franzensknüppchen auf dem Petrisberg oberhalb von Trier um einen monumentalen Grabtumulus handelt. In spätantiker Zeit konzentrierten sich die Gräber an den Grablegen von Heiligen, Bischöfen und Märtyrern. Aus diesen außerhalb der Stadtmauern gelegenen Grabkapellen entwickelten sich mittelalterliche Kirchen. Eine parallele Entwicklung lässt sich in vielen spätrömischen Städten nachweisen, in Trier ist sie mit den spätrömischen Gräbern unter der Paulinuskirche, der Benediktinerabtei St. Matthias und der Reichsabtei St. Maximin an drei Orten fassbar. Umland Bereits in der mittleren Kaiserzeit bildeten sich im Umland der Stadt größere Villae rusticae, die von den kurzen Wegen zu den Absatzmärkten profitierten und deshalb – wie im direkten Umfeld vieler römischer Städte – bedeutend größer ausgebaut wurden. Beispiele für solche Anlagen findet man in Mehring und der Villa Otrang. Waren die Anlagen zur Zeit ihrer Gründung noch auf Ackerbau und Viehzucht ausgelegt, so nahmen Rebflächen im Verlauf des 3. und 4. Jahrhunderts erheblich zu. In vielen Anlagen wurde zu dieser Zeit ein größeres Kelterhaus hinzugefügt. Dies könnte mit der Anwesenheit des Kaiserhofs in Verbindung stehen. Allerdings soll auch Kaiser Probus am Ende des 3. Jahrhunderts eine Bestimmung erlassen haben, mit der alte Einschränkungen des Weinanbaus in den Provinzen aufgehoben wurden. Die Anwesenheit der kaiserlichen Verwaltung führte dazu, dass einige dieser Anlagen im 4. Jahrhundert besonders prächtig ausgebaut wurden oder monumentale Anlagen neu entstanden. Ein herausragendes Beispiel ist die Villa von Welschbillig, vor deren Hauptfront sich ein großes Wasserbassin mit ursprünglich 112 Hermen befand. Ihre Lage im Gebiet der Langmauer deutet auf einen kaiserlichen Domänenbetrieb hin. Ähnliche Funktionen werden auch bei den bedeutenden spätantiken Palastanlagen von Konz (Kaiservilla von Konz) und Trier-Pfalzel (Palatiolum) angenommen. Als älteste Römerstraße der Region gilt die von Agrippa angelegte Verbindung von Lyon über Metz nach Trier. Die streckenweise gut erhaltene Straße führte als Römerstraße Trier–Köln weiter über die Eifel an den Rhein. Die bekannteste Römerstraße nach Trier ist die nach dem römischen Dichter und Staatsmann Ausonius, der längere Zeit in Treveris tätig war, benannte Ausoniusstraße. Sie verlief über den Hunsrück nach Bingium, wo sie die Römische Rheintalstraße erreichte. Weitere Straßenverbindungen führten unter anderem über Coriovallum (Heerlen in den Niederlanden) zur Colonia Ulpia Traiana (nahe Xanten), nach Straßburg und entlang der Mosel nach Koblenz (Confluentes). In der Spätantike mussten diese Straßen mit Festungsbauten zusätzlich geschützt werden, etwa in Neumagen, Bitburg und Jünkerath. Die Erforschung der römischen Stadt Die jahrhundertelang sichtbaren Ruinen der Römerstadt bewirkten, dass man sich in allen nachfolgenden Epochen mit der römischen Vergangenheit beschäftigte. Benachbarte Städte mit römischer Vergangenheit wie Reims, Toul und Metz versuchten im Mittelalter, ihre mythologische Gründung auf Remus oder die Könige Tullus Hostilius bzw. Mettius Rufus zurückzuführen. Wohl um den Vorrang Triers zu verdeutlichen, entstand die Sage, nach der Trier von Trebeta, einem Sohn des Ninus, gegründet worden sei. Dieser soll von seiner Stiefmutter Semiramis aus Assyrien vertrieben worden sein. Nach Orosius geschah dies 1300 Jahre vor der Gründung Roms. Das Grabmal des Trebeta glaubte man im sogenannten Franzensknüppchen auf dem Petrisberg zu erkennen. Die vermeintliche Grabinschrift des Trebeta ist in Trierer Handschriften seit etwa 1000 belegt und wurde später in die Gesta Treverorum und die Chronik Ottos von Freising übernommen. Im 15. Jahrhundert entstand daraus der Hexameter Ante Romam Treveris stetit annis mille trecentis, der zunächst an der Steipe angeschrieben wurde; heute befindet er sich am Roten Haus am Trierer Hauptmarkt. Bereits im Humanismus wurde die Trebeta-Sage angezweifelt, zuerst von Willibald Pirckheimer 1512. Gleichzeitig begann eine intensivere Auseinandersetzung mit der römischen Hinterlassenschaft, besonders den Bildwerken und Inschriften. Zur Sammlung des Grafen Peter Ernst I. von Mansfeld in Clausen gehörten einige römische Funde aus Trier. Ebenfalls wird Trier im Reisebericht der Geographen Abraham Ortelius und Johannes Vivianus im 16. Jahrhundert erwähnt. Von großer Bedeutung und seiner Zeit weit voraus war das Werk des Jesuiten Alexander Wiltheim, der mit großer Genauigkeit römische Fundstellen kartierte und Abschnitte über Augusta Treverorum, Topographie und Wirtschaftsgeographie der Arduenna silva, römische Straßen und Villen enthielt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts befahl der Trierer Erzbischof Philipp Christoph von Sötern, die Ruwerwasserleitung zu öffnen, Karl Kaspar von der Leyen ließ Grabungen in den Barbarathermen durchführen. Bedeutende Impulse erhielt die Archäologie in Trier nach der Französischen Revolution und in der napoleonischen Zeit. 1801 wurde aus dem Trierer Bildungsbürgertum die Gesellschaft für nützliche Forschungen zu Trier gegründet, die sich bald besonders der Erforschung der römischen Zeit widmete. Mit der Porta Nigra wurde in napoleonischer Zeit begonnen, die Ruinen der Römerzeit freizulegen. In der preußischen Zeit wurde die Archäologie vom Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. gefördert. 1820 ließ der preußische Regierungs- und Baurat Carl Friedrich Quednow die regierungseigene Sammlung römischer Steindenkmäler in der Porta Nigra und den Kaiserthermen ausstellen. Ebenfalls 1820 veröffentlichte der Autodidakt Quednow eine Beschreibung der Alterthümer in Trier und dessen Umgebungen aus der gallisch-belgischen und römischen Epoche. Die Regierungssammlung wurde erst 1844 mit der Sammlung der Gesellschaft für nützliche Forschungen zusammengefasst. Zu dieser Zeit bestand noch ein Gegensatz zwischen dem katholisch geprägten Bildungsbürgertum und der preußischen Verwaltung. Er konnte erst 1877 mit der Gründung des Provinzialmuseums Trier (heute Rheinisches Landesmuseum Trier) überwunden werden. Damit war die Erforschung, der Erhalt und die museale Präsentation der Trierer Römerfunde endgültig zu einer staatlichen Aufgabe geworden. Die Funktion des Rheinischen Landesmuseums als „grabendes Museum“ besteht bis heute fort und ist im rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetz verankert. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg rückten größere Grabungskampagnen die Trierer Denkmäler in das öffentliche Interesse. Darunter befanden sich die Ausgrabungen des Amphitheaters, der Kaiser- und Barbarathermen sowie des Tempelbezirks im Altbachtal. Der Bau der Trierer Kanalisation 1899–1906 erlaubte eine genauere Erforschung des Stadtplans der antiken Metropole. Mit den Grabungen dieser Zeit sind die Namen bekannter Pioniere der Altertumsforschung verbunden, die am Provinzialmuseum tätig waren, darunter Felix Hettner, Hans Lehner, Wilhelm von Massow und Siegfried Loeschcke. Die großflächigen Zerstörungen durch Bombenschäden haben in der Nachkriegszeit einige Flächen für die Archäologie zugänglich gemacht, die zuvor überbaut waren, so im Dom und der Palastaula. Der verkehrsgerechte Ausbau der Trierer Innenstadt seit den 1960er Jahren und weitere Großprojekte führten bei gleichbleibender finanzieller und personeller Ausstattung zur Stagnation der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zum 2000-jährigen Jubiläum der Stadt 1984 erschienen zwei Sonderbände zur Gründung von Augusta Treverorum und zur spätantiken Kaiserresidenz. Als Folge der gesteigerten Aufmerksamkeit konnte in den Jahren 1984–1991 eine Erweiterung des Landesmuseums realisiert werden. Gleichzeitig war das Museum aber durch große Flächengrabungen (Viehmarkt 1986/87, Großgrabung St. Maximin 1978–1994) ausgelastet. Oft mussten die üblichen Grabungen durch baubegleitende Untersuchungen ersetzt werden, obwohl tiefgreifende Baumaßnahmen wie der Bau der Tiefgarage am Kaufhaus Horten und hinter der Kreisverwaltung im Palastgarten schnelle Ausschachtungen großer innenstädtischer Flächen bis unter die römischen befundtragenden Schichten mit sich brachten. Die zuvor jährliche Fundchronik in der Trierer Zeitschrift brach zwischen 1964 und 1998 für das Stadtgebiet ab, wichtige Veröffentlichungen der Grabungsergebnisse und der Sammlungsbestände unterblieben. Erst seit 1997 kann das Museum dank erhöhter Landes- und Drittmittel die regelmäßige Publikation der Ergebnisse sicherstellen. Um genügend Vorlaufzeit für Ausgrabungen zu erhalten, werden seit 1998 vermehrt Investorenverträge mit den Bauherren abgeschlossen, die einerseits genügend Zeit für wissenschaftliche Untersuchungen, andererseits verbindliche Fristen zur Freigabe des Baugrundes garantieren. Literatur Gesamtdarstellungen Heinz Heinen: Trier und das Trevererland in römischer Zeit. 2. leicht überarbeiteter und um einen bibliografischen Nachtrag erweiterter Nachdruck, 3. unveränderter Nachdruck. Spee, Trier 1993, ISBN 3-87760-065-4. Heinz Cüppers (Hrsg.): Die Römer in Rheinland-Pfalz. Lizenzausgabe, Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-933203-60-0, S. 577–647. Hans-Peter Kuhnen: Trèves – Augusta Treverorum. In: Didier Bayard, Jean-Luc Collart, Noël Mahéo (Hrsg.): La marque de Rome. Samarobriva et les villes du nord de la Gaule. Musée de Picardie, Amiens 2006, S. 63–72 (= Ausstellungskatalog Musée de Picardie Amiens) ISBN 978-2-908095-38-8. Gabriele Clemens, Lukas Clemens: Geschichte der Stadt Trier. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55618-0, S. 7–63. Frank Unruh: Trier: Biographie einer römischen Stadt von Augusta Treverorum zu Treveris. Philipp von Zabern, Darmstadt 2017. ISBN 978-3-8053-5011-2. Archäologische Führer und Römerbauten Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Das römische Trier. Theiss, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1517-0 (= Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland 40). Römerbauten in Trier. Schnell & Steiner, Regensburg 2003, ISBN 3-7954-1445-8 (= Führungsheft 20, Edition Burgen, Schlösser, Altertümer Rheinland-Pfalz). Rheinisches Landesmuseum Trier (Hrsg.): Rettet das archäologische Erbe in Trier. Zweite Denkschrift der archäologischen Trier-Kommission. Trier 2005, ISBN 3-923319-62-2 (= Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier 31). Rheinisches Landesmuseum Trier (Hrsg.): Führer zu archäologischen Denkmälern des Trierer Landes. Trier 2008, ISBN 978-3-923319-73-2 (= Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier 35). Frühzeit Edith Mary Wightman: Roman Trier and the Treveri. Rupert Hart-Davis, London 1970, ISBN 0-246-63980-6. Rheinisches Landesmuseum Trier (Hrsg.): Trier – Augustusstadt der Treverer. 2. Auflage. Philipp von Zabern, Mainz 1984, ISBN 3-8053-0792-6. Hans-Peter Kuhnen: Die Anfänge des römischen Trier – Alte und neue Forschungsansätze. In: Gundolf Precht (Hrsg.): Genese, Struktur und Entwicklung römischer Städte im 1. Jahrhundert n. Chr. in Nieder- und Obergermanien. Kolloquium vom 17. bis 19. Februar 1998 im Regionalmuseum Xanten. Von Zabern, Mainz 2001, ISBN 3-8053-2752-8 (= Xantener Berichte, Band 9), S. 143–156. 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168083
https://de.wikipedia.org/wiki/Arp%20Schnitger
Arp Schnitger
Arp Schnitger (* 1648, vermutlich in Schmalenfleth; ~ 9. Juli 1648 in Golzwarden; begraben 28. Juli 1719 in Neuenfelde) war einer der berühmtesten Orgelbauer seiner Zeit und der Vollender der norddeutschen Barockorgel. Sein Wirkungskreis erstreckte sich über Nordeuropa, wo er über 100 Orgelneubauten schuf und stilbildend war. Neben der Hauptwerkstatt in Hamburg arbeiteten Gesellen und Mitarbeiter in Filialen zwischen Groningen und Berlin, um von dort aus neue Orgeln zu errichten oder ältere Werke zu unterhalten oder umzubauen. Schnitger konzipierte seine Werke mit rauschenden Mixturen und starken Bässen zum einen für die Begleitung des Gemeindegesangs. Zum anderen dienten sie der Darstellung der norddeutschen Orgelschule, die sich in den von der Kaufmannschaft organisierten Abendmusiken der Hansestädte entfalten konnte. Etwa 30 seiner Instrumente sind in ihrer Grundsubstanz noch erhalten. Leben Geburtsdatum Das genaue Geburtsdatum ist nicht bekannt. Einer Vermutung des Schnitger-Forschers Gustav Fock entspringt die inzwischen weit verbreitete Angabe, Schnitger sei am 2. Juli 1648 geboren. Dies lässt sich jedoch mangels Belegen nicht stützen. Belegt ist sein Taufdatum am 9. Juli 1648 in der Golzwarder Kirche. Herkunft Arp Schnitger entstammte einer angesehenen Tischlerfamilie, die über Generationen hinweg ihren Wohnsitz in Schmalenfleth (Brake) hatte. Der Familienname Schnitger weist auf das Gewerbe der Herkunftsfamilie hin: Arp Schnitgers Großvater Berendt war „Snitker“ (niederdeutsch für „Schnitzer“), also Tischler. Der Vater Arp Schnitger sen. (* 1610/15–1680) war Tischlermeister, ist aber auch bei Arbeiten an der Golzwarder Orgel nachgewiesen. Von dessen Frau sind nur der Vorname Katharina und das Todesjahr (1674) überliefert. Aus der Ehe gingen mindestens fünf Kinder hervor, von denen Arp wahrscheinlich das jüngste war. Bis 1695 verwendete er meist die Schreibweise „Schnitker“ oder „Schnittker“, danach bevorzugt „Schnitger“. Kindheit und Ausbildung Über Schnitgers Kindheit und Ausbildung ist wenig bekannt. Er wuchs zusammen mit seinen Geschwistern auf und erlernte wahrscheinlich das Handwerk seines Vaters (1662–1666). Historisch gesichert ist, dass er ab 1670 in Glückstadt an der Unterelbe Geselle bei seinem Verwandten Berendt Hus war. Vermutlich hat Schnitger dort in den Jahren 1666–1671 den Orgelbau erlernt. Die Fertigstellung der Stader Orgel von St. Cosmae 1673 war ein krönender Abschluss dieser Lebensphase. Befruchtend für Schnitger war die lebenslange Freundschaft mit Vincent Lübeck, der 1674–1702 Organist an St. Cosmae und 1702–1740 an Schnitgers größter Orgel in der Hamburger St.-Nikolai-Kirche war. Nach dem Tode seines Lehrherrn 1676 vollendete Schnitger mit 29 Jahren in Stade den Orgelneubau in St. Wilhadi und führte, zunächst im Auftrage der Witwe Hus, die Orgelwerkstatt weiter, seit 1677 als selbstständiger Meister. Handwerkliches Geschick und Wirkungskreis Schnitgers handwerkliches und künstlerisches Geschick sprach sich schnell herum. Er erhielt zunächst Aufträge aus der näheren Umgebung, bald aber kamen auch Anfragen aus Bremen und Hamburg. Von 1677 bis 1682 arbeitete Schnitger in seiner Stader Werkstatt und baute einige Orgeln, die noch bei Hus in Auftrag gegeben worden waren. Danach siedelte er nach Hamburg über, baute ab 1681 an Hamburger Kirchenorgeln und wurde mit dem Ablegen des Bürgereides am 1. September 1682 zum hansestädtischen Vollbürger. Noch im selben Jahr erhielt er seinen ersten großen Auftrag vom Kirchenvorstand der St.-Nikolai-Kirche, für die er eine Orgel mit 67 Registern, vier Manualen, Pedal und mehr als 4000 Pfeifen baute. Damals war diese Orgel vermutlich das größte Instrument der Welt und begründete Schnitgers internationalen Ruhm. Die größte Pfeife, das 32-füßige C, wog 860 Pfund. Diese Orgel wurde 1842 beim Großen Brand von Hamburg zerstört. Noch heute existiert dagegen die 1689–93 von Arp Schnitger in St. Jacobi (Hamburg) um- und teils neu gebaute Orgel mit 60 Registern, vier Manualen und Pedal, eine der größten erhaltenen Barockorgeln. Berühmte Orgelbauer und Komponisten besuchten diese Orgel, darunter die Orgelmeister und Komponisten Dieterich Buxtehude, 1703 vermutlich Georg Friedrich Händel und 1720 Johann Sebastian Bach. Schnitgers Wirkungsfeld lag vor allem in Norddeutschland und den Niederlanden, erstreckte sich aber über einen großen Teil Europas: Norddeutschland Niederlande, ab 1691, wo sich die Stadt Groningen (neben Stade und Hamburg) zu einem Zentrum für Schnitger und seine Schule entwickelte England, 1690 (eine Orgel) Russland, 1691 (für Peter den Großen), 1697 eine Orgel (Hausorgel) für einen Privatmann, sowie weitere Orgeln für mindestens zwei protestantische Kirchen der Moskauer Ausländervorstadt Dänemark (vermutlich), 1693 (eine Orgel) Portugal, 1701 und später (vier Orgeln) Spanien, nach 1702 (eine Orgel) Der Verbleib der nach England, Russland, Dänemark und Spanien gelieferten Instrumente ist unbekannt. 1699 wurden Schnitger die Orgelbauprivilegien für die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst, die Herzogtümer Bremen und Verden sowie 1702 für Schleswig und Holstein verliehen. 1708 erfolgte Schnitgers Ernennung zum königlich preußischen Hoforgelbauer, eine Position, die er bis 1714 innehatte. Familienleben Schnitger war in erster Ehe – Heirat im Jahre 1684 in Hamburg – mit der wohlhabenden Hamburger Kaufmannstochter Gertrud Otte (1665–1707) verheiratet. 1693 erwarb er den Hof seines Schwiegervaters Hans Otte in Neuenfelde, wohin er frühestens 1705 übersiedelte und wo er bis zu seinem Tode im Jahr 1719 eine weitere Orgelwerkstatt unterhielt, den so genannten „Orgelbauerhof“. Er wurde am 28. Juli 1719 in der St.-Pankratius-Kirche in Neuenfelde, neben der Kanzel im Familiengrab beigesetzt. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Alle vier Söhne ergriffen den Beruf des Vaters, aber nur zwei von ihnen sollten ihren bedeutenden Vater überleben und sein Werk weiterführen. Arp Schnitger jun. (1686–1712) stellte 1710 die Orgel in Weener auf und fand dort eine Frau, starb jedoch bereits zwei Jahre später in Hamburg an der Pest. Hans Schnitger (1688–1708) ertrank beim Baden in der Elbe. Johann Jürgen (Georg) Schnitger (* 1690) wirkte an verschiedenen Orgelprojekten mit und arbeitete einige Jahre zusammen mit seinem Bruder Franz Caspar Schnitger an der Orgel in Zwolle. Nach 1734 verliert sich von ihm jede Spur. Franz Caspar Schnitger (1693–1729) wirkte nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1719 in den Niederlanden, wo er unter anderem in Meppel, Alkmaar und Zwolle bedeutende, heute noch erhaltene Orgeln schuf. Arp Schnitgers älteste Tochter Agneta lebte nur sieben Monate (1685). Seine jüngere Tochter Catharina (1697–1736) war dreimal verheiratet und wohnte bis zu ihrem Tod auf dem „Orgelbauerhof“ in Neuenfelde. Schnitgers erste Frau starb im Jahre 1707. 1712 oder 1713 schloss Schnitger eine zweite Ehe mit der Organistenwitwe Anna Elisabeth Koch, geb. Dieckmann aus Abbehausen. Persönlichkeit Von Schnitger ist kein Bild nachgewiesen. Peter Golon hat die Vermutung geäußert, dass die Abbildung eines Organisten mit Perücke und Stadtrock an der Golzwarder Orgelempore aus dem Jahr 1701 den Meister von hinten zeigen könnte. In Golzwarden hatte Schnitger 1697–1698 eine Orgel zum Selbstkostenpreis von 380 Reichstalern völlig umgebaut, „weil ich in diesem Dorfe geboren und getauft bin“. Das Golzwarder Gemälde ist eines von vielen Gemälden an der Emporenbrüstung und weist keine weiteren Details auf, die auf einen Orgelbauer deuten. Insbesondere sind keine Insignien der Orgelbaukunst wie (Proportional)-Zirkel und Stimmhörner abgebildet, die etwa schon in Schnitgers Wappen (s. oben) in Neuenfelde vertreten waren. Ebenfalls auf einer Indizienkette beruht die umstrittene Identifizierung Schnitgers mit der Darstellung eines Musikers auf der Emporenbrüstung unterhalb der Orgel, der mit einer Notenrolle ein Ensemble dirigiert. Schnitger wuchs in einem kleinen Dorf im Oldenburgischen auf. Seine Korrespondenz zeugt von einer überdurchschnittlichen Allgemeinbildung, die auch Lateinkenntnisse einschließt. Zu vermuten ist deshalb, dass Schnitger noch die Golzwarder oder Ovelgönner Lateinschule besucht hat. Seiner Unterschrift fügte er das gehobene „manu propria“ statt des üblichen „mit eigen Hand“ hinzu. Für die zweite Auflage von Andreas Werckmeisters Orgel-Probe (1698) verfasste er ein Widmungsgedicht mit 12 Paarreimen im Alexandriner. Seine weit blickende Geschäftstüchtigkeit und wirtschaftliche Kompetenz wird aus der Koordinierung der verschiedenen Außenstellen der Werkstatt ersichtlich, die besonders um 1700 florierten. Seine Frömmigkeit tritt vor allem in seinen Briefen und Orgel-Kontrakten zu Tage. An einigen seiner Orgeln und in den meisten seiner Schriftstücke findet sich das Soli Deo Gloria. Nach dem Meijerschen Bericht begann Schnitger seine Manuskripte mit Sätzen wie „In Jesu Namen, Amen. – Gott allein die Ehre. – Ach Gott, laß mich erwerben ein ehrliches Leben und seliges Sterben.“ Schnitger wird von verschiedener Seite Uneigennützigkeit attestiert, insbesondere in seiner Oldenburgischen Heimat. Einige seiner Orgeln baute er „zur Ehre Gottes“ zum Selbstkostenpreis, wenn die Kirchengemeinden nicht vermögend waren oder gewährte Ratenzahlungen über viele Jahre. Der lutherischen Kirche in Groningen schenkte er 1699 eine einmanualige Orgel. Und als man sich dafür mit 100 Reichstalern erkenntlich zeigte, fügte er ein zweites Manual und drei neue Bälge hinzu. Über Schnitgers Selbstlosigkeit ist aus seinen letzten Jahren, als er manche familiären Schicksalsschläge und einen wirtschaftlichen Rückgang hinnehmen musste, ein persönliches Selbstzeugnis überliefert. Der Groninger Organist Siwert Meijer veröffentlichte 1853/1854 in der niederländischen Musikzeitschrift Caecilia drei Beiträge über Schnitger, mit denen die Arp-Schnitger-Forschung begann. Dabei übersetzte und paraphrasierte er (offenbar nicht immer fehlerlos) aus damals noch vorhandenen eigenhändigen Aufzeichnungen Arp Schnitgers, die seitdem verschollen sind. Darin berichtete Schnitger auch davon, warum er als berühmter Orgelbauer trotzdem nicht reich geworden war, denn Lebensende Eine aufreibende Reise nach Zwolle im Winter 1718/19, wo Schnitger Verhandlungen über einen Orgelneubau führte, hatte seiner Gesundheit schwer zugesetzt. Sein Todesdatum steht nicht fest. Verstorben ist er aber vermutlich nicht in Neuenfelde, sondern in Itzehoe, wo er seit 1715 an einer Orgel mit drei Manualen und 43 Registern gebaut hatte. Arp Schnitgers Begräbnis ist im Begräbnisbuch der Neuenfelder Kirchengemeinde unter dem 28. Juli 1719 eingetragen. Er und seine erste Frau und eine Tochter wurden in der Neuenfelder St. Pankratiuskirche beigesetzt, in der neben seiner Orgel auch das von ihm erbaute Kirchengestühl seiner Familie mit den Hausmarken von Schnitger und Otte und die teils von ihm beeinflusste barocke Ausstattung (Kanzelaltar) erhalten blieb. Die Kirchengruft wurde erst 1971 wiederentdeckt und zum Gedenken in ihrer Nähe eine schlichte Steinplatte in den Boden eingelassen. Werk Insgesamt hat Arp Schnitger etwa 105 Orgeln neu gebaut, 30 wesentlich umgebaut und 30 größere Reparaturen an Orgeln durchgeführt. Ungefähr 30 seiner Werke sind heute noch in einem Zustand erhalten, der ihre Bezeichnung als „Arp-Schnitger-Orgel“ rechtfertigt. Schwerpunkte seiner Tätigkeit lagen in den Städten Hamburg (23) und Bremen (9), dem Elbe-Weser-Gebiet (23), der Grafschaft Oldenburg (17), Magdeburg (7) sowie in der Provinz (10) und Stadt Groningen (7). Insgesamt wurden über 30 Orgeln außerhalb Deutschlands geliefert. Neben einigen Werken mit vier Manualen hat Schnitger 26 mit drei Manualen und fast 20 größere zweimanualige Orgeln mit selbstständigem Pedal gebaut. Aus Schnitgers Werkstätten gingen etwa 3000 neu gebaute Register hervor. Die nebenstehende Zeichnung für einen Orgelprospekt (für die Academiekerk in Groningen, datiert um 1698; diese Orgel wurde 1815/1816 in die benachbarte Der Aa-kerk umgesetzt) ist die einzige Zeichnung mit der von Schnitger verwendeten Maßangabe „Hamburger Fuß“, die noch erhalten ist (unter der Entwurfszeichnung ist der 12-teilige Maßstab erkennbar). Bauliche und klangliche Besonderheiten In baulicher und klanglicher Hinsicht zeichnen sich die Orgeln Schnitgers durch folgende Merkmale aus: Handwerklich wurden die Orgeln auf höchstem Niveau ausgeführt. Schnitger übernahm nicht selten solide gebaute und exzellent klingende Grundstimmen aus den Vorgängerorgeln, wenn sie sich in sein Klangkonzept einbinden ließen. Die Prinzipale (bei kostbaren Werken aus fast reinem Zinn) im Prospekt und die Mixturen verfertigte er aber fast immer selbst, teils auch die Zungenstimmen. Werkaufbau: Wie bei seinen Vorläufern Gottfried Fritzsche (Frietzsch) und der Orgelbauerfamilie Scherer sind Schnitgers Instrumente in voneinander getrennte Werke nach dem Hamburger Prospekt aufgeteilt (Hauptwerk, Rückpositiv in der Emporenbrüstung, Pedal bei größeren Orgeln in Pedaltürmen, zudem Brustpositiv und Oberwerk). Dies greift die Renaissance-Tradition der Mehrchörigkeit auf. Schnitger-Orgeln sind deshalb ideal für die Darstellung der Norddeutschen Orgelschule geeignet. Aufgrund des reich disponierten Pedalwerks sind bei Schnitgers Orgeln keine Pedalkoppeln vorgesehen. Bei kleineren Orgelwerken ist das Pedal angehängt. Der symmetrische Prospekt im Hauptwerk und in verkleinerter Form im Rückpositiv ist durch einen mittleren polygonalen Bassturm und an der Seite durch Spitztürme in Tenorlage charakterisiert. Dazwischen werden in meist zweigeschossig angeordneten Flachfeldern die Pfeifen des Diskants angeordnet. Das Pfeifenwerk des Pedals wird seitlich in separaten Pedaltürmen untergebracht. Insbesondere bei Spätwerken ist die Tendenz festzustellen, dass (stumme) dekorative Flachfelder Pedalturm und Hauptwerkgehäuse miteinander verbinden, wie der Orgel in Pellworm (1711), in Sneek (1711) oder Itzehoe (1719). Die in der Regel nicht geschwungenen, sondern geraden Kranzgesimse sind profiliert und haben an den Türmen Kröpfungen. Bereits kleine Orgeln besitzen einen lückenlosen Prinzipalchor als kraftvolles Klanggerüst, das unter anderem zur Begleitung des Gemeindegesangs verwendet werden konnte. Zu ihm gehören zwei Gruppen mehrchöriger Register: (1) die zweichörigen Aliquotregister Sesquialtera und Terzian (mit Quint- und Terzchor) sowie Rauschpfeife (Zusammenfassung von Quinte ′ und Oktave 2′) und (2) die Klangkronen (Mixtur, Scharf) mit drei bis acht Chören. Die Terz-haltigen Register der ersten Gruppe eignen sich sowohl für Soloregistrierungen wie zur Färbung des Plenumklangs. Die Klangkronen verleihen dem Plenum die charakteristische Brillanz. Sie bestehen aus Oktav- und Quintchören, meist mit Chorverdopplungen, oft mit einer vom Bass zum Diskant anwachsenden Chorzahl, und repetieren mehrfach. Der Spitzenchor der Manualklangkronen liegt in Klaviaturmitte auf 1′ oder ′. Eine Sonderform – in entsprechenden Registrierungen geeignet für figurative Passagen – ist die drei-chörige Quart-Sext-Zimbel (Stade, Cappel, Norden, Hamburg/Jacobi). Sie enthält im Repetitionsverlauf wechselnd die Besetzung Quarte + Sexte + Oktave und Oktave + Terz + Quinte, beginnend mit ′ + ′ + ′. Gegenüber der Renaissance mit ihren meist weit mensurierten Flötenstimmen sind Schnitgers Flöten wesentlich enger mensuriert, was einen helleren und eleganteren Klang ergibt. Hingegen ist bei den Zungenstimmen eine umgekehrte Entwicklung zu verzeichnen; sie sind dunkler und grundtöniger und betonen die Basslage. Im Pedal ist der Zungenchor voll ausgebaut. Die Zungen weisen die volle Becherlänge auf und zeichnen sich durch eine gute Stimmhaltung aus. Ihr kräftiger und grundtöniger Klang dient der Unterstützung des Gemeindegesangs, der erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts von der Orgel begleitet wurde. Die verschiedenen Einzelregister sind von großer polyphoner Qualität. „Die Eleganz der Ansprache der Pfeifen, das harmonische Verhältnis von Grund- und Obertönigkeit, die Verschmelzungsfähigkeit von Principalen und Zungen sowie die unterschiedlichen Charaktere der Flöten vereinigen sich zu einer erstaunlichen Klangfülle.“ Gegenüber süddeutschen Orgeln fällt in Schnitgers Werken der große Anteil an Zungenstimmen auf (in den Manualwerken auch kurzbechrige). In der Regel wird eine mitteltönige Stimmung angelegt, um eine große Klangreinheit zu erzielen. Nur auf ausdrücklichen Wunsch scheint es (später) zu Modifikationen hin zu einer wohltemperierten Stimmung gekommen zu sein. Bei Schnitger selbst sind solche Modifikationen nicht nachweisbar. Bei den Stadtorgeln ist die Disposition und Intonation im Allgemeinen klanglich raffinierter und verfeinerter als bei Dorforgeln. Schnitgers Schüler Schnitger hatte insgesamt etwa 50 Schüler (Gesellen), die sein Werk in Nord- und Mitteldeutschland, in den Niederlanden und Skandinavien fortsetzten. Neben der Hauptwerkstatt in Hamburg arbeiteten Gesellen und Mitarbeiter in Stade, Bremen, Groningen, Lübeck, Magdeburg und Berlin, um von dort aus neue Orgeln zu errichten oder ältere Werke zu unterhalten oder umzubauen. Diese Außenstellen wurden von Meistergesellen geleitet. Schnitger selbst reiste als Unternehmer von Werkstatt zu Werkstatt, um die Verhandlungen zu führen, die Orgeln zu konzipieren und die Durchführung der Arbeiten zu beaufsichtigen. Ermöglicht wurde diese Vorgehensweise auch dadurch, dass Schnitger einheitliche Mensuren und Bauweisen verwendete. Durch diese Kosten senkenden Maßnahmen war es auch kleinen Kirchengemeinden möglich, sich einen Orgelneubau oder größeren Orgelumbau zu leisten. Dennoch wurde jede Orgel baulich und in der Disposition individuell gestaltet. Gegen Schnitgers Lebensende machten sich verschiedene Gesellen selbstständig und führten die Tradition Schnitgers in Nordeuropa fort. In Hamburg wirkte Otto Diedrich Richborn, in Stade Erasmus Bielfeldt (mutmaßlicher Schüler), in Lübeck Hans Hantelmann, in Itzehoe Johann Dietrich Busch (mutmaßlicher Schüler), in Hannover Christian Vater, in Hildesheim Johann Matthias Naumann und Andreas Müller, in Lüneburg Matthias Dropa, in Westfalen Gerhard von Holy (mutmaßlicher Schüler), im hessischen Sontra Johann Adam Gundermann (Wommen), in Halle Christian Joachim, in Berlin und Schlesien Johann Michael Röder und in Stettin Johann Balthasar Held. Gregorius Struve war in Bremen, die Orgelbauerfamilie Klapmeyer in Glückstadt und Oldenburg tätig. In Skandinavien wirkten Lambert Daniel Kastens (Itzehoe, Kopenhagen und Norwegen) und Eric German (Stockholm), ab 1711 Johann Hinrich Ulenkampf (Hulenkampf) in Portugal. Noch stärker und nachhaltiger war der Einfluss Schnitgers in den niederländischen Provinzen Groningen und Friesland. Nach dem frühen Tod von Franz Caspar Schnitger übernahm Albertus Antonius Hinsz, der die Witwe von Franz Caspar geheiratet hatte, die Werkstatt in Groningen. Nach Hinsz nahm sein Schüler Heinrich Hermann Freytag seinen Platz ein, der partnerschaftlich mit Frans Casper Snitger jr. zusammenarbeitete. Die Freytag-Familie führte in den Niederlanden über vier Generationen die Tradition Arp Schnitgers bis zum Erlöschen der Werkstatt im Jahr 1863 fort, sodass dort Schnitgers Werke stärker als in Deutschland bewahrt und vor eingreifenden Umbauten weitgehend verschont blieben. Daneben schuf in den Niederlanden der Schnitger-Schüler Rudolf Garrels (Groningen und Den Haag) bedeutende Werke. Bedeutung Schnitgers Bedeutung liegt primär in der handwerklichen, technischen und klanglichen Qualität seiner Werke. Insbesondere die Orgel in der Hamburger Nikolai-Kirche hat wegen ihrer Größe und Klangeigenschaften den Grundstein für seinen Ruhm gelegt. Zwar hat Schnitger das mehrchörige Werkprinzip seiner Vorgänger übernommen, aber zu einer großen Ökonomie weiterentwickelt. Selbst in kleinen Dorforgeln mit einer begrenzten Anzahl von Registern wird eine große Vielfalt an Klangmöglichkeiten von Einzelstimmen, Kombinationen und Gesamtklängen geboten, da den charakteristischen Soloregistern zugleich eine große harmonische Verschmelzungsfähigkeit eigen ist. Schnitger konzipierte seine Orgeln mit rauschenden Mixturen und starken Bässen zum einen für die Begleitung des Gemeindegesangs. Zum anderen dienten sie der Darstellung der norddeutschen Orgelschule, wie sie sich insbesondere in den Abendmusiken der Hansestädte und anderen außergottesdienstlichen Kirchenmusikveranstaltungen entfalten konnte. Letzteres wird an der Bewunderung vonseiten Vincent Lübecks, Dietrich Buxtehudes und anderer zeitgenössischer Organisten deutlich, die den Stylus Phantasticus mit seinen wechselnden Affekten auf Schnitgers Orgeln in idealer Weise verwirklichen konnten. Das Werkprinzip, die ausgebauten Prinzipalchöre in allen Werken, die farbigen oder grundtönigen Flötenregister, die reich besetzten Zungenstimmen und die verschiedenen Plenumklänge entsprachen den norddeutschen Kompositionen mit ihren häufigen Manualwechseln, Konsortregistrierungen und dem häufigen Einsatz des selbstständigen Pedals. Schnitgers internationaler Wirkungskreis war zu seiner Zeit ohne Parallele. Die 140 Neu- oder Umbauten wurden wesentlich erst durch Schnitgers geschäftstüchtige Organisation verschiedener Werkstätten ermöglicht. Zudem sicherten ihm seine zahlreichen Orgelbauprivilegien gleichsam eine Monopolstellung in nahezu ganz Norddeutschland zu. Kaum ein Orgelbauer hat so großen Einfluss auf den modernen Orgelbau ausgeübt wie Schnitger. Die Orgelbewegung hat ab 1925 ihre wesentlichen Impulse durch die Wiederentdeckung der Orgel in der Hamburger Jacobikirche erhalten. In den letzten Jahren wurden fast alle erhaltenen Werke nach dem heute erreichbaren Kenntnisstand restauriert. Weitgehend erhaltene und fachkundig restaurierte Werke befinden sich in Cappel, Dedesdorf, Grasberg, Groningen (Aa-kerk), Hamburg (St. Jacobi), Lüdingworth, Neuenfelde, Norden, Steinkirchen und Uithuizen. Eine führende Rolle bei den Restaurierungen kam dem Orgelbauer Jürgen Ahrend (Leer-Loga) zu. Etliche von Schnitgers Werken wurden in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz und den Vereinigten Staaten nachgebaut oder dienten bei Neubauten als Quelle der Inspiration. „Schnitgers Werk hat auf den modernen, historischen Vorbildern verpflichteten Orgelbau weltweit stilbildend gewirkt.“ Heute bemüht sich vor allem die Arp-Schnitger-Gesellschaft sowie die niederländische „Stichting Groningen Orgelland“ um die Erforschung von Leben und Werk Schnitgers, den Erhalt seiner noch bestehenden Orgeln und die Erschließung seiner Bedeutung für eine breite Öffentlichkeit. Seit 2010 arbeitet das Musikfest Bremen an der Anerkennung der erhaltenen Schnitger-Orgeln als UNESCO-Welterbe zum 300. Todestag des Orgelbauers im Jahr 2019. Werkliste Diese Liste beinhaltet alle Orgelneubauten, in denen Register oder das Gehäuse von Arp Schnitger erhalten sind, sowie eine Auswahl seiner zerstörten oder durch Neubauten ersetzten Orgeln. Die Größe der Instrumente wird in der fünften Spalte durch die Anzahl der Manuale und die Anzahl der klingenden Register in der sechsten Spalte angezeigt. Ein großes „P“ steht für ein selbstständiges Pedal, ein kleines „p“ für ein angehängtes Pedal. Eine Kursivierung zeigt an, dass die betreffende Orgel nicht mehr erhalten ist oder lediglich noch der Prospekt von Schnitger stammt. Anmerkungen: Gedenken 1948 erhielt eine Straße in Neuenfelde anlässlich des 300. Geburtstags von Schnitger den Namen „Arp-Schnitger-Stieg“. In Beverstedt, Grasberg, Cappel, Oldenburg und Jever gibt es eine „Arp-Schnitger-Straße“, in Strande einen „Arp-Schnitger-Weg“, in Ganderkesee einen „Arp-Schnitger-Platz“. 1989 gab die Deutsche Bundespost die Briefmarke „300 Jahre Arp-Schnitger-Orgel in der Kirche St. Jacobi, Hamburg“ mit dem leicht stilisierten Bild der Orgel heraus. Am 9. April 1991 entdeckte der deutsche Astronom Freimut Börngen an der Thüringer Landessternwarte Tautenburg (IAU-Code 033) in Thüringen den Asteroiden 29203 Schnitger, der zum Asteroiden-Hauptgürtel gehört. 2003 (2. Auflage 2006) erschien von Wolfgang Krause, Wennerstorfer Filmwerkstatt, eine DVD „Die Arp-Schnitger-Orgel zu Neuenfelde“, die den Lebensweg Schnitgers nachzeichnet und die Neuenfelder Orgel vorstellt. Weitere DVDs folgen. Anlässlich des 300. Todestag Arp Schnitgers 2019 wurde der Verein „Orgelstadt Hamburg“ gegründet und das Land Niedersachsen veranstaltet ein Jubiläumsjahr mit fast 200 Konzerten und Aktionen. In Norden wurde ein Teil des Marktplatzes, südwestlich der Ludgerikirche, in Arp-Schnitger-Platz umbenannt. Literatur chronologisch aufsteigend Horst Hollmann: Arp Schnitger erhält ein Gesicht; Johann Haddinga: Arp Schnitger und seine Spuren in der Klangwelt. In: Ostfriesland Magazin, 1/2018, SKN Druck und Verlag, Norden 2017, S. 78 ff. Horst Hollmann: Der Klang der Langsamkeit. Arp-Schnitger-Gesellschaft feiert 2019 das 300. Todesjahr des Orgelbauers. In: Jeversches Wochenblatt vom 5. Januar 2018, S. 27. Lore Timme-Hänsel: Legendärer Meister des Orgelklangs. In: Jeversches Wochenblatt vom 31. Dezember 2018, S. 33. Holger Bloem (Text), Martin Stromann, Ute Bruns (Fotos): Wo Bach nach Meer klingt. In: Ostfriesland Magazin. 6/2019. SKN Druck und Verlag, Norden 2019, S. 43 ff. Martin Stolzenau: Arp Schnitger: Orgelbauer von Weltrang. In: Heimat am Meer, Beilage zur Wilhelmshavener Zeitung, Nr. 15/2019, vom 20. Juli 2019, S. 58 ff. Diskografie Arp Schnitger in Niedersachsen. 2. Auflage. 2014. Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, 1831-2. 2 CDs. (Sämtliche zwölf Schnitger-Orgeln in Niedersachsen, präsentiert von einem internationalen Team junger Organisten unter der künstlerischen Gesamtleitung von Harald Vogel). Arp Schnitger in Nederland. 2003. Stichting Groningen Orgelland 0031. 2 CDs (Sämtliche Schnitger-Orgeln der Niederlande, präsentiert von den Organisten V. van Laar, L. Lub, J. de Vries und S. de Vries unter der künstlerischen Gesamtleitung von Cor H. Edskes) Vollständigkeit anstrebende Diskografie Weblinks Arp Schnitger Datenbank von GOArt Niels Juister: Orgellandschaft Arp Schnitger im Denkmalatlas Niedersachsen Orgelstadt Hamburg: Arp Schnitger - Leben und Werk (multimediale Website zu Arp Schnitgers Leben, Werk und Nachwirken mit virtueller „PLAY ARP“-Orgel) Arp-Schnitger-Gesellschaft (mit Infos zu Leben und Werk) Arp-Schnitger-Orgeln (englisch & niederländisch, mit vielen Fotos und Infos) Seite von H.-W. Coordes (mit Übersichtskarte und Detailsinfos zu allen Orgeln) Organ index: Arp Schnitger Einzelnachweise Orgelbauer (Deutschland) Orgelbauer (17. Jahrhundert) Orgelbauer (18. Jahrhundert) Person (Stade) Person (Hamburg) Orgellandschaft Hamburg Person als Namensgeber für einen Asteroiden Deutscher Geboren 1648 Gestorben 1719 Mann
195485
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fefehn
Großefehn
Die Gemeinde Großefehn (plattdeutsch Grootfehn) liegt im Landkreis Aurich in Ostfriesland. Den Kern bilden die drei Dörfer Ost-, Mitte- und Westgroßefehn. Verwaltungssitz der Gemeinde ist Ostgroßefehn. Das Adjektiv lautet Großefehntjer mit dem für das Ostfriesische Plattdeutsch üblichen Diminutiv -(t)je. Großefehn liegt am Südrand des Landkreises Aurich. Mit Einwohnern, die sich auf etwas mehr als 127 Quadratkilometer verteilen, ist die Gemeinde dünn besiedelt. Einer Einwohnerdichte von pro Quadratkilometer stehen Vergleichswerte von 148 (Ostfriesland) und 230 (Deutschland) gegenüber. In der Raumordnung des Landes Niedersachsen wird Großefehn als Grundzentrum geführt. Der Ortsteil Westgroßefehn ist die zweitälteste Fehnsiedlung Deutschlands (nach Papenburg) und die älteste Ostfrieslands. Mehrere Ortsteile auf der Geest sind jedoch deutlich älter, die frühmittelalterliche Besiedlung geht insgesamt auf das 7./8. Jahrhundert zurück. Die heutige Gemeinde Großefehn entstand im Zuge der niedersächsischen Gemeindereform 1972 aus 14 bis dahin selbstständigen Gemeinden, die heute die Ortsteile bilden. Die Wirtschaft der Gemeinde ist von mittelständischen Betrieben und Tourismus geprägt. Die Gemeinde verzeichnet jährlich mehr als 190.000 Gäste. Landwirtschaft spielt bei der Flächennutzung eine bedeutende Rolle, wobei Milchviehhaltung vorherrscht. Die Kommune ist jedoch eine Auspendlergemeinde. Zum kulturellen Erbe der Gemeinde zählt neben historischen Kirchen auch der weitenteils erhaltene Fehncharakter mit Kanälen und Brücken. In der Gemeinde sind zudem fünf historische Windmühlen erhalten geblieben, weshalb sich Großefehn auch als Mühlengemeinde oder Fünf-Mühlen-Land bezeichnet. Aus der Gemeinde Großefehn stammt der Philosoph Wilhelm Schapp. Zu den bedeutenden Söhnen der Gemeinde zählt zudem Rolf Trauernicht, der einer der beiden „Väter“ des vorzeitigen Lückenschlusses der Bundesautobahn 31 war. Geographie Lage und Ausdehnung { "type": "ExternalData", "service": "geoshape", "ids": "Q302492" } Großefehn liegt im Süden des Landkreises Aurich in Ostfriesland und sehr zentral innerhalb dieser Region im äußersten Nordwesten der Bundesrepublik Deutschland. Die Gemeinde grenzt im Norden direkt an Aurich. Weitere größere Städte in der Nähe sind Emden im Westen (etwa 25 Kilometer entfernt) sowie Wilhelmshaven, das sich in nur unwesentlich größerer Entfernung nordöstlich von Großefehn befindet. Die nächstgelegene Großstadt ist Oldenburg, etwas mehr als 50 Kilometer südöstlich vom Zentrum der Gemeinde in Ostgroßefehn gelegen. Innerhalb Ostfrieslands gehört Großefehn zum Landstrich Auricherland. In der Raumordnung des Landes Niedersachsen wird Großefehn als Grundzentrum geführt. Die Gemeinde erstreckt sich über 127,25 Quadratkilometer, was sie nach Fläche zur siebtgrößten in Ostfriesland macht und zur drittgrößten im Landkreis Aurich nach der Kreisstadt und der Gemeinde Krummhörn. Die größte Ausdehnung beträgt in Nord-Süd-Richtung zwischen dem Ems-Jade-Kanal und Bagband im Süden ungefähr 13,5 Kilometer, in Ost-West-Richtung zwischen der Gemarkung Fiebing im Osten und dem Zusammenfluss von nördlichem und südlichem Fehntjer Tief im Westen etwas mehr als 16 Kilometer. Geologie und Hydrologie Geologisch wird die Gemeinde Großefehn wie ganz Ostfriesland oberflächlich von Schichten des Pleistozäns und des Holozäns gebildet. Pleistozäne Schichten sind in den Geestgegenden des Gemeindegebiets zu finden, die sich im Süden um die Orte Bagband und Strackholt sowie im Norden um die Orte Holtrop, Wrisse, Felde und Aurich-Oldendorf befinden. Die Böden der ostfriesischen Geest bestehen zumeist aus Decksanden und Geschiebelehm. Dazwischen befinden sich in der Mitte und insbesondere im Osten des Gemeindegebietes ausgedehnte Hochmoorgebiete, bei denen es sich um Regenmoore, genauer Plateauregenmoore, handelt. Der Beginn ihrer Entstehung erfolgte vor rund 5000 Jahren. Von wenigen kleinen Arealen abgesehen, finden sich jedoch kaum noch ursprüngliche Hochmoorflächen. Im Zuge der Moorkolonisierung wurden die das Hochmoor bildenden Torfschichten bis auf die sandige/mineralische Schicht darunter abgetorft. Der tiefer gelegene Schwarztorf wurde getrocknet und als Brennmaterial genutzt, die zuvor abgeräumte Weißtorfschicht oft mit herbeigeschafftem Düngematerial wie Rinderdung oder Schlick von der Küste vermengt, um den Boden fruchtbarer zu machen. Im Südwesten des Gemeindegebietes bei Timmel findet sich zudem überschlicktes Niedermoor, eine holozäne Schicht. Im Verlauf des Bagbander Tiefs sowie der Flumm und des Fehntjer Tiefs liegen am Rande dieser Fließgewässer bis zu 30 Zentimeter Schlickboden. Das Gemeindegebiet ist von einer Vielzahl von Wasserläufen durchzogen, von denen der Großteil künstlich angelegt oder vertieft worden ist. Es handelt sich dabei zumeist um die ab 1633 in einem Zeitraum von fast 300 Jahren angelegten Fehnkanäle, die der Entwässerung der Moore und der Ansiedlung von Kolonisten dienten. Die letzten dieser künstlich angelegten Fehnkanäle waren die Stelzenwieke und die Pallerwieke im äußersten Osten Großefehns, die nach Veränderungen durch die Kommunalreform 1972 jedoch teilweise zur Nachbarstadt Wiesmoor gehören. Sie wurden erst 1934 ausgehoben und zwar trotz inzwischen technisch verbesserter Möglichkeiten wesentlich in Handarbeit: Es handelte sich um eine Maßnahme im Zuge von Arbeitsbeschaffungsprogrammen. Als letzte größere Entwässerungsmaßnahme erfolgte in den 1960er-Jahren der Bau des Sauteler Kanals von Großefehntjer Gemeindegebiet durch die Nachbargemeinde Moormerland zur Ems. Bei ihm handelt es sich jedoch nicht um einen Fehnkanal, der zur Ansiedlung von Moorkolonisten diente. Vielmehr wurde der Sauteler Kanal gegraben, weil die vorhandenen Kanäle für die Entwässerung nicht mehr ausreichten. Er nimmt Wasser aus den anliegenden Fehnkanälen auf, an seinen Ufern befinden sich jedoch (außer den vorhandenen) keine neuen Fehnsiedlungen. Größere Fließgewässer im Gemeindegebiet sind das Fehntjer Tief und dessen Zufluss Flumm sowie das Bagbander Tief. Das Fehntjer Tief hat einen nördlichen und einen südlichen Arm. Der Zusammenfluss befindet sich im Grenzdreieck der Gemeinden Großefehn, Ihlow und Moormerland, etwas mehr als einen Kilometer nordwestlich von Timmel. Der südliche Arm wird aus dem Spetzerfehnkanal und dem Neuefehnkanal in der Nachbargemeinde Neukamperfehn gespeist. Der nördliche Arm beginnt am Zusammenfluss von Flumm und Großefehnkanal in Westgroßefehn. Die Flumm hat ihren Ursprung in der äußersten Nordostecke des Gemeindegebiets an der Grenze zur Wiesmoorer Ortschaft Marcardsmoor. Das Flüsschen wurde in früheren Zeiten auch Norder Ehe genannt (siehe Abschnitt Entwicklung des Gemeindenamens). Das Bagbander Tief ist ein stark mäandrierendes Flüsschen an der südlichen Gemeindegrenze. Es wird aus der Moorgegend östlich von Strackholt mit Wasser gespeist. Neben den Kanälen und Flüsschen gibt es im Gemeindegebiet zahlreiche Entwässerungsgräben, regional Schloote genannt. Das größte Gewässer in Großefehn, das Timmeler Meer, wurde ebenfalls künstlich angelegt. Es wurde in den Jahren 1985/1986 gezielt für den Tourismus ausgebaggert. Das Timmeler Meer hat eine Fläche von 25 Hektar. Daneben gibt es nordöstlich von Timmel noch das wesentlich kleinere Frauenmeer, einen See, der während der Weichsel-Kaltzeit entstand. Das Großefehntjer Gemeindegebiet grenzt zudem nahe Timmel an das Boekzeteler Meer, dessen Wasserfläche sich jedoch auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Moormerland befindet. Gelegentlich kommt es im Großefehntjer Gemeindegebiet bei anhaltendem Winterregen zu Überschwemmungen. Die Gemeinde sucht nach Polderflächen, die im Notfall geflutet werden können. Außerdem sollen die Schleusen des Großefehnkanals automatisiert werden, um einen zügigeren Abfluss sicherzustellen. Die Gemeinde liegt im Durchschnitt etwa fünf Meter über Normalnull. Flächennutzung Die Flächennutzungstabelle rechts macht den überragenden Anteil der Landwirtschaftsflächen an der Gesamtfläche Großefehns deutlich: Er beträgt gut 81 Prozent und liegt damit noch über dem ostfriesischen Durchschnitt von 75 Prozent, der seinerseits bereits deutlich über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt von 52 Prozent liegt. 44 Hektar davon sind noch reines Moorgebiet. Die im Abschnitt unten genannten Natur- und Landschaftsschutzgebiete sind zum größten Teil unter den Landwirtschaftsflächen erfasst und werden teils extensiv genutzt. Gewässer, vor allem das Timmler Meer und die Fehnkanäle, aber auch Entwässerungsgräben, bedecken zirka 1,6 Prozent des Gemeindegebietes. Großefehn ist nur wenig bewaldet – selbst innerhalb des waldarmen Ostfriesland, das im bundesrepublikanischen Vergleich eine extrem unterdurchschnittliche Waldfläche aufweist. Bäume finden sich vor allem rund um die Geestdörfer in Form ausgedehnter Wallheckenlandschaften. Von den Bäumen auf diesen Wallhecken abgesehen, ist die Gemeinde sehr baumarm. Es finden sich nur wenige (und kleinere) aufgeforstete Flächen, die meisten zwischen Westgroßefehn und Timmel. In früheren Jahrhunderten wurde der Baumbestand gerodet, um einerseits Bauholz, andererseits Raum für die Landwirtschaft zu gewinnen. Gemeindegliederung Großefehn umfasst 14 Ortsteile. Hier angegeben sind die einzelnen Ortschaften, nach Einwohnerzahl geordnet. Aufgeführt ist zudem die (gerundete) Fläche des Dorfes und seiner zugehörigen Gemarkung. Nachbargemeinden Großefehn grenzt im Westen an die Gemeinde Ihlow, im Norden an die Kreisstadt Aurich (Stadtteile Schirum, Wiesens und Brockzetel) und im Osten an die Stadt Wiesmoor. Diese drei Kommunen sind im Landkreis Aurich gelegen. Südöstlich von Großefehn liegt die Gemeinde Uplengen, und im Süden liegen die Gemeinden Firrel, Hesel und Neukamperfehn (alle Samtgemeinde Hesel). Südwestlich von Großefehn befindet sich die Gemeinde Moormerland. Die letztgenannten Kommunen liegen allesamt im Landkreis Leer. Ein Teil der Grenze zur Gemeinde Ihlow wird vom nördlichen Arm des Fehntjer Tiefs gebildet, der östlichste Teil der Grenze zur Stadt Aurich vom Ems-Jade-Kanal. Die Grenze zur Stadt Wiesmoor ist äußerst verwinkelt. Auf Fehntjer Seite (Ostgroßefehn, Spetzerfehn) und Wiesmoorer Seite (Wilhelmsfehn I und II, Auricher Wiesmoor II) werden mehrere Fehnkanäle und zugehörige Siedlungen von der Grenze durchschnitten. Klima Großefehn liegt in der gemäßigten Klimazone. Das Gemeindegebiet steht generell im Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren deutschen Binnenland. Das Klima ist insgesamt von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt. Klimatisch besondere Verhältnisse herrschen hingegen in den Hochmoor-Gebieten, die Teile des Gemeindegebietes ausmachen. Wegen der Untergrundverhältnisse in einem Regenmoor sind die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht extrem. Im Sommer kann es tagsüber zu sehr hohen Temperaturen am Boden kommen, so dass durch Selbstentzündung Moorbrände entstehen können. Zudem sind Moorgegenden sehr viel nebelintensiver als die Umgebung. Nach der effektiven Klimaklassifikation von Köppen befindet sich Großefehn in der Einteilung Cfb. Klimazone C: Warm-Gemäßigtes Klima Klimatyp Cf: Feucht-Gemäßigtes Klima Klimauntertyp b: warme Sommer Die nächstgelegene Wetterstation befindet sich im benachbarten Aurich, das sehr ähnliche klimatische Bedingungen aufweist. Die Klimatabelle der dortigen Station: Schutzgebiete Großefehn ist reich an Natur- und Landschaftsschutzgebieten sowie Naturdenkmälern. Die Gemeinde hat in unterschiedlich hohem Maße Anteil an fünf Naturschutzgebieten und grenzt an ein sechstes an. Hinzu kommen drei Landschaftsschutzgebiete und mehr als zwei Dutzend Bäume oder Baumgruppen, die als Naturdenkmäler ausgewiesen sind. Ein winziger Anteil von 2 Hektar an dem 340 Hektar großen Naturschutzgebiet (NSG) Fehntjer Tief-Süd (Unterschutzstellung 1979) entfällt auf Großefehn. Am NSG Fehntjer Tief-Nord, 450 Hektar groß und seit 1990 unter Schutz, hat die Gemeinde ebenfalls Anteil. Nordöstlich dieses Gebietes schließen sich nacheinander die Naturschutzgebiete Feuchtgebiet Westgroßefehn (8 Hektar, seit 1983) sowie Flumm-Niederung (365 Hektar, seit 1995) unmittelbar an. Beide liegen komplett auf Großefehntjer Gebiet. Die vier genannten Schutzgebiete sind Teil des FFH-Gebietes „Fehntjer Tief und Umgebung“ und des EU-Vogelschutzgebietes „Fehntjer Tief“. Es handelt sich bei diesen Schutzgebieten überwiegend um Feuchtwiesenlandschaften. Seit der Unterschutzstellung haben sich die Bestände an Wiesenvögeln erholt. So wurden 2010 insgesamt 278 Kiebitzbrutpaare, 100 Brutpaare der Uferschnepfe sowie 60 Brutpaare des Großen Brachvogels gezählt. Zu den weiteren vorhandenen Arten gehören Braun-, Blau- und Schwarzkehlchen, Schilfrohrsänger, Rohrweihe sowie Löffel- und Schnatterenten. Im Jahr 2006 wurde zudem der Hochmoorkomplex Wiesmoor-Klinge als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Es umfasst 351 Hektar und erstreckt sich teils auf das Gebiet der Nachbargemeinde Wiesmoor. An das NSG Boekzeteler Meer, dessen Seefläche in der Nachbarstadt Moormerland liegt, grenzt Großefehn mit dem Nordostufer an. Bereits seit 1966 ist das Landschaftsschutzgebiet (LSG) Boekzeteler Meer und Umgebung nördlich des genannten Sees unter Schutz gestellt (37 Hektar). Das LSG Oldehave südöstlich von Bagband umfasst 741 Hektar und ist seit 1975 geschützt. Hinzu kommt das 12 Hektar große LSG Resthochmoorfläche Kreismoor im äußersten Nordosten des Gemeindegebietes, das seit 1985 geschützt ist. Als kleinere Naturdenkmäler kommen zudem Bäume oder Baumgruppen in fast allen Dörfern der Gemeinde hinzu, in mehreren Dörfern auch zwei bis vier von diesen. Geschichte Ur- und Frühgeschichte In den Geest-Gegenden des heutigen Gemeindegebietes wurden Funde aus mehreren ur- und frühgeschichtlichen Epochen verzeichnet. Am Rande des Bagbander Tiefs ist ein neolithischer Siedlungsplatz mit zahlreichen Artefakten nachgewiesen, darunter ein Abschlag von der Kante eines geschliffenen Beiles, das wahrscheinlich auf die Trichterbecherkultur zu datieren ist. Ebenfalls nahe Bagband wurde neben Feuersteintrümmern ein Steinbeil der Einzelgrabkultur entdeckt. Ein solcher Fund kam auch im Ortsteil Felde zum Vorschein. Anhand solcher Funde sowie der Lage von Hügelgräbern wurde das ostfriesische Wegenetz der Bronzezeit rekonstruiert. Einer der wichtigsten Wege führte demnach durch das Gemeindegebiet. Er verband die Geest im Bereich der heutigen Orte Leer und Hesel mit dem Geestbereich um Aurich. Als natürliches Hindernis zwischen diesen Bereichen lag das Moorgebiet um das heutige Spetzerfehn, das mit einem Bohlenweg überquert wurde, die Spetze. Der Begriff stammt von dem mittelniederdeutschen speke und bedeutet so viel wie ‚Knüppel- oder Faschinendamm durch sumpfiges Gelände‘. Die Spetze verband die Gemarkungen der heutigen Orte Strackholt und Aurich-Oldendorf. Im Gemeindegebiet wurden Keramikscherben der Römischen Kaiserzeit entdeckt. Da die Römer möglicherweise ein Militärlager an der Ems besaßen, lässt dies auf Tauschgeschäfte der damaligen Bewohner des Gebiets mit jenem Lager schließen. Mittelalter und frühe Neuzeit (bis 1633) Die ältesten Siedlungen im Gemeindegebiet werden auf das 7./8. Jahrhundert datiert. Dabei handelt es sich in erster Linie um die auf der Geest gelegenen Ortsteile, namentlich Aurich-Oldendorf und Holtrop im Norden sowie Bagband und Strackholt im Süden des Gemeindegebietes. Im Norden ist wahrscheinlich Aurich-Oldendorf der älteste Ortsteil. Dort deuten eine große Zahl von Funden der Stein- und Bronzezeit über die Römische Kaiserzeit bis in das Mittelalter auf eine frühe und ständige Besiedlung des Ortsgebietes hin. Der Ort hieß im Mittelalter vermutlich anders, der Name dürfte allerdings untergegangen sein. Spätere Siedler gaben dem Ort dann den Namen Aldenthorpe, der später zu Oldendörp oder Oldendorf wurde, also das alte Dorf. Das lokale Attribut Aurich- kam erst später hinzu, um es von anderen Oldendorps im Nordwesten zu unterscheiden. Als nächstältere Siedlung im Norden des Gemeindegebietes wird Holtrop vermutet. Wie bei Strackholt im Süden weist Holtrop (früher: Holtdorp, also Holzdorf – o und r haben im Laufe der Zeit den Platz getauscht, eine nicht ungewöhnliche Lautverschiebung, das d entfiel) auf Baumbestände im frühen Mittelalter auf der Geest hin. Diese wurden zum Zwecke der Holzgewinnung aber auch zur Gewinnung von Ackerflächen gerodet. Funde lassen zudem auf die Gewinnung von Raseneisenstein schließen. Die Ortsteile Felde und Wrisse wurden von Aurich-Oldendorf und Holtrop aus im Hochmittelalter bis zum Spätmittelalter besiedelt. Beide Ortsnamen weisen auf geografische Gegebenheiten hin: Bei Felde handelt es sich um ehemalige Heideflächen, bei Wrisse (vom mittelniederdeutschen wrase = Rasen oder Grasland) um Weideflächen. Besiedelt wurden die genannten Ortsteile vermutlich von Süden her, also aus Richtung Leer. Dafür spricht, dass das heutige Großefehntjer Gemeindegebiet im Mittelalter dem Bistum Münster zugeordnet war, während die weiter nördlich gelegene Gegend direkt um Aurich dem Bistum Bremen angehörte. Als einer der weiteren ältesten Siedlungsorte im Gemeindegebiet gilt Timmel. In dem Dorf am Rande der Geest, nahe dem Flüsschen Flumm und damit an einem Schifffahrtsweg gelegen, wurden Siedlungsspuren mit Häusergrundrissen aus dem 8. Jahrhundert entdeckt. Im 10. Jahrhundert wurde Timmel als erster von allen Ortsteilen urkundlich erwähnt. Vermutlich ließen sich 1121 Zisterzienser in Timmel nieder. Ein Kloster hat es in Timmel jedoch nie gegeben, nur ein Vorwerk mit 250 bis 300 Hektar und einer eigenen Kapelle. Dieses wurde 1469 vom Kloster Klaarkamp in Westfriesland auf 20 Jahre an das Kloster Ihlow verpachtet. Später wurde es dem Kloster Thedinga bei Leer übereignet und fiel nach der Reformation an das ostfriesische Grafenhaus. Im 13. Jahrhundert entstanden die fünf ältesten Kirchen des Gemeindegebietes, die vermutlich alle hölzerne Vorgängerbauten hatten. Bis auf diejenige in Timmel sind die Steinbauten bis heute erhalten (s. Abschnitt Kirchen und Orgeln). Nach den Wirren der Häuptlingskämpfe zwischen den Familien tom Brok und Ukena, später dann den Cirksena, fiel das Gemeindegebiet schließlich an letztere. Die Cirksena wurden 1464 in den Reichsgrafenstand erhoben und herrschten in den folgenden 280 Jahren über Ostfriesland. Die Reformation erfasste im frühen 16. Jahrhundert Ostfriesland und damit auch das heutige Gemeindegebiet, wobei die Gegend der lutherischen Lehre zuneigte, während im westlichen Ostfriesland der Calvinismus vorherrschte. Dies lag daran, dass die Regelung Cuius regio, eius religio vom schwachen Grafenhaus in Ostfriesland nie durchgesetzt werden konnte. 1599 wurde diese Spaltung in der Emder Konkordate vertraglich festgeschrieben. Darin wurde festgelegt, dass die einzelnen Gemeinden ihre Konfession selbst bestimmen durften. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde das Gemeindegebiet mehrfach von fremden Truppen heimgesucht. Timmel wurde in dieser Zeit durch die Mansfeldischen Truppen verwüstet. Auch in Strackholt hinterließen die Truppen zwölf zerstörte Häuser. Vom Beginn der Fehnkolonisierung bis zum Übergang an Preußen (1633 bis 1744) Die Geschichte des Ortsteils (West-)Großefehn begann im Jahr 1633, als die vier Emder Kaufleute Simon Thebes, Claas Behrends, Cornelius de Rekener und Gerd Lammers von Graf Ulrich II. von Ostfriesland die Erlaubnis erhielten, das noch unkultivierte Hochmoor durch das Anlegen von Fehnkanälen nach niederländischem Vorbild abzutorfen. Diese dienten zum einen der Entwässerung des Moorgebietes, zum anderen als Transportader. Ihre Ufer waren daher ein idealer Siedlungsraum für die Kolonisten. Die vier Emder gründeten zu diesem Zweck die Großefehn-Kompanie (Großefehn-Gesellschaft) als Firma, an der sie die Anteile hielten. Das erste zu kultivierende Areal umfasste eine Fläche von 400 Diemat. Die Kaufleute erhielten die Fläche in Erbpacht und verpachteten sie an die Kolonisten weiter. (West-)Großefehn ist somit die älteste nach diesem Typus angelegte Moorkolonie Ostfrieslands. Die Hintergründe der Gründung der Fehnsiedlung sind, wie es in der Geschichte Ostfrieslands oft der Fall ist, zu einem Gutteil außerhalb der Landesgrenzen zu suchen. Torf war zu jener Zeit der wichtigste Brennstoff der Ostfriesen. Zudem sorgten verbesserte Entwässerungsmöglichkeiten und damit höhere Ernteerträge in der Marsch für den Aufstieg des Gulfhauses, wofür vermehrt Klinkersteine nötig waren – was wiederum den Brennstoffbedarf der Ziegeleien erhöhte. Obgleich die Region reich am Rohstoff Torf war, bezogen die Städte wie Emden und fruchtbare ländliche Gegenden wie die Marschen den Torf zum größeren Teil aus der benachbarten niederländischen Provinz Groningen, zum kleineren Teil auch aus dem ebenfalls benachbarten Saterland. Die niederländische Regierung hatte 1621 jedoch ein Torfausfuhrverbot verhängt, da das waldarme Land den Brennstoff selbst dringend benötigte. Als in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges auch noch die Lieferung des saterländischen Torfes stockte, gingen die vier Emder Kaufleute daran, beim Landesherrn um die Erlaubnis zur Gründung einer eigenen Fehnkolonie zu bitten. Emden selbst wurde im Dreißigjährigen Krieg wegen seiner kurz zuvor fertiggestellten Festungsanlagen nicht eingenommen und war daher in einer recht komfortablen Lage. Allerdings hatten sich aus dem Umland Flüchtlinge in die Stadt begeben, was den Brennstoffbedarf erhöhte. Das Grafenhaus hingegen war einerseits mit den Folgen der Einquartierung fremder Truppen beschäftigt und andererseits machte die stets knappe Finanzlage die Gründung einer Fehnkolonie aus eigenen Mitteln unmöglich. Ulrich II. genehmigte schließlich die Gründung der Siedlung, wobei er in erster Linie das Vorantreiben des Landesausbaus im Sinn hatte, also die landwirtschaftliche Nutzung nach dem Abgraben des Torfs. Die Kaufleute hingegen waren ausschließlich an der Rohstoffgewinnung interessiert und kümmerten sich nur schleppend um die nachträgliche Nutzung des Bodens. Bis 1675, als das östliche Ende des heutigen Westgroßefehns erreicht wurde, setzte die Fehngesellschaft ausschließlich Lohnarbeiter zum Graben des Kanals und zum Abtorfen des Moores ein. Erst danach, als das Gebiet des heutigen Mittegroßefehn erreicht war, übernahmen Untererbpächter diese Aufgabe, mit dem Ziel, sich eine landwirtschaftliche Existenz aufzubauen oder Landwirtschaft zumindest im Nebenerwerb zu betreiben. Auf den von den Lohnarbeitern abgetorften Parzellen siedelten sich ab 1647, also 14 Jahre nach dem Anstich, die ersten Kolonisten an. Sie stammten zumeist aus den umliegenden Geestdörfern, einige aber auch aus dem Oldenburger Münsterland. Interessengleichheit zwischen Graf und Kaufleuten bestand darin, das Kolonat möglichst zügig abtorfen zu lassen. Daher blieben die Flurstücke recht klein und überstiegen kaum wenige Hektar. Dies ist der Grund, warum viele Kolonisten später Berufe außerhalb der Landwirtschaft ergreifen mussten, denn nur ein Teil von ihnen konnte den Besitz vergrößern, um allein von der Landwirtschaft leben zu können. Dementsprechend verlegten sich viele Fehntjer bereits ab dem 18. Jahrhundert ausschließlich auf die Schifffahrt, zunächst die Fehnschifffahrt zwischen den Kolonien und den Städten (zumeist Emden), später auch auf die Seeschifffahrt. Klagen über zu niedrige Wasserstände auf den Fehnkanälen gab es bereits wenige Jahrzehnte nach Gründung der Kolonie. So wurde 1717 eine erste noch hölzerne Schleuse in Westgroßefehn gebaut, die 1786 durch eine steinerne ersetzt wurde. Die Weihnachtsflut 1717 richtete nicht nur große Schäden an der ostfriesischen Küste an. Da die Landschaft zwischen Westgroßefehn und der Ems/dem Dollart kaum topografische Erhebungen aufweist, drang die Flut bis in die Fehnkolonie vor, wo ebenfalls Verluste von Menschenleben, noch mehr von Nutztieren, zu beklagen waren. Die Orte auf der höher gelegenen Geest hingegen blieben verschont. Von der ersten zur zweiten preußischen Herrschaft (1744 bis 1871) Nachdem der letzte Graf von Ostfriesland, Carl Edzard, bereits im frühen Lebensalter kinderlos verstorben war, fiel Ostfriesland im Jahr 1744 durch eine seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bestehende Exspektanz an Preußen. Um 1760, also fast 130 Jahre nach Beginn der Fehngründung, erreichte der Fehnkanal die östliche Grenze des heutigen Mittegroßefehns. Nach dem Urbarmachungsedikt 1765 entstanden auch auf dem heutigen Gemeindegebiet neue Moorkolonien, die nicht nach dem Fehnkanal-Prinzip angelegt wurde. Fiebing entstand ab 1783, als sich der erste Siedler Tamme Fiebing im Moor südöstlich von Strackholt niederließ. Nach ihm wurde der Ort benannt. Für das Jahr 1787 ist ein erster Siedler in Akelsbarg nachgewiesen, der Ort selbst wurde jedoch erst 1798 gegründet. Ebenfalls 1798 entstanden die Siedlungen Wrisser Hammrich und Wrisser Moorlage nordöstlich des namensgebenden Mutterortes Wrisse. 1806 kam das Gebiet gemeinsam mit dem restlichen Ostfriesland an das Königreich Holland, das wiederum 1810 dem Kaiserreich Frankreich angegliedert wurde. In der „Franzosenzeit“ war Timmel der Sitz eines gleichnamigen Kantons, der vom heutigen westlichen Ihlower Gemeindegebiet bis in den Norden des angrenzenden Moormerlands reichte und auch das heutige Gemeindegebiet einschloss. 1811 widersetzten sich Fehntjer Schiffer den Aushebungen des napoleonischen Militärs für die französische Marine. Nahe der Tatjebrücke bei Timmel kam es zu einem Gefecht zwischen den Schiffern und den Soldaten, aus dem letztere siegreich hervorgingen. Zur Strafe wurden 300 Fehntjer Seeleute auf französische Schiffe zwangsversetzt. Nach der napoleonischen Besetzung war Ostfriesland in den Jahren 1813 bis 1815 erneut Teil Preußens, das die Region nach dem Wiener Kongress jedoch an das Königreich Hannover abtrat. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts kauften wohlhabend gewordene Fehntjer Anteile an der Großefehn-Gesellschaft, so dass diese bis 1840 mehrheitlich im Besitz von Ortsansässigen war. 1830 wurde auf der bereits aus der Urgeschichte bekannten Spetze ein Damm im Moor angelegt, auf dem in den folgenden Jahren die erste steinerne Chaussee Ostfrieslands zwischen Leer und Aurich (heute: B 72) entstand. Zur Ausbildung der Fehntjer Seeleute wurde 1846 vom Königreich Hannover in Timmel eine Seefahrtschule gegründet, die bis 1918 bestand. Dort wurde unter anderen auch Felix Graf von Luckner unterrichtet. Der Standort Timmel hatte den Vorteil, dass er zentral inmitten zweier Fehnkomplexe liegt: zum einen Ost-, Mitte- und Westgroßefehn sowie Spetzerfehn im Osten, zum anderen Warsingsfehn, Jheringsfehn und Boekzetelerfehn (heutige Gemeinde Moormerland) sowie Neuefehn und Stiekelkamperfehn (heutige Samtgemeinde Hesel) im Süden und Südwesten. Kaiserreich und Weimarer Republik Im Kaiserreich wurde der Ausbau der Infrastruktur weiter vorangetrieben. Der Straßenverkehr wurde in den Jahren 1870 bis 1872 um eine wichtige Strecke erweitert: Es erfolgte zunächst 1870 der Bau einer geklinkerten Verbindung von Westgroßefehn über Timmel nach Neermoor, 1872 schließlich die Verlängerung von Westgroßefehn über Ostersander nach Schirum bei Aurich. Dabei handelt es sich um den Vorläufer der heutigen Landesstraße 14 (s. Abschnitt Verkehr). Bis dahin waren diese Wege unbefestigt. Nördlich von Holtrop wurde in den Jahren 1880 bis 1888 der Ems-Jade-Kanal angelegt, der Emden und Wilhelmshaven verbindet. Bereits 1850 hatte die Ostfriesische Landschaft vorgeschlagen, den südlicher gelegenen Großefehnkanal weiter durch das Moor bis an den Jadebusen zu treiben. Dieser Vorschlag war jedoch in der hannoverschen Zeit nicht weiter verfolgt worden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten viele Großefehntjer in die USA aus. Dies führte zu einem Rückgang der Einwohnerzahlen und später zu langsamerem Wachstum. Eine wesentliche Ursache ist in der steigenden Kohleförderung zu suchen, die den Torf als Brennstoff zunehmend verdrängte. Außerdem konnten viele Fehntjer Schiffer mit ihren hölzernen Seglern dem Aufstieg der Eisenrumpf-Schiffe auf der Hochsee nur wenig entgegensetzen und litten bei der Binnenschifffahrt unter der zunehmenden Konkurrenz der Eisenbahn. Zuvor selbstständige Schiffer verlegten sich jedoch auch auf den Einsatz als Schiffsbesatzung anderer Reeder. Fehnschifffahrt in die ostfriesischen Städte und Marschensiedlungen wurde jedoch weiterhin betrieben. Bei der preußischen Kreisreform im Jahre 1885 kam das heutige Gemeindegebiet an den Landkreis Aurich. Seit diesem Zeitpunkt gehört Großefehn dem Landkreis Aurich ununterbrochen an. Gegen Ende der Weimarer Republik war das heutige Gemeindegebiet eine Hochburg der NSDAP. Bereits bei der Reichstagswahl 1930 erreichte sie in mehreren Gemeinden die absolute Mehrheit. Bei den folgenden Reichstagswahlen im Juli 1932, November 1932 und März 1933 bekam sie noch weit größeren Zuspruch: Die Nationalsozialisten errangen in einigen Ortschaften, etwa Felde, Fiebing oder Akelsbarg, mehr als 90 Prozent der Stimmen, in Wrisse kamen NSDAP und die gleichsam rechtsextreme DNVP zusammen auf 100 Prozent. Die Sozialdemokraten hingegen gingen vereinzelt völlig leer aus, etwa in Felde. Nationalsozialismus Einer der Schwerpunkte nationalsozialistischer Aktivitäten war der Ortsteil Mittegroßefehn. Neben dem bereits vor 1933 nationalsozialistischen Bürgermeister agitierte dort der Pastor der Kirchengemeinde, der zugleich aktives Mitglied der Deutschen Christen war, auch auf Ostfrieslandebene. Auch der Bürgermeister Westgroßefehns galt als aktives NSDAP-Mitglied. In seiner Gemeinde waren 1935 sämtliche Kinder und Jugendliche des entsprechenden Alters in der Hitlerjugend organisiert. Während des Krieges bestanden auf dem heutigen Gemeindegebiet eine Vielzahl von Kriegsgefangenenlagern, die jedes für sich teils dreistellige Gefangenenzahlen aufwiesen. Dabei handelte es sich um Kriegsgefangene von der West- wie von der Ostfront. Eingesetzt wurden die Gefangenen vorrangig in der Landwirtschaft. Gegen Kriegsende drangen kanadische und polnische Truppen Anfang Mai 1945 in Richtung Ems-Jade-Kanal vor, nachdem sie Ende April bei Leer über die Ems übergesetzt und in Richtung Nordosten weitermarschiert waren. Die Besetzung des Großefehntjer Gebiets verlief weitgehend kampflos. Allerdings wurden bei Westgroßefehn von den Wehrmachtssoldaten zwei Brücken gesprengt, was nach dem Krieg den Verkehr stark behinderte. Durch Beschuss kam es zu leichten Häuserschäden. Nachkriegszeit Die Ortschaften der Gemeinde Großefehn nahmen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vielzahl Heimatvertriebener aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches auf – jede Ortschaft allerdings in unterschiedlich hohem Maße. Insgesamt nahm die Bevölkerung trotz Kriegseinwirkungen (gefallene Soldaten) von etwa 9400 (1939) auf mehr als 12.000 (1946) zu. Der Tätigkeitsbericht der Auricher Kreisverwaltung für die Wahlperiode 1948–1952 verdeutlicht die damit einhergehenden Probleme (Der Berichtszeitraum beginnt bereits während des Zweiten Weltkriegs): Am 1. Juli 1972 schlossen sich die 14 Gemeinden Akelsbarg, Aurich-Oldendorf, Bagband, Felde, Fiebing, Holtrop, Mittegroßefehn, Ostgroßefehn, Spetzerfehn, Strackholt, Timmel, Ulbargen, Westgroßefehn und Wrisse zur heutigen Großgemeinde Großefehn zusammen. Als Gemeindename wurde das zentrale Großefehn bestimmt, zum Hauptort die größte Gemeinde Ostgroßefehn. Am 1. Januar 1973 wurde ein Gebiet mit damals etwa 200 Einwohnern an die Gemeinde Hesel im Landkreis Leer abgetreten. War in früheren Zeiten die Zentrumsbildung in Fehnkanal-Siedlungen aufgrund des extrem langgestreckten Siedlungscharakters schwierig, so ist nach der Kommunalreform durch die Ausweisung neuer Baugebiete auch jenseits der Fehnkanäle Ostgroßefehn zum Zentrum der Gemeinde ausgebaut worden. Die Einwohnerzahl des zu jenem Zeitpunkt bereits größten Ortsteils stieg noch einmal deutlich, so dass der Verwaltungssitz, Haupt-Einkaufsort und Standort eines der drei Gewerbegebiete der Gemeinde heute mit Abstand der größte Ortsteil ist. Weitere gemeindliche Bedeutung haben Mittegroßefehn und Ulbargen als die beiden weiteren Standorte von Gewerbegebieten sowie Westgroßefehn und insbesondere Timmel als touristische Schwerpunktorte. Als Standort der Mülldeponie und des Recycling-Zentrums des Landkreises Aurich hat Mittegroßefehn darüber hinaus übergemeindliche Bedeutung. Einwohnerentwicklung Eine systematische Erfassung der Einwohnerzahlen durch die Obrigkeit fand in Ostfriesland seit dem Beginn der preußischen Zeit (1744) statt. Allerdings sind aus jener Zeit selten offizielle Zahlen für einzelne Dörfer übermittelt, so dass die Heimatforschung sich oftmals auf kirchliche Quellen stützt. Einzelne Ortschaften der Gemeinde wuchsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht stark, so dass sich insgesamt in den Jahren zwischen etwa 1820 und der Reichseinigung ein deutliches Plus bei der Einwohnerzahl zeigte. Dies trifft beispielsweise auf die seit dem späten 18. Jahrhundert besiedelte Moorkolonie Akelsbarg zu, deren Einwohnerzahl zwischen 1821 und 1871 von 31 auf 224 stieg. Besonders Ostgroßefehn wuchs deutlich. Hatte der Ortsteil 1821 noch einen Einwohner weniger als das alte Geestdorf Strackholt (715 gegenüber 716), so war der heutige Hauptort der Gemeinde 50 Jahre später bereits etwas mehr als doppelt so groß (1932 gegenüber 962). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders aber nach der Reichseinigung, wanderten viele Fehntjer in die USA aus, so dass sich 1885 bereits ein leichter Rückgang gegenüber 1871 zeigte. Dies machte sich bis zur Jahrhundertwende dann auch in einem viel langsameren Wachstum bemerkbar. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten auf dem Gemeindegebiet nicht ganz 10.000 Menschen – eine Marke, die bereits 1946 durch die Aufnahme vieler Vertriebener sehr deutlich durchbrochen wurde und auch in den folgenden Jahren nicht abnahm. Dies geschah jedoch in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre: Mangels Berufsperspektiven (oder überhaupt irgendeiner Arbeitsgelegenheit) wanderten viele der Neuankömmlinge wieder in prosperierendere Regionen ab, so dass die Einwohnerzahl auf etwas über 10.000 sank. Beim Zusammenschluss zur Großgemeinde 1972 war die Zahl wieder auf mehr als 11.000 gewachsen. In den 1990er-Jahren wanderten Einwohner aus den neuen Bundesländern, Aussiedler und eine gewisse Zahl von Ruheständlern aus anderen Regionen Deutschlands zu, die sich in der Gemeinde ihren Altersruhesitz suchten. Seit mehreren Jahren liegt die Einwohnerzahl konstant bei etwas mehr als 13.000. Entwicklung des Gemeindenamens Die heutige Großgemeinde Großefehn ist nach der zentralen Fehnsiedlung benannt, die von den Ortsteilen West-, Mitte- und Ostgroßefehn gebildet wird. Ihren historischen und geografischen Anfang hatte sie in Westgroßefehn. Der Ortsteil war bei seiner Gründung unter mehreren Namen bekannt: Er wurde einerseits als „Norder Ehefehn“ oder „’t Groote Ehefehn“ bezeichnet. Dies bezieht sich auf die Lage am Wasserlauf Norder Ehe, der heute Flumm beziehungsweise Fehntjer Tief genannt wird. Andererseits wurde die Siedlung auch als „Timmeler Große-Veen“ oder „Timmler groote Fehn“ bezeichnet, die geografische Lage nahe dem (südlich gelegenen) Ort Timmel aufnehmend, der der ersten Siedlung am nächsten lag. Die Schreibweise mit „v“ ist dem Niederländischen entlehnt, das im 17. Jahrhundert in Ostfriesland (und namentlich in Emden, woher die vier Fehngründer stammten) weit verbreitet war. Das „Groote Vehn“ oder „Groote Fehn“ setzte sich schließlich durch. Mit der Ausbreitung der standarddeutschen Sprache im Ostfriesland des 19. Jahrhunderts wurde daraus Großefehn. Religion Die politische Gemeinde Großefehn ist kirchlich weit überwiegend lutherisch geprägt. Im größtenteils protestantischen Ostfriesland zählt Großefehn zum größeren östlichen, lutherischen Gebiet, während entlang der Ems das reformierte Bekenntnis überwiegt. Die Großefehntjer Kirchengemeinden gehören zum Kirchenkreis Aurich, der mit rund 73.000 Gemeindegliedern der zweitgrößte Kirchenkreis der Hannoverschen Landeskirche ist. Die lutherische Kirche hat in den Landkreisen Aurich und Wittmund die höchsten Anteile von Lutheranern in ganz Deutschland. Sieben Kirchengemeinden decken das Gebiet der politischen Gemeinde Großefehn und teils auch angrenzende Gebiete ab. Die Kirchengemeinde Bagband ist mit etwa 700 Gemeindegliedern die kleinste des Kirchenkreises und hat auch Angehörige in Spetzerfehn und im bereits im Landkreis Leer gelegenen Heseler Ortsteil Neuemoor. Die Christus-Kirchengemeinde Spetzerfehn ist die jüngste in Großefehn, sie wurde erst 1970 von der Muttergemeinde Strackholt gelöst. Die weiteren Kirchengemeinden sind diejenigen in Timmel, Holtrop, Aurich-Oldendorf, Strackholt, Mittegroßefehn und Ostgroßefehn, wobei diejenige in Strackholt auch das zur Stadt Wiesmoor gehörende Zwischenbergen einschließt. Neben den lutherischen Gemeinden gibt es in Ostgroßefehn noch eine Neuapostolische Gemeinde, die seit 1926 besteht und 1929 ihre erste Kapelle bezog. Ein Neubau wurde 1985 eingeweiht. Katholische Gemeinden gibt es in Großefehn nicht, Katholiken werden von den nächstgelegenen Kirchengemeinden in den Nachbarstädten Aurich und Wiesmoor aus geistlich betreut. Politik Gemeinderat Der Rat der Gemeinde Großefehn besteht aus 30 Ratsfrauen und Ratsherren, was nach dem Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz die festgelegte Anzahl für eine Gemeinde mit einer Einwohnerzahl zwischen 12.001 und 15.000 Einwohnern ist. Die 30 Ratsmitglieder werden durch eine Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit begann am 1. November 2016 und endet am 31. Oktober 2021. Die letzte Kommunalwahl vom 12. September 2021 ergab das folgende Ergebnis: Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2021 lag mit 57,39 % etwas über dem niedersächsischen Durchschnitt von 57,1 %. Zum Vergleich – bei der vorherigen Kommunalwahl vom 11. September 2016 lag die Wahlbeteiligung bei 57,63 %. Stimmberechtigt im Gemeinderat ist außerdem der hauptamtliche Bürgermeister. In den 14 Ortsteilen gibt es darüber hinaus Ortsräte. Diese sind für Belange zuständig, die den Rahmen des Dorfes beziehungsweise der Gemarkung nicht überschreiten. Sie werden zudem in Angelegenheiten gehört, die ihr Dorf betreffen, aber auf Gemeindeebene entschieden werden – etwa, weil der Gemeinderat schon aufgrund des Finanzvolumens zuständig ist. Bürgermeister Bürgermeister der Gemeinde Großefehn ist seit 2019 der parteilose Erwin Adams. Sein Vorgänger Olaf Meinen hatte das Amt von 2006 bis 2019 inne und gab es anlässlich seiner Wahl zum Landrat des Landkreises Aurich vorzeitig auf. Adams gewann die Wahl am 3. November 2019 im ersten Wahlgang mit 63,17 Prozent der Stimmen gegen den mit 19,5 Prozent unterlegenen SPD-Kandidaten Friede Schone sowie die parteilose Verena Beermann, die 17,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Vertreter in Landtag und Bundestag Im Niedersächsischen Landtag (Legislaturperiode bis 2027) sind zwei Abgeordnete aus dem Wahlkreis 86 Aurich (Aurich, Südbrookmerland, Ihlow, Großefehn, Brookmerland, Großheide) vertreten. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 gewann der Auricher Sozialdemokrat Wiard Siebels das Direktmandat mit 44,7 % der Stimmen. Über die Landesliste der CDU zog Saskia Buschmann in den Landtag ein. Bei Bundestagswahlen gehört Großefehn zum Wahlkreis 24 Aurich – Emden. Dieser umfasst die Stadt Emden und den Landkreis Aurich. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Sozialdemokrat Johann Saathoff direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zog kein Kandidat der Parteien aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Kommunale Finanzen Die Gemeinde Großefehn hat das Haushaltsjahr 2010 mit einem Defizit von rund 1,5 Millionen Euro abgeschlossen, nachdem bereits im Vorjahr der Haushalt nicht ausgeglichen werden konnte. In den Jahren 2006 bis 2008 hingegen hatte die Gemeinde noch Schulden abbauen können. Der Gesamtschuldenstand der Kommune betrug Ende 2010 etwa 9,6 Millionen Euro. Wappen Partnerschaften Die Gemeinde Großefehn ist 2004 eine Partnerschaft mit der niederländischen Gemeinde Pekela in der Provinz Groningen eingegangen. Schon seit Anfang der 1990er-Jahre bestehen Kontakte zwischen der Fehntjer Gesamtschule und dem Dollard-College in Pekela. Besonders in den Bereichen Schule, Sport, Kultur und Landwirtschaft gibt es enge Verbindungen. Alle zwei Jahre finden Sportfeste mit rund 100 Teilnehmern statt, auch Chöre und Musikgruppen besuchen sich gegenseitig. Seit 2009 wird an allen vier Grundschulen in der Gemeinde Niederländisch als Arbeitsgemeinschaft angeboten. Kultur und Sehenswürdigkeiten Museen In Westgroßefehn gibt es das Fehnmuseum Eiland und ein Webmuseum. Das Fehnmuseum zeigt Exponate der frühen Moorkolonisten wie Bunkspaten, Torfspaten, Stechspaten, Torfkarren und Moorschuhe und informiert über die Geschichte der Besiedlung des Großen Vehns. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Darstellung der Schifffahrtsgeschichte der Fehntjer mit Modellen von Binnentjalks, Kuffs, Galioten und Schonern. Eine historische Schmiede, ein Sägewerk und ein kleines Hafenbecken gehören ebenfalls zum Museum. Das Webmuseum De Weevstuuv (Die Webstube) wurde Ende der 1990er-Jahre eingerichtet und zeigt Ausstellungsstücke aus der Arbeit der Weber. Außerdem werden im Museum Webkurse angeboten. Untergebracht ist das Museum in der 1883 erbauten und inzwischen nicht mehr als solche genutzten alten Dorfschule. Im Ortsteil Bagband ist an die dortige Brauerei ein Bier-Museum angeschlossen. In Ostgroßefehn ist auf dem Fehnkanal im Ortszentrum das Museumsschiff Frauke vertäut, das besichtigt werden kann. Es handelt sich um eine rund 100 Jahre alte Tjalk, wie sie früher in der Fehnschifffahrt eingesetzt wurde. Das Schiff befindet sich im Besitz der Gemeinde, wird aber von Ehrenamtlichen erhalten. Ihren Heimathafen in Timmel hat die Gretje, eine restaurierte Tjalk, die um 1913 erbaut wurde. Kirchen und Orgeln Im Gemeindegebiet von Großefehn gibt es vier Backsteinkirchengebäude aus dem Mittelalter. Die Strackholter Kirche wurde im 13. Jahrhundert als rechteckige Saalkirche mit Gewölbe errichtet, an die noch in der Romanik eine Ostapsis angebaut wurde. Im 15. Jahrhundert wurde die Kreuzigungsgruppe auf dem Balken im Triumphbogen geschaffen, im Jahr 1654 der Flügelaltar und 1801 die Rokoko-Kanzel. Die Orgel von Gerhard Janssen Schmid aus dem Jahr 1798/1799 steht seit 1833 auf der Südempore und hat mehrere Erweiterungsumbauten erfahren. Aufgrund des starken Kirchenbesuchs zur Zeit des Erweckungspredigers Remmer Janssen wurde das Gebäude zur Kreuzkirche ausgebaut. Der frei stehende Glockenturm des Parallelmauer-Typs stammt aus dem 14. Jahrhundert und weist reich gestaltete Giebelseiten auf. Die Holtroper Kirche hat weitgehend ihre Gestalt seit dem 13. Jahrhundert bewahrt. Allerdings musste die halbrunde Ostapsis bereits nach 50 Jahren abgetragen werden. Stattdessen wurde ein Lettner mit drei großen Rundbögen eingezogen, über dem seit dem 15. Jahrhundert eine Kreuzigungsgruppe angebracht ist. Statt der ursprünglichen Gewölbe schließt heute eine hölzerne Spiegeldecke den Innenraum ab. Das Altarretabel aus dem 17. Jahrhundert stammt aus der Cröpelin-Werkstatt, die Kanzel vermutlich aus derselben Zeit. Hinrich Just Müller schuf 1772 die Orgel auf der Westempore. Das Werk verfügt über acht Register auf einem Manual und angehängtem Pedal und ist noch zum großen Teil original erhalten. Wie viele andere ostfriesische Kirchen verfügt sie über einen freistehenden Glockenturm. Auf einer Warft entstand im 13. Jahrhundert die Bagbander Kirche, deren Apsis und Gewölbe später abgetragen wurden. Das Taufbecken aus Bentheimer Sandstein ist ältester Einrichtungsgegenstand. Aus dem 15. Jahrhundert stammen die Kreuzigungsgruppe und die Doppelmadonna im Strahlenkranz. Die Kanzel datiert von 1654. Ähnlich wie Müller brachte auch Heinrich Wilhelm Eckmann einen westfälischen Einfluss auf die Orgellandschaft Ostfriesland. Seine weitgehend erhaltene Orgel aus dem Jahr 1775 weist 14 Register auf einem Manual auf. Der Kirchturm im Stil der Neugotik ersetzt seit 1895 den mittelalterlichen Glockenstuhl. Die St.-Petri-Kirche in Aurich-Oldendorf wurde in der Zeit um 1270–1280 aus gelblichen Backsteinen mit einem rechteckigen Chor und einem separaten Glockenturm des geschlossenen Typs errichtet. Nur im Chor ist das ursprüngliche Gewölbe erhalten. Der kleine Taufstein aus Bentheimer Sandstein ist stark verwittert. Die Kanzel datiert von 1695. Im Chorbogen ist noch der alte Orgelprospekt von Valentin Ulrich Grotian aus dem Jahr 1692 erhalten. Die Orgel stand zuerst in der Reformierten Kirche in Bunde und wurde 1791 nach Aurich-Oldendorf verkauft. Das Innenwerk stammt aus dem Jahr 1973 von Jehmlich Orgelbau Dresden. Die mittelalterliche Petrus-und-Paulus-Kirche in Timmel wurde im Jahr 1717 Opfer einer Überschwemmung und musste aufgegeben werden. Im Jahr 1736 erfolgte die Fertigstellung der heutigen barocken Kirche. Noch aus dem Vorgängerbau stammen das Retabel aus den 1640er-Jahren; die Kanzel datiert von 1695. Von der Orgel, die Johann Friedrich Constabel im Jahr 1740 erbaute, ist nur noch der Prospekt erhalten. Dahinter befindet sich ein neues Werk der Gebr. Hillebrand aus dem Jahr 1962 mit 18 Registern auf zwei Manualen und Pedal. Architektonisch vom Historismus geprägt sind die Mittegroßefehner Kirche (1857) und die neugotische Auferstehungskirche (Ostgroßefehn) (1894/95), die beide für die bis dahin deutlich gewachsenen Fehnkolonien errichtet wurden. Die jüngste Kirche der Gemeinde steht in Spetzerfehn. Nachdem dort 1950 eine Kapellengemeinde gegründet wurde, erlangte die Kirchengemeinde mit dem Bau der Christus-Kirche im Jahr 1970 ihre Selbstständigkeit. Weitere Bauwerke In Großefehn stehen fünf restaurierte Galerie-Holländerwindmühlen. Großefehn nennt sich deshalb auch „Mühlengemeinde“ und „Fünf-Mühlen-Land“. Die Mühle Steenblock im Ortsteil Spetzerfehn wird als einzige noch bewirtschaftet. Die erste Mühle wurde dort 1818 errichtet und nach einem Brand 1885 durch einen dreistöckigen Galerieholländer ersetzt. Nachdem die Mühle 1953 stillgelegt wurde, fand 1961 eine Renovierung statt. Seitdem betreibt die Familie Steenblock wieder die Mühle. Neben dem Antrieb durch Wind gibt es auch die Möglichkeit, den Mahlbetrieb in Zeiten der Flaute durch einen Motor sicherzustellen. Der einstöckige Galerieholländer in Bagband stammt aus dem Jahre 1812 und wurde 1988 renoviert. Weitere Mühlen befinden sich in den Ortsteilen Ostgroßefehn (erbaut 1804), Westgroßefehn (1898) und Felde (1866). In der Mühle in Ostgroßefehn werden Kunstausstellungen gezeigt, zudem ist dort ein Standesamt untergebracht. Entlang der Fehnkanäle in West-, Mitte- und Ostgroßefehn sowie in Spetzerfehn stehen zahlreiche historische Holländer-Klappbrücken, die zusammen mit den Kanälen das typische Fehnbild ausmachen. Historische Schleusen werden instand gehalten und dienen auch weiterhin ihrem Zweck: sowohl der Entwässerung des Landstrichs als auch als Durchlass für kleinere Boote. Im Ortsteil Timmel gibt es eine größere Anzahl historischer Gebäude, darunter aus der Zeit um 1650 die Alte Brauerei Blehs. Weitere historische Gebäude sind das Alte Vogthaus (1794), das Gebäude der 1846 gegründeten Seefahrtschule, die Alte Küsterei (1857) und das Geburtshaus des Philosophen Wilhelm Schapp aus der Zeit um 1850. Ebenfalls finden sich mehrere historische Gebäude im Ortsteil Westgroßefehn. Sie sind dort entlang des Großefehnkanals aufgereiht. Zu den eindrucksvollsten Bauten zählt das Kapitänshaus aus dem Jahr 1835, das von einem zu Wohlstand gekommenen Kapitän erbaut wurde. Die anderen Bauten sind ebenfalls Wohnhäuser und stammen ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert. Einzelne typische Kolonistenhäuser sind noch an den Fehnkanälen in Spetzerfehn und in Ostgroßefehn erhalten. In der Gemeinde gibt es weiterhin eine Anzahl von Gulfhöfen, die auf der Geest und im Moor zwar in der Regel nicht die Größe der Höfe wie in der fruchtbareren Marsch erreichen, jedoch wie diese aufgebaut sind. Ein historischer Hof aus dem Jahr 1768 steht im Ortskern von Aurich-Oldendorf. Dessen Wohnteil wurde zwar 1950 gründlich verändert, aber unter Beibehaltung der historischen Fassade. Am Alten Postweg zwischen Bagband und Strackholt ist ein baulich kaum veränderter Gulfhof aus dem Jahr 1827 zu sehen. Er gehörte zu einem einst größeren Komplex mit einer (nicht mehr erhaltenen) Mühle. Zu den ältesten erhaltenen Gulfhöfen im Gemeindegebiet zählt der Hof Pleis im Ortskern von Bagband. Das Vorderhaus mit dem Wohnteil wurde 1811 neu erbaut, das Gebälk des Wirtschaftsteils lässt sich jedoch auf die Zeit um 1700 datieren. In Ostgroßefehn und Spetzerfehn stehen Gulfhöfe entlang der Fehnkanäle. Neben den Kirchen stehen in der Gemeinde Großefehn noch eine ganze Reihe von weiteren Gebäuden unter Denkmalschutz. Allein in Timmel sind neben dem Gebäude der früheren Seefahrtsschule und dessen Nebengebäuden noch sieben Gulfhöfe unter Denkmalschutz gestellt. In Westgroßefehn sind drei Wohnhäuser, sechs Gulfhäuser und die ehemalige Schmiede denkmalgeschützt. Sport Der überregional bekannteste Sportverein aus der Gemeinde ist der SuS Timmel: Dessen Frauen-Fußballteam spielte von 2004 bis 2007 in der Zweiten Bundesliga sowie mehrere Jahre in der Regionalliga. Weitere Universalsportvereine sind SV Großefehn, FT Spetzerfehn und SV Spetzerfehn, TSV Holtrop sowie SuS Strackholt. Am Timmeler Meer sind sowohl die dortigen Paddelfreunde als auch ein Bootssportverein beheimatet. Friesensportler sind im Boßelverein Akelsbarg aktiv. Darüber hinaus gibt es einen Schwimmverein, eine Wandergruppe und vier Schützenvereine. Neben dem im RTC beheimateten Fahr- und Reitverein Timmel gibt es einen weiteren im Ortsteil Moorlage. Neben dem RTC befinden sich weitere Sportstätten in der Gemeinde: Sporthallen in Holtrop, Ostgroßefehn, Mittegroßefehn, Spetzerfehn und Strackholt sowie Tennisanlagen in Ostgroßefehn, Spetzerfehn und Strackholt. Ein beheiztes Freibad ist im Ortsteil Holtrop zu finden, ein Naturfreibad am Timmeler Meer. Regelmäßige Veranstaltungen Im 2008 neu eröffneten Reitsport-Touristik-Centrum (RTC, Eigenschreibweise) finden regelmäßig nicht nur Pferdeturniere und -schauen, sondern auch regionale Wirtschaftsmessen, Konzerte und andere Veranstaltungen wie zum Beispiel Theateraufführungen statt. Derzeit (2023) plant die Gemeinde, den Betrieb des seit langem defizitären RTC einzustellen. Durch Großefehn verläuft zudem der jährlich stattfindende Ossiloop, ein Langlauf zwischen Leer und Esens, der großenteils der ehemaligen Kleinbahnstrecke Leer-Aurich-Wittmund folgt. Alljährlich im Mai/Juni finden die Großefehntjer Mühlentage statt. Traditioneller Bestandteil der Mühlentage ist ein Bootrennen auf dem Fehnkanal in Ostgroßefehn. In einer der historischen Kirchen der Gemeinde findet für gewöhnlich eines der Konzerte des alljährlichen Musikalischen Sommers in Ostfriesland statt. In Timmel wird alljährlich das Hafenfest gefeiert, an dem nicht nur die Skipper teilnehmen, die dort ihre Boote vertäut haben, sondern auch solche von außerhalb anreisen. Sprache In Großefehn wird neben Hochdeutsch Ostfriesisches Platt gesprochen. Unter Erwachsenen ist es durchaus Alltagssprache. Um auch Kinder und Jugendliche wieder mehr mit dem Ostfriesischen Platt vertraut zu machen, hat Großefehn als eine der ersten beiden Kommunen des Landkreises (die andere ist die Nachbarstadt Wiesmoor) 2009 einen ehrenamtlichen Plattdeutsch-Beauftragten ernannt. Mit dem Spracherwerb soll bereits in Kindergärten angesetzt werden. Wirtschaft und Infrastruktur Die Wirtschaft in der Gemeinde Großefehn wird von mittelständischen Betrieben geprägt, worunter jedoch nur wenige Industriebetriebe sind. Der Tourismus ist mit fast 200.000 Übernachtungen im Jahr von einiger Bedeutung, ebenso die Landwirtschaft, die den größten Teil der Gemeindefläche beansprucht. Großefehn ist eine Auspendler-Gemeinde. 5487 Fehntjer sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in der Gemeinde gibt es (stand 30. Juni 2022) 369 Betriebe. 2786 Einpendlern aus anderen Kommunen stehen 4155 Auspendler in andere Kommunen gegenüber, was ein negatives Pendlersaldo von 751 ergibt. Alle ländlichen Gemeinden auf dem Festland des Landkreises Aurich haben ein negatives Pendlersaldo. Unter ihnen hat Großefehn jedoch nach dem Flecken Marienhafe das zweitbeste relative Verhältnis zwischen Auspendlern und Einpendlern. Separate Arbeitsmarktdaten für Großefehn werden nicht erhoben. Gemeinsam mit den Städten Aurich und Wiesmoor sowie den Gemeinden Ihlow und Südbrookmerland bildet Großefehn den Bereich Geschäftsstelle Aurich innerhalb des Bezirks Emden-Leer der Agentur für Arbeit. Im Geschäftsbereich Aurich lag die Arbeitslosenquote im Februar 2023 bei 6,9 Prozent. Sie lag damit 1,1 Prozentpunkte über dem niedersächsischen Durchschnitt von 5,8 Prozent. Die Gemeinde verfügt über drei Gewerbegebiete in Ostgroßefehn, in Mittegroßefehn an der B 72 sowie in Ulbargen an der B 72. Das letztgenannte, zwölf Hektar große Gewerbegebiet ist das jüngste: Es wurde 2004 eingerichtet, nachdem bereits Ende der 1990er-Jahre Gewerbeflächen in der Gemeinde knapp geworden waren. Angesiedelt haben sich fast ausschließlich Unternehmen aus der Gemeinde, die an ihrem bisherigen Standort nicht expandieren konnten. Tourismus Der Tourismus ist ein Standbein der lokalen Wirtschaft mit Schwerpunkt in den im Westen der Gemeinde gelegenen Ortsteilen Timmel und Westgroßefehn. Touristische Infrastruktur befindet sich vor allem am Timmeler Meer, wo auch die Tourist-Info für das gesamte Gemeindegebiet angesiedelt ist. Am Timmeler Meer befinden sich ein Sandstrand, Bootsliegeplätze, ein Campingplatz mit Trekkinghütten und eine Paddel- und Pedalstation, an der sich Touristen Boote oder Fahrräder ausleihen und an Stationen in anderen Gemeinden wieder abgeben können. Eine weitere Paddel-und-Pedalstation liegt am Fehnmuseum Eiland in Westgroßefehn. Neben dem Campingplatz finden sich Ferienwohnungen, Ferienhäuser und Pensionen sowie eine kleine Anzahl von Hotels in der Gemeinde. Einzelne Bauernhöfe bieten ebenfalls Übernachtungsmöglichkeiten an. Insgesamt stehen in der Gemeinde etwa 900 Betten zur Verfügung, hinzu kommen 180 Stellplätze auf dem Campingplatz. Rund 180 Privatvermieter finden sich in der Gemeinde, die steigende Tourismuszahlen verbucht. Waren es 2008 noch 182.000 Übernachtungen, so zählte die örtliche Tourismus-GmbH ein Jahr später 191.100. Neben dem Wasser-Tourismus und dem Fahrrad-Tourismus setzt die Gemeinde seit einiger Zeit auch auf den Pferde-Tourismus. So wurde 2008 das Reitsport-Touristik-Centrum in Timmel eröffnet, das sich in Gemeindeeigentum befindet. Dort finden nicht nur Pferdesport-Veranstaltungen statt, für Pferdebesitzer stehen auch Boxen und weitere Infrastruktur bereit, um ihrem Hobby nachgehen zu können. Außerdem werden Schulungen angeboten. Die Gemeinde verfügt über ein Radwegenetz, das jedoch noch nicht an allen Hauptverkehrsstraßen lückenlos vorhanden ist. Daneben wurde parallel zum Bau des Reitsport-Zentrums auch ein Reiterwegenetz angelegt, das sowohl asphaltierte als auch Sandwege umfasst. Es ist im Gemeindegebiet 114 Kilometer lang. Ein infrastrukturelles Problem für den Bootstourismus in der Gemeinde ist ein zirka acht Kilometer langer Abschnitt des Fehntjer Tiefs, der infolge Verschlammung nur noch eine Wassertiefe von 60 bis 80 Zentimetern aufweist und damit für (größere) Boote kaum noch befahrbar ist. Ein Wechsel der Eigentümerschaft vom Land Niedersachsen an den Entwässerungsverband Oldersum wird angestrebt. Die Gemeinde Großefehn subventioniert den Tourismus jährlich mit einer sechsstelligen Summe. Im Jahr 2010 wurden die gemeindlichen Einrichtungen mit etwa 327.000 Euro bezuschusst. Darunter waren 236.500 Euro für das Reitsport-Touristik-Centrum, 130.000 Euro für die Tourist-Info und 27.500 Euro für die Schwimmbäder. Lediglich der im Gemeindeeigentum befindliche Campingplatz am Timmeler Meer warf einen Gewinn ab: 59.600 Euro. Im Jahr 2009 lag der Zuschuss mit 573.000 Euro jedoch noch höher. Landwirtschaft Die Landwirtschaft in der Gemeinde ist wesentlich von der Milchwirtschaft geprägt. Neben Grünland finden sich auch Anbauflächen für Futterpflanzen wie Mais. Der Landkreis Aurich lag 2021 auf Platz 14 der größten Milcherzeuger-Landkreis in Deutschland, wozu die Gemeinde Großefehn als der Fläche nach drittgrößte des Landkreises in hohem Maße beiträgt. In jüngerer Zeit litten die Milchbauern der Gemeinde unter zu niedrigen und stärker schwankenden Milchpreisen. Ludwig Soeken, Milchbauer in Timmel, ist einer der Sprecher des Bundes Deutscher Milchbauern, der sich für bessere Marktbedingungen der Milchbauern einsetzt. Milchwirtschaft wird fast ausschließlich mit Kühen betrieben, jedoch haben sich einzelne Landwirte auch auf andere Tiere spezialisiert, etwa das Ostfriesische Milchschaf. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe hat in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen, wohingegen die Betriebsgrößen stiegen. So fanden sich beispielsweise im Ortsteil Timmel 1949 noch 87 landwirtschaftliche Betriebe, von denen allein 53 eine Betriebsfläche von weniger als fünf Hektar besaßen. Im Jahr 2006 waren in Timmel nur noch zwölf Vollerwerbsbetriebe vorhanden. Zunehmend setzen Landwirte auch auf die Energieproduktion durch Biogas, was vereinzelt jedoch zu Protesten in der Bevölkerung führt. Die Anlagen dienen zur Nahversorgung mit Strom und Wärme. So wird mit einer Biogasanlage in Kombination mit einem Blockheizkraftwerk in Aurich-Oldendorf Strom ins Netz eingespeist und Abwärme über eine 2,7 Kilometer lange Leitung in Ostgroßefehntjer Schulzentrum geleitet. Der Boom bei Biogas-Anlagen führt jedoch zu einer Ausweitung der Anbauflächen für Mais, die in Ostfriesland insgesamt zwischen 2005 und 2010 um 60 Prozent gewachsen sind. Damit einher ging eine Verteuerung der Landwirtschaftsflächen für Ackerland und Grünland um 31 und 40 Prozent. Auf Widerstand der Bevölkerung treffen Pläne zur Errichtung von Ställen zur Massentierhaltung, die zum Teil denn auch nicht umgesetzt wurden. Landwirtschaftliche Flächen werden darüber hinaus zur Gewinnung von Windenergie genutzt. In der Gemeinde gibt es insgesamt 33 Windkraftanlagen, darunter 18 in einem Windpark nordöstlich von Bagband, Timmeler Kampen. Ein weiteres Gebiet nordwestlich von Bagband mit 14 bis 20 Anlagen soll laut einem Beschluss des Gemeinderats künftig entstehen. Darüber hinaus soll im Windpark Timmeler Kampen durch Repowering mehr Energie gewonnen werden. Verkehr Großefehn liegt abseits der Autobahnen und wird durch zwei Bundesstraßen erschlossen. Einen Bahnanschluss gibt es nicht mehr. Durch das Gemeindegebiet verlaufen die Bundesstraßen 72 und 436. Aus Richtung Hesel kommend, benutzen beide Bundesstraßen bis zur Gabelung in Bagband dieselbe Trasse. Die B 72 verläuft ab Bagband über Mittegroßefehn weiter nach Aurich. Die B 436 durchquert zunächst den Ort Bagband selbst, anschließend den Ortsteil Strackholt und führt schließlich weiter über Wiesmoor bis zur A 29 bei Sande. Erschlossen wird die Gemeinde zudem von der Landesstraße 14. Diese führt von Aurich-Schirum über Westgroßefehn und Timmel zur Anschlussstelle Neermoor an der A 31. Die nächstgelegenen Anschlussstellen sind Neermoor an der A 31 (knapp 16 Kilometer ab dem Ostgroßefehntjer Zentrum), Leer-Ost (etwa 20 Kilometer), Filsum (fast 24 Kilometer) und Apen/Remels (22 Kilometer) an der A 28. Buslinien bilden den öffentlichen Personennahverkehr. Von großer Wichtigkeit sind dabei zwei Schnellbuslinien zwischen Aurich und Leer durch das Gemeindegebiet, da sie Großefehn nicht nur an die Kreisstadt, sondern zugleich an den Bahnhof Leer anbinden, wo Anschluss an das nationale Intercity-Netz besteht. Die Route der Linie 460 führt auf der B 72 durchs Gemeindegebiet mit Stopps bei Holtrop, in Mittegroßefehn und Bagband, die Linie 481 benutzt die Landesstraße 14 und bindet Westgroßefehn sowie Timmel an. Beide Linien verkehren stündlich. Auf der Linie 460 wurde im Juni 2011 der einmillionste Fahrgast seit Einführung der Linie im Jahr 2001 gezählt. Weitere Busse verkehren mit geringerer Vertaktung zwischen Aurich und Wiesmoor mit Stopps in den östlichen Fehntjer Ortsteilen. Außerdem besteht ein Zubringerverkehr von Wiesmoor über das östliche Großefehntjer Gemeindegebiet zur Schnellbuslinie Aurich-Leer. In Bagband hat der Zubringer Anschluss zum Schnellbus. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1967/1969 hatte Großefehn Stationen an der Kleinbahn Leer–Aurich–Wittmund, einer Meterspurbahn. Haltepunkte befanden sich in Bagband, Strackholt, Spetzerfehn, Ostgroßefehn, Wrisse und Holtrop (Aufzählung von Süd nach Nord). Die Strecke wurde wegen Unrentabilität stillgelegt. Der letzte Personenzug fuhr 1967, der letzte Güterzug zwei Jahre später. Auf der Trasse befindet sich heute der Ostfriesland-Wanderweg. Die Fehnkanäle und die natürlichen Tiefs haben heute für die kommerzielle Schifffahrt keine Bedeutung mehr. Allerdings werden sie weiterhin für den Boots- und Paddeltourismus genutzt. Wegen niedriger und starrer Brücken in Mitte- und Ostgroßefehn ist jedoch eine Durchfahrt in West-Ost-Richtung (letztlich von der Ems bis zum Nordgeorgsfehnkanal) nur für Paddelboote oder motorisierte Boote ohne Aufbauten möglich. Die nächstgelegenen Flugplätze sind diejenigen in Emden und Leer, der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen mit Linienbetrieb ist derjenige in Bremen. Ansässige Unternehmen In Großefehn ist das 1949 gegründete Baustoffhandels-Unternehmen Trauco beheimatet, das in den 1970er- und 1980er-Jahren durch Übernahmen im nordwestdeutschen Raum stark gewachsen ist und mittlerweile 23 Tochterunternehmen aufweist. Die Firmengruppe Beekmann hat sich aus einem Fuhrunternehmen einer Schifferfamilie zu einem Transport- und Entsorgungsdienstleister entwickelt. Beekmann übernimmt im Landkreis Aurich die Abfallentsorgung und ist ins Duale System Deutschland integriert. Daraus entstand die 1983 gegründete Tochterfirma Polybeek, ein Unternehmen der Kunststoffrecycling- und der Kunststoffverarbeitungsbranche, das inzwischen auch in Indien auf diesem Sektor aktiv ist. Eine weitere Tochterfirma, Beekmann Umwelttechnik, hat sich auf den Bereich Bausanierung konzentriert. Zur Beekmann-Gruppe gehört darüber hinaus die Aurich-Wiesmoorer Torfverwertungsgesellschaft, die in Wiesmoor und Großheide Torfabbau betreibt. Seit 1954 existiert in Mittegroßefehn der Bekleidungshersteller Hinrichs. Die Kleinst-Brauerei Ostfriesen-Bräu ist seit 1999 im Ortsteil Bagband ansässig, wo zuvor bereits eine alte Brauerei bestanden hatte. Das Unternehmen setzt pro Jahr etwa 1200 Hektoliter dunkles Landbier ab. Die Brauerei ist die einzige Ostfrieslands, da das Jever-Pils in Jever und somit im Oldenburger Land gebraut wird. Medien Großefehn liegt im Verbreitungsgebiet zweier Tageszeitungen: zum einen der in Aurich erscheinenden Ostfriesischen Nachrichten, zum anderen der in Leer erscheinenden Ostfriesen-Zeitung. Letztere ist die einzige Tageszeitung Ostfrieslands, die regionsweit erscheint. Redaktionell betreut wird Großefehn von Aurich aus (Ostfriesische Nachrichten) beziehungsweise von Wiesmoor aus (Ostfriesen-Zeitung). Daneben erscheint zweimal pro Woche ein Anzeigenblatt aus dem Verlag der Emder Zeitung: Mittwochs erscheint es als Heimatblatt, sonntags als Sonntagsblatt. Die Redaktion ist in Aurich ansässig. Aus der Gemeinde berichtet zudem der Bürgerrundfunk-Sender Radio Ostfriesland. Öffentliche Einrichtungen Die Großefehntjer Gemeindeverwaltung unterhält nicht nur ihre nachgeordneten Einrichtungen wie den Bauhof und die Tourist-Info, sondern ist darüber hinaus auch Eigentümerin des Wirtschaftsbetriebes Reitsport-Touristik-Centrum im Ortsteil Timmel. Im Rathaus ist zudem eine Polizeistation für das Gemeindegebiet untergebracht, die zu den üblichen Bürozeiten besetzt ist. Nach Dienstschluss wird das Gemeindegebiet von der Polizeistation in Wiesmoor betreut. Die Kreisverwaltung unterhält in Mittegroßefehn als Tochterunternehmen die Recycling-Anlage des Landkreises. Diese firmiert unter Materialkreislauf- und Kompostwirtschaft GmbH & Co. KG. Angeschlossen sind ein Bioabfallkompostwerk, eine Mechanisch-Biologische Abfallbehandlungsanlage für Restabfälle, ein Wertstoffhof, eine stationäre Sonderabfallannahmestelle sowie zwei Lagerhallen für Biomasse, Altholz, Baustellenabfall und Elektro-Altgeräte. Eine Mülldeponie befindet sich dort seit 1993 nicht mehr, Deponieabfall wird seither nach Breinermoor in den Landkreis Leer gebracht. Die Deponie wurde begrünt und ist in der sonst flachen Landschaft eine Landmarke. Im Mühlenhof in Ostgroßefehn ist eine Außenstelle des Amtes für Kinder, Jugend und Familie der Auricher Kreisverwaltung angesiedelt. Sie ist zuständig für die Gemeinden Großefehn und Ihlow sowie die Stadt Wiesmoor. Seit Ende November 2007 befindet sich in Spetzerfehn der Standort eines Rettungsfahrzeugs, da die Anfahrtswege aus Aurich zu lang waren. Daraus wurde später eine eigenständige Rettungswache, gemeinsam betrieben von DRK und Landkreis. Der Brand- und Katastrophenschutz wird von der Freiwilligen Feuerwehr Großefehn übernommen. Nach der Gemeindereform 1972 gliedert sie sich in die folgenden neun Feuerwehren auf Ortsebene: Akelsbarg-Felde-Wrisse, Aurich-Oldendorf, Bagband, Holtrop, Ostgroßefehn, Spetzerfehn, Strackholt, Timmel sowie West-, Mittegroßefehn/Ulbargen. Im Großefehntjer Ortsteil Bagband befindet sich eine von rund 1800 Messstellen des Radioaktivitätsmessnetzes des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Die Messstation misst die Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) am Messort und sendet die Daten an das Messnetz. Die über 24 Stunden gemittelten Daten können direkt im Internet abgerufen werden. Bildung und Erziehung In der Gemeinde Großefehn gibt es eine Kooperative Gesamtschule im Hauptort Ostgroßefehn und vier Grundschulen in den Ortsteilen Mittegroßefehn, Holtrop, Spetzerfehn und Strackholt. An der KGS wird Gymnasialunterricht bis zur zehnten Klasse angeboten, ihr Abitur müssen Fehntjer Schüler folglich außerhalb der Gemeinde machen. Die nächstgelegenen Möglichkeiten sind das Gymnasium Ulricianum oder die IGS Aurich-West in der Kreisstadt sowie die KGS in Wiesmoor. Für die frühkindliche Bildung stehen in der Gemeinde Kindertagesstätten und -krippen in Mittegroßefehn, Spetzerfehn, Strackholt, Timmel, Holtrop, Moorlage und Ostgroßefehn zur Verfügung. Eine Schule für Lernhilfe, die David Fabricius-Schule, findet sich in Ostgroßefehn. Bildungsangebote für Erwachsene macht eine Außenstelle der Auricher Kreisvolkshochschule. Die nächstgelegene Fachhochschule ist die Hochschule Emden/Leer, die nächstgelegene Universität die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. In Mittegroßefehn ist das Leinerstift beheimatet, eine sozialpädagogische Einrichtung des Diakonischen Werks. Angeschlossen ist eine Schule. Neben der Trägerschaft der Förderschule mit dem Schwerpunkt „Emotionale und Soziale Entwicklung“ ist das Leinerstift in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe tätig. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Gemeinde Der Philosoph und Jurist Wilhelm Schapp wurde 1884 in Timmel geboren. Er studierte unter anderem bei Edmund Husserl in Göttingen und promovierte 1909 im Fach Philosophie über die „Phänomenologie der Wahrnehmung“, welche heute zu den Hauptschriften der klassischen Phänomenologie zählt. Schapp starb 1965 in Sanderbusch (Gemeinde Sande bei Wilhelmshaven). Die 1850 ebenfalls in Timmel geborene Schriftstellerin Toni Wübbens machte sich mit auf Plattdeutsch verfassten Erzählungen einen Namen. Sie starb 1907 in Hannover. Auch der Historiker und Heimatforscher Ufke Cremer (1887–1958) ist gebürtiger Timmeler. Johann Habben (geboren 1875 in Bagband) war Polizeipräsident in Hannover zu Zeiten der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus und trat als Sympathisant (und später Mitglied) der NSDAP in Erscheinung. Die 1899 in Großefehn geborene und 1945 auch dort verstorbene Anna de Wall war eine querschnittsgelähmte Scherenschnitt-Künstlerin. Der 1932 in Aurich-Oldendorf geborene Jurist Johann-Tönjes Cassens gehörte von 1963 bis 1981 der Bremischen Bürgerschaft als CDU-Abgeordneter an und war 1971 Spitzenkandidat bei der Bürgerschaftswahl. Von 1981 bis 1990 fungierte er als Wissenschaftsminister im Kabinett des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Der Unternehmer Rolf Trauernicht kam 1924 in Ostgroßefehn zur Welt. Er gründete einen erfolgreichen Baustoffhandel in der Gemeinde, wurde überregional jedoch vor allem durch sein Engagement für den Weiterbau der A 31 bekannt (siehe Abschnitt Ehrenbürger unten). In Mittegroßefehn wurde 1955 der niedersächsische Landespolitiker Hans Bookmeyer geboren, der zweimal als Abgeordneter dem Landtag angehörte. Aus Holtrop stammt die TV- und Radio-Journalistin Mareike Aden, die als Berichterstatterin in Moskau arbeitet. 2011 erhielt sie den Peter-Boenisch-Gedächtnispreis für ihre Arbeit. Der YouTuber und Rapper Taddl alias TJ_beastboy wurde 1994 in Roth geboren und wuchs in Großefehn auf. Personen, die vor Ort gewirkt haben Der ostfriesische Erweckungsprediger Remmer Janssen war 44 Jahre lang Pastor in Strackholt. Ehrenbürger Die Gemeinde Großefehn hat dem gebürtigen Fehntjer Rolf (genannt „Tullum“) Trauernicht die Ehrenbürgerschaft verliehen. Damit würdigte die Kommune nicht nur Trauernichts Wirken als Unternehmer in der Gemeinde, unter anderem als Gründer und langjähriger Inhaber der Baustoffhändler-Kette Trauco, sondern auch sein Engagement für den vorzeitigen Lückenschluss der Bundesautobahn 31. Trauernicht hatte gemeinsam mit dem emsländischen Landrat Hermann Bröring eine erfolgreiche Spendenaktion in der regionalen Wirtschaft und bei Privatleuten ins Leben gerufen, um die für die Region wichtige Anbindung nach Nordrhein-Westfalen früher als geplant fertigstellen zu können. Aus seinem Privatvermögen gab Trauernicht 125.000 Euro hinzu. Der Lückenschluss erfolgte 2004, zehn Jahre früher als im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen. Die private Vorfinanzierung eines Autobahnabschnitts war bis dahin in Deutschland ohne Beispiel. Literatur Silke Arends-Vernholz: Großefehn – Land sehen! Verlag SKN, Norden, ISBN 3-928327-86-0. Kurt Brüning (Hrsg.): Handbuch der historischen Stätten Deutschlands. Band 2: Niedersachsen und Bremen (= Kröners Taschenausgabe. Band 272). Kröner, Stuttgart 1958, . Jürgen Bünstorf: Die ostfriesische Fehnsiedlung als regionaler Siedlungsform-Typus und Träger sozial-funktionaler Berufstradition. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1966. Heinrich Gronewold: Großefehn, Erzählungen und Bilder aus der ältesten ostfriesischen Fehnkolonie und ihrer Umgebung. Verkehrs- und Heimatverein Großefehn e. V., Achim 1983. Helmut Sanders: Großefehn-Wiesmoor. Sutton, Erfurt 1999, ISBN 3-89702-162-5. Helmut Sanders: Die Besiedlung des Großefehns im Rahmen der ostfriesischen Fehnkolonisation. (ungedr. Manuskript im Staatsarchiv Aurich 1948) Heinrich Tebbenhoff: Großefehn. Aurich 1963. Manfred Wittor: Mühlen in Großefehn – Geschichte aller Korn-, Wasserschöpf- und Sägemühlen Großefehns aus über 400 Jahren. Verkehrs- und Heimatverein Großefehn e. V. Weblinks Großefehn Siegfried Lüderitz: Mittegroßefehn. (PDF; 58 kB) Ortschronisten der Ostfriesischen Landschaft Siegfried Lüderitz: Westgroßefehn. (PDF; 59 kB) Ortschronisten der Ostfriesischen Landschaft Paul Weßels: Ostgroßefehn (PDF; 59 kB) Ortschronisten der Ostfriesischen Landschaft Einzelnachweise Ort im Landkreis Aurich Ersterwähnung im 11. Jahrhundert Gemeindegründung 1972
196211
https://de.wikipedia.org/wiki/U-Bahn%20N%C3%BCrnberg
U-Bahn Nürnberg
Die U-Bahn Nürnberg wurde am 1. März 1972 eröffnet und ist seit dem 15. März 2008 der erste dauerhafte Betrieb mit einer fahrerlosen U-Bahn-Linie in Deutschland. Sie bildet das Rückgrat des schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehrs in Nürnberg und Fürth und wird durch die S-Bahn und in Nürnberg zusätzlich durch die Straßenbahn und den Stadtbus ergänzt. Auf ihrem 38,2 Kilometer langen Streckennetz verkehren drei Linien. Im Jahr 2018 fuhren mit der Nürnberger U-Bahn insgesamt 122,159 Millionen Fahrgäste, pro Tag also im Schnitt etwa 334.682 Personen. Seit der Erweiterung der U-Bahn-Linie 3 im Dezember 2011 sind 66 Prozent der Nürnberger Einwohner wohnungsnah an das U-Bahn-Netz angeschlossen. Für Planung, Bau und Erneuerung der Anlagen ist das U-Bahn-Bauamt der Stadt Nürnberg zuständig. Dieses ging 2009 aus der Abteilung U-Bahn-Bau des inzwischen aufgelösten Tiefbauamtes hervor. Die Instandhaltung der Anlagen obliegt den Städten Nürnberg und Fürth. Betrieben wird die U-Bahn im Nürnberger Streckennetz von der Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg (VAG) und im Fürther Streckennetz von der infra fürth verkehr gmbh (infra), die ihren Anteil an den Betriebsleistungen jedoch ebenfalls von der VAG ausführen lässt. Da beide Verkehrsbetriebe Mitglied im Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN) sind, ist die U-Bahn Teil des gemeinsamen Verkehrs- und Tarifverbundes. Liniennetz Anmerkung: die im Linienlauf fett dargestellten Stationen markieren die Endhaltestellen und Umsteigestationen zu anderen U-Bahn-Linien, zur S-Bahn und zum Regionalverkehr. Linien Hardhöhe – Langwasser Süd Die U1 ist die am stärksten frequentierte Nürnberger U-Bahn-Linie. Beginnend im Nürnberger Stadtteil Langwasser verbindet sie die Städte Nürnberg und Fürth. Sie bedient 27 Bahnhöfe, eine Fahrt benötigt für den 18,5 km langen Linienweg 35 Minuten. Einer der am stärksten genutzten Abschnitte ist der vom Hauptbahnhof durch die Lorenzer Altstadt zum Plärrer, was sich vor allem bei Großveranstaltungen wie dem Nürnberger Christkindlesmarkt bemerkbar macht. Röthenbach – Flughafen Die Bezeichnung U2 existiert seit der Eröffnung des ersten Streckenabschnitts Plärrer – Schweinau am 28. Januar 1984, jedoch verkehrte sie bis zur Eröffnung der Strecke Plärrer – Opernhaus – Hauptbahnhof nur in der Schwachverkehrszeit mit einem Pendelwagen zwischen Plärrer und Schweinau bzw. später bis Röthenbach. Die U2 bedient auf ihrem 13,2 km langen Linienweg 16 Bahnhöfe und benötigt dafür 22 Minuten. Vor allem der Abschnitt Hauptbahnhof – Rathenauplatz (hier überlappende Bedienung von U2 und U3) wird zu Schulzeiten oft an den Rand seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Entlang der Strecke liegen mehrere Museen und Freizeiteinrichtungen wie das Multiplexkino Cinecittà. Seit Stilllegung des Flughafens Tempelhof ist der Nürnberger Flughafen der einzige deutsche Flughafen mit U-Bahn Anbindung, da die Flughäfen der anderen U-Bahn-Städte Berlin, Hamburg und München nur durch die jeweilige S-Bahn bedient werden. Mit 12–13 Minuten ist die Fahrzeit zwischen Hauptbahnhof und Flughafen eine der kürzesten ÖPNV-Fahrtzeiten zwischen Stadtzentrum und Flughafen deutschlandweit. Großreuth bei Schweinau – Nordwestring Die Linie hat eine Länge von 9,2 km, bedient 14 Bahnhöfe bei einer Fahrzeit von 19 Minuten und bindet die Wohngebiete im Osten Wetzendorfs, in Gärten hinter der Veste und Sündersbühl sowie das Gewerbegebiet Tillypark an die Innenstadt und den Hauptbahnhof an. Auf dem Abschnitt Rothenburger Straße – Rathenauplatz verkehrt sie zusammen mit der Linie U2. Die Strecke der U3 wird noch (aus-)gebaut und in westliche Richtung verlängert. So wurde auf dem Nordast am 22. Mai 2017 die Strecke über das Klinikum Nord bis zum Nordwestring für den Fahrgastbetrieb eröffnet. Ein weiterer Ausbau erfolgt am Südast der U3. Mit einer Länge von ebenfalls 1,1 km wurde die U3 am 15. Oktober 2020 nach Großreuth bei Schweinau verlängert. Die Erweiterung Richtung Gebersdorf ist seit 2020 in Bau und soll bis 2025 fertiggestellt werden. Ehemalige Linienbezeichnungen Eberhardshof – Messe Eingeführt wurde die Verstärkerlinie U11 zunächst mit der Verlängerung der U1 bis Weißer Turm am 28. Januar 1978. Sie wurde mit fortschreitender Erweiterung Richtung Fürth am 20. März 1982 bis zur Jakobinenstraße verlängert, aber mit der nächsten Erweiterung bis Fürth Hauptbahnhof zu ihrem langjährigen Endpunkt Eberhardshof zurückgezogen. In den 1990er Jahren war ihr südlicher Beginnpunkt Langwasser Süd. Weitere regelmäßige Endpunkte waren Gostenhof, Hasenbuck und Messe, im Zuge von Einrückfahrten auch Aufseßplatz, Scharfreiterring, Bärenschanze und Muggenhof. Eine Besonderheit der U11-Fahrten war, dass sie nur dann als Linie U11 ausgeschildert wurden, wenn der Endpunkt der Fahrt nicht gleichzeitig der Endpunkt der U1 und damit der finale äußere Endpunkt der Strecke war. So fuhr die U11 zwar von Langwasser Süd nach Eberhardshof als U11, in der umgekehrten Richtung jedoch als U1. Sinn dieser Regelung war, dass das Liniensignal U11 nur dazu diente, die Fahrgäste darauf aufmerksam zu machen, dass eine Fahrt nicht bis zum Streckenende ging, sondern als Kurzläufer an einem Unterwegsbahnhof endete. Diese Eigenschaft hatte sie mit ihrer Schwesterlinie U21 gemeinsam. Zuletzt unterstützte die Verstärkerlinie U11 die U1 von Montag bis Freitag während der Hauptverkehrszeit zwischen Eberhardshof und Messe. Der Linienweg betrug dabei 8,9 km, die Anzahl der Haltestellen 14 und die Fahrzeit 19 Minuten. Zusätzlich fuhr sie an den vier Adventssamstagen, während Großveranstaltungen oder Messen, und während der Fürther Michaeliskirchweih an den Wochenenden ab Hardhöhe. Zum Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2016 verschwand die U11-Linienbezeichnung auf den ersten Fahr- und Netzplänen und wird seit der Eröffnung der Teilstrecke der U3 zwischen Friedrich-Ebert-Platz und Nordwestring im Mai 2017 auf den bahnsteig- und fahrzeugseitigen Zugzielanzeigern nicht mehr angezeigt. Das Fahrtenangebot der Verstärker besteht weiterhin, wird jetzt aber unter der Linie U1 geführt. Röthenbach – Ziegelstein Zum Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2016 verschwand die U21-Linienbezeichnung auf den ersten Fahr- und Netzplänen und wird seit der Eröffnung der Teilstrecke der U3 zwischen Friedrich-Ebert-Platz und Nordwestring im Mai 2017 auf den bahnsteig- und fahrzeugseitigen Zugzielanzeigern nicht mehr angezeigt. Das Fahrtenangebot der Verstärker besteht weiterhin, wird jetzt aber unter der Linie U2 geführt. Die Linie U21 verstärkte die U2 zuletzt jeden Tag in der Haupt- und Nebenverkehrszeit auf dem Abschnitt Röthenbach – Ziegelstein. Sie befuhr also nahezu die gesamte U2-Strecke, mit Ausnahme der Teilstrecke zum Flughafen. Die Linie bediente 15 Bahnhöfe und benötigte für ihren 10,8 km langen Linienweg 20 Minuten. Bei Einrückfahrten wurden manchmal auch Ziele wie Hauptbahnhof oder Nordostbahnhof in Verbindung mit dem Liniensignal U21 ausgeschildert. Die Verstärkerlinie gab es zuvor schon zweimal auf anderen Teilstrecken: Ab der Eröffnung der Südstrecke der U2 verkehrte sie anfangs von Schweinau (1984), später von Röthenbach (1986), zum Plärrer, wechselte dort auf die Strecke der U1 und endete je nach Tageszeit am Aufseßplatz, Hasenbuck oder in Langwasser Süd als Verstärkung für die U1. Dieser Linienweg bestand bis zum Jahr 1988, als die U2-Strecke zwischen Plärrer und Hauptbahnhof in Betrieb ging und die beiden Stammstrecken seither linienrein befahren werden. Durch die Verstärkung auf der U1 durch die U21 gab es von 1984 bis 1988 kaum Fahrten der Linie U11. Mit fortschreitendem Bau der U2-Nord und der damit einhergehenden Rücknahme des Straßenbahnverkehrs wurde in den 1990er Jahren eine U21 von Hauptbahnhof bis Nordostbahnhof als morgendliches Verstärkerangebot im Schülerverkehr eingerichtet, das vor allem auf dem Abschnitt Hauptbahnhof – Wöhrder Wiese benötigt wurde. Sie verkehrte nur in Richtung Nordostbahnhof mit Fahrgästen; die Züge wurden als Leerfahrt zurückgeführt. Inzwischen übernimmt diese Verstärkungsaufgabe die U3. Eine Besonderheit der nur auf der U2-Strecke verkehrenden U21-Fahrten war, dass sie nur dann als Linie U21 ausgeschildert wurden, wenn der Endpunkt der Fahrt nicht gleichzeitig der Endpunkt der U2 und damit der finale äußere Endpunkt der Strecke war. So fuhr die U21 zwar von Röthenbach nach Ziegelstein als U21, in der umgekehrten Richtung jedoch als U2. Sinn dieser Regelung war, dass das Liniensignal U21 nur dazu diente, die Fahrgäste darauf aufmerksam zu machen, dass eine Fahrt nicht bis zum Streckenende ging, sondern als Kurzläufer an einem Unterwegsbahnhof endete. Diese Eigenschaft hatte sie mit ihrer Schwesterlinie U11 gemeinsam. Eine nie in die betriebliche Realität gelangte Verwendung des Liniensignals U21 befand sich in den U-Bahn-Planungen der Jahre 1990 und 1993. Da das Liniensignal U3 damals noch für die dritte Stammstrecke vorgesehen war, wurden die letztlich als U3 realisierten Zweigstrecken der U2 in Richtung Klinikum Nord und Kleinreuth bei Schweinau als U21 bezeichnet. Streckennetz Das Streckennetz umfasst 38,2 km. Davon liegen 32,7 km im Tunnel, 4,5 km auf Geländeniveau und 1 km ist als Hochbahn ausgeführt. Streckenbeschreibung Verlauf der U1 Von Langwasser bis zum Hasenbuck Die Strecke beginnt am Bahnhof Langwasser Süd, an dessen südlichem Ende sich eine viergleisige Abstell- und Kehranlage befindet, und verläuft zunächst unterirdisch über Gemeinschaftshaus bis zum Bahnhof Langwasser Mitte. Danach erreicht die Strecke das Straßenniveau und verläuft fortan im Mittelstreifen der Otto-Bärnreuther-Straße auf der Trasse einer in den 1950er Jahren geplanten Straßenbahnstrecke. Vor dem nächsten Bahnhof Scharfreiterring wird die Zufahrt zum U-Bahn-Betriebshof unterfahren. Der Bahnhof selbst besitzt vier Gleise, wovon die beiden äußeren für den Fahrgastverkehr und die beiden inneren für Ein- und Ausrückfahrten vom und zum Betriebshof genutzt werden. Weiter führt die Strecke vorbei an den Bahnhöfen Langwasser Nord und Messe bis zum letzten Bahnhof des ersten U-Bahn-Bauabschnitts, Bauernfeindstraße. Zwischen Messe und Bauernfeindstraße durchfährt die U-Bahn die engste im Planverkehr befahrene Kurve im Nürnberger U-Bahn-Netz, die auf die damaligen Straßenbahnplanungen zurückzuführen ist. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt in diesem Bereich 50 km/h. Im Anschluss taucht die Strecke in einen Tunnel ab, der bis zur Eröffnung des Abschnittes Ziegelstein – Flughafen auf der U2 der längste zwischen zwei U-Bahnhöfen in Nürnberg war, und unterfährt das Südbahnhofgelände. Kurz nach der Brunecker Straße taucht die Strecke wieder an der Oberfläche auf und verläuft im Geländeeinschnitt zum Bahnhof Hasenbuck. Vom Hasenbuck durch die Innenstadt nach Eberhardshof Nach dem Bahnhof Hasenbuck führt die nun wieder unterirdische Strecke unter der namensgebenden Erhebung und der Katzwanger Straße zum Bahnhof Frankenstraße und verläuft anschließend unter der Pillenreuther Straße zum Bahnhof Maffeiplatz. Die Strecke führt vom Maffeiplatz aus weiter unter der Pillenreuther Straße hindurch bis zum Kopernikusplatz und erreicht den Bahnhof Aufseßplatz. Dieser wurde schon beim Bau auf die Unterfahrung durch eine weitere U-Bahn-Strecke (damals als U3 bezeichnet) vorbereitet, indem die Tunnelröhren der U1 so gebaut sind, dass der Bau des Streckentunnels ohne größere betriebliche Einschränkungen möglich ist. Weiter führt die Strecke unter den Gleisen des Hauptbahnhofs zum Bahnhof Hauptbahnhof unter dem Bahnhofsplatz, wo die U1 zum ersten Mal auf die U2 und U3 trifft. Anschließend führt die Strecke in einem lang gestreckten Linksbogen unter der Königstraße zum Bahnhof Lorenzkirche und im Anschluss unter der Adlerstraße, dem Josephs- und Ludwigsplatz zum Bahnhof Weißer Turm. Dieser Streckenteil war der bautechnisch anspruchsvollste der gesamten Nürnberger U-Bahn, da sowohl die Mittelhalle des Hauptbahnhofs als auch bedeutsame historische Bauwerke der Altstadt unterfahren werden. Unter dem Jakobsplatz und der Ludwigstraße verlaufend erreicht die Strecke der U1 den Bahnhof Plärrer und trifft dort zum zweiten Mal auf die U2 und U3. Der Bahnhof ist als Richtungsbahnhof angelegt, in der oberen Bahnhofsebene fahren die Züge in Richtung Fürth (U1), Röthenbach (U2) und Großreuth bei Schweinau (U3) und in der unteren Ebene Richtung Langwasser (U1), Flughafen (U2) und Nordwestring (U3). Nach dem Bahnhof Plärrer folgt die U1 der historischen Ludwigseisenbahn-Trasse (heute jedoch unterhalb der Fürther Straße), passiert die Bahnhöfe Gostenhof, Bärenschanze und Maximilianstraße und erreicht in Höhe der Raabstraße vor der Station Eberhardshof wieder die Oberfläche. Von Eberhardshof auf der Hochbahn zur Stadtgrenze Der Bahnhof Eberhardshof selbst befindet sich in Mittellage der Fürther Straße. An ihn schließt sich die letzte auf Nürnberger Gebiet vorhandene Abstell- und Kehranlage der U1 an. Nach Unterquerung der Ringbahn führt die Strecke in einem Rampenbauwerk hinauf auf die Hochbahntrasse und zu deren ersten Bahnhof Muggenhof. Dieser überspannt auf voller Länge die Kreuzung Fürther Straße / Adolf-Braun-Straße / Sigmundstraße und verfügt ebenso wie der Bahnhof Stadtgrenze über Außenbahnsteige. Weiter verläuft die Strecke in Mittellage der Fürther Straße, bevor sie den Frankenschnellweg in einem S-Bogen überquert und den auf einem Damm befindlichen Bahnhof Stadtgrenze erreicht. Dieser befindet sich bereits auf Fürther Stadtgebiet, wird jedoch zum Nürnberger U-Bahn-Netz gezählt, da dessen Errichtung komplett von der Stadt Nürnberg finanziert wurde. Die U-Bahn in Fürth Nach dem Bahnhof Stadtgrenze verläuft die Strecke zunächst parallel zur Hornschuchpromenade auf einem Damm, taucht dann mittels eines Rampenbauwerks in den Untergrund ab und erreicht die Station Jakobinenstraße. Der Gebhardtstraße im weiteren Verlauf unterirdisch folgend wird der Bahnhof Fürth Hauptbahnhof unter dem Bahnhofsplatz erreicht, der am 7. Dezember 1985 zum 150-jährigen Eisenbahnjubiläum in Deutschland eröffnet wurde. Im Anschluss schwenkt die Trasse nach Norden, verläuft unter der Schwabacher Straße zum Kohlenmarkt und erreicht den Bahnhof Rathaus. Die Strecke führt dann unter dem Gänsbergviertel und der Rednitz hindurch zum Bahnhof Stadthalle und im weiteren Verlauf unter dem Scherbsgraben und dem Kellerberg zum Bahnhof Klinikum. Im Anschluss wird die Bahnstrecke Nürnberg–Bamberg und die Würzburger Straße unterquert, bevor die Strecke nach Südwesten schwenkt und unter der Komotauer Straße verlaufend den Endbahnhof Hardhöhe erreicht. Ab der Station Rathaus wurden erstmals digitale Anzeigen an den Bahnsteigen statt der bisherigen Fallblattanzeigen verwendet. Verlauf der U2 Von Röthenbach zum Plärrer Die Strecke beginnt im Südwesten Nürnbergs am Bahnhof Röthenbach, an dessen westlichem Ende sich eine dreigleisige Abstell- und Kehranlage befindet, und verläuft weiter Richtung Osten entlang der Schweinauer Hauptstraße unter dem Main-Donau-Kanal und der Südwesttangente hindurch zum Bahnhof Hohe Marter. Dieser ist mit 268 m der längste im Nürnberger U-Bahn-Netz und ersetzt die beiden aufgegebenen Straßenbahnhaltestellen Friesenstraße und Schweinau, die sich früher an den beiden heutigen U-Bahn-Ausgängen befanden. Weiter führt die Strecke unter der Schweinauer Hauptstraße zum Bahnhof Schweinau und zum Bahnhof St. Leonhard, der aufgrund seiner Lage inmitten der Schweinauer Straße komplett elastisch gelagert ist, um die Erschütterungen durch den Fahrbetrieb nicht an die umliegenden Häuser abzugeben. Als Nächstes folgt der Bahnhof Rothenburger Straße unter dem Frankenschnellweg. Der letzte Teil der Trasse verläuft in einem Bogen unter der Oberen Kanalstraße und führt dann in einem Rechtsbogen zum Bahnhof Plärrer, wo die U2 zum ersten Mal auf die U1 trifft. Am Stadtgraben entlang bis zum Rathenauplatz Nach dem Bahnhof Plärrer verläuft die Strecke unter dem Frauentorgraben zum Bahnhof Opernhaus. Dieser ist zum Stadtgraben hin offen, der im Zuge des U-Bahn-Baus wieder freigelegt und als Fußgängerzone gestaltet wurde. Weiter führt die Strecke zum Hauptbahnhof, wo die U2 zum zweiten Mal auf die U1 trifft, und schwenkt danach nach Norden zum Bahnhof Wöhrder Wiese. Aufgrund seiner Lage im Pegnitzgrund musste der Bahnhof tiefer gelegt und der nördliche Pegnitzarm in das Bahnhofsbauwerk eingearbeitet werden, was an der tiefer hängenden Decke zu sehen ist, die quer durch den gesamten Bahnhof reicht. Die nachfolgende Strecke verläuft unter dem Laufertorgraben und steigt wie dieser zum Bahnhof Rathenauplatz hin stark an, was im Bahnhof selbst beobachtet werden kann, da die Decke vom südlichen zum nördlichen Bahnsteigende einen beträchtlichen Höhenunterschied aufweist. Vom Rathenauplatz bis zum Flughafen Nach dem Bahnhof Rathenauplatz verläuft die Strecke zunächst unter der Bayreuther Straße, biegt nach rechts zum Bahnhof Rennweg unter der gleichnamigen Straße ab und führt weiter unter der Schoppershofstraße zum Bahnhof Schoppershof. Zwischen diesem und dem nachfolgenden Bahnhof Nordostbahnhof unter dem Leipziger Platz befindet sich neben einem Gleiswechsel einer der wenigen Abschnitte der U2, bei dem die beiden Streckengleise zusammen in einem Tunnel verlaufen. Im weiteren Streckenverlauf unter der Bessemerstraße befindet sich in einer Röhre zusammen mit dem stadteinwärtigen Gleis eine Abstell- und Kehranlage und an der Einmündung in die Äußere Bayreuther Straße der Bahnhof Herrnhütte. Anschließend führt die Strecke in einem engen Gegenbogen unter Wohnbebauung zum Bahnhof Ziegelstein unter dem Fritz-Munkert-Platz, an dessen nördlichem Ende sich eine weitere Abstell- und Kehranlage befindet. Die beiden Streckengleise werden danach zusammengeführt und verlaufen als eingleisiger Tunnel in westliche Richtung zum Endbahnhof Flughafen. Verlauf der U3 Von Großreuth bei Schweinau zur Rothenburger Straße Die U3 hat ihren vorläufigen Ausgangspunkt am Bahnhof Großreuth bei Schweinau südlich der Rothenburger Straße in einem Neubaugebiet. Sie verläuft anschließend Richtung Osten zum Bahnhof Gustav-Adolf-Straße unter der Kreuzung der Wallensteinstraße mit dem Westring. Die Strecke verläuft Richtung Osten, passiert einen doppelten Gleiswechsel und erreicht kurz darauf den Bahnhof Sündersbühl unter der Rothenburger Straße zwischen Blücherstraße und Bertha-von-Suttner-Straße. Nach dem Bahnhof teilen sich die beiden Streckengleise, schwenken parallel zuerst nach rechts und führen ab der Heinrichstraße in einer langgezogenen Linkskurve nach Norden, um vor dem Bahnhof Rothenburger Straße auf die Strecke der U2 einzufädeln. Die Stammstrecke mit der U2 Ab dem Bahnhof Rothenburger Straße fährt die U3 auf gemeinsamer Strecke mit der U2 die Bahnhöfe Plärrer, Opernhaus, Hauptbahnhof, Wöhrder Wiese und Rathenauplatz an. Bis zur Umrüstung der U2 auf automatischen Betrieb verkehrten auf diesem Abschnitt automatische und konventionell gesteuerte Züge zusammen. Vom Rathenauplatz bis zum Nordwestring Nach dem Bahnhof Rathenauplatz fädelt die U3 Richtung Westen aus, um über die Station Maxfeld unter der Goethestraße weiter über den Kaulbachplatz zum Friedrich-Ebert-Platz zu führen. Im Anschluss an den Bahnhof befindet sich eine zweigleisige Tunnelröhre, die bis kurz vor den Bahnhof Klinikum Nord reicht. Anschließend führt die Tunnelstrecke zum Endbahnhof Nordwestring, an dessen Ende sich eine Abstell- und Kehranlage anschließt. Gleisanlagen Der Oberbau ist auf den offenen Abschnitten als eingeschottertes Schwellengleis ausgeführt, auf den Tunnelabschnitten wird eine Feste Fahrbahn verwendet. Als Schienen kommen die Typen S41 und S49 zur Anwendung. Beim Bau des ersten Abschnitts (Langwasser Süd – Bauernfeindstraße) wurden auf der Strecke vom Bahnhof Langwasser Süd bis Langwasser Mitte verschiedene Oberbauvarianten getestet: von Langwasser Süd bis Gemeinschaftshaus wurden verschiedene Formen der Festen Fahrbahn (u. a. an den unterschiedlichen Gleisverschraubungen zu sehen) verbaut und von kurz nach dem Bahnhof Gemeinschaftshaus bis Langwasser Mitte ist die Trasse als eingeschottertes Schwellengleis ausgeführt. Letztendlich setzte sich die Feste Fahrbahn in den Tunnelstrecken (anders als in München) durch und kommt in weiterentwickelter Form als Standardoberbau „Nürnberg 1a“ zur Anwendung. Der Einfahrbereich des Richtung Röthenbach führenden Gleises am Bahnhof Schoppershof ist wie der gesamte Oberbau der U2 als Feste Fahrbahn ausgeführt, jedoch wurde nachträglich eine lose Schicht Schotter zur Lärmdämpfung aufgebracht. Diese Maßnahme war notwendig, da das Gleis ab etwa 30 Meter vor dem Bahnsteig nach oben zum Zwischengeschoss hin offen ist, was zu starker Lärmentwicklung durch die an dieser Stelle noch 40–50 km/h schnellen Züge führte. Streckenbau Beim Bau der einzelnen Streckenabschnitte kamen dem Boden und der Bebauung entsprechende Bauverfahren zum Einsatz. Wo dichte Bebauung unterfahren oder besondere geologische Formationen durchquert werden mussten, wurde die bergmännische Bauweise eingesetzt. Das war auf den Abschnitten Hasenbuck – Frankenstraße, Aufseßplatz – Weißer Turm und Fürth Hauptbahnhof – Klinikum der U1 sowie fast auf ganzer Länge der U2 der Fall. Der Tunnel unter dem Hasenbuck wurde mit der Neuen Österreichischen Tunnelbauweise (NÖT) aufgefahren und mit Spritzbeton ausgekleidet. Für die Unterquerung der Innenstadt mit ihrer historischen Bausubstanz wurden die beiden Einzelröhren zum einen im Schildvortrieb mit anschließender Einbringung von Gusseisentübbings und zum anderen mit der NÖT erstellt. Der Südturm der Lorenzkirche, genauer dessen Fundament befindet sich in unmittelbarer Nähe des U-Bahn-Tunnels und musste daher durch eine aufwendige Konstruktion aus unterirdischen Betonpfosten abgesichert werden. Die U2-Süd wurde vom Plärrer bis Röthenbach, mit Ausnahme eines kurzen Abschnittes vor dem Bahnhof St. Leonhard, in der NÖT aufgefahren, im Bereich der Kanalunterquerung wurde der Tunnel während des Baus im Schutz einer Bodenvereisung errichtet. Der Streckentunnel der U2-Nord von Hauptbahnhof bis Rathenauplatz wurde im Schildvortrieb erstellt und anschließend mit Stahlbetontübbings ausgekleidet, für den im Pegnitzgrund verlaufende Tunnelabschnitt wurde zusätzlich ein Hydroschild eingesetzt. Für die restliche Strecke bis Flughafen wurde die NÖT angewendet, zwischen Herrnhütte und Ziegelstein kam erstmals ein „Full-Round-Schalwagen“ zum Einsatz. Dasselbe Verfahren wurde beim Tunnelbau unter der Fürther Innenstadt von Fürth Hauptbahnhof bis zur Rednitzunterquerung und von der Vacher Straße bis zur Siemensstraße angewendet, wovon ein 60 m langer Abschnitt im Rednitzgrund vereist werden musste. Die Streckentunnel auf den beiden U3-Ästen wurden durchgehend in bergmännischer Bauweise aufgefahren, ausschlaggebend dafür waren zum einen die zu unterfahrende Bausubstanz und zum anderen die geologischen Bodengegebenheiten. Außerdem gingen die Planer ab dem Bau der U2-Süd dazu über, die Trassierung der Tunnel unter energiesparenden Gesichtspunkten zu gestalten. Bei dieser Methode fällt der Tunnel nach Verlassen eines Bahnhofs zur Tunnelmitte hin mit einer Neigung von maximal 40 ‰ ab und steigt bis zum Erreichen des nächsten Bahnhofs wieder mit maximal 40 ‰ an. Durch das Gefälle spart ein Zug beim Anfahren Energie, da er durch sein Eigengewicht beschleunigt wird, durch die Steigung verzögert der Zug wiederum mit seinem Eigengewicht und spart Bremsenergie. In offener Bauweise wurden die Streckenteile erstellt, die nicht mit Gebäuden überbaut waren oder direkt unter einer Straße verliefen. Diese Technik wurde bei den U1-Abschnitten Langwasser Süd – Langwasser Mitte, Bauernfeindstraße – Hasenbuck, Frankenstraße – Aufseßplatz, Weißer Turm – Eberhardshof, Jakobinenstraße – Fürth Hauptbahnhof, am Bahnhof Stadthalle, teilweise von Klinikum bis Hardhöhe sowie auf der U2 zwischen Plärrer und Hauptbahnhof angewendet. Beim Tunnelabschnitt in Langwasser wurde die Strecke wegen der noch fehlenden Bebauung bis auf Tunnelbodentiefe ausgebaggert, die Tunnelröhre erstellt und die Baugrube anschließend wieder bis auf Geländehöhe aufgefüllt. Das Teilstück Bauernfeindstraße – Hasenbuck unter dem Südbahnhofgelände wurde mit Hilfe von 18 Hilfsbrücken und der anschließenden Einschnitt in Trogbauweise erstellt. Beim Tunnel von Frankenstraße bis Aufseßplatz und Weißer Turm bis kurz vor Eberhardshof wurde der Berliner Verbau angewendet, und die Baugrube im Bereich von Gebäuden mit Injektionsankern im Erdreich rückverankert. Der Weiße Turm, der auf dem gleichnamigen Bahnhof steht, wurde während der Bauarbeiten von einem unterirdischen Gerüst getragen. Er wird von Betonpfosten gestützt, die mit Injektionsankern verbunden sind, ein Teil der Last wird vom Bahnhof selbst aufgenommen. Ähnlich verfahren wurde bei den beiden Kirchen St. Elisabeth und St. Jakob, die sich in unmittelbarer Nähe der Tunnel befinden. Die Baugrube für den Bahnhof Plärrer wurde in Deckelbauweise erstellt, um den Auto- und Straßenbahnverkehr aufrechterhalten zu können. Die Deckelbauweise kam zusammen mit dem Berliner Verbau auch beim Bau des Abschnitts von Jakobinenstraße nach Fürth Hauptbahnhof zum Einsatz. Für den Tunnel der U2 vom Plärrer zum Hauptbahnhof wurde der Stadtgraben wieder freigelegt und die Baugrube mit Berliner Verbau gesichert. Der Streckenabschnitt um den Bahnhof Stadthalle unter der Rednitz und dem anschließenden Flutgraben wurde im Schutz von Spunddielen erstellt. Beim Bau des Streckentunnels unter der Komotauer Straße zum Bahnhof Hardhöhe wurde das Mixed-In-Place-Verfahren angewendet und die Baugrube anschließend gedeckelt. Die ebenerdigen Streckenabschnitte in Langwasser und in der Fürther Straße (Eberhardshof) wurden ohne besondere Bauverfahren erstellt und sind mit einem Zaun oder einer Betonwand von der Umgebung abgetrennt. Die Hochbahn in der Fürther Straße ruht auf 36 doppelten Stützpfeilern, worauf Spannbeton-Tragplatten mit Kragträgern (die bei einer Fahrt sichtbaren Höcker) befestigt sind, die mit Brückenteilen zu einer durchgehenden Trasse verbunden sind. Streckenchronik Bahnhöfe Die Nürnberger U-Bahn verfügt über 49 Bahnhöfe, davon 27 auf der U1, 16 auf der U2 und 14 auf der U3 (Bahnhöfe, die von mehr als einer Linie bedient werden, wurden für jede Linie gezählt), sieben Bahnhöfe liegen im Gebiet der Stadt Fürth. 42 Bahnhöfe befinden sich im Tunnel, fünf an der Oberfläche und zwei (Muggenhof, Stadtgrenze) an der Hochbahn in der Fürther Straße. Ausstattung Alle Bahnsteige sind 90 Meter lang, 1 Meter über Schienenoberkante hoch und als Mittelbahnsteig ausgelegt, Ausnahmen davon sind die Bahnhöfe Muggenhof und Stadtgrenze auf der Hochbahn, die über Seitenbahnsteige verfügen. Weiterhin haben alle U-Bahnhöfe einen Aufzug, der bei den bis 1975 eröffneten Anlagen noch nicht vorhanden war und zwischen 1982 und 1987 nachgerüstet wurde. Die Bahnhöfe Plärrer, Hauptbahnhof, Flughafen, Nordwestring und Rathaus (Fürth) verfügen wegen ihrer Funktion als Kreuzungs-/ Umsteigebahnhof, oder wie Muggenhof, Stadtgrenze und Scharfreiterring bauartbedingt, über zwei Aufzüge. An beiden Bahnsteigenden befinden sich Zu- und Abgänge über Fahr- und Festtreppen, die bei eineinhalbfacher Tiefenlage des Bahnhofs in ein Verteilergeschoss oder bei einfacher Tiefenlage direkt an die Oberfläche führen. Abweichend dazu haben die Bahnhöfe Bauernfeindstraße, Hasenbuck, Messe und Scharfreiterring nur einen und die Bahnhöfe Flughafen und Opernhaus drei Aufgänge. An den Bahnhöfen Aufseßplatz, Frankenstraße, Hauptbahnhof, Langwasser Mitte, Maffeiplatz, Maximilianstraße, Plärrer sowie Weißer Turm befinden sich insgesamt 34 Leinwände, die mit Werbung und redaktionellem Inhalt die Fahrgäste unterhalten und dabei die Wartezeit auf den nächsten Zug überbrücken sollen. Fahrgastinformation 1980 wurde damit begonnen, Zugzielanzeiger in Fallblatttechnik an den Bahnhöfen zu installieren. Diese Anzeiger wurden von der Schweizer Firma Autophon hergestellt, welche u. a. die Frankfurter U-Bahn sowie die Straßenbahn Erfurt mit Zugzielanzeigern ausstattete. Die Ansteuerung der Anzeigen erfolgte über ein RS485-System, welches alle Bahnhöfe untereinander verband. Jedem Anzeiger wurde eine eigene Adresse zugewiesen, indem eine Kombination von DIP-Schaltern auf der Steuerplatine jedes Anzeigers entsprechend eingestellt wurde. Empfing der Anzeiger keine Daten, so stellte er sich selbsttätig auf Gerät gestört. Die Fallblattmodule selbst wurden von Solari di Udine hergestellt. Die spätere U3 erhielt auf ihrer Linie zwar keine Fallblattanzeiger mehr, jedoch wurden einige der Fallblätter in den vorhandenen Anzeigern der U2 am Plärrer, Opernhaus, Hauptbahnhof, Wöhrder Wiese und Rathenauplatz mit Zielen der U3 bedruckt. Es ist zu erwähnen, dass diese Bedruckung auch schon die damals erst geplanten Bahnhöfe Kleinreuth und Gebersdorf enthielt. Die Fallblattanzeiger wurden später teilweise durch Anzeiger in Mosaik-LCD-Technik ersetzt, ehe sie alle im Jahr 2020 durch moderne LED-Anzeiger ausgetauscht wurden. Die alten Fallblattanzeiger verkaufte die VAG für einen symbolischen Preis von 5 € pro Stück an Sammler und Liebhaber, sodass die Anzeigen nicht verschrottet wurden und in Privatmuseen und Sammlungen überleben. Verglichen mit Zugzielanzeigern der neuen Bauart, welche etwa 200 kg wiegen, ist die alte Bauart mit Fallblättern leichter. Ohne Uhr und Info-Würfel wiegt ein Fallblattanzeiger etwa 80 kg. Geschuldet ist dies vor allem der Leichtbauweise aus geschweißtem, nur 1 mm starkem Aluminiumblech. Die Nummern der Gleistafeln wurden auf der Vorderseite mit einem schmaleren Font bedruckt, als auf der Rückseite. So konnte der Techniker vom Boden aus sofort erkennen, auf welcher Seite sich die Wartungsklappe zum Erreichen der internen Steuerung befindet. Die Uhrwerke der teilweise angeschraubten Uhren sind von T&N gebaut worden. Sie sind einfache Nebenuhren mit Sekundenzeiger und wurden separat vom Anzeiger von einer Zentraluhr angesteuert. Der Antrieb per Synchronmotor für den Sekundenzeiger erfolgt jedoch nicht wie bei Uhren der DB mit 230 V Wechselspannung, sondern mit nur 24 V Wechselspannung. Architektur Die aus den späten 1960er Jahren stammenden Bahnhöfe in Langwasser sind als Zweckbauten errichtet und sehr schlicht und einheitlich gehalten. Die unterirdischen Bahnhöfe sind einheitlich gekachelt, bei den oberirdischen dominiert Sichtbeton. Ab den 1970er Jahren erfolgte eine Änderung bei der Gestaltung der Südstadt-Bahnhöfe, die zwar vom Aufbau her gleich blieben, sich aber in der Kachelung der Bahnsteigwände und Säulen farblich unterschieden. Bei den Innenstadtbahnhöfen wurde erstmals die Fahrzeugdynamik sowie die oberirdische Bebauung in die Gestaltung der Bahnsteighallen aufgenommen. Durch den Einbau von Lichtkuppeln bei den Bahnhöfen unter der Fürther Straße sollte das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste gesteigert und eine Verbindung von der Oberfläche zum Untergrund hergestellt werden. Bei den Bahnhöfen aus den 1980er Jahren wurde die Oberfläche noch stärker in die Bahnhofsarchitektur eingebunden und mit den ersten stützenlosen Bahnsteighallen die Übersicht und das Sicherheitsgefühl für die Fahrgäste weiter verbessert, Beispiele dafür sind die Bahnhöfe Hohe Marter, Röthenbach und Jakobinenstraße. Auch wurden vom Tiefbauamt in Zusammenarbeit mit der Georg-Simon-Ohm-Hochschule, Fachbereich Gestaltung und Design, die ersten Wettbewerbe zur Bahnhofsgestaltung unter den Studierenden ausgelobt. Während man in den 1980er Jahren noch vermehrt auf Naturmaterialien, wie Backstein in Schweinau oder Sandstein in St. Leonhard oder am Opernhaus als Wandverkleidung setzte, setzte sich in den 1990er Jahren, vorrangig auf dem U2-Nordast bis Herrnhütte grobporiger Spritzbeton als durchgehendes Gestaltungselement durch. In den 1990er wurde die Bahnhofsgestaltung erstmals an externe Architekten und Designer vergeben, was mittlerweile der Regel entspricht und auch für alle U3-Stationen gilt. Dies führte auch dazu, dass die Glasarchitektur, die auf Edelstahl, hellen Farben und Glas, aber auch feinporigem Sichtbeton als Gestaltungselemente zurückgreift, mehr und mehr Fuß fasste. Für die Gestaltung der Fürther Bahnhöfe waren allerdings wieder Studierende der Ohm-Hochschule unter der Leitung der Professoren Ethelbert Hörmann und Ortwin Michl verantwortlich. Orange Kacheln Im Zuge der Grundnetzplanungen waren mehr (Haupt-)Linien als die beiden letztlich realisierten geplant. Den Fahrgästen sollte dabei schon optisch vermittelt werden, dass ein Bahnhof als Knotenpunkt mehrerer Hauptlinien dient. Dafür entschied man sich, orange Kacheln in das Design jener Bahnhöfe aufzunehmen, an welchen der Umstieg zwischen Hauptlinien geplant war. Als erster Bahnhof wurde damit der U-Bahnhof Aufseßplatz entsprechend gestaltet, an welchem aktuell nur die U1 hält und eine Kreuzung mit der dritten Stammlinie vorgesehen war. Anschließend wurden orange Kacheln auch bei den Umsteigeknoten Hauptbahnhof und Plärrer verbaut, in welchen alle Linien der U-Bahn halten. Auch im 21. Jahrhundert wurde der Gedanke wieder aufgegriffen und der Bahnhof Friedrich-Ebert-Platz mit orangen Kacheln versehen, da nach wie vor Pläne existieren, hier eine weitere Stammlinie die heutige U3 kreuzen zu lassen. Kunst Im U-Bahnhof Plärrer befindet sich die vom Nürnberger Künstler Dieter Erhard geschaffene Internationale Galerie, die laut der Fachzeitschrift Presencias die größte Bildsammlung mexikanischer Wandmalerei in Europa darstellt. Die sowohl von Meistern als auch Studierenden geschaffenen 15 großformatigen Wandbilder und 28 kleineren Werke befinden sich sowohl an den Bahnsteigen selbst als auch im Durchgang des Verteilergeschosses Richtung Plärrerhochhaus. Darüber hinaus gestaltete Dieter Erhard 1996 mit dem 24 Meter langen Wandbild Welle den U-Bahnhof Maffeiplatz. Seit dem 15. Oktober 2007 erinnert die Stadt Nürnberg am Plärrer mit dem Zwangsarbeiter-Mahnmal „Transit“ des Münchener Bildhauers Hermann Pitz an das Schicksal der Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges, die oberirdische kuppelartige Skulptur wird mit einem Kegel im Verteilergeschoss des U-Bahnhofs fortgesetzt. Der Plärrer wurde als Standort gewählt, da sich hier die Zwangsarbeiter an einer Wartehalle mit Imbissstube unauffällig treffen konnten. In den U-Bahnhöfen Bärenschanze, Gostenhof, Maffeiplatz und Frankenstraße befanden sich von Mitte November 2007 bis zum 15. März 2008 drei mal vier Meter große Fotocollagen des französischen Künstlers j-rom und seines Teams. Das interkulturelle Kunstprojekt besteht aus vier Bildcollagen mit eingearbeiteten literarischen Rätselfragen in deutscher, französischer, japanischer und chinesischer Sprache, wobei diese Rätsel nicht gelöst werden sollen, sondern als Anregung zu einem kreativen Umgang mit ungewohnten Aufgaben dienen und Lust zur eigenen Weiterbildung machen sollen. Im Rahmen des SommerNachtFilmFestivals diente bereits der U-Bahnhof Plärrer als Spielort. Im Februar 2021 wurde das Projekt Radius der Künstlerin Marga Leuthe im Zwischengeschoss des U-Bahnhofs Plärrer installiert. Bei diesem sollen mittels typographischer Umsetzung die Gedanken und Gefühle der ansässigen Menschen im öffentlichen Raum sichtbar gemacht werden. Das Projekt ging beim OpenCall des Nürnberger Bewerbungsbüro für die Kulturhauptstadt 2025 im Jahr 2019 als eines der Gewinner hervor und soll zunächst drei Monate sichtbar sein. Fahrzeuge Die Fahrzeuge der Nürnberger U-Bahn fahren auf Normalspur-Gleisen (1435 mm Spurweite) und mit einer Betriebsspannung von 750 Volt Gleichspannung. Die Stromaufnahme erfolgt im Normalbetrieb über an den führerstandsnahen Drehgestellen angebrachte Stromabnehmer, die die Stromschiene von unten bestreichen. Zusätzlich verfügen alle Fahrzeuge (mit Ausnahme der aus München zugekauften und geliehenen Typ-A-Garnituren) über einen Hilfsstromabnehmer zwischen den Wagen, der bei Werkstattaufenthalten eingesetzt wird, da in den Hallen aus Sicherheitsgründen eine Oberleitung verwendet wird. Die streckenbezogene Höchstgeschwindigkeit beträgt im Fahrbetrieb 80 km/h und im Rangierbetrieb 30 km/h. Personenfahrzeuge Der Fahrzeugpark besteht aus insgesamt 85 Zügen der zwei Nürnberger Baureihen DT3 und G1. Zwei miteinander fest gekuppelte Wagenhälften werden als Doppeltriebwagen (DT), ein Doppeltriebwagen als Kurzzug und zwei Doppeltriebwagen als Langzug bezeichnet. Längere Einheiten können wegen der begrenzten Bahnsteiglänge von 90 Metern nicht gebildet werden. Seit 2019 sind die ersten vierteiligen Gliederzüge der Baureihe G1 Teil des Fahrzeugparks. Seit 2022 befinden sich alle 35 Züge des Typs G1 im Einsatz. Typ DT1 Die Fahrzeuge wurden zwischen 1970 und 1984 in sechs Serien beschafft. Die ersten 32 Fahrzeuge (401/402–463/464) wurden mit Gleichstromtechnik, die restlichen 32 Fahrzeuge (465/466–527/528) mit Drehstromtechnik geliefert, jedoch sind alle Fahrzeuge untereinander mechanisch und elektrisch kuppel- und fahrbar. Für den Fahrgast sichtbare Unterschiede zwischen den einzelnen Serien gibt es in der Anordnung der Haltestangen im Türbereich und im Einbau von Fenstern an der Verbindung von zwei Wagenhälften (ab Wagennummer 449/450). Die anfangs noch vorhandenen Armlehnen wurden auf Grund von Vandalismus nach und nach ausgebaut. Weitere sichtbare Umbaumaßnahmen an den Fahrzeugen betreffen die Lackierung in den neuen VAG-Farben oder den Einbau von Notsprechanlagen. Im Zuge der Beschaffung der DT3-Triebzüge wurden mit Ausnahme der ersten Serie (401/402–427/428) alle DT1-Züge mit Türspaltüberwachung, Videoüberwachung im Fahrzeug, digitaler Haltestellenansage und einer optischen und akustischen Türschließankündigung nachgerüstet. Der DT 447/448 wurde 1983 nach einem Brand ausgemustert. Die Wagen der ersten Bauserie (Wagen 405/406–427/428) wurden mit Ausnahme der als Museumsfahrzeuge vorgesehenen DT-Einheiten 401/402 und 403/404 im Jahr 2010 ausgemustert und verschrottet. Die zweite Bauserie wurde 2012 bis auf die Doppeltriebwagen 433/434 und 443/444, die sich zum damaligen Zeitpunkt noch im Fahrgastbetrieb befanden, außer Betrieb genommen und verschrottet. Die letzten Fahrgasteinsätze der DT1 im regulären Verkehr fanden am 14. Januar 2023 statt. Zwei DT1 587/588 & 575/576 (ein Langzug) bleiben als Museumsfahrzeuge erhalten. Typ DT2 Mit Eröffnung der U2 bis Schoppershof im Jahr 1993 war der bis dahin bestehende Fuhrpark an Wagen des Typs DT1 nicht mehr ausreichend, und es bestand bei der VAG Bedarf an weiteren Fahrzeugen. Da die letzte DT1-Lieferung schon fast zehn Jahre zurücklag und die Fahrzeugtechnik weiterentwickelt wurde, sahen die Verkehrsbetriebe von der Beschaffung einer weiteren Serie ab und entwickelte einen neuen Fahrzeugtyp, der als DT2 bezeichnet wird. Er wurde ab 1993 in einer Serie von zwölf Fahrzeugen beschafft und unterscheidet sich vom DT1 außer in der Antriebstechnik (Gleichstromsteller) und der Fahrzeuggestaltung (durchgehende Frontscheibe, neues Farbschema) noch durch eine geänderte Innenraumgestaltung (Einzelschalensitze, Plätze für Rollstuhlfahrer), elektrisch zu öffnende Türen, eine digitale Haltestellenansage und eine Notsprechanlage zum Fahrer. Der DT2 wurde ebenso wie der DT1 mit Türspaltüberwachung, Videoüberwachung im Fahrzeug und einer optischen und akustischen Türschließankündigung ausgerüstet. Im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten „50 Jahre U-Bahn Nürnberg“ am 30./31. Juli 2022 erfolgten die letzten Fahrten der DT2 im Fahrgasteinsatz. Die noch verbliebenen Fahrzeuge sollen verschrottet werden, da keine geeignete Abstellmöglichkeit für eine museale Erhaltung besteht. Typ DT3 / DT3-F Durch den Bau der U3 und den Entschluss, diese Linie automatisch zu betreiben, war es erneut notwendig geworden, neue Fahrzeuge zu beschaffen. Diese ab 2004 ausgelieferten und als DT3 bezeichneten Züge weisen wie schon der DT2 zum DT1 diverse Neuerungen und Verbesserungen auf. So verfügen die Züge erstmals über eine durchgehende Verbindung der Wagenhälften, ein Mehrzweckabteil mit Klappsitzen an den Wagenübergängen, Videoüberwachung des Fahrgastraums, eine optische und akustische Türschließankündigung sowie eine Spaltüberbrückung an den Türen. Das auffälligste Merkmal des DT3 ist die fehlende Fahrerkabine am Wagenende, die durch Stehplätze mit Ausblick auf die Strecke ersetzt wurde. Um Überführungs-, Profilprüf-, Störungs- oder Schutzfahrten durchführen zu können, befinden sich an den Wagenenden Notfahrpulte, die für den Fahrgast nicht zugänglich sind. Der in den Jahren 2010 bis 2011 beschaffte Baureihen-Typ DT3-F entspricht technisch dem Typ DT3, hat aber einen Fahrerstand eingebaut, um auch im manuellen Fahrbetrieb auf der Linie U1 eingesetzt werden zu können. Im Zuge der Einführung der Baureihe G1 wurde die Baureihe DT3-F von der U1 abgezogen. Typ A Eine Besonderheit bilden die im Jahr 2003 den Münchner Verkehrsbetrieben abgekauften sechs Züge des Münchner Typs A, da nach der Eröffnung der U1 bis Stadthalle und der U2 bis Flughafen bei der VAG Fahrzeugmangel herrschte. Ein gegenseitiges Ausleihen von Fahrzeugen zwischen den Münchner und Nürnberger Verkehrsbetrieben hatte es schon in der Anfangszeit der beiden U-Bahnen gegeben, als beispielsweise Nürnberger Fahrzeuge bei den Olympischen Spielen 1972 in München und Münchener Fahrzeuge beim Christkindlesmarkt 1978 in Nürnberg fuhren. Die eingesetzten Züge wurden nach ihrem Einsatz mit dem Wappen der jeweils anderen Stadt versehen, haben diese Wappen zwischenzeitlich durch Umlackierungen aber größtenteils wieder verloren. Die Nürnberger und Münchener Fahrzeuge können wegen verschiedener Umbauten an den Fahrzeugen nur noch mechanisch verbunden, aber nicht mehr frei gekuppelt werden. Diese Einschränkung verhindert einen gemischten Einsatz im Fahrgastbetrieb; die mechanische Verbindung genügt für Schlepp- oder Überführungsfahrten. Im September 2006 wurden wegen Wartungsarbeiten an den DT2 kurzfristig vier weitere Typ-A-Einheiten für zunächst ein halbes Jahr aus München ausgeliehen, womit sich insgesamt zehn Doppeltriebwagen des Typs A in Nürnberg befanden: die VAG-eigenen Züge mit den Wagennummern 561/562 bis 571/572 sowie die unter Münchner Wagennummern disponierten Züge 6103/7103, 6104/7104, 6108/7108 und 6126/7126. Die Rücküberführungen nach München fanden am 9. November 2007 (6103/7103 und 6104/7104) bzw. am 14. Oktober 2008 (6108/7108 und 6126/7126) statt. Ende Juli 2009 wurden die VAG-eigenen A-Wagen außer Betrieb genommen und im Herbst desselben Jahres verschrottet. Typ G1 Im November 2015 gab die VAG die Bestellung von 21 vierteiligen Gliederzügen des neuen Typs G1 bei Siemens bekannt. Die Fahrzeuge sollten ab Jahreswechsel 2019/2020 ausschließlich auf der mit Fahrern betriebenen Linie U1 eingesetzt werden. Indem die neuen Fahrzeuge über alle vier Wagen durchgängig sein werden, soll das subjektive Sicherheitsgefühl der Fahrgäste erhöht werden. Im November 2018 löste die VAG eine erste Option über sechs weitere Fahrzeuge auf insgesamt 27 neue Züge ein. Im März 2019 wurde bekannt gegeben, dass die Bestellung um weitere sieben Züge auf insgesamt 34 Fahrzeuge des neuen Typs erhöht wurde. Die G1-Züge sind seit dem 20. August 2020 im regulären Fahrgastbetrieb unterwegs. Bis Ende 2022 sollen sie die restlichen DT1 und DT2 ersetzen. Im Oktober 2022 nahm der 35. Zug der Baureihe seinen offiziellen Fahrgastbetrieb auf. Arbeitsfahrzeuge Für Bauarbeiten und zu Wartungszwecken verfügt die VAG über einen Park von Arbeitsfahrzeugen. Dieser besteht aus: zwei Lokomotiven (A601 und A602), Antrieb dieselelektrisch oder via Stromschiene (Höchstgeschwindigkeit 40 km/h) vier Rottenkraftwagen (A613, A615, A616 und A617), dieselelektrisch betrieben (Höchstgeschwindigkeit 40 km/h) zwei Zweiwege-Unimog (A612 und A614) drei 4-achsigen Flachwagen (A651, A652 und A661) zwei 2-achsigen Flachwagen (A682 und A683) zwei Schotterwagen (A671 und A672) einem Schienenkranwagen (A653) einem 3-Seiten-Kipper (A681) Die Arbeitslokomotiven verfügen sowohl über herkömmliche Zug- und Stoßeinrichtungen (Schraubenkupplung und Puffer) als auch Scharfenbergkupplungen, die Arbeitswagen haben mit Ausnahme der beiden Schotterwagen nur Scharfenbergkupplungen. Die Fahrzeuge verkehren meist nur in den Betriebspausen, wenn Bauarbeiten im Netz anstehen, sie können jedoch von Zeit zu Zeit auch am Tag angetroffen werden. Stehen größere Schienenschleifarbeiten an, wird von der Firma Speno ein spezieller Schienenschleifzug angemietet, da die VAG über keinen eigenen verfügt. Im Jahr 2009 wurde der Rottenkraftwagen A611 ausgemustert und 2010 der Fränkischen Museums-Eisenbahn überlassen. Er ist damit das einzige U-Bahn-Fahrzeug der VAG, das abgegeben wurde. Betriebsanlagen Betriebshof Zwischen Otto-Bärnreuther-Straße, Thomas-Mann-Straße, Gleiwitzer Straße und der Ringbahn befindet sich im Stadtteil Langwasser der U-Bahn-Betriebshof. Sein Anschluss an das Streckennetz erfolgt durch ein Überwerfungsbauwerk, das ihn direkt an die beiden mittleren Bahnsteiggleise des viergleisigen Bahnhofs Scharfreiterring anbindet. Er ist von West nach Ost in Abstellgruppe, Stellwerk, Werkstätten, Bereitstellgruppe und südlich davon den Gleisbaubereich unterteilt. Die Abstellgruppe besteht aus neun Gleisen, die 36 DT aufnehmen können – für eine spätere Aufstockung des Wagenparks besteht die Möglichkeit einer Erweiterung durch eine Freifläche nördlich des heutigen Areals. Zwischen Abstellgruppe und Werkstätten befindet sich das Stellwerk, das bis 1980 Zentralstellwerk für den gesamten U-Bahn-Bereich war; seitdem wird nur noch der Fahrbetrieb auf dem Betriebshof und zum angrenzenden Bahnhof Scharfreiterring überwacht und gesteuert. Der Bereich der Werkstätten besteht aus zehn Gleisen und gliedert sich in Hauptwerkstatt, Betriebswerkstatt sowie ein Gleis mit einer Unterflurdrehmaschine und ein Waschgleis. Auf den vier Gleisen der Hauptwerkstatt werden größere Reparaturen und die vorgeschriebenen Inspektionen, auf den vier Gleisen der Betriebswerkstatt kleinere Arbeiten und die monatliche Fahrzeugüberprüfung durchgeführt. Die Gleise der Bereitstellgruppe sind für die Fahrzeuge vorgesehen, die innerhalb der Werkstatt verschoben werden, um z. B. von der Reparatur zur Waschanlage zu fahren. Der Gleisbaubereich umfasst neben Lagerstätten für Gleise, Schwellen und Schotter auch Gleise zum Umschlagen von Gütern, sei es von LKW oder von DB-Fahrzeugen auf die eigenen Arbeitswagen. Südlich davon befindet sich das Übergabegleis zu den Gleisanlagen der Deutschen Bahn, das u. a. zur Anlieferung neuer Fahrzeuge verwendet wird. Im Endausbau des in den 1970er Jahren geplanten U-Bahn-Netzes war ein weiterer Betriebshof am Flughafen vorgesehen. Diese Planungen werden nicht mehr weiter verfolgt, stattdessen ist beim Endausbau der U3 westlich des Bahnhofs Gebersdorf eine Abstellgruppe mit Waschanlage vorgesehen. Abstell- und Kehranlagen Im Nürnberger U-Bahn-Netz gibt es insgesamt 16 Abstell- und Kehranlagen, wovon sich zehn auf der U1, vier auf der U2 und zwei auf der U3 befinden. Diese werden in der Betriebspause zum Abstellen und tagsüber teilweise zum Wenden von Verstärkerzügen der Linien U1 und U2 benötigt. Alle Anlagen verfügen über einen seitlichen Laufsteg, um das Wechseln der Führerstände zu erleichtern und wenn nötig den Fahrgastraum betreten zu können. In den Wendegleisen darf mit einer maximalen Geschwindigkeit von 25 km/h gefahren werden. Insgesamt können außerhalb des Betriebshofs 75 DT abgestellt werden. Unterwerke Zur Versorgung der U-Bahn-Fahrzeuge mit Fahrstrom und der Verbraucher, die sich in Bahnhöfen (Rolltreppen, Aufzüge, Bahnsteigbeleuchtung) und auf den Strecken (Sicherheitseinrichtungen, Streckenbeleuchtung) befinden, verfügt das U-Bahn-Netz über eine Vielzahl an Unterwerken. In ihnen wird der Strom aus den 20-kV-Versorgungsnetzen der Städte Nürnberg und Fürth entnommen und über Transformatoren und Gleichrichter in die für Fahrstrom (750 V Gleichstrom) und Verbraucher (400 V Drehstrom) benötigten Spannungen umgewandelt. Leitstelle Seit 1980 befindet sich die U-Bahn-Leitstelle, die aus Einsatzsteuerung, Bahnhofsüberwachung und Schaltwarte besteht, zusammen mit der Oberflächenleitstelle für die Einsatzsteuerung von Straßenbahn und Bus und dem Kundendienst in der „Zentralen Serviceleitstelle“ im Betriebsgebäude der VAG in der Fürther Straße. Die Einsatzsteuerung U-Bahn ist für die Fahrstraßensicherung, den Falschfahrbetrieb bei Störungen, die Geschwindigkeitsüberwachung, die Signalisierung und die Zugortung der auf der Strecke verkehrenden U-Bahn-Fahrzeuge zuständig. Außerdem werden die 15 ortsfesten Stellwerke von der Zentrale aus ferngesteuert und überwacht. Die Bahnhofsüberwachung setzt sich aus der Überwachung der Bahnanlagen (Bahnsteige, Verteilergeschosse) mit Videokameras und der Kommunikation der Leitstelle mit den Fahrgästen über Lautsprecher und der Fahrgäste mit der Leitstelle über die Notsprechanlagen am Bahnsteig zusammen. Die Schaltwarte ist für die Steuerung der Unterwerke zuständig, die das U-Bahn-Netz mit Strom versorgt. Aufgrund wachsender Aufgaben und beengter Platzverhältnisse wurde Mitte der 1990er Jahre entschieden, die Leitstelle in die Räume der ehemaligen Netzleitstelle der N-ERGIE zu verlegen. Der Vorteil der neuen Räumlichkeiten ist das größere Platzangebot, was es ermöglichte, den Bereichen U1, U2 und U3, Straßenbahn sowie Bus je einen eigenen Arbeitsplatz zuzuweisen. Ein weiterer Grund war die für den automatischen Fahrbetrieb auf der U2 und U3 benötigte neue Sicherungstechnik, für die die neue Leitstelle von Beginn an vorbereitet ist. Mit dem Umzug der U-Bahn-Leitstelle konnte das gesamte Vorhaben am 11. November 2005 abgeschlossen werden. Geschichte Erste Überlegungen in den 1920er Jahren Pläne für eine U-Bahn in Nürnberg gehen schon auf das Jahr 1925 zurück, als sich der Nürnberger Diplom-Ingenieur Oscar Freytag für den Bau einer elektrischen U-Bahn unter der Fürther Straße als Ersatz für die 1922 eingestellte Ludwigseisenbahn aussprach. Diese sollte nach den damaligen Vorstellungen die parallel laufende Straßenbahn nicht ersetzen, sondern als Schnellverbindung ergänzen und über den Plärrer hinaus entlang des Frauentorgrabens bis zum Nürnberger Hauptbahnhof verlängert werden. Die Fahrzeit auf der rund 7,4 km langen Strecke, die etwa 5,8 km im Tunnel verlaufen und den Ludwig-Donau-Main-Kanal ebenerdig queren sollte, hätte bei einer Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h rund 11 Minuten betragen (Durchschnittliche Geschwindigkeit etwa 40 km/h). Für den Einsatz waren Zwei- bis Vier-Wagen-Züge, mit einer Kapazität von je 100 Personen pro Wagen vorgesehen, sodass bei einem maximal möglichen Zwei-Minuten-Takt in jede Richtung rund 12.000 Fahrgäste pro Stunde hätten transportiert werden können. Als Bahnhöfe waren der stillgelegte oberirdische Fürther Ludwigsbahnhof sowie fünf neue unterirdische Haltestellen in etwa auf Höhe der ehemaligen Ludwigsbahnstationen Fürth-Ost, Nürnberg-Muggenhof (als Muggenhof), Nürnberg-West (als Justizgebäude-Maximilianstraße) und Nürnberg-Ludwigsbahnhof (als Plärrer) sowie in ungefährer Lage des heutigen Bahnsteigs der U2 und U3 am Hauptbahnhof vorgesehen. Mögliche Verlängerungen sollten sowohl vom Fürther Ludwigsbahnhof zum Flughafen Fürth-Nürnberg als auch vom Nürnberger Hauptbahnhof in Richtung Norden und Süden der Stadt möglich sein. Das Vorhaben scheiterte damals jedoch am hohen technischen Aufwand und an den Kosten. Erste Tunnelstrecken wurden 1938 während der Zeit des Nationalsozialismus gebaut, als die Straßenbahnstrecken im Zuge der heutigen Allersberger, Bayern-, Franken- und Münchener Straße unter die Erde verlegt wurden. Diese noch in Teilen existierenden Anlagen einer Unterpflasterstraßenbahn dienten einerseits dazu, die Straßenbahn nicht durch die Aufmarschkolonnen der SS-Kaserne und die Besuchermassen der auf dem benachbarten Reichsparteitagsgelände stattfindenden Reichsparteitage in ihrem Betriebsablauf zu stören und ermöglichten andererseits einen besseren Blick auf die neuerbaute SS-Kaserne, den Hitler persönlich gewünscht hatte. Anfänglich wurde auch eine Hochbahnstrecke gebaut, die kurz darauf aber wieder abgebrochen und durch die Unterpflasterstrecke ersetzt wurde. Von der Unterpflasterstraßenbahn zur U-Bahn Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Einsetzen des Wirtschaftswunders sowie der zunehmenden Motorisierung der Bevölkerung wurden neue Planungen für eine Unterpflasterstraßenbahn (andernorts und im heutigen Sprachgebrauch auch Stadtbahn genannt) aufgestellt. Den Vorschlag des Ulmer Professors Max-Erich Feuchtinger, die Straßenbahn zwischen Plärrer und Hauptbahnhof unter die Erde zu verlegen, lehnte der Nürnberger Stadtrat am 19. März 1958 ab. 1962 beauftragte der Stadtrat den Stuttgarter Verkehrswissenschaftler Professor Walther Lambert, ein Gutachten über die Zukunft des Nürnberger Nahverkehrs zu erstellen. Das „Lambert-Gutachten“ mit der Empfehlung zum Bau einer Unterpflasterstraßenbahn lag 1963 vor, und so entschied sich der Stadtrat am 24. April 1963 zu deren Bau mit der Option einer späteren Umrüstung zur Voll-U-Bahn. Am 24. November 1965 revidierte der Stadtrat seinen Entschluss von 1963 und beschloss den Bau einer klassischen U-Bahn. Vorausgegangen war eine persönliche Stellungnahme von Hans von Hanffstengel, dem Leiter des Nürnberger Stadtplanungsamtes, zum Gutachten von Professor Lambert. Hanffstengel sprach sich darin gegen die Übergangslösung einer U-Straßenbahn aus und forderte den direkten Bau einer Voll-U-Bahn. Unterstützt wurde er indirekt vom Bund, der eine Beteiligung an den Baukosten von 50 % in Aussicht stellte, und vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel, der die finanzielle Gleichstellung der Nürnberger U-Bahn-Pläne mit denen der Landeshauptstadt zusicherte. Praktische Gründe waren hingegen die bei einer Umrüstung notwendige Sperrung der gesamten Linie für die Dauer mehrerer Jahre. Grundnetzplanungen Erste Überlegungen für ein U-Bahn-Netz gab es bereits nach der Stadtratsentscheidung von 1965, konkrete Grundnetz-Planungen begannen aber erst Ende der 1960er Jahre nach Verabschiedung des Flächennutzungsplans von 1969. Die erste U-Bahn-Achse war zu diesem Zeitpunkt bereits in Bau und somit in allen Varianten enthalten. Sie sollte die damals neu entstehende Trabantenstadt Langwasser über den Hauptbahnhof, die Altstadt und den Plärrer mit Fürth verbinden und folgte dabei im Wesentlichen der ehemaligen Straßenbahnlinie 1. Für die weiteren Linien wurden die Anbindung der Ziele Flughafen, Meistersingerhalle, Städtisches Krankenhaus (jetzt: Klinikum Nord) und Tiergarten, die großflächige Erschließung des Stadtgebiets mit möglichst wenig Haltestellen sowie eine einfache Erweiterung des Netzes bei Stadtgebietsvergrößerungen zur Bedingung gemacht. All diese Überlegungen führten schließlich zu einer Vielzahl von Netzvorschlägen, wovon die Modelle P, Q, R und S den Vorgaben am ehesten entsprachen. Modell P Im Modell „P“ sind alle Linien auf den Hauptbahnhof als zentralen Knotenpunkt ausgerichtet, was gleichzeitig der Vorteil – Bündelung aller Verkehrsmittel (U- und S-Bahn, ZOB) an einem Punkt – des Modells ist. Nachteilig ist die wegen der umgebenden Bausubstanz schwierige bautechnische Ausführung des Kreuzungsbahnhofs Hauptbahnhof und der Strecke Hauptbahnhof – Plärrer. Die Linien würden wie folgt verlaufen: U1: Langwasser – Hauptbahnhof – Altstadt – Plärrer – Fürth U2: Flughafen – Rathenauplatz – Hauptbahnhof – Opernhaus – Plärrer – Gebersdorf U3: Tiergarten – Hauptbahnhof – Opernhaus – Röthenbach U4: Thon – Rathenauplatz – Hauptbahnhof – Opernhaus – Plärrer – Wetzendorf Modell Q Das Modell „Q“ geht von einer neuen Siedlungsachse zwischen Nürnberg und Fürth entlang der Willstraße und neu zu erstellenden Straßen-Tangenten aus, die von der Linie U3 bedient werden sollen. Positive Effekte werden diesem Netzmodell für die Entwicklung der neuen Siedlungsachse zugeschrieben, negativ könnten die Umsteigebeziehungen von der U3 zur Innenstadt sowie die Zuführung schadhafter Züge zu den Betriebshöfen sein. Das Liniennetz sähe wie folgt aus: U1: Langwasser – Aufseßplatz – Hauptbahnhof – Altstadt – Plärrer – Gostenhof – Fürth U2: Flughafen – Rathenauplatz – Hauptbahnhof – Steinbühl – Röthenbach U3: Tiergarten – Aufseßplatz – Steinbühl – Schlachthof – Gostenhof – St. Johannis – Rathenauplatz – Erlenstegen U4: Gebersdorf – Schlachthof – Gostenhof – St. Johannis – Wetzendorf Modell R Beim Modell „R“ kreuzen sich die drei Stammlinien in den Punkten Aufseßplatz, Hauptbahnhof und Plärrer und entsprechen damit der klassischen Netzkonzeption, die u. a. auch in München angewendet wurde. Von Vorteil wäre eine gleichmäßige Auslastung und Entwicklungsmöglichkeit aller Linien, als Nachteil könnten ungewollte Siedlungsentwicklungen entlang der U3-Nord Richtung Thon und der U5-Süd Richtung Gartenstadt entstehen. Die Linien wären wie folgt verlaufen: U1: Langwasser – Aufseßplatz – Hauptbahnhof – Altstadt – Plärrer – Gostenhof – Fürth U2: Flughafen – Rathenauplatz – Hauptbahnhof – Plärrer – Gostenhof – Schlachthof – Röthenbach U3: Tiergarten – Aufseßplatz – Steinbühl – Plärrer – Gostenhof – St. Johannis – Thon U4: Erlenstegen – Rathenauplatz – Hauptbahnhof – Plärrer – Gostenhof – Schlachthof – Gebersdorf U5: Gartenstadt – Steinbühl – Plärrer – Gostenhof – St. Johannis – Wetzendorf Modell S Im Modell „S“ verlaufen alle Linien voneinander unabhängig und kreuzen sich nur an den Bahnhöfen Aufseßplatz, Friedrich-Ebert-Platz, Hauptbahnhof, Rathenauplatz, Plärrer, Steinbühl und Schlachthof. Von Vorteil ist, dass es keine gemeinsam genutzten Streckenabschnitte und somit keine verschleppten Verspätungen bei Störungen auf einer Linie gibt. Als Nachteil sind die häufigen Umsteigevorgänge anzusehen, die die Fahrgäste z. B. bei einer Fahrt von Erlenstegen nach Zerzabelshof auf sich nehmen müssten. Die Linien wären bei diesem Modell wie folgt verlaufen: U1: Langwasser – Aufseßplatz – Hauptbahnhof – Altstadt – Plärrer – Fürth U2: Flughafen – Rathenauplatz – Hauptbahnhof – Plärrer – Schlachthof – Röthenbach U3: Gebersdorf – Schlachthof – Steinbühl – Aufseßplatz – Tiergarten U4: Thon – Friedrich-Ebert-Platz – Plärrer – Steinbühl – Gartenstadt U5: Erlenstegen – Rathenauplatz – Friedrich-Ebert-Platz – Wetzendorf Beschluss Am Ende stellte sich das Modell R als städtebaulich, betriebstechnisch und von der Entwicklungsmöglichkeit her sinnvollstes der vier Modelle heraus. Es wurde geringfügig modifiziert und bildete die Grundlage des am 8. September 1971 vom Stadtrat verabschiedetem „Generalnahverkehrsplan Nürnberg“ (GNVP). Das geplante U-Bahn-Netz sollte danach aus den drei Stammlinien U1: Langwasser – Aufseßplatz – Hauptbahnhof – Altstadt – Plärrer – Fürth (bereits in Bau) U2: Stein – Schlachthof – Plärrer – Hauptbahnhof – Rathenauplatz – Flughafen U3: Wetzendorf – Friedrich-Ebert-Platz – Plärrer – Steinbühl – Aufseßplatz – Tiergarten bestehen, wovon die Linien U2 und U3 Verzweigungsmöglichkeiten an den Bahnhöfen Friedrich-Ebert-Platz (Richtung Thon), Rathenauplatz (Richtung Erlenstegen), Steinbühl (Richtung Gartenstadt) und Schlachthof (Richtung Gebersdorf) erhalten sollten. Als Kritikpunkt kann die ungenügende Berücksichtigung der zum 1. Juli 1972 eingemeindeten Gebiete in den GNVP angesehen werden, da die U-Bahn-Planungen nur geringfügig an die neuen Siedlungsgebiete angepasst wurden. Da das letztlich beschlossene Modell wie alle in der Diskussion vorgestellten Modelle von der Stilllegung der Straßenbahn ausging, sollte sich nach dem Beschluss zum Erhalt der Straßenbahn herausstellen, dass Teile des Modells unter den geänderten Bedingungen nicht umsetzbar waren. Baubeginn der U1 in Langwasser Mit dem ersten Rammschlag am zukünftigen Bahnhof Bauernfeindstraße begannen am 20. März 1967 im Beisein von Bundesverkehrsminister Georg Leber und Oberbürgermeister Andreas Urschlechter die Bauarbeiten für die Nürnberger U-Bahn. Gleichzeitig wurde vom Fürther Stadtrat der Beschluss gefasst, die U-Bahn von der Stadtgrenze kommend bis zur Billinganlage zu führen. In einem weiteren Beschluss vom 6. Mai 1971 konnte sich die Trassenführung über die Fürther Freiheit knapp gegen die Variante über Fürth Hauptbahnhof durchsetzten. Der Beschluss wurde allerdings aus Anraten der Regierung von Mittelfranken am 4. Juni 1973 zu Gunsten der vorher unterlegenen Variante über den Hauptbahnhof revidiert, da dort – was im Hinblick auf den vorgesehenen Verkehrsverbund wichtig erschien – eine bessere Verknüpfung mit der Bahn bestehen würde. Die Eröffnung des ersten 3,7 km langen Bauabschnitts von Langwasser Süd bis Bauernfeindstraße wurde fast genau fünf Jahre nach Baubeginn am 1. März 1972 mit einem großen Fest begangen. Somit war Nürnberg nach Berlin (18. Februar 1902), Hamburg (15. Februar 1912) und München (19. Oktober 1971) die vierte Stadt Deutschlands mit einem eigenen U-Bahn-Betrieb. Parallel wurde bereits an den folgenden Bauabschnitten Richtung Fürth gearbeitet. Dafür schlossen am 12. Oktober 1976 die Städte Nürnberg und Fürth einen U-Bahn-Vertrag, der die Planung der U-Bahn in Fürth auf das Nürnberger Tiefbauamt übertrug. Der Weiterbau Richtung Innenstadt verzögerte sich zunächst, da die Trassenführung zwischen Bauernfeindstraße und Hauptbahnhof mehrmals umgeplant wurde. War ursprünglich eine Führung, dem Verlauf der Straßenbahnlinie 1 folgend, entlang der Münchener Straße und unter der Allersberger Straße hindurch vorgesehen, entschied sich der Stadtrat am 23. Oktober 1967 für die heutige Führung (Rangierbahnhofgelände, Pillenreuther Straße, Aufseßplatz). Diese Planungen wurden am 18. Juni 1969 per Stadtratsbeschluss nochmals modifiziert und die oberirdisch via Hochbahn vorgesehene Querung des Rangierbahnhofgeländes durch die unterirdisch bzw. im Einschnitt verlaufende heutige Trasse ersetzt. Sechs Jahre nach der ersten Eröffnung in Langwasser unterquerte die U-Bahn die Altstadt und erreichte am 28. Januar 1978 den Bahnhof Weißer Turm. Gleichzeitig wurde die letzte verbliebene Straßenbahnstrecke in der Nürnberger Altstadt, wie viele andere parallel zur U-Bahn verlaufende Strecken, stillgelegt. Der U-Bahn-Bau hingegen ging zielstrebig weiter. Seit dem 2. Oktober 1978 liefen die Bauarbeiten für die zweite U-Bahn-Linie vom Plärrer Richtung Röthenbach. Am 20. Juni 1981 endete der Straßenbahnbetrieb in und nach Fürth, als die U1 den Bahnhof Eberhardshof erreichte und die Hochbahn in der Fürther Straße, auf der seit 1970 die Straßenbahn übergangsweise verkehrte, für die U-Bahn umgerüstet werden musste. Zum 150-jährigen Eisenbahnjubiläum in Deutschland am 7. Dezember 1985 wurde der nach damaliger Vorstellung vorerst letzte U-Bahn-Abschnitt vom Bahnhof Jakobinenstraße zum Fürther Hauptbahnhof eröffnet. Die Wiederaufnahme der 1973 gefassten Planungen folgte am 22. Juli 1992. Die ursprünglichen Planungen wurden bestätigt und dahingehend erweitert, dass der Endpunkt nicht mehr die Billinganlage, sondern die Hardhöhe sein sollte. Die Bauarbeiten für den Bauabschnitt bis zum Bahnhof Stadthalle begannen am 19. September 1994. In der Fürther Bevölkerung mehrten sich allerdings die Stimmen, die gegen die Wiederaufnahme des U-Bahn-Baus aussprachen. Bedenken gab es hinsichtlich der finanziellen Belastung des Fürther Haushaltes, der Ausdünnung des Nahverkehrs in der Fläche zugunsten der linienhaften Erschließung sowie Kritik am Wegfall der direkten Erreichbarkeit der Innenstadt mit dem Bus. Das führte zur Initiierung eines Bürgerbegehrens, das den Baustopp am Rathaus forderte. Es erreichte zwar ohne Mühe das Unterschriftenquorum, der Stadtrat ließ jedoch den Bürgerentscheid nicht zu, so dass 13 Jahre nach Eröffnung des letzten Abschnitts bis zum Hauptbahnhof die U-Bahn am 5. Dezember 1998 den Bahnhof Stadthalle erreichte. Am 4. Dezember 2004 wurde der Bahnhof Klinikum für den Verkehr freigegeben und seit 8. Dezember 2007 ist die Verlängerung zum Endbahnhof Hardhöhe in Betrieb. Ein Weiterbau der U1 auf Fürther Stadtgebiet, wie er in den 2000er Jahren noch angedacht war (geplante Station „Kieselbühl“), erscheint Mitte der 2020er Jahre auf absehbare Zeit äußerst unwahrscheinlich. Die U2 – Eine U-Bahn zum Flughafen Parallel zum Bau der U1 erfolgte der Bau der zweiten Stammlinie (U2), die bei Vollendung von Stein Schloß über Plärrer und Hauptbahnhof bis zum Flughafen führen sollte. Der erste Abschnitt der U2-Süd vom Plärrer nach Schweinau wurde am 10. Januar 1984 eröffnet und gleichzeitig die Straßenbahnstrecken nach Schweinau und zur Gustav-Adolf-Straße stillgelegt. Zwei Jahre später wurde die Verlängerung bis zum Bahnhof Röthenbach am 27. September 1986 eingeweiht. Anders lautende Planungen sahen den Endpunkt bereits am Bahnhof Hohe Marter, was die aufwendige Kanalunterquerung eingespart, aber die Erreichbarkeit über die damals schon stark belastete Schweinauer Hauptstraße erschwert hätte. Der Bau der U2-Nord begann am 10. März 1986 und bedeutete gleichzeitig die Einstellung des Straßenbahnbetriebs zwischen Plärrer und Hauptbahnhof. Eröffnet wurde der Abschnitt bis zum Hauptbahnhof am 24. September 1988, so dass die U2 von nun an nicht mehr im Mischbetrieb mit der U1 Richtung Langwasser, sondern auf eigener Strecke verkehrte. Für den nächsten Abschnitt bis zum Rathenauplatz, der am 29. September 1990 in Betrieb ging, gab es für den Bahnhof Wöhrder Wiese 20 unter wirtschaftlichen und naturschutzrechtlichen Aspekten betrachtete Trassenvarianten, von der die bestehende ausgewählt wurde. Die weitere Trasse sollte ursprünglich vom Rathenauplatz aus unter der Äußeren Bayreuther Straße (B 2) bis zum Nordostbahnhof verlaufen, dort auf die Gräfenbergbahn verschwenken und in einem Bogen nördlich von Ziegelstein zum Flughafen führen. Diese Planungen wurden zu Gunsten des heutigen Verlaufs korrigiert, um einerseits die Wohngebiete der Stadtteile Rennweg und Schoppershof besser zu erschließen und andererseits das während der Bauarbeiten auf der B 2 befürchtete Verkehrschaos zu vermeiden. So wurde zunächst am 22. Mai 1993 der Abschnitt bis Schoppershof und am 27. Januar 1996 der Abschnitt bis Herrnhütte dem Verkehr übergeben und gleichzeitig die parallel verlaufende Straßenbahnstrecke stillgelegt. Die Gräfenbergbahn ist bis heute im Personenverkehr im Betrieb. Dadurch hat die U2 zwischen Nordostbahnhof und Hauptbahnhof zusätzlich die Funktion, Umstiege zwischen Gräfenbergbahn und anderen Zügen des Nah- und Fernverkehrs zu erleichtern, da die Gräfenbergbahn den Hauptbahnhof nicht bedient. Der Weiterbau zum Bahnhof Flughafen war erklärtes Ziel für die U2, stand aber durch die sinkende Finanzkraft der Stadt Nürnberg in den 1990er Jahren auf der Kippe. Erst nach der Übernahme des städtischen Finanzanteils von 10 % durch den Freistaat Bayern und die Flughafengesellschaft sowie dem Verzicht auf eine zweigleisige Trasse konnte die Realisierung 1996 in Angriff genommen werden und der lange geplante Endpunkt der U2 am 27. November 1999 eröffnet werden. Der eingleisige Abschnitt zwischen Flughafen und Ziegelstein – zugleich die längste Distanz zwischen zwei Bahnhöfen im Nürnberger Netz – schränkt den möglichen Takt ein. Da ein Zug rund 3 Minuten benötigt, um die Strecke zurück zu legen, und der Gegenzug den eingleisigen Abschnitt erst befahren kann, wenn der vorherige Zug ihn verlassen hat, fährt selbst zur Hauptverkehrszeit maximal alle zehn Minuten eine U2 zum Flughafen. Der schon in den frühesten Planungen vorgesehene Weiterbau im Süden Richtung Stein bei Nürnberg kam letztlich nie zustande und ist auch Stand 2023 nicht absehbar. Neben der Problematik der Stadt- und Landkreisgrenze scheitern entsprechende Anläufe immer wieder an der Finanzierung. Von INTRAPLAN über SMARAGT zu RUBIN Nachdem die Vollendung der beiden ersten Stammlinien zu Beginn der 1990er Jahre abzusehen war, mussten sich die verantwortlichen Stellen der Stadt Nürnberg Gedanken über die im GNVP vorgesehene dritte Stammlinie machen. Da vor dem Hintergrund des „Leitbildes Verkehr“ eine Überprüfung der GNVP-Planungen aus den 1970er Jahren auf deren Aktualität notwendig erschien, gab das Baureferat beim Münchner Ingenieurbüro Intraplan Consult die „Untersuchung von ÖPNV-Netzvarianten im Rahmen der U-Bahn-Ausbauplanungen“ in Auftrag. Das Gutachten wurde im Juni 1990 veröffentlicht und kam zu dem Schluss, dass der weitere U-Bahn-Ausbau in der bisher geplanten Form (U3) ebenso wie in einer geänderten Planung (Abzweig Rothenburger Straße – Kleinreuth und Rathenauplatz – Friedrich-Ebert-Platz – Thon) nur bei gleichzeitiger Stilllegung des Straßenbahnnetzes sinnvoll wäre und ein Nutzen-Kosten-Quotient größer 1 aufweisen würde. Auf Grund dieses Ergebnisses nahm die Stadt in ihrem Beschluss vom 8. November 1990 von den bisherigen U3-Planungen Abstand und gab die „Integrierte ÖPNV-Planung Nürnberg“ (INTRAPLAN) bei demselben Ingenieurbüro in Auftrag. Dieses Gutachten wurde im Februar 1993 veröffentlicht und befasste sich hauptsächlich mit der Alternative U-Bahn (als U21 bezeichnet) oder Straßenbahn/Stadtbahn auf dem Korridor Nordstadt – Klinikum Nord – Wetzendorf bzw. Rothenburger Straße – Sündersbühl – Kleinreuth bei Schweinau. Als problematisch stellte sich jedoch heraus, dass keine konkrete Aussage für oder gegen eines der beiden Systeme gemacht werden konnte. Das lag an der Tatsache, dass sich die Nutzen-Kosten-Quotienten der untersuchten Planfälle mit bzw. ohne MIV-Restriktionen (z. B. Pförtnerampel) in etwa die Waage hielten: für die U21-Varianten sprach die Unabhängigkeit des Verkehrsmittels U-Bahn, für die Straßenbahn/Stadtbahn deren geringere Baukosten. Der Nürnberger Stadtrat beschloss auf Grundlage dieses Gutachtens am 12. Oktober 1994 ein neues ÖPNV-Konzept mit einer von der U2 an den Bahnhöfen Rothenburger Straße Richtung Von-der-Tann-Straße und Tiefes Feld und Rathenauplatz Richtung Friedrich-Ebert-Platz und Klinikum Nord abzweigenden U-Bahn-Linie, sowie den gleichzeitigen Ausbau und die Modernisierung des Betriebszweigs Straßenbahn. Im Herbst 1996 wurde im Stadtrat die Streckenführung der U3 von Gebersdorf über Rothenburger Straße, Plärrer, Hauptbahnhof und Rathenauplatz zum Nordwestring festgelegt. Die Kostenersparnis bei der neuen Linie U3 durch Mitnutzung des Tunnels der U2 war ein wesentlicher Faktor in der Finanzierbarkeit des Projektes. Allerdings führt es zur Problematik, dass bei zwei sich überlagernden Linien Züge im Abstand von zwei Minuten und weniger auf dem gemeinsamen Abschnitt fahren, was die aktuelle Signaltechnik nicht leisten konnte. Es stellte sich also die Frage, welche Technologie verwendet werden soll, um die notwendigen kürzeren Zugfolgen zu erreichen. Dazu wurde vom Stadtrat in Zusammenarbeit mit der VAG, Siemens, Adtranz, der Regierung von Mittelfranken und dem Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie die SMARAGT-Studie (Studie zur Machbarkeit und Realisierung eines Automatic Guided Transit) in Auftrag gegeben, in der mehrere Betriebsformen (konventionell, automatisch, Mischbetrieb) gegenübergestellt und unter betrieblichen und finanziellen Aspekten bewertet wurden. Die Studie wurde 1999 abgeschlossen und kam zu dem Ergebnis, dass ein automatischer Betrieb auf der neuen U-Bahn-Linie machbar und finanzierbar sowie wirtschaftlich sinnvoll ist. Nach Zusage von Bund und Land, die Streckentechnik mit 87,5 %, die Strecke mit 85 % sowie die Fahrzeuge mit 50 % zu fördern, wurde die Realisierung des insgesamt 610 Millionen Euro teuren Projektes RUBIN (Realisierung einer automatischen U-Bahn in Nürnberg) noch im selben Jahr vom Nürnberger Stadtrat beschlossen. Die Ausschreibung für Fahrzeuge und Streckenausrüstung begann im Dezember 2000, aus der Siemens Transportation Systems am 16. November 2001 als Gewinner hervorging. Der Bau der U3 Die ursprünglichen Pläne für die Nürnberger U-Bahn sahen drei „volle“ Stammstrecken vor, von denen zwei (U1 und U2) mehr oder weniger wie geplant realisiert wurden. Die heutige U3 als Abzweigung der U2-Stammstrecke ist in älteren Planungen teilweise als Abzweig U2 zu finden, teilweise entspricht sie dem geplanten Grundnetz. Die 1996 feststehende Streckenführung des Südabschnitts wurde 1997 vom Tiefbauamt auf Grund von Anwohnereinwänden überarbeitet. Entgegen den ursprünglichen Planungen, bei der die Strecke unter der Rothenburger Straße bis zu einem Bahnhof westlich der Kreuzung Von-der-Tann-Straße (Westring) verlaufen, auf Höhe der Steinmetzstraße nach Südwesten zum Bahnhof Großreuth abschwenken und anschließend das „Tiefe Feld“ zentral von Ost nach West durchqueren sollte, wurde die Trasse ab der Blücherstraße nach Süden in die Wallensteinstraße mit einem Bahnhof östlich des Rings verlegt sowie die Querung des „Tiefen Feldes“ zu Gunsten des Verlaufs näher an Kleinreuth unter der „Neuen Rothenburger Straße“ geändert. Die Bauarbeiten für die ersten beiden Bauabschnitte (BA) Rothenburger Straße – Gustav-Adolf-Straße (BA 1.1) und Rathenauplatz – Maxfeld (BA 1.2) begannen im Juni 2000 und waren im Dezember 2004 abgeschlossen. Im Vorfeld der Planungen für den nächsten Abschnitt der U3-Nord zum Friedrich-Ebert-Platz (BA 1.3) wurde im September 2000 vom „Arbeitskreis Attraktiver Nahverkehr“ (AAN) eine alternative Streckenführung vom Bahnhof Maxfeld über den Nordbahnhof und weiter Richtung Wetzendorf vorgeschlagen. Diese sollte nach den Vorstellungen des AAN ein im Zuge der Bahnflächenveräußerungen neu entstehendes Siedlungsgebiet auf dem Nordbahnhofgelände an den ÖPNV anbinden. Der Vorschlag wurde von der Stadt abgelehnt, da die Änderung des Streckenverlaufs faktisch eine Neuplanung bedeutet hätte und die zu erwartenden Fahrgastzahlen der neuen Trasse im Gegensatz zur alten geringer ausgefallen wären. Nach der Fertigstellung des ersten Abschnittes wurde der automatische Probebetrieb mit den neuen Fahrzeugen aufgenommen. Nach den ursprünglichen Planungen sollte die Linie im Frühjahr 2006 rechtzeitig vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft für den Verkehr freigegeben werden. Auf Grund von unerwarteten Schwierigkeiten im Zusammenspiel der einzelnen Komponenten (Zug und Strecke) und zu straff gesteckter Zeitpläne konnte der Eröffnungstermin nicht gehalten werden. Er wurde zuerst von März auf September 2006 und nach einer Krisensitzung von Stadtrat und Siemens am 24. März 2006 auf Ende 2007 oder Anfang 2008 verschoben. Nachdem die Probleme offensichtlich geworden waren, wurde das Projektmanagement von Siemens umstrukturiert und personell aufgestockt, so dass der neue Zeitplan eingehalten und die Strecke am 14. Juni 2008 eröffnet werden konnte. Automatisierung U2 Nachdem auch die Ausrüstung der U2-Äste mit den für automatischen Fahrbetrieb benötigten Einrichtungen erfolgt ist und der Erprobungsbetrieb erfolgreich abgeschlossen werden konnte, erhielt die VAG am 25. September 2009 die Zulassung für den automatischen Fahrbetrieb mit Fahrgästen. Seit dem 28. September 2009 verkehren die ersten vier Kurse im Automatikbetrieb, der Abschluss der Umstellung erfolgte am 2. Januar 2010. Für eine Automatisierung der U1 gibt es derzeit keine konkreten Pläne. Im Zuge des Dieselskandals wurde jedoch seitens lokaler Politiker eine Automatisierung der U1 als mögliche Verwendung von Fördergeldern der Bundesregierung in die Diskussion gebracht. Ausbau U3 Auch nach Automatisierung der U2 ging der Ausbau der U3 weiter. Zunächst wurde der Nordabschnitt bis zur B4R zum derzeitigen (2022) Endpunkt Nordwestring in Angriff genommen, bevor nach diversen Klagen und rechtlichen Problemen auch auf dem Südabschnitt der Ausbau weiter gehen konnte. Wichtiger Teil der Planungen ist hierbei auch die Bebauung des „tiefen Feldes“ mit Wohngebäuden zeitnah zur Anbindung des neuen Stadtteils an die U3. Am 10. Dezember 2011 wurde das Nordende der Strecke um die Bahnhöfe Kaulbachplatz und Friedrich-Ebert-Platz verlängert; am 22. Mai 2017 wurde der den aktuellen Planungen zufolge finale Streckenabschnitt des nördlichen U3-Astes mit den Bahnhöfen Klinikum Nord und Nordwestring eröffnet und die Verlängerung im Südwesten von Gustav-Adolf-Straße bis zum neuen U-Bahnhof Großreuth bei Schweinau am 15. Oktober 2020. An der weiteren Verlängerung bis zum vorerst letzten geplanten Bahnhof „Gebersdorf“ wird bereits gebaut. Geplant ist eine Inbetriebnahme im Jahr 2025. Ob die U3 – oder eine andere Linie – über diese Baumaßnahmen hinaus erweitert wird, ist derzeit (2022) noch offen. 50 Jahre U-Bahn und Ausmusterung von DT1 und DT2 Im Jahr 2022 jährte sich die Eröffnung der ersten Abschnitte der U-Bahn zum fünfzigsten Mal. Aus Anlass dieses Ereignisses wurde am Wochenende des 30./31. Juli 2022 eine öffentliche Jubiläumsfeier im Betriebshof abgehalten. Am selben Wochenende fuhren die letzten im Fahrbetrieb verbliebenen DT2 als „Shuttlezug“ für die Feier ihre letzten Fahrgasteinsätze. Anders als die ebenfalls eingesetzten DT1, von welchen mindestens ein fahrbereiter Museumszug erhalten bleiben soll, sollen die DT2-Einheiten verschrottet werden. Planungen Neben den im Projekt Nahverkehrsentwicklungsplan 2025 plus (NVEP 2025+) der Stadt Nürnberg vorgeschlagenen Erweiterungen des U-Bahn-Netzes liegen für weitere Vorschläge aus der Politik für eine Erweiterung des U-Bahn-Netzes vor: Erweiterungen in Nürnberg und Fürth U1 Kieselbühl Mit dem Bahnhof Hardhöhe hat die U1 nach 40 Jahren ihren vorläufigen Endpunkt erreicht. Ob der Bahnhof Kieselbühl nordwestlich der Hardhöhe noch gebaut wird, ist nicht absehbar. Die Verlängerung ist im Flächennutzungsplan der Stadt Fürth enthalten. Eine Verlängerung der U-Bahn könnte in Zusammenhang mit der Errichtung einer Park-and-Ride-Anlage erfolgen. Unter den manuellen Rollbandanzeigen an DT1-Zügen gab es eine Option U1 Kieselbühl, die zeitweise fälschlich zu sehen waren. Mit der Umstellung auf digitale Zugzielanzeiger im Jahre 2011, verschwand dieselbe allerdings aus dem Betrieb. Nürnberg Universität Mit dem Beschluss im Jahr 2017, dass Nürnberg eine eigenständige Technische Universität erhalten soll, sind seitens der CSU Vorschläge für einen U-Bahnhof Universität gemacht worden. Dieser U-Bahn-Halt wäre auf dem Gewerbegebiet der Brunecker Str. zwischen den Bahnhöfen Hasenbuck und Bauernfeindstraße vorgesehen, wo auch die Universität und der neue Stadtteil Lichtenreuth geplant sind. Dieser U-Bahnhof war im NVEP 2025+ zuletzt verworfen worden. Abzweig Scharfreiterring Ebenfalls von der CSU ist ein möglicher Abzweig der U-Bahn ab der Station Scharfreiterring zum Klinikum Nürnberg-Süd vorgeschlagen worden. Mögliche Zwischenhalte wären Thomas-Mann-Straße und Gleiwitzer Straße. Auch diese Planung war im NVEP 2025+ zuletzt verworfen worden. U2 Mit der Eröffnung der Strecke bis zum Bahnhof Flughafen ist die U2 auf Nürnberger Stadtgebiet fertig gestellt. Marienberg Um ein geplantes Gewerbegebiet erschließen zu können, wurden beim Bau des Tunnels bauliche Vorleistungen für einen Bahnhof Marienberg zwischen den Stationen Ziegelstein und Flughafen getroffen. Presseberichten aus dem September 2020 zufolge ist infolge der Nichtrealisierung der Stadtentwicklungsmaßnahme im ursprünglich geplanten Umfang ein U-Bahnhof Marienberg vom Tisch. Abzweig Nordostbahnhof In ehemaligen Vorschlägen der CSU wurde ein Abzweig ab der Haltestelle Nordostbahnhof angeregt, um das Gewerbegebiet am Nordostpark besser anzuschließen. Mögliche Haltestellen könnten Schafhof und Nordostpark sein. Das Gebiet wird derzeit vor allem durch die Buslinie 30 erschlossen, welche auch einige Halte der U2 anbindet. Abzweig Hohe Marter Der Abzweig von Hoher Marter in südlicher Richtung bis Eibach und eventuell weiter bis Reichelsdorf wurde 2015 untersucht und als nicht förderungsfähig verworfen. Eine neue Bewertung unter gesamtheitlichen Aspekten soll bis 2023 gemacht werden. Am Wegfeld Schon vor der Eröffnung der Verlängerung der Straßenbahnlinie 4 nach Am Wegfeld im Nürnberger Norden wurde verschiedentlich eine Verlängerung der U-Bahn zu diesem neuen Kreuzungspunkt vorgeschlagen. Im Zuge der Untersuchungen im Rahmen des Verkehrsentwicklungsplans 2025 wurde einer solchen Verlängerung allerdings kein Nutzen-Kosten-Quotient auch nur annähernd über dem Wert von 1,0, welcher für Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz nötig wäre, bescheinigt. U3 Südast Die Planung für die weitere Strecke von Großreuth nach Gebersdorf begann im Jahr 2017, die Bauarbeiten starteten dann 2020 und sollen bis 2025 abgeschlossen werden. Die Strecke wird laut VAG voraussichtlich 2026 in Betrieb genommen. Die Verlängerung von Großreuth über den Bahnhof Kleinreuth nach Gebersdorf sind weitere zwei Kilometer für die U3, sodass sie bei der Eröffnung auf 11,2 km Länge und 16 Stationen kommt. Vorgesehen ist der Bau der Bahnhöfe Kleinreuth südlich des Stadtteils Kleinreuth bei Schweinau und Gebersdorf auf dem Gelände des ehemaligen Haltepunkts Fürth Süd der Bibertbahn. An diesem Punkt erreicht die Strecke die Nürnberger Stadtgrenze. Nordast Im Norden hat die U3 mit der Eröffnung des Endbahnhofes Nordwestring im Mai 2017 bis auf Weiteres ihren Endpunkt erreicht. In den aktuellen Planungen der Politik ist jedoch auch eine Erweiterung in den Stadtteil Wetzendorf vorgesehen. Mögliche Haltestellen wären Schniegling/Ringbahn, Wetzendorf und Neuwetzendorf. Eine Verlängerung stünde womöglich in Konkurrenz zur bereits bestehenden Straßenbahnlinie 6 oder deren möglicher Verlängerung nach Westen. Da es auf der Ringbahn derzeit keinen Personenverkehr gibt, wäre eine Einführung desselben unter Umständen mit Synergiegewinnen für eine entsprechende Verlängerung der U3 verbunden, da hierbei neue Umsteigebeziehungen unter Umgehung des stark belasteten Hauptbahnhofs entstehen. Verlängerungen in den Landkreis Fürth Nach Presseberichten von 2008 stehen die Verlängerungen der U2 und U3 in Konkurrenz zueinander, aus Kostengründen soll nur eines der beiden Vorhaben verwirklicht werden. U2 nach Stein Der Weiterbau der U2 von Röthenbach aus nach Stein war Teil der Grundnetzplanungen aus den 1970er Jahren. Eine erste Wirtschaftlichkeitsuntersuchung aus dem Jahr 1994 erreichte mit einem Nutzen-Kosten-Quotient von 0,33 nicht den für eine Förderung notwendigen Wert größer gleich eins, allerdings wurde nur der Teilabschnitt von Röthenbach bis zum geplanten Endpunkt in Deutenbach untersucht. 1997 gab der Zweckverband Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (ZVGN) beim Ingenieurbüro Intraplan Consult eine weitere Untersuchung in Auftrag, die diesmal den Streckenabschnitt vom Hauptbahnhof bis Deutenbach beinhaltete. Bei dieser Untersuchung wurde ein Nutzen-Kosten-Quotient von 1,7 bei einer geschätzten Gesamtbausumme von 159,01 Millionen Euro (311 Millionen D-Mark) ermittelt, auf Grund dieser Zahlen die Verlängerung der U2 vom Nürnberger Stadtrat beschlossen wurde. Auch die Stadt Stein befürwortete den Bau, um die Steiner Hauptstraße (B 14) vom Durchgangsverkehr zu entlasten, konnte aber den damals geforderten mindestens siebenstelligen Eigenbeitrag an den Baukosten sowie die Betriebskosten nicht aufbringen. Durch die mittlerweile abgeschlossene Automatisierung der U2 ergibt sich eine neue Möglichkeit zur Verlängerung in die Nachbarstadt, an der beide Städte immer noch Interesse haben. Zu diesem Zweck wurde ein neues Gutachten vom ZVGN erstellt, das die Auswirkungen des automatischen Betriebs auf die Betriebs- und Unterhaltskosten untersuchen sollte. Nachdem die U3-Verlängerung nach Zirndorf per Bürgerentscheid abgelehnt worden war, forderte der Steiner Bürgermeister Kurt Krömer eine rasche Untersuchung der U2-Verlängerung parallel zur verbleibenden U3-Verlängerung Richtung Oberasbach/Leichendorf, um die Chance auf die 2013 auslaufende zweckgebundene ÖPNV-Förderung durch das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) nicht verstreichen zu lassen. Inzwischen wurde das GVFG jedoch verlängert und mit mehr Mitteln ausgestattet und im Jahr 2020 sogar die maximal mögliche Förderung durch den Bund von 60 % auf 75 % erhöht. Doch das in Auftrag gegebene Gutachten kam mit Präsentation am 23. September 2013 zu dem Ergebnis, dass die Chancen, auf einen Nutzen-Kosten-Indikator von mindestens +1,0 zu kommen, gering seien. Die Pläne für den Weiterbau nach Stein wurden daraufhin 2013 vorerst vom Verkehrsausschuss des Kreistages Fürth zu den Akten gelegt. Kritisiert wurde dabei die Betrachtung der Rentabilität der Strecke einzig auf den Neubauabschnitt von Stein nach Röthenbach, nicht aber bis zum Plärrer in Nürnberg. In den aktuellen Planungen der Politik ist lediglich eine Erweiterung um eine weitere Haltestelle Schloss Stein vorgesehen. Die Stadt Stein solle sich hierüber noch nicht geäußert haben. U3 nach Zirndorf/Oberasbach In der am 23. März 2010 von den Verantwortlichen abgehaltenen Pressekonferenz wurde bekannt gegeben, dass es keine Verlängerung der U3 in den Landkreis Fürth nach Oberasbach geben wird. Laut Gutachten erreicht weder die Tunnel-Variante unter der Rothenburger Straße bis Oberasbach Süd mit einem Nutzen-Kosten-Quotient von 0,44 noch die oberirdische Variante auf der ehemaligen Bibertbahn-Trasse bis Oberasbach Nord den vom Gesetzgeber geforderten Wert von mindestens 1,0. In Nutzen-Kosten-Untersuchungen Mitte der 1990er Jahre kamen die oberirdischen Verlängerungen der U3 auf der Bibertbahn-Trasse auf Nutzen-Kosten-Verhältnisse zwischen +1,70 und +2,58. Die U-Bahn in Kunst und Kultur Das Fürther Komödianten-Duo Volker Heißmann und Martin Rassau dreht einmal monatlich die etwa vierminütige Glosse Wos sunst nu so woar für die Frankenschau am ersten Sonntag des Monats im Bayerischen Fernsehen. Mit einer Handkamera pendelt das Filmteam in Zügen der U1 zwischen den Bahnhöfen Eberhardshof und Rathaus. Die U-Bahn löste dabei den historischen Friseursalon im Museum Industriekultur als Schauplatz der Handlung ab. Anlässlich des Internationalen Frauentages 2002 gestaltete die Nürnberger Künstlerin Rita Kriege einen Frauenkunstwagen, der bis September 2002 im Linienbetrieb eingesetzt wurde. Dieses in Kooperation von VAG und dem Arbeitskreis Frauen der Nürnberger Kulturläden entstandene Kunstprojekt sollte den U-Bahn-Wagen in einen „Wohlfühlraum“ umgestalten. Die Sitze eines Wagens wurden dazu weiß lackiert und das weiße Licht gegen farbige Lichter ersetzt. Der Übergang von dunkelblau über rot nach gelb sollte den Übergang von Nacht zu Tag symbolisieren. Am Wagenende wurde eine Zeichnung eines Labyrinthes in Form einer Trojaburg angebracht und mit Schwarzlicht bestrahlt. Zusätzlich wurde mit Spiegeln gearbeitet. Die Nürnberger Produktionsfirma AVA Studios und ihr Regisseur Alexander Diezinger produzierten mehrere Musikvideos in der Nürnberger U-Bahn. Die Dreharbeiten für die Musikvideos zu Declan Galbraiths Interpretationen von Nights in White Satin fanden im U-Bahnhof Ziegelstein statt. Das Musikvideo zum Lied Forever der belgischen Tranceformation Dee Dee wurde unter anderem in einem Zug der Baureihe DT2 sowie auf den U-Bahnhöfen Ziegelstein und Flughafen gedreht. In einigen Szenen wird eine Führerstandsmitfahrt auf einem Zug der Linie 2 gezeigt. Auch das Nürnberger Duo Ferge X Fisherman nahm schon in den U-Bahnhöfen Muggenhof und Bärenschanze Sequenzen für Musikvideos auf. Tarif Grundsätzlich gilt auf dem gesamten Nürnberger U-Bahn-Netz der VGN-Tarif, der 1987 den früheren VAG-Haustarif ablöste. Fahrausweise mussten von Beginn an im Vorverkauf erworben werden, alle Stationen sind hierzu mit Fahrkartenautomaten und Entwertern ausgestattet. Da die U-Bahn seit 1996, bezogen auf den Schienenpersonenverkehr, zusätzlich die Verbindung der Gräfenbergbahn mit dem übrigen deutschen Eisenbahnnetz gewährleistet, gelten auf der U2 auch Fahrkarten der Deutschen Bahn AG beziehungsweise des Deutschlandtarifs. Dies gilt jedoch nur für Fahrten von einer Zugangsstelle außerhalb des VGN-Gebiets zu einer Station der Gräfenbergbahn beziehungsweise umgekehrt. Der Zugang zum Bahnsteigbereich ist nur mit gültigem Fahrschein gestattet. Siehe auch Liste der Städte mit U-Bahnen Literatur Stadt Nürnberg, Baureferat (Hrsg.): U-Bahn Nürnberg 1-15. Presse- und Informationsamt der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1969 bis 1999 (Heftreihe). Stadt Nürnberg/Baureferat (Hrsg.): U-Bahn Nürnberg Nr. 17. Presse- und Informationsamt der Stadt Nürnberg, Nürnberg, 2011 (PDF, 6,3 MB). Stadt Nürnberg/Baureferat (Hrsg.): U-Bahn Nürnberg Nr. 18. Presse- und Informationsamt der Stadt Nürnberg, Nürnberg 2017 (PDF, 12,1 MB). Stadt Nürnberg, Baureferat und Stadt Fürth (Hrsg.): U-Bahn Nürnberg–Fürth 8. Presse- und Informationsamt der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1982 (PDF, 11,0 MB). Stadt Fürth (Hrsg.): U-Bahn Fürth (Hauptbahnhof, Stadthalle). Bürgermeister- und Presseamt der Stadt Fürth, Fürth 1985 und 1994. Stadt Fürth (Hrsg.): U-Bahn Fürth Klinikum (PDF-Dokument; 0,8 MB). Bürgermeister- und Presseamt der Stadt Fürth, Fürth 2004. Stadt Fürth (Hrsg.): U-Bahn Fürth Hardhöhe (Teil 1 (PDF; 5,6 MB), Teil 2; PDF; 10,6 MB). Bürgermeister- und Presseamt der Stadt Fürth, Fürth 2007. Weblinks Informationen zum U-Bahn-Bau auf der Website des U-Bahn_Bauamts der Stadt Nürnberg Informationen zur Nürnberger U-Bahn auf Nahverkehr Franken Einzelnachweise Nurnberg Fahrerloser Transport Öffentlicher Personennahverkehr (Nürnberg) Wikipedia:Artikel mit Video
201809
https://de.wikipedia.org/wiki/Fregattv%C3%B6gel
Fregattvögel
Die Fregattvögel (Fregatidae, Fregata) sind eine in den Tropen und Subtropen verbreitete Familie und Gattung von Hochseevögeln aus der Ordnung Suliformes. Bekannt sind sie für den aufblasbaren roten Kehlsack der Männchen sowie ihre Fähigkeit, andere Vögel zu attackieren und ihnen die Beute abzujagen (Kleptoparasitismus). Von diesem Verhalten haben sie auch ihren Namen, mit dem an die Überfälle von Fregatten angeknüpft werden soll. Die Gattung umfasst fünf Arten. Merkmale Anders als viele anderen Vertreter der Suliformes, die eher an eine schwimmende und tauchende Lebensweise angepasst sind, sind Fregattvögel sehr gute Flieger. Sie haben lange, schmale Flügel, das Flugbild ähnelt einem gestreckten „W“. Die Flügelspannweite liegt zwischen 175 und 244 cm, die Körperlänge beträgt zwischen 71 und 114 cm. Die Knochen sind sehr leicht gebaut und in extremem Maße pneumatisiert (d. h. durch Knochenbälkchen stabilisiert und luftgefüllt), so dass sie nur 5 % des Körpergewichts ausmachen – ein Rekord im Vogelreich. Mit einem Gewicht von 600 bis 1600 g sind sie im Verhältnis zur Körpergröße zudem leichter als jeder andere Vogel. Zum Gewicht trägt mit 15 bis 20 % die kräftige Brustmuskulatur erheblich bei. Die Knochen des Schultergürtels sind miteinander verwachsen, was ebenfalls ein unter Vögeln einmaliges Merkmal ist. Der Oberarmknochen ist relativ kurz, Elle und Speiche dagegen stark verlängert. Durch all diese Merkmale sind Fregattvögel zu wendigen Flugmanövern imstande, die sie bei ihren Attacken auf andere Vögel nutzen. Schon bei geringen Windstärken müssen die Vögel nur noch gleiten und keine aktiven Flügelschläge mehr durchführen; sie können jedoch auch bei Windstille und in Stürmen manövrieren. Fregattvögel haben einen schlanken Körper und einen kurzen Hals. Der Kopf ist kurz und gerundet. Der Schwanz ist tief gegabelt, was aber meistens nicht sichtbar ist, da die zwölf Schwanzfedern oft zusammengelegt werden, so dass die Gabel geschlossen ist. Bei den Flugmanövern dient der Schwanz als Ruder, so dass er sich bei jeder Richtungsänderung öffnet und schließt. Die Beine sind stark verkürzt und machen es dem Vogel nahezu unmöglich, zu gehen oder zu schwimmen. Im Fluge sind sie meistens im Gefieder verborgen. Ihr Hauptzweck ist es, Halt beim Sitzen auf einem Ast zu bieten, wofür sie mit starken Krallen versehen sind. Wie bei allen Arten in der Ordnung Suliformes sind alle vier Zehen mit Schwimmhäuten verbunden, doch sind diese stark rückgebildet. Fregattvögel haben eine Bürzeldrüse, die aber rückentwickelt ist; das Sekret zum Einölen des Gefieders wird in so geringen Mengen produziert, dass es kaum geeignet ist, das Gefieder wasserdicht zu halten. Stark reduziert sind auch die Knochen des Beckens, da sie weder zum Laufen noch zum Schwimmen benötigt werden. Wadenbein und Schienbein sind vollständig miteinander verwachsen. Der Schnabel ist schlank und kräftig. Er erreicht eine Länge von bis zu 15 cm und endet in einem spitzen Haken, der sowohl beim Festhalten schlüpfriger Beute hilfreich ist als auch beim Attackieren anderer Vögel, wobei er als Waffe genutzt wird. Fregattvögel zeigen einen sehr auffälligen Geschlechtsdimorphismus. Zunächst sind Weibchen im Schnitt 25 % größer und schwerer als Männchen. Der viel deutlichere Unterschied besteht aber in der Färbung. Nur die Männchen haben einen stark vergrößerten Kehlsack, der zur Brutzeit leuchtend rot gefärbt ist und durch ballonartiges Aufblasen nochmals erheblich anwachsen kann. Das Gefieder ist bei adulten Männchen fast ausschließlich schwarz gefärbt, nur der männliche Weißbauch-Fregattvogel hat einen weißen Unterbauch. Weibchen haben eine weiße Brust, beim Weißbauch-Fregattvogel umfasst die weiße Färbung somit die gesamte Unterseite. Auch die Füße der Geschlechter sind unterschiedlich gefärbt: braun oder schwarz bei Männchen, weiß oder rot bei Weibchen. Abweichend vom oben beschriebenen Schema gibt es beim Adlerfregattvogel eine helle und eine dunkle Morphe der Weibchen; die dunkle Morphe zeigt ein braunes Brustband, aber kein Weiß. Bei eben flüggen Fregattvögeln sind der Kopf und große Teile der Unterseite weiß. Nach vier bis sechs Jahren sind die Vögel ausgefärbt. Das ständig wechselnde Aussehen junger und immaturer Fregattvögel trägt erheblich zu den Schwierigkeiten bei, Fregattvogelarten sicher zu bestimmen. Verbreitung und Lebensraum Fregattvögel sind in Küstennähe und auf dem offenen Meer zu finden, so gut wie niemals aber im Landesinneren. Bevorzugte Brutgebiete sind kleine ozeanische Inseln, nur wenige Kolonien existieren auch an Küsten des Festlands. Ein ideales Bruthabitat sind Mangrovenwälder, die Bäume zum Brüten in unmittelbarer Küstennähe bieten. Auch andere Bäume und Gebüsche werden genutzt, nur bei vollkommenem Fehlen von Vegetation wird auch auf dem Boden gebrütet. Zwei Arten sind Inselendemiten: Der Adlerfregattvogel brütet ausschließlich auf Ascension, der Weißbauch-Fregattvogel auf der Weihnachtsinsel. Die anderen Arten haben weit größere Verbreitungsgebiete. So brüten Binden- und Arialfregattvogel auf etlichen tropischen Inseln des Pazifischen und Indischen Ozeans, außerdem sind beide Arten auf den Atlantikinseln Trindade und Martim Vaz zu finden. Der Prachtfregattvogel brütet an beiden Küsten in den tropischen Breiten des amerikanischen Doppelkontinents; eine weitere Population auf den Kapverdischen Inseln ist nahezu ausgestorben. Außerhalb der Brutzeit findet man Fregattvögel über allen tropischen Ozeanen. Extrem selten verfliegen sich Fregattvögel in gemäßigte Zonen; allerdings wurden bereits an den Küsten Schottlands, Irlands und Dänemarks diese seltenen Irrgäste gesichtet. Lebensweise Aktivität Als perfekte Flieger verbringen Fregattvögel die meiste Zeit ihres Lebens in der Luft. Sie können wochenlang in der Luft bleiben, ohne einmal zu landen, schlafen auch währenddessen und können pro Tag Entfernungen bis über 400 km zurücklegen. Dabei nutzen sie die Zirkulationswinde innerhalb von Cumuluswolken, um aufzusteigen, und kommen so bis in Höhen von 1600 bis 4000 Metern. Mit Seitenwinden, die von den Cumuli ausgehen, gleiten sie dann allmählich wieder herab und legen so Strecken bis zu 60 km zurück. Im Flug schlafen sie nicht länger als 6 Minuten am Stück, ruhend an Land jedoch mehr als 12 Stunden pro Tag. Schlafen sie im kreisenden Flug, verwenden sie nur das in Richtung der Kurvenbiegung liegende Auge. In Ruhephasen sitzen sie oft mit ausgebreiteten Flügeln auf Bäumen oder Schiffsmasten, die Unterseite der Flügel nach oben gerichtet. Diese Pose, oft irreführend als „Sonnenbaden“ bezeichnet, wurde unterschiedlich gedeutet. Die beiden meistverbreiteten Theorien sind zum einen, dass durch diese Haltung Wärme durch Konvektion an die Umgebung abgegeben wird, die Pose also dem Temperaturhaushalt dient, und zum anderen, dass sich verbogene Schwungfedern wieder in eine ideale Position begeben. Fregattvögel sind gesellig. Sie brüten in Kolonien, und außerhalb der Brutzeit sieht man sie in Gruppen fliegen oder ruhen. Oft findet man sie mit Tölpeln oder Kormoranen vergesellschaftet. Ernährung Bekannt wurden Fregattvögel für ihre Überfälle auf andere Vögel, um ihnen die Beute abzujagen. Dies ist jedoch nicht ihre einzige Ernährungsweise. Tatsächlich wird der Großteil der Nahrung selbst erjagt. Dabei ist stets typisch, dass – etwas ungewöhnlich für einen Seevogel – Berührung mit dem Wasser nach Möglichkeit vermieden wird. Drei wichtige Ernährungsweisen sind zu unterscheiden: die Jagd auf Meerestiere, das Plündern von Vogelnestern und der Kleptoparasitismus. Jagd auf Meerestiere Bei allen Fregattvögeln machen Fliegende Fische die Hauptbeute aus, da sie in der Luft erbeutet werden können. Gleiches gilt für die Kalmare der Familie Ommastrephidae, die auch als „Fliegende Kalmare“ bezeichnet werden. Ansonsten suchen Fregattvögel nach Fischen oder Kopffüßern, die so oberflächennah schwimmen, dass es nicht nötig ist, mehr als den Schnabel oder den Kopf einzutauchen. Selten kommt es dennoch vor, dass ein Fregattvogel bei der Verfolgung seiner Beute doch zur Gänze ins Wasser eintaucht – anders als manchmal behauptet, kann er danach problemlos abheben und seinen Flug fortsetzen. Bei der Jagd folgen Fregattvögel oft Thunfischschwärmen oder Delfinschulen. Viele Fische versuchen, vor diesen Räubern zu fliehen, indem sie weite Sprünge über der Wasseroberfläche vollführen. So stellen sie eine leichte Beute für die über dem Meeresspiegel wartenden Fregattvögel dar. Neben Fischen und Kopffüßern stellen auch Quallen, Krebstiere und junge Meeresschildkröten Beutetiere der Fregattvögel dar. Die letzteren beiden werden auch auf dem Strand erbeutet. All diese Beute wird sofort an Ort und Stelle verspeist, und die Jagd wird unmittelbar fortgesetzt. Plündern von Vogelnestern Auch Eier und Jungvögel anderer Seevögel werden meistens aus der Luft erbeutet. Nur selten landet ein Fregattvogel, um sie zu fressen. Zu den bevorzugten Opfern dieser Jagd gehören Tölpel, Seeschwalben, Sturmschwalben und Sturmvögel. Sehr selten werden sogar Nester anderer Fregattvögel überfallen. Auf der Weihnachtsinsel wurde detailliert untersucht, welche Auswirkungen das bruträuberische Verhalten der Fregattvögel auf die dort lebenden Kolonien der Rußseeschwalbe hat. Diese verlieren in jedem Jahr Millionen von Eiern und Jungen durch die Attacken von Fregattvögeln. In den Jahren 1967 und 1983 gingen die Angriffe sogar so weit, dass keine einzige Brut der Seeschwalben erfolgreich war. Kleptoparasitismus Neben Raubmöwen sind Fregattvögel die bekanntesten Beispiele im Vogelreich für Kleptoparasitismus (auch als "Piraterie" bezeichnet). Ihre Angriffe auf andere Vögel brachten ihnen ihren Namen ein, da sie mit den Überfällen der Fregatten von Piraten verglichen wurden. Im Englischen tragen sie neben dem Namen frigatebird auch die Bezeichnung man-o’-war Bird. (Ein Man o’ war war ein Kriegsschiff unter Segeln, zum Beispiel eine Galeone oder ein Linienschiff.) Am häufigsten werden Tölpel von Fregattvögeln attackiert. Daneben hat man Angriffe auf Seeschwalben, Sturmschwalben, Sturmvögel, Tropikvögel, Kormorane, Pelikane, Möwen und sogar Fischadler beobachtet. Um andere Vögel zu überfallen, brauchen sich Fregattvögel nicht weit von der Kolonie zu entfernen. Zwar folgen sie manchmal Seevögeln auf das Meer und attackieren sie im Moment des Auftauchens, oft aber werden sie beim Rückflug abgefangen oder sogar am Nest während der Fütterung der Jungen. Mit ihren wendigen Flugmanövern sind die Fregattvögel dem Opfer stets überlegen. Sie stoßen auf den Vogel hinab und schnappen nach seinem Schwanz und seinen Flügeln. Oft bringen diese Aktionen den Vogel aus dem Gleichgewicht, und er lässt seine Beute fallen. Die Fregattvögel stürzen sich hiernach sofort auf die Beute und brechen den Angriff ab. Lässt ein attackierter Vogel nicht von seiner Beute ab, wird er mit Schnabelhieben attackiert, was manchmal zu schweren Verletzungen führen kann. Mehrere Untersuchungen über das kleptoparasitische Verhalten wurden durchgeführt. Hieraus ergibt sich, dass etwa 5 % der Nahrung durch Überfälle auf andere Vögel erbeutet wird, Fregattvögel also 95 % ihrer Nahrung durch eigenständige Jagd gewinnen. Trotzdem ist der Kleptoparasitismus die bekannteste Ernährungsweise der Fregattvögel, da er ausgesprochen spektakulär ist. Zudem ist Kleptoparasitismus in manchen Regionen bedeutender als in anderen. In den meisten Fällen sind es vor allem die größeren und schwereren Weibchen, die solche Angriffe durchführen, während Männchen selten bis gar nicht Kleptoparasitismus betreiben. So wurden auf Isla Isabel vor der Küste von Nayarit Überfälle von Fregattvögeln auf Blaufußtölpel beobachtet und dabei festgestellt, dass 1553 Angriffe von Weibchen und nur acht von Männchen durchgeführt wurden. Zahlreiche andere Studien kamen zu vergleichbaren Ergebnissen, jedoch nicht alle. So sind es auf den Galapagosinseln gerade die Männchen, die besonders oft anderen Vögeln die Beute abjagen. Fortpflanzung Fregattvögel sind Koloniebrüter. Die Brutkolonien können aus einigen tausend Tieren bestehen. Innerhalb der Kolonien finden sich jeweils sieben bis dreißig Paare zu besonders eng beieinander brütenden Gruppen zusammen. Oft sind die Kolonien mit anderen Seevögeln vergesellschaftet. Diese Nachbarschaft bringt nur den Fregattvögeln Nutzen: Sie suchen die Nähe der Arten, die sie auf dem Meer und auf der Rückkehr zum Nest überfallen. Als tropische Vögel sind Fregattvögel in der Regel an keine bestimmte Brutzeit gebunden. So gibt es auf Galapagos zu jeder Zeit des Jahres brütende Fregattvögel. Regional kann es aber feste Zeiten geben. So beginnen die Fregattvögel auf Little Cayman mit der Brut einen Monat nach den Rotfußtölpeln, die so als potenzielle Opfer verfügbar sind. Die Balz ist spektakulär. Männliche Fregattvögel finden sich an den Küsten in kleinen Gruppen zusammen und werben gemeinsam. Dabei legen sie den Kopf in den Nacken und blähen ihren scharlachroten Kehlsack auf. Zugleich breiten sie die Flügel aus und präsentieren deren silbrigweiße Unterseiten. Ist ein Weibchen in der Nähe, beginnt das Männchen mit zitternden Kopfbewegungen und stößt trommelnde und schnarrende Geräusche aus. Dies und die weithin sichtbare rote Farbe lockt das Weibchen an, das sich für einen Partner entscheidet. Das Nest wird bevorzugt in hohen Bäumen errichtet, bei deren Fehlen auch in Sträuchern, und an vegetationslosen Küsten selbst auf dem Boden. Entsprechend ist die Suche nach Nistmaterial unterschiedlich aufwändig. Auf eher kahlen Inseln müssen die Vögel dafür weite Strecken fliegen und mitunter ihre Insel verlassen. Oft versuchen die Fregattvögel einer Kolonie, sich gegenseitig Nistmaterial zu stehlen. Für gewöhnlich geht das Männchen auf die Suche nach Nistmaterial, während das Weibchen die Brutstätte gegen Nesträuber verteidigt. Zweige, Gräser und Algen dienen als Nistmaterial. Ist nichts verfügbar, wird auf den Bau eines Nestes verzichtet und stattdessen eine Kuhle in den Boden gekratzt; dies ist auf Ascension die Regel. Während des Nestbaus findet die Begattung statt. Die Umgebung des Nistplatzes wird nun zum Revier, das gegen Eindringlinge verteidigt wird. Dabei stoßen die ansonsten eher schweigsamen Fregattvögel schreiende Laute aus, die kilometerweit zu hören sind. Zu Kämpfen kommt es allerdings so gut wie nie. Nur ein Ei wird gelegt. Zwar wurden auf Hawaii zweimal Gelege aus jeweils zwei Eiern beobachtet, doch dies sind extrem seltene Ausnahmen. Beide Partner brüten und lösen alle ein bis vier Tage einander ab. Währenddessen begibt sich der andere Partner auf Nahrungssuche. Das Junge schlüpft nach 40 bis 55 Tagen. Es ist zunächst nackt, entwickelt aber bereits in den ersten Tagen ein Daunenkleid. Nach wenigen Tagen lernt es, seinen Schnabel in den Schnabel oder den Kehlsack des Elternvogels zu stecken, was diesen dazu veranlasst, Futter hervorzuwürgen. Während des ersten Monats wird das Junge stets von einem Elternteil bewacht, danach immer öfter allein gelassen. Das Wachstum geht extrem langsam vonstatten. So dauert es viereinhalb bis sieben Monate, bis das Junge flugfähig ist. Auch hiernach sorgen die Elternvögel für das Junge, und zwar für neun bis zwölf, ausnahmsweise sogar achtzehn weitere Monate. Eine ähnlich lang währende Brutfürsorge gibt es bei Vögeln ansonsten nur noch beim Graufußtölpel. Es kommt vor, dass es den Eltern nicht gelingt, in einer derart langen Zeit genug Nahrung für sich selbst und ein fast ausgewachsenes Junges zu beschaffen, so dass es selbst nach mehreren Monaten noch eine hohe Sterblichkeit der Jungen gibt. Beim Prachtfregattvogel wird dies noch dadurch erschwert, dass sich das Männchen in den letzten Monaten nicht mehr an der Fürsorge für das Junge beteiligt. Es wird geschätzt, dass nur 25 % der Bruten erfolgreich sind. Die aufwändige Brut kann für gewöhnlich nur alle zwei Jahre stattfinden. Oft sind die Abstände noch größer. Auf Barbuda wurde allerdings festgestellt, dass dort die Männchen jährlich und die Weibchen zweijährlich brüten. Auch bei anderen Arten scheint dies so zu sein, jedoch nicht überall. Fregattvögel suchen für jede Brut neue Partner. Die geschätzte durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 25 Jahre. Ein beringter Bindenfregattvogel wurde wenigstens 34 Jahre alt. Feinde, Todesursachen und Parasiten Abgesehen vom Menschen haben Fregattvögel nur wenige natürliche Feinde. Es ist anzunehmen, dass sie gelegentlich räuberischen Meeresfischen wie Haien zum Opfer fallen, was aber nur sehr selten beobachtet wurde. Besonders gefährdet sind Jungvögel, die oft durch Verhungern sterben, manchmal auch durch ältere Artgenossen oder durch die wenigen Fressfeinde. Zu letzteren gehört zum Beispiel die Sumpfohreule auf Galapagos, die allein gelassene junge Fregattvögel erbeutet. Als Ektoparasiten werden oft Lausfliegen und Federmilben festgestellt. Auf Hawaii wurde festgestellt, dass dort die Hälfte der Jungvögel, ein Drittel der adulten Männchen und ein Fünftel der Weibchen von Haemoproteus iwa, einem einzelligen Endoparasiten aus der Familie der Plasmodien befallen sind. Allerdings konnte nicht festgestellt werden, dass dieser Parasit seinem Wirt in irgendeiner Weise schadet. Stammesgeschichte Fregattvögel sind eine sehr alte Vogelgruppe. Dies wurde 1977 deutlich, als in Wyoming das nahezu vollständige Skelett eines Fregattvogels aus dem Eozän gefunden wurde. Die Art wurde Limnofregata azygosternon genannt. Eine weitere, größere und langschnäbligere Art derselben Epoche wurde erst kürzlich nachgewiesen und als Limnofregata hasegawai benannt. Außer diesen sehr alten Fossilien sind nur sehr junge Überreste der rezenten Arten aus dem Pleistozän bekannt, so dass eine sehr große Lücke ohne Fossilbelege klafft. Die Limnofregata-Fregattvögel des Eozäns waren von heutigen Fregattvögeln offenbar recht verschieden. Sie hatten längere Zehen, die einen Ruderfuß bildeten, der mutmaßlich für eine schwimmende und tauchende Lebensweise geeigneter war als für die dauerfliegende heutiger Fregattvögel. Auch dass der heute so bezeichnende Sexualdimorphismus schon bestanden hat, wird als unwahrscheinlich angesehen. Systematik Äußere Systematik Traditionell wurden Fregattvögel in die alte Ordnung der Ruderfüßer gestellt, weil sie mit diesen das Merkmal von vier mit Schwimmhäuten verbundenen Zehen teilen. Zu den Ruderfüßern gehörten auch die Tölpel, Kormorane und Schlangenhalsvögel, die auch nach neuestem Stand ein monophyletisches Taxon bilden. Immer wieder wurde allerdings die Zugehörigkeit der Fregattvögel angezweifelt. Schon 1888 meinte Shufeldt, Fregattvögel seien wahrscheinlich Verwandte der Röhrennasen. Auch die DNA-Hybridisierungen von Hedges und Sibley ergaben, dass Fregattvögel den Taxa der Röhrennasen, Seetaucher und Pinguine allesamt näher stehen als den Ruderfüßern. Auch die Federlinge (auf Vögeln parasitierende Kieferläuse) der Fregattvögel sind mit denen der Röhrennasen verwandt, was ein weiterer Hinweis sein kann. Die Ergebnisse sind allerdings nicht einheitlich. So nahm Mikhailov 1995 eine elektronenmikroskopische Untersuchung der Eierschalenstruktur vor. Seine Feststellung war, dass diese bei Fregattvögeln und den übrigen Ruderfüßern nahezu identisch sei. Neuere Untersuchungen bestätigen eine Verwandtschaft der Fregattvögel mit den Tölpeln, den Schlangenhalsvögeln und den Kormoranen. Die wahrscheinlichen verwandtschaftlichen Verhältnisse gibt folgendes Kladogramm wieder: Innere Systematik Fregattvögel wurden zunächst mit Pelikanen in der Gattung Pelecanus geführt. Gmelin nannte den Fregattvogel (eine Aufteilung der Fregattvögel in einzelne Arten war noch nicht üblich) Pelecanus minor, den kleinen Pelikan. Aus diesem Grunde trägt der Bindenfregattvogel noch heute das Artepithet minor. Die Gattung Fregata wurde 1799 von Lacépède aufgestellt. Als erste Art wurde der Arielfregattvogel als eigene Art erkannt und 1845 von Gray sogar in eine eigene Gattung Atagen gestellt. Die vier größeren Arten sind in der Gefiederfärbung so ähnlich, dass sie lange nicht als verschieden erkannt wurden. Die Benennung der heute üblichen Arten erfolgte 1914 durch Gregory Mathews, obwohl er Pracht- und Bindenfregattvogel noch als Unterarten einer Art ansah. Heute werden allgemein fünf Arten anerkannt: Adlerfregattvogel, F. aquila Weißbauch-Fregattvogel, F. andrewsi Prachtfregattvogel, F. magnificens Bindenfregattvogel, F. minor Arielfregattvogel, F. ariel Viele Arten sind einander sehr ähnlich. So gilt es beispielsweise als unmöglich, Männchen des Adler- und Prachtfregattvogels voneinander zu unterscheiden. Es wird davon ausgegangen, dass die Speziation der Gattung Fregata erst vor 1,5 Millionen Jahren begann; dies erklärt die geringen Abweichungen. Alle Arten wurden dennoch als monophyletisch bestätigt; ihre Verwandtschaft untereinander verhält sich wie im folgenden Kladogramm dargestellt: Menschen und Fregattvögel Wechselbeziehungen Fregattvögel scheuen die Nähe von Menschen nicht. Regelmäßig folgen sie Fischerbooten und schnappen sich die als wertlos wieder über Bord geworfenen Fische. In manchen Gegenden stehlen sie Fische aus Netzen und Booten. So haben die Prachtfregattvögel nahe der ecuadorianischen Hafenstadt Playas gelernt, Fischer in dem Moment zu attackieren, wenn sie ihren Fang von den Booten in den Hafen bringen. Obwohl sich die Fischer mit Knüppeln bewaffnen, haben die Vögel dabei immer wieder Erfolg. Die älteste erhaltene Beschreibung eines Fregattvogels stammt von Christoph Kolumbus. Am 29. September 1492 notierte er in sein Logbuch: Vieron un ave que se llama rabiforcado, que haze vomitar a los alcatraces lo que comen para comerlo ella y no se mantiene de otra cosa. Es ave de la mar, pero no posa en la mar ni se aparta de tierra 20 leguas. Hay d'estas muchas en las islas de Cabo Verde. („Sie sahen einen Fregattvogel, der die Tölpel zum Auswürgen ihrer Beute zwingt, um diese dann selbst zu fressen, und er frisst niemals etwas anderes. Es ist ein Seevogel, niemals aber landet er auf dem Wasser oder entfernt sich weiter als 20 Leguas von der Küste. Auf den Kapverdischen Inseln gibt es seiner viele.“) Kolumbus sah den Vogel als Anzeichen, dass das Festland nicht weit entfernt sein könnte, und belegte es mit der falschen Annahme, dass sich Fregattvögel niemals weit von der Küste entfernten. Während er hier aber falschlag, wusste er offensichtlich über das kleptoparasitische Verhalten bereits Bescheid. Zudem geht aus seinem Bericht hervor, dass der Prachtfregattvogel auf den Kapverden einst häufig gewesen sein soll. Gelegentlich werden Fregattvögel gegessen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es auf Aldabra üblich, jährlich einige tausend Fregattvögel zu töten und zu essen. Auch die indigene Bevölkerung der Antillen hat früher Fregattvögel zur Bereicherung des Speiseplans gegessen. In Polynesien ist es mancherorts üblich, junge Fregattvögel aufzuziehen, die dann zahm werden und in menschlicher Obhut bleiben. Wie Brieftauben können sie zur Nachrichtenübermittlung eingesetzt werden. Der US-amerikanische Dichter Walt Whitman schrieb ein bewunderndes Gedicht über Fregattvögel, das er To the Man-of-War Bird nannte. Bedrohung und Schutz Als vom Aussterben bedroht listet die IUCN momentan den Weißbauch-Fregattvogel, der auf der Weihnachtsinsel endemisch ist. Jahrzehntelang nahm der Bestand durch den Phosphatabbau ab, für den ein Drittel der Bäume der Insel gefällt wurde; zudem aßen die Arbeiter Eier und Junge der Fregattvögel. Nachdem die australische Regierung Schutzmaßnahmen erließ, erholten sich die Bestände wieder, erleben aber seit den 1990ern einen neuen dramatischen Rückgang, der vor allem durch die Gelbe Spinnerameise verursacht ist. Die Kolonien dieser Ameise sind in der Lage, junge Fregattvögel zu töten. Als gefährdet wird der Adlerfregattvogel geführt. Nachdem er 2000 von vom Aussterben bedroht in den Status gefährdet zurückgestuft wurde, wird momentan eine erneute Einstufung als vom Aussterben bedroht diskutiert, da die Bestandszahlen in den letzten Jahren wieder dramatisch abnahmen. Diese Art wurde auf Ascension durch von Siedlern eingeschleppte Hauskatzen, die die Jungen fraßen, so weit dezimiert, dass Bruten schließlich nur noch auf dem vorgelagerten Felseneiland Boatswain Bird Island stattfanden. Der neuerliche Rückgang könnte mit der Überfischung zusammenhängen, die den Vögeln die Nahrungsgrundlage entzieht. In diesen beiden Beispielen sind bereits alle wichtigen Gründe genannt, durch die rund um den Globus Fregattvögel seltener werden: Habitatzerstörung, Jagd, Einschleppung von Landsäugetieren auf zuvor säugetierfreien Inseln und Überfischung. Dennoch sind Pracht-, Binden- und Arielfregattvogel global nicht bedroht. Wegen ihrer großen Verbreitungsgebiete zählen sie jeweils mehrere hunderttausend Individuen. Allerdings sind all diese Arten regional bedroht: der Prachtfregattvogel ist auf den Kapverden beinahe ausgestorben (planmäßige Bejagung durch Fischer), der Bindenfregattvogel auf Martim Vaz (Schießübungen der brasilianischen Marine) und der Arielfregattvogel auf Trindade (Katzen), um nur einige Beispiele zu nennen. Wissenswertes Die Vereinigten Staaten benannten den Kernwaffentest Frigate Bird nach den Fregattvögeln. Quellen und weiterführende Informationen Zitierte Quellen Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den unter Literatur angegebenen Quellen, darüber hinaus werden folgende Quellen zitiert: Literatur Josep del Hoyo et al.: Handbook of the Birds of the World. Band 1: Ostrich to Ducks. Lynx Edicions, 1992, ISBN 84-87334-10-5. Bryan Nelson: Pelicans, Cormorants and their relatives. Oxford University Press, 2005, ISBN 0-19-857727-3. Weblinks Ruderfüßer
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bauernkriegspanorama
Bauernkriegspanorama
Das Bauernkriegspanorama ist ein monumentales Panoramabild über den Bauernkrieg mit dem Titel Frühbürgerliche Revolution in Deutschland des Leipziger Malers und Kunstprofessors Werner Tübke. Es befindet sich im Panorama Museum, einem eigens dafür errichteten Gebäudekomplex, auf dem Schlachtberg bei der thüringischen Kleinstadt Bad Frankenhausen am Fuße des Kyffhäusergebirges. Das Werk entstand in den Jahren 1976 bis 1987, ursprünglich zum Gedenken an den Deutschen Bauernkrieg und den Bauernführer Thomas Müntzer. Mit einer Fläche von 1722 m² zählt es zu den größten Panoramen der Welt. Daten und Fakten Der zylindrische Rundbau aus Betonfertigteilen, der das Gemälde umfasst, ist ca. 18 m hoch und hat einen Außendurchmesser von knapp 44 m. Als Architekt wurde Herbert Müller beauftragt, die Grundsteinlegung erfolgte am 8. Mai 1974. Die Stützmauer setzt sich aus 54 vorgefertigten, halbröhrenförmigen Spannbeton-Schalen zusammen und das Dach besteht aus freitragenden, vorgespannten Dreiecks-Betonschalen. Bereits 1975 waren Rundbau und Eingangsgebäude fertiggestellt. Die Leinwand (und damit das Bild selbst) ist 123 m lang und 14 m hoch. Sie wog unbemalt ungefähr 1,1 t und ist zwischen einem oberen und einem unteren Stahlring mit je knapp 40 m Durchmesser gespannt. Gewebt wurde sie in einem Stück im Textilkombinat Sursk in der Sowjetunion. Der damalige Kulturminister der DDR, Hans-Joachim Hoffmann, der sich sehr für das Projekt einsetzte, hatte die Leinwand persönlich in der Sowjetunion bestellt. Der ortsansässige Autosattler Günter Hohlstamm nähte die beiden Enden passgenau zusammen und präparierte die Längsseiten für die Ringe. Nach der Aufspannung versah ein sowjetisches Spezialistenteam die Leinwand mit einer Grundierung nach einer alten russischen Geheimrezeptur. Tübke verteilte auf die 1722 m² große Fläche mehr als 3000 einzelne Figuren, wovon die größten über 3 Meter messen. Der Maler selbst musste die Arbeiten zeitweilig unterbrechen und seinem Kollegen Eberhard Lenk die Ausführung überlassen, weil die Überanstrengung einen Muskelriss im Daumen hervorgerufen hatte. Das Bild ist durch einen umlaufenden Graben und Geländer vom Besuchersaal getrennt, um Berührungen und Beschädigungen zu verhindern. Es wird bei den Führungen von einer größeren Zahl von gedämpft leuchtenden Scheinwerfern angestrahlt, während der Saal selbst im Halbdunkel bleibt. Somit kann sich die plastische Wirkung des Rundbildes optimal entfalten. Bildmotiv Bildbeschreibung Entgegen den Intentionen der Auftraggeber (siehe Geschichte) schuf Tübke das Abbild einer ganzen Epoche, der Renaissance, das in der Literatur häufig mit „theatrum mundi“ (Welttheater) umschrieben wird. Er beschränkte sich dabei keineswegs auf eine zeitlich oder räumlich genau bestimmbare Momentaufnahme, geschweige denn die getreue Wiedergabe realer historischer Ereignisse, noch auf die schwerpunktmäßige Betonung einzelner Aspekte. Neben den durchaus auch auftretenden historischen Figuren wie Müntzer und Luther hat der Maler eine Vielzahl allegorischer Anspielungen auf Ereignisse (auch anderer Epochen), vor allem aber auf ureigene menschliche Ängste, auf Aberglauben, apokalyptische Vorstellungen und biblische Themen in seiner gewaltigen suggestiven Bildersprache visualisiert. Daneben nahm er zahlreiche Anleihen bei zeitgenössischen Gemälden und Holzschnitten. Außerdem hat er sich selbst, als angesichts der schier übermenschlichen Aufgabe von Selbstzweifeln geplagten Menschen, an einigen Stellen verewigt und damit den Entstehungsprozess seines Werkes dokumentiert. Das Zentrum der Darstellung – den Ausschnitt, der bei den meisten Abbildungen des Gemäldes wiedergegeben wird – bildet das Panorama der Schlacht von Frankenhausen selbst, mit Thomas Müntzer im Mittelpunkt. Während rings um Müntzer noch die Kämpfe toben, hält dieser die Flagge der Bundschuh-Bewegung bereits gesenkt – er weiß, dass seine Sache verloren ist. Schon nähert sich ihm der Tod mit dem Dudelsack. Müntzer ist hier also nicht der strahlende Held, sondern ein müder, gebrochener Mann. Durch eine Hecke vom Schlachtgeschehen abgetrennt, hat Tübke im selben Teil des Bildes bedeutende Persönlichkeiten der Zeit um einen Brunnen herum gruppiert, darunter Albrecht Dürer und Martin Luther. Tübke bezeichnete Albrecht Dürer und Lucas Cranach den Älteren als seine künstlerischen Vorbilder und verband in seinem Stil eigene Techniken mit unverkennbaren Anleihen an die Alten Meister und (speziell für dieses Monumentalwerk) an zeitgenössischer Darstellungsweise. In mehrjähriger Vorbereitung hat er sich mit intensivem Quellenstudium in die Vorstellungswelt und künstlerische Darstellung dieser Epoche zwischen ausgehendem Mittelalter und früher Neuzeit eingearbeitet. Obwohl es größere Rotunden gibt, gilt Tübkes Werk als einzigartig. Es ist nicht eine bildhaft-dokumentarische Momentaufnahme in der Art eines typischen „Schlachtengemäldes“, sondern kann als metaphorische Gesamtdarstellung in einem Panorama als Prototyp eines eigenen Genres gelten. Interpretationen Es gibt heute zwei verschiedene Interpretationsansätze zu dem Gemälde. Die eine geht davon aus, dass Tübke durch seine Darstellung eine Allegorie auf die zum Scheitern verurteilte DDR geschaffen habe. So wie Thomas Müntzer einsehen muss, dass seine Vision von einer besseren Zukunft für die einfache bäuerliche Landbevölkerung gescheitert ist, so sei auch die Vision der DDR-Führung von einem sozialistischen Staat gescheitert, in dem der Mensch das Maß aller Dinge sei. Eduard Beaucamp, Kunstkritiker der FAZ und einer der frühen Unterstützer von Tübke im Westen, urteilte: „Das thüringische Bauernkriegspanorama (1976 bis 1987) ist keine didaktische Großillustration, sondern eine historische Parabel menschlicher Irrungen und Wirrungen mit Durchblick auf gesellschaftliche Unruhen, Umbrüche und Glaubenskämpfe der Moderne, auf eine Welt nicht im Aufbruch, sondern im Taumel einer Spätzeit: Weltgeschichte vollzieht sich als Weltgericht.“ „All diesen Auftragsbildern liegt ein tiefer Dissens zum ideologischen DDR-Parteiprogramm zugrunde. Mit der „Erbe“-Debatte ließen sich die Projekte bemänteln und rechtfertigen. In fast allen seinen „Historienbildern“ hat Tübke seine skeptische, ja geschichtspessimistische Anschauung und nicht das Fortschritts-Wunschbild der DDR entfaltet – die Auffassung von einer Wiederkehr des Gleichen, das aber niemals das Gleiche ist.“ (FAZ, 29. Mai 2004) Die zweite Deutungshypothese geht von einer generellen Vergänglichkeit allen Seins aus – eine Sichtweise, die durch den Charakter des Gemäldes als Rundbild unterstrichen wird. Diese Betrachtungsweise beschränkt sich nicht nur auf den Misserfolg der Bauernaufstände unter Thomas Müntzer – die historische Parallele, auf die man sich in der DDR berief –, sondern generell auf alle gesellschaftlichen Prozesse zu dieser und anderen Zeiten. Nicht nur für Müntzer und seine Bauernheere ist alles verloren, sondern auch für Adel, Kirche und Bürgertum. Gerd Lindner, Direktor des Panorama Museums, deutet das Gemälde so: „Ich glaube, das Werk ist zeitlos, weil der Maler ein Geschichtsbild entwickelt hat, das sehr subjektiv ist. Auf den Punkt gebracht könnte man sagen, er zeigt die ewige Wiederkehr des Gleichen, die sozialen Grundprobleme bleiben die gleichen, das ist die Grundaussage des Bildes, dargestellt in einer totalen Form, d. h. in einer Kreisform ohne Anfang und Ende, so dass die Geschichte als Kontinuum erscheint, ohne lineare Höherentwicklung, was im eklatanten Widerspruch zum offiziellen Geschichtsbild der DDR stand.“ Christina Tilmann meinte nach dem Tod Werner Tübkes: „Es ist ein Karneval, ein Maskenfest, aber auch immer ein zutiefst pessimistischer Totentanz auf den Trümmern der Zivilisation, den Werner Tübke inszeniert. Voller Bewunderung für die Meisterschaft der Vorfahren, aber gleichzeitig durchdrungen von dem melancholischen Bewusstsein, dass diese Blüte der Zivilisation längst vorbei ist, abgelöst durch eine barbarischere Epoche.“ Geschichte Historischer Hintergrund Seit 1524 kam es in Südwestdeutschland vielerorts zu Aufständen von Bauern, später zusammengefasst unter dem Begriff Deutscher Bauernkrieg, die bald auch auf Thüringen übergriffen. In Nordthüringen war die wichtigste Identifikationsfigur der Bauern der rebellische Prediger Thomas Müntzer (1489–1525), der anfangs die gleichen Ziele wie Martin Luther verfolgte, sich aber später mit den um Rechte kämpfenden Bauern solidarisierte. Er nannte den Reformator in einer Schmähschrift „das geistlose sanftlebende Fleisch in Wittenberg“. Luther, der gewaltsame Umsturzversuche als gotteslästerlich empfand, antwortete 1525 mit dem Pamphlet Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren. Im Mai desselben Jahres wurde in der Schlacht bei Frankenhausen am Fuße des Kyffhäusers einer der letzten großen Bauernaufstände blutig niedergeschlagen. Müntzer wurde gefangen genommen, gefoltert und hingerichtet. Politischer Hintergrund Offizieller Auftraggeber des Gemäldes war das Kulturministerium der DDR, das damit einen Beschluss des SED-Politbüros vom 9. Oktober 1973 umsetzte. Anfang der 1970er Jahre fand mit dem Ende der Ulbricht-Ära auch ein Wandel der kulturpolitischen Doktrin der SED statt. Mehr Vielfalt und Akzeptanz auch nicht ausschließlich dem Realsozialismus verpflichteter Kunst sollte einerseits das internationale Ansehen heben, andererseits auch die Vereinnahmung historischer Gestalten und Ereignisse als „revolutionäre“ Vorgänger des „ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden“ erleichtern, deren Vermächtnis nun durch die DDR als natürlicher Erbe verwirklicht sei. Thomas Müntzer wurde zum bedeutendsten Frührevolutionär Deutschlands stilisiert, die Bauernaufstände des frühen 16. Jahrhunderts gemäß der geschichtsphilosophischen Auffassungen von Karl Marx zum Teil einer „frühbürgerlichen Revolution“ erhoben, die den Übergang vom Feudalismus zum Frühkapitalismus einleitete. Die Verehrung Thomas Müntzers drückte sich zum Beispiel darin aus, dass er ab 1975 auf der 5-Mark-Banknote der DDR zu sehen war. Idee Vor diesem Hintergrund plante die SED im Hinblick auf den 450. Jahrestag des Deutschen Bauernkrieges für 1975 ein groß angelegtes Gedenkjahr, um ihrem Alleinanspruch auf Müntzers Erbe gebührenden Ausdruck zu verleihen. Auf einem Plenum der SED 1972 wurde erstmals der offizielle Antrag eingebracht, auf dem Schlachtberg bei Bad Frankenhausen eine Panorama-Gedenkstätte zum Andenken an die dort geschlagene Bauernschlacht und ihren Anführer Müntzer zu errichten. Der SED-Führung schwebte ein monumentales, heroisierendes Schlachtengemälde in der Tradition der typischen Gigantomanie kommunistischer Heldenverehrung vor. Als Vorbild dienten die zahlreichen Panoramagemälde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere ein russisches Panoramagemälde, das 1912 zum 100. Jahrestag der Schlacht von Borodino entstanden war und 1962 in einem eigens errichteten Panoramamuseum in Moskau untergebracht wurde. Nach mehrjährigen Diskussionen, fachlichen Expertisen durch Historiker und Kunstsachverständige, Änderungsvorschlägen, erneuten Debatten usw. entschied der beauftragte Kulturminister, den Streit zu beenden. Entgegen den Vertretern des sozialistischen Realismus gab er nun doch ein von diesen abgelehntes Panoramabild in Auftrag – der zugehörige Bau war bereits in Arbeit. Projekt Für ein solches Vorhaben kamen nur die besten Künstler in Betracht. Konkret wurde der international angesehene Werner Tübke als geeignet erachtet. Tübke nahm den Auftrag nach einiger Bedenkzeit an, stellte aber unmissverständliche Bedingungen: Er bliebe der einzige Auftragnehmer und er würde kein dokumentarisch korrektes Bilddokument einer Schlacht schaffen, sondern ein künstlerisches Monumentalwerk mit umfassender Verallgemeinerung. Vor allem aber habe ihm niemand ins künstlerische Konzept und seine Ausführung hineinzureden. Ohne die Akzeptanz seiner künstlerischen Autonomie würde er nicht malen. Die Zeit drängte, es war 1975. Tübkes „Ultimatum“, das jedem weniger bedeutenden Künstler der DDR zum Verhängnis hätte werden können, wurde weitgehend akzeptiert. Dadurch entstand das Gemälde nicht im „offiziellen“ Stil des sozialistischen Realismus, sondern in dem von Tübke gepflegten magischen Realismus. Ausführung Der Arbeitsprozess am Projekt erstreckte sich über ein Jahrzehnt. Er war von mehreren Studienreisen Tübkes nach Italien begleitet und wurde vom DDR-Staat großzügig finanziert. Im Jahre 1976 ließ sich Tübke als Rektor der Leipziger Kunsthochschule beurlauben und begann, parallel zum intensiven Quellenstudium der Renaissancezeit, erste Skizzen und kleinere Bilder als Entwürfe anzufertigen. Bereits 1978 wurde die Leinwand angeliefert. 1979 folgte, wie konzipiert und im Vertrag auch fixiert, die Arbeit an der 1:10-Modellfassung, der eigentlichen Originalversion. Das auf fünf Holztafeln von je 2,46 m Länge und 1,39 m Höhe gemalte Werk wurde im Dezember 1988 von der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin erworben und befindet sich heute noch in Berlin. 1982 spannten und präparierten 54 Arbeiter die Leinwand auf. Danach zeichneten insgesamt fünfzehn Künstler die Konturen aus der Modellfassung auf 900 Quadrate aus Klarsichtfolie, die anschließend fotografiert wurden. Die Fotos wurden mit beweglichen Tageslichtprojektoren im Maßstab von 10:1 auf die Leinwand projiziert und die vergrößerten Konturenzeichnungen mit einer blassen Temperafarbe festgehalten. Diese Arbeit beanspruchte drei Monate. Die fünfzehn Künstler absolvierten im folgenden Jahr eine Art Training, bei dem sie Tübkes Stil exakt kopieren lernen und sich zudem durch Übertragung von Vorstudien auf immer größere Flächen die Technik für die Großleinwand aneignen sollten. Die eigentliche Ausführung dauerte vier Jahre. Daran waren die Absolventen der Kunsthochschule Helmut Felix Heinrichs (1930–2009), Andreas Katzy (* 1957), Eberhard Lenk, Volker Pohlenz, Matthias Steier und Dietrich Wenzel (* 1943) beteiligt. 1983 stießen sie nach und nach zu Tübke, der inzwischen schon eine kleinere Fläche als Referenz allein bemalt hatte. Auf fünf Stockwerke hohen fahrbaren Gerüsten arbeiteten die Maler über vier Jahre lang in Schichten und auch am Wochenende. Durch die ständige Überbeanspruchung seines rechten Armes kam es bei Tübke während der Arbeiten zu einem Muskelriss im Daumen, wodurch er zu längeren Pausen gezwungen wurde. Am 7. August 1987 vollendete Werner Tübke schließlich seinen Teil des Gemäldes, am 11. September beendete Lenk als letzter Mitarbeiter seine Arbeit, und am 16. Oktober setzte Werner Tübke schließlich seine Signatur auf das fertige Werk. Einer der ersten, die das Werk kurz vor seiner Fertigstellung sehen konnten, war im Herbst 1987 der Historiker Golo Mann. Er schilderte seine Eindrücke wie folgt: Eröffnung Das Jahr 1989 war anlässlich des 500. Geburtstages Thomas Müntzers von der Staatsführung zum Thomas-Müntzer-Jahr erklärt worden. Aus diesem Anlass wurde die Gedenkstätte „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ mit dem monumentalen Panoramabild am 14. September des Jahres offiziell eröffnet. Zuvor waren Ausschnitte des Gemäldes bereits auf einem fünfteiligen Briefmarkensatz erschienen, den die Deutsche Post der DDR am 22. August herausgegeben hatte. Die allerhöchste Politprominenz der DDR blieb der Einweihungsfeier fern. Als ranghöchste Politiker nahmen teil: Kulturminister Hoffmann, einer der wichtigsten Förderer des Projektes, sein Gegenspieler, der SED-Kulturverantwortliche Kurt Hager und Bildungsministerin Margot Honecker, zugleich in Vertretung ihres erkrankten Mannes Erich Honecker. Dieser kann als stiller Schirmherr des Panoramas angesehen werden. Urheberrecht Als Folge einer Entscheidung des Landgerichts Erfurt darf ein von Eberhard Lenk nach Motiven aus dem Bauernkriegspanorama für das Hotel „Reichental“ in Bad Frankenhausen gefertigtes Gemälde bis zum Ablauf der urheberrechtlichen Sperrfrist nicht gezeigt werden. In eine Postkarte des Hotels „Reichental“, die dieses Gemälde auf einem Foto abbildete, wurden daraufhin Löcher gestanzt, um dem Urteil zu folgen. Sonderausstellungen Neben dem monumentalen Panoramagemälde „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ präsentiert das Panorama Museum thematische Ausstellungen zum Werk von Werner Tübke sowie Sonderausstellungen weiterer Künstler und Kunstbewegungen. Werner Tübke – Faszination Mittelmeer, 8. Mai bis 19. September 2004 Michael Triegel – ars combinatoria, 1. Juli bis 8. Oktober 2006 Heinz Plank – Lebenszeichen, 24. Februar bis 28. Mai 2007 Werner Tübke – Der Zellerfelder Altar, 15. Oktober 2007 bis 27. Januar 2008 Horst Janssen – Es sind nur Steigerungen…, 14. Juni bis 28. September 2008 Rolf Münzner – Grafik und Zeichnung, 28. Februar bis 1. Juni 2009 Werner Tübke – Das Monumentalwerk Von der Skizze zur Vollendung, 28. Juni bis 11. Oktober 2009 Erich Kissing – Mythos Sehnsucht, 27. Februar bis 6. Juni 2010 Phantastische Kunst aus Wien, 19. Juni bis 3. Oktober 2010 Dopo de Chirico – Metaphysische Malerei der Gegenwart in Italien, 20. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013 Agostino Arrivabene – Tó Páthei Máthos, 29. Juni bis 20. Oktober 2013 Heinz Zander – Wanderungen auf vergessenen Wegen, 12. März bis 12. Juni 2016. Werner Tübke – Von Petersburg bis Samarkand. Unter fremden Menschen, 29. Juni bis 3. November 2019 Stimmen und Reaktionen Vor allem wurden die überdimensionierten Ausmaße des im Auftrag der Regierung entstandenen Bildes kritisiert, da sie in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Lage der DDR zu seiner Entstehungszeit stünden. Große Teile der Bevölkerung sahen das Bild zu dieser Zeit als pures Propagandamittel der Herrschenden an, die damit ihr idealisierendes Geschichtsbild von den Bauernkriegen propagieren wollten. Demgegenüber steht die Ausführung dieser Idee durch Werner Tübke, dessen Darstellungsweise eben nicht den Vorstellungen der Politiker entspricht. Der zugehörige Rundbau hatte schon kurz nach der Errichtung verächtliche Spitznamen wie „Elefantenklo“, „Gasometer“ oder „Silo“ erhalten. Angesichts des sich fortgesetzt verschärfenden Mangels in allen Lebensbereichen stieß das millionenschwere Prestigeobjekt in der Bevölkerung auf Unverständnis und Widerstand. Kritiker führen an, dem kostspieligen Kunstprojekt seien andere Projekte in der Region zum Opfer gefallen, darunter eine Turnhalle in Sangerhausen. Diese Kritik erstreckt sich auch auf die Person des Künstlers, der – teils berechtigt – als „Staatskünstler“ von Gnaden der SED betrachtet wurde. Befürworter verweisen hingegen auf die Devisen, die Tübke dem Staat durch den internationalen Verkauf seiner Bilder eingebracht habe. Tübke selbst äußerte sich auch nach der Wende rundum zufrieden über sein bekanntestes Werk. Er selbst sehe sich nicht als Künstler der DDR und schon gar nicht als Staatskünstler, sondern als außerhalb der DDR-Kunst stehend. Heutige Bedeutung Nach dem Ende der DDR war die Zukunft des Panorama Museums infolge der bereits während der Arbeiten Tübkes entstandenen Kritik in der Bevölkerung ungewiss. Es wurde sogar eine Schließung des Museums diskutiert, die jedoch durch Sachverständige im thüringischen Kultusministerium abgewendet werden konnte. Seit 1992 wurde das Konzept des Panorama Museums über die Präsentation des Monumentalgemäldes hinaus um ähnliche Kunstwerke einerseits und das Gesamtwerk Werner Tübkes andererseits erweitert. Hauptträger des Museums war seit der Wende der Freistaat Thüringen. Anfang 2008 wurde das Museum privatisiert und vom Verein Panorama Museum e. V. übernommen. Dem Trägerverein gehören das Land Thüringen, der Kyffhäuserkreis und die Städte Bad Frankenhausen und Sondershausen an. Das Museum wird vom Freistaat bis mindestens 2012 weiter mit jährlich knapp 1,3 Millionen Euro finanziert. Zu etwa 30 Prozent kann sich das Museum aus eigenen Einnahmen finanzieren. Mit jährlich etwa 75.000 bis 90.000 Besuchern zieht es ein so großes Publikum an wie nur noch wenige andere Gemälde in Deutschland. Neben Ankäufen bilden Schenkungen einen weiteren wichtigen Teil der Sammlung. Zwei bedeutende Schenkungen sind die Sammlung Albert-Leo Troost und Fabius von Gugel. Der Kaufmann und Grafiksammler Albert Leo Troost (1930–2001), in Düsseldorf aufgewachsen, verkehrte in Künstlerkreisen in Düsseldorf und Prag. Er schenkte 2001 dem Panoramamuseum 140 teils großformatige Grafiken bedeutender tschechischer und slowakischer Künstler. 2004 bildeten diese Arbeiten den Kern der Museumsausstellung „Das innere Gesicht... Meisterwerke tschechischer und slowakischer Grafik“. Der Schenkung Fabius von Gugel ging eine Sonderausstellung des Künstlers im Panorama Museum 1998 voraus. Nach der Exposition entschloss sich der Künstler, dem Panorama Museum einen Großteil seines malerischen und grafischen Werkes zu übereignen. Das Panorama Museum wurde als einer von 20 „kulturellen Gedächtnisorten“ in den Neuen Ländern in das Blaubuch der Bundesregierung aufgenommen. Siehe auch Liste der kulturellen Gedächtnisorte in den Neuen Ländern Dokumentarfilme 1987: Tübkes theatrum mundi. Dokumentarfilm, DDR, 60 Min., Produktion: DEFA, Text: Günter Meißner, (dokumentiert die Entstehungszeit von Museum und Gemälde mit einer einführenden Bildinterpretation). 1988: Schlacht am Bild. Dokumentarfilm, DDR, 20 Min., Regie: Ted Tetzke, Produktion: DEFA, (Dokumentation der Entstehung des Monumentalbildes mit Interviewpassagen von Werner Tübke). 1991: Werner Tübke. Vom Abenteuer der Bildfindung. Fernseh-Reportage, Deutschland, 60 Min., Regie: Reiner E. Moritz, Produktion: RM Arts, (der Filmtitel verwendet einen Begriff aus Tübkes Aufsatz von 1985). 2012: Tübkes Welttheater – 25 Jahre Bauernkriegspanorama. Dokumentarfilm, Deutschland, 29:30 Min., Buch und Regie: Daniel Baumbach, Produktion: MDR, Erstausstrahlung: 16. Oktober 2012 beim MDR, . 2017: Bauernkriegspanorama Bad Frankenhausen – Das Jahrhundertwerk des Werner Tübke. Dokumentarfilm, Deutschland, 29:27 Min., Buch und Regie: Daniel Baumbach, Produktion: MDR, Reihe: Der Osten – Entdecke wo du lebst, Erstausstrahlung: 7. März 2017 im MDR Fernsehen, Inhaltsangabe vom MDR. Literatur Harald Behrendt: Werner Tübkes Panoramabild in Bad Frankenhausen. Zwischen staatlichem Prestigeprojekt und künstlerischem Selbstauftrag (= Bau + Kunst. Schleswig-holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte. Bd. 10). Ludwig, Kiel 2006, ISBN 3-937719-21-0 (Zugleich: Dissertation der Universität Kiel, 2002). Günter Meißner: Theatrum mundi „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“. Monumentalgemälde im Panorama Frankenhausen. Verlag der Kunst, Dresden 1989, ISBN 3-364-00074-3, (18 Kunstdrucke mit Erläuterungen von G. Meißner). Günter Meißner, Gerhard Murza: Bauernkrieg und Weltgericht. Das Frankenhausener Monumentalbild einer Wendezeit. Seemann, Leipzig 1995, ISBN 3-363-00650-0, (mit detaillierter Interpretation der verschlüsselten Bildinhalte). Herbert Müller: „Panorama“-Bauwerk Bad Frankenhausen. In: Bauplanung – Bautechnik, 1978, 32. Jahrgang, Heft 2, , S. 52–56. Werner Tübke: Zur Arbeit am Panoramabild in Bad Frankenhausen (DDR). In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 42, H. 4, 1985, , S. 303–306, doi:10.5169/seals-168639. Werner Tübke: Monumentalbild Frankenhausen. Text: Karl Max Kober. VEB Verlag der Kunst, Dresden 1989, ISBN 3-364-00171-5. Raina Zimmering: Das Bauernkriegsforum in Bad Frankenhausen von Werner Tübke. In: ders., Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen. Leske + Budrich, Opladen 2000, S. 233–256, ISBN 3-8100-2732-4, Ausschnitte in Google Bücher. Weblinks Panorama Museum Bad Frankenhausen Nachruf: In: MDR, 14. Juni 2004. Eduard Beaucamp: Zauberberg in Thüringen. Werner Tübkes Panoramagemälde über die Epoche der deutschen Bauernkriege. In: kritische berichte, 1992, Bd. 20, Nr. 2, , S. 47–58, (PDF; 8,9 MB), digitalisiertes Heft. Christian Wirth: Fundstück Tübke: Bauernkriegspanorama, 2014, (private Seite) Peter Michel: . In: Junge Welt, 13./14. September 2014; als . Einzelnachweise Panoramabild Historiengemälde Bad Frankenhausen Kunstmuseum in Thüringen Bauwerk in Bad Frankenhausen/Kyffhäuser Bauwerk der Sozialistischen Moderne in Thüringen Gemälde (20. Jahrhundert) Krieg (Bildende Kunst) Thomas Müntzer Deutscher Bauernkrieg in Kunst und Literatur Museum im Kyffhäuserkreis Zentralbau in Deutschland Organisation (Bad Frankenhausen/Kyffhäuser) Kultur (Bad Frankenhausen/Kyffhäuser)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Santanachelys
Santanachelys
Santanachelys ist eine Gattung der nur fossil nachgewiesenen Meeresschildkrötenfamilie Protostegidae. Die einzige Art der Gattung, Santanachelys gaffneyi, galt bis zum Jahr 2015 die älteste bekannte fossile Meeresschildkröte. Die Fossilfunde der Art sind zur Charakterisierung und Erforschung der frühen Evolution der Echten Meeresschildkröten und der Lederschildkröten von großer Bedeutung. Santanachelys gaffneyi wurde von dem Erstbeschreiber Ren Hirayama in die heute ausgestorbene Familie der Protostegidae gestellt, deren prominentester Vertreter Archelon aus der Oberkreide Nordamerikas ist, die größte bekannte marine Schildkröte in der Erdgeschichte. Merkmale Das Fossil der Santanachelys gaffneyi ist etwa 20 Zentimeter lang, der Panzer erreicht an seiner Mittelachse eine Länge von 14,5 Zentimeter. Als wichtigste Merkmale teilt Santanachelys gaffneyi die paddelartigen Gliedmaßen sowie den Aufbau des Schädels mit den heutigen Vertretern der Meeresschildkröten. Die Paddel sind dabei allerdings nicht so ausgeprägt und waren wahrscheinlich nur für kurze Schwimmstrecken dienlich. Der Schädel weist einige deutliche Gemeinsamkeiten mit denen heutiger Vertreter auf, etwa die großen interorbitalen Schädelfenster (eine Knochenlücke zwischen den Augen), die vermuten lassen, dass auch diese Art bereits ein Salzausscheidungssystem mit Salzdrüsen besaß. Vermutlich waren diese bereits vorhanden, bevor die Schildkröten endgültig in den marinen Lebensraum wechselten. Die Salzdrüsen könnten sich als nützlich in der Lagune erwiesen haben, die die Santana-Formation vor 110 Millionen Jahren wahrscheinlich war. Von allen anderen bisher bekannten Vertretern der Meeresschildkröten unterscheidet sich Santanachelys gaffneyi durch die besondere, gebogene Form der ersten Rippe sowie durch die bewegliche Verbindung der Mittelhandknochen (Metacarpalia) und der Fingerknochen und eine deutlich andere Form des Oberarmknochens. Bei der offensichtlich sehr nah verwandten Gattung Rhinochelys, von der nur ein Schädel bekannt ist, sind es vor allem die deutlich schmaleren Nasenknochen, die sie von Santanachelys gaffneyi abgrenzt. Fundort und Alter Gefunden wurde Santanachelys gaffneyi in Ostbrasilien in der Santana-Formation. Die Fossilien der Fundschicht wurden in den Ablagerungen der höchsten Unterkreide (Albium) gefunden und sind etwa 110 Millionen Jahre alt. Zudem wurden neben Neben Santanachelys gaffneyi eine Vielzahl von Fischfossilien sowie auch einige interessante Schildkröten gefunden wurden, darunter die dem Taxon Araripemydidae zugeordnete Art Araripemys barretoi (Meylan, 1996) und die in das Taxon Bothremydidae eingeordnete Cearachelys placidoi. Der Holotyp (THUg1386), also das der Erstbeschreibung zugrunde liegende Exemplar, befindet sich in der Teikyo Heisei Universität in Ichihara, Chiba, in Japan. Es handelt sich um ein beinahe komplettes und gut erhaltenes Skelett, weitere Fundstücke von Santanachelys gaffneyi sind bisher nicht bekannt. Bedeutung des Fossilfundes Der Fund des Fossils in der Santana-Formation verschob den Fossilbefund für die Meeresschildkröten von der Oberkreide, aus der bereits bekannte Fossilien der Gattungen Rhinochelys und Notochelone stammen, etwa um zehn Millionen Jahre in die Unterkreide. 2015 wurde mit Desmatochelys padillai aus Kolumbien ein weiterer Vertreter der Protostegidae gefunden, dessen Alter auf etwa 120 Millionen Jahre geschätzt wird. Die Merkmale von Santanachelys gaffneyi charakterisierten sie als den primitivsten Vertreter der bisher bekannten Protostegidae. Des Weiteren konnte durch diesen Fund nachgewiesen werden, dass eine Trennung der drei Meeresschildkrötenfamilien, den heute noch existierenden (rezenten) Echten Meeresschildkröten (Cheloniidae) und Lederschildkröten (Dermochelyidae) und den ausgestorbenen Protostegidae, bereits in der frühen Kreidezeit oder noch davor stattgefunden haben muss. Auch die Entstehung der Meeresschildkrötenverwandten (Chelonioidea) fand entsprechend wahrscheinlich weit früher statt als bislang angenommen. Als dritte Besonderheit des Fossils konnte herausgestellt werden, dass Santanachelys gaffneyi der erste Fund einer Protostegidae in Südamerika war. Bei dem gefundenen Tier kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein ausgewachsenes Exemplar handelt; als Indiz dafür kann der hohe Grad der Verknöcherung des Skeletts, vor allem des Schädels und der Gliedmaßen, angesehen werden. Eine der bedeutendsten Fragen zur Anpassung der im Meer lebenden Schildkröten ist die nach dem Zeitpunkt, zu dem sich die Gliedmaßen zu paddelartigen Schwimmbeinen entwickelt haben. Eine getrennte Bewegung der Finger ist nach diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Eine primitivere Form der Paddelgliedmaßen mit noch beweglichen Einzelfingern fand man etwa bei den Vertretern der Gattungen Toxochelys und Tasbacka innerhalb der Echten Meeresschildkröten aus dem späten Paläozän. Die Entdeckung der relativ primitiven paddelartigen Gliedmaßen bei Santanachelys gaffneyi bedeutet, dass sich die Paddel bei den drei Gruppen der Meeresschildkröten wahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelt haben. Auch die Entwicklung der bei den heute lebenden Vertretern der meeresbewohnenden Schildkröten wichtigen Salzdrüsen stellt eine wichtige Frage zur Entwicklungsgeschichte der Meeresschildkröten dar. Diese Drüsen helfen den Schildkröten, überschüssiges Salz, welches durch Osmose in den Körper gelangt, auszuscheiden, da die Nieren allein dieser Aufgabe nicht gewachsen sind. Die Salzdrüsen selbst sind große Drüsen am Innenrand der Augen; sie sind größer als das Gehirn der Tiere und nehmen entsprechend Platz im Schildkrötenschädel ein. Aus diesem Grunde besitzen die Meeresschildkröten ein großes als „Foramen interorbitale“ bezeichnetes Schädelfenster, es wird durch eine Knochenspange („Processus inferior parietalis“) begrenzt. Bei den Lederschildkröten fehlt diese Spange vollständig, entsprechend große Salzdrüsen besitzen die Tiere. Die Echten Meeresschildkröten sowie fossile Arten wie Santanachelys gaffneyi und andere Meeresschildkrötenverwandten (Toxochelys, Corsochelys) besitzen diesen Processus noch, jedoch als schmale Spange. Bei noch weiter zurückliegenden Arten ist er breiter. Es wird angenommen, dass die Arten mit einer schmalen Knochenspange entsprechend bereits gut ausgebildete Salzdrüsen besessen haben und auch schon in einem marinen Lebensraum gelebt haben müssen; sie haben diesen somit bereits weit vor der Entwicklung der Schwimmpaddel genutzt. Systematik Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Art und auch der Gattung erfolgte durch den japanischen Paläontologen Ren Hirayama im Jahr 1998. Auf der Basis eines Vergleiches von insgesamt 104 Merkmalen der Skelette verschiedener ausgestorbener und heute noch lebender Meeresschildkrötenverwandter und einiger Arten außerhalb dieses Taxons (Außengruppenvergleich) wurde von ihm eine kladistische Stammbaumanalyse durchgeführt, um Santanachelys gaffneyi innerhalb des Systems der Meeresschildkröten einzuordnen. Die Analyse wurde unter mit Hilfe der als PAUP (phylogenetic analysis using parsimony) bekannten Software durchgeführt und kam zu dem folgenden Ergebnis (vereinfacht): Namensgebung Den wissenschaftlichen Namen leitet der Autor der Erstbeschreibung von der Fundstelle Santana in Brasilien sowie der griechischen Bezeichnung chelys für Schildkröte ab. Das Epitheton gaffneyi stellt eine Ehrung für Eugene S. Gaffney dar, der auf dem Gebiet der Fossilforschung bei Schildkröten als Autorität angesehen wird. Belege Literatur Ren Hirayama: Oldest known sea turtle. In: Nature. Band 392, Nr. 6677, 1998, S. 705–708 doi:10.1038/33669 (Volltext). John G. Maisey (Hrsg.): Santana Fossils. An Illustrated Atlas. T.F.H. Publications, Neptune City NJ 1991, ISBN 0-86622-549-8. Weblinks Schildkröten Ausgestorbene Schildkröte Testudines
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Invalidenfriedhof
Der Invalidenfriedhof ist ein historischer Friedhof und eine Gedenkstätte im Berliner Ortsteil Mitte des gleichnamigen Bezirks. Er liegt auf dem Gebiet der früheren Oranienburger Vorstadt zwischen Scharnhorststraße und Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, nördlich des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Anlage gehört zu den ältesten Friedhöfen in Berlin und wird als Zeugnis der preußischen und deutschen Militärgeschichte sowie als Erinnerungsstätte an die deutschen Befreiungskriege der Jahre 1813–1815 angesehen. Zerstörungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in der DDR-Zeit, als durch den Friedhof ein Teil der Berliner Mauer lief, haben dazu geführt, dass auf dem 2,54 Hektar großen Gelände nur etwa 230 Gräber erhalten sind. Ein Förderverein des Friedhofs bemüht sich seit 1992 um Bewahrung und Restaurierung der Anlage und Grabstätten. Wegen der historischen und kulturellen Bedeutung der Gesamtanlage und einzelner Grabdenkmale steht der Invalidenfriedhof als Gartendenkmal unter Denkmalschutz. Der Friedhof im 18. Jahrhundert Entstehung König Friedrich II. von Preußen ließ 1746 in der Nähe der Charité, in einem noch weitgehend unbewohnten und öden Gebiet nordöstlich des von der Berliner Zollmauer umgebenen Stadtgebiets, ein Invalidenhaus einrichten. In ihm wurden seit der Eröffnung am 15. November 1748 „lahme Kriegsleut“, also Kriegsversehrte, untergebracht. Sie sollten sich so weit wie möglich durch Landwirtschaft selbst versorgen, dadurch aber auch mithelfen, die im Volksmund als „Sahara“ bekannte Gegend zu kultivieren. Pläne für eine Wohnanlage für invalide Soldaten hatte es schon unter den Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. gegeben. Aber erst die hohen Versehrtenzahlen der ersten beiden Schlesischen Kriege 1740–1742 und 1744/1745 veranlassten Friedrich den Großen, diese Pläne umzusetzen. Zum königlichen Legat gehörte umfangreicher Landbesitz von 134 Hektar. Direkt nördlich vom Invalidenhaus, an einer zur Gesamtanlage gehörenden Windmühle an der Kirschallee (ab 1860: Scharnhorststraße), lag der Begräbnisplatz. Bei der ersten Beerdigung auf dem neuen Friedhof wurde am 20. Dezember 1748 der katholische Unteroffizier Hans Michael Neumann aus Bamberg beigesetzt; das Grab existiert nicht mehr. Ursprünglich umfasste der „Kirchhof der Invalidengemeinde“ nur das heutige Grabfeld A im Nordosten des Areals, in dem später auch die Kommandanten des Invalidenhauses beigesetzt wurden („Kommandantengräber“). Es liegt nahe dem jetzigen Wirtschaftshof und Lapidarium. 1769 wurde westlich angrenzend ein zweiter Friedhofsteil erschlossen, das heutige Grabfeld B. Der Rest des heutigen Friedhofsgeländes wurde im 18. Jahrhundert noch landwirtschaftlich genutzt; im Gebiet bis zum östlich gelegenen Schönhauser Landwehrgraben (heute Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal) lagen Wiesen. Der ursprüngliche Friedhof war wahrscheinlich eingefriedet, wies aber sonst wohl keinen Schmuck und keine Wegemarkierungen auf. Eine umfassende Gestaltung von Friedhöfen mit Ausbildung einer eigenen Friedhofskultur und parkähnlichen Anlagen setzte in Preußen erst 1794 ein. In diesem Jahr trat das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten in Kraft, das Bestattungen in Kirchen und bewohnten Stadtgegenden untersagte. Bis 1872 erfolgten 18.000 Beerdigungen auf dem Areal des heutigen Invalidenfriedhofs, in der ganzen Friedhofsgeschichte waren es etwa 30.000. Grabdenkmale des 18. Jahrhunderts Aus der Frühzeit des Friedhofs existieren einige wertvolle Grabmale, die sowohl die Geschichte des Ortes wie auch die Entwicklung der Sepulkralkultur in Preußen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts widerspiegeln. Spätbarocke Sarkophaggräber Einige der ältesten erhaltenen Grabmale des Invalidenfriedhofs wurden erst im Sommer 1998 bei Installations- und Wegearbeiten im Grabfeld A entdeckt. Sie liegen im Bereich der „Kommandantengräber“. Sechs spätbarocke Sarkophaggräber aus Sandstein aus der Zeit zwischen 1774 und 1790 kamen zum Vorschein, darunter das Grab des zweiten Kommandanten des Invalidenhauses, Georg Christoph von Daembke (1719–1775). Er war der erste von 21 Invalidenhaus-Kommandanten, die bis zum Zweiten Weltkrieg auf dem Friedhof bestattet wurden. Daembkes Vorgänger Heinrich von Feilitzsch war demgegenüber 1768 noch unter dem Altar der evangelischen Invalidenhauskirche beigesetzt worden. Die sechs Sarkophage sind reich verziert mit Inschriften, Ornamenten, Todessymbolen und zum Teil mit Wappen. Mit ihrer traditionellen Gestaltung in der Form hochbarocker Epitaphien stehen sie für eine Übergangsphase zwischen Kirchen- und Friedhofsbestattungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Anrührend und künstlerisch herausragend ist die Gestaltung des Grabmals von Elisabeth von Kottulinsky (1767–1774), der ältesten noch existierenden Grabstätte auf dem Friedhof. Eine (nicht ganz erhaltene) Inschrift spricht von einem „seelig verstorbenen Fräulein“, das „den 1 Junii 1774, an einer 18 stündigen Kriesel-Kranckheit“ (Tuberkulose) starb: „Ein Kind guter Hoffnung, ihre Seele gefiel Gott wohl, darum eilte er mit ihr aus diesem bösen Leben, und versetzte sie frühzeitig, in die ewige Freude, und Seeligkeit.“ Die Reliefs auf dem Sarkophag des Mädchens zeigen neben Lilien, Wicken und Rosen das von Puttenköpfen umgebene „Auge Gottes“, das über die Tote wacht, sowie Fackel und Sanduhr als Allegorien der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Vermutlich waren die sechs Sarkophaggräber nach einer Überflutung des Friedhofs durch den angrenzenden Schönhauser Landwehrgraben im Jahr 1829 zugeschüttet worden, um diesen Friedhofsbereich höher legen zu können. Gleichzeitig dürften die direkt benachbarten Grabstätten angehoben und untermauert worden sein. Das gilt etwa für die Denkmale Diezelsky, Rohdich und Reineck. Warum das Grabmal Daembkes im Gegensatz zu denen seiner Nachfolger Diezelsky und Reineck bei dieser Umgestaltung nicht erhaltenswert erschien, ist ungeklärt. Die sechs Sarkophaggräber wurden nach der Wiederentdeckung bis 1999 restauriert und, bei sorgfältiger Konservierung der darunter liegenden Gruftgewölbe, auf das Niveau der umgebenden Grabstätten angehoben. Die sechs Grabdenkmale gehören zu den ältesten, am ursprünglichen Begräbnisort unter freiem Himmel erhaltenen, repräsentativen Grabmalen Berlins. Adel und wohlhabendes Bürgertum ließen sich noch bis 1794 in aller Regel in Kirchen und angefügten Grüften beisetzen. Wegen der Anfälligkeit des Sandsteins werden die sechs Sarkophaggräber in den Wintermonaten durch massive Holzabdeckungen geschützt und sind nur in der wärmeren Jahreshälfte zu besichtigen. Kommandantengräber / Grabpostamente Zu den erhaltenen Denkmalen aus den ersten Jahrzehnten des Invalidenfriedhofs gehört das künstlerisch bedeutende Grabpostament für den Obersten und Kommandanten des Invalidenhauses Michael Ludwig von Diezelsky (1708–1779). Der Entwurf für das frühklassizistische Denkmal stammt von dem Maler Bernhard Rode. Es ist fast dreieinhalb Meter hoch. Das altarartige Sandstein-Postament zeigt auf einer Seite ein mit Lorbeer-Feston umranktes Medaillon mit einem Porträt des Toten sowie Inschriften auf den anderen Seiten. Es wird von Schild, Harnisch und Helm mit Federbusch in antikisierender Form bekrönt. Das im Zweiten Weltkrieg beschädigte Monument wurde inzwischen restauriert, fehlende Teile rekonstruierte man. Der Denkmaltyp aus Postament mit aufgesetzter Schmuckbekrönung, zumeist in Form einer Urne, erfreute sich in der Frühzeit des Invalidenfriedhofs großer Beliebtheit. Ein eindrucksvolles Beispiel stellt das spätbarocke Monument für den Invalidenhaus-Kommandanten Oberst Ernst Otto von Reineck (1729–1791) im Grabfeld A dar. Auf den kannelierten Säulenstumpf auf hohem Unterbau ist eine Urne aufgesetzt, umgeben von den Köpfen zweier Sklaven sowie von Wappen und einer Widmung für den Toten in Reliefform. Auf einer Seite der Säule finden sich lorbeerumrankte Ruhmeszeichen wie Helm, Federbusch, Schild und Schwert, ebenfalls als Relief gearbeitet. Bei einer Restaurierung in den Jahren 2000–2003 wurden fehlende Teile des Denkmals wie der Urnendeckel rekonstruiert. In diesem Zusammenhang legte man ein Felssteinfundament wieder frei, mit dem das Grabdenkmal wahrscheinlich nach 1829 aufgesockelt worden war. Auch das Grab des Generals und preußischen Kriegsministers Friedrich Wilhelm von Rohdich (1719–1796), ebenfalls in Grabfeld A, weist eine Schmuckurne auf. Der mehrfach gestufte, in einem Zwischenglied kannelierte Sandsteinsockel trägt auf Vorder- und Rückseite Inschriften. Sein Kopf wird von der ausladenden Urne überragt, die unterhalb der Kuppa eine weitere Inschrift führt. Eine massive Eisenumfassung umgibt das Grabmal. Sie entstand möglicherweise erst im 20. Jahrhundert. Das Denkmal wurde ursprünglich finanziert vom Rohdich’schen Legatenfonds, einer seit 1993 wieder existierenden Stiftung, die auf den Toten zurückgeht. Sie gab 1998 auch die aufwendige Rekonstruktion des stark beschädigten Originals in Auftrag. Das in Grabfeld A gelegene Denkmal für Oberst Curt Heinrich Gottlieb von Arnim (1735–1800), Reinecks Nachfolger in der Invalidenhauskommandantur, ist weniger aufwendig gestaltet als die drei vorgenannten Postamentdenkmale und ein Beispiel für den frühklassizistischen Zopfstil. Das zeigt sich an den Lorbeergirlanden am Kopf des Sandsteinsockels, die statisch wirken, und an der Urne, an der die ausladenden Formen des Barock zurückgenommen sind. Auf der Vorderseite steht eine kalligraphische Widmung für den Toten mit Nennung von dessen Lebensdaten. Der stark beschädigte Originalsockel befindet sich heute im Lapidarium des Friedhofs. Er wurde bei der Restaurierung originalgetreu kopiert, die verschwundene Urne nach alten Fotos rekonstruiert. Mit dem Grabdenkmal für den preußischen Oberst Johann Friedrich von Pelkowsky (1737–1803) setzte sich die Tradition der Postamentgräber im Grabfeld A im frühen 19. Jahrhundert fort. Allerdings ist die Schmuckurne hier bereits im Stil des französischen Empire der Napoleon-Zeit verfasst. Sie weist eine schlank-ovale Form auf, die durch die aufgesetzten Voluten­henkel weiter betont wird. Die Urne ruht auf einem vierkantigen, getreppten Sockel, der auf der Vorderseite die Widmungsinschrift trägt. Sein oberer Abschluss ist eingezogen und zeigt ein Blattfries. Bei dem Denkmal handelt es sich um eine Rekonstruktion aus jüngster Zeit. Der alte Sockel war für eine Restaurierung zu stark verwittert; er steht heute im Lapidarium. Die verloren gegangene Schmuckurne konnte auf der Basis alter Fotos nachgebildet werden. Der Friedhof im 19. Jahrhundert Entwicklung der Gesamtanlage Bis Anfang des 19. Jahrhunderts wuchs die „Invalidenhaus-Gemeinde“ (oder „Militär-Gemeinde“), deren Mitglieder auf dem Invalidenfriedhof bestattet wurden, kontinuierlich. Zu ihr gehörten neben den Einwohnern des Invalidenhauses und deren Familien auch zunehmend Zivilisten, die für das Invalidenhaus arbeiteten oder sich auf dessen weitläufigen Ländereien niedergelassen hatten. Darunter waren vor allem Vertreter niedriger Stände wie Handwerker, Händler, Gastwirte, später auch Fabrikarbeiter des nahegelegenen „Feuerland“. 1806 wurde für die Zivilisten formal eine eigene Gemeinde gegründet, die parochial aber weiterhin zum Invalidenhaus gehörte. Die Mitglieder der neuen evangelischen „Invalidenhaus-Zivilgemeinde“ wohnten in der Umgebung des Invalidenhauses im Bereich der heutigen Berliner Ortsteile Mitte und Moabit. Die Gottesdienste dieser Gemeinde fanden in der evangelischen Kapelle des Invalidenhauses statt, waren aber von den militärischen Gottesdiensten getrennt. Die meisten Angehörigen der neuen Gemeinde, die bis zur Jahrhundertmitte auf 5000 Mitglieder wachsen sollte, wurden weiterhin auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Analog entstand auch eine kleine römisch-katholische Zivilgemeinde, die an das Invalidenhaus angebunden war. Bis 1816 erfolgten die Bestattungen der Zivilisten in denselben Grabfeldern wie die der Militärs und ihrer Familien. Danach wurde getrennt, sodass die heutigen Grabfelder A und B hauptsächlich vom Invalidenhaus genutzt wurden, das heutige Grabfeld D von den beiden Zivilgemeinden. Erhaltene Sterbelisten zeigen, dass Mitte des 19. Jahrhunderts bereits deutlich mehr Zivilisten als Militärs bzw. deren Familienangehörige auf dem Invalidenfriedhof ihre letzte Ruhestätte fanden, im Jahr 1850 beispielsweise 236 Zivilisten gegenüber nur 20 Mitgliedern der Militärgemeinde. 1824 bestimmte eine Kabinettsorder von König Friedrich Wilhelm III., dass ein Großteil des Landbesitzes des Invalidenhauses zum freien Verkauf gelangen sollte. Gleichzeitig hielt ein Passus fest, dass der Invalidenfriedhof ein unteilbares Grundstück darstelle und in Gänze erhalten bleiben solle. Außerdem sei ein spezielles Feld (heutiges Grabfeld C) auf dem Friedhof auszuweisen, das den „Nobilitäten der Armee“ vorbehalten bleiben sollte, die „auf höheren Befehl“, das heißt auf Order des Königs, hier zu bestatten waren. Hintergrund waren längerfristige Bestrebungen von Künstlern wie Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné, einen Ehrenfriedhof (Camposanto) für die Gefallenen der Befreiungskriege gegen Napoleon anzulegen. Diese ambitionierten Pläne scheiterten aber an praktischen Hindernissen, unter anderem daran, dass viele dieser Militärs sich in den Familiengrüften bestatten ließen. Als Ersatz sollten zumindest einzelne Gräber von Militärs auf dem Invalidenfriedhof schmuckreich gestaltet werden. Das galt vor allem für das geplante Grabmal von General Gerhard von Scharnhorst (1755–1813), dessen Freunde den Toten 1826 von dessen ursprünglichem Begräbnisort Prag nach Berlin überführen ließen. Außer dem eindrucksvollen Scharnhorst-Denkmal, das bis 1834 entstand, verantwortete Schinkel auf königliche Order hin noch die Grabstätten von Generalleutnant Karl Leopold von Köckritz (1744–1821), von General Friedrich Bogislav Emanuel Tauentzien von Wittenberg (1760–1824), von den Brüdern General Otto von Pirch (1765–1824) und Generalleutnant Georg Dubislav Ludwig von Pirch (1763–1838) sowie von Generalleutnant Job von Witzleben (1783–1837). Von diesen ist lediglich das Köckritz-Grabmal nicht erhalten. Wie von Schinkel und anderen gewünscht, stieg das Renommee des Invalidenfriedhofs durch diese Grabstätten. 1835 wurde der Friedhof durch Anlage eines kreuzförmigen Wegesystems völlig neu gestaltet. Gleichzeitig führte man die bis heute gebräuchliche Einteilung in alphabetisch geordnete Grabfelder ein. Lindenalleen durchzogen jetzt das Areal, seitlich wurde es durch Sträucher begrenzt. Das ungünstig gelegene Grab von Gustav Friedrich von Kessel (1760–1827), der einige Jahre zuvor als erster Invalidenhaus-Kommandant außerhalb des bis dahin bevorzugten Bereichs der „Kommandantengräber“ beigesetzt worden war, musste dabei in die Mitte des vorderen Wegekreuzes eingebunden werden. Der unbeliebte Verstorbene wollte mitten auf dem Kreuzweg begraben werden, „weil er auch zu seinen Lebzeiten niemandem aus dem Weg gegangen sei“. Weitere Repräsentanten der Befreiungskriege wie der Pädagoge Friedrich Friesen (1784–1814), der General und Kriegsminister Gustav von Rauch (1774–1841) und der Generalfeldmarschall und Kriegsminister Hermann von Boyen (1771–1848) wurden in den 1840er-Jahren hier begraben. Allerdings erlangte der Invalidenfriedhof nie den Rang einer zentralen Gedenkstätte des preußischen oder später des reichsdeutschen Militärs. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden viele Militärs hier vor allem bestattet, weil sie selbst eine Beziehung zum Invalidenhaus hatten oder dies der traditionelle Begräbnisort ihrer Familien war. Unter den Militärs der Befreiungskriege, die ihr Grab auf dem Invalidenfriedhof fanden, dominieren solche, die keinen eigenen Landbesitz in Preußen hatten und die daher auf einem öffentlichen Friedhof bestattet werden mussten. Der Historiker Laurenz Demps sieht die Umwandlung des Invalidenfriedhofs zur Begräbnisstätte wichtiger Militärs daher als „spontane Entwicklung“, die erst in der späten Kaiserzeit und nach dem Ersten Weltkrieg nachträglich eine propagandistische Überhöhung erfahren habe. In den 1840er Jahren wertete die Anlage des von Lenné gestalteten Invalidenparks auf den nicht mehr benötigten landwirtschaftlichen Flächen des Invalidenhauses die Umgebung des Invalidenfriedhofs zusätzlich auf. Weitergehende Pläne Lennés, auch den Friedhof in eine städtebauliche und gartenkünstlerische Umgestaltung der ganzen Umgebung einzubeziehen, wurden jedoch nicht verwirklicht. Das Gleiche galt nach Einspruch von König Friedrich Wilhelm IV. auch für den Vorschlag des Berliner Polizeipräsidenten, beim Ausbau des Schönhauser Landwehrgrabens zum Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal ab 1848 beiderseits desselben Straßen anzulegen. Dies hätte die möglichen westlichen Erweiterungsflächen des Friedhofs beschnitten. Es gibt Anzeichen dafür, dass das Wachsen der Zivilgemeinden schon in den 1830er-Jahren zu Platzmangel auf dem Friedhof führte. 1835 wurde erstmals ein Teil der evangelischen Zivilgemeinde abgetrennt und der neuen Kirchengemeinde St. Johannis in Moabit zugeordnet. Weitere Teilungen der Gemeinde folgten. Für die 1840er Jahre sind Grabeinebnungen dokumentiert, die aufgrund überschrittener Liegefristen nur die Zivilgemeinden betrafen – die Mitglieder der Invalidenhaus-Gemeinde mussten für die Grabstätten nicht bezahlen. In den 1860er Jahren wurden der Friedhof schließlich nach Westen bis zum Kanal erweitert und die heutigen Grabfelder E, F, G und H ausgewiesen, zusätzlich ein heute nicht mehr zum Friedhof gehörender Bereich an der Scharnhorststraße als Grabfeld I. Am 24. März 1848 wurden auf dem Invalidenfriedhof die gefallenen Soldaten der Barrikadenkämpfe der Märzrevolution beerdigt. Ihnen zu Ehren errichtete man bis 1852 im benachbarten Invalidenpark eine 44 Meter hohe, gusseiserne Gedenksäule (Invalidensäule). Für die zivilen Opfer von 1848 wurde hingegen der Friedhof der Märzgefallenen in Friedrichshain eingerichtet. 49 preußische, 32 österreichische und 3 sächsische Gefallene des Deutschen Krieges wurden 1866 in einem Sammelgrab im nicht erhaltenen Grabfeld I beigesetzt. Für sie wurde an gleicher Stelle ein Denkmal errichtet. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durften auf dem Invalidenfriedhof auch Persönlichkeiten beigesetzt werden, die keine Verbindung zum Invalidenhaus oder zu den Zivilgemeinden hatten, darunter bekannte Staatsbeamte, Theologen, Schriftsteller und Unternehmer. Zu ihnen gehörten der Direktor der Berlin-Hamburger Eisenbahngesellschaft und Architekt des nahe gelegenen Hamburger Bahnhofs Friedrich Neuhaus (1797–1876), der Maschinenbau- und Eisengießerei-Unternehmer Johann Friedrich Ludwig Wöhlert (1797–1877), der Ingenieur und Wasserbaumeister Gotthilf Hagen (1797–1884) und der Bautechniker und Erfinder Carl Rabitz (1823–1891). Von diesen Gräbern ist jedoch nur das von Hagen im Grabfeld C erhalten geblieben. Neuhaus’ Grabstätte wird seit 1994 von einem Restitutionsstein markiert. 1868 eröffnete an der Scharnhorststraße gegenüber vom Invalidenfriedhof das Kaiserin-Augusta-Hospital. Einige Ärzte dieses Krankenhauses wurden später auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Kaiserin Augusta, die Namenspatronin des Krankenhauses, erwarb 1886 für die Hospital-Schwestern eine gemeinsame Grabstätte in Grabfeld B, damit „die Schwestern auch in ihrer ewigen Ruhe vereint sein sollen, wie sie im Leben vereint waren in ernster Arbeit“. Die Betreuung der Grabstelle oblag der jeweiligen Oberin des Hospitals. Nach 1990 konnten 21 (in der Mehrzahl adlige) Schwestern identifiziert werden, die zwischen 1870 und 1946 auf dem Invalidenfriedhof ihre Ruhestätte fanden. Eine mit ihren Namen versehene Grabplatte ist 1995 an historischer Stätte neu gelegt worden. 1860 löste sich die römisch-katholische Zivilgemeinde vom Invalidenhaus und ging in der neuen Gemeinde St. Sebastian auf, deren Mitglieder nicht mehr auf dem Invalidenfriedhof bestattet wurden. Auch die meisten Mitglieder der fortbestehenden evangelischen Zivilgemeinde mussten sich ab 1870 um andere Begräbnisplätze bemühen. Jedoch konnten sich begüterte Gemeindemitglieder über die Zahlung erhöhter Gebühren weiterhin einen Grabplatz auf dem Invalidenfriedhof sichern, insbesondere wenn sie auf eine entsprechende Familientradition verweisen konnten. Trotzdem wurde der Invalidenfriedhof ab der Kaiserzeit verkürzend nur noch als Friedhof zur Bestattung verdienter Militärs wahrgenommen. Die Einweihung der neuen Kaiserin-Augusta-Kirche (auch „Gnadenkirche“) auf dem Gelände des Invalidenparks markierte 1895 die endgültige Trennung der evangelischen Zivilgemeinde vom Invalidenhaus und seinem Friedhof. Grabdenkmale des 19. Jahrhunderts Als Folge der Napoleonischen Kriege kam es in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kaum noch zur Anlage repräsentativer Grabmale wie sie im 18. Jahrhundert mit den Sarkophag- und Postamentgräbern entstanden waren. Dies änderte sich erst in den 1820er-Jahren, als das Bestreben, die Militärs der Befreiungskriege zu ehren, hochwertige Kunstwerke auf dem Invalidenfriedhof hervorzubringen begann. Dass die folgende Ära bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der künstlerisch herausragende Abschnitt der Friedhofsgeschichte wurde, war bedeutenden Architekten und Bildhauern wie Karl Friedrich Schinkel, Friedrich August Stüler, Christian Daniel Rauch und Christian Friedrich Tieck zu danken. Die meisten der von ihnen geschaffenen oder beeinflussten Grabdenkmale auf dem Invalidenfriedhof konnten nach den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts seit 1990 wiederhergestellt werden. Gleiches gilt für das Grabmal von Karl Friedrich Friesen, das nicht aufgrund seiner künstlerischen Ausgestaltung, wohl aber als historisches Denkmal besonders schützenswert erscheint. Grabmale der Brüder von Pirch Das älteste noch erhaltene Grabmal, das Karl Friedrich Schinkel für den Invalidenfriedhof entwarf, entstand nach Auftrag der Geschwister von Generalleutnant Otto von Pirch (1765–1824), Teilnehmer der Befreiungskriege und seit 1819 Oberdirektor der Preußischen Kriegsakademie und des Kadettenkorps. Schinkel hatte ein gusseisernes Grabmal zu gestalten, das in der Königlich Preußischen Eisengießerei hergestellt werden sollte. Schinkels Entwurf entsprach im Sockelbereich weitgehend dem Grabdenkmal, das er für den 1819 auf dem Friedhof Alt-Schöneberg beigesetzten General Friedrich Otto von Diericke gestaltet hatte. Allerdings wählte Schinkel bei Pirch statt der konventionelleren Schmuckbekrönung mit Urne militärische Insignien. Möglicherweise orientierte er sich dabei formal an dem nahe Pirchs Grabstätte im heutigen Grabfeld A gelegenen Grabmonument Diezelsky. Die gegossenen Einzelbestandteile wie Sockel- und Schriftplatten wurden zusammengesetzt, kleinere Schmuckelemente teilweise mit Dübeln befestigt. Das dreistufige Postament besitzt einen quadratischen Grundriss. Auf einem Untersockel ruht der zippusförmige Hauptsockel, der die Inschriften in Frakturlettern und das Familienwappen des Toten trägt. Er wird oben von einem applizierten Ornamentfriesband mit Mittelrosetten abgeschlossen. Auf der Deckplatte sitzen ein antikisierender Helm mit Federbusch, ein Ehrenkranz aus Lorbeer- und Eichenblättern und ein Schwert auf. Das Grabdenkmal wurde mit grüner Farbe abgedeckt, die an Bronze erinnert. Ein analoges Denkmal erhielt später auch der neben dem Bruder bestattete Georg Dubislav Ludwig von Pirch (1763–1838), ebenfalls preußischer Generalleutnant. Der Schmuckhelm wurde dabei spiegelverkehrt ausgerichtet, sodass ein symmetrischer Eindruck entsteht. Der Ehrenkranz ist bei Georg von Pirch jedoch nur aus stilisierten Eichenblättern gebildet. Möglicherweise waren beide Grabdenkmale zeitweise von einem Eisengitter umgeben, das aber bereits vor 1897 entfernt wurde. Die gefährdeten Grabdenkmale wurden 1990 zur Sicherung abgebaut und eingelagert. Bei der im Jahr 1997 durchgeführten Restaurierung, die die Stiftung Deutsche Klassenlotterie finanzierte, wurden zahlreiche Fehlstellen im Schweißverfahren beseitigt. Die Originalplatten des Grabmals von Georg von Pirch waren in so schlechtem Zustand, dass sie durch Neugüsse ersetzt werden mussten. Gleiches galt für verlorene und beschädigte Teile der Schmuckbekrönung bei beiden Grabdenkmalen. Statt der originalen Verschraubung durch Eisenwinkel wählte man ein eigens konstruiertes Edelstahlgerüst. Die anschließende Bemalung erfolgte mit einem Speziallack, der farblich der ursprünglichen Fassung entspricht. Grabstätte der Familie von Scharnhorst Das auffälligste und bedeutendste Monument des Friedhofs findet sich in Grabfeld C in der Grabanlage für General Gerhard von Scharnhorst und dessen Familie. Scharnhorst, Heeresreformer und ehemaliger Kriegsminister, war 1813 in Prag an den Folgen einer Verwundung gestorben, die er in der Schlacht bei Großgörschen während der Befreiungskriege erlitten hatte. Eine Kommission unter Vorsitz von August Neidhardt von Gneisenau erteilte 1820 Karl Friedrich Schinkel den Auftrag, eine Kapelle für die Grabstätte Scharnhorsts in Prag zu gestalten. Allerdings fand der ursprüngliche Entwurf Schinkels keine Zustimmung. Anschließend entwickelte Schinkel in mehreren Stufen den ungewöhnlichen Vorschlag für einen freistehenden Hochkenotaph, für den das Grabmal des italienischen Dichters Francesco Petrarca in Arquà Petrarca als Vorbild gedient haben könnte. Nachdem Scharnhorst 1826 auf den Invalidenfriedhof umgebettet worden war, wurde das Grabmonument auch dort errichtet. Im Zentrum des Monuments nach Schinkels Entwurf stand der auf zwei Säulen ruhende Kenotaph aus weißem Carrara-Marmor mit beschriftetem Deckstein. Das den Kenotaph umlaufende Relief wurde von Friedrich Tieck gestaltet und zeigt in antikisierender Form Szenen aus dem Leben des Generals. Die auf dem Deckstein aufliegende Bronzeplastik eines Schlafenden Löwen modellierte Theodor Kalide in der Werkstatt von Christian Daniel Rauch; Sie gilt als erste eigenständige Tierplastik der Berliner Bildhauerschule des 19. Jahrhunderts und wurde 1828 in der nahe dem Friedhof gelegenen Königlich Preußischen Eisengießerei aus dem Metall erbeuteter Geschütze gegossen. Die Einweihung der Grabanlage einschließlich des von Karl Friedrich Schinkel gestalteten, schlichten Eisengitters erfolgte erst 1834. Durch die Zusammenarbeit der Künstler entstand ein markantes Hauptwerk der klassizistischen Grabmalkunst des 19. Jahrhunderts. Neben Gerhard von Scharnhorst ruhen auf der umfriedeten Anlage seine Söhne August (1795–1826) und Wilhelm von Scharnhorst (1786–1854), seine Tochter Juliane (1788–1827), deren Ehemann Karl Friedrich Emil zu Dohna-Schlobitten (1784–1859) sowie zwei Söhne Wilhelms. Der Schriftsteller Theodor Fontane hat der Begräbnisstätte der Familie Scharnhorst in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Band 4: Spreeland. Gröben und Siethen) ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem die Grabmonumente der genannten Personen ausführlich beschrieben sind. Ab 1990 wurde die Gesamtanlage zur Sicherung – insbesondere des anfälligen Marmors – von einem Plastikschutzdach überspannt. Da dieses jedoch den optischen Eindruck stark beeinflusste, entschloss sich das Landesdenkmalamt Berlin 1995 zu einer umfassenden Restaurierung, bei der Marmor-Kenotaph und -Deckstein durch Kunststeinkopien ersetzt wurden. Das originale Tieck-Relief wird heute in der Skulpturensammlung der Berliner Nationalgalerie aufbewahrt. Das stark korrodierte Eisengitter war bereits 1993 restauriert worden. Das Grabmal von Gerhard von Scharnhorst ist als Ehrengrab des Landes Berlin ausgewiesen. Grabmal Friedrich Graf Tauentzien von Wittenberg Das sehr schlichte Grabmal des preußischen Generals Friedrich Bogislav Emanuel Graf Tauentzien von Wittenberg (1760–1824) ehrt einen der erfolgreichsten Militärs der Kriege gegen Napoleon. Wie die Grabmale der Brüder Pirch liegt es nicht im Ehrengrabfeld C, sondern in Grabfeld A, in der Nähe der „Kommandantengräber“. Karl Friedrich Schinkel hatte sich mit mehreren Entwürfen, die antike bzw. mittelalterliche Formen aufgriffen, dafür eingesetzt, ein eindrucksvolleres Denkmal für den General zu schaffen. Der Plan scheiterte jedoch an den begrenzten Finanzmitteln der Witwe und der Sparsamkeit von König Friedrich Wilhelm III. Der umgesetzte Entwurf Schinkels aus dem Jahr 1835 richtet sich an Sarkophagvorbildern aus, wobei auf dem Sandsteinunterbau hier allerdings eine bronzefarbene Deckplatte aus Eisenguss aufliegt. Auch sie wurde vermutlich in der Königlich Preußischen Eisengießerei hergestellt. Wegen der Bedeutung, die Eisen beim Aufstieg Preußens zur Industrie- und Militärmacht besaß, wurde es im 19. Jahrhundert als Werkstoff auch für Kunstwerke durchaus geschätzt. Statt der symbolhaften Ornamentik des Barock steht die sorgfältig gearbeitete, erhaben erscheinende, vergoldete Inschrift auf der Deckplatte im Mittelpunkt; die Platte ist ansonsten nur mit Messing-Rosetten an den Ecken geschmückt. Analog schlichte wie künstlerisch gelungene Grabdenkmale mit verzierter Metalldeckplatte auf Steinfundament finden sich am Invalidenfriedhof noch auf den Gräbern des Invalidenhaus-Kommandanten Generalleutnant Gustav von Kessel (1760–1827), des Generals August Freiherr Hiller von Gaertringen (1772–1856) und des Generals Karl von Reyher (1786–1857). Das Grabdenkmal von Graf Tauentzien von Wittenberg wurde im Jahr 1998 umfassend restauriert. Grabmal Job von Witzleben Das letzte Grabdenkmal, das Karl Friedrich Schinkel für den Invalidenfriedhof konzipierte, schmückt die Ruhestätte von Ernst Job Wilhelm von Witzleben (1783–1837), einem königlich preußischen Generalleutnant, Generaladjutanten und von 1834 bis zu seinem Tod Kriegsminister. Auch Witzleben hatte an mehreren Schlachten der Kriege gegen Napoleon teilgenommen. Der Auftrag zum Entwurf eines Grabdenkmals für das Grabfeld C des Invalidenfriedhofs kam 1840 von König Friedrich Wilhelm III., der Witzleben seit seiner Jugend gekannt hatte. Nach detaillierten Vorgaben des Königs richtete Schinkel sich am Grabmal Köckritz aus, das er fast 20 Jahre zuvor ebenfalls im Auftrag Friedrich Wilhelms gestaltet hatte. Der Aufsatz dieses Denkmals war, bei klassisch gehaltenem Sockel, von gotischer Formensprache beeinflusst gewesen. Das korrespondierte mit dem Erscheinungsbild zahlreicher deutscher Denkmale, die zur Erinnerung an die Napoleonischen Kriege errichtet worden waren und bei denen man ebenfalls auf mittelalterliche Vorbilder zurückgegriffen hatte. Das berühmteste dieser Denkmale hatte Schinkel mit dem Nationaldenkmal auf dem Berliner Kreuzberg selbst geschaffen. Beim Witzleben-Grabmal steht auf einem quadratischen Unterbau der dreigeteilte gusseiserne Sockel, dessen hoher Zippus, erhaben und kunstvoll ausgeführt, Inschrift, Familienwappen und als Ehrenzeichen einen lorbeerumrankten Kommandantenstab trägt. Auf der Deckplatte erhebt sich ein hoher Baldachin, der eine vollplastische Viktoria mit Lorbeerkranz und Palmwedel schützt. Er wird von Bündelpfeilern getragen und weist unter den vier Giebelspitzen wimpergartige Netzwerke auf, die von Spitz- und Rundbogen begrenzt werden. Über den Baldachin ragen Fialen und vier preußische Adler mit gespreizten Flügeln hinaus, letztere auf den Spitzen der mit Krabbenleisten verzierten Giebel aufsitzend. Die Viktoria gestaltete wahrscheinlich Friedrich Tieck. Bedingt durch jahrzehntelang nicht beseitigte Kriegs- und Rostschäden stürzte das Witzleben-Grabmal 1984 in sich zusammen. Die Fragmente wurden vom Natur- und Grünflächenamt Mitte eingelagert. Viele Einzelteile gingen jedoch verloren, so etwa rechter Arm, Lorbeerkranz und Palmwedel der Viktoria. Dieser Vorfall animierte den Ost-Berliner Denkmalschutz und Privatpersonen dazu, stärkere Initiativen zum Erhalt anderer Grabdenkmale auf dem Invalidenfriedhof zu ergreifen. Erstmals wurde der Bestand fotografisch ausführlich erfasst. Vor der erst 1998 erfolgten Wiederaufstellung des Denkmals mussten die fehlenden Teile auf der Basis historischer Fotos nachgegossen werden. Wie bei den Grabmalen Pirch wurde statt der ursprünglichen Vernietung der Sockelplatten ein tragendes Stahlgerüst eingepasst. Die Bemalung erfolgte mit einer grünen Spezialfarbe. Das erhaltene originale Ziegelsteinfundament wurde bis auf die Höhe des Gruftgewölbes abgetragen und durch einen bewehrten Betonunterbau ersetzt. Grabmal Karl Friedrich Friesen Karl Friedrich Friesen (1784–1814), Pädagoge und Mitbegründer der deutschen Turnbewegung, hatte als Angehöriger des Lützowschen Freikorps an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilgenommen. Er war 1814 bei dem Dorf La Lobbe in den Ardennen bei einem Handgemenge mit französischen Bauern getötet, anschließend dort bestattet worden. Sein Freund Hauptmann August Freiherr von Vietinghoff genannt Schell, ließ den als Freiheitskämpfer verehrten 1816 exhumieren, da er und Friesen sich versprochen hatten, gegebenenfalls für die Beerdigung des jeweils anderen in Preußen Sorge zu tragen. Nicht realisiert werden konnten indes in der Folge der Karlsbader Beschlüsse Pläne von Friedrich Ludwig Jahn („Turnvater Jahn“), Friesen in der Berliner Hasenheide, dem Ort gemeinsamen sportlichen Wirkens, in einem Grabhügel („Friesenhügel“) zu bestatten, den man eigens angelegt hatte. Daher bewahrte Vietinghoff die Gebeine des Freundes ein Vierteljahrhundert lang in einem Koffersarg auf, den er zu seinen verschiedenen militärischen Standorten mitnahm. Nach seiner Verabschiedung vom Militär siedelte sich Vietinghoff 1841 in Berlin an. 1842 wandte er sich mit dem Antrag an den preußischen Kultusminister Johann Albrecht Friedrich von Eichhorn, Friesen in Berlin zur Ruhe legen zu dürfen. König Friedrich Wilhelm IV. stimmte einer Bestattung auf dem Ehrengrabfeld des Invalidenfriedhofs zu. Allerdings verfügte er auch, dass die Beisetzung „mit Vermeidung alles Aufsehens“ geschehen solle, offenbar weil Vietinghoff keinen Nachweis erbringen konnte, dass die Gebeine wirklich Friesens waren und dem preußischen Staat die makaberen Umstände der Umbettung peinlich waren. Das Skelett Friesens wurde sorgfältig zusammengefügt und mit Lorbeerkranz auf dem Schädel in den Sarg gelegt. Die Bestattung fand am 15. März 1843 ohne Vietinghoffs Beisein statt. Das auf Geheiß des Königs vom Kriegsministerium finanzierte, gusseiserne Grabkreuz auf Sandsteinsockel ist in schlichtem Schwarz mit goldenen gotischen Ornamenten und ausführlichen Inschriften gehalten. Gusseiserne Grabkreuze wurden auf dem Invalidenfriedhof häufig verwendet, das Friesen-Kreuz ist aber das einzige erhaltene Beispiel. Die Vorderseite informiert den Betrachter über die Umstände von Friesens Bestattung: „Die Überreste desselben wurden auf seinen früheren Wunsch hierher geführt“. Auf der Rückseite des Kreuzes heißt es: „Früher als Lehrer ein eifriger Begeisterer der Jugend zur Befreiung des Vaterlandes vom Feindesjoch, fiel er als Mitkämpfer unter den Vaterlandsvertheidigern.“ Das Grabmal wurde 1872 und 1931/1934 vom Berliner Turnverein restauriert. Bei der zweiten Restaurierung wurde das Grab mit einer Kettenbarriere umgeben, die jedoch nach 1961 wieder verschwand. Die Nationalsozialisten erklärten die Grabstätte 1938 zum „Staatsgrab“. Das Grabkreuz musste 1990 zur Sicherung im Sportmuseum Berlin eingelagert werden, da es in Ermangelung des Sockels direkt in der Erde steckte und zu verrosten oder gestohlen zu werden drohte. Bei seiner Restaurierung wurde eine in den 1930er Jahren nur provisorisch erfolgte Korrektur von Friesens Lebensdaten mit Messingziffern dauerhaft gemacht. Das am 17. Mai 1991 ohne Kettenbarriere wieder errichtete Kreuz markierte eines der ersten rekonstruierten Gräber des Invalidenfriedhofs. Das Grabmal ist heute als Ehrengrab des Landes Berlin ausgewiesen. Grabstätte Familie von Boyen Generalfeldmarschall Hermann von Boyen war 1814–1819 (wie auch 1841–1847) preußischer Staats- und Kriegsminister. Er gilt als Reformer des preußischen Heereswesens und war für die Einführung der Wehrpflicht in Preußen verantwortlich. Er ist ein weiterer Repräsentant der Befreiungskriege gegen Napoleon, der mit großen Ehren auf königlichen Befehl im Grabfeld C des Invalidenfriedhofs beigesetzt wurde. Eine persönliche Bindung an die Stätte ergab sich dadurch, dass Boyen am Ende seines Lebens kurzzeitig Gouverneur des Invalidenhauses war. Friedrich August Stüler entwarf eine Anlage, die von zwei hohen, schlanken Sandsteinsäulen mit ionischen Kapitellen, letztere verziert mit Eulen, Datteln und Palmetten, dominiert wird. Auf den Plinthen stehen zwei Viktorien mit großen Flügeln, die je einen Kranz nach oben halten. Sie wurden wie die Kapitelle in Bronze gearbeitet, womöglich von Christian Daniel Rauch. Die Säulen ruhen auf den Eckpfosten einer Sandsteinmauer, die auf der Vorderseite fünf Rechteckfelder aufweist, auf denen die Namen und Lebensdaten der hier bestatteten Mitglieder der Familie Boyen aufgetragen sind, mit Hermann von Boyen in der Mitte. Die Grabanlage wird nach vorne umschlossen von einem einfachen Eisengitter, das ein Mittelbeet und einen Kiesweg umschließt; an der Vorderseite ist eine Tür eingelassen. Stüler arbeitete auf der Basis einer persönlichen Entwurfsskizze des Königs, die ein Grabpostament mit Helm und Schwert und vier umgebenden Säulen zeigte. Vielleicht wurde dieser Entwurf stark abgewandelt, weil sich sonst eine Beeinträchtigung der Perspektive auf das Scharnhorst-Denkmal ergeben hätte. Durch Stülers Konzeption wird selbiges von den Säulen des Boyen-Grabs nur eingerahmt und dadurch noch betont. Beide Grabmale zusammen bilden den künstlerischen und optischen Höhepunkt des Invalidenfriedhofs. Bei der aufwändigen Rekonstruktion, die von 1993 bis 2003 durchgeführt wurde, entschloss man sich nach längeren Diskussionen, zahlreiche Veränderungen an der Grabanlage aus dem 20. Jahrhundert rückgängig zu machen. Säulen, Viktorien und das Gitter waren nach Schäden im Krieg 1952 abgebaut worden und gingen verloren. Die Grabwand wurde 1963 versetzt, um Platz für Ehrenbekundungen der Nationalen Volksarmee am Scharnhorst-Grab zu schaffen. Säulen und Viktorien – diese durch den Bildhauer Harald Haacke – wurden inzwischen nach alten Fotos rekonstruiert, beim Gitter konnte dies auf der Basis von Resten geschehen. Die Grabmauer wurde an ihren ursprünglichen Standort versetzt, Schäden wurden ausgebessert. Im Grabfeld setzte man entsprechend dem historischen Erscheinungsbild wieder zwei Linden. Die Grabstätte Hermann von Boyens ist als Ehrengrab des Landes Berlin ausgewiesen. Grabstätte Familie von Rauch Der Auftrag zur Errichtung des Grabmals für Generalleutnant Friedrich Wilhelm von Rauch (1790–1850) und seine Familie geht auf König Friedrich Wilhelm IV. zurück, dessen Generaladjutant Rauch gewesen war. Vielleicht auf der Basis einer eigenhändigen Zeichnung des Königs errichtete Friedrich August Stüler ein spätklassizistisches Grabdenkmal aus Sandstein mit breit gefasster Sockelmauer, auf der eine Ädikula mit Rundbogen aufsitzt. Stüler orientierte sich vermutlich auch an dem Grabmal, das Schinkel, ebenfalls im Auftrag Friedrich Wilhelms (damals noch Kronprinz), für den Historiker Barthold Georg Niebuhr auf dem Alten Friedhof in Bonn entworfen hatte. Im Gegensatz zu Schinkel ließ Stüler die Ädikula, die hier einen altarartigen Vorsatz und im Giebelfirst beidseitig Putten aufweist, jedoch offen. Der Sockel ist mit einer Widmungsinschrift des Königs versehen: „Dem treuen Freunde und tapferen Krieger – Friedrich Wilhelm IV. 1850“. Das Grabmal wird von einem schweren Eisengitter mit mächtigen Pfosten umgeben, das ebenfalls von Stüler entworfen wurde. Vermutlich befand sich in der Ädikula ursprünglich den Vorstellungen Stülers gemäß ein Standbild, das jedoch verloren ging und vor 1925 durch Rauchs erhalten gebliebenes, schlichtes Grabkreuz aus weißem Marmor ersetzt worden ist. Obwohl dies sowohl stilistisch als auch materiell einen Stilbruch darstellt, ergibt sich dadurch doch eine eindrucksvolle Kommunikation mit anderen Marmorkreuzen, die vor dem Stülerschen Denkmal zwischen 1850 und 1950 für Angehörige der Familie von Rauch aus vier Generationen errichtet wurden und die teils auf der ursprünglichen Grabanlage, teils dieser vorgelagert stehen. (In einem nach 1945 angelegten Verzeichnis der Beisetzungen auf dem Invalidenfriedhof ist diese Familie am stärksten vertreten.) Bei den Renovierungsarbeiten in den Jahren 1998 und 1999 wurden am Grabmal Reste einer alten Bemalung in hellem Ocker entdeckt, die vermutlich frühzeitig aufgetragen worden war, um den unterschiedlichen Sandsteinen eine harmonische Gesamterscheinung zu geben. Dies wurde bei der Restaurierung wieder aufgegriffen. Die Stülersche Gittereinfriedung wurde auf der Basis alter Fotos rekonstruiert. Insbesondere die Rückseite des Grabmals weist Spuren der Kämpfe aus, die am Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Invalidenfriedhof stattfanden; diese Schäden sind bei der Rekonstruktion bewusst erhalten geblieben. Grabmal Hans Karl von Winterfeldt Das Grabmal für Hans Karl von Winterfeldt (1707–1757) wurde 1857 im Grabfeld C errichtet. Anlass war der 100. Todestag des preußischen Generals, der bei der Schlacht von Moys im Siebenjährigen Krieg tödlich verwundet worden war. Die Nachkommen hatten eingewilligt, die sterblichen Überreste von der Familiengrabstätte im schlesischen Pilgramsdorf auf den Invalidenfriedhof zu überführen. Die Anlage verbindet klassizistische Elemente wie die vom Scharnhorst-Grabmal übernommene Gitterumfassung mit dem spätbarocken Merkmal des Grabpostaments samt Schmuckbekrönung. Der mehrstufige Sockelunterbau des Winterfeldt-Denkmals aus rötlich-braunem Granit trägt goldfarbene Inschriften. Zu lesen sind neben dem Namen des Toten auf der Vorderseite, seine Geburtsdaten rechts und ein Zitat König Friedrichs II. über Winterfeldt auf der Rückseite: „Er war ein guter Mensch, ein Seelenmensch, ER WAR MEIN FREUND.“ Auf der Rückseite befindet sich auch ein Bronzerelief, das eine Viktoria mit Kriegsattributen zeigt, darunter ein Schild mit einem weiteren Zitat von Friedrich II. („Gegen die Menge meiner Feinde hoffe ich noch Rettungsmittel zu finden, aber einen WINTERFELD finde ich nicht wieder.“) In die Vorderseite des Postaments ist eine medaillonartig umfasste Bronzebüste des Toten eingelassen. Auf dem Sockel erhebt sich ein großer Bronzeaufsatz. In ihn integriert sind Waffen und Siegestrophäen in antikisierender Form und eine umfassende Fahne mit königlichem Monogramm und reich gestaltetem preußischem Adler auf der Rückseite. Der gesamte Bronzeschmuck des Denkmals stammt von dem Bildhauer Generalleutnant Heinrich von Ledebur, der 1912 ebenfalls auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt wurde. Seine Grabstelle in Feld A ist nicht erhalten, wird aber seit 2005 von einem Restitutionsstein markiert. Neben der Grabanlage Winterfeldt ruhen weitere Mitglieder dieser Familie, die zwischen 1940 und 1954 gestorben sind. Grabmal August Ferdinand von Witzleben Postamentgrabmale erfreuten sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Invalidenfriedhof noch großer Beliebtheit. Ein weiteres erhaltenes Beispiel ist das nahe dem Winterfeldt-Grab im Feld C errichtete Grabmal für August Ferdinand von Witzleben (1800–1859), einen königlich preußischen Generalleutnant. Die als Postament gestaltete, sich nach oben verjüngende Stele ist in dunklem Granit gearbeitet. Sie besitzt einen quadratischen Grundriss. Die oberen Enden sind nach dem Vorbild antiker Sakralwerke mit Akroterien versehen. Der bekrönende Bronzeschmuck besteht aus einem preußischen Offiziershelm mit Federbusch, den ein Lorbeerkranz umgibt. Der Bildhauer August Kiß gestaltete das runde, annähernd vollplastische Brustporträt, das in die Front eingelassen ist. Es zeigt Witzlebens Körper in antikisch-idealisierender Nacktheit, während die Kopfpartie naturalistisch formuliert ist. Ein ebenfalls in die Rückseite eingelassenes Tondo und ein das Grabmal ursprünglich umgebendes Gitter sind nicht erhalten. Das Brustporträt wurde 1990 gestohlen, konnte später aber bei einem Sammler ausfindig gemacht werden. Seit der Restaurierung des Grabmals im Jahr 2003 nimmt seinen Platz eine Kopie ein. Der Friedhof zwischen 1900 und 1945 Erster Weltkrieg und Folgen Das Invalidenhaus verlor in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortschreitend an Bedeutung. Immer weniger ehemalige Soldaten wohnten in ihm, immer mehr Grundbesitz musste abgegeben werden. Um Auflagen des Versailler Vertrags zu erfüllen, wurde das Invalidenhaus nach dem Ersten Weltkrieg zur Stiftung erklärt, die nicht mehr dem Heer, sondern in Folge verschiedenen Reichsministerien unterstand. Da aber das Stiftungsvermögen nicht ausreichte, die laufenden Kosten zum Unterhalt der Institution zu tragen, wurden die Gebühren für Gräber auf dem Invalidenfriedhof zu einer zunehmend wichtigen Einnahmequelle. Der Zusammenhang zwischen Begräbnisplatz auf dem Invalidenfriedhof und direkten oder familiären Bindungen der Verstorbenen an Invalidenhaus oder Gnadenkirchengemeinde nahm weiter ab. Nach 1936 musste die Stiftung Invalidenhaus ihren angestammten Sitz an der Scharnhorststraße an das Militär abgeben und nach Berlin-Frohnau umziehen. Der Invalidenfriedhof blieb aber in ihrem Besitz. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Stiftung dann aufgelöst. 119 an der Front gefallene oder in Berliner Lazaretten verstorbene Soldaten wurden während des Ersten Weltkriegs auf dem Invalidenfriedhof bestattet, zumeist in Grabfeld B. Auch einfache Soldaten waren darunter, überwiegend waren jedoch niedrige und mittlere Offiziersränge vertreten. Mehrere im Luftkampf gestorbene Jagdflieger wurden ebenfalls auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt, so – in erhaltenen Gräbern – Erich Bahr (1893–1918), Hans-Joachim Buddecke (1890–1918) und Olivier Freiherr von Beaulieu-Marconnay (1898–1918). Zu den wenigen Offizieren im Generalsrang, die während des Kriegs hier beerdigt wurden, gehörte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Kiew, Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn, der im Juli 1918 in Kiew einem Attentat zum Opfer gefallen war (Grabfeld C). Die Denkmale auf den etwa 25 erhaltenen Grabstellen der Kriegsgefallenen dokumentieren auf eindringliche Weise die unterschiedlichen Umgangsweisen der Angehörigen mit dem Verlust. Zwei Entwicklungen des Jahres 1925 waren entscheidend für die weitere Geschichte des Invalidenfriedhofs und für seine öffentliche Wahrnehmung bis heute als „Militärfriedhof“, „Prominentenfriedhof“ oder gar „Nazifriedhof“: Der langjährige Friedhofinspektor Karl Friedrich Treuwerth hob 1925 in einem Friedhofsführer mit dem programmatischen Titel Der Invalidenfriedhof in Berlin – Eine Stätte preußisch-deutschen Ruhmes vor allem die hier bestatteten Personen hervor, die einen militärischen Hintergrund hatten. Er zählte 22 Kommandanten und Gouverneure des Invalidenhauses, elf Generalfeldmarschälle und Generaloberste, sieben preußische Kriegsminister, neun Admirale, 67 Generale der verschiedenen Waffengattungen, 104 Generalleutnants und 93 Generalmajore. Außerdem erklärte Treuwerth, der Invalidenfriedhof und der benachbarte, ebenfalls im Buch beschriebene Invalidenpark (dessen Gedenksäule die Niederschlagung der Revolution von 1848 feierte) seien „nicht voneinander zu lösen“. Damit stellte er den Friedhof in eine rein militärische und in eine antidemokratische Tradition. Treuwerth wurde 1930 selbst auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Das nicht erhaltene Grab wird seit 2011 von einem Restitutionsstein markiert, der aus Mitteln des Rohdich’schen Legatenfonds finanziert wurde. Auf Betreiben von Reichswehrminister Otto Geßler wurden im November 1925 die sterblichen Überreste des hochdekorierten Jagdfliegers Rittmeister Manfred von Richthofen (1892–1918), genannt „Der Rote Baron“, auf den Invalidenfriedhof umgebettet. Richthofen war im 21. April 1918 im Luftkampf bei Vaux-sur-Somme in Frankreich abgeschossen und 1923 auf einen Militärfriedhof an der Somme umgebettet worden. Die Reichsregierung unter Kanzler Hans Luther wie auch die staatstragenden politischen Parteien bis hin zur oppositionellen SPD sahen die Überführung nach Deutschland und die Anlage einer repräsentativen Grabstätte in der Hauptstadt Berlin offenbar als Möglichkeit an, die militärischen Eliten und nationale Kreise nach der Niederlage im Krieg mit der Weimarer Republik zu versöhnen. Nach einem Trauerakt in der benachbarten Gnadenkirche wurde Richthofen am 20. November 1925 in Form eines Staatsakts im Beisein von Reichspräsident Paul von Hindenburg und zahlreicher geladener Gäste im Grabfeld F beigesetzt. Das Zeremoniell war ausgesprochen militärisch, das Tragen politischer Abzeichen war den Gästen dagegen verboten. Das Deutsche Reich, der Freistaat Preußen und der Berliner Magistrat beteiligten sich an den Kosten der Grablegung. Bei der Weihe dieses Grabs am 28. Oktober 1926 ließ Reichskanzler Wilhelm Marx sich allerdings vertreten, da der veranstaltende „Ring der Flieger e. V.“ Reichswehrminister Geßler nicht zu dem in kleinem Rahmen stattfindenden Festakt eingeladen hatte. Das Grab wurde zur Intensivierung des Heldenkults und Missbrauchs Manfred von Richthofens 1937 neu gestaltet. Hinter der Grabplatte von 1926 erhob sich ein monumentaler Grabstein, der nur den Namen Richthofens in Versalien trug. Trotz der Bedeutung des Friedhofs sollten ab 1925 zahlreiche Gräber eingeebnet werden, wenn die Liegefrist von 30 Jahren abgelaufen war und keine Gebühren für eine Verlängerung aufgebracht wurden. Die Hälfte der Grabstellen auf dem Friedhof war betroffen. Offenbar um den Bestand zu retten, versuchte Treuwerth, die Reichsregierung mit Hinweis auf die Richthofen-Umbettung zu bewegen, den gesamten Invalidenfriedhof als zentrales Ehrenmal „für die Helden aus dem Weltkriege“ ausweisen zu lassen, scheiterte aber in diesem Bemühen. Die Anzahl der Grabstellen halbierte sich bis 1941 von 6000 auf 3000. Die Gräber von Zivilisten waren genauso betroffen wie die von Militärs bis hin zum Generalsrang. Behördliche Bemühungen, den Friedhof im Sinne der Treuwerthschen Formel von einer „Stätte preußisch-deutschen Ruhmes“ zu schützen, sind nicht nachzuweisen. Gleichzeitig kam es weiterhin zu Bestattungen auf dem Friedhof, wenn auch in weit geringerem Umfang als im 19. Jahrhundert. Das gestiegene Ansehen des Friedhofs in nationalen Kreisen führte – insbesondere infolge der Umbettung Richthofens – dazu, dass eine wachsende Zahl von Vertretern der alten kaiserlichen Eliten und des Heeres sich hier um eine Ruhestätte für sich oder ihre Angehörigen bemühte. Zu den bekanntesten Militärs und Teilnehmern des Ersten Weltkriegs, die hier bis August 1939 bestattet wurden und deren Gräber erhalten geblieben sind, gehören Generalfeldmarschall Karl von Bülow (1846–1921), Generaloberst Hans von Beseler (1850–1921), General Max Hoffmann (1869–1927), Generalmajor Richard Schürmann (1881–1931), Admiral Ludwig von Schröder (1854–1933), Generaloberst Ludwig von Falkenhausen (1844–1936), General Theodor Michelis (1872–1936), der ehemalige Chef der Heeresfriedenskommission im Reichswehrministerium, Generaloberst Hans von Seeckt (1866–1936), General der Infanterie Adolf von Oven (1855–1937) und General Friedrich Wilhelm Magnus von Eberhardt (1855–1939). NS-Herrschaft und Zweiter Weltkrieg Die Haltung der Nationalsozialisten zum Invalidenfriedhof war widersprüchlich. Einerseits gab es in der Zeit des Nationalsozialismus Bemühungen, den Ort politisch zu vereinnahmen oder sogar zu einem „Nationalheiligtum“ umzudeuten, wo eine Kontinuität zwischen preußisch-kaiserzeitlicher Militärgeschichte und Drittem Reich deutlich werden sollte. So wurde im Februar 1933 der Charlottenburger SA-Führer Hans Maikowski bei großer Teilnahme von Parteikadern im Grabfeld F beigesetzt, also nahe dem Richthofen-Grab. Als Gauleiter von Berlin hielt Joseph Goebbels die Totenrede. Maikowski war am 30. Januar 1933, dem Tag von Adolf Hitlers Machtübernahme, unter ungeklärten Umständen getötet worden. Er wurde später zum „Blutzeugen der Bewegung“ stilisiert. Am Staatsbegräbnis von Admiral Ludwig von Schröder im Juli 1933 nahm Hitler neben Reichspräsident Hindenburg selbst teil. Andererseits führte das abstrakte Vorhaben, den Friedhof umzugestalten und dabei einzelne Grabstätten nach ideologischen Erwägungen herauszuheben, nur zu wenigen konkreten Maßnahmen. Die Ausweisung des Friesen-Grabs als „Staatsgrab“ im Jahr 1938 blieb eine Ausnahme. Im Zuge der Planungen zur Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ durch den Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, Albert Speer, wurde der Friedhof sogar zur Disposition gestellt. Da er in der Nähe der von Speer konzipierten zentralen Nord-Süd-Achse lag, hätte er wohl der östlichen Randbebauung eines 1200 m × 400 m großen Wasserbeckens weichen müssen, das nördlich des Spreebogens entstehen sollte. So war im Bereich nördlich der Invalidenstraße ein monumentaler Neubau für das Oberkommando der Kriegsmarine vorgesehen. Andere Berliner Friedhöfe waren ebenfalls bedroht. Daher reiften Pläne, Grabdenkmale einzelner Persönlichkeiten von verschiedenen Friedhöfen in eine große „Soldatenhalle“ zu überführen. Sie sollte nach Plänen des Architekten Wilhelm Kreis entstehen. Ernst von Harnack, Speers „Gräberkommissar“, präsentierte in einer 1940 bis 1943 erarbeiteten Denkschrift eine entsprechende Vorschlagsliste für den Invalidenfriedhof. Die Grabdenkmale sollten nach Harnacks Vorstellung allerdings im Ehrenhof des Invalidenhauses neu aufgestellt werden. 1936 wurde im Grabfeld F Wolfgang Fürstner (1896–1936), stellvertretender Kommandant des Olympischen Dorfs bei den Olympischen Sommerspielen 1936, beigesetzt. Fürstner hatte erfahren, dass er aufgrund der Nürnberger Gesetze als Jude eingestuft und aus der Wehrmacht entlassen werden sollte. Er erschoss sich am 19. August 1936 – drei Tage nach Ende der Olympischen Spiele. Um Schaden für das internationale Ansehen Deutschlands abzuwenden, wurde der Tod als Unglücksfall hingestellt und der Tote erhielt eine Bestattung auf dem Invalidenfriedhof. Das Grab wurde auch in den Friedhofsführer Der Invalidenfriedhof in Berlin – Ein Ehrenhain preußisch-deutscher Geschichte aufgenommen, der zwischen 1936 und 1940 in mehreren Auflagen erschien. Die rund 30 auf dem Invalidenfriedhof erhaltenen, in der Regel sehr schlichten Soldatengräber des Zweiten Weltkriegs dokumentieren die gesamte Zeitspanne des Kriegs. Der in Grabfeld A bestattete Kommandeur des Artillerie-Regiments Nr. 66, der Schriftsteller Major Wilhelm Kleinau (1896–1939), fiel am 1. September 1939, dem ersten Kriegstag. Major Friedrich Dziobek (1878–1945), beigesetzt in Grabfeld B, starb am 28. April 1945 bei den Kämpfen in Berlin. Einige Grabstellen erinnern an vermisste Soldaten, so die Erwähnung des Militärarztes Dr. Martin Schlegel (1898–1943?) in Grabfeld B auf dem Grabstein seines Vaters, des Feldbischofs Erich Schlegel. Schlegel starb vermutlich in der Schlacht von Stalingrad Anfang 1943. Die genaue Zahl der zwischen 1939 und 1945 angelegten Soldatengräber konnte bisher nicht ermittelt werden. Zu den bekanntesten im Krieg gestorbenen Militärs, die auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt wurden, gehören der frühere Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner von Fritsch (1880–1939), der Kommandeur des Kampfgeschwaders 77, Generalmajor der Luftwaffe Wolff von Stutterheim (1893–1940), der Kommandeur der 18. Infanterie-Division, Generalleutnant Friedrich-Carl Cranz (1886–1941), der Marinebefehlshaber Westfrankreich, Vizeadmiral Lothar von Arnauld de la Perière (1886–1941), der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall Walter von Reichenau (1884–1942) sowie der Staffelführer im Jagdgeschwader „Udet“, Leutnant der Luftwaffe Hans Fuss (1920–1942). Ihre Grabstellen sind erhalten. Die Stelle des geschleiften Grabs von Hitlers Chefadjutanten, Generalleutnant Rudolf Schmundt (1896–1944), der an den Folgen seiner beim Attentat vom 20. Juli 1944 erlittenen Verletzungen gestorben war, markiert inzwischen ein Restitutionsstein. Am Staatsakt für den General der Artillerie und Leiter des Heereswaffenamts Karl Becker (1879–1940) mit anschließender Beisetzung auf dem Invalidenfriedhof nahm auch Hitler teil. Becker hatte sich erschossen, nachdem er für Munitionsengpässe verantwortlich gemacht worden war. Sein Grabmal ist nicht erhalten. Im November 1941 ordnete Hitler ein aufwendiges Staatsbegräbnis auf dem Invalidenfriedhof für Generaloberst Ernst Udet (1896–1941) an, den Generalluftzeugmeister und Chef des Planungsamts der Luftwaffe im Reichsluftfahrtministerium. Wie bei Wolfgang Fürstner und Karl Becker sollte die Tatsache verschleiert werden, dass Udet („Des Teufels General“), nach Richthofen der bekannteste deutsche Flieger des Ersten Weltkriegs, Selbstmord begangen hatte. Der Jagdflieger Werner Mölders (1913–1941), der zur Teilnahme an der Beisetzung beordert worden war, starb am 22. November 1941 in Breslau beim Absturz seines Flugzeugs auf dem Weg nach Berlin. Udet und Mölders wurden in unmittelbarer Nähe Richthofens und Stutterheims in Grabfeld F beigesetzt. Ihre in Mauerzeiten abgeräumten, benachbarten Gräber wurden in den 1990er Jahren wieder angelegt. Im Jahr 1942 wurden mit großen Ehren zwei führende Vertreter des NS-Regimes auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Der Reichsminister für Bewaffnung und Munition sowie Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, Fritz Todt (1891–1942), war im Februar bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Hitlers Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ ums Leben gekommen. Der Leiter des Reichssicherheitshauptamts und Beauftragte für die Durchführung des Holocaust, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich (1904–1942), war Anfang Juni in Prag den Folgen eines von tschechischen Widerstandskämpfern verübten Attentats erlegen. Beide erhielten nur einen einfachen Grabschmuck aus Holz, da sie nach Hitlers Wunsch später in einen monumentalen Rahmen umgebettet werden sollten, Todt in ein „gewaltiges Grabmal“ bei Irschenberg an der Reichsautobahn München–Chiemsee, Heydrich in die geplante „Soldatenhalle“. Der Historiker Laurenz Demps wertet, dass vor allem „die Beisetzung Heydrichs, dessen sterbliche Überreste nicht entfernt wurden, eine besonders schwere Last“ sei, die auf dem Invalidenfriedhof liege. Beide Grabstellen sind heute nicht mehr markiert. Auf dem Invalidenfriedhof wird an zwei Grabstellen ermordeter Mitglieder des militärischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus gedacht. An einem Familiengrab in Feld D erinnert eine Gedenktafel an den an unbekannter Stelle ruhenden Oberstleutnant Fritz von der Lancken (1890–1944). Dieser hatte seine Wohnung Claus Schenk Graf von Stauffenberg für Besprechungen zur Verfügung gestellt und den für das Attentat vom 20. Juli bestimmten Sprengstoff aufbewahrt. Von der Lancken wurde am 29. September 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am selben Tag in der Haftanstalt Plötzensee hingerichtet. In Grabfeld A liegt Oberst der Luftwaffe Wilhelm Staehle (1877–1945) begraben, der als Mitglied des Widerstands am 23. April 1945 von der Gestapo erschossen wurde. Da er letzter Kommandant des Invalidenhauses gewesen war, konnte seine Witwe eine Beisetzung auf dem Invalidenfriedhof erwirken. In den letzten Kriegstagen wurde auf dem Invalidenfriedhof gekämpft. Es entstanden Schäden an vielen Grabstellen, die zum Teil heute noch zu sehen sind, so an der Rückwand des Stülerschen Grabdenkmals für Friedrich Wilhelm von Rauch und an Gräbern in Feld A. In einem Massengrab wurden 31 Tote beigesetzt, vermutlich zivile Opfer der Kriegshandlungen, die in mehreren Krankenhäusern der Umgebung gestorben waren. Grabdenkmale der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die erhaltenen Grabdenkmale aus dem 20. Jahrhundert reichen künstlerisch nicht an die bedeutenden Monumente der Ära Schinkel und Stüler heran. In den meisten Fällen handelt es sich um standardisierten Grabschmuck, der keine individuelle künstlerische Gestaltung verrät. Eine Hervorhebung findet vor allem durch das gewählte Material (Marmor, Granit, Muschelkalkstein) und durch die Größe statt. Barocke oder klassizistische Formen erinnern als Nachklang an eine vergangene Zeit. Die kunstvoll gearbeiteten Grabgitter, die zuvor um viele Grabstellen angelegt worden waren, wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts langsam verdrängt durch konventionellere Pfosten-Ketten-Kombinationen. Beide Varianten verschwanden nach 1939 fast vollständig vom Invalidenfriedhof. Man baute sie zur Metallbeschaffung im Krieg ab oder sie fielen späterer Zerstörung beziehungsweise Diebstahl anheim. Als später Vertreter der üppigeren Grabmalskunst des 19. Jahrhunderts kann das neuklassizistische Mausoleum der Familie Voigts-Rhetz angesehen werden. Es entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in Feld A. Allerdings präsentiert sich das letzte erhaltene Mausoleum des Invalidenfriedhofs als insgesamt nüchterner Bau. In ihm steht ein dem Jugendstil zuzurechnender Marmorengel in kniender Haltung mit zum Gebet gefalteten Händen. Der Engel gehörte früher zum Grab des preußischen Generals und Kriegsministers Julius von Verdy du Vernois (1832–1910) in Feld F. Dieses Grab ist in den 1960er Jahren abgeräumt worden. Auch der Schmuck einiger weiterer Gräber aus dem frühen 20. Jahrhundert ist dem Jugendstil verpflichtet. Hinzuweisen ist hier beispielhaft auf einen weiteren Marmorengel, der in Feld C das mächtige Grabkreuz von Eduard Julius Ludwig Nolte (1859–1908) ziert, Generaldirektor der Neuen Gas-AG. Das Grab des im Ersten Weltkrieg getöteten Jagdfliegers Hans-Joachim Buddecke in Feld B ist modernistisch gestaltet. Dies ist ungewöhnlich für den Invalidenfriedhof. Das expressionistisch beeinflusste Grabdenkmal entwarf der Jenaer Künstler und Kunstpädagoge Christoph Natter. Eine lange Stele läuft hier in einem stilisierten Greifvogel aus. Das versteht sich als Anspielung auf Buddeckes Ehrennamen „El Schahin“ („Der Jagdfalke“), der ihm in der Zeit seiner Stationierung in der Türkei 1915/1916 verliehen worden war. Wachsender Beliebtheit als Grabsteine erfreuten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts Findlinge. Sie zeigten außer Namen und Lebensdaten der Toten nur sehr zurückhaltend Beschriftungen oder gestalterische Merkmale. Auffallend ist hier der Gedenkstein für die Fliegerin Marga von Etzdorf (1907–1933), die im Mai 1933 in Syrien den Freitod wählte. Der Stein trägt eine von ihr selbst gewählte Inschrift: „Der Flug ist das Leben wert“. Der Findling auf dem Grab des 1929 tödlich verunglückten Fliegers Joachim von Schröder (1885–1929) trägt an der Vorderseite die Inschrift: „Er starb den Fliegertod im Dienste seines Volkes“. Außerdem sind dort ein Eisernes Kreuz und das bekannte Kranichsignet der frühen Lufthansa eingelegt. Eine rechteckige Gedenktafel erinnert an Ludwig von Schröder, der 1933 neben seinem Sohn bestattet wurde. Bei den Metallverzierungen handelt sich um Kopien, die bei der Restaurierung des Grabsteins nach 2011 angebracht wurden. Auf die Rekonstruktion eines großen Bronzeadlers, der einst auf der Spitze des Findlings montiert war, wurde dabei allerdings verzichtet. Metallschmuck auf Gräbern des Invalidenfriedhofs wurde nach 1945 häufig entwendet oder verschwand auf andere Weise. Ein weiterer mächtiger Findling auf dem Grab des Theologen Ernst Troeltsch (1865–1923) ging nach 1945 ganz verloren. Die Grabstelle in Feld B wird heute von einem Restitutionsstein markiert. Außer Findlingen wurden auch schwere Stein- oder Marmorplatten gewählt, die die Grabmale zum Teil scheinsarkophagartig abdeckten. Sie sieht man beispielsweise noch auf den Gräbern von Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen (1833–1913), Namensgeber des „Schlieffen-Plans“, von Werner von Fritsch, von Wolff von Stutterheim, von Lothar von Arnauld de la Perière und vom Luftfahrtpionier Carl August von Gablenz (1893–1942). Auch die Platte auf Gablenz’ Grab schmückt eine dezente Version des Kranichzeichens der von ihm mitbegründeten Lufthansa. Der voluminöse Hochkenotaph Hans von Seeckts und das für die Zeit ungewöhnliche Postament aus Muschelkalkstein für Ludwig von Falkenhausen, beide auf 1936 angelegten Gräbern zu finden, stehen in der Nähe der Schinkel- und Stüler-Werke in Feld C. Beide Grabdenkmale stammen von den Bildhauern Hans Dammann und Heinrich Rochlitz. In ihnen manifestiert sich die Erwartung an den Betrachter, die Toten in der Tradition der hier geehrten preußischen Feldherren zu sehen. Bei der im 20. Jahrhundert abnehmenden Verwendung solch repräsentativen Grabschmucks spielte auch materielle Not in der Folge zweier verlorener Weltkriege eine Rolle. In solchen Zeiten kam es auf Berliner Friedhöfen auch zur Zweitverwertung älterer Denkmale. Ein Beispiel ist das in Feld A gelegene Grab von Eleonore von Bibow (1923–1945), die in den letzten Kriegstagen einem alliierten Bombenangriff zum Opfer gefallen war. Der Bruder der Toten hatte die kleine Marmorstele mit Puttenköpfen an einem Familiengrab andernorts abgebaut und auf dem Invalidenfriedhof neu errichtet. Die seit 1945 angelegten Grabstellen sind fast ausnahmslos unauffällig geschmückt. Aber auch Grabmale des frühen 20. Jahrhunderts, die noch größeren Aufwand verraten, sind zumeist vornehmlich aufgrund des durch sie dokumentierten zeit- und kulturgeschichtlichen Hintergrunds und der Biografie der Toten von Interesse, nicht als individuelle Kunstwerke. Grabmal Julius von Gross Ein bemerkenswertes Grabdenkmal aus dem frühen 20. Jahrhundert ist das des königlich preußischen Generalmajors Julius Karl von Groß genannt von Schwarzhoff (1850–1901) in Grabfeld D. Dieser hatte während des Boxeraufstands in China als Chef des Generalstabs beim Armee-Oberkommandanten in Ostasien Alfred von Waldersee gedient. Er starb am 17. April 1901 während eines Brands im kaiserlichen Winterpalast in Peking, dem Hauptquartier der deutschen Expeditionstruppen. Gross hatte versucht, Akten vor den Flammen zu retten. Die den Eklektizismus des Jugendstils spiegelnde Stele aus grauem Granit enthält auf der Vorderseite in einer Rundbogennische eine Bronzeskulptur. Sie wurde vom Bildhauer Otto Feist in spätklassizistisch-naturalistischer Manier gestaltet und zeigt den Kampf des Erzengels Michael gegen den Drachen als Allegorie des Kampfes der westlichen Mächte gegen die Chinesen. Rechter Arm und Speer des Erzengels gingen durch Metalldiebstahl nach 1945 verloren. Die Rückseite des Denkmals nennt die „vereinsamte Mutter u. Schwester“ des Toten als Stifter. Der dort ebenfalls zu lesende biblische Spruch „Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein“ (1 Mose 12.2) wird umrankt von den Wappenfiguren jener elf Orte, die mit der Biografie des Toten in besonderer Verbindung standen, darunter ein Bär für Berlin und ein Drache für Peking. Es sind keine Fotos überliefert, die das ursprüngliche Erscheinungsbild des Grabdenkmals dokumentieren. Daher wurde bei der 2002 durchgeführten Restaurierung darauf verzichtet, den verlorenen Arm des Erzengels und den Speer zu rekonstruieren. Grabmal Max Hoffmann Das Grabmal von Generalmajor Max Hoffmann (1869–1927), Chef des Generalstabs Ober Ost im Ersten Weltkrieg und Leiter der deutschen Delegation bei den Waffenstillstandsverhandlungen von Brest-Litowsk, wurde von dessen Freund Arnold Rechberg entworfen. Es wird dominiert von einer auf einem gesockelten Kubus aufgesetzten monumentalen Skulptur, die einen auf einem Felsen sitzenden, fast nackten Jüngling zeigt. Rechberg hatte das von Auguste Rodin beeinflusste Werk 1906 als Gipsmodell unter dem Titel „Resignation Humaine“ beim Pariser Salon eingereicht. Der Bronzeabguss wurde 1929 auf dem Grabmal errichtet. Auf der Rückseite des Kubus sind Schlachtorte aus Hoffmanns militärischer Karriere (Tannenberg, Masurische Seen, Lyck und Augustow) sowie dessen Ehrenbürgerschaft in der Heimatgemeinde Homberg an der Efze genannt. Das Grabfeld wird umgeben von einer Brüstung aus Muschelkalkstein. Für den Freund und sich hatte Rechberg eine Grabstelle auf dem Grabfeld E am westlichen Rand des Friedhofs erworben und mit der Friedhofsverwaltung einen Pachtvertrag bis zum Jahr 2100 abgeschlossen. Sein Antrag aus dem Jahr 1942, dort bestattet zu werden, wurde von den Nationalsozialisten wegen unliebsamer politischer Aktivitäten Rechbergs (er war zeitweilig im Konzentrationslager Dachau interniert) jedoch abgelehnt. Rechberg starb 1947 und wurde in Bad Hersfeld beigesetzt. Vermutlich schon beim Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 war das Grabmal Hoffmanns ins Grabfeld C versetzt, gleichzeitig wohl eine Widmungsinschrift Rechbergs entfernt worden. Da der ursprüngliche Standort anhand verbliebener Fundamentreste identifiziert werden konnte, wurde das Grabmal nach der Restaurierung im Jahr 2002 zurück ins Grabfeld E versetzt. Grabmal Hans von Seeckt In Feld C befindet sich das repräsentative Grabmal von Generaloberst Hans von Seeckt (1866–1936), von 1920 bis 1926 Chef der Heeresleitung der Reichswehr und zuletzt Militärberater in China. Es zeigt den Bedeutungswandel zum „Nationalheiligtum“, den der Invalidenfriedhof in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr. Die Bildhauer Hans Dammann und Heinrich Rochlitz gestalteten einen schräg aufragenden Hochsarkophag aus poliertem Granit mit mächtiger bronzener Deckplatte. Auf ihr finden sich erhaben ausgearbeitet das Seecktsche Familienwappen, Ehrenzeichen und die martialische Inschrift „Über Gräber vorwärts“. Beim Schmuckbeiwerk des Grabmals griffen die Künstler auf nationale Insignien wie Eisernes Kreuz, Eichenlaubfries und Adler zurück. Die Flügel der an den hinteren Ecken des Sarkophags positionierten Greifvögel sind so geschwungen, dass sie die Deckplatte abzustützen scheinen. Ihre Gestaltung ist beeinflusst von der stilisierten Emblemkunst der Weimarer Republik. Gleichzeitig erinnern sie an altägyptische Todessymbole. Das Grabdenkmal wurde 1997 aufwendig rekonstruiert. Der Granitsarkophag war nur noch teilweise erhalten, die Deckplatte fehlte. Die Wiederherstellung erfolgte auf der Basis von Fragmenten des Sarkophagkörpers und von Fotografien der Deckplatte. Die Arbeiten wurden zum Teil von überlebenden Angehörigen des 67. Infanterie-Regiments finanziert, das Seeckt einst kommandiert hatte. Der Friedhof zwischen 1945 und 1990 Entwicklungen bis 1961 Als Eigentum der aufgelösten Stiftung wurde der Invalidenfriedhof nach Kriegsende zunächst der Groß-Berliner Grundstücksverwaltung AG unterstellt. Diese bezahlte Angestellte sowie die Bewirtschaftung des Geländes und nahm Gebühren für weiterhin stattfindende Bestattungen ein. Es sind keine Bemühungen nachweisbar, Kriegsschäden systematisch zu beseitigen. Das Holzkreuz auf dem Grab von Reinhard Heydrich wurde entfernt; es ist nicht belegt, dass bzw. ob dies auf amtliches oder alliiertes Geheiß hin geschah. Ein Alliierter Kontrollrats­beschluss vom 17. Mai 1946, der die Entfernung aller „militaristischen und nationalsozialistischen Denkmäler“ auch von Friedhöfen verlangte, hatte offenbar keine großen Konsequenzen für den Invalidenfriedhof. So blieben beispielsweise die Grabmale von Hans Maikowski und Fritz Todt noch bis in die 1950er-Jahre erhalten. 1950 ging der Invalidenfriedhof in die Verwaltung des Bezirksamts von Berlin-Mitte über. Der Berliner Magistrat beschloss, ab 1. Mai 1951 keine weiteren Bestattungen mehr zuzulassen. Dieser Beschluss erfolgte wohl wegen des vermeintlich militaristischen Charakters des Friedhofs und weil dieser immer weniger genutzt wurde. Ein weiterer Grund könnte der zunehmend schlechte Zustand der Anlage gewesen sein, für deren Unterhaltung das Bezirksamt nicht aufkommen wollte. Aufgrund einer Eingabe des angesehenen Gynäkologen Walter Stoeckel, der neben seiner 1946 verstorbenen Frau auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt werden wollte, wurde der Beschluss 1952 modifiziert. In Einzelfällen durften Ehepartner in den folgenden Jahren weiterhin in bereits existierenden Familiengräbern bestattet werden. Stoeckels eigene Beisetzung im Februar 1961 ist eine der letzten, die für den Invalidenfriedhof nachgewiesen werden kann. Auch nach dem Mauerbau (August 1961) kam es noch zu einzelnen Beisetzungen. Unter den erhaltenen Gräbern finden sich drei, die nach dem Mauerbau angelegt wurden. Alice Wallis (1895–1968) wurde im Familiengrab im Grabfeld D beigesetzt, wo auch eine Gedenktafel an ihren von den Nationalsozialisten hingerichteten Bruder Fritz von der Lancken (1890–1944) erinnert. Johanna Jenny von Jagow-Laberwisch (1890–1972) wurde im Grabfeld C bestattet. Im Dezember 1989 durfte Gotthard von Wallenberg Pachaly neben seiner bereits 1949 gestorbenen Ehefrau Sigrid im Grabfeld B beigesetzt werden. Beschädigte Grabstellen oder solche mit abgelaufener Liegefrist (vor 1926 bei Erwachsenen und vor 1936 bei Kindern unter 12 Jahren) wurden ab 1951 abgeräumt und an ihrer Stelle Rasenflächen angelegt. Gleichzeitig gab es interne Debatten zwischen Repräsentanten der Friedhofsverwaltung, dem Instituts für Denkmalpflege, der SED-Parteistellen und des Museums für Deutsche Geschichte, welche Gräber aufgrund der historischen Bedeutung der dort Bestatteten erhalten und gepflegt werden sollten. Weil keine endgültigen Beschlüsse diesbezüglich gefasst wurden (Einigkeit herrschte nur beim Wunsch zur Erhaltung des Grabmals Scharnhorst), erfolgte die Pflege solcher Grabstätten in den folgenden Jahren ungeregelt und auf Eigeninitiative von Friedhofsverwaltung und Privatpersonen. Zerstörungen infolge des Mauerbaus Die eigentliche Zerstörung des Invalidenfriedhofs begann mit dem Bau der Berliner Mauer durch die DDR 1961. Am Westufer des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals verlief die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Ab November 1961 galten daher Einschränkungen für das Betreten des Friedhofs; Besucher mussten bei der Friedhofsverwaltung Berechtigungsmarken beantragen. Je weiter die Grenzanlagen ausgebaut wurden, desto mehr nahmen die Zerstörungen auf dem Invalidenfriedhof zu. Als vordere Grenzmauer diente hier die aus Ziegelmauerwerk bestehende alte Friedhofsmauer aus dem Jahr 1902, auf die ein Zaun aufgesetzt wurde. Die Lücke in der Mitte der Mauer wurde beseitigt, die dort stehende „Königslinde“ (benannt nach König Friedrich II., der bei Invalidenhausbesuchen an der betreffenden Stelle gerastet haben soll), wurde gefällt. Im davor gelegenen Bereich bewachten Boote den zu Ost-Berlin gehörenden Schifffahrtskanal. Auf den Grabfeldern E, F und G wurde ein Todesstreifen mit Wachtürmen, Kontrollstreifen, Lichttrasse und einer Laufanlage für Wachhunde sowie einer Betontrasse („Kolonnenweg“) angelegt. Störende Grabsteine auf dem Grenzstreifen wurden abgeräumt und zunächst auf anderen Teilen des Friedhofs abgelegt, später ganz beseitigt. Zu den wenigen sachgemäß versetzten Grabmalen gehörte das von Max Hoffmann (1869–1927), das von Grabfeld E in Grabfeld C verlegt wurde. Der Grenzstreifen wurde vom restlichen Friedhof durch eine erst aus Stacheldrahtzaun, ab 1975 aus Betonplatten bestehende „Hinterlandsicherung“ abgetrennt. 1967 war etwa ein Drittel des Friedhofs eingeebnet, darunter auch Grabmale, die hinter der eigentlichen Sperrzone lagen. Wertvolle Grabgitter wurden abgebaut und anderorts wieder verwendet. Sporadische Einwände des Denkmalschutzes konnten sich gegen die Forderungen der Grenzsicherungstruppen nach Übersichtlichkeit des Geländes und nach Schussfreiheit nicht durchsetzen. 1971 entstand im nördlich der Grabfelder A und B gelegenen Grabfeld I auf Beschluss des Ministerrats der DDR eine Garage mit 40 Stellplätzen und eine Waschhalle. Das Grabfeld wurde komplett eingeebnet; es gehört heute nicht mehr zum Friedhofsgelände. In den Jahren 1972–1975 wurden weitere Grabstellen niedergelegt oder anonym verlagert. Zerstört wurde so auch das von den Architekten Hermann Ende und Wilhelm Böckmann errichtete spätklassizistische Mausoleum des Baumeisters Carl Rabitz in Feld E. Auch das benachbarte Grab von Manfred von Richthofen wurde beseitigt, dessen sterbliche Überreste auf Antrag seiner Familie nach Wiesbaden umgebettet. Die verbliebene Vegetation im Grenzstreifen wurde entfernt. Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die den Invalidenfriedhof 1978 besuchten, machten folgende Beobachtungen: Nur die Gräber von Repräsentanten der Freiheitskriege wie Scharnhorst, in dessen Nachfolge sich die Nationale Volksarmee der DDR sah, und Friesen verhinderten vermutlich die völlige Zerstörung des Invalidenfriedhofs. So erklärt sich auch der Widerstand des Ost-Berliner Denkmalschutzes gegen den seit den 1960er Jahren mehrfach vorgebrachten Vorschlag, das Scharnhorst-Grabmal vom Invalidenfriedhof auf einen öffentlichen Platz zu verlegen. Nach dem Erlass eines neuen Denkmalpflegegesetzes 1975 und dem Einsturz des Witzleben-Denkmals im Jahr 1984 gab es zwar erneute Bemühungen, verbliebene Grabstätten zu schützen; erstmals wurden so die entstandenen Schäden fotografisch dokumentiert. Dennoch verhinderte der Widerstand der Grenzsicherungstruppen bis 1989, dass umfassende Maßnahmen zum Schutz des Bestands ergriffen wurden. Von den 3000 Grabstellen, die 1961 noch existierten, waren 1989 noch etwa 230 übrig. Tote am Grenzabschnitt Invalidenfriedhof In den Jahren der Teilung Berlins gab es mehrere schwere Zwischenfälle am Grenzabschnitt Invalidenfriedhof, wo der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal in voller Breite zu Ost-Berlin gehörte. Mindestens fünf Menschen starben – drei West-Berliner, ein DDR-Flüchtling und ein DDR-Grenzposten: Wolfgang Röhling Wenige Tage nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 beendete ein unbekannter Volkspolizist einen Streit mit West-Berliner Jugendlichen um das Baden im Kanal, indem er über den Kanal hinweg den fünfzehnjährigen Wolfgang Röhling mit einem gezielten Kopfschuss tötete. Peter Göring Zum bis dahin dramatischsten Grenzzwischenfall nach Errichtung der Berliner Mauer kam es am 23. Mai 1962. DDR-Grenzsoldaten schossen auf den im Kanal schwimmenden 14-jährigen Schüler Wilfried Tews, der in den Westen fliehen wollte. Als West-Berliner Polizisten das Feuer erwiderten, traf ein Querschläger tödlich den Gefreiten der Grenztruppen Peter Göring. Tews konnte von West-Berliner Polizisten gerettet werden, trug aber bleibende Schäden davon. Die DDR feierte Göring als Märtyrer; Straßen, Schulen und Kasernen wurden nach ihm benannt. Walter Heike Am 22. Juni 1964 erschoss ein Grenzsoldat der DDR auf dem Invalidenfriedhof den 29-jährigen Flüchtling Walter Heike, der sich trotz Warnschüssen eines Mitarbeiters der Staatssicherheit nach Überquerung des Friedhofs an der Mauer zum Kanal hochzog. Heike starb an einem Bauchdurchschuss. Paul Stretz Am 29. April 1966 erschossen DDR-Grenzsoldaten den West-Berliner Paul Stretz. Der 31-jährige Mitarbeiter einer Spedition, die auf westlicher Seite am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal lag, feierte nachmittags mit Kollegen den Zahltag. Bei sonnigem Wetter wollte er sich im Kanalwasser erfrischen. Die Warnung eines West-Berliner Zollbeamten, der Kanal gehöre zu Ost-Berlin, kam zu spät. Der im Wasser des Kanals badende Stretz wurde vom Wachturm auf dem Invalidenfriedhof aus tödlich getroffen. Heinz Schmidt Am 29. August 1966 erschossen DDR-Grenzsoldaten den im Kanal schwimmenden West-Berliner Heinz Schmidt. Er war vom Nordhafen aus in den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal geschwommen. Nachdem er wegen auf ihn abgegebener Schüsse der DDR-Grenzsoldaten am östlichen Ufer in Deckung gegangen war, stieg er wieder ins Wasser, um zum Nordhafen zurückzuschwimmen. Dabei trafen ihn auf Höhe des Invalidenfriedhofs mehrere Schüsse der Grenzsoldaten, die dabei Zurufe von West-Berliner Seite, Schmidt sei betrunken, ignorierten. Schmidt konnte auf der westlichen Seite geborgen werden, wo kurz darauf sein Tod festgestellt wurde. Erhaltung und Rekonstruktion seit 1990 Noch vor der deutschen Wiedervereinigung wurde der Friedhof mit den erhaltenen Grabmälern und Resten der Berliner Mauer 1990 unter Denkmalschutz gestellt. Seither beteiligen sich verschiedene Institutionen, ehrenamtliche Helfer und private Spender daran, das Vorhandene zu restaurieren und denkmalpflegerisch zu betreuen. Erklärtes Ziel ist es, sich dem ursprünglichen Erscheinungsbild anzunähern, ohne die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts zu verleugnen. Bis Mitte 2012 konnten so 124 Grabstätten restauriert bzw. rekonstruiert werden. Die mit bräunlichem Kies befestigten Hauptwege wurden 1992/1993 bzw. 2000 wiederhergestellt, auch im Bereich des ehemaligen Grenzstreifens, wo heute kaum noch Grabstellen existieren. Zusätzlich wurden auch einige Nebenwege rekonstruiert, vor allem im Grabfeld C. Die Wege werden seitdem wieder von Linden gesäumt. Dabei hat man den an den erhaltenen Stümpfen erkennbaren unregelmäßigen Abstand zwischen den Bäumen eingehalten. Die Friedhofsmauer wurde in der ursprünglichen Form rekonstruiert, im freigelassenen mittleren Bereich wieder eine neue „Königslinde“ angepflanzt. Die erhaltenen Abschnitte der Hinterlandmauer wurden 2003 sorgsam restauriert. Allerdings übertrug man dabei die typische Bemalung auf der dem Grenzstreifen abgewandten Seite (weiße Rechtecke mit grauer Rahmung) auch auf die Grenzseite, die zu Mauerzeiten auf dem Invalidenfriedhof durchgehend weiß war. Auch der 1975 im Grenzbereich angelegte, erst betonierte, später asphaltierte „Kolonnenweg“ blieb erhalten bzw. wurde ergänzt. Über (nicht historische) Friedhofseingänge im Norden und Süden ist dieser an den Geh- und Radweg entlang des Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanals angebunden. Der materielle und farbliche Gegensatz zwischen „altem“ und „neuem“ Wegesystem ist im Grabfeldbereich E, F und G zu beobachten. Die abgeräumten Grabfelder wurden mit neuen Rasenflächen bepflanzt. Der „Kolonnenweg“ auf dem Invalidenfriedhof ist heute Teil des zwischen 2002 und 2006 unter Verantwortung der Senatsverwaltung angelegten Berliner Mauerwegs, der auf 160 Kilometer den ehemaligen Grenzverlauf zwischen West-Berlin und Ost-Berlin beziehungsweise der DDR markiert. Er darf auch im Friedhofsbereich mit dem Fahrrad befahren werden. Seine Neuasphaltierung im Abschnitt Invalidenfriedhof rief 2008 Kritik hervor, weil dabei „Original-Spuren der Berliner Mauer“ verschwanden. In der Nähe des Invalidenfriedhofs erinnert eine Tafel der Geschichtsmeile Berliner Mauer an einen gescheiterten Fluchtversuch im Jahr 1963 bei der Sandkrugbrücke, eine weitere am Alexanderufer an den erschossenen Günter Litfin. Ein Problem bereitete nach 1989 der Wunsch von Familien, die größtenteils gar nicht mehr markierten Gräber ihrer Vorfahren und Verwandten wieder würdig zu gestalten, dabei jedoch auf heutige, nicht auf historische Gestaltungsformen, etwa bei Grabsteinen, zurückzugreifen. Dies gilt beispielsweise für das Grab von Werner Mölders, wo seit 1990 eine schwere Granitplatte das in den 1950er-Jahren entfernte, schlichte Holzkreuz ersetzt, das die Grabstelle ursprünglich markierte. Aus der Befürchtung heraus, der Invalidenfriedhof könnte zu einem Anziehungspunkt nationalistischer und rechtsextremer Gruppierungen werden, die einzelne Grabstätten hervorheben wollten, beschloss der aus Berliner Senatsvertretern, Fachleuten und Familienangehörigen bestehende „Gesprächskreis Invalidenfriedhof“ 1991, gänzlich verlorene Grabsteine und -denkmale sollten nicht rekonstruiert werden. Stattdessen ist es erlaubt, einheitlich gestaltete Gedenksteine (Kissensteine als sog. „Restitutionssteine“ mit 60 cm × 60 cm Größe) auf identifizierte Grabstellen zu legen. In Fällen, bei denen keine Verwandten zur Finanzierung eines Kissensteins bereitstehen, eine Ausweisung der Grabstelle aber aufgrund der Bedeutung der Toten geboten erscheint, bemüht sich der Förderverein Invalidenfriedhof, Stifter zu gewinnen. Auch das nicht erhaltene Grab von Wolfgang Fürstner in Grabfeld F wird von einem solchen Stein markiert; er wurde 2002 von NOK-Präsident Walther Tröger eingeweiht. Seitlich an den Kissensteinen angebrachte Plaketten nennen das Restitutionsjahr und teilweise die Stifter. Bis Mitte 2012 wurden 83 Grabstellen in dieser Weise restituiert. Unmittelbar auf dem Boden liegende Steine haben sich dabei als anfällig für Flechten und Moose erwiesen, insbesondere bei nicht geglätteten Oberflächen. Die Beschriftung auf einigen nach 1991 platzierten Kissensteinen ist daher inzwischen schwer zu entziffern. Bei nach 2000 gelegten Restitutionssteinen sind zunehmend glatte Oberflächen zu finden; zudem sind die Steine nun häufig von Platten umgeben, um den Bewuchs einzudämmen. Da führende Vertreter des NS-Regimes von der Regelung, Kissensteine auf zwischen 1945 und 1990 geschleiften Gräbern ablegen zu dürfen, ausgenommen bleiben sollten, lehnte das Bezirksamt von Berlin-Mitte im Jahr 2002 einen entsprechenden Antrag von Ilsebill Todt bezüglich des Grabs ihres Vaters Fritz Todt ab. Zustimmung erhielt diese Entscheidung vom Landesdenkmalamt und dem Förderverein Invalidenfriedhof. Nach Einreichen einer Klage beim Berliner Verwaltungsgericht durch Todts Anwalt Thor von Waldstein lenkte das Bezirksamt im Jahr 2004 ein. Als Begründung gab man an, Todt sei von den Alliierten posthum entnazifiziert worden. Der daraufhin gelegte Kissenstein ist inzwischen jedoch wieder beseitigt worden. In einigen Fällen wurde von dem Prinzip, verlorene Gräber nicht zu rekonstruieren, abgewichen. Das gilt namentlich für die Grabstätte der Familie Hülsen-Haeseler, eine ursprünglich zweigeteilte Anlage, die 1998 am historischen Ort wiederangelegt wurde, nun als zusammengehörige Grabstätte. Unmittelbar am Grenzstreifen gelegen, waren die Gräber 1974 abgeräumt worden. Nur das kunstvoll gearbeitete Grabgitter blieb erhalten und wurde eingelagert. Zwischen 1987 und 1995 wurde es als Umzäunung eines Biergartens im Berliner Nikolaiviertel zweckentfremdet, bei der Rekonstruktion des Grabmals jedoch wieder seiner angestammten Funktion zugeführt. Der Grabstein für Georg von Hülsen-Haeseler (1858–1922), ehemaliger Generalintendant der Königlichen Schauspiele Berlin, ist eine Nachbildung auf der Basis einer historischen Fotografie. Auch die Grabstätte der Schwestern des Augusta-Hospitals, ebenfalls grenznah gelegen und in den 1970er Jahren zerstört, ist eine komplette Rekonstruktion. Sie wurde im Jahr 1995 aus Anlass des 250. Jahrestags der Eröffnung des Invalidenfriedhofs durchgeführt. Seit 2008 hat das Grabfeld F im ehemaligen Todesstreifen größere Aufmerksamkeit bei den Restaurierungsarbeiten erfahren. So wurde zunächst das in Mauerzeiten ins Grabfeld A umgesetzte Grab von Wolff von Stutterheim an die ursprüngliche Stelle neben den Gräbern von Werner Mölders und Ernst Udet zurückversetzt. Von 2008 bis 2009 vollzog sich eine aufwändige Rekonstruktion des Grabmals von Generaloberst Hans von Beseler. Die Einweihung eines Gedenksteins am historischen Standort des Grabs von Manfred von Richthofen erfolgte ebenfalls 2009; 2017 wurde der Gedenkstein von 1935 aus Wittmund auf den Invalidenfriedhof zurückversetzt. 2012 wurde zudem das Grabmal des Generals der Infanterie und preußischen Staats- und Kriegsministers Julius von Verdy du Vernois rekonstruiert. 2011 wurde auf dem Weg zwischen den Grabfeldern E und F, nahe der historischen Friedhofsmauer, die einzig erhaltene Glocke der ehemaligen Gnadenkirche aufgestellt, die auf eine bewegte Geschichte zurückblicken kann. Die von Kaiserin Auguste Viktoria gespendete, vom Bochumer Verein gegossene Glocke war nach der Sprengung der Kirchenruine im Jahr 1967 gerettet worden und hatte seit 1990 auf dem Gelände der Kreuzkirche im Bochumer Stadtteil Leithe gestanden. Im Sommer 2013 wurde die Glocke in einem eigens dafür errichteten Glockenturm wieder aufgehängt. Der Invalidenfriedhof in der Literatur In Rolf Hochhuths Novelle Die Berliner Antigone (1963) entführt die junge Protagonistin die Leiche ihres hingerichteten Bruders, eines Stalingrad-Veteranen, aus der Anatomie, um ihn auf dem Invalidenfriedhof beizusetzen. Der Generalrichter, Vater ihres Verlobten, versucht, sie bei der Gerichtsverhandlung zu schützen, aber auch sie wird letztlich von den Nationalsozialisten hingerichtet. Im August 2008 erschien der Roman Halbschatten von Uwe Timm, in dem Leben und Tod der auf dem Invalidenfriedhof bestatteten Fliegerin Marga von Etzdorf in fiktionalisierter Form behandelt werden. Als Rahmenhandlung wählte der Autor ein Zwiegespräch zwischen dem Erzähler und einem Stadtführer („der Graue“) beim gemeinsamen Spaziergang über den Invalidenfriedhof. Die beiden vernehmen dabei auch die Stimmen dort Beerdigter, die ihre eigenen Geschichten erzählen oder das Erzählte kurz kommentieren. Dazu gehören neben Marga von Etzdorf selbst auch Ernst Udet, Reinhard Heydrich, Hans Maikowski, Karl Friedrich Friesen, Rudolf Berthold, Max Liebermann von Sonnenberg, Werner Mölders, Alfred von Schlieffen und Helmuth von Moltke d. J. sowie anonyme Tote der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, die in Massengräbern beigesetzt wurden. Der Stadtführer charakterisiert den Schauplatz in einer Passage so: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete Timms literarische Verarbeitung des Orts am 25. August 2008 als „meisterhaftes Kaleidoskop preußisch-deutscher Militärgeschichte“. Bekannte Personen, die auf dem Invalidenfriedhof bestattet wurden Siehe auch Berliner Bestattungswesen Liste der Friedhöfe in Berlin Literatur Darstellungen historisch: Günter Hintze: Der Invalidenfriedhof in Berlin. Ein Ehrenhain preußisch-deutscher Geschichte. Bernard & Graefe, Berlin 1936. / 4., erweiterte Auflage, Bernard & Graefe, Berlin 1942. Karl Treuwerth: Der Invalidenfriedhof in Berlin. Eine Stätte preußisch-deutschen Ruhms. Brunnen-Verlag K. Winckler, Berlin 1925. modern: Belletristik Uwe Timm: Halbschatten (Roman). Kiepenheuer & Witsch, o. O. 2008, ISBN 978-3-462-04043-2. Weblinks Webpräsenz des „Fördervereins Invalidenfriedhof“ Webpräsenz des „Vereins für Computergenealogie“ Einzelnachweise Soldatenfriedhof in Deutschland Militärische Gedenkstätte Friedhof im Bezirk Mitte Gartendenkmal in Berlin Berlin-Mitte Berlin
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zabern-Aff%C3%A4re
Zabern-Affäre
Die Zabern-Affäre (französisch Affaire de Saverne oder Incident de Saverne) war eine innenpolitische Krise, die sich Ende 1913 im Deutschen Kaiserreich ereignete. Anlass waren Proteste im elsässischen Zabern (französisch Saverne), dem Standort zweier Bataillone des preußischen Infanterie-Regiments 99, nachdem ein Leutnant die elsässische Bevölkerung beleidigt hatte. Das Militär reagierte auf die Proteste mit rechtlich nicht gedeckten Willkürakten. Diese Übergriffe führten zu einer Reichstagsdebatte über die militaristischen Strukturen der deutschen Gesellschaft und die Stellung der Reichsleitung im Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. Die Affäre belastete nicht nur das Verhältnis zwischen dem Reichsland Elsaß-Lothringen und dem übrigen Deutschen Reich schwer, sondern führte auch zum ersten Missbilligungsvotum in der deutschen Geschichte gegen einen Reichskanzler. Anlass und Verlauf der Zabern-Affäre Leutnant Forstner beleidigt die Elsässer Der 20-jährige Leutnant Günter Freiherr von Forstner (* 15. April 1893; † 29. August 1915 gefallen bei Kobryn) hatte sich während einer Rekruteneinweisung in Zabern am 28. Oktober 1913 in abfälliger Weise über die Einwohner geäußert und seine Untergebenen dazu aufgefordert, bei Konflikten im Zweifelsfall zum Seitengewehr zu greifen. So sagte er auf dem Kasernenhof vor versammelter Mannschaft: „Wenn Sie angegriffen werden, machen Sie von Ihrer Waffe Gebrauch.“ An einen bekanntermaßen wegen einer Messerstecherei vorbestraften Rekruten gewandt, fuhr er fort: „Und wenn Sie dabei so einen Wackes über den Haufen stechen, so schadet es nichts. Sie bekommen von mir dann noch zehn Mark Belohnung.“ Der bei der Instruktion anwesende Sergeant Willy Höflich erklärte daraufhin, er gebe „noch drei Mark dazu“. Unter den Eingewiesenen befanden sich auch elsässische Soldaten. „Wackes“ war ein Schimpfwort für Elsässer und bedeutete „Strolch“, „Bummler“ oder „Taugenichts“. Es hatte nach Auffassung der Zeitgenossen etwa die Bedeutung „wie der ‚Saupreuß‘ im Munde des Süddeutschen“. Neun Tage später, am 6. November 1913, berichtete der Zaberner Anzeiger über den Vorfall, den Zeugen einem Redakteur zugetragen hatten. Bei anderer Gelegenheit soll der Leutnant einen elsässischen Soldaten auch aufgefordert haben, bei ihm mit den Worten „Ich bin ein Wackes“ Meldung zu machen. Außerdem hatte von Forstner seine Männer des Öfteren in aggressiv wirkender Sprache vor französischen Auslandsagenten gewarnt, die sie für die Fremdenlegion abwerben wollten. In diesem Zusammenhang soll er unter anderem gesagt haben: „Auf die Fahne Frankreichs könnt ihr scheißen!“ Diese Äußerungen von Forstners gelangten erst Mitte November durch weitere Presseberichte an die Öffentlichkeit und sorgten für neuerliche Erregung, wobei sich jetzt auch die französische Presse für den Vorgang interessierte. Öffentliche Entrüstung und unnachgiebige Militärs Das Erscheinen der Meldung über diesen Vorfall in den beiden Lokalzeitungen Elsässer und Zaberner Anzeiger führte zu Unmut bei der örtlichen Bevölkerung, und es kam in den folgenden Tagen zu Protesten gegen die Behandlung durch das Militär. Nach Ansicht der Elsässer verhielten sich die Militärs wie Besatzer einer fremden Macht. Der elsass-lothringische Statthalter Karl von Wedel, ein General und Diplomat, legte dem Regimentskommandeur Friedrich Ernst von Reuter sowie dem Kommandierenden General Berthold von Deimling als disziplinarische Maßnahme die Versetzung des Leutnants nahe. Diesen Ratschlag missachteten Reuter und Deimling. Aus ihrer Sicht war eine ernsthafte Bestrafung des Leutnants nicht mit der Ehre und dem Ansehen der Armee vereinbar, denn die hätte das Eingestehen eines Fehlers eines Offiziers bedeutet. Auch der Kaiser, als Vorgesetzter des Statthalters, und der Kronprinz mischten sich in diesem Sinne in die Affäre. Daraufhin wurde Leutnant von Forstner lediglich zu sechs Tagen Stubenarrest verurteilt. Die amtliche Stellungnahme der Behörden in Straßburg am 11. November spielte den Vorfall herunter und behauptete, „Wackes“ sei eine allgemeine Bezeichnung für streitsüchtige Personen. Elf Tage später verhaftete man zehn Angehörige der fünften Kompanie des Infanterieregimentes 99, denen vorgeworfen wurde, geheimhaltungspflichtige Tatsachen über die Zabern-Affäre der Presse gemeldet zu haben. Die Proteste in der elsässischen Öffentlichkeit gingen davon unbeeindruckt weiter. Zur weiteren Verschlechterung der Stimmung trug bei, dass sich Leutnant von Forstner nach seinem Hausarrest wieder in der Öffentlichkeit zeigte und dabei auf Weisung des Garnisonskommandos stets von einer Eskorte aus vier bewaffneten Soldaten begleitet wurde, was besonders bei alltäglichen Verrichtungen wie dem Einkaufen von Schokolade und Zigaretten wie eine Provokation wirkte. Der junge Leutnant konnte sich nur unter dem Spott der Einwohner, die ihm „Wackes-Leutnant“ nachriefen, durch die Stadt bewegen. Bei seinen Auftritten außerhalb der Kaserne wurde von Forstner dann auch wiederholt vor allem von jugendlichen Demonstranten verhöhnt und beschimpft, ohne dass die lokalen Polizeibehörden dies verhindern konnten. Oberst Ernst von Reuter forderte daraufhin auf Weisung von General von Deimling den Vorsitzenden der lokalen Zivilverwaltung, Kreisdirektor Georg Mahl, auf, die Ordnung mit Hilfe der Polizei wiederherzustellen, anderenfalls müsse er selbst Maßnahmen ergreifen und ließe den Belagerungszustand erklären. Mahl, der als Elsässer mit der Bevölkerung sympathisierte, wies die Forderung zurück, da die Protestierenden sich friedlich verhalten und keine Gesetzesverstöße begangen hätten, und entgegnete der Drohung Reuters, den Belagerungszustand auszurufen, dass dies verfassungswidrig sei, da nur der Kaiser den Belagerungszustand erklären könne. Die Situation eskaliert Am 28. November 1913 versammelte sich erneut eine große Menschenmenge auf dem Platz vor der Kaserne des preußischen Militärs, was diesmal zu einer unangemessenen Gegenreaktion der Truppen führte: Von Reuter wies Leutnant Schadt, der zu diesem Zeitpunkt der Wachhabende Offizier war, an, die Menschenmenge aufzulösen. Dieser rief die Wachen zu den Waffen und forderte die demonstrierenden Bürger dreimal auf, auseinanderzugehen und ihre Versammlung zu beenden. Anschließend trieben die Soldaten die Menge unter Androhung von Waffengewalt über den Platz in eine Seitenstraße und verhafteten ohne Rechtsgrundlage eine größere Anzahl von Personen. Unter den Gefangenen waren auch der Präsident, zwei Richter und ein Staatsanwalt des Zaberner Landgerichts, die beim Verlassen des Gerichtsgebäudes zufällig in die Menge geraten waren. 26 der verhafteten Personen (darunter die beiden Landgerichtsräte Kalisch und Boemelmanns) wurden über Nacht im Keller des Schlosses, dem so genannten Pandurenkeller, festgehalten. Außerdem durchsuchten Soldaten rechtswidrig die Redaktionsräume einer lokalen Zeitung nach Hinweisen auf jene Informanten, die die Fehlgriffe Forstners an die Öffentlichkeit gebracht hatten. Über die Stadt wurde der Belagerungszustand verhängt, so dass das Militär faktisch die Regierungsgewalt übernahm und die zivile Verwaltung außer Kraft setzte. Zur Verhinderung weiterer Demonstrationen und Aufläufe ließ man Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett in den Straßen patrouillieren und Maschinengewehre aufstellen. Die ersten Reaktionen des Kaisers Kaiser Wilhelm II. befand sich zu der Zeit zur Jagd auf dem Gut von Max Egon Fürst zu Fürstenberg in Donaueschingen. Obwohl diese Reise schon lange vor den Ereignissen in Zabern organisiert worden war, hinterließ das Desinteresse Wilhelms einen schlechten Eindruck. Gerüchten zufolge hatte Kaiserin Auguste Viktoria sogar einen Zug angefordert, mit dem sie zu ihrem Ehegatten fahren und ihn zu einer Rückkehr nach Berlin bewegen wollte. Nach Einschätzung des Historikers Wolfgang J. Mommsen unterschätzte Wilhelm II. zu diesem Zeitpunkt die politische Dimension der Vorfälle im Elsass. Die Berichte, die der elsass-lothringische Statthalter Karl von Wedel nach Donaueschingen sandte und in denen er die Vorfälle als exzessiv sowie unrechtmäßig beschrieb und um persönliche Rücksprache mit dem Kaiser bat, wurden hinhaltend beantwortet. Wilhelm II. wollte zuvor den Bericht des Militärischen Hauptquartiers in Straßburg abwarten. Am 30. November trafen der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn, der zuständige Kommandierende General in Straßburg, Berthold von Deimling, und einige andere ranghohe Offiziere in Donaueschingen ein, womit sechstägige Beratungen begannen. Die Öffentlichkeit wurde dadurch zusätzlich aufgebracht, da der Kaiser offenbar nur die Sichtweise des Militärs hören wollte. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der übergangen wurde und immer mehr unter Druck geriet, trat der Konferenz kurz vor ihrem Ende bei. Das Ergebnis war aus Sicht kritischer Bevölkerungsschichten ernüchternd; der Kaiser billigte das Verhalten der Militäroffiziere und sah keine Anhaltspunkte dafür, dass sie ihre Befugnisse überschritten hätten. Deimling sandte einen General nach Zabern, der die Zivilgewalt am 1. Dezember wieder einsetzte. Forstners zweiter Fehltritt Am 2. Dezember führte der mittlerweile zu einer anderen Kompanie versetzte von Forstner im Rahmen einer Militärübung in der Umgebung von Zabern eine Gruppe Soldaten in den Ort Dettweiler. In der Nähe einer Schuhfabrik wurde er von Arbeitern erkannt und mit spöttischen Rufen bedacht. Der Leutnant verlor daraufhin die Beherrschung und gab den Befehl, die Passanten festzunehmen, die aber bis auf einen körperbehinderten Schustergesellen entkommen konnten. In seiner Wut streckte v. Forstner den bereits festgenommenen jungen Mann mit seinem Säbel nieder, so dass er schwere Kopfverletzungen davontrug. Dieser neuerliche Akt der Aggression spitzte die Affäre weiter zu. Forstner wurde wegen dieses Vorfalls disziplinarisch belangt und von einem Militärgericht in erster Instanz zu 43 Tagen Arrest verurteilt, die zweite Instanz hob das Urteil allerdings wieder auf. Obwohl ihn fünf bewaffnete Soldaten begleitet hatten und der Schuster unbewaffnet sowie halbseitig gelähmt war, interpretierten die Richter sein Handeln als Notwehr, da der Schuhmacher sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht habe. In Militärkreisen erhielt Forstner Zuspruch, da er mit seiner Gewalttat „die Ehre der Armee verteidigt“ habe. Er wurde zum 3. Pommerschen Infanterieregiment Nr. 14 in Bromberg versetzt und fiel am 29. August 1915 bei Kobrin, Russland. Proteste im ganzen Deutschen Reich Bereits am 28. November hatte sich der Gemeinderat von Zabern in einem Telegramm an Kaiser Wilhelm II., Bethmann Hollweg und Falkenhayn gewandt und gegen die willkürlichen Verhaftungen seiner Bürger protestiert. Zwei Tage später fand in Mülhausen eine 3000 Teilnehmer starke Versammlung der SPD statt, die gegen die Übergriffe der Soldaten demonstrierte. In einer Resolution bezeichneten die Teilnehmer den Staat als Militärdiktatur und forderten dazu auf, notfalls auch durch Streiks gegen die herrschenden Zustände zu opponieren. In Straßburg riefen die Bürgermeister mehrerer Städte Elsass-Lothringens am 2. Dezember den Kaiser auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz ihrer Bewohner vor Militärwillkür zu gewährleisten. Die Welle der Empörung breitete sich auf das ganze Reich aus, insbesondere im Umfeld der SPD herrschte Entsetzen über die Vorgehensweise des Militärs. Am 3. Dezember rief der Parteivorstand der SPD alle Organisationen der Partei zu Protestversammlungen auf. Vier Tage später fanden in siebzehn deutschen Städten, u. a. in Berlin, Breslau, Chemnitz, Duisburg, Düsseldorf, Elberfeld (heute zu Wuppertal), Köln, Leipzig, Mülheim an der Ruhr, München, Solingen und Straßburg, Kundgebungen statt, auf denen Sozialdemokraten gegen die Willkürherrschaft der Militärs demonstrierten und Bethmann Hollweg sowie Falkenhayn zum Rücktritt aufforderten. An den Ereignissen in Zabern entzündete sich eine Volksbewegung gegen den Militarismus und für die Verteidigung der Rechte der nationalen Minderheiten im Deutschen Reich. Ein Einlenken der Regierung oder des Kaisers war jedoch nicht zu erkennen. Um weiteren Problemen vorerst aus dem Weg zu gehen, ordnete der Kaiser von Donaueschingen aus am 5. Dezember eine vorübergehende Verlegung der Zaberner Einheiten an. In den nächsten beiden Tagen zogen die Soldaten auf die Truppenübungsplätze Oberhofen (bei Hagenau) und Bitsch um. Die weiteren Auflehnungen wurden unterdrückt. Das Kriegsgericht in Straßburg verurteilte am 11. Dezember zwei Rekruten aus Zabern zu drei bzw. sechs Wochen Militärarrest, weil sie die beleidigenden Äußerungen Forstners öffentlich bestätigt hatten. Die Straßburger Polizei beschlagnahmte auf Antrag des dortigen Generalkommandos des XV. Armeekorps unter General von Deimling am 17. Dezember eine von der Grammophonfirma Cromer und Schrack hergestellte Schallplatte. Diese offenbarte in Dialogen, die mit Trommelwirbel untermalt waren, die Geschehnisse im Rahmen der Zabern-Affäre. Zudem stellten die Militärs Strafantrag wegen der Beleidigung deutscher Offiziere. Dementsprechend erlahmten die Proteste. Missbilligungsvotum gegen Bethmann Hollweg Die Ereignisse in Zabern lösten auch im Reichstag erregte Debatten aus. Das Zentrum, die SPD und die Fortschrittliche Volkspartei richteten parlamentarische Anfragen an den Kanzler. Drei Abgeordnete – Karl Hauss vom Zentrum, Adolf Röser von der Fortschrittspartei und Jacques Peirotes von den Sozialdemokraten – eröffneten die Diskussion am 3. Dezember, indem sie jeweils stellvertretend für ihre Partei ihre kritische Sicht auf die Zabern-Affäre darlegten. Bethmann Hollweg spielte in seiner anschließenden Rede das Verhalten der Militärs herunter. Laut Beobachtern der Debatte wirkte er sichtlich nervös und angeschlagen. Nach ihm äußerte sich zum ersten Mal Falkenhayn vor dem Reichstag. Er verteidigte die Offiziere, die nur ihre Pflicht getan hätten, und griff unter anderem die Presse scharf an, die mit propagandistischen Methoden die Affäre hochgespielt habe, um Einfluss auf das Militär zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, wie unterschiedlich die Ansichten von Reichstag und Reichskanzler waren. Die Debatte wurde am nächsten Tag fortgeführt, Bethmann Hollweg äußerte sich dabei erneut zu den Ereignissen. Zwar machte seine zweite Rede einen besseren Eindruck, doch sie konnte die Stimmung im Reichstag nicht mehr umdrehen. Noch am 4. Dezember machte zum ersten Mal in der Geschichte des Kaiserreichs das Parlament von der Möglichkeit eines Missbilligungsvotums (§ 33a der Geschäftsordnung des Reichstags) Gebrauch, die ihm seit 1912 zustand. Mit 293 Stimmen bei 4 Enthaltungen und 54 Gegenstimmen, welche ausschließlich aus den Reihen der Konservativen kamen, missbilligte es das „nicht der Anschauung des Reichstages“ entsprechende Verhalten der Regierung. Der Kanzler lehnte den von der SPD nunmehr geforderten Rücktritt erwartungsgemäß ab. Folgen Der Prozess gegen von Reuter und Schadt Die vom 5. bis 10. Januar 1914 vor dem Kriegsgericht in Straßburg erfolgte Gerichtsverhandlung sprach die beiden Hauptverantwortlichen Oberst von Reuter und Leutnant Schadt vom Vorwurf frei, sich unrechtmäßig Zivilpolizeigewalt angeeignet zu haben. Das Gericht entschuldigte sich zwar für die Übergriffe der Soldaten, sprach die Schuld aber den Zivilbehörden zu, deren Aufgabe es gewesen wäre, für Ordnung zu sorgen. Es verwies dabei auf eine bis dahin vergessene preußische Kabinettsorder aus dem Jahre 1820, bei der es zudem zweifelhaft war, ob sich die Rechtmäßigkeit auch auf die Reichslande erstreckte. Gemäß der Order muss der höchstrangige Militärbeamte einer Stadt die rechtliche Gewalt an sich ziehen, wenn die Zivilverwaltung den Schutz der Ordnung vernachlässigt. Weil die Angeklagten aufgrund dieser Bestimmungen gehandelt hatten, konnten sie nicht verurteilt werden. Während viele liberale Bürger, die den Prozess interessiert verfolgt hatten, nun enttäuscht waren, machte sich unter den anwesenden Militärs großer Jubel über das Urteil breit; noch im Gerichtssaal gratulierten sie den Angeklagten. Auch Wilhelm II. zeigte sich sichtlich erfreut und verlieh von Reuter gar postwendend einen Orden. Das Militär verließ jedoch die Bühne keineswegs als starker und selbstbewusster Sieger, war doch deutlich geworden, wie stark die Öffentlichkeit selbst eine verbale Äußerung eines Soldaten verfolgte und missbilligte. Gesetzliche Regelung des Militäreinsatzes im Inneren Am 14. Januar beschloss der Reichstag, einen Ausschuss einzusetzen, der die Rechte des Militärs gegenüber der Zivilgewalt gesetzlich regeln sollte. Zwei Anträge des NLP-Vorsitzenden Ernst Bassermann und des Zentrumspolitikers Martin Spahn, welche die Reichsregierung zur Klärung der zivilrechtlichen Kompetenz militärischer Instanzen aufforderten, wurden zehn Tage später vom Reichstag mehrheitlich gebilligt. Das Ergebnis, die „Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen“, erließ der Kaiser am 19. März. Sie untersagte es der preußischen Armee, eigenmächtig in die Kompetenz ziviler Behörden einzuschreiten. Stattdessen müsse ein Truppeneinsatz vorher von der Zivilgewalt angefordert werden. Das Gesetz hatte bis zum 17. Januar 1936 Bestand, als die Nationalsozialisten es mittels der „Verordnung über den Waffengebrauch der Wehrmacht“ aufhoben. Wiederaufleben der Reichstagsdebatte Der Strafrechtswissenschaftler Franz von Liszt entfachte eine neue Debatte im Reichstag, als er die Gültigkeit der Kabinettsorder aus dem Jahre 1820 bestritt. Am 23. Januar bestätigte Bethmann Hollweg im Reichstag jedoch die Geltung der Order und legitimierte dadurch die militärischen Handlungen in Zabern. Öffentlichkeit Die Affäre machte deutlich, wie stark im Deutschen Reich die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit geworden war, welche große Rolle das Parlament in der Öffentlichkeit spielte, wie umstritten militaristische Tendenzen waren – und wie wenig sich der Kaiser gegen diese Öffentlichkeit isolieren konnte. Dass ein Soldat eine Zivilperson beleidigte, konnte das ganze Reich in eine Krise versetzen – ohne dass es zu Toten gekommen war. Das vom Reichstag auf den Weg gebrachte neue Gesetz, das den Waffeneinsatz des Militärs im Innern stark einschränkte, bestätigte das liberale Bürgertum, das gegen den Militarismus protestiert hatte. Folgen für Elsass-Lothringen Das Verhältnis zwischen Elsaß-Lothringen und dem übrigen Deutschen Reich wurde merklich in Mitleidenschaft gezogen. Elsässer und Lothringer fühlten sich der Willkür des deutschen Militärs mehr denn je schutzlos ausgeliefert. Die zweite Kammer des elsass-lothringischen Parlaments äußerte sich in einer Resolution am 14. Januar zu den Vorfällen. Während sie das Verhalten der Zivilbehörde verteidigte, verurteilte sie die Aktion des Militärs sowie den Freispruch des Regimentskommandeurs von Reuter. Landtagsabgeordnete verschiedener Parteien gründeten in Straßburg am 26. Februar die Liga zur Verteidigung Elsaß-Lothringens. Durch die Zabern-Affäre kam es auch zu personellen Veränderungen, infolge deren die beiden wichtigsten zivilen Positionen in Elsass-Lothringen neu besetzt wurden. Am 31. Januar wurde der Staatssekretär des Ministeriums für Elsaß-Lothringen, Hugo Freiherr Zorn von Bulach, durch den Potsdamer Oberpräsidialrat Siegfried Graf von Roedern ersetzt. Statthalter Karl von Wedel nahm am 18. April seinen Hut, woraufhin der Kaiser zur Enttäuschung der Elsässer den preußischen Innenminister Johann von Dallwitz in dieses Amt brachte. Dallwitz war ein entschiedener Verfechter des Obrigkeitsstaates und lehnte auch die Verfassung ab, die man dem Reichsland 1911 gewährt hatte. Verarbeitung in Literatur und Sprache Der Schriftsteller Heinrich Mann verarbeitete die Zabern-Affäre in seinem Roman Der Untertan. Der Schriftsteller Ulrich Rauscher höhnte in einem Gedicht über den „braven Bürger“: Ob Euresgleichen auch zu Haufen vor Bajonett und Säbelhieb – Marsch, Marsch! Hopp, Hopp! – Spießruten laufen: Ihr seid doch alle leutnantslieb! Ihr fühlt nur unter Kolbenstößen Euch wahrhaft wohl im Vaterland. Verdammt, die sich derart entblößen, nachdem sie selber sich entmannt! Euch werde fernerhin in Gnaden der Säbel übers Hirn gehaut! Ihr seid des Deutschen Reichs Kastraten! Hurrah, du Eisenbraut! Kurt Tucholsky machte sich in einem Gedicht für den Vorwärts über den „Mut“ von Leutnant Forstner lustig: Der Held von Zabern Ein „Mann“ mit einem langen Messer, und zwanzig Jahr – ein Held, ein Heros und Schokladenesser, und noch kein einzig Schnurrbarthaar. Das stelzt in Zaberns langen Gassen und kräht Sopran – Wird man das Kind noch lange ohne Aufsicht lassen? – Es ist die allerhöchste Eisenbahn! – >Das ist so einer, wie wir viele brauchen! – Er führt das Korps! Und tief bewegt sieht man die Seinen tauchen nach Feinden tief in jedes Abtrittsrohr. Denn schließlich macht man dabei seine Beute – wer wagt, gewinnt! Ein lahmer Schuster ist es heute, und morgen ist’s ein Waisenkind. Kurz: er hat Mut, Kuhrasche oder besser: ein ganzer Mann! – Denn wehrt sich jemand, sticht er gleich mit’s Messer, schon, weil der and’re sich nicht wehren kann. Der Simplicissimus widmete der Affäre ein Flugblatt. In Anlehnung an das Verhalten des Militärs fand der Begriff zabernism als Bezeichnung für den Missbrauch militärischer Gewalt oder für tyrannisches, aggressives Verhalten im Allgemeinen zeitweise Eingang in die englische Sprache. Zeitgenössische Zitate Literatur Frank Bösch: Grenzen des „Obrigkeitsstaates“. Medien, Politik und Skandale im Kaiserreich, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse (Fs. für Hans-Ulrich Wehler zum 75. ), Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-36752-0, S. 136–152. Erwin Schenk: Der Fall Zabern (= Beiträge zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges). W. Kohlhammer, Stuttgart 1927. Hans-Günter Zmarzlik: Bethmann Hollweg als Reichskanzler 1909–1914. Studien zu Möglichkeiten und Grenzen seiner innenpolitischen Machtstellung (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Bd. 11). Droste-Verlag, Düsseldorf 1957, S. 114–130. Die Zabern-Tragödie (1913). In: Paul Schweder: Die Grossen Kriminalprozesse des Jahrhunderts. Ein deutscher Pitaval. Verlag Kriminalistik, Hamburg 1961, S. 192 ff. Hans-Ulrich Wehler: Der Fall Zabern. Rückblick auf eine Verfassungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs. In: Die Welt als Geschichte. 23, 1963, S. 27–46; wieder als: Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems – Der Fall Zabern von 1913/14. In: Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, S. 65–83; noch einmal als: Der Fall Zabern von 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs. In: Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. 2. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979, ISBN 3-525-36172-6, S. 70–88 und 449–458. David Schoenbaum: Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany. George Allen & Unwin, London 1982, ISBN 0-04-943025-4. Rainer Nitsche (Hrsg.): Durchfall in Zabern. Eine Militärdemontage. Transit Buchverlag, Berlin 1982, ISBN 3-88747-010-9. Richard W. Mackey: The Zabern Affair, 1913–1914. University Press of America, Lanham 1991, ISBN 0-8191-8408-X. Gerd Fesser: „…ein Glück, wenn jetzt Blut fließt!“. Zeitläufe. In: Die Zeit. Nr. 46/1993, S. 88. Christopher Fischer: Alsace to the Alsatians. Visions and Divisions of Alsatian Regionalism, 1871–1939. Berghahn, New York 2010, ISBN 978-1-78238-394-9. Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten. Ullstein, Berlin 2005, ISBN 3-548-36765-8, S. 203–209. Kirsten Zirkel: Vom Militaristen zum Pazifisten. General Berthold von Deimling – eine politische Biographie. Dissertation. Klartext, Essen 2008, ISBN 978-3-89861-898-4. Dissertation Universität Düsseldorf 2006 (PDF; 2,9 MB); Kapitel IV.2 „Die Zabern-Affäre“, S. 123 ff. Weblinks Volker Ullrich: Durchgreifen im Elsass. In: Die Zeit. 24. Oktober 2013, abgerufen am 8. Januar 2014. Bärbel Nückles: Die Zabern-Affäre ließ im Elsass eine Wunde aufplatzen. In: Badische Zeitung. 13. November 2013. Einzelnachweise Saverne Politische Affäre im Deutschen Kaiserreich Reichsland Elsaß-Lothringen Konflikt 1913 Politik 1913
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mainzer%20Dom
Mainzer Dom
Der Hohe Dom St. Martin zu Mainz, kurz Mainzer Dom, ist die Kathedrale (Bischofskirche) der römisch-katholischen Diözese Mainz und steht unter dem Patrozinium des heiligen Martin von Tours. Der Ostchor ist dem Hl. Stephan gewidmet. Der zu den Kaiserdomen zählende Bau ist in seiner heutigen Form eine dreischiffige romanische Pfeilerbasilika, die in ihren Anbauten sowohl romanische als auch gotische und barocke Elemente aufweist. Vorgängerbauten Ab wann die Mainzer Kirche eine bischöflich verfasste Kirche war, lässt sich nicht mehr abschließend klären, da die vorhandenen Bischofslisten aus alter Zeit allesamt zweifelhaft sind. Demnach ist auch unklar, wann es die erste Kathedrale in der Stadt gab. Allerdings ist aus historischen Quellen wie der des Geschichtsschreibers Ammianus Marcellinus bekannt, dass in der Stadt im 4. Jh. eine größere Gemeinde existiert haben muss, für die eine bischöfliche Leitung anzunehmen ist. Der Bericht des Ammianus über die Plünderung der Stadt im Jahr 368 erwähnt eine christliche Gemeinde, die bei der Feier eines Festes, vermutlich des Osterfestes, überrascht worden sei. Diese Feier hätte in der Kathedrale stattgefunden. Erster sicher bezeugter Bischof war im 6. Jahrhundert Sidonius († nach 580). Seine Kirche trug bereits das Patrozinium des fränkischen Staatsheiligen Martin von Tours. Lage und Größe dieser Kirche sind jedoch unbekannt. Die archäologischen Befunde geben nur wenig Auskunft, genauere Untersuchungen und Ausgrabungen haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht stattgefunden. Da es aber eine reiche Quellenlage gibt, sind Standort und Umfang der Kathedrale und ihrer Nebenbauten Gegenstand beständiger Diskussionen. Die bekannteste Diskussion ist die um eine „Kathedralgruppe“ innerhalb der Stadtmauern, eine Dreiergruppe mit Bischofs-, Seelsorge- und Taufkirche. Außer einem Mauerzug und Estrichresten sowie einem Sarkophag unter der Johanniskirche, die in späteren Jahren auch als „Alter Dom“ bezeichnet wurde, ist von diesem Gebäudekomplex allerdings nichts bezeugt. Architektur und bauhistorische Entwicklung Der Willigis-Bardo-Bau Motivation Erzbischof Willigis (zugleich Erzkanzler des Reiches), dessen Amtszeit 975 begann, veranlasste den Bau eines neuen Domes in ottonischen Formen. Möglicherweise war Willigis zu dem Bau vom Motiv bewegt, sich das Krönungsrecht für den Römisch-deutschen König zu erhalten. Eine genaue Datierung des Baubeginns ist nicht gesichert. Da der Erhalt des Krönungsrechts erst ab etwa 990 in Frage gestellt war, spricht gegen diese Theorie die extrem kurze Zeit bis zur Vollendung des Baus. Als Bauzeit wird eine Zeitspanne von 30 Jahren für möglich gehalten. Andererseits ist die Weihe der Stephanskirche mit 997 datiert und die geringe Wahrscheinlichkeit zweier großer kirchlicher Baustellen gleichzeitig in derselben Stadt spricht für einen Baubeginn erst gegen Ende des 10. Jahrhunderts. Auch wenn Baubeginn und damit verbundene Motive nicht mehr belegt werden können, so kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden, dass pastorale Erwägungen dem Dombau nicht zugrunde lagen. Zur Amtszeit des Willigis, der am Hofe Ottos I. gedient hatte und der neben seiner Funktion als Erzbischof auch Reichserzkanzler des Heiligen Römischen Reiches war, prosperierte die Stadt Mainz wegen ihrer neuen Bedeutung als Residenz des wichtigsten Reichsfürsten und Politikers und hatte einige tausend Einwohner, für die es in Mainz allerdings mehr als ausreichend Pfarrkirchen gab. Der neue Dom war als Gemeindekirche unnötig, er sollte also nicht in erster Linie den Gläubigen dienen, sondern den Status des Erzbischofs als Reichserzkanzler und Königskröner im ottonischen Imperium repräsentieren und die Bedeutung der Mainzer Kirche als „zweites Rom“ erkennbar machen. Entsprechend lehnte sich die Ausführung des Baus auch an die alte Peterskirche in Rom an. Standort des neuen Doms Willigis ließ seinen Dom auf eine Brache vor dem damaligen Stadtkern bauen. In römischer Zeit hatte sich dort noch eine Siedlung befunden, die in fränkischer Zeit vermutlich aufgegeben worden war. Unter dem Dom sind Mauerreste aus römischer Zeit nachweisbar. Lange Zeit wurde vermutet, der Dom stehe auf Resten römischer Tempelanlagen. Die archäologischen Befunde widerlegen diese Ansicht jedoch. Der neue Dom löste einen Vorgängerbau ab, der sich – wie oben beschrieben – in unmittelbarer Nähe befunden haben könnte. Dabei kann es sich, wie ausgeführt, um die auch weiterhin als Alter Dom („Aldedum“) bezeichnete Johanniskirche gehandelt haben; endgültig geklärt ist die Funktion der Johanniskirche bzw. ihrer Vorgängerbauten als Kathedralkirche nicht. Ohnehin war die vor der Stadt gelegene und bereits aus spätrömischer Zeit stammende Klosterkirche St. Alban zu dieser Zeit bereits seit fast zwei Jahrhunderten die bedeutendste Kirche des Erzbistums. Dort fanden, da die Kirche mit etwa 75 m Länge für die damalige Zeit erstaunlich groß war, alle wichtigen Synoden und Versammlungen statt. Auch die Mainzer Erzbischöfe wurden damals meist dort begraben. Ausführung Die Rekonstruktion des Willigisdoms ist von der Schwierigkeit geprägt, dass der Bau erstens nur sehr kurz in seinem Urzustand existierte und zweitens archäologische Untersuchungen nur in unzureichendem Maße vorgenommen wurden. Gleichwohl reichten Ausgrabungen auf dem Liebfrauenplatz und Erkenntnisse während der großen Domsanierung 1925–1928 aus, um den Bau des Willigis in seinen Grundzügen beschreiben zu können. Vorkirche im Osten Im Osten erhob sich eine Vorkirche, die mit dem eigentlichen Dombauwerk verbunden war. Der Umfang dieses Vorbaus lässt sich durch die bei Ausgrabungen vorgefundenen Fundamente recht gut bestimmen. Ganz im Osten stand demnach ein rechteckiger etwa 13,50 m breiter Turm, der eine innen halbkreisförmige, nach außen aber rechteckig ummantelte Apsis umschloss. Dahinter schloss sich ein rund 31 m breiter, 11 bis 12 m langer Querbau an. Dieses Ensemble bildete wohl die eigentliche Vorkirche. Mit dem Dom war es durch zwei niedrige 41 m lange Kolonnadengänge verbunden, die im Grundriss wie eine Verlängerung der Seitenschiffe des Doms wirken. Hier tritt die Ähnlichkeit mit Alt-St. Peter in Rom besonders stark zu Tage. Die Kolonnaden und auch die Vorkirche wurden bei der Brandkatastrophe von 1009 zerstört, an der Idee einer dem Dom vorgelagerten Kirche wurde dennoch festgehalten. Hier entstand später die große Stiftskirche St. Maria ad Gradus (Liebfrauenkirche). Ostbau und Ostchor Der Ostbau bestand aus einem Querhaus, das im Norden und Süden von je einem Treppenturm begrenzt wurde. Das Motiv der Treppentürme übernahm Willigis vermutlich von der Pfalzkapelle in Aachen. Es findet sich an der nach 1000 begonnenen Michaelskirche in Hildesheim wieder, die auch sonst viele Ähnlichkeiten mit dem Willigisdom aufweist. Der Bau war so breit wie das Langhaus und war dreigliedrig, das Mittelschiff schloss ein querrechteckiger, die Seitenschiffe ein quadratischer Gebäudeteil ab. Flankiert wurde der Ostbau von zwei Türmen mit wahrscheinlich vier geschlossenen Geschossen und einem offenen Arkadenabschluss. Die vier Geschosse der beiden Türme gehören zu den noch existenten Resten des Willigisbaus. Die Türme wurden später mehrmals erhöht bzw. nach Zerstörungen rekonstruiert, zum ersten Mal schon unter dem Willigis-Nachfolger Bardo. Die quadratischen Abschlüsse der Seitenschiffe waren jeweils bis zum dritten Geschoss des benachbarten Flankenturms aufgeführt. In ihnen hat sich in Form zweier Räume ebenfalls Bausubstanz aus dem Willigis-Dom erhalten. Vermutlich war es ein Archiv- und ein Sakristeiraum. Sie waren nicht von den Treppentürmen, sondern vom Mittelbau aus begehbar, was die Existenz entsprechender Emporen dort voraussetzt. Der Mittelbau selbst war höher, Rekonstrukteure gehen von einem Turm ähnlich wie in Minden oder Hildesheim aus, der zur Aufnahme der Glocken gedacht war. Im Mittelbau aufgestellte Altäre begründeten die Tradition des Ostchors und somit die Gestaltung des Mainzer Doms als Doppelchoranlage. Strittig war lange die Frage, ob der Dombau des Willigis bereits eine Ostapsis hatte. Die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des Aussehens ergaben sich daraus, dass aus jener Zeit keine Fundamente einer Ostapsis erhalten sind. Der Dom müsste demnach einen flachen Abschluss im Osten besessen haben, möglicherweise mit einem Mittelportal und einem rechteckigen Mittelturm. Die Gegenmeinung schließt aus bauhistorischen Erwägungen und schriftlichen Überlieferungen auf ein Vorhandensein einer Ostapsis bereits im Urbau des Willigis. Die Fundamente könnten bei den späteren Umbauten ersetzt worden sein. Mittlerweile wird die These von der Ostapsis aber wohl mehrheitlich abgelehnt. Der Sinn beziehungsweise die Idee, die hinter der Bauform des Domes mit Doppelchor steckt, ist bisweilen umstritten. Früher wurde häufig angenommen, die beiden gegenüberliegenden Chöre dienten der Versinnbildlichung von sacerdotium im Westen und imperium im Osten, also geistlicher (verkörpert durch den Bischof) und weltlicher (verkörpert durch den König) Gewalt. Diese These ist jedoch nicht belegbar. In neueren Schriften wird daher angenommen, dass die Doppelchoranlage liturgische Gründe hatte. Sie ermöglichte feierliche Prozessionen zwischen den beiden Chören. Zunächst wurden beide Chöre gleichwertig nebeneinander genutzt. Später diente der Ostchor meist als Ort für die Messen der Dompfarrei, der Westchor (Hauptchor) als Bischofschor für die Pontifikalämter oder für die Gottesdienste des Domstifts. Mit der Verlegung aller großen Gottesdienste in den Westchor verlor der Ostchor an Bedeutung. Heute findet dort die Stundenliturgie des Domkapitels statt. Langhaus und Vierung Das Langhaus des Willigisdoms war eine dreischiffige basilikale Anlage. Die Wände wurden wahrscheinlich von Säulen getragen. Aufgrund der erhaltenen Fundamente kann präzise auf eine lichte Länge von 57,60 m geschlossen werden. Das Mittelschiff war 13,60 m, die beiden Seitenschiffe waren je 7,70 m breit. Nicht mehr eindeutig zu bestimmen und daher Gegenstand bauhistorischer Mutmaßungen ist die ursprüngliche Höhe des Langhauses. Im Westen öffnete sich das Langhaus zu einem ungewöhnlich weit ausladenden Querhaus. Die Fundamente sind dort nicht mehr erhalten, wohl aber Teile des nördlichen Gebäudeabschlusses, die heute die Südwand der Gotthardkapelle bilden. Sie sind dort die einzigen oberirdischen Reste des Willigisdoms. Aus der so zu ermittelnden Breite des Querhauses ergibt sich, dass der Bau nicht wie üblich ein Querhaus aus drei Quadraten mit der Seitenlänge der Mittelschiffbreite (also 13,60 m) hatte, sondern vier. Das Querhaus war damit in etwa so breit wie das Langhaus lang war, nämlich 200 römische Fuß. Die Fluchten der Mittelschiffswände setzten sich bis zur Westwand des Querhauses fort und gliederten es durch die Säulen in ein Quadrat und zwei Rechtecke (sogenannte „ausgeschiedene Vierung“). Allerdings ist der Fundamentplan aus den 1920er Jahren an dieser Stelle nicht eindeutig, so dass keine hundertprozentige Sicherheit hinsichtlich der Vierung besteht. Die Frage ist nicht unbedeutend, weil von ihrer Beantwortung abhängt, ob der Dom des Willigis bereits einen westlichen Vierungsturm hatte. Hauptchor im Westen Im Gegensatz zu den meisten Kirchenbauten jener Zeit, deren Hauptchor stets gen Osten gerichtet war, ließ Willigis seinen Dombau westwärts gerichtet erbauen, wie dies auch bei den großen Basiliken Roms der Fall war. Über den Westbau des Willigis kann am wenigsten ausgesagt werden, da die Fundamente dort beim Neubau des Westwerks im 13. Jahrhundert entfernt wurden. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass sich dem Querhaus ein weiteres Chorquadrat anschloss, an das sich dann eine Apsis anfügte. Dies legt die Bauweise des Querhauses und der Standort des Altars im Bardobau nahe, zudem entspräche es anderen Ausführungen in Hildesheim, Gernrode und Hersfeld. Die andere Lösung wäre ein direkter Anschluss der Apsis an das Querhaus, nach dem genauen Vorbild von St. Peter in Rom. Insgesamt maß der eigentliche Dombau mit Chorquadrat um 105 m, die Gesamtanlage kam auf 167 m (570 römische Fuß). Brand von 1009 und Bardo-Bau ab 1031 Am 29. August 1009, dem Tag der Weihe (andere Quellen sprechen vom 28. August), wurde der Bau durch einen Brand zerstört. Ursächlich war vermutlich die Festillumination des Domes anlässlich des Weihetages. Zu solchen Anlässen wurden Kirchen im Mittelalter häufig mit Fackeln beleuchtet. Unter den beiden unmittelbaren Nachfolgern des Willigis, Erkanbald und Aribo, blieb der ruinierte Dom eine Baustelle. Erst unter Erzbischof Bardo (1031–1051) wurde der Bau erneut vollendet, so dass der Dom am 10. November 1036 in Gegenwart von Kaiser Konrad II. geweiht wurde. Der Dom war nun als Pfeilerbasilika ausgeführt und hatte spätestens zu dieser Zeit eine Apsis im Osten, die allerdings nach den archäologischen Befunden nicht nach Art der heutigen an das Ostquerhaus angefügten Rundapsis anzunehmen ist. Vielmehr kann sie rechteckig und gerade gewesen sein. Nicht wieder aufgebaut wurden die zur Vorkirche führenden offenen Säulengänge sowie zunächst auch die Vorkirche an sich. Dafür entstanden der Kreuzgang und die Stiftsgebäude um den Dom herum. Aribo war der erste im Mainzer Dom begrabene Erzbischof, sein Grab fand er im Westchor des noch nicht vollendeten Domes. Vor dem Dombau hatten die Erzbischöfe die damals überregional bedeutende große Klosterkirche St. Alban vor den Toren der Stadt als Grablege bevorzugt. Willigis war in seinem zweiten Kirchenbau, der Stephanskirche, begraben worden. Farbliche Gestaltung des Bardo-Baus Die farbliche Gestaltung des Domes zu jener Zeit ist ein großes Forschungsgebiet des jeweiligen Domkonservators. Erst bei der Renovierung des Ostbaus, der viele Bestandteile des ursprünglichen Baus enthält, wurden 2002 Funde gemacht, die auf das Aussehen des Domes vor den Umbauten Kaiser Heinrichs IV. schließen lassen. Danach war der Dom damals außen weiß verputzt, wobei Lisenen und Gesimse aus rotem und gelbem Sandstein nicht verputzt waren. Das Innere wurde vermutlich in der Mitte des 11. Jahrhunderts unter Erzbischof Bardo geweißt und entsprach meist nicht dem heutigen Baubestand (siehe unten). Über die Farbgestaltung im Spätmittelalter kann nur spekuliert werden. Vielleicht geben während Sanierungsarbeiten im Rahmen der 2001 begonnenen Domrenovierung gefundene Nachweise Aufschluss. Genauer bekannt ist erst die Farbgestaltung des Barock und des 19. Jahrhunderts (siehe dort). Vom gesamten Willigis-Bardo-Bau stehen oberirdisch nur noch die Treppentürme im Osten sowie wenige Mauerreste unter anderem an der Südwand der Gotthardkapelle. Der übrige Bau wurde in den weiteren Jahrhunderten schrittweise durch Neubauten ersetzt. Ab 1100 Ostchor Kaiser Heinrichs IV. Von großer Bedeutung für die Baugeschichte des Mainzer Doms ist die Förderung durch Kaiser Heinrich IV. Anlass war der Brand von 1081, bei dem der Dom abermals schwer beschädigt wurde. Heinrich IV., der schon den Dom zu Speyer hatte umbauen lassen, begann um 1100 mit dem Aufbau des zerstörten Domes in vom lombardischen Stil geprägten Formen. Er ließ den alten Abschluss des Ostbaus durch eine Apsis mit großen Blendarkaden und einer Zwerggalerie oberrheinischen Typs ersetzen. Ein solches Element findet sich erstmals am Speyerer Dom, die Ostapsis des Mainzer Doms ist die zweite in diesem Stil. Darüber findet sich ein Giebel mit fünf von rechts und links ansteigend angeordneten Nischen. Dieses Motiv wurde vermutlich gleichfalls vom Speyerer Dom übernommen. Daneben ersetzten die Baumeister von Heinrich IV. den (vermuteten) quadratischen Turm des Willigis-Bardo Baus durch eine achteckige Kuppel. Dieser mittlere Ostturm wurde im Laufe der Zeit mehrfach erheblich umgestaltet. Die heutige Fassung ist eine Schöpfung von P. J. H. Cuypers aus dem Jahr 1875 (s. u.). Unter dem neuen Ostchor ließ der Kaiser eine dreischiffige Hallenkrypta beginnen, die sich vom Stil her vermutlich ebenfalls an die Krypta des Speyerer Doms anlehnte. Sie wurde jedoch möglicherweise schon während der Bauphase zugunsten eines durchgängigen Bodenniveaus wieder abgebrochen. Um den neuen großen Turm aufmauern zu können, wurde das östliche Querschiff um mehr als das Doppelte erhöht und fast auf das Doppelte verbreitert. Rechts und links der Apsis wurden zwei große Stufenportale eingebaut, die zu den ältesten ihrer Art gehören. Sie führten in die Seitenschiffe. Über dem Eingangsbereich der Portale lagen zwei weitere Geschosse, die den Ostchor flankierten. Der Verwendungszweck der Räume ist nicht restlos geklärt. Die unteren, die noch aus der Zeit des Willigis stammen (s. o.), könnten Sakristei, Archiv- oder sonstige Abstellräume gewesen sein. Sie waren nach wie vor nur aus dem Chorraum begehbar. Die oberen dürften Kapellenräume gewesen sein, wie sie vergleichbar in der Stiftskirche St. Gertrud in Nivelles, am Essener Münster und am Eichstätter Dom zu finden sind. Der Tod des kaiserlichen Förderers 1106 bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Bauarbeiten. Angefangenes wurde eilig fertiggestellt, anderes ruhte erst einmal oder wurde völlig eingestellt, weil die Ausführenden Magistri Comacini – Steinmetze aus der Lombardei – weiterzogen. Der Tod des Kaisers verleitete seinen Biographen zu prosaischem Wehklagen, das deutlich macht, was des Kaisers Ableben für den Mainzer Dom bedeutete („Heu Mogontia, quantum decus perdidisti, quae ad reparandam monasterii tui ruinam talem artificem amisisti! Si superstes esset, dum operi monasterii tui, quod inceperat, extremam manum imponeret, nimirum illud illi famoso Spirensi monatreio contenderet“ – Wehe Mainz, welche Zierde, welchen Künstler zur Wiederherstellung deiner ruinösen Münsterkirche hast du verloren! Wenn er so lange am Leben geblieben wäre, bis er letzte Hand an den von ihm begonnenen Dombau gelegt hätte, so hätte dieser unstreitig mit dem berühmten Speyerer Dom wetteifern können). Weil mit Heinrich IV. ein Kaiser am Dombau gewirkt hatte, gehört der Mainzer Dom zusammen mit dem Wormser Dom und dem Dom zu Speyer zu den drei rheinischen Kaiserdomen. Wann die Arbeiten weitergeführt wurden, war Gegenstand vieler Untersuchungen. Anhaltspunkt hierbei ist die reichlich zu findende Bauplastik an der Zwerggalerie der Apsis und den Portalen. Danach wird von einer Entstehungszeit der unvollendeten Teile des Querhauses und der Portale um 1125 bis 1130 ausgegangen. Die Entstehung des heutigen Langhauses Die weiteren Bauarbeiten am Dom wurden wahrscheinlich unmittelbar nach Vollendung des Ostteils fortgesetzt. Dabei wurde das alte Langhaus des Willigis-Bardo Baus mit Ausnahme der Fundamente Schritt für Schritt ersetzt. Zwischendurch wurde direkt neben dem Dom und ursprünglich mit direkter Verbindung zum Bischofspalast von Erzbischof Adalbert I. von Saarbrücken (1110–1137) die Palastkapelle St. Gotthard errichtet. Eine zeitgenössische Quelle pries ihr prachtvolles „tectum“, was außer „Dach“ auch Raum-„Decke“ und mithin „Gewölbe“ bedeuten kann. Ihrer Bauzeit entsprechend hat die Kapelle noch klassisch romanische Kreuzgratgewölbe. Das Ausbleiben der kaiserlichen Förderung bewirkte, dass das Langhaus nicht die Qualität erreichte wie der Ostchor. Für ihn hatte der Kaiser hochwertigen Sandstein aus dem Spessart und dem Haardttal heranschaffen lassen, der auch für den Speyerer Dom und die Klosterkirche Limburg an der Haardt verwendet worden war. Nun wurde auf Muschelkalk aus den nahegelegenen Weisenauer Steinbrüchen zurückgegriffen. Zudem erlitt der Dombau 1159 einen Rückschlag; bei einem Aufstand gegen Erzbischof Arnold stürmten die Mainzer Bürger den Dom und verwüsteten ihn. Im folgenden Jahr erschlugen sie den Erzbischof sogar. Das Langhaus weist zwar wie im Dom zu Speyer (und zahlreichen anderen Basiliken jener Zeit) ein gebundenes System auf und Seitenschiffe mit Kreuzgratgewölben (s. u.), aber das sind fast die einzigen Gemeinsamkeiten. Die Wände des Mittelschiffs haben zwischen den Arkaden zu den Seitenschiffen und den Obergaden, wenn auch nur in Form von Blendarkaden angedeutet, schon ein Triforiengeschoss und damit einen dreizonigen Wandaufriss, wie er seit dem späten 11. Jahrhundert im normannischen Kirchenbau Englands und der Normandie zu finden ist. Die von 1060 bis 1130 errichtete Abteikirche Ste-Trinité in Caen hat ebenfalls nur Blendarkaden als Triforium, allerdings prächtiger als in Mainz. Die Fenster des Obergadens wurden paarweise zusammengerückt, was darauf schließen lässt, dass von vorneherein eine Einwölbung des Mittelschiffs geplant war. – Die Mittelschiffswände des Mainzer Doms sind immerhin jünger als die von Heinrich IV. veranlasste Einwölbung des Speyerer Doms. Aus dem Jahr 1183 gibt es eine chronikalische Notiz, dass der Dom noch keine Gewölbe hatte. Die Einwölbung begann etwa 1190 und war 1200 abgeschlossen. Dabei wurden Mittelschiffsgewölbe ganz neu geschaffen und die Seitenschiffe wiederhergestellt. Während die Seitenschiffe noch klassisch romanische Kreuzgratgewölbe erhielten, wurde das Mittelschiff in 28 m Höhe mit spitzbogigen Kreuzrippengewölben gedeckt, die das Vorbild der französischen Frühgotik erkennen lassen, als deren Anfang der 1140 errichtete Chorumgang der Abteikirche Saint-Denis gilt. Die Gurtbögen sind verglichen mit der französischen Frühgotik plump, aber die Rippen stehen denen etwa der Kathedrale von Laon an Eleganz nicht nach. Die Verbindung romanischer Gestaltung der Wände, Fenster und Portale mit Kreuzrippengewölben ist typisch für die deutsche Spätromanik. In deren Musterbeispiel, dem Wormser Dom, wurden spitzbogige Rippen schon seit 1140 verwendet, also ohne Verzug gegenüber der Gotik. Das Langhaus wurde also moderner, aber nicht so prächtig ausgeführt wie beim Dom zu Speyer, für den als kaiserlichen Repräsentationsbau mehr Geld zur Verfügung gestanden hatte. Die Außenmauern des alten Willigis-Bardo-Baus blieben bis zur Einwölbung der Seitenschiffe um 1200 bestehen. Die mit dem Abschluss der Einwölbung vorhandenen oder geschaffenen Mauern verschwanden fast vollständig, als ab 1279 gotische Seitenkapellen im Norden und Süden an das Langhaus angefügt wurden. Ihre Reste verraten allerdings, dass das Bodenniveau im Inneren des Domes mittlerweile angehoben worden sein muss: Die Basen der Wände sind höher als die der gegenüberliegenden Pfeiler des Mittelschiffs. Die Bauarbeiten am Langhaus wurden durch etliche Brände erschwert. Der Westbau Erst während dieser letzten Phase entschloss man sich auch offenbar, den alten Westbau des Willigis zu ersetzen. Die Ausführung erfolgte von 1200 bis 1239 weitgehend im Stil der niederrheinischen Spätromanik und ist gleichzeitig eines der besten Zeugnisse dieser Bauepoche. Zu erkennen ist dies vor allem an den sehr fein gestalteten und künstlerisch weit entwickelten Kapitellen und einer reicheren Verwendung von Baudekor, die im Laufe der Zeit den strengen Formen der Hochromanik Platz gemacht hatte. Während dieser Bauphase hatte in Frankreich längst das Zeitalter der Gotik begonnen. Der Westbau lässt ein gotisches Charakteristikum erkennen, das nicht nur den spätromanischen Bauten in und um Köln fehlt, sondern genauso den ersten frühgotischen Kathedralen Frankreichs: der polygonale Grundriss des Chors. Achteckige Türme gab es schon länger, aber oft in Verbindung mit runden Apsiden, Vgl. Mainzer Ostchor. Polygonale Raumgrenzen kamen der gotischen Vorliebe in Kraftlinien zu bauen wesentlich besser entgegen. Vor der Errichtung des ersten gotischen Chorpolygons (ab 1185) wurde allerdings der polygonale Westchor des Wormser Doms (bis 1181) errichtet und gab damit womöglich den Anstoß zu diesem Entwicklungsschritt der Gotik. Als weitere frühgotische Elemente finden sich am Westbau des Mainzer Doms Strebepfeiler, einige Spitzbögen und für die Romanik eher ungewöhnlich lange Fenster im Westchor. Ausführung Der Baumeister des Westbaus vermied jegliches Risiko und entfernte zunächst alle Fundamentreste des Vorgängerbaus. Daher ist der Willigisbau an dieser Stelle nicht mehr sicher rekonstruierbar. Möglich ist auch, dass damals schon abzusehen war, dass die alten Fundamente auf dem schwierigen Untergrund nicht genug Last tragen konnten. Dann wurde zunächst das neue Querhaus aufgerichtet. Damit die Gewölbe einigermaßen quadratisch ausgeführt werden konnten, wurde es gegenüber dem Vorgängerbau nach Norden und Süden erheblich verkürzt. Die alten Mauern wurden niedergelegt, mit Ausnahme jener Teile im Norden, an die sich mittlerweile die 1137 vollendete Gotthardkapelle (dazu unten) anschloss. Statt ihrer wurden dickere Mauern mit großen Strebepfeilern aufgerichtet. Die neue Vierung wurde mit einer großen achteckigen Kuppel gekrönt, die innen reich durch umlaufende Blendarkaden, Rundbogenfriese und Säulenkapitelle geschmückt ist. An die Vierung schließt sich ein rippengewölbtes Chorquadrat an, also ein weiteres Joch mit der Seitenlänge der Querarme, die größer sind als die Joche des Mittelschiffs. Es ist nach niederrheinischem, allerdings weiter interpretierten, Vorbild als Trikonchos ausgeführt, also mit drei Apsidien an den äußeren Seiten. Diese sind nicht rund, sondern durch doppelte Brechung dreiseitig ausgeführt und ebenfalls mit Strebepfeilern versehen. Die beiden westlichen Pfeiler des Quadrats sind massiv gemauert, um die beiden achteckigen Flankentürmchen tragen zu können. Das Äußere des Westbaus Das Äußere des Westbaus bietet reichsten Bauschmuck, jedenfalls was die oberen Abschlüsse der Mauern angeht. Da der Dom immer umbaut war, hatte man in den unteren Bereichen an übermäßiger Bauzier kein Interesse. Die oberen Abschlüsse sind jedoch dafür umso reicher verziert. Die Fenster der Querhäuser sind mit Säulen gerahmt, die von qualitativ hochwertigen Kapitellen bekrönt werden. Die Giebel sind reich mit Rundbogenfriesen geschmückt, der Giebel der reicher geschmückten Nordwand (diese wandte sich zur erzbischöflichen Pfalz hin) noch dazu mit Blendarkaden. Das Chorquadrat ist nach allen drei offenen Seiten hin mit Giebeln bekrönt, die an ihren Seiten wiederum mit prächtigen Speichenrosen geschmückt sind, die zu den ältesten ihrer Art in Deutschland gehören. Dort, wo sich über dem Westchor die Giebel kreuzen, thront seit 1769 (1928 durch eine Kopie ersetzt) eine Statue des Hauptpatrons des Domes und des Bistums, des Hl. Martins. Die Apsiden selbst werden von einer säulengeschmückten Zwerggalerie niederrheinischen Typs umlaufen, von der aus die Wendeltreppen der Flankentürmchen betreten werden können, die erst in dieser Höhe beginnen. Eine Wendeltreppe, um die westlichen Teile des Doms direkt vom Boden (und nicht über den Umweg von Osten) betreten zu können, baute man erst später an der Nordverbindung von Querhaus und Trikonchos an, wozu die Säulengalerie an dieser Stelle umgestaltet werden musste. Die Bauarbeiten hingen vermutlich auch mit der Einrichtung der ersten Wächterstube (Glöcknerstube) an der Westwand des Nordquerhauses zusammen. Der große Westturm wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgebaut. Zur Zeit der Romanik war er wesentlich niedriger als heute. Aus dieser Zeit stammen noch die unteren sichtbaren Geschosse mit ihren Rundbogen. Vor 1490 wurde das gotische Geschoss aufgesetzt und auch ein entsprechender Turmhelm geschaffen, der jedoch 1767 abbrannte. Daraufhin entschied man sich zu der heutigen steinernen Ausführung, die Franz Ignaz Michael Neumann schuf (dazu Genaueres unten). Nach Beendigung der Bauarbeiten wurde der Dom am 4. Juli 1239 von Erzbischof Siegfried III. von Eppstein eingeweiht. Das Datum gilt seitdem als offizielles Domkirchweihfest. Die rund um den Westchor gebaute Sakristei wurde um 1240 errichtet und danach mehrfach erweitert. Gotik am Mainzer Dom Zur Zeit der Entstehung des spätromanischen Westbaus schuf der Naumburger Meister einen nun schon gotischen Westlettner mit einer Darstellung des Weltgerichts. 1682 wurde er infolge der liturgischen Reformen des Trienter Konzils abgebrochen. Die beiden Wendeltreppen, die sich innerhalb des Lettners befunden hatten, wurden in die 1687 errichteten Tribünen einbezogen, die die Vierung nach Norden und Süden abgrenzen. Von den Kunstwerken des Westlettners sind ansonsten nur Bruchstücke vorhanden. Einige, darunter der berühmte Kopf mit Binde und die Weltgerichtsdarstellung mit Deesis und Zug der Seligen und Verdammten, sind heute im Dom- und Diözesanmuseum aufbewahrt. Ein anderes, der Bassenheimer Reiter, ein Martinus-Relief, befindet sich in der Bassenheimer Kirche St. Martin. Ab 1279 wurden an die Langhausseiten des Domes nach und nach gotische Seitenkapellen mit großen Maßwerkfenstern angebaut. Bei den Kapellen auf der Nordseite, die sich zum heutigen Marktplatz hin erstreckt, ging es dabei unter anderem darum, eine repräsentative Fassade in einem modernen Stil zu schaffen. Anders als heute war der Dom an dieser Stelle damals nicht umbaut. Erzbischof Johann II. von Nassau ließ ab 1418 vor dem Ostchor eine zweigeschossige, frei im Mittelschiff stehende Grabkapelle errichten, von der noch der unterirdische Teil (die Nassauer (Unter-)Kapelle) erhalten ist. Gotisch ausgestaltet wurde bis ins 15. Jahrhundert auch das Domäußere: Von 1390 bis 1410 wurde der doppelgeschossige Kreuzgang neu errichtet. Es wird vermutet, dass Madern Gerthener am Bau der Nassauer Kapelle und des Kreuzganges mitwirkte. Von ihm stammt auf jeden Fall das Portal der Memorienkapelle am Übergang zum westlichen Kreuzgangflügel. Die Vierungstürme im Osten (ab 1361) und Westen (ab 1418) wurden mit gotischen Glockenstuben aufgestockt und erhielten steile gotische Turmhelme. Diese Arbeiten waren erst 1482 abgeschlossen. Der steile Turmhelm des Ostturms wurde bereits 1579 durch eine flachere achtseitige Spitze ersetzt. Wegen des enormen Gewichts der östlichen Glockenstube musste in den Ostchor nach 1430 ein gotischer Stützpfeiler eingefügt werden, der erst mit dem Abbruch des Glockengeschosses 1871 wieder entfernt wurde. Auch die Treppentürmchen und sogar die Gotthardkapelle erhielten gotische Türmchen bzw. Dachreiter. Gänzlich neu errichtet wurde die dem Dom vorgelagerte Stiftskirche St. Mariagreden (Liebfrauen). Nach dem Ende der gotischen Baumaßnahmen gab es bis 1767 am Bauwerk selbst keine wesentlichen Veränderungen, sondern nur einige Sanierungsmaßnahmen. Lediglich die Ausstattung (siehe dort) veränderte sich. Barocke Kunst Der durch Blitzeinschlag am 22. Mai 1767 wie das übrige Dach abgebrannte große westliche Vierungsturmhelm wurde von Franz Ignaz Michael Neumann, dem Sohn des Balthasar Neumann, 1769 durch einen mehrstöckigen steinernen Turmhelm ersetzt, dem der Mainzer Dom bis heute sein charakteristisches Bild zu verdanken hat. Neumann ließ sämtliche Dächer des Westbaus in Stein ausführen, um sie brandsicher zu machen. Dabei gestaltete er auch die westlichen Flankentürmchen neu. Neumann arbeitete in barocken Formen, bezog in sein Werk aber auch die am Dom schon vorhandenen Stilelemente der Spätgotik und der Romanik mit ein. Des Weiteren verschwanden die gotischen Giebel der Seitenkapellen, ihre Fialen wurden durch Urnen ersetzt. Auch der heutige Wetterhahn des Westturms, der sogenannte „Domsgickel“, der Stoff zahlreicher literarischer Betrachtungen von Mainzer Dichtern und Fastnachtern war und ist, stammt in seinem Grundbestand aus der Zeit des damaligen Umbaus. Die Barockzeit brachte auch Veränderungen in der Farbgestaltung des Domes mit sich. Wie viele Barockneubauten wurde der Dom 1758 innen weiß angestrichen und erhielt außerdem farblose Fenster. Es kann daher vermutet werden, dass der Dom vorher nicht wie noch der Willigis-Bardo-Bau geweißt war. Der Dom und die Umbauten des 19. Jahrhunderts Der Untergang des alten Erzbistums und die damit verbundenen Wirren gingen auch am Mainzer Dom nicht spurlos vorüber. Bei der Beschießung der Stadt durch die Preußen 1793 wurde der Dom schwer getroffen. Insbesondere die Ostgruppe und der Kreuzgang waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Die gotische Liebfrauenkirche St. Maria ad Gradus wurde ebenfalls schwer beschädigt und 1803 sogar abgebrochen, obwohl es nicht unbedingt nötig gewesen wäre. In den Zeiten nach der Mainzer Republik wurde der Dom als Heerlager bzw. Magazin zweckentfremdet, die Ausstattung wurde verkauft. Schließlich war der Dom vom Abbruch bedroht. Dieses Schicksal wendete Bischof Joseph Ludwig Colmar mit Hilfe Napoleons jedoch ab. Colmar führte den Dom wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zu. Das erforderte umfangreiche Restaurierungsarbeiten, die sich bis 1831 hinzogen. Zunächst wurden das Innere wieder benutzbar gemacht und die Dächer instand gesetzt. Unterbrochen wurden diese Arbeiten von der abermaligen Beschlagnahme durch die französische Grande Armée 1813, die den Dom nach ihrer Niederlage als Schweinestall und als Lazarett für 6000, zum Teil an Typhus erkrankte Soldaten benutzte. Dabei wurde der größte Teil der verbliebenen hölzernen Ausstattung verheizt. Schon die Nutzung als Heerlager 1803 hatte den Verlust etlicher hölzerner Ausstattungsstücke zur Folge gehabt. Erst im November 1814 wurde der Dom wieder als Kirche benutzt. Dann folgte die Neugestaltung der Dächer und des zerstörten östlichen Hauptturms durch den großherzoglich hessischen Hofbaudirektor Georg Moller. Moller setzte der alten gotischen Glockenstube 1828 eine spitzbogige schmiedeeiserne Kuppel auf. Diese Kuppel wurde schon 1870 zusammen mit der gotischen Glockenstube jedoch abgebrochen, da Mauerwerksrisse ein zu hohes Gewicht des Turmhelms vermuten ließen – wohl aber auch, weil die Eisenkuppel keine Akzeptanz in der Öffentlichkeit fand. 1875 schuf P. J. H. Cuypers den heutigen neu-romanischen östlichen Vierungsturm. Das Werk Cuypers' ist der Abschluss dieser längeren Bauphase am Ostbau. Da dem Vierungsturm nunmehr das schwere Glockengeschoss fehlte, wurde der alte gotische Stützpfeiler im Inneren abgerissen. Außerdem wurde die Ostchorkrypta wiedererrichtet, auf die ursprüngliche Höhe der Krypta des Heinrich-IV.-Baus allerdings verzichtet. Historische Fotografien aus der Spätzeit des 19. Jahrhunderts zeigen außerdem, dass der Dom nun entgegen der barocken Farbgestaltung bunt ausgemalt war. Bei der Ausmalung handelt es sich um Werke aus der Nazarenerschule, die vor allem von Philipp Veit zwischen 1859 und 1864 ausgeführt wurden. Von ihnen sind heute nur noch die neutestamentlichen Bibelszenen in den Wandbögen des Mittelschiffs erhalten. Restaurierungsmaßnahmen im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert wurde am Dom vor allem unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung gebaut. Die erste Maßnahme wurde nötig, nachdem die hölzernen Pfahlroste unter den Domfundamenten durch das Absinken des Grundwasserspiegels und den Anbau von Regenrinnen zu faulen begannen. Das Absinken war ein Ergebnis der Rheinuferaufschüttung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Arbeiten begannen 1909. Als sie zum Ende des Ersten Weltkriegs vorläufig eingestellt wurden, nahmen die durch das instabile Fundament ausgelösten Mauerschäden so zu, dass schließlich der Bestand des Domes an sich gefährdet war. Der Dom wurde daher von 1924 bis 1928 auf Betonfundamente gestellt. Die Gewölbe und Turmaufbauten wurden mit Beton und Stahlankern gesichert, die Obergadenwand mit einer tragenden Spritzbetonschicht verstärkt (durch dieses „Torkretieren“ wurden die noch zahlreich vorhandenen historischen Rüstlöcher verschlossen, was heute die Datierung des Mittelschiffs erschwert). Außerdem wurden im Inneren der heutige rötliche, wie Marmor wirkende Fußboden aus Knollenkalk eingezogen und die meisten Ausmalungen von Philipp Veit entfernt. Der Maler Paul Meyer-Speer (1897–1983) entwickelte stattdessen aus den unterschiedlichen Eigenfarben der Sandsteine ein System, bei dem er die Steine im Inneren nach genau vorherbestimmter Abstufung einfärbte. Nachvollziehen kann man diese Art der Farbgestaltung noch heute am Mittelschiff des Speyerer Doms. Im Zweiten Weltkrieg war Mainz mehrmals Ziel größerer Luftangriffe. Der Dom erhielt im August 1942 mehrere Treffer. Dabei wurde das Obergeschoss des Kreuzgangs zerstört, außerdem brannten die meisten Dächer des Doms ab. Das Gewölbe jedoch überstand alle Bombardements. Weitere Schäden entstanden bei Bombenangriffen am 8. September 1944 und am 27. Februar 1945. Die äußeren Restaurierungsarbeiten nach dem Krieg, bei denen auch Verwitterungsschäden beseitigt wurden, zogen sich bis in die 1970er-Jahre hin, ebenso wie die Arbeiten an der Innenraumgestaltung, insbesondere der neuen Verglasung. Abschließend wurde der Dom außen mit Mineralfarben rot eingefärbt, maßgeblich war hier Diözesankonservator Wilhelm Jung. Mit der Rotfärbung glich man ihn in der Farbgebung den meisten historischen Mainzer Gebäuden (zum Beispiel dem Kurfürstlichen Schloss) an. Bei der Domsanierung 1958–1960 wurde die Farbgestaltung von Meyer-Speer im Innenraum teilweise zurückgenommen, indem man die kräftigsten Farbtöne herausnahm, so dass sich die Farben der einzelnen Steine seither nur noch schwach voneinander unterscheiden. Außerdem wurden die Gewölbekappen weiß gestrichen. Nach Abschluss der Sanierung beging man 1975 feierlich die Tausendjahrfeier, der Tradition folgend, dass der Bau unmittelbar zum Amtsantritt von Willigis (975) begonnen worden war. 2009 wurde erneut eine Tausendjahrfeier begangen, um der ersten Vollendung, ebenfalls in der Amtszeit von Willigis (1009), zu gedenken. Restaurierungsmaßnahmen im 21. Jahrhundert 2001 begann erneut eine Sanierung des Domes, deren Dauer zu Beginn der Baumaßnahmen auf zehn bis 15 Jahre veranschlagt wurde. Sie umfasst alle Teile des Domes, sowohl innen als auch außen. Während die äußere Farbgebung wegen der Einheitlichkeit im Stadtbild nicht zur Disposition stand, gab es zum Inneren Überlegungen einer Rückbesinnung auf die Farbgebung nach der Sanierung von 1928 (siehe oben). Nach Fertigstellung der Arbeiten an der Ostgruppe und der Neufassung der Obergaden des Langhauses, begann im Frühjahr 2010 die Sanierung der Westgruppe, insbesondere des dortigen Vierungsturms, dessen Spitze komplett ausgetauscht wurde. Ende Februar 2013 wurde der Domsgickel abgenommen und neu vergoldet. Anschließend war er bis 30. Mai 2013 im Dom- und Diözesanmuseum ausgestellt. Am 19. Juli wurde die neue Domspitze mit Domsgickel aufgesetzt. Im Innern wurde die Sakramentskapelle nach einer umfassenden Sanierung am 11. September 2007 von Kardinal Karl Lehmann wiedereröffnet. Bei der Sanierung erhielten die beiden Fenster der Sakramentskapelle eine neue Verglasung, die Johannes Schreiter gestaltete. Der Altar wurde restauriert und ein Altarbild des „Neuen Wilden“ Bernd Zimmer angebracht. Die Gotthardkapelle wurde zwischen 2009 und 2010 renoviert. Im Juli 2013 folgte die Sanierung der Turmspitze des Westwerks. Die damals 240 Jahre alte Turmspitze wurde von Mitarbeitern der Mainzer Dombauhütte originalgetreu kopiert und in zwei Sektionen zu einem Komplettaustausch am 17. und 18. Juli bereitgestellt. Die Kosten für den Austausch beliefen sich nach Angaben des Bistums Mainz auf ca. 500.000 Euro. Entgegen dem ursprünglichen Zeitplan konnte die Sanierung des Westchors und der kleinen Flankierungstürme Ende 2016 nicht abgeschlossen werden. Königskrönungen im Dom Im Laufe des Mittelalters fanden in Mainz mehrere (Gegen-)Königskrönungen statt. Im Hoch- und Spätmittelalter war Aachen der durch Tradition legitimierte Krönungsort, eine Krönung in Mainz wurde von den politischen Gegnern als Formfehler betrachtet, der die Krönung ungültig machte. Nicht alle Krönungen wurden im Mainzer Dom selbst vorgenommen, da er, wie beschrieben, im Laufe des Mittelalters einige Male durch Brände beschädigt wurde. Im Dom vorgenommen wurden die Krönungen von Agnes von Poitou 1043 durch Erzbischof Bardo; Rudolf von Rheinfelden (auch: Rudolf von Schwaben) als Gegenkönig zu Heinrich IV. am 26. März oder 7. April 1077 durch Siegfried I. von Mainz; Mathilde (spätere Frau Heinrichs V.) durch den Kölner Erzbischof Friedrich I. von Schwarzenburg am 25. Juli 1110; Philipp von Schwaben (8. September 1198) durch Bischof Aimo von Tarentaise; Friedrich II. am 9. Dezember 1212 durch Siegfried II. von Eppstein; Die Krönungen von Heinrich II. (6. Juni 1002) durch Erzbischof Willigis und Konrad II. (8. September 1024) durch Erzbischof Aribo fanden vermutlich im alten Dom, der benachbarten Johanniskirche, statt. Ausstattung Im Mainzer Dom ist – obwohl er im Laufe der Zeit große Teile seiner Ausstattung verloren hat – eine der reichsten Kirchenausstattungen der Christenheit zu finden. Bedeutendste Stücke sind die Altäre und die Grabdenkmäler der Erzbischöfe und einiger Prälaten. Ausstattung zur Zeit des Willigis Das frühste Ausstattungsstück, dessen Entstehung und Verlust bekannt ist, ist das sogenannte Benna-Kreuz. Dieses Triumphkreuz bestand aus mit Goldplatten beschlagenem Holz mit einer überlebensgroßen Christusfigur aus purem Gold. Erzbischof Willigis hatte sie mit Tributeinnahmen von den Langobarden finanziert. Noch im Laufe des Hochmittelalters wurde das Kreuz zwischen 1141 und 1160 stückweise von den Erzbischöfen zur Finanzierung ihrer Amtsgeschäfte eingeschmolzen und verkauft. Erhalten blieben dagegen die großen Bronzetüren, die Meister Berenger in Willigis' Auftrag fertigte. Diese Türen waren laut Inschrift die ersten aus Metall gefertigten Türen seit Karl dem Großen, was von Vertretern der Theorie, wonach Willigis mit seinem Dombau Aachen als Krönungsort ablösen wollte, als weitere Demonstration seines Anspruchs angesehen wird. Die Türen waren ursprünglich in der dem Dom vorgelagerten Liebfrauenkirche eingebaut. Diese erstreckte sich nämlich zum Rhein hin und empfing so nach dem Zeremoniell den mit dem Schiff ankommenden König bzw. Kaiser. 1135 ließ Erzbischof Adalbert I. von Saarbrücken in den oberen Teil der Türen das von ihm gewährte Stadtprivileg eingravieren. Nach dem Abbruch der Liebfrauenkirche 1803 kamen die Türen an den Dom und bilden dort das Marktportal. Über die sonstige Ausstattung des Willigis-Domes ist nicht viel bekannt. Da der Bau schon am Weihetag (oder am Tag davor) abbrannte, kam es möglicherweise niemals zu einer reicheren Ausstattung. Aufgrund der häufigen Baumaßnahmen und Umgestaltungen des Doms sind außer der Bausubstanz und einigen Grabfunden keine Elemente der Romanik mehr am Dom vorhanden. Eine Ausnahme bildet das sogenannte Udenheimer Kruzifix, das aber nicht zur ursprünglichen Ausstattung gehört, sondern erst 1962 aus der Kirche von Udenheim angekauft wurde. Die genaue Entstehungszeit dieses Kreuzes ist umstritten, teilweise wird es bis ins 9. Jahrhundert zurückdatiert, meist wird eine Zeit zwischen 1070 und 1140 angenommen. Gotische Ausstattungsgegenstände Erst mit Anbruch der Gotik wuchs der Reichtum der Ausstattung beständig an. In die ab 1278 angebauten Seitenkapellen wurden gotische Altäre eingebaut, die mit Anbruch der Barockzeit nach und nach ersetzt wurden. Bedeutendster noch erhaltener Altar ist der Marienaltar mit der spätgotischen „Schönen Mainzerin“ flankiert von den Heiligen Martin und Bonifatius (um 1510). Der Altarschrein selbst stammt jedoch aus dem Jahre 1875. Ebenfalls aus spätgotischer Zeit stammt die große Kanzel im Mittelschiff, die allerdings 1834 so gründlich erneuert wurde, dass nur noch geringe Teile des ursprünglichen Werks vorhanden sind. Weitere heute im Dom befindliche gotische Ausstattungsstücke stammen aus der Liebfrauenkirche. Dazu gehört insbesondere das große Taufbecken im nördlichen Querhaus aus dem Jahr 1328; es ist einer der größten – wenn nicht der größte – jemals aus Zinn gegossenen Gegenstände. Das Taufbecken stand in der Liebfrauenkirche, weil sie die Taufkirche der Dompfarrei war. Im Dom selbst wurde damals nicht getauft. In die Übergangsphase von der Spätgotik zur Renaissance ist die Grablegungsszene des sogenannten Adalbert-Meisters zu datieren, die sich in einer Seitenkapelle des Doms befindet. Nur in Fragmenten erhalten ist dagegen der Westlettner des Naumburger Meisters. Die Reste finden sich größtenteils im Dom- und Diözesanmuseum. Ausstattung zur Zeit des Barock und Rokoko 1631 wurde Mainz von den Schweden besetzt, die den Dom teilweise plündern ließen. Noch heute befinden sich daher in Museen in Uppsala Teile des ehemaligen Mainzer Domschatzes. Drei Mainzer Domaltäre mit je zwei Flügeln des Malers Matthias Grünewald wurden von den schwedischen Soldaten geraubt. „Sind zusammen Anno 1631 oder 32 in damaligem wildem Krieg weggenommen worden, und in einem Schiff nach Schweden versandt worden, aber neben vielen ändern dergleichen Kunststücken durch Schiffbruch in dem Meer zu Grund gegangen“ schrieb der Biograph Joachim von Sandrart im Jahr 1675. Da die Stadt Mainz nach dem Dreißigjährigen Krieg während der Zeit des Barock vor allem unter den Erzbischöfen Johann Philipp von Schönborn (1647–1673) und Lothar Franz von Schönborn (1695–1729) eine neue Blütezeit erlebte, die mit reger Bautätigkeit einherging, fehlt es auch im Dom nicht an barocken Ausstattungsgegenständen. Viele der gotischen Altäre wurden durch barocke ersetzt, weitere Altäre wurden hinzugefügt, wie etwa der Nassauer Altar von 1601 im nördlichen Querhaus. Ein Jahr später wurde das obere Geschoss der Nassauer Kapelle, das mitten in das Mittelschiff des Domes ragte, abgerissen. Das Untergeschoss ist erhalten. 1687 wurden zwischen die nördlichen und südlichen Vierungspfeiler barocke Tribünen (Choretten) gebaut, auf denen während der Messen die Musiker standen, später wurde dort auch eine Orgel aufgestellt. Das größte und wichtigste Kunstwerk jener Zeit ist jedoch das schon dem Rokoko zugehörige große Chorgestühl des Westchors. Es wurde zwischen 1760 und 1765 von Franz Anton Hermann geschaffen. Die Verzierungen des Chorgestühls, das von einem Standbild des Hl. Martin über dem Baldachin des Bischofs bekrönt wird, stellt keinen Bibelzyklus dar, sondern bildet die Wappen des Erzstiftes und seiner Dignitäten ab und sollte so wohl einen Eindruck von Macht und Herrlichkeit der alten Mainzer Kirche erzeugen. Das Chorgestühl des Ostchors ist wesentlich schlichter und stammt aus der in napoleonischer Zeit abgerissenen Schlosskirche St. Gangolf. Spätere Ausstattung Das 19. Jahrhundert war in erster Linie dem Bauwerk gewidmet. An Ausstattung kam dagegen mit Ausnahme der Grabdenkmäler für die Bischöfe dieses Jahrhunderts und dem Schrein für die Figurengruppe des Marienaltars wenig Erwähnenswertes hinzu. Aus dem 20. Jahrhundert ist vor allem das große, an historische Vorbilder erinnernde Kreuz aus Bronze in der Westvierung zu erwähnen, das zum tausendjährigen Domjubiläum geschaffen wurde. Bedeutend ist auch der „Schrein der Mainzer Heiligen“ in der Ostkrypta des Domes, der 1960 gestiftet wurde. Die Grabdenkmäler Bedeutend für die Kunstgeschichte sind die Grabdenkmäler. Der Mainzer Dom bewahrt eine der umfangreichsten Sammlungen solcher Kunstwerke auf dem Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches. Die Grabdenkmäler sind der Ausdruck des Selbstverständnisses der Mainzer Erzbischöfe, die damals nicht nur der größten Kirchenprovinz jenseits der Alpen vorstanden, sondern auch ranghöchste Reichsfürsten und lange Zeit Vertreter des Papstes und Primas Germaniae waren. Mit der Errichtung eines Grabdenkmales für den jeweiligen Vorgänger ordnete sich der Amtsinhaber in die Reihe der Mainzer Erzbischöfe ein und beanspruchte so die ihnen seit Generationen zustehenden Privilegien. Aber nicht nur Erzbischöfe, sondern ebenso einige hochrangige Mitglieder des Mainzer Domkapitels ließen sich Grabdenkmäler im Dom errichten. Stilistisch sind in den Grabdenkmälern alle Epochen der europäischen Kunstgeschichte vertreten, von der Gotik über den Barock bis hin zu den sich wieder am Mittelalter orientierenden Denkmälern des 19. Jahrhunderts. Der Verzicht auf figürliche Darstellung begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das älteste dieser Denkmäler ist das des Erzbischofs Siegfried III. von Eppstein († 1249). Es zeigt ihn – wie auch später beim Denkmal Peters von Aspelt zu sehen – als Königskröner und war ursprünglich noch als Grabplatte gedacht, was am gemeißelten Kissen unter dem Kopf des Erzbischofs zu erkennen ist. Erst später wurde es senkrecht an einem Pfeiler des Mittelschiffs angebracht, 1834 wurde es mit Ölfarbe angemalt. Das erste direkt an der Wand angebrachte Grabdenkmal war das von Erzbischof Konrad II. von Weinsberg († 1396). Die Denkmäler seiner Nachfolger im 15. Jahrhundert gehören zu den qualitativ hochwertigsten. Zu nennen sind vor allem die Grabdenkmäler der Erzbischöfe Johann II. von Nassau und Konrad III. von Dhaun. Am Übergang von der Spätgotik zu Renaissance sind zunächst die Grabdenkmäler des Erzbischofs Berthold von Henneberg bemerkenswert, der sich als erster vermutlich schon zu Lebzeiten gleich zwei Denkmäler hatte anfertigen lassen. Die Grabplatte besteht aus damals überaus teurem roten Marmor und wurde mit einer sich von anderen Grabdenkmälern abhebenden Qualität angefertigt. Bemerkenswert ist des Weiteren das Denkmal Erzbischof Uriels von Gemmingen. Es ist gänzlich anders gestaltet als alle anderen Grabdenkmäler, da es den Erzbischof nicht als herrschaftliche Standfigur, sondern demütig unter einem Kreuz kniend darstellt. Einzelne Detailformen und Zierelemente zeigen bereits den Übergang von der Spätgotik zur Renaissance, doch die Orientierung an der Breite der Pfeiler behält dieses Denkmal ebenfalls bei. Endgültig zur Renaissance zählt das Grabdenkmal des Erzbischofs und Kardinals Albrecht von Brandenburg. Albrecht war gleichzeitig Erzbischof von Mainz und von Magdeburg, weswegen er auf seinem Grabdenkmal zwei Pallien trägt. Auch Albrecht hatte sich neben dem Denkmal noch eine Grabplatte anfertigen lassen, die heute in unmittelbarer Nähe des Denkmals hängt. Als einzige ihrer Art im Mainzer Dom ist ihre Inschrift in deutscher Sprache verfasst. Die Formensprache und Farbgebung des Albrecht-Monuments findet sich genauso – da vom selben Künstler stammend – beim Denkmal seines Nachfolgers Sebastian von Heusenstamm. Das Grabmal der Familie von Gabelentz wurde von Johann Robin, dem Bruder des aus Flandern stammenden Architekten Georg Robin, und seiner Werkstatt um 1590 geschaffen. Das letzte dieser Denkmäler, die den Verstorbenen als Statue zeigen, ist das von Erzbischof Damian Hartard von der Leyen. Danach werden auf den Denkmälern – falls sie noch aus einer figürlichen Darstellung bestehen – nur noch Szenerien dargestellt. So zeigt zum Beispiel das einzige Denkmal eines Laien den 1689 gefallenen Reichsgrafen Karl Adam von Lamberg, wie er aus dem Sarg zur Auferstehung steigt. Aus dieser Epoche, die dem Barock bzw. dem Rokoko zuzuordnen ist, stammt auch das mit 8,33 m größte Grabdenkmal des Domes, das den Dompropst Heinrich Ferdinand von der Leyen darstellt. Um 1800 begann die Rückbesinnung auf mittelalterliche Vorbilder. Die Grabdenkmäler wurden unter anderem wieder als Tumben mit Reliefs gestaltet, wie das des bedeutenden Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Ab 1925 wurden alle Bischöfe in Grabnischen in der dafür neu geschaffenen Westkrypta begraben. Anbauten und Krypten Ostkrypta Eine Ostkrypta sah schon die Bauplanung zur Zeit des Kaisers Heinrich IV. vor. Heinrich legte den Grund für eine dreischiffige Hallenkrypta, die aber wohl nie vollendet wurde. Nach dem Tod des Kaisers 1106 ruhten die Arbeiten am Ostbau bis etwa 1125. In den neueren Planungen war jedoch keine Krypta mehr vorgesehen, weswegen die vorhandenen Teile mit Schutt aufgefüllt wurden. Die Krypta wurde 1872 bis 1876 wiedererrichtet. Dabei konnte die alte Anlage aufgrund der archäologischen Befunde weitgehend rekonstruiert werden. Sowohl die Sockelplatten der freistehenden Säulen als auch Stufen der ehemaligen Treppenanlage wurden gefunden. Die Wandgliederung hatte sich ebenfalls erhalten und gab Auskunft über die unter Heinrich IV. geplante Form. Aufgrund der Ähnlichkeit zur Krypta des Speyerer Doms wurde bei den übrigen Baumaßnahmen, insbesondere bei der Gestaltung der Kapitelle, auf das Speyerer Vorbild zurückgegriffen. Die Ostkrypta ist daher eine dreischiffige Halle mit einer Länge von fünf Jochen. Sie ist von den beiden Seitenschiffen aus über Treppen erreichbar. Im Inneren befindet sich ein 1960 geschaffener Schrein mit Reliquien der Mainzer Heiligen. An Allerheiligen ist die Krypta daher Ziel einer Prozession zum Abschluss der Vesper. Westkrypta („Bischofsgruft“) Die nach dem ersten Mainzer Erzbischof benannte Lullus-Krypta wurde erst 1927/28 während der großen Domrenovierung unter der Westvierung erbaut. Es ist ein rechteckiger Raum mit einer flachen Decke, die durch vier Säulen gestützt ist. Im Westen ist ein steinerner Altar aufgebaut. Die Krypta ist die Grablege der Mainzer Bischöfe und Weihbischöfe seit jener Zeit. Dort liegen Ludwig Maria Hugo († 1935), Albert Stohr († 1961), Weihbischof Josef Maria Reuss († 1985), Kardinal Hermann Volk († 1988), Weihbischof Wolfgang Rolly († 2008), Weihbischof Werner Guballa († 2012) und Kardinal Karl Lehmann († 2018). Ebenfalls wurde der Mainzer Erzbischof Johann Friedrich Karl von Ostein dort bestattet. Die Krypta ist durch Treppen im Nord- und Südquerhaus zugänglich. Nassauer Unterkapelle Die Nassauer Unterkapelle befindet sich unter dem Mittelschiff des Doms Richtung Osten (zweites Mittelschiffsjoch von Osten aus, vgl. auch den Grundriss von Gudenus). Sie bildet ein Rechteck mit den Seitenlängen 7,50 m × 6,60 m. Zehn kleine Säulen bilden ein Achteck und tragen ein kleines gotisches Gewölbe. Früher gab es, wie auf dem Grundriss von Gudenus ebenfalls zu sehen ist, im Langhaus zwei schmale Treppen, die zu der unterirdischen Kapelle hinabführten. Heute ist die Kapelle nur noch durch einen kleinen Gang gegenüber dem unterirdischen Eingang zur Ostkrypta erreichbar. Die ehemaligen Treppenaufgänge führen in Stollen unter dem Dom. Über der Unterkapelle befand sich ein Baldachin mit einem Martinsaltar, den Erzbischof Johann II. von Nassau 1417 oder 1418 gestiftet hatte. Ein Altar an dieser Stelle ist schon 1051 nachweisbar. Erzbischof Bardo wurde dort vor einem Altar begraben, über dem sich das Hauptkreuz des Domes befand, woraus sich die Bezeichnung „Kreuzaltar“ ableitete. Ähnliche Altäre gab es zu jener Zeit häufig, unter anderem auch in Fulda, St. Aposteln in Köln und im Kloster St. Gallen. Zur Zeit des Erzbischofs Bardo dürfte der Kreuzaltar der Standort des sogenannten Benna-Kreuzes gewesen sein, das Erzbischof Willigis gestiftet hatte. Der Altar Johanns II. wurde 1683 abgebrochen. Die Unterkapelle findet heute noch ihre Verwendung in der Karwochenliturgie, da sich dort eine Grablegeszene (Heiliges Grab) befindet. Ansonsten ist sie geschlossen. Sakristei Die heutige Sakristei entstand in drei Bauphasen. Der erste Teil, die heutige Pfarrsakristei, entstand vermutlich kurz nach der Errichtung des Westchors 1239. Er ist in seinem Stil enger an gotische Formen angelehnt als der Westbau. Die erste Erweiterung geschah 1501 unter Erzbischof Berthold von Henneberg (1484–1504), der dort einen Teil des Domschatzes unterbrachte. Die zweite Erweiterung erfolgte 1540 durch Albrecht von Brandenburg (1514–1545), der die Räumlichkeiten für die Aufnahme des sogenannten Halleschen Heiltums benötigte, das er nach Mainz hatte bringen lassen. Gotthardkapelle Erzbischof Adalbert I. von Saarbrücken ließ vor 1137 neben dem Nordquerhaus eine Palastkapelle errichten, die dem Patrozinium des heiligen Godehard von Hildesheim unterstellt war. Die Gotthardkapelle stand östlich der Bischofsresidenz, die sich im 12. Jahrhundert noch unmittelbar am Dom befand. Residenz und Kapelle waren über einen Durchgang verbunden, dessen Wandöffnung noch sichtbar ist. Der quadratische Anbau ist eine Doppelkapelle mit einem Erd- und einem Obergeschoss. Vier Pfeiler unterteilen den Raum im Erdgeschoss in neun Quadratjoche. Das mittlere davon blieb ohne Gewölbe, damit – wenn er nicht selbst zelebrierte – der Erzbischof und sein Hofstaat in der Oberkapelle der Messe folgen konnten. Die Unterkapelle war für die Dienerschaft und das Volk vorgesehen. Die Gotthardkapelle ist eine der ältesten erhaltenen Bauten ihrer Art. Mit Ausnahme der Kapitelle der Zwerggalerie, die um die Außenseiten des Baus verläuft, ist die Kapelle arm an Bauschmuck. Ihren Mittelturm, der im Laufe der Zeit dem jeweiligen Geschmack angepasst wurde, hat sie verloren. Nachdem die erzbischöfliche Pfalz im 15. Jahrhundert in die Martinsburg am Rheinufer verlegt worden war, verlor die alte Palastkapelle an Bedeutung. So wurde das mittlere Joch später eingewölbt, da die ursprüngliche Funktion der Öffnung nicht mehr gegeben war. Heute ist die Deckenöffnung in der Mitte der Kapelle wiederhergestellt. An der Ostwand der Kapelle befinden sich eine große Apsis in der Mitte und zwei kleinere Apsiden rechts und links davon. Die mittlere Apsis wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu gestaltet. An die Stirnseite kam 1962 das sogenannte Udenheimer Kruzifix, das aus dem Hochmittelalter stammt. In jeder Apsis stand früher ein Altar; der mittlere war bis ins 20. Jahrhundert der Sakramentsaltar des Doms. Im Obergeschoss wurde eine zweimanualige Orgel der Windesheimer Orgelbauwerkstatt Oberlinger aufgestellt. Die Kapelle wird heute für die Werktagsmessen des Domstifts genutzt. Kreuzgang Zum Bau eines Kreuzgangs kam es am Willigis-Dom nicht mehr. Den ersten Kreuzgang des Doms bauten die Nachfolger, jedoch ist dieser – vermutlich mehrfach erneuerte – Kreuzgang nicht mehr erhalten. Der heutige Kreuzgang wurde zwischen 1400 und 1410 im Stil der Gotik an der Südseite des Doms errichtet. Er ist wohl so groß wie der Vorgängerbau, von dem noch Mauerreste und ein Kellerraum aus dem frühen 13. Jahrhundert erhalten sind. Der im gotischen Stil ausgeführte Bau ist dreiflügelig und doppelstöckig. Damit weist er gleich in zweifacher Weise Besonderheiten auf. Offenbar hatte der Kreuzgang nur drei anstatt vier Flügel, weil ein vierter Flügel die großen Maßwerkfenster der gotischen Seitenkapellen verdeckt hätte, die im 14. Jahrhundert an das Langhaus des Domes angebaut worden waren. Doppelstöckig wurde der Kreuzgang ausgeführt, weil im Obergeschoss die große Dombibliothek eingerichtet werden sollte. Der Kreuzgang besteht aus 24 Jochen, die von einem einfachen Kreuzrippengewölbe überspannt sind. Er war wie alle Kreuzgänge Verbindungsgang zwischen den um ihn errichteten Stiftsgebäuden und daneben vor allem als Beerdigungsstätte für Mitglieder des Domstifts. 1793 wurde er bei der Beschießung der Stadt schwer getroffen und im 19. und 20. Jahrhundert stark restauriert. 1942 brannte der Kreuzgang nach Bombentreffern aus. Von 1952 bis 1969 wurde er anschließend schrittweise wieder restauriert. Im Obergeschoss befindet sich heute das Dom- und Diözesanmuseum. Das Untergeschoss wird noch als Prozessionsweg benutzt, außerdem finden sich dort noch etliche Grabdenkmäler und Ausgrabungsfunde. Das mit einer Pietà geschmückte Grabdenkmal des Domherrn und Dombaumeisters Johann von Hattstein († 1518) gilt als erstes Renaissancedenkmal in der Mittelrheingegend. Das vom Kreuzgang umschlossene Gelände ist heute Domfriedhof. Memorie Die sogenannte Memorie ist an das Südquerhaus im Westen angebaut. Sie entstand in der spätromanischen Bauphase von 1210 bis 1230. Die Memorie ist der ehemalige Kapitelsaal des Domkapitels. Da den Kapitularen das Recht zustand, sich dort begraben zu lassen, wurde der Kapitelsaal wie auch in anderen Dombauten (Bamberg, Eichstätt, Würzburg) allmählich zum Mausoleum. Die Sitzungen des Kapitels fanden daher später in Räumlichkeiten am Südflügel des Kreuzgangs statt, die im Gegensatz zur Memorie zum Teil auch beheizbar waren. Der alte Saal diente dann vor allem dem Totengedenken, woraus sich auch der heutige Name ableitet. Ältere Ansichten zeigen eine Vielzahl von nicht mehr vorhandenen Grabplatten im Boden. In dem Raum befinden sich jedoch noch drei bogenförmige Epitaphien der Mainzer Renaissance. Sie zeigen Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt und erinnern an drei bedeutende Persönlichkeiten im Umfeld der Domkirche; den erzbischöflichen Rat Martin von Heusenstamm († 1550) sowie die Domherren Konrad von Liebenstein († 1536) und Georg Göler von Ravensburg († 1558). Von der Funktion als Kapitelsaal zeugen noch der steinerne Thron an der Westseite des Anbaus und die umlaufende Steinbank an den Wänden. Die Memorie ist ein quadratischer Raum mit einer Seitenlänge von 12,20 m, der von einem einzigen Gewölbe (Kreuzrippengewölbe) überspannt ist und insofern von der damals üblichen Form abweicht, nach der Kapitelsäle in neun Gewölbejoche unterteilt waren. Der Baumeister deutete aber eine solche Unterteilung an, indem er die West- und Südwand in drei Bogen unterteilte. Auffällig ist auch, dass der Kreuzgang nicht wie sonst am Kapitelsaal vorbeiläuft, sondern von ihm unterbrochen wird. Im Westen ist der Kreuzgang daher nur durch die Memorie zu betreten. Im Osten hatte die Memorie von Anfang an eine kleine Apsis, in der ein Altar aufgestellt war. Der romanische Bogen über der Maueröffnung ist noch erhalten. Die Apsis wurde dagegen abgebrochen und 1486 durch einen gotischen Bau ersetzt. Der ursprüngliche Zugang zum südlichen Seitenschiff, ein romanisches Portal, über dem der Hl. Martin thront, wurde später zugemauert und durch ein gotisches Portal ersetzt. Nikolauskapelle Die Nikolauskapelle grenzt direkt an Kreuzgang und Memorie an. Eine Kapelle mit diesem Patrozinium ist schon 1085 bezeugt, der heutige Bau entstand vor 1382, also noch vor der Errichtung des jetzigen Kreuzgangs. Die Kapelle bildet ein aus drei Jochen bestehendes Rechteck, wobei die inzwischen nicht mehr vorhandene Apsis mit dem Altar wegen der Ostung an einer Längsseite angebracht war. Das Patrozinium lässt auf eine Verbindung der Kapelle mit der Domschule schließen, da Nikolaus von Myra als Schutzpatron der Kinder angesehen wird. Gleichwohl diente die heutige Kapelle vor allem als Erweiterung der Memorie. Zwischen der Memorie und der Nikolauskapelle befindet sich eine doppelläufige Wendeltreppe. Derartige Anlagen sind nur selten anzutreffen. Die beiden Spiralen laufen übereinander her, so dass die Anlage von Memorie oder Nikolauskapelle aus zum Aufstieg oder Abstieg aus dem oberen Geschoss des Kreuzgangs benutzt werden kann, ohne dass man sich dabei begegnet. In der Nikolauskapelle ist der Domschatz ausgestellt. Stiftsgebäude Die Baugeschichte der Stiftsgebäude am Kreuzgang ist unzureichend erforscht. Ursprünglich dienten diese Gebäude dem gemeinsamen Zusammenleben (vita communis) der Stiftsangehörigen ähnlich wie in den Klöstern. Das Zusammenleben des Domstifts hörte jedoch schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts auf, die Mitglieder wohnten nun in eigenen Häusern. Die ehemaligen Speise- und Schlafsäle, die Wärmestuben und sonstigen Räumlichkeiten wurden danach anderen Bestimmungen zugeführt, möglicherweise auch der Domschule. Am Südflügel existiert noch ein ehemals 51 m langer, zweigeteilter Bau. In seiner heutigen Form entstammt er dem 14. Jahrhundert. Nachdem die Memorie als Kapitelsaal weggefallen war, fanden die Kapitelsitzungen in Räumlichkeiten im Südflügel statt. Dort gab es beheizbare Räume. 1489 wurde noch eine kleine Kapitelstube angebaut, die noch besteht. Die meisten ehemaligen Stiftsgebäude werden heute vom Dom- und Diözesanmuseum belegt. Orgeln Der Mainzer Dom verfügt über eine neue Orgelanlage, bestehend aus zwei Instrumenten: der Hauptorgel im Ostchor, und einem weiteren großen Orgelwerk am Marienaltar. Geplant ist der Umbau der stillgelegten Westchororgel zu einem dritten Instrument, welches künftig der Chor-Begleitung dienen soll. Geschichte Die ersten Zeugnisse über eine Orgel im Mainzer Dom stammen aus dem Jahr 1334. Sie geben aber nur Aufschluss über die Verwendung einer Orgel im Gottesdienst, nicht aber auch über das Instrument als solches. Im Jahr 1468 gab es nachweislich eine Orgel auf dem Ostlettner, die zur Chorbegleitung eingesetzt wurde. Dieses Instrument könnte von Hans Tugi (auch: Hans von Basel) stammen. Dieser Hans Tugi hat vermutlich auch die erste nachweisbare Langhausorgel im Mainzer Dom erbaut; nach einigen Quellen wurde das Instrument im Jahre 1514 erbaut; anderen Quellen zufolge nahm Hans Tugi im Jahre 1514 lediglich Veränderungen vor an dem Instrument, das er bereits im Jahre 1501 errichtet haben soll. In den Jahren 1545/46 wurden die Domorgeln erstmals gründlich restauriert. Den Quellen lässt sich grundsätzlich entnehmen, dass die Instrumente in relativ kurzen Zeitintervallen gewartet bzw. restauriert werden mussten, was vermutlich mit den klimatischen Verhältnissen innerhalb der Basilika zusammenhing. Im Jahre 1547 errichtete man auf dem Westlettner eine weitere Orgel, die bereits im Jahre 1560 zusammen mit der Langhausorgel restauriert werden musste. Die Arbeiten wurden von Veit ten Bent ausgeführt, der im Anschluss daran im Jahre 1563 gleich eine ganz neue Orgel für das Langhaus baute. Dieses Instrument bestand aus Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal und wurde als „Schwalbennestorgel“ im Mittelschiff gegenüber der Kanzel aufgehängt. Im Jahre 1702 stiftete der Dekan des Johannesstiftes, Johann Ludwig Güntzer, eine neue Orgel für den nunmehr barocken Westlettner; dieses Instrument wurde nach ihm als „Güntzersche Chorettenorgel“ benannt und wird Johann Jakob Dahm zugeschrieben. In den Jahren 1794/1795 wurde diese Orgel abgebaut und in Hochheim und Miltenberg ausgelagert. Das vollständig erhaltene Gehäuse wurde 1988 in einem Keller des Doms wiederentdeckt und während einer Ausstellung im Mainzer Dommuseum 2011 erstmals wieder öffentlich gezeigt. Im Jahre 1793 beschossen die Preußen das französisch besetzte Mainz und zerstörten dabei auch die Langhausorgel des Orgelbauers Veit ten Bents aus dem Jahre 1763. Jeanbon St. André, der unter Napoleon als Präfekt in Mainz zuständig war, erwog sogar ernsthaft, den Dom wegen der Schäden abreißen zu lassen. Nach dem Wiederaufbau des Domes im Jahre 1803 wurde zumindest aus den Resten der Güntzerschen Orgel eine neue Orgel – diesmal auf der nördlichen Chorette des Westlettners – aufgestellt. Im Jahre 1866 wurde im Westchor eine neue Chororgel mit 10 Registern auf einem Manual und Pedal aufgestellt. Dieses Instrument wurde im Jahre 1899 durch den Orgelbauer Martin Joseph Schlimbach (Würzburg) um ein weiteres Manualwerk ergänzt und auf die Südseite des Westchores hinter das Chorgestühl verlegt; der Spieltisch fand zwischen den Sitzreihen Aufstellung, wo sich auch heute noch der Spieltisch der Westchororgel befindet. Während der Sanierungsarbeiten im Dom in den 1920er-Jahren wurde diese Orgel so stark beschädigt, dass ein Neubau beschlossen wurde. Das neue Instrument wurde von der Orgelbaufirma Klais (Bonn) erbaut und im Jahre 1928 geweiht. Die neue Orgel wurde aus Denkmalschutzgründen komplett hinter dem Chorgestühl aufgestellt. Sie verfügte über 75 Register auf vier Manualen und Pedal und besaß Kegelladen und Registerkanzellen mit einer elektro-pneumatischen Traktur. Frühere Orgelanlage Die von 1960 bis 2014 bestehende Orgelanlage integrierte das Instrument von Orgelbau Klais aus dem Jahre 1928, modifizierte es aber. Angesichts der standortbedingt ungünstigen Akustik entschied man sich im genannten Jahr dazu, die Klais-Orgel im Zuge der Domrestaurierung umzubauen und zu erweitern. Mit den Veränderungen wurde das Orgelbauunternehmen Kemper (Lübeck) beauftragt. Das Klais-Instrument wurde aufgeteilt, und es entstand eine der größten Orgelanlagen Deutschlands mit insgesamt 105 Registern (7984 Pfeifen), die von einem Generalspieltisch auf der Südchorette aus angespielt werden kann. Die einzelnen Werke wurden, u. a. aus Gründen des Denkmalschutzes, auf sieben Standorte im Dom verteilt und möglichst unscheinbar in den Kirchenraum eingefügt. Zwei Manualwerke der Klais-Orgel von 1928 samt einem Großteil des Pedalwerkes verblieben als Westchororgel links und rechts hinter dem Westchorgestühl. Die beiden weiteren Manualwerke wurden mit den übrigen Pedalregistern, um einige Register ergänzt, zu einer zweiteiligen Querhaus-Orgel angelegt. Auf der Südchorette wurde die sogenannte Südemporen-Orgel mit einem Freipfeifenprospekt errichtet. An der Nordwand des Querhauses wurde in einem neuen Gehäuse die sogenannte Nordwand-Orgel errichtet. 1960 wurde die Ostchororgel komplett neu geschaffen. Kemper schuf auch den großen Zentralspieltisch auf der Südchorette, der über sechs Manuale verfügt und von dem aus jedes einzelne Register der gesamten Orgelanlage angespielt werden kann. Der Entwurf orientierte sich dabei zum einen am damaligen Standort des Domchors auf der Nordchorette und an den gestiegenen Anforderungen hinsichtlich der Führung des Gemeindegesangs, was der Grund für die Schaffung der Ostchororgel war. Letzteres war auf liturgische Veränderungen zurückzuführen: Die vorherrschende Messform in einer Kathedralkirche, das lateinische Hochamt, sah bis zu den 1960er Jahren im Regelfall keinen Gemeindegesang (im Sinne des Singens von Kirchenliedern) vor, sie bestand nur aus Gregorianik und Vokalpolyphonie. Im Jahr 2003 wurde anlässlich des 20-jährigen Bischofsjubiläums von Karl Lehmann in der Glöcknerstube des Mainzer Doms hoch oben im nördlichen Querhaus ein Register mit sogenannten Spanischen Trompeten eingebaut. Die Kardinalstrompeten genannten Pfeifen begrüßen den Bischof an hohen Feiertagen. Frühere Westchororgel Die Westchororgel hatte 35 Register auf zwei Manualen und Pedal. Sie bestand im Wesentlichen (mit Ausnahme des Clairon, Nr. 25) aus Registern der Klaisorgel von 1928. Das Instrument verfügte über einen eigenen Spieltisch, der im barocken Westchorgestühl eingelassen war, von dem aus auch die Nordwandorgel angespielt werden konnte. Disposition der Westchororgel: Koppeln: III/I, II/I, III/II, III/P, II/P, I/P. Spielhilfen: 3 freie Kombinationen, 2 freie Pedalkombinationen, Handregister zu Kombination, Tutti, Zungen ab, 16' ab, 32' ab, Registerschweller, Walze ab, Koppeln in Walze ab. Frühere Querhausorgel Im Zuge des Neubaus der Orgelanlage (2022) wurde der Orgelstandort Querhaus aufgegeben. Hier befanden sich zwei Orgelwerke mit insgesamt 42 Registern, die als „Querhausorgel“ das Hauptwerk der gesamten Orgelanlage bildeten: Die Südemporen-Orgel auf der Südempore (einer der beiden sogenannten Choretten in der Vierung, die die Vierung nach Norden und Süden ähnlich einem Lettner abtrennen), und die Nordwandorgel. Diese beiden Instrumente verfügten über keine eigene Spielanlage. Die Südemporenorgel bestand zum größten Teil aus Registern Kempers, während die Nordwandorgel im Wesentlichen Teile der älteren Klaisorgel enthielt. Zum Teilwerk gehörte auch die Kardinalstrompete, die 2003 von Killinger/Breitmann in das Wächterhäuschen im Nordquerhaus eingebaut wurde. Ein Teil der Pfeifen, die zu der ursprünglichen Klais-Orgel von 1928 gehörten, werden in der neuen Westchororgel weiterverwendet. Die Kardinalstrompete bleibt im Wächterhäuschen und heißt in der neuen Disposition Domtrompete. Disposition der Querhausorgeln: Frühere Ostchororgel (bis 2014) Die 1960 erbaute Ostchororgel wurde aus Denkmalschutzgründen nicht in der Konche, also dem Scheitelpunkt der Ostapsis, eingebaut, sondern seitlich oben links und rechts in die Kaiserlogen. Dieses Instrument diente vor allem der Führung des Gemeindegesanges und der Begleitung des Stundengebets im Ostchor und hatte 28 Register auf zwei Manualen und Pedal. Der Spieltisch befand sich an der Südwand des Ostchores mit Blick in das Langhaus. Die Ostchororgel enthielt in allen Werken jeweils Trompeten- bzw. Fanfarenregister, die horizontal in den Raum abstrahlen. Das Instrument wurde 2014 wegen technischer Probleme stillgelegt und 2021 abgebaut. Disposition der alten Ostchororgel (1960–2014): Hauptspieltisch Vom sechsmanualigen Hauptspieltisch (Manualangaben in Klammern bei den einzelnen Orgeln) konnten alle Teilorgeln angespielt werden. Neben zahlreichen Normalkoppeln verfügte der Generalspieltisch über 4 freie Kombinationen, 2 freie Pedalkombinationen, 3 Schwelltritte und Crescendowalze. Neue Orgelanlage Im Dom herrschen ungünstige akustische Verhältnisse, die sich durch die vielen Anbauten (vor allem der gotischen Kapellenreihen, s. o. Geschichte) ergeben. Daher ist das Orgelspiel im Dom eine größere Herausforderung. Der Nachhall jedes Tones beträgt über sechs Sekunden, die im Osten angespielten Töne hört der Organist vom Zentralspieltisch aus nur mit einer Zeitverzögerung von etwa 0,3 Sekunden. Auch wegen dieser akustischen Schwierigkeiten wurde immer wieder über eine neue Langhausorgel (Schwalbennestorgel) nachgedacht. Die entsprechenden Überlegungen begannen bereits 1986. Neukonzeption Nachdem auch der 2010 verpflichtete neue Domorganist eine Neukonzeption befürwortet hatte, wurden 2012 acht Orgelbauwerkstätten eingeladen, entsprechende Entwürfe vorzulegen. Die Leitlinien der Ausschreibung sahen vor, die qualitativ als minderwertiger und klanglich als unzeitgemäß angesehenen Ergänzungen Kempers rückgängig zu machen und im Dom dadurch wieder eine Orgelanlage mit einheitlicher spätromantischer Klangfärbung auf der Basis der Klaisorgel von 1928 erklingen zu lassen. Entsprechend dieser Grundplanung legte ein Konsortium der Orgelbauer Goll (Luzern) und Rieger (Schwarzach) einen Entwurf vor, den das Bistum im November 2017 veröffentlichte und zu verwirklichen beabsichtigte. Die neue Orgelanlage soll (künftig) aus drei Instrumenten an drei Standorten bestehen, die jeweils einzeln spielbar sind, aber auch zusammen von einem Generalspieltisch. 2021 wurde die neue Marienorgel fertiggestellt, 2022 die neue Ostchor-Orgel in den Kaiserlogen des Ostchors, also am Standort der vormaligen Ostchororgel. Geplant ist noch die Reorganisation der Westchororgel, die künftig auf die Chorbegleitung zugeschnitten sein soll. Die Marienorgel ist dann verbindendes Element zur Führung des Gemeindegesangs und Überbrückung des Echoeffekts West-Ost, während die Ostchororgel die neue Hauptorgel sein wird. Die neue Orgelanlage wird 203 Register (14.526 Pfeifen) haben und zu den größten Orgeln der Welt gehören. Im Zuge der Neugestaltung wird die Domorgel auch mit den heute unumgänglichen digitalen Setzern ausgestattet werden, die dem Organisten das schnelle Umschalten zwischen einer Vielzahl (bislang lediglich vier Kombinationen analog) vorprogrammierter Registerkombinationen erlauben. Ostchor-Orgel Die neue Ostchor-Orgel steht am selben Platz wie die 2021 abgebaute Kemper-Orgel und wird künftig Hauptorgel sein. Die Einweihung fand am 21. August 2022 statt. Das Instrument hat 93 Register auf vier Manualwerken und Pedal; es ist damit das größte Teilwerk der neuen Orgelanlage und ist im französisch-romantischen Stil disponiert und intoniert; entsprechend haben die Register französische Bezeichnungen. Der viermanualige Spieltisch steht ebenerdig im Ostchor an der Stelle, an der auch der Spieltisch des vormaligen Kemper-Werkes stand. Von dort kann auch die Marienorgel angespielt werden. Die Ostchororgel ist wegen ihrer Größe das teuerste Einzelwerk des Orgelneubaus und kostete 2,9 Mio. €. Koppeln Orgel an der Marienkapelle (2021) 2021 erbaute die Orgelbauwerkstatt Goll die neue Orgel an der Marienkapelle. Die Marienkapelle ist die erste Seitenkapelle östlich des Marktportals. Die neue Orgel wurde auf einer im Gewölbe des Doms verankerten Stahlplattform aufgestellt, die über einem neuen Windfang oberhalb des Eingang vom Markt errichtet wurde. Das Instrument verfügt über 48 Register auf vier Manualwerken und Pedal und einen eigenen, mechanischen Spieltisch mit vier Manualen, von dem aber auch die übrigen Werke der überholten bzw. neugebauten Orgelanlage angespielt werden können. Die Orgel an der Marienkapelle ist als verbindendes Element zwischen den beiden fast 100 Meter auseinander liegenden weiteren Teilwerken der neuen Orgelanlage gebaut und soll maßgeblich den Gemeindegesang begleiten. Am 19. September 2021 wurde die neue Orgel an der Marienkapelle eingeweiht. Die Baukosten betrugen 1,5 Mio. €. Koppeln: Normalkoppeln (mechanisch): II/I, III/I, III/II Normalkoppeln (elektrisch): II/I, III/I, III/II, I/P, II/P, III/P Sub- und Superoktavkoppeln Effektregister: Zimbelstern Anmerkungen Geplante Westchor-Orgel Die neue Westchor-Orgel soll hauptsächlich Begleitinstrument für die im Westchor aufgeführte Kirchenmusik (Chöre, Bläser und Orchester) sein. Sie soll 62 Register auf drei Manualwerken und Pedal haben. In diesem Instrument soll die alte Klais-Orgel von 1928 wiedererstehen; 48 Register der Klais-Orgel sollen in diesem Instrument weiterverwendet werden; neun Register sollen im Stil der Klais-Orgel von 1928 rekonstruiert werden. Um den Chorgesang bestmöglich zu begleiten, soll das Orgelwerk komplett schwellbar sein. Bislang ist der Umbau nur projektiert, ein Baubeginn steht nicht fest. Nach einem Kostenvoranschlag von 2017 würde der Umbau 1,6 Mio. € kosten. Ohne den Umbau ist die Westchororgel von den Spieltischen der neuen Orgelanlage nicht anspielbar. Geplante Disposition der neuen Westchororgel (62/IV+P) Koppeln Anmerkung: (K) = Register der alten Klais-Orgel von 1928 Orgel der Gotthardkapelle Die Orgel der Gotthardkapelle wurde 1983 von dem Orgelbauer Oberlinger eingebaut. Ihr Standort ist das Obergeschoss der Kapelle. Das rein mechanische Instrument hat 13 Register auf zwei Manualwerken und Pedal. Koppeln: II/I, I/P, II/P. Effektregister: Zymbelstern Glocken Geschichte Quellen aus der Frühzeit der Kirchenglocken am Mainzer Dom stehen nicht zur Verfügung. Eine Quelle aus dem Jahr 1705 nennt 25 Glocken auf dem Westturm, eine weitere Auflistung von 1727 nennt jedoch nur 13 Glocken, vier im Westturm, neun im Ostturm. Nur diese Quelle enthält auch eine genauere Auflistung der einzelnen Glocken. Vor der Zerstörung des Ostturms bei der Beschießung 1793 hingen die Pfarrglocken im Ostturm, die Stiftsglocken im Westen. Eine präzise gefasste Läuteordnung, die im Sakristeibuch Albrechts von Brandenburg überliefert ist, bestimmte, wann welche Glocken zu läuten waren. Bei der Brandkatastrophe von 1767 wurden die Glocken des Westturms vernichtet. Das Mainzer Domkapitel gab umgehend den Guss von vier neuen Glocken in Auftrag. 1774 wurden sie in den Westturm gehoben. Schon 1793 geriet der Dom infolge der Beschießung der damals von den Franzosen besetzten Stadt durch Reichstruppen erneut in Brand. Das Feuer vernichtete den gesamten Glockenbestand des Doms mit Ausnahme der Bonifatiusglocke, die auf das Gewölbe stürzte und dabei riss. 16 Jahre hatte der Dom keine Glocken. Heutiges Geläut Die Grundlage des heutigen Domgeläuts bildet das vierstimmige Ensemble des Mainzer Glockengießers Josef Zechbauer (b0–c1–e1–g1). Nach langen Verhandlungen gelang es dem Mainzer Bischof Joseph Ludwig Colmar 1809, das Material für den Guss neuer Glocken zu beschaffen. Napoleon überließ ihm dafür 20 Zentner Bronze, die aus erbeuteten preußischen Kanonen stammten. Ursprünglich hatte Colmar die Herstellung von drei Glocken mit 100, 80 und 60 Zentnern Gewicht geplant. Schließlich entschied man sich für den Guss von vier neuen Glocken. Sie wurden im September 1809 im Kreuzgang des Doms gegossen. Für den neu zu konstruierenden Glockenstuhl stiftete der letzte Mainzer Kurfürst Karl Theodor von Dalberg 70 Spessarteichen. Der Glockenstuhl ist erhalten geblieben. Nicht geklärt ist, woher die beiden Glocken stammten, die 1917 bei der Erfassung der Domglocken im Laufe des Ersten Weltkriegs benannt wurden und wann sie in den Domturm gelangt waren. Eine der Glocken ging im Ersten, die andere im Zweiten Weltkrieg verloren. 1960 entschloss man sich zur Anschaffung von vier weiteren Glocken, um das Domgeläut zu ergänzen. Der Heidelberger Gießermeister Friedrich Wilhelm Schilling wurde mit der Aufgabe betraut. Außerdem klangkorrigierte er drei Glocken des Zechbauer-Geläuts; die ehemalige e1-Glocke stimmte er einen Halbton höher auf f1 um. Der Glockenstuhl von 1809 musste zur Aufnahme der neuen Glocken erweitert werden, wobei die alten Glocken in ihren historischen Holzjochen verblieben. Am 2. Juli 1960 wurden die vier neuen Glocken von Bischof Albert Stohr geweiht. 2002 wurde eine neue Bronzeglocke in Schilling’scher Rippe von Ars Liturgica im Kloster Maria Laach nachgegossen. Das Domgeläut ist heute das umfangreichste Geläut des Bistums. Läuteordnung Die Läuteordnung des Domes umfasst zwölf verschiedene Kombinationen. Bei Pontifikalämtern und an Hochfesten läuten alle neun Glocken. Bei Pontifikalrequien läuten die ersten acht Glocken, bei Pontifkalvespern die Glocken 1, 3, 5, 6, 7 und 8. Die anderen liturgischen Feiern, Stiftsämter, Stiftsvespern, Pfarrmessen und weitere Anlässe haben ein entsprechend abgestuftes kleineres Geläut, das zum Teil noch hinsichtlich der jeweiligen Zeit im Kirchenjahr (Advent, Fastenzeit, Osterzeit, Jahreskreis) variiert. Zum Angelus läutet in der Regel die Glocke 4 (Willigis), woran sich am Abend Glocke 8 (Heiliger Geist) zum Gedächtnis an die Verstorbenen anschließt. An den höchsten Festen des Kirchenjahres läutet mittags die größte Glocke (Martinus) zum Angelus. Die Maße des Domes Länge über alles: 109 m innen, 116 m außen Länge des Mittelschiffs: 53 m Breite des Mittelschiffs: 13,60 m Höhe des Mittelschiffs: 28 m Breite des Langhauses (ohne Kapellen): 31,55 m Breite der Seitenschiffe (licht): 6,51 m – 6,56 m Durchmesser des Trikonchos im Westen (von Norden nach Süden): 24,25 m Höhe des Westturms: 83,50 m (mit Wetterhahn) Lichte Höhe der Ostkuppel: 38 m Lichte Höhe der Westkuppel: 44 m Höhe der östlichen Treppentürme: 55,50 m Sonstiges 1184 feierte Kaiser Barbarossa am Pfingstfest die Schwertleite seiner Söhne im Mainzer Dom. Das dazu gegebene Fest, der Mainzer Hoftag von 1184 auf der Maaraue, ging als größtes Fest des Mittelalters in die Geschichte ein. Am 1. Februar 2009 begannen mit einem Festgottesdienst die offiziellen Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Jubiläum der Weihe des Domes. Die Predigt hielt der Mainzer Bischof Karl Lehmann. Die Feierlichkeiten endeten am 15. November mit einem Pontifikalamt. Zu diesem Anlass gab die Deutsche Post eine Sonderbriefmarke heraus. Anlässlich der 1000-Jahr-Feier gab es auch mehrere Sondersendungen im Fernsehen. Darunter beispielsweise eine Gesprächsrunde der ZDF-Sendereihe nachtstudio am 1. November 2009 im Altarraum des Domes mit Volker Panzer als Moderator. Gesprächspartner waren Karl Lehmann, Étienne François, Michael Matheus und Stefan Weinfurter. Die Deutsche Post AG gab am 15. August 2009 eine Sonderbriefmarke zum 1000-jährigen Weihe-Jubiläum des Mainzer Doms im Frankaturwert von 90 Eurocent heraus. Bereits am 15. Mai 1975 brachte die Deutsche Bundespost anlässlich des Baubeginns des Mainzer Doms eine Sondermarke im Wert von 40 Pfennigen heraus. Auf dem Liebfrauenplatz und damit in unmittelbarer Nähe des Doms steht seit 2009 ein maßstabsgetreues Bronzemodell des Doms, erschaffen von dem westfälischen Bildhauer Egbert Broerken. Durch die genaue Oberflächendarstellung des Doms und eine Beschreibung einzelner Dombereiche in Blindenschrift dient das Modell blinden Besuchern zur Information über den Dom. Die Mainzer Bürgerstiftung stiftete das 30.000 Euro teure Modell zum 1000-jährigen Jubiläum. Siehe auch Listen von Domen und Kathedralen Liste der Bischöfe von Mainz Liste der Mainzer Domprediger Mainzer Domchor Literatur (Auswahl) Heinz Heckwolf (Hrsg.) im Auftrag des Mainzer Domkapitels: Gotik am Mainzer Dom. Die Kapellenbauten der Nordseite. (= Neue Forschungen am Mainzer Dom, Band 1). Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2018, ISBN 978-3-7954-3291-1, Inhaltsverzeichnis. Hans-Jürgen Kotzur (Hrsg.): Der verschwundene Dom – Wahrnehmung und Wandel der Mainzer Kathedrale im Lauf der Jahrhunderte. Ausstellungskatalog. Universitätsdruckerei H. Schmidt, Mainz 2011, ISBN 978-3-935647-54-0, Inhaltsverzeichnis. Stiftung Hoher Dom zu Mainz (Hrsg.): Der Dom zu Mainz. Bilder einer Kathedrale. Fotografien von Martin Blume und Bernd Radtke. Universitätsdruckerei H. Schmidt, Mainz, Erstausgabe Oktober 2009, ISBN 978-3-935647-46-5, Bildband. Josef Heinzelmann: Mainz zwischen Rom und Aachen. Erzbischof Willigis und der Bau des Mainzer Doms. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, . Koblenz 2004, S. 7–32. Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. 2. Auflage. Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2679-3. Fritz Arens: Der Dom zu Mainz. Neubearbeitet und ergänzt von Günther Binding, 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13729-9. Barbara Nichtweiß (Hrsg.): Lebendiger Dom. St. Martin zu Mainz in Geschichte und Gegenwart. Philipp von Zabern, Mainz 1998, ISBN 3-8053-2511-8. Bernhard Schütz, Wolfgang Müller: Deutsche Romanik. Die Kirchenbauten der Kaiser, Bischöfe und Klöster. Herder, Freiburg i. Br. 1989, ISBN 3-451-21175-0, (Sonderausgabe: Komet, Frechen 2002, ISBN 3-89836-212-4). Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.): Die Bischofskirche St. Martin zu Mainz. Knecht, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-7820-0534-1. August Schuchert, Wilhelm Jung: Der Dom zu Mainz. Ein Handbuch. 3. Auflage, Verlag Druckhaus Schmidt & Bödige, Mainz 1984. Anton Philipp Brück (Hrsg.): Willigis und sein Dom. Festschrift zur Jahrtausendfeier des Mainzer Doms. Selbstverlag der Gesellschaft für Mittelrheinische Kirchengeschichte, Mainz 1975. Ludwig Link: Die Glocken des Mainzer Doms. In: Mainzer Almanach. Beiträge aus Vergangenheit und Gegenwart, . Verlag Druckhaus Schmidt & Co., Mainz 1959. Rudolf Kautzsch: Der Mainzer Dom und seine Denkmäler. Frankfurt am Main 1925, Digitalisat der UB Mainz. Friedrich Schneider: Der Dom zu Mainz – Geschichte und Beschreibung des Baues und seiner Wiederherstellung. Ernst und Korn, Berlin 1886, Digitalisat der UB Mainz. Hermann Emden: Der Dom zu Mainz und seine bedeutendsten Denkmäler in 36 Original-Photographien. Mainz 1858, . Filme (Auswahl) Der Mainzer Dom. Dokumentarfilm mit Spielszenen und Computeranimationen, Deutschland, 2015, 6:09 Min., Produktion: ZDF, Erstausstrahlung: 1. Januar 2016, Reihe: Momente der Geschichte, online-Video von ZDF. 1000 Jahre Mainzer Dom. Festgottesdienst aus dem Dom vom 15. November 2009 mit dem festlichen Auszug. Dokumentarfilm, Deutschland, 2009, 4 Min., Produktion: Bistum Mainz, Der Hohe Dom zu Mainz. Geschichte(n) aus 1000 Jahren. Dokumentarfilm, Deutschland, 2009, 29:30 Min., Buch und Regie: Hannelore Engler, Produktion: SWR, Erstsendung: 1. November 2009 bei SWR Fernsehen, Inhaltsangabe vom Bistum Mainz und Filminformationen von SWR. Die Jahrtausend-Kathedrale. Der Mainzer Dom. Dokumentarfilm, Deutschland, 2009, 43:30 Min., Buch: Martin Carazo Mendez, Regie: Martin Carazo Mendez, Carsten Gutschmidt, Mira Thiel, Produktion: Gruppe 5 Filmproduktion, ZDF, Reihe: Terra X, Erstsendung: 1. November 2009 im ZDF, Inhaltsangabe von ZDF. Der Mainzer Dom – Anker in der Ewigkeit. Dokumentarfilm, Deutschland, 2000, 30 Min., Buch und Regie: Horst Schäfer, Produktion: SWR, Reihe: Schätze des Landes, Inhaltsangabe von ARD. Weblinks Der Dom zu Mainz – Bistum Mainz 1000 Jahre Mainzer Dom – Stiftung Hoher Dom zu Mainz Dom St. Martin – 1000 Jahre Stadtgeschichte – Landeshauptstadt Mainz Dombauverein Mainz Dompfarrei St. Martin und St. Quintin Forschung zum Dom Bauforschung am Mainzer Dom vom Architekturinstitut der Hochschule Mainz Themenseite zum Mainzer Dom vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz Die Inschriften der Stadt Mainz. Teil 1: Die Inschriften des Domes und des Dom- und Diözesanmuseums von 800 bis 1350. In: Deutsche Inschriften Online Dom-Bibliographie als Digitalisate von Friedrich Schneider (PDF-Datei; 201 kB) Selbstbildnis des Naumburger Meisters entdeckt Musik im Dom Musica Sacra am Hohen Dom zu Mainz Informationen zur Domorgel und zum Neubau derselben Videos und Bilder 360°-Rundgänge via ZDF Foto-Webcam Mainzer Dom Pfingsten 2015 mit Karl Kardinal Lehmann Illustrierte Sonderausgabe zum 1000-jährigen Jubiläum des Mainzer Doms. In: Glaube und Leben, 2009, (PDF; 64 S., 11,2 MB) Einzelnachweise Kaiserdom Dom Martin-von-Tours-Kirche (Patrozinium) Romanische Kirche Disposition einer Orgel Kirchengebäude im Bistum Mainz Römisch-katholische Kathedrale in Deutschland Ottonische Architektur Dom Erbaut im 10. Jahrhundert Bauwerk der Romanik in Rheinland-Pfalz Erbaut im 11. Jahrhundert Kirchengebäude in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hysterektomie
Hysterektomie
Als Hysterektomie (von ‚Gebärmutter, Mutterleib‘, etymologisch verwandt mit lateinisch uterus und „Hysterie“, sowie ektomē ‚Abschneiden, Ausschneiden‘) bezeichnet man die operative Entfernung der Gebärmutter. Synonym ist die Bezeichnung Uterusexstirpation (von ‚Gebärmutter‘ und exstirpare ‚ausreißen‘, ‚beseitigen‘). Werden zusätzlich die Eileiter und die Eierstöcke entfernt, wird der Eingriff als Hysterektomie (mit ein- oder beidseitiger) Adnektomie (oder Adnexektomie) bezeichnet. In der Veterinärmedizin werden reine Hysterektomien praktisch nie durchgeführt, weil sie häufig zu schweren Komplikationen führen. Hier kommt meist eine Ovariohysterektomie zum Einsatz. Der Begriff der Totalexstirpation grenzt dabei die vollständige Entfernung der Gebärmutter (totale Uterusexstirpation, früher auch Uterusamputation) gegen die subtotale oder auch suprazervikale Uterusexstirpation ab, bei welcher der Gebärmutterhals (Zervix) erhalten bleibt. Oft wird die vollständige Entfernung der Gebärmutter auch als Totaloperation bezeichnet. Der Begriff ist jedoch hinsichtlich des Ausmaßes der Hysterektomie nicht klar definiert, daher missverständlich, und sollte vermieden werden. In der Gynäkologie ist die Hysterektomie ein häufiger Eingriff, der etwa beim Uteruskarzinom, aber überwiegend bei gutartigen Uteruserkrankungen durchgeführt wird. Indikationen Eine Entfernung der Gebärmutter wird aus vielen verschiedenen Gründen durchgeführt. Dabei stellen gutartige Erkrankungen, wie gutartige Tumoren, und funktionelle Erkrankungen, wie schwerwiegende Menstruationsunregelmäßigkeiten, 90 Prozent der Indikationen für eine Hysterektomie dar. Insgesamt sind in 38,7 Prozent aller Hysterektomien ein Uterus myomatosus, in 17,1 Prozent eine Endometriose und in 14,5 Prozent ein Uterusprolaps der Grund für eine solche Operation. 9,4 Prozent der Hysterektomien erfolgten bis 2008 wegen einer bösartigen Erkrankung, wie einem Karzinom des Gebärmutterhalses, des Gebärmutterkörpers oder der Eierstöcke. Veränderungen der Gebärmutterschleimhaut waren bei drei Prozent der Patientinnen Grund für die Operation. Außerdem kann eine Hysterektomie bei schweren Verletzungen oder Entzündungen der Gebärmutter und im Falle unstillbarer Blutungen nach einer Geburt erforderlich sein. In Deutschland war bis 2011 für eine Personenstandsänderung im Rahmen einer Geschlechtsangleichung bei „Frau-zu-Mann Transsexuellen“ eine Hysterektomie Voraussetzung, um die durch das Transsexuellengesetz geforderte dauerhafte Unfruchtbarkeit herzustellen. Methoden Man unterscheidet zwischen einer einfachen Entfernung der Gebärmutter und erweiterten Operationen wie der schon erwähnten Hysterektomie mit Adnexektomie, der Hysterektomie mit (Beckenboden)-Plastiken und radikalen Operationen bei Krebserkrankungen. Die Wahl der Operationsmethode ist dabei von der Indikation zur Gebärmutterentfernung, nötigen Zusatzeingriffen, der Größe, Form und Beweglichkeit der Gebärmutter, der apparativen Ausstattung der Einrichtung und der Erfahrung des Operateurs abhängig. Die Verwendung von Operationsrobotern hat bei der Hysterektomie bei einer Erhöhung der Kosten keine besseren Operationsergebnisse gebracht. Der Begriff der Totaloperation zur Abgrenzung der vollständigen Entfernung der Gebärmutter (totale Uterusexstirpation) von der subtotalen oder auch suprazervikalen Uterusexstirpation, bei welcher der Gebärmutterhals erhalten bleibt, sollte aufgrund der damit implizierten unterschiedlichen Vorstellungen vom Ausmaß der Operation vermieden werden, da er keine klare Bedeutung hat und von Ärzten und Laien teilweise unterschiedlich, oft missverständlich gebraucht wird. Hysterektomie bei gutartigen Erkrankungen Es stehen heute verschiedene Operationstechniken zur vollständigen oder teilweisen Entfernung einer Gebärmutter zur Verfügung: Exstirpation durch die Scheide (vaginale Hysterektomie) laparoskopische Hysterektomie (TLH – totale laparoskopische Hysterektomie) kombiniert laparoskopisch und durch die Scheide (LAVH – laparoskopisch assistierte vaginale Hysterektomie, vaginal assistierte laparoskopische Hysterektomie) laparoskopische Entfernung des Gebärmutterkörpers (LASH – laparoskopische suprazervikale Hysterektomie) mittels Bauchschnitt (Laparotomie) mit Erhalt des Gebärmutterhalses (subtotale – auch suprazervikale – abdominale Hysterektomie) mittels Bauchschnitt ohne Erhalt des Gebärmutterhalses (totale abdominale Hysterektomie) Bei einer vaginalen Entfernung wird der Gebärmutterhals mit entfernt. Bei laparoskopischen und abdominalen Methoden kann dieser erhalten bleiben. Die gleichzeitige Mitentfernung der Eierstöcke und Eileiter (Adnexe) ist bei laparoskopischem und abdominalem Zugang immer möglich, sollte jedoch nur bei entsprechender Indikation erfolgen. Bei der rein vaginalen Hysterektomie ist eine Entfernung der Adnexe prinzipiell ebenfalls möglich, jedoch zuweilen schwieriger bzw. in Einzelfällen auch nicht durchführbar. Ist die Entfernung notwendig, wird daher meist ein anderer Zugangsweg gewählt. Zur Behandlung einer Senkung der Gebärmutter wird, je nach Ursache, entweder der Weg durch die Scheide oder durch den Bauch gewählt, weil die zusätzlich notwendigen Eingriffe entweder ebenfalls durch die Scheide oder durch den Bauch erfolgen müssen. Die Zahl der Hysterektomien in Deutschland ist seit vielen Jahren in etwa konstant. 2006 wurden 149.456 Hysterektomien vorgenommen. Davon betrafen 126.743 (84,8 Prozent) gutartige Veränderungen. Vor allem Frauen zwischen dem 40. und dem 49. Lebensjahr waren mit rund 50 Prozent aller Hysterektomien betroffen, Frauen zwischen 50 und 59 machten rund 20 Prozent aus. Damit entfielen fast 70 Prozent auf Frauen in oder um die Wechseljahre. 2007 sank die Zahl der Hysterektomien auf 138.164. In Deutschland treten, neben der vaginalen, abdominalen und der suprazervikalen Hysterektomie, immer mehr laparoskopische bzw. laparoskopisch assistierte Vorgehensweisen in den Vordergrund. In skandinavischen Ländern werden zwischen 21 und 36 Prozent der abdominalen Hysterektomien als suprazervikale Hysterektomien durchgeführt. In Dänemark wurde der Anteil an abdominalen totalen Hysterektomien innerhalb von zehn Jahren um 38 Prozent gesenkt. Waren es 1988 noch 173 solcher Eingriffe, wurden 1998 nur noch 107 pro 100.000 Frauen im Jahr gezählt. Der Anteil der abdominalen suprazervikalen Hysterektomien wuchs jedoch im gleichen Zeitraum von 7,5 auf 41 pro 100.000 Frauen im Jahr an. Insgesamt unterzogen sich in diesen zehn Jahren 67.096 Frauen in Dänemark einer Hysterektomie. Die theoretischen Vorteile des Erhalts des Gebärmutterhalses, wie ein selteneres Auftreten von Senkungen, Harnentleerungsstörungen und Problemen im Bereich der Sexualität, lassen sich bislang in Studien nicht beweisen. Es bestehen jedoch Vorteile hinsichtlich der Operationszeit, des Blutverlustes und der Komplikationsraten gegenüber der kompletten Hysterektomie. Das Risiko für eine Gebärmutterhalskrebserkrankung am verbliebenen Zervixstumpf ist niedrig und entspricht mit 0,1 und 0,2 Prozent dem Risiko von 0,17 Prozent, ein Karzinom des Scheidenstumpfes nach vollständiger Hysterektomie zu bekommen. Für Länder, in denen keine Früherkennungsprogramme, wie Pap-Test und Kolposkopie, existieren und somit Screeninguntersuchungen vor und nach einer subtotalen Gebärmutterentfernung nicht gewährleistet sind, ist die suprazervikale Hysterektomie trotzdem nicht als Standardoperation oder als breit anzuwendende Alternative zur totalen Hysterektomie zu empfehlen. Hinsichtlich der Patientenzufriedenheit, der Veränderung der Sexualität und des Selbstverständnisses, sich als Frau zu fühlen, lassen sich keine Unterschiede zwischen den Operationsmethoden nachweisen. In den USA werden jährlich etwa 600.000 Hysterektomien durchgeführt, dabei die meisten per Bauchschnitt (66 Prozent), 22 Prozent vaginal und nur 12 Prozent laparoskopisch. Der American Congress of Obstetricians and Gynecologists (ACOG), die größte Gynäkologengesellschaft in den USA, hält dabei den Anteil der abdominalen Eingriffe für deutlich zu hoch und empfiehlt, häufiger den vaginalen Zugang zu wählen. Auch die American Academy of Gynecologic Laparoscopists (AAGL) empfiehlt minimal-invasive Verfahren, wie die vaginale oder laparoskopische Hysterektomie, für gutartige Erkrankungen der Gebärmutter. Die Cochrane Collaboration empfiehlt ebenfalls, im Vergleich aller Hysterektomiemethoden, dem vaginalen Zugang den Vorrang zu geben. Ist dies nicht möglich, stehen die laparoskopischen Varianten im Vordergrund. Nur wenn auch hier Gründe entgegenstehen, sollte die abdominale Hysterektomie erwogen werden. Hysterektomie bei bösartigen Erkrankungen Die sogenannte radikale Hysterektomie nach Wertheim-Meigs (totale Entfernung des Uterus unter Mitnahme des Halteapparates, des oberen Drittels der Vagina und der Beckenlymphknoten) ist die Standardtherapie bei einigen Stadien des Gebärmutterhalskrebs. Alternativ stehen heute die totale mesometriale Resektion (TMMR), laparoskopisch assistierte vaginale radikale Hysterektomie (LAVRH), sowie die laparoskopische radikale Hysterektomie (LRH) zur Verfügung. Die alleinige radikale vaginale Totalexstirpation (oder vaginale Radikaloperation, wie sie 1908 durch Friedrich Schauta beim Collumkarzinom durchgeführt wurde) der Gebärmutter (Schauta-Stoeckel-Operation) ohne Entfernung der Beckenlymphknoten ist heute nicht mehr angezeigt. Bei noch bestehendem Kinderwunsch kann in frühen Stadien des Gebärmutterhalskrebses in manchen Fällen auf eine radikale Hysterektomie verzichtet und an eine radikale Trachelektomie gedacht werden. Dabei werden dann alleinig große Teile des Gebärmutterhalses entfernt, Gebärmutterhals und Gebärmutterkörper als solche bleiben jedoch erhalten. Eine ergänzend notwendige Lymphknotenentfernung kann dabei über eine Bauchspiegelung erfolgen. In diesem Fall bleibt die Fruchtbarkeit grundsätzlich erhalten. Während man bei Plattenepithelkarzinomen des Gebärmutterhalses junger Frauen auf die Entfernung der Adnexe verzichten kann, müssen diese beim Gebärmutterschleimhautkrebs (Endometriumkarzinom) des Gebärmutterkörpers in jedem Fall mit entfernt werden. Bei einem Ovarialkarzinom ist die Hysterektomie mit beiden Adnexen ebenfalls Bestandteil der Behandlung. Die Klassifikation nach Piver oder auch Rutledge-Piver, benannt nach den amerikanischen Gynäkologen M. Steven Piver und Felix Rutledge, unterscheidet fünf Grade der Radikalität einer Hysterektomie beim Gebärmutterhalskrebs: Mitentfernung von Eileitern und Eierstöcken In der Veterinärmedizin sind reine Hysterektomien unüblich, da sie zu schweren Komplikationen führen können. Lange Zeit wurde auch Frauen angeraten, bei einer Hysterektomie wegen gutartiger Erkrankungen gleichzeitig die Eierstöcke mit zu entfernen, um Eierstock- und Brustkrebs vorzubeugen. Frauen mit entfernten Eierstöcken erkranken zu einem Viertel seltener an Brustkrebs und haben ein um 96 Prozent niedrigeres Risiko für Eierstockkrebs. Allerdings treten nach Entfernung beider Eierstöcke mehr Lungenkrebs und koronare Herzerkrankungen auf, als wenn diese erhalten werden. Vermehrte Schenkelhalsfrakturen, Fälle von Parkinson-Krankheit und Demenz sind ebenfalls bekannt und werden auf die verringerte Estrogenproduktion zurückgeführt. Daher sollte bei Frauen unter 65 Jahren und ohne familiäres Risiko für Eierstock- oder Brustkrebs ein Erhalt der Eierstöcke im Zusammenhang mit einer Gebärmutterentfernung in Erwägung gezogen werden, solange nicht der Nutzen dieses zusätzlichen Eingriffs belegt werden kann. Die Entfernung der Eileiter im Rahmen einer Hysterektomie senkt das Risiko für einen neuen Eingriff aufgrund von Komplikationen im Bereich der Eileiter, insbesondere von Infektionen. Deren Häufigkeit wird mit bis zu 35 % angegeben. Zudem bedeutet die Mitentfernung der Eileiter eine Verringerung des Risikos bösartiger Tumoren an Eileitern, Eierstöcken und Peritoneum, da die Eileiter als Ausgangspunkt einiger dieser Erkrankungen gelten. Allerdings ist die Risikoreduktion nur gering und der Eingriff unter Umständen mit einer Verschlechterung der Eierstockdurchblutung und damit einer etwas früheren Menopause verbunden, so dass die Maßnahme kontrovers diskutiert wird. Bei bösartigen Erkrankungen kann man bei Plattenepithelkarzinomen des Gebärmutterhalses junger Frauen auf die Entfernung der Adnexe verzichten. Beim Gebärmutterschleimhautkrebs (Endometriumkarzinom) des Gebärmutterkörpers, Adenokarzinomen der Zervix und Eierstockkrebs müssen Eierstöcke und Eileiter jedoch in jedem Fall entfernt werden. Anästhesiologische Aspekte Während bei der vaginalen Hysterektomie auch regionale Anästhesieverfahren wie die Spinalanästhesie genutzt werden können, wird bei den Verfahren mit abdominellem Zugang in der Regel eine Allgemeinanästhesie (Narkose) eingesetzt. Diese wird als Intubationsnarkose durchgeführt, da insbesondere bei laparoskopischen Eingriffen eine Larynxmaske keinen ausreichenden Schutz vor der Aspiration von Magensaft gewährleistet. Ausgeprägte kardiovaskuläre Vorerkrankungen können die Durchführbarkeit einer Laparoskopie aufgrund der Nebenwirkungen auf Herz-Kreislauf- und Lungenfunktion einschränken, so dass alternativ ein offener Zugang gewählt werden muss. Frauen sind allerdings im höheren Lebensalter weniger von solchen Erkrankungen betroffen als Männer. Bei Patientinnen mit ausgeprägter vorhergehender vaginaler Blutung kann eine akute Anämie mit niedrigem Hämoglobin-Wert vorliegen, die gegebenenfalls die Therapie mit Blutprodukten erforderlich macht. Gynäkologische Operationen, speziell die Hysterektomie, werden mit im Vergleich zu anderen Eingriffen deutlich erhöhten Raten an postoperativer Übelkeit und Erbrechen (PONV, bei bis zu 80 % der Patientinnen) in Verbindung gebracht. Ob der Eingriff dafür eine spezifische Ursache ist, wird kontrovers diskutiert, nach aktueller Datenlage aber eher abgelehnt. Wahrscheinlich ist die hohe Inzidenz hauptsächlich durch das Risikoprofil der Patientinnen bedingt, da der Faktor weibliches Geschlecht per se mit einer zwei- bis dreifachen statistischen Rate an PONV einhergeht. Zur Prophylaxe und Behandlung der postoperativen Übelkeit existieren eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten, etwa die Durchführung einer total intravenösen Anästhesie sowie die Verabreichung verschiedener Antiemetika (Dexamethason, Setrone u. a.). Die Wertheim-Meigs-Operation ist ein großer Eingriff des Abdomens, der oft in Kombinationsanästhesie (Allgemeinanästhesie in Kombination mit einer thorakalen Periduralanästhesie) durchgeführt wird. Die potenziell großen Flüssigkeitsverschiebungen und -verluste sowie eine oft vorbestehende Anämie machen eine differenzierte Überwachung (ggf. invasive Blutdruckmessung, zentralvenöse Katheterisierung) und Volumentherapie sowie gegebenenfalls Transfusion von Blutkonserven notwendig. Bei Patientinnen ohne kardiale Vorerkrankungen kann durch eine kontrollierte Hypotension der Blutverlust verringert werden. Postoperativ ist oft die Betreuung auf einer Wach- oder Intensivstation notwendig. Den Patientinnen kann eine (peridurale oder intravenöse) patientenkontrollierte Schmerztherapie angeboten werden. Rehabilitation Nach einer Hysterektomie bei gutartigen Erkrankungen sind meist keine expliziten Rehabilitationsmaßnahmen notwendig. Innerhalb von ca. 3 Wochen nach der Operation erfolgt die Wundheilung und Regeneration, welche durch eine Physiotherapie unterstützt werden kann. In dieser Zeit sollen sich die Patientinnen ausruhen und schonen. Eine volle Belastbarkeit des Körpers ist durchschnittlich nach 4 Wochen wiederhergestellt. Im Anschluss einer Gebärmutterentfernung bei bösartigen Erkrankungen sowie weiteren onkologischen Therapiemaßnahmen ist oft ein Aufenthalt in einer Rehaklinik sinnvoll. Dort werden körperliche Nachwirkungen der Erkrankung behandelt sowie die Patientinnen durch eine psychologische Betreuung unterstützt. Folgen Eine Hysterektomie beendet die Gebärfähigkeit einer Frau unwiderruflich. Die Menstruationsblutung kann bei der vollständigen Entfernung der Gebärmutter nicht mehr auftreten, da das Zielorgan, die Gebärmutterschleimhaut, für die zyklischen, hormonell bedingten Veränderungen nicht mehr besteht. Bei der subtotalen Operation unter Belassen des Gebärmutterhalses sind dagegen leichte zyklische Blutungen nicht selten. Nach einer Hysterektomie ohne Adnexe ist mit einem etwas früheren Eintritt in die Wechseljahre zu rechnen, was durch verschlechterte Blutversorgung der Eierstöcke bedingt zu sein scheint. Aktuelle Studien konnten jedoch zeigen, dass die Patientenzufriedenheit nach Hysterektomie sehr hoch ist. Der Wegfall der Menstruationsblutung und die Unnötigkeit einer Empfängnisverhütung wird von vielen Frauen als Verbesserung des Lebens empfunden. Es gibt bisher keine überzeugenden Hinweise auf nennenswerte Störungen des psychischen Wohlbefindens oder des Sexualempfindens. Individuell wurde über verschieden ausgeprägte sexuelle Veränderungen, wie Verlust des uterinen Orgasmusempfindens, teilweise spürbare Verkürzung und Trockenheit der Scheide sowie Libidoverlust berichtet. Ebenso leiden manche Frauen erheblich unter dem Verlust der Gebärmutter. Ein zentraler Aspekt ist hierbei das Gefühl, keine „komplette“ Frau mehr zu sein. Insgesamt gibt es jedoch nur wenige Hinweise auf eine Verschlechterung, sondern zahlreiche Berichte über eine Verbesserung der Sexualfunktion durch eine Hysterektomie. 85 Prozent der Patientinnen aus der Maryland Women’s Health Study berichteten 6, 12, 18 und 24 Monate nach Hysterektomie über eine gestiegene Geschlechtsverkehrsfrequenz, weniger Beschwerden beim Verkehr (Dyspareunie), einen häufigeren Orgasmus, eine gesteigerte Libido und weniger vaginale Trockenheit. Komplikationen Typische seltene Komplikationen und damit Risiken der Hysterektomie sind Wundheilungsstörungen, Verletzung von Darm, Harnleiter oder der Harnblase, sowie (Nach-)Blutungen. Die deutsche Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung fand 2008 von 77.549 Patientinnen (ohne Karzinom, ohne Endometriose und ohne Voroperation im gleichen Operationsgebiet) eine Organverletzung bei 724 Patientinnen (0,9 Prozent). Harnwegsinfekte sind relativ häufig zu beobachten. Mittelfristig können gebärfähige Menschen nach einer Hysterektomie über Wochen und Monate unter Schmerzen, Schwäche, Müdigkeit und Abgeschlagenheit leiden. Narbenbrüche, Verwachsungen, Senkungserscheinungen des Vaginalstumpfes und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie) kommen vor. Wissenschaftler des Karolinska-Instituts in Schweden haben in einer Studie mit über 165.000 Frauen mit und 480.000 Frauen ohne Hysterektomie herausgefunden, dass die Entfernung der Gebärmutter das Risiko für eine Harninkontinenz (Blasenschwäche) erhöht. So mussten doppelt so viele Frauen nach einer Hysterektomie wegen einer Harninkontinenz behandelt werden wie Frauen mit Gebärmutter. Besonders gefährdet sind Frauen, deren Gebärmutter noch vor der Menopause („Letzte regelrechte Regelblutung“) entfernt wurde, oder die mehrere Kinder zur Welt gebracht haben. Dabei war die vaginale Hysterektomie mit der höchsten Rate an nachfolgenden Senkungsoperationen assoziiert. Die Ursachen dafür sind jedoch unklar. Der Erhalt des Gebärmutterhalses bietet gegenüber der vollständigen Gebärmutterentfernung keinen Schutz vor einer später entstehenden Harninkontinenz, deren Zusammenhang mit der Hysterektomie in einigen Untersuchungen sogar grundsätzlich angezweifelt wird. Das Zerkleinern (Morcellement) von Myomen und Uteri kann in sehr seltenen Fällen unabhängig vom Operationsweg (Bauchschnitt, Operation über die Scheide oder per Bauchspiegelung) auch zur Streuung von gutartigen, jedoch auch von zunächst nicht bekanntem bösartigen Gewebe im Bauchraum führen. Alternativen Gutartige Erkrankungen Immer wieder wurde kritisiert, dass zu viele Hysterektomien durchgeführt werden, zumal die Hysterektomie mit Risiken verbunden ist und gerade für viele gutartige Veränderungen alternative Behandlungsmethoden existieren. Menstruationsstörungen können hormonell behandelt werden. Außerdem besteht in vielen Fällen die Möglichkeit einer Endometriumablation, also einer isolierten thermischen oder hysteroskopischen Zerstörung der Gebärmutterschleimhaut. Eine Endometriose kann, mit Ausnahme der Adenomyosis, bei der die Endometrioseherde in der Gebärmuttermuskulatur liegen, separat operiert werden. Auch eine hormonelle Behandlung ist erfolgversprechend. Myome in der Gebärmutterhöhle, sogenannte submuköse Myome, können oftmals hysteroskopisch entfernt werden. Myome in der Muskulatur (intramurale Myome) oder an der Außenseite der Gebärmutter (subseröse Myome) können laparoskopisch oder mit Bauchschnitt unter Erhalt der Gebärmutter operiert werden. Außerdem besteht die Möglichkeit der Uterusmyomembolisation und die gezielte Ultraschallerwärmung der Myome. Allerdings ist bei beiden Varianten keine histologische Untersuchung möglich. Die Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS) empfiehlt – vor allem bei jüngeren Frauen – zunächst alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, bevor eine Hysterektomie vorgenommen wird. Bösartige Erkrankungen Beim Zervixkarzinom ist in den Stadien III und IV bzw. bei nicht operablen Patientinnen eine primäre kombinierte Strahlentherapie oder eine simultane Radiochemotherapie möglich. Auch ein Endometriumkarzinom kann bei hohem Operationsrisiko durch Nebenerkrankungen oder schwierige Operationsbedingungen, wie bei hochgradiger Adipositas, durch eine kombinierte Strahlentherapie behandelt werden. Beim Ovarialkarzinom ist eine Heilung durch eine alleinige Chemotherapie nicht möglich, kann jedoch das Fortschreiten der Erkrankung hemmen bzw. Folgeerscheinungen, wie Aszites, vermindern. Eine Strahlentherapie ist bei Ovarialkarzinom nicht angezeigt. Statistiken, regionale Unterschiede Die teilweise oder vollständige operative Entfernung der Gebärmutter ist einer der häufigsten chirurgischen Eingriffe der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, welche zu einem vergleichsweise hohen und regional unterschiedlichen Anteil auch von Belegabteilungen erbracht wird. Während bei den Hysterektomien (OPS-Code 5-683) zwischen 2007 und 2009 in Deutschland eine deutliche Reduzierung von ca. 138.000 auf ca. 125.000 erfolgte, erhöhte sich die Anzahl der subtotalen Uterusextirpationen (OPS-Code 5-682) im selben Zeitraum von ca. 9.000 auf ca. 14.000 deutlich. Es zeigen sich deutschlandweit deutliche Unterschiede in der OP-Häufigkeit in den einzelnen Kreisen. Im Kreis mit dem höchsten OP-Index (Ist-OP-Anzahl/ erwartete OP-Anzahl) von 1,7 liegt dieser mehr als drei Mal höher als im Kreis mit dem niedrigsten Index (0,5). Werden die 20 Kreise mit dem höchsten und die 20 Kreise mit dem niedrigsten OP-Index nicht in die Betrachtung einbezogen, so erhält man nur noch eine Spannbreite des OP-Index für die übrigen Kreise von ca. dem Zweifachen (0,8 bis 1,4). Die OP-Häufigkeit bei den Frauen, die in den (größeren) Städten leben, fällt eher durchschnittlich oder unterdurchschnittlich aus. In verschiedenen Ländern werden die regionalen Unterschiede in der Häufigkeit der Durchführung von Hysterektomien und die Indikationsstellung zur Hysterektomie bereits seit vielen Jahrzehnten diskutiert, weil in Untersuchungen gezeigt wurde, dass ein erheblicher Teil der Hysterektomien ohne ausreichende Indikationsstellung erfolgt. Die aktuell noch bestehenden Variationen deuten darauf hin, dass die Indikationsstellung zur Hysterektomie offenbar nach wie vor in manchen Regionen großzügiger erfolgt als in anderen. So wird auf fachlicher Ebene verstärkt diskutiert, welche Indikationen zur Hysterektomie unstrittig sind und bei welchen Indikationen Entscheidungsspielräume bei Patientinnen und/oder Ärzten vorhanden sind, die eine Vermeidung der Hysterektomie möglich machen. Die abnehmende Gesamtzahl der Hysterektomien könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Indikationsstellung bereits in den letzten Jahren zunehmend kritischer erfolgt. Allerdings werden bspw. bei der Behandlung des Uterus myomatosus neue und vor allem konservative Verfahren nicht in ausreichendem Umfang angewendet. Daher kann von Bedeutung sein, in welchem Maße den einzelnen behandelnden Krankenhäusern und Ärzten alle für die Entscheidung relevanten diagnostischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und in welcher Geschwindigkeit Erkenntnisse über neue Behandlungsverfahren allgemeine Verbreitung und Anwendung finden. Davon betroffen sind auch die behandelnden niedergelassenen Frauenärzte, die die Entscheidung an welches Krankenhaus sich die Patientinnen zur weiteren Versorgung wenden, mit beeinflussen. Solche Unterschiede können die regionalen Variationen in der Hysterektomiehäufigkeit mit begründen. Im Jahr 2013 zeigte sich in einer Studie des Robert Koch-Instituts, die Teil des Gesundheitsmonitorings ist, dass es einen sehr deutlichen Zusammenhang zwischen dem sozialen Status der Patientinnen und einer Gebärmutterentfernung gibt. Bei den 8.152 Frauen, die an der Studie teilnahmen, wurde bei Frauen mit niedrigem Sozialstatus doppelt so häufig eine Hysterektomie durchgeführt wie bei Patientinnen mit einem höheren Bildungsgrad. Dies wird zum einen darauf zurückgeführt, dass besser gebildete Menschen generell im Durchschnitt über eine bessere Gesundheit verfügen; sie sind weniger Stress ausgesetzt, sie betreiben eine bessere Gesundheitsvorsorge und nehmen eher Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten in Anspruch. Andererseits seien die Ärzte eher bereit, diesen Patientinnen Behandlungsmethoden anzubieten und zu erklären, mit denen sich die Entfernung der Gebärmutter vermeiden lasse. Rechtliches Auch für die Entfernung der Gebärmutter bedarf es, ebenso wie für alle anderen Operationen, neben einer medizinischen Indikation selbstverständlich des Einverständnisses der Patientin. Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung sollten der Patientin mögliche Alternativen sowie Vor- und Nachteile der Operationsmethoden dargelegt werden. Prinzipiell ist es möglich, einer Patientin mit Kinderwunsch im Rahmen einer Hysterektomie Eizellen zu entnehmen und diese für eine spätere Befruchtung einzufrieren oder nach einer Gebärmutterentfernung für eine In-vitro-Fertilisation zu gewinnen. Die hieraus entstandenen Embryonen können aber nur von einer Leihmutter ausgetragen werden. Dies ist jedoch in vielen Ländern nicht erlaubt. In Deutschland etwa verbietet das Embryonenschutzgesetz eine Leihmutterschaft. Geschichte Erste Versuche, eine Gebärmutterentfernung durchzuführen, ließen sich bis ins 1. Jahrhundert zu Zeiten des Soranos von Ephesos zurückverfolgen, damals zur Behandlung einer infizierten Gebärmutter bei einer Senkung. Bis ins 18. Jahrhundert war eine Hysterektomie meist nicht zu überleben. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es wieder nachgewiesene Versuche, Gebärmutterentfernungen durchzuführen. Eine der ersten Hysterektomien geschah 1812, als Giovanni Battista Palletta in Mailand einen Gebärmutterhals wegen eines Zervixkarzinoms entfernen wollte und dabei eine totale Hysterektomie durchführte, welche die Patientin jedoch nur zwei Tage überlebte. Erste vollständige Hysterektomien bei Krebserkrankungen der Gebärmutter auf vaginalem Weg gelangen 1801 Friedrich Benjamin Osiander, 1813 Konrad Johann Martin Langenbeck und 1822 Johann Nepomuk Sauter. Im November 1843 nahm Charles Clay in Manchester eine suprazervikale Hysterektomie vor. Jedoch erst nachdem James Young Simpson 1847 Chloroform zur Narkose eingeführt hatte, waren in der Chirurgie und damit auch in der Chirurgischen Frauenheilkunde größere Fortschritte möglich. Walter Burnham (Lowell, Massachusetts) entfernte im Juni 1853 ungeplant eine Gebärmutter über einen Bauchschnitt. Die erste erfolgreiche vollständige abdominale Hysterektomie im Jahr 1853 ist mit dem Namen Gilman Kimball (1804–1892, ebenfalls Lowell, Massachusetts) verbunden. Am 2. Januar 1861 wurde eine erste vaginale Gebärmutterentfernung ohne Verletzung von Blase und Enddarm von S. Choppin in New Orleans durchgeführt, die erst 1876 von A. Petterson in Glasgow wiederholt wurde. Die erste erfolgreiche Entfernung von Gebärmutter und Eierstöcken gelang 1863 dem Anatomen und Gynäkologen Eugène Koeberlé (1828–1915), der bis 1880 an der Clinique de la Toussaint in Straßburg tätig war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Hysterektomie zuweilen auch zur Therapie der Hysterie angewandt. Man nahm an, die Hysterie sei eine typisch weibliche Eigenschaft und hänge mit der Gebärmutter zusammen, eine Vorstellung, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. (siehe auch Geschichte der Frauenleiden) Im Jahr 1878 führte Wilhelm Alexander Freund in Breslau bei einer Patientin mit Gebärmutterhalskrebs die erste wiederholbare vollständige Gebärmutterentfernung (als abdominelle Totalexstirpation) über einen Bauchschnitt aus, weitere Ärzte verfeinerten die Methoden und entwickelten sie weiter. Am 12. August 1879 führte der Chirurg Vincenz Czerny in Heidelberg eine Hysterektomie über die Scheide durch, welche erstmals systematisch von ihm beschrieben werden konnte. Da die Ergebnisse (allerdings mit einer Rezidivrate von über 90 %) besser waren als bei der Freundschen Operation, wurde in der Folgezeit die vaginale Operation bevorzugt. (So etwa ab 1884 durch O. Thelen am St. Josephs-Hospital in Elberfeld). Eine erweiterte vaginale Totalexstirpation der Gebärmutter hatte 1894 Alwin Mackenrodt (1859–1925) durchgeführt, eine erweiterte abdominale Totalexstirpation Ernst Wertheim 1897. Bis ungefähr 1950 wurde daher bei gutartigen Erkrankungen der subtotalen Entfernung oder der vaginalen Entfernung der Vorzug gegeben. Seit der Einführung antimikrobieller Substanzen setzte sich die vollständige abdominale Entfernung, neben der auf vaginalem Weg, durch, weil die Gefahr eines Gebärmutterhalskrebses an der sonst verbliebenen Zervix (Gebärmutterhals) durch Krebsfrüherkennung reduziert werden konnte. Karl August Schuchardt gelang 1893 in Stettin die erste erweiterte vaginale Gebärmutterentfernung bei Gebärmutterhalskrebs, die 1901 von dem Wiener Gynäkologen Friedrich Schauta, später von Walter Stoeckel an der Charité in Berlin und Isidor Alfred Amreich in Wien weiterentwickelt wurde. Vom österreichischen Gynäkologen Ernst Wertheim wurde bis 1898 eine radikale Operationsmethode über einen Bauchschnitt entwickelt, die später der Amerikaner Joe Vincent Meigs weiterentwickelte. Im Jahr 1901 beschrieb Albert Döderlein die mediane Spaltung als neue Methode der vaginalen Uterusexstirpation. Nach Vorarbeiten von Kurt Semm führte Harry Reich 1988 in Pennsylvania die erste laparoskopische Hysterektomie durch. In den 1980er Jahren wurden mehrere Varianten einer teilweisen Gebärmutterentfernung entwickelt. Semm beschrieb 1991 eine laparoskopische subtotale Hysterektomie. Er nannte seine Version CISH (Classic Intrafascial Semm Hysterectomy) und kombinierte das Zerkleinern (Morcellement) des Uterus mit einer Ausschälung der Zervix. Die Methode erhielt jedoch nie eine weitergehende Anerkennung. Jacques Donnez (Belgien) publizierte 1993 die laparoskopische suprazervikale Hysterektomie, welche in dieser Form heute weit verbreitet ist. Seit den 1990er Jahren kam es durch die Einführung neuer Operationstechniken, wie der laparoskopischen Wertheim-Operation, der Trachelektomie oder der Totalen mesometrialen Resektion des Uterus und der Möglichkeit der Lymphknotenentfernung mittels einer Laparoskopie, zu einer beginnenden Individualisierung der operativen Therapie bei bösartigen Erkrankungen mit teilweise bewusst reduzierter, teilweise verbesserter Vollständigkeit (Radikalität) der chirurgischen Karzinomentfernung. Literatur Franziska Prütz, Elena von der Lippe: Hysterektomie. In: GBE kompakt. 5(1), 2014. rki.de (PDF; 395 kB). Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung. Bertelsmann Stiftung, 2011, S. 36 f., . Diethelm Wallwiener, Walter Jonat, Rolf Kreienberg, Klaus Friese, Klaus Diedrich, Matthias W. Beckmann (Hrsg.): Atlas der gynäkologischen Operationen. Georg Thieme, 2008, ISBN 978-3-13-357007-7. Bernhard Schüssler, H. Peter Scheidel, Michael K. Hohl: Hysterektomie Update. In: Frauenheilkunde aktuell. 3, 2008. (frauenheilkunde-aktuell.ch (PDF); PDF; 810 kB) Hellmuth Pickel, O. Reich, R. Winter: Hysterektomie von der Antike bis heute. In: Frauenarzt. 51, 2010, S. 879–882. (frauenarzt.de (PDF); PDF; 219 kB) Liselotte Mettler, Wael Sammur, Thoralf Schollmeyer: Sun beams on hysterectomies. In: Gynecol Surg. 8, 2011, S. 255–267. doi:10.1007/s10397-011-0657-9 Friedhelm Köhler: Die langfristige Bewältigung einer Gebärmutteroperation. In: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik. 32, 1987, S. 266ff. Weblinks auf Faktencheck-Gesundheit.de A. Wattiez, V. Thoma, J. Nassif: Laparoscopic total hysterectomy for benign conditions: standard technique. Epublication: WeBSurg.com, 2008 T. Falcone: Laparoscopically assisted vaginal hysterectomy. Epublication: WeBSurg.com, 2002 A. Wattiez, E. Kovoor, J. Nassif, I. Miranda-Mendoza: Laparoscopic hysterectomy with adnexectomy. Epublication: WeBSurg.com, 2009 A. Wattiez: Laparoscopic hysterectomy with pelvic lymphadenectomy for cervical cancer. Epublication: WeBSurg.com, 2007 Informationen der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Endoskopie (AGE) der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Informationen der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Endoskopie (AGE) der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Einzelnachweise Therapeutisches Verfahren in Gynäkologie und Geburtshilfe Operatives Therapieverfahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Raneferef-Pyramide
Raneferef-Pyramide
Die Raneferef-Pyramide (auch Neferefre-Pyramide) ist eine unvollendete Pyramide der 5. Dynastie in der Nekropole von Abusir (Ägypten). Nach dem frühzeitigen Tode des Königs (Pharaos) Raneferef wurde das unfertige Bauwerk in eine quadratische Mastaba umgewandelt, so dass der verstorbene König dennoch hier bestattet werden konnte. Trotz des Bauabbruchs der eigentlichen Pyramide erhielt der Komplex unter Raneferefs Nachfolgern ausgedehnte Tempelbauten. Erforschung Das Bauwerk wurde bereits bei den frühen archäologischen Untersuchungen der Nekropole von Abusir bemerkt, aber nicht intensiver untersucht. Sowohl John Shae Perring (1837–1839) als auch später Karl Richard Lepsius (1842–1846), Jacques de Morgan (1890er Jahre) und Ludwig Borchardt (Anfang des 20. Jahrhunderts) widmeten dem Bauwerk nur geringe Aufmerksamkeit. Lepsius katalogisierte die Ruine unter der Bezeichnung Lepsius XXVI in seiner Pyramidenliste. Eine eindeutige Zuordnung des Pyramidenstumpfs war zu dieser Zeit nicht möglich. Einige der Forscher ordneten sie Raneferef zu, andere Schepseskare oder sie ließen die Frage der Urheberschaft offen. Zu dieser Zeit war man noch einhellig der Meinung, dass der frühe Abbruch der Bauarbeiten eine Bestattung des Königs und somit auch den Totenkult ausgeschlossen habe. Ab 1974 begann eine intensive Erforschung der Überreste durch ein tschechisches Team der Karls-Universität Prag. Diese Arbeiten unter Leitung von Miroslav Verner brachten eine Vielzahl neuer Erkenntnisse. Wichtigste Erkenntnis war, dass die unvollendete Pyramide entgegen den bisherigen Erwartungen doch als Grabmal des Königs diente, was insbesondere durch den Fund von Mumienüberresten belegt werden konnte. Unter anderem wurden dabei in den Ruinen des Totentempels Papyri aus dem Tempelarchiv sowie Statuen des Königs gefunden, womit das Bauwerk eindeutig Raneferef zugeordnet werden konnte. Die Untersuchung der Ruine ermöglichte zudem tiefe Einblicke in die Pyramidenbautechnik der 5. Dynastie, da hier das gesamte Kernmauerwerk der ersten Stufe einsehbar ist. Somit konnte die von Lepsius und auch von Borchardt vorgeschlagene Theorie einer Bauweise aus nach innen geneigten Schalen mit horizontalem Mauerwerk widerlegt werden. Bauumstände Während seiner kurzen Herrschaft begann Raneferef mit dem Bau eines Pyramidenkomplexes namens „Netjeri-bau-Ra-nefer-ef“ („Göttlich ist die Macht des Raneferef“) in der Nekropole von Abusir, direkt südwestlich der Neferirkare-Pyramide und westlich der Chentkaus-II.-Pyramide. Diese Pyramide befindet sich am südlichen Ende der Nekropole und liegt von allen Pyramiden Abusirs am weitesten in der Wüste. Die Lage war so gewählt, dass die Nordwest-Ecken der drei ältesten Königspyramiden auf dem Areal – der Raneferef-Pyramide, der Neferirkare-Pyramide und der Sahure-Pyramide – auf einer Linie ausgerichtet waren, die vermutlich auf den Obelisken des Sonnenheiligtums in Heliopolis wies. Eine ähnliche Ausrichtung auf Heliopolis existiert auch bei den Südost-Ecken der Pyramiden von Gizeh. Der vorzeitige Tod des Königs nach einer Herrschaft von nur fünf Jahren (2460 bis 2455 v. Chr.) führte zu einem Abbruch der Bauarbeiten und zur notdürftigen Herrichtung des Komplexes zu einer Begräbnis- und Kultstätte in Form einer quadratischen Mastaba. Unter seinen Nachfolgern wurden die Kultstätten und der Komplex ergänzt, nicht aber die Pyramide vollendet. Auf im Tempel gefundenen Papyri wird die Pyramide als „Hügel“ bezeichnet. Plünderung und Steinraub Das Bauwerk wurde, wie alle Pyramidenkomplexe, Opfer von Plünderungen und Steinraub. Insbesondere die unfertige Form mit dem Flachdach ermöglichte den Plünderern einfachen Zugang, da sie sich von der leicht zugänglichen Dachterrasse in den Unterbau hinein graben konnten. Der Steinraub und die Plünderungen waren offenbar professionell organisiert, da die Überreste einer im Pyramidenkorpus eingerichteten Werkstatt gefunden wurden. Die Plünderungen begannen vermutlich bereits in der 1. Zwischenzeit und der Steinraub erfolgte in Wellen im späten Neuen Reich, der Spätzeit, der Römerherrschaft und dem arabischen Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert. Aus dem Pyramidenkomplex entwendete Materialien konnten in nahebei liegenden Schachtgräbern gefunden werden. Der Tempelbereich blieb vergleichsweise unbehelligt, da er größtenteils aus weniger wertvollen Lehmziegeln bestand. Die Pyramide Die Pyramide des Raneferef wurde mit einer Basislänge von 65 m begonnen und wäre damit nach der Unas-Pyramide die zweitkleinste Königspyramide des Alten Reichs geworden. Die geplante Höhe und Seitenneigung sind nicht mehr feststellbar, da die Verkleidungssteine offenbar niemals angebracht wurden. Die Pyramide sollte einen gestuften Kern erhalten, der durch eine Verkleidung aus feinem Tura-Kalkstein eine Pyramidenform erhalten sollte, jedoch gelangten die Bauarbeiten nicht über die erste Stufe hinaus. Aufbau Die Pyramide war nicht direkt auf den Felsenuntergrund gebaut, sondern auf ein Fundament aus großen Kalksteinblöcken, die beim Ausschachten der Grube für den Unterbau gewonnen wurden. Die Kernstufe bestand aus einer äußeren Mauer aus gewaltigen, bis zu 5 Meter langen, etwa 1 Meter breiten und um 1 Meter tiefen, grob behauenen Kalksteinblöcken, die in zwei Reihen den Umfang der Stufe bildeten. Die Grube für die Grabkammer und den Zugang war mit einer ähnlichen, aber aus kleineren Blöcken bestehenden Mauer umrandet, damit gleichzeitig am Unterbau und an der ersten Stufe gearbeitet werden konnte. Die Höhe der in horizontalen Schichten verlegten Blöcke betrug etwa 1 Meter. Zwischenräume wurden mit Tonmörtel gefüllt. Die Verlegung der Blöcke war in den Ecken sorgfältiger als an den Seiten. Im Gegensatz zu den früheren Pyramiden der 4. Dynastie, deren Kernmauerwerk aus soliden Kalksteinblöcken bestand, war hier das Innere der Stufe mit Steinsplittern, Schotter, Sand und Lehm gefüllt. Diese Technik ermöglichte eine deutliche Arbeitsersparnis, war aber auf lange Sicht stärker erosionsanfällig. Diese Bautechniken finden sich auch in den Ruinen einiger anderer stark zerstörter Pyramiden und lassen den Schluss zu, dass vermutlich alle Pyramiden der 5. und 6. Dynastie nach diesen Prinzipien errichtet wurden. Der Tod des Königs führte zu einem Abbruch der Bauarbeiten und zu einer notdürftigen Konzeptänderung, um das Bauwerk dennoch für die Bestattung nutzen zu können. Die etwa 7 m hohe erste Stufe erhielt eine aus groben Kalksteinen bestehende Verkleidung mit einer Seitenneigung von 78° ähnlich einer Mastaba. Die Dachterrasse war mit einer Tonschicht gedeckt, in die Feuersteine eingedrückt waren. Die in den Abusir-Papyri für die Pyramide verwendete Bezeichnung „Hügel“ (iat) lässt einen Zusammenhang der Symbolik mit dem Urhügel-Mythos vermuten. Unterbau Der Unterbau der Pyramide war in einem offenen Graben angelegt worden. Dieser Graben hatte eine Ummauerung, die bis in die erste Stufe der Pyramide reichte und es somit ermöglichte, gleichzeitig an Unterbau und Aufbau der Pyramide zu arbeiten. Der Unterbau war nach dem seit der Sahure-Pyramide einheitlich verwendeten Schema aufgebaut. Der Zugang führte von der Nordseite der Pyramide in südliche Richtung abwärts und mündete in eine leicht nach Osten abknickende horizontale Passage. Der untere Bereich war mit Rosengranit verkleidet und enthielt eine aus dem gleichen Material bestehende Fallsteinsperre. Ungewöhnlich und in keinem anderen Bauwerk nachgewiesen, befand sich in der Mitte der horizontalen Passage eine weitere Sperrvorrichtung aus kieferartig ineinander greifenden Sperren. Die Grabkammer und ihre Vorkammer waren wie üblich in ostwestlicher Richtung angeordnet und mit einer Giebeldecke aus feinem Kalkstein und einer Kammerverkleidung aus demselben Material versehen. Sowohl Verkleidung als auch Giebeldecke wurden bereits im Altertum durch Steinraub schwer beschädigt. Heute sind nur noch einzelne Fragmente des Unterbaus in der Grube vorhanden. In den Überresten des Unterbaus fand die tschechische Archäologengruppe trotz der starken Verwüstung Überreste der Einrichtung, der Grabbeigaben und selbst der Mumie des Königs. Die Grabkammer enthielt einen Sarkophag aus Rosengranit, von dem nur einige Fragmente erhalten blieben. Zudem fanden sich Fragmente von vier Kanopengefäßen aus Alabaster, ebenso Opfergabengefäße aus dem gleichen Material. Die Mumienüberreste gehören zu einem zum Todeszeitpunkt etwa 20- bis 25-jährigen Mann und sind nach Auswertung der archäologischen Fundumstände und der anthropologischen Untersuchung mit großer Wahrscheinlichkeit dem Pharao Raneferef zuzuordnen. Der Pyramidenkomplex Elemente, die bei einem vollendeten Pyramidenkomplex vorhanden waren, wie der Aufweg, der Taltempel und die Kultpyramide fehlen hier, was auf den Abbruch der Bauarbeiten beim vorzeitigen Tod des Königs zurückzuführen ist. Nur jene Bauten, die für die Bestattung und den Totenkult unbedingt notwendig waren, wurden zunächst von seinem Nachfolger vollendet. Ungewöhnlich war jedoch ein weiterer Ausbau der Tempelanlagen unter einem weiteren Nachfolger. Totentempel In der ersten Bauphase des Totentempels entstand ein kleiner, offenbar improvisierter Tempelbau an der Ostseite der Pyramide. Dieser aus Kalkstein gemauerte Tempel hatte eine nordsüdliche Orientierung und eine Stufenrampe ermöglichte den Zugang von Südosten. Dieser Tempel enthielt die obligatorische Opferhalle sowie einen Raum zur rituellen Reinigung am Eingang. Die Abdrücke eines Altars waren noch nachweisbar. Eine Scheintür befand sich an der Westwand, die mit Goldblech überzogene Inschriften trug. Unter dem Pflaster des Tempels fanden sich noch Gründungsopfergaben, wie ein Stierkopf und Opfergefäße. Vermutlich befanden sich bei dem Tempel zwei Bootsgruben für zwei Kultbarken. In den Überresten dieses Tempelteils waren keine Hinweise auf den Erbauer zu finden, so dass sich dadurch die Frage der direkten Nachfolge Raneferefs nicht klären lässt. Möglicherweise handelte es sich bei dem Nachfolger um den nur kurz regierenden Schepseskare, von dem Siegelabdrücke im Bereich des Totentempels gefunden wurden. In einer zweiten Phase unter Pharao Niuserre wurde der Tempelkomplex massiv erweitert. Im Gegensatz zum ursprünglichen Tempel waren hier, mit einigen Ausnahmen, Lehmziegel das Baumaterial. Dieser neue Tempelbereich hatte ebenfalls eine nordsüdliche Ausrichtung, erstreckte sich aber über die gesamte Länge der Ostseite des Pyramidenstumpfs und umschloss den ursprünglichen Tempel. Das nördliche Drittel des Neubaus enthielt zweistöckige Magazinräume. Im mittleren Teil befand sich ein Eingangsportikus mit zwei Säulen und dahinter erstreckten sich fünf längliche Räume, die aber eher an Magazinräume als an die üblichen Statuenkapellen erinnern. Eine dieser Kammern wurde später als Durchgang zum Inneren Tempel durchbrochen, während eine andere die bei einem Brand beschädigten Reste der Kultbarken aufnahm und versiegelt wurde. Der Magazinbereich beherbergte auch das Tempelarchiv, da es in diesem Komplex keinen Taltempel gab. Einzigartig und nur in diesem Pyramidenkomplex zu finden ist der südliche Tempelbereich. Er enthielt einen großen Saal, der eine von zwanzig hölzernen Lotussäulen getragenen Decke besaß. Die Decke selbst war mit goldnen Sternen auf einem dunkelblauen Himmel dekoriert. In diesem Bereich fanden sich auch Bruchstücke von Herrscherstatuen, Kultgegenstände und hölzerne Statuetten von Kriegsgefangenen. Eine dritte Bauphase ebenfalls unter Niuserre erweiterte den Tempel um einen Eingangsbereich nach Osten und gab ihm damit die für diese Zeit typische T-förmige Anordnung. Auch hier bestand das Baumaterial hauptsächlich aus Lehmziegeln. Diese Erweiterung enthielt einen mit zwei Papyrussäulen aus Kalkstein dekorierten monumentalen Eingang, eine Eingangshalle und einen sich daran anschließenden offenen Säulenhof mit 22 hölzernen Rundsäulen. Später, während der Herrschaft des Djedkare, bauten sich die Priester des Totenkults einfache Ziegelunterkünfte im Säulenhof. Der Herrscherkult des Raneferef wurde bis zum Ende der 6. Dynastie ausgeübt, erlosch aber in den folgenden Wirren nach Ende dieser Dynastie. In der 12. Dynastie kam es für eine kurze Zeit zu einer Wiederbelebung des Kults. Messer-Heiligtum Mit der zweiten Bauphase des Tempels entstand außerhalb der Umgrenzungsmauer östlich des südlichen Tempelteils und südlich des später gebauten Eingangsflügels ein sogenanntes „Messer-Heiligtum“. Dabei handelte es sich um ein rituelles Schlachthaus für Opfertiere für den Herrscherkult. Die Funktion und die Bezeichnung des Messer-Heiligtums ist durch im Totentempel des Neferirkare gefundene Papyri belegt. Dieses Gebäude war aus Lehmziegeln errichtet und hatte an der Außenmauer abgerundete Ecken. Im nördlichen Teil des Messer-Heiligtums befand sich ein offener Schlachthof sowie in der Nordostecke ein Bereich zur Zerteilung der Tiere und zur Konservierung des Fleischs. Den mittleren und südlichen Teil des Gebäudes nahmen Magazinkammern zur Einlagerung der Opfergaben ein. Die Dachterrasse diente vermutlich zum Trocknen des Fleischs. Nach Hinweisen aus den Abusir-Papyri sollen bei einem zehntägigen Fest 130 Stiere im Messer-Heiligtum geopfert worden sein. Das Messer-Heiligtum verlor mit der dritten Bauphase seine Funktion als Schlachthaus und diente nur noch der Lagerung, bis es in der ersten Hälfte der 6. Dynastie zerstört wurde. Einfriedung Die Einfriedung des Komplexes bestand aus einer massiven Lehmziegelmauer, deren Ecken mit Kalksteinblöcken befestigt waren. In der nordwestlichen Ecke war ein Bereich des Hofes abgeteilt, wobei der Zweck dieser Abteilung noch nicht geklärt ist. Sonnenheiligtum Zusätzlich zum Pyramidenkomplex ist auf Inschriften und Siegelabrollungen überliefert, dass Raneferef ein Sonnenheiligtum namens „Hetep Rau“ („Opfertisch des Re“) errichten ließ. Es wird in der Umgebung von Abusir vermutet, jedoch konnten die Überreste bislang nicht aufgefunden werden. Möglicherweise wurde es nach Raneferefs Ableben durch das Sonnenheiligtum des Niuserre überbaut. Literatur Allgemein Zahi Hawass: Die Schätze der Pyramiden. Weltbild, Augsburg 2003, ISBN 3-8289-0809-8, S. 249–251. Mark Lehner: Geheimnis der Pyramiden. ECON, Düsseldorf 1997, ISBN 3-8053-2310-7, S. 146/147. Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1, S. 336–345. Details Miroslav Verner et al.: Abusir IX: The Pyramid Complex of Raneferef, I: The Archaeology. Czech Institute of Egyptology, Prag 2006, ISBN 80-200-1357-1 (Ausgrabungsbericht). Miroslav Verner: Les sculptures de Rêneferef découvertes à Abousir [avec 16 planches] (= Bulletin de l’Institut Francais d’archéologie orientale. Bd. 85). 1985, S. 267–280 mit XLIV-LIX suppl. Miroslav Verner: Supplément aux sculptures de Rêneferef découvertes à Abousir [avec 4 planches] (= Bulletin de l’Institut Francais d’archéologie orientale. Bd. 86). 1986, S. 361–366 (online, PDF, 7,3 MB). Renata Landgráfová: Abusir XIV. Faience Inlays from the Funerary Temple of King Raneferef. Czech Institute of Egyptology, Prag 2006. Paule Posener-Kriéger, Miroslav Verner, Hana Vymazalová: Abusir X. The Pyramid Complex of Raneferef. The Papyrus Archive. Czech Institute of Egyptology, Prag 2006. Paule Posener-Kriéger: Quelques pièces du matériel cultuel du temple funéraire de Rêneferef. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. (MDIAK) B. 47. Von Zabern, Mainz 1991, S. 293–304. Petra Vlčková: Abusir XV. Stone Vessels from the Mortuary Complex of Raneferef at Abusir. Czech Institute of Egyptology, Prag 2006. Weblinks Alan Winston: The Pyramid of Neferefre (Raneferer) at Abusir Bilder der Raneferef-Pyramide Grundriss der Pyramide Einzelnachweise Ägyptische Pyramide Erbaut im 25. Jahrhundert v. Chr. 5. Dynastie (Ägypten) Abusir
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Clara Immerwahr
Clara Helene Immerwahr (verh. Clara Haber; geboren 21. Juni 1870 in Polkendorf bei Breslau; gestorben 2. Mai 1915 in Dahlem bei Berlin) war eine deutsche Chemikerin. Als sie 1900 an der Universität Breslau promoviert wurde, war sie die erste Deutsche, die einen Doktorgrad in Chemie erwarb. Wissenschaftlich arbeitete sie im damals neuen Feld der physikalischen Chemie. Nach einem Jahr Berufstätigkeit am chemischen Institut ihres Doktorvaters Richard Abegg in Breslau heiratete sie 1901 den späteren Nobelpreisträger Fritz Haber und musste ihren Beruf aufgeben. Die Ehe verlief unglücklich, insbesondere nach der Geburt ihres Sohnes 1902. Im Jahr 1915 beging Clara Haber Suizid. 1993 veröffentlichte Gerit von Leitner die erste und bisher einzige umfassende Biografie Clara Immerwahrs, in der sie die Chemikerin als überzeugte Pazifistin porträtierte, die sich aus Protest gegen die führende Rolle ihres Mannes im Gaskrieg das Leben nahm. Leitners Biografie wurde wegen dieser kaum belegten These vielfach kritisiert. Historikerinnen und Historiker haben gezeigt, dass andere Lesarten des Geschehens wahrscheinlicher sind. Trotzdem hat sich dieses Bild Immerwahrs seit den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit etabliert, so dass sie insbesondere für rüstungskritische Gruppen, Pazifisten und Feministinnen ein Vorbild ist. In Filmen, Theaterstücken und Romanen wurde der Konflikt zwischen den Eheleuten vielfach aufgegriffen. Leben Jugend und Schulbildung Clara Immerwahr stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Ihr Vater Philipp Immerwahr war promovierter Chemiker und ein aufgeklärter Freigeist. Seine Ehefrau Anna geb. Krohn und er besuchten nicht die Synagoge und hielten keine jüdischen Gebräuche ein. Philipp Immerwahr bewirtschaftete erfolgreich das Gut Polkendorf nahe Breslau. Trotz ihres Wohlstands lebte die Familie vergleichsweise einfach. Clara Immerwahr und ihre Geschwister (zwei ältere Schwestern und ein Bruder) wurden entsprechend den damals im Bürgertum propagierten sogenannten preußischen Tugenden sparsam und bescheiden erzogen. Die Winter verbrachte die Familie regelmäßig in Breslau bei Lina Immerwahr, der Mutter Philipp Immerwahrs, die dort ein großes Geschäft für Damenbekleidung führte. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr wurde Clara Immerwahr zusammen mit ihren beiden Schwestern zuhause von einem Privatlehrer unterrichtet. Danach besuchten sie die höhere Töchterschule, die im Haus der Großmutter untergebracht war. 1890 starb die Mutter an Krebs. Philipp Immerwahr übergab das Gut an seine älteste Tochter und ihren Ehemann und zog mit der zwanzigjährigen Clara nach Breslau. Am Ende des 19. Jahrhunderts besuchten jüdische Mädchen in Preußen zehn- bis fünfzehnmal häufiger die höheren Schulen als nichtjüdische Mädchen. Obwohl die Töchter später keiner Erwerbsarbeit nachgingen, förderten jüdische Eltern in der Regel die höhere Ausbildung ihrer Töchter. Erst seit 1889 bot Helene Lange in Berlin Realkurse für Mädchen an; 1893 wurden sie in Gymnasialkurse umgewandelt, die zum Abitur führen sollten. In Berlin machte die erste Frau im Jahr 1895 ihr Abitur. Ab 1895 lag es in Preußen im Ermessen der jeweiligen Universität, Frauen mit entsprechender Vorbildung als Gasthörerinnen den Besuch einzelner Vorlesungen zu ermöglichen. Im Wintersemester 1895/1896 schrieben sich elf Lehrerinnen erstmals als Gasthörerinnen an Vorlesungen der Universität Breslau ein. 1892/1893 absolvierte Clara Immerwahr ein Lehrerinnenseminar in Breslau, – zu dieser Zeit für die meisten Frauen die einzige Möglichkeit einer weitergehenden Schulbildung. Laut ihrer Biografin Gerit von Leitner gab eine Lehrerin des Seminars Immerwahr wegen ihres ausgeprägten Interesses für die Naturwissenschaften die von Jane Marcet verfassten Conversations on Chemistry. Marcets Buch trug im 19. Jahrhundert maßgeblich zur Popularisierung der Chemie bei. Nach Abschluss des Seminars übte Clara Immerwahr den Beruf als Lehrerin nie aus. Mit Hilfe ihres Vaters wurde sie zu Ostern 1896 am Realgymnasium in Breslau zur Einjährig-Freiwilligen-Prüfung, wie die Mittlere Reife damals hieß, zugelassen, die sie erfolgreich absolvierte. Im Oktober 1896 stellte sie erstmals ein Gesuch bei der Universität Breslau und konnte im Wintersemester 1896/1897 Vorlesungen über Experimentalphysik besuchen. Dies diente dem Ziel, am Realgymnasium die Abiturprüfung ablegen zu können, was ihr 1897 gelang. Philipp Immerwahr unterstützte seine Tochter auch auf dem Weg zur Universität ohne die Erwartung, dass ihr dies später ein regelmäßiges Einkommen verschaffen würde. Im gleichen Jahr konvertierte sie zum evangelischen Glauben. Studium und wissenschaftliche Arbeit Ab dem Wintersemester 1897/98 studierte Immerwahr als Gasthörerin Chemie an der Universität Breslau. Die Wahl des Studienfachs ergab sich wohl aus familiären und persönlichen Interessen. Etliche ihrer Familienangehörigen hatten Chemie studiert. Die Chemie hatte Immerwahr auch schon früh fasziniert. Immerwahrs Interesse war zudem nicht ungewöhnlich: In den ersten Jahrzehnten des Frauenstudiums entwickelte sich die Chemie schnell zu einem beliebten Studienfach von Frauen. Der Abteilungsvorsteher Friedrich Wilhelm Küster, ein Schüler von Walther Nernst, führte Immerwahr in das damals neue Feld physikalische Chemie ein, für das sie sich stark interessierte. Parallel zur Expansion der chemischen Industrie hatte sich die Chemie im Laufe des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin an den Universitäten etabliert, wobei die Industrie die mangelhafte Qualifikation der Hochschulabsolventen beklagte. Um in Chemie promoviert werden zu können, dem damals üblichen Universitätsabschluss, war das Abitur zu diesem Zeitpunkt noch keine Voraussetzung. Daher vereinbarte der Verband der Laboratoriums-Vorstände an deutschen Hochschulen 1897 zur Vereinheitlichung des Ausbildungsniveaus das sogenannte Verbandsexamen als Voraussetzung für eine Promotion in Chemie. Im Wintersemester 1898/99 (3. März 1899) legte Immerwahr als erste Frau überhaupt bei Albert Ladenburg am chemischen Laboratorium das Verbandsexamen ab. 1899 wechselte Küster an die Bergakademie Clausthal. Sein Nachfolger wurde Richard Abegg, der Immerwahr trotz ihres Status als Gasthörerin förderte und bei dem sie ihre Kenntnisse in physikalischer Chemie vertiefte. Gemeinsam untersuchten sie das elektrochemische Verhalten des Fluors und des Fluorsilbers. Abegg hatte mit Guido Bodländer 1899 das Konzept der Elektroaffinität als Mittel der Systematik vorgestellt. Abegg und Immerwahr entwickelten das Konzept weiter und veröffentlichten die Ergebnisse gemeinsam im November 1899. Im Anschluss daran wandten sie sich photochemischen Problemen zu. Schließlich erlaubte ein Erlass des preußischen Kultusministers, dass der Vorlesungsbesuch als Gasthörer als gültiges Studium anerkannt werden konnte. Dadurch wurde es für die Gasthörerin Immerwahr möglich, die Promotion zu erreichen und ihr Studium mit diesem Studienabschluss zu beenden. Für ihre Dissertation führte sie in Küsters Laboratorium an der Clausthaler Bergakademie zwei Monate lang experimentelle Voruntersuchungen durch, die sie im Anschluss in Kontakt mit Küster und Abegg auswertete. Immerwahr veröffentlichte erste Teilergebnisse im Jahr 1900, diesmal allein unter ihrem Namen. Wie sie darlegte, hatte sie den quantitativen Beleg für die von Nernst, Wilhelm Ostwald und Küster früher entdeckten Befunde zur Löslichkeit von Schwermetallen geliefert. Noch im selben Jahr verfasste sie ihre umfassender angelegte Dissertation mit dem Titel Beiträge zur Löslichkeitsbestimmung schwerlöslicher Salze des Quecksilbers, Kupfers, Bleis, Cadmiums und Zinks. Diese Arbeit, die sie auszugsweise in der Zeitschrift für Elektrochemie veröffentlichte, behandelte systematisch das Zusammenspiel zwischen der Löslichkeit von ausgewählten Schwermetallsalzen und den Elektroaffinitäten der einzelnen Gruppen und Atome. Ziel war die Frage zu beantworten, ob Elektroaffinitäten additive Mengen sind. Der Artikel stellte Tabellen mit experimentell ermittelten Werten von Größen wie Gleichgewichtskonzentrationen und relativen Elektrodenpotenzialen bereit. Die Tabellen könnten der Grund sein, dass dieser Artikel relativ häufig zitiert wurde. Im Juni beantragte Immerwahr die Zulassung zur Disputation. Am 22. Dezember 1900 wurde Clara Immerwahr mit „magna cum laude“ promoviert. Der öffentlichen Verteidigung ihrer Dissertation, über die die lokale Presse ausführlich berichtete, wohnte ein ungewöhnlich zahlreiches Publikum bei, darunter viele Frauen. Der Dekan der philosophischen Fakultät bezeichnete sie am Ende als leuchtendes Vorbild für ihre Kommilitonen. Er schränkte aber ein, dass hoffentlich keine neue Ära anbrechen würde, in der die Frauen in die Universitäten hineinströmten, statt ihrer „heiliger Pflicht“ als „Hort der Familie“ nachzukommen. Aus ihrer regen Korrespondenz mit Richard Abegg geht hervor, dass der Weg bis zur Promotion Clara Immerwahr wegen äußerer und innerer Widerstände schwer gefallen war. In ihren Briefen präsentierte sie sich als sensible, nervöse Frau, bei der die psychischen Kraftanstrengungen oft starke Kopfschmerzen auslösten. Immerwahrs Promotion war ein Meilenstein für das Frauenstudium in Deutschland. Ab den 1890er Jahren nahm die Zahl der Frauen zu, die unter Sonderkonditionen an deutschen Universitäten promoviert wurden. Dabei handelte es sich zumeist um Frauen aus dem Ausland. Mit Immerwahrs Promotion war erstmals eine Frau an der Universität Breslau promoviert worden. Immerwahr war erst die zweite Frau, die in Deutschland im Fach Chemie den Doktorgrad erlangte (nach der Russin Julija Lermontowa 1874 an der Universität Göttingen). Nach der Promotion blieb Immerwahr als Abeggs Assistentin an der Universität, wobei nicht bekannt ist, inwieweit sie für ihre Tätigkeit bezahlt wurde. In dieser Zeit hielt sie für den Verein Frauenwohl einen Vortrag zu Chemie und Physik im Haushalt. Ehe mit Fritz Haber Bereits in ihrer Jugend lernte Clara Immerwahr den zwei Jahre älteren Fritz Haber kennen, der ebenfalls aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Breslau stammte. Der genaue Beginn ihrer Beziehung ist nicht bekannt, es ist aber belegt, dass sie sich spätestens 1891 ineinander verliebten. Zu diesem Zeitpunkt schloss Haber sein Chemiestudium mit der Promotion ab. 1901 nahmen Richard Abegg und seine Mitarbeiterin an der Hauptversammlung der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft in Freiburg teil. Clara Immerwahr war die erste und einzige Frau, die an der Hauptversammlung der Gesellschaft teilnahm. Während dieser Tagung machte ihr Fritz Haber, der ebenfalls anwesend war, einen Heiratsantrag, den sie nach einigem Zögern annahm. Acht Jahre später schilderte sie Abegg in einem Brief, was sie zur Heirat motivierte: Immerwahr und Haber heirateten am 3. August 1901 in Breslau und zogen nach den Flitterwochen nach Karlsruhe. Dort war Haber seit 1898 außerordentlicher Professor für Technische Chemie an der Technischen Hochschule. Das Paar lebte in einer repräsentativen Wohnung, deren hohe Miete es ihnen nicht erlaubte, Dienstboten anzustellen, weshalb Clara Haber alle Hausarbeiten selbst verrichten musste. Arbeiten im Labor musste sie auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, wie sie ihrem Mentor Abegg schrieb. Die wissenschaftliche Arbeit fehlte ihr. Dazu kamen Gemütsschwankungen während ihrer schwierig verlaufenden Schwangerschaft. Physisch ging es ihr besser, als sie regelmäßig nachmittags im chemischen Institut die Manuskripte ihres Mannes Korrektur lesen und Zeichnungen anfertigen konnte. Haber ängstigte die schwierige Schwangerschaft seiner Frau, da seine Mutter im Kindbett gestorben war. Diese Sorge wie auch den Misserfolg bei der Berufung auf den neuen physikalisch-chemischen Lehrstuhl der Karlsruher Hochschule in dieser Zeit verarbeitete er durch ein hohes Arbeitspensum. Wochenlang laborierte er an einer Gastritis. Am 1. Juni 1902 wurde der Sohn Hermann (1902–1946) geboren. Kurz darauf ging Fritz Haber im Auftrag der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft auf eine viermonatige USA-Reise. Die zweite Ehefrau Fritz Habers berichtete 1970, dass Clara Haber nach der Rückkehr ihres Mannes aus den USA das gemeinsame Schlafzimmer aufgekündigt habe, was durch andere Berichte gestützt wird. Dies könnte – so die Historikerin Angelika Ebbinghaus – die Ursache schwerer Ehekonflikte gewesen sein. Nach der Geburt des Sohnes, der oft krank war und stark betreut werden musste, zerschlug sich für Clara Haber die Hoffnung auf die Wiederaufnahme der chemischen Arbeit. Sie entwickelte sich zu einer gründlichen Hausfrau, deren Kochkünste allseits gelobt wurden. In den Schilderungen vieler Zeitgenossen (Familie und Kollegen ihres Ehemannes) wurde sie oft als pedantische und überängstliche „Hausmutter“ dargestellt, die ihren überlasteten Ehemann mit Sorgen um Haushalt und Kind belästigte. Zum Teil wurde jedoch anerkannt, dass für die promovierte Chemikerin Ehe und Familie das Fehlen intellektueller Aktivitäten nicht ausglich. 1905 veröffentlichte Fritz Haber das Lehrbuch Thermodynamik technischer Gasreaktionen, das zu einem großen Erfolg wurde. Er widmete es seiner Frau mit den Worten: „Meiner lieben Frau Clara Haber, Dr. phil., zum Dank für stille Mitarbeit zugeeignet“. Die Widmung wurde von Biografinnen später unterschiedlich beurteilt. Die Haber-Biografin und Historikerin Margit Szöllösi-Janze bezeichnete die Widmung als für damalige Verhältnisse ungewöhnlich und schloss daraus, dass Clara Haber inhaltlich zugearbeitet habe. Dagegen wertete die Journalistin Ulla Fölsing die Widmung als alltäglich und nichtssagend. Clara Haber versuchte, ihre wissenschaftlichen Kompetenzen nicht brach liegen zu lassen. Im Wintersemester 1905/06 hielt sie vor dem Volksbildungsverein in Karlsruhe eine vierteilige Vortragsreihe über „Chemie in Küche und Haus“. Die Zuhörerinnen, die sich 1906 bereits auf 100 beliefen, waren begeistert. Dadurch ermutigt, baute sie die Vorträge weiter aus. Im Oktober 1910 hielt sie einen vierteiligen Kurs „Naturwissenschaften im Haushalt“ im Rahmen des Karlsruher Arbeiterbildungsvereins. Das Ehepaar entfremdete sich zusehends, was es vor den Mitarbeitern und ausländischen Studenten Fritz Habers nicht verbergen konnte. Fritz Haber war gerade in den häufig auftretenden arbeitsintensiven Phasen nervös und reizbar, was Clara Haber zermürbte und zu häufigen Migräneanfällen führte. 1906 war sie gesundheitlich so angegriffen, dass ein Erholungsaufenthalt in einem nervenärztlich geleiteten privaten Sanatorium notwendig wurde. Anders als ihr Ehemann hatte Clara Haber für Repräsentation nichts übrig. Sie kleidete sich in Reformkleider, was weder bei ihrem Mann noch bei seinen Kollegen und ihren Ehefrauen auf Wohlwollen stieß. Ihr gesellschaftliches Umfeld missbilligte, dass sie nicht genügend Distanz zum Dienstpersonal wahrte, ihre Einkäufe selbst erledigte und Gäste in der Küchenschürze empfing. Für eine Professorengattin ungewöhnlich verabschiedete sie sich frühzeitig aus abendlichen Runden mit der Bemerkung, dass sie morgens um sechs Uhr aufstehen müsse. Ihre berechtigte Sorge um seine Gesundheit irritierte ihren Mann, während Clara Haber sich von seiner Dominanz und Egozentrik erdrückt fühlte. 1909 zog sie in einem Brief an ihren alten Freund Abegg ein bedrücktes Fazit ihrer Ehe (auf Trauerpapier mit schwarzen Rand): 1906 war Fritz Haber zum ordentlichen Professor für physikalische und Elektrochemie an der Technischen Hochschule Karlsruhe berufen worden. 1911 wurde er zum Direktor des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie in Berlin ernannt. Im Juli siedelte die Familie von Karlsruhe nach Berlin-Dahlem in die Dienstvilla über, die Fritz Haber nun zustand. Das Ehepaar Haber und der Gaskrieg Während des Ersten Weltkriegs richtete Clara Haber im freistehenden zweiten Stock des Kaiser-Wilhelm-Instituts einen provisorischen Kindergarten für knapp 60 Kinder im Alter zwischen zweieinhalb und zwölf Jahren ein, deren Väter an der Front waren. Das entsprach den üblichen Aktivitäten gebildeter Frauen an der sogenannten „Heimatfront“. Fritz Haber meldete sich bei Kriegsausbruch 1914 freiwillig. Er war als wissenschaftlicher Berater im Kriegsministerium mit Forschungen zur Einsparung beziehungsweise Herstellung von Explosivstoffen sowie der Entwicklung neuer Produktionsverfahren zur Synthese von Ersatzstoffen kriegswichtiger Rohstoffe befasst. Dazu gehörten die sogenannten „Kriegschemikalien“ wie Salpeter, dessen Einfuhr aus Chile durch die englische Seeblockade zum Stillstand gekommen war. Fritz Habers Forschungen ermöglichten den Einsatz der Giftgase Chlor und Phosgen als Kriegswaffen. Ursprünglich war es um die Entwicklung eines Reizgases gegangen, das Nebenwirkung eines sonst voll funktionsfähigen Sprenggeschosses sein sollte. Doch im Dezember 1914 hatte der Chef der Obersten Heeresleitung Erich von Falkenhayn die Chemiker angewiesen, einen Stoff zu finden, der Menschen dauerhaft kampfunfähig machen würde. Fritz Haber wies die Militärführung auf Chlor hin, das aus Stahlflaschen auf den Feind abgeblasen werden sollte. Clara Haber begleitete ihren Mann zu den Übungen der neuen Gaspionier-Einheiten auf dem Schießplatz Wahn bei Köln. Dabei wandte sie sich laut den Erinnerungen eines Mitarbeiters mehrfach öffentlich dagegen, dass Fritz Haber an die Front ginge. Bei Versuchen mit dem Reizstoff Kakodylchlorid auf dem Institutsgelände kam es am 17. Dezember 1914 zu einer Explosion, bei der Otto Sackur, ein alter Kommilitone Clara Habers, getötet wurde. Clara Haber, die in der Nähe war, handelte in dieser Krise umsichtiger als ihr Mann, der wie gelähmt war. Kurz darauf schrieb sie einen Brief an den japanischen Chemiker Setsuro Tamaru. Bis zum Kriegsausbruch hatte dieser mit Fritz Haber zusammengearbeitet, musste dann aber Deutschland verlassen, da Japan ein Kriegsgegner war. In dem Brief erwähnte Clara Haber das „furchtbare Unglück“ und bezeichnete es als „nicht vorhersehbar“. Sie betonte, in ihren wenigen freien Stunden sich für das Land „nützlich“ betätigen zu wollen. Ab Februar 1915 überwachte Fritz Haber an vorderster Front die Vorbereitungen für den ersten deutschen Gasangriff bei Ypern. Auf Befehl der Obersten Heeresleitung erfolgte am 22. April 1915, während der Zweiten Flandernschlacht, bei Ypern der erste große, militärisch erfolgreiche Giftgaseinsatz in der Geschichte. Die eigens ausgebildeten Gaspioniere ließen auf rund sechs Kilometer Frontlänge rund 150 Tonnen Chlor nach dem Haberschen Blasverfahren aus Flaschen entweichen. Die Chlorwolke tötete bis zu 1.200 französische Soldaten und verwundete bis zu 3.000. Fritz Haber war bei dem Einsatz persönlich anwesend und wurde in Folge zum Hauptmann der Reserve befördert. Über Clara Habers Reaktion darauf gibt es unterschiedliche Berichte. Ihr Verwandter Paul Krassa berichtete Jahrzehnte später, dass sie sich gegenüber seiner Frau über die Berichte ihres Mannes von der Front zu den Folgen des Gaskriegs entsetzt gezeigt habe. Dagegen schrieb der Schuldirektor ihres Sohnes 1934, dass sie ihm direkt nach dem Erhalt der Nachricht stolz vom Erfolg des ersten Gasangriffs erzählte. Suizid Clara Habers Clara Haber erschoss sich am 2. Mai 1915. Weitere Details über den Hergang des Geschehens und über mögliche Hintergründe finden sich im Bericht des Institutsmechanikers Lütge von 1958 sowie in der Autobiografie von Charlotte Haber, der zweiten Ehefrau Fritz Habers. Lütge, der sich wiederum auf Aussagen der Dienstboten und des Chauffeurs bezieht, berichtete, dass es am 1. Mai eine Abendgesellschaft bei den Habers gegeben habe, der auch Fritz Habers spätere zweite Ehefrau Charlotte Nathan beiwohnte. Clara Haber habe ihren Mann und Charlotte Nathan dabei „in einer verfänglichen Situation überrascht“. Im Garten erschossen habe sich Clara Haber aber erst in den frühen Morgenstunden. Lütge führte zudem aus, dass auch Abschiedsbriefe gefunden worden seien. Laut Charlotte Haber sei Clara Haber, deren Tod nicht sofort eingetreten sei, von ihrem Sohn Hermann im Morgengrauen gefunden worden, der daraufhin den Vater informierte. Dieser reiste, seinen Befehlen folgend, noch am selben Tag an die Ostfront. Zu den Motiven für ihren Suizid und die genauen Abläufe gibt es nur Berichte und Interpretationen der Zeitzeugen, die erst Jahrzehnte später aufgezeichnet wurden. Von Fritz Haber und seiner Familie gibt es keine Aussagen zum Tod Clara Habers. Die emigrierten Mitarbeiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts (unter anderem James Franck) waren der Überzeugung, dass „das Motiv wohl am ehesten in der verzweiflungsvollen Mißbilligung des von ihrem Mann inaugurierten Gaskrieges zu suchen“ sei. Andere Personen, die das Ehepaar im familiären Umfeld erlebten, verwiesen jedoch auf die grundsätzlichen Eheprobleme. Lütge hielt es für abwegig, dass Clara Haber sich wegen des Gaskrieg-Engagements ihres Mannes getötet habe. Die Entdeckung der Verwicklung Fritz Habers mit Charlotte Nathan sei der Grund gewesen. In ihrer Immerwahr-Biografie schrieb Gerit von Leitner, Clara Haber habe aus Gewissensgründen auf Festivitäten verzichten wollen, sodass es zu einem heftigen Ehestreit gekommen sei, in dem Fritz Haber ihr Illoyalität vorgeworfen habe, und sie danach „nur noch eine Möglichkeit [sah], nicht Mittäterin zu sein“. Diese Version stützte Leitner auf Erzählungen von Dritten. Adolf-Henning Frucht hatte diese Version von Friedrich Schmidt-Ott gehört, dem sich wiederum Fritz Haber viele Jahre nach dem Suizid seiner Frau anvertraut haben soll. Diesen Beleg führte Leitner in der ersten Auflage ihrer Biografie nicht an, sondern nur in einer Radiosendung. Schmidt-Ott selbst hat in seinen 1952 veröffentlichten Memoiren angegeben, dass Haber ihn am Abend nach dem Suizid anrief und sagte, seine Frau habe das Leben nicht mehr ertragen. Die Atomphysikerin Lise Meitner und Edith Hahn, die Ehefrau Otto Hahns, die Clara Haber beide nur flüchtig kannten, führten in Briefen vom Mai 1915 die Sensibilität und Labilität Clara Habers und die offensichtlich zerrüttete Ehe als Gründe an. Der Historiker und Archivar Eckart Henning betonte, dass ein öffentlicher Streit über Meinungsverschiedenheiten zum Gaskrieg in diesen Briefen kein Thema gewesen sei, was – wenn tatsächlich Tagesgespräch – „kaum unerwähnt [hätte] bleiben können“. Margit Szöllösi-Janzes resümierte, dass die Quellen für Clara Habers Suizid eine „sehr viel komplexere Ursachenkonstellation“ als eine „mögliche Entzweiung über den Gaskrieg und die Rolle Habers in der chemischen Kriegsführung“ erahnen ließen und man sich vor Vereinfachungen hüten sollte. Ähnlich urteilte Angelika Ebbinghaus, die das Verhalten Clara Habers als „ambivalent“ und ihr Leben als „gebrochen“ zusammenfasste. Die Wissenschaftshistoriker Bretislav Friedrich und Dieter Hoffmann kamen nach Abwägung der Quellen zu Clara Habers Suizid zu dem Schluss, dass die Selbsttötung das Ergebnis eines „katastrophalen Versagens“ gewesen sei, zu dem eine Fülle von Umständen beigetragen hätten – ihr unerfülltes Leben, Fritz Habers Fremdgehen, die tragischen Tode der engen Freunde Richard Abegg und Otto Sackur wie auch Tod und Zerstörung, die der Krieg mit sich brachte, die durch die „Perversionen der chemischen Kriegsführung“ noch verstärkt worden waren. Grabstelle Clara Habers Urne wurde in Berlin-Dahlem beigesetzt. Im Winter 1933 verfügte Fritz Haber in seinem Testament, dass er neben seiner ersten Frau (Habers zweite Ehe war seit 1927 geschieden) seine letzte Ruhe finden wollte. Sollte dies wegen der zwischenzeitlich aufgekommenen judenfeindlichen Bewegung in Deutschland nicht möglich sein, verfügte er weiterhin die Überführung der Asche von Clara Haber in sein außerhalb von Berlin-Dahlem anzulegendes Grab. Seinem Wunsch wurde durch den gemeinsamen Sohn Hermann Haber entsprochen, der die Umbettung einige Monate nach Fritz Habers Beisetzung am 29. September 1934 auf dem Friedhof am Hörnli in Riehen bei Basel in der Schweiz veranlasste. Hermann Haber wanderte 1941 in die USA aus, wo er sich 1946 – gleich seiner Mutter – das Leben nahm. Wirkungsgeschichte und Rezeption Quellenlage Die Korrespondenz Clara Habers mit dem direkten familiären Umfeld ist nicht erhalten, insbesondere gibt es keine unmittelbar überlieferten Quellen aus der Zeit ihres Suizids, was – so die Schlussfolgerung der Biografin Margit Szöllösi-Janze – ziemlich sicher auf „äußere Eingriffe“ zurückzuführen ist. Weder von Clara noch von Fritz Haber ist ein eigentlicher Nachlass überliefert. Als Fritz Haber 1933 auswanderte, blieb der größte Teil seiner Korrespondenz im Dahlemer Institut zurück. Sein Briefwechsel mit Freunden ging später in den Besitz des Sohnes Hermann Haber über, der sie 1941 bei seiner Auswanderung in die USA in Paris zurückließ. Kopien dieser Korrespondenz befinden sich heute im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Der Amerikaner Morris Goran befragte für seine 1967 vorgelegte Fritz Haber-Biografie seit den 1940er Jahren jüdische Emigranten aus Deutschland, wobei Hermann Haber und Else Freyhan, die Schwester Fritz Habers, aufgrund eines ungünstigen Eindrucks eine Zusammenarbeit mit ihm verweigerten. Da Goran in seiner Darstellung seine Aussagen nicht klar belegt, ist seine Lebensgeschichte Fritz Habers keine verlässliche Quelle für spätere Biografien. Habers Mitarbeiter Johannes Jaenicke, der über ihn eine Biografie schreiben wollte, sammelte jahrzehntelang Unterlagen aus Archiven und Briefen in Privatbesitz. Außerdem korrespondierte er mit Zeitzeugen und führte eine Vielzahl von Interviews. Die Biografie kam nicht zustande, doch kurz vor seinem Tod 1983 überließ Jaenicke seine „Haber-Sammlung“ dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft (heute teils als „Jaenicke-Sammlung“ bezeichnet). Seit 1990 liegt dieser Bestand geordnet und über ein Findbuch erschlossen vor. Clara Immerwahr hatte ein enges Verhältnis zu ihrem Doktorvater Richard Abegg. Bis zu seinem Unfalltod 1910 tauschten sie regelmäßig Briefe aus. Ihr Teil der Korrespondenz hat sich erhalten und ist heute Teil der „Haber-Sammlung“. Die Briefe wurden auszugsweise wiederholt veröffentlicht, erstmals 1986 in einer Schrift von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Fritz-Haber-Instituts zu dessen 75-jährigen Bestehen, später in den Haber- und Immerwahr-Biografien wie auch in einer Edition des Briefwechsels zwischen Adolf von Baeyer, Wilhelm Ostwald, Richard Abegg, Fritz Haber und Clara Haber-Immerwahr. Diese Korrespondenz zusammen mit Briefen und Postkarten an Angehörige der weiteren Familie, heute ebenfalls Teil der „Haber-Sammlung“, sind die einzigen persönlichen Schriftstücke, die sich von Clara Haber erhalten haben. Darüber hinaus gibt es einige offizielle Papiere, wie Clara Immerwahrs Gesuch um Zulassung zur Doktorprüfung, und veröffentlichte Dokumente, darunter ihre Dissertation, der Zeitungsbericht zu ihrer Doktorprüfung, Vortragsankündigungen und ihre Todesanzeige. 1970 veröffentlichte Charlotte Haber geb. Nathan ihre Memoiren, in denen sie Erzählungen ihres geschiedenen Mannes sowie Aussagen des Vaters von Fritz Haber wiedergab. Ihre Darstellung muss jedoch wegen ihrer Befangenheit kritisch gelesen werden. 2015 veröffentlichte die Enkelin eines japanischen Kollegen Fritz Habers einen Brief als Faksimile, den ihm Clara Haber 1915 geschrieben hatte. 2016 wurde der Wortlaut dreier Briefe von 1915 veröffentlicht, in denen sich Edith Hahn und Lise Meitner wenige Tage nach dem Suizid Clara Habers zum Geschehen austauschten. Die Briefe waren 2002 bei einer Privatauktion ersteigert und der „Haber-Sammlung“ des Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft hinzugefügt worden. Biografische Darstellungen 1967 veröffentlichte Morris Goran die erste umfassende Biografie Fritz Habers, für die er seit 1940 bei ehemaligen Mitarbeitern Habers in den USA nach Material recherchiert hatte. In seiner Darstellung mischte er harte Fakten, Anekdoten und zweifelhafte Informationen und verzichtete dabei auf Quellenangaben. Auf knapp zwei Seiten ging er in seinem Buch auch auf Clara Haber ein und stellte sie als „schwer betroffen von der Rolle ihres Ehemanns im Gaskrieg“ dar. Er formulierte: „She began to regard poison gas not only as a perversion of science but also as a sign of barbarism.“ („Sie begann, Giftgas nicht nur als eine Perversion der Wissenschaft zu betrachten, sondern auch als ein Zeichen der Barbarei.“). Er deutete ihre Proteste gegen den Gaskrieg als Resultat ihrer langjährigen Depressionen und Ängste und ihrer von ihm postulierten generellen Überforderung. Wie die Historikerin Margit Szöllösi-Janze betonte, „verschwimmt“ bei Goran die Grenze zwischen historisch korrekter Recherche und Fiktion. Das 75-Jahre-Jubiläum des Fritz-Haber-Instituts 1986 nahm eine Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts zum Anlass, ihre Sicht des Wechselspiels von Wirtschaft, Politik und Naturwissenschaft darzustellen. Hierfür griffen sie Fritz Haber und Clara Immerwahr heraus. Ihre Darstellung beruhte auf Gorans Story of Fritz Haber und wurde ergänzt durch die erstmalige Veröffentlichung von einigen Briefen Clara Habers. Die Autorin Gerit von Leitner (zeitweilig Gerit Kokula) schrieb 1990 das Skript für eine WDR-Radiodokumentation zu Clara Immerwahr, dem 1991 ein Artikel im Tagesspiegel folgte. In diesem Zeitungsartikel schrieb sie Gorans Formulierung „Perversion der Wissenschaft“ Clara Immerwahr zu. 1993 veröffentlichte Gerit von Leitner schließlich die Biografie Der Fall Clara Immerwahr, in der sie Immerwahr als kämpferische Pazifistin darstellte, die als Protest gegen den Beitrag ihres Mannes zum Gaskrieg sich selbst tötete. Leitners Biografie wurde von Historikerinnen und Historikern kritisch bewertet. Die Historikerin Angelika Ebbinghaus beanstandete die fehlenden Quellenangaben, die selektive Interpretation der Quellen und eine mangelnde Distanz der Biografin zu der dargestellten Person, auf die sie eigene Themen, Gefühle und Anschauungen projiziere. Die Brüche in Immerwahrs Persönlichkeit würden durch die von Leitner ständig verwendeten Collagen verwischt. Die Wissenschaftshistoriker Bretislav Friedrich und Dieter Hoffmann kritisierten, dass Leitner der Chemikerin Aussagen und Meinungen in den Mund legte oder Situationen beschrieb, für die es weder Aufzeichnungen noch Belege gibt. Sie nannten dabei insbesondere die Bewunderung, die Clara Haber für Bertha von Suttner empfunden haben soll sowie eine angebliche Diskussion mit ihrem Ehemann über Frauenrechte, in der sie Suttners Ansichten vertrat. Margit Szöllösi-Janze hat Leitners Lebensbeschreibung als Kombination von wissenschaftlicher und literarischer Biografie, als „nachempfundenes“, „stellenweise beinahe nachgelittenes“ Lebensbild charakterisiert und kritisiert, dass die spärlichen Belege die Trennung von Fakten und Fiktion in Leitners Darstellung erschwerten. Der Historiker und Publizist Volker Ullrich dagegen lobte die Biografie in der Zeit als „eines der gelungensten Beispiele für eine neue, weiblich inspirierte Form der Geschichtsschreibung“. Ein Jahr später legte der Chemiker Dietrich Stoltzenberg die erste umfassende Fritz Haber-Biografie vor, die auf den Quellen der „Haber-Sammlung“ beruhte. Darin ist ein Kapitel Fritz Habers erster Ehe gewidmet. Diese Biografie wurde allgemein wegen der Darstellung der wissenschaftlichen Sachverhalte gelobt, doch auch bemängelt, dass sie den Standards des Genres der wissenschaftlichen Biografie nicht gerecht werde. In den Rezensionen wurde zudem meist eine differenzierte Darstellung von Habers Privatleben und der Beziehung zu seinen Ehefrauen vermisst. Angelika Ebbinghaus beanstandete, dass die geforderte Menschenkenntnis des Biografen bei der Einfühlung in die Personen „des öfteren in menschlich Allzumenschlichem stecken“ bleibe und er die Einfühlung, die er für Fritz Haber aufbringe, bei Clara Haber nicht zeige. Stoltzenberg stelle Clara Haber nach der Geburt ihres Sohns als beinahe zwanghafte Hausfrau dar, die Alltagsprobleme nicht bewältigen konnte. Er habe dabei die vorliegenden Zeugnisse von Zeitgenossen nicht kritisch hinterfragt. Stoltzenbergs Schlussfolgerung zu Clara Habers Suizid, dass ihr Leben ein Beispiel dafür sei, wie „Menschen, die in der Suche nach der ‚Selbstverwirklichung‘, […] eine Mauer um sich bauen, die zum selbsterrichteten Gefängnis wird“, ist für Ebbinghaus nicht nachvollziehbar. Schließlich monierte Ebbinghaus, dass Stoltzenberg immer wieder „distanzlos“ von Clara beziehungsweise Charlotte (in Bezug auf Charlotte Nathan) schreibe, während deren Ehemann in keinem Fall auf „Fritz“ reduziert werde. 1998 erschien mit der Biografie Margit Szöllösi-Janzes eine weitere Fritz Haber-Biografie, die Clara Immerwahrs Lebensweg, die Ehe der Habers und Clara Habers Suizid dezidiert quellenkritisch beschrieb und heute als die Standard-Biografie des Nobelpreisträgers gilt. Der Rezensent Jörg Hackeschmidt lobte, dass Szöllösi-Janze das Geschehen um Clara Habers Selbsttötung sowohl differenzierter als auch „profaner“ darstelle als in vorangegangenen biografischen Abhandlungen. Nach Szöllösi-Janzes Biografie lasse sich die „werturteilsgeschwängerte“ Interpretation von Immerwahrs Suizid als „Fanal“ gegen die männliche „Vernichtungswissenschaft“ nicht halten. Öffentliche Rezeption Obwohl Clara Immerwahr als eine der ersten Frauen in Chemie in Deutschland promoviert worden war, war ihre diesbezügliche Leistung in der Öffentlichkeit lange nicht präsent. Ihre Promotion wurde zwar 1939 in der von Elisabeth Boedeker zusammengestellten Jubiläumsschrift zu 25 Jahre Frauenstudium aufgeführt – anders als die ihrer Vorgängerin in Chemie Julija Lermontowa, die übersehen wurde. Doch generell wurde das Frauenstudium und dessen Pionierinnen in Deutschland lange Zeit wenig beachtet. Dies änderte sich erst mit der neuen Welle der Frauenbewegung ab Ende der 1960er Jahre, womit auch das Interesse an den Vorkämpferinnen wieder erwachte. In dieser Situation stieß 1986 der Beitrag zu Clara Immerwahr in der Publikation zum Jubiläum des Fritz-Haber-Instituts auf großes Interesse, weshalb er auch in der Zeitschrift Emma abgedruckt wurde. Insbesondere der erstmals veröffentlichte Brief Clara Habers vom 23. April 1909 an Abegg veranlasste insbesondere Historikerinnen und Naturwissenschaftlerinnen, sich mit ihrem Lebensweg zu befassen. 1991 verwendeten die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) Clara Immerwahrs Namen für eine Anti-Kriegs-Auszeichnung. In einem der ersten Sammelbände zu den Pionierinnen des Frauenstudiums resümierte die Sozialwissenschaftlerin Christine Roloff 1992, dass für Clara Immerwahr Wissenschaft nicht mit Fritz Habers Herrschaftsansprüchen vereinbar war. Gerit von Leitners Biografie von 1993 fand trotz der (wissenschafts-)historischen Kritik eine breite Resonanz in der Öffentlichkeit. Sie wurde in zahlreichen überregionalen und regionalen Zeitungen, Zeitschriften und Radiosendungen wie auch in der New York Review of Books besprochen. Die Anfang der 1990er Jahre aktuellen Ereignisse und Themen – wie Missbrauch wissenschaftlicher Forschung durch das Militär sowie der Golfkrieg 1990–1991 – führten dazu, dass Clara Habers Leben und Suizid auf reges Interesse stießen. In den Rezensionen wurde oft eine Brücke zwischen Gaskrieg, ihrer Selbsttötung und diesen Themen geschlagen. Den Zeitgeist traf Clara Habers Leben auch im Hinblick auf das damals in den Fokus gerückte Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Akademikerinnen bzw. die Gleichberechtigung innerhalb von Akademikerehen. Die Wissenschaftshistoriker Bretislav Friedrich und Dieter Hoffmann haben Leitners Buch als „Medium“ beschrieben, mit dem Meinungen, Ideale und Wunschbilder der Friedensbewegung, des Feminismus und des Anti-Militarismus vorangebracht wurden. Nach der Veröffentlichung von Leitners Biographie etablierte sich schnell der „Mythos Immerwahr“, wie es Friedrich und Hoffmann nannten. Immerwahr galt nun als Exponentin einer „weiblichen, lebensbewahrenden Wissenschaft“, als „pazifistische Heroin“, die im Protest gegen den Gaskrieg ihres Mannes sich selbst tötete. Bei rüstungskritischen Gruppen, Pazifisten und Feministinnen wurde sie zur Ikone. Etliche Straßen wurden nach der Chemikerin mit Bezug auf ihren Pazifismus und Suizid benannt. In Theaterstücken, Filmen und Romanen wurde der Konflikt zwischen Clara und Fritz Haber wiederholt dramatisiert. Die Formulierung „Perversion der Wissenschaft“ wird im Zusammenhang mit Clara Immerwahr gerne zitiert, selbst wenn klargestellt wird, dass es nicht ihre Äußerung ist. Die Redewendung ist fester Bestandteil des öffentlichen Bildes der Chemikerin Clara Immerwahr-Haber. Fiktionale Darstellungen Clara Immerwahrs WDR und SFB strahlten am 18. Oktober 1990 das Hörspiel Hälfte des Lebens – Femina Doctissima Clara Immerwahr von Gerit Kokula (= Gerit von Leitner) aus (Regie Hein Bruehl, Mitwirkende Hannelore Hoger, Leonore Frankenstein). In dem Versdrama Square rounds von Tony Harrison von 1992 sagt Immerwahr zu Haber: „I gave up chemistry to serve you as wife. Now you betray our science to poison life“ (ungefähr: „Ich habe die Chemie aufgegeben, um Deine Frau zu werden. Jetzt verrätst Du unsere Wissenschaft, um Leben zu vergiften“.) 2004 war Clara Immerwahr eine von zehn Frauen, deren Suizid die Künstlerin Claudia Reinhardt im Rahmen ihres fotografischen Projekts Killing Me Softly – Todesarten nachstellte und fotografierte. In dem Roman Immerwahr von Sabine Friedrich von 2007 wird Immerwahrs Leben in Rückblicken erzählt. Auch hier liegt der Fokus auf ihrer schwierigen Ehe und den ethischen Differenzen mit ihrem Mann. Der Kurzfilm Haber von Daniel Ragussi von 2008 behandelt Habers Entwicklung von Giftgas und zeigt Immerwahr als ehrgeizige Chemikerin, die daran zerbricht, die Karriere ihres brillanten Mannes zu fördern und ein Kind großzuziehen. Das Drama Einstein’s Gift des kanadischen Theaterautors Vern Thiessen von 2003 fokussiert auf Leben und Karriere Fritz Habers, insbesondere auf seine Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs. In dem Stück lässt Thiessen Immerwahr sagen: „Why would I create an idea or nourish a theory or ask a question or search for a solution, or bother to think ever again, when my husband has taken my faith and turned it into something terrible. When my husband’s belief is butchery. When my husband’s religion is murder?“ (ungefähr: „Warum würde ich eine Idee schaffen oder eine Theorie entwickeln oder eine Frage stellen oder eine Lösung suchen, oder je wieder denken, wenn mein Mann meinen Glauben genommen hat und es in etwas Schreckliches verwandelt hat. Wenn der Glauben meines Mannes Abschlachten ist. Wenn die Religion meines Mannes Mord ist?“) Der Fernsehfilm Clara Immerwahr aus dem Jahr 2014 erzählt von ihrem Leben an der Seite von Fritz Haber (Regie Harald Sicheritz). Die Chemikerin wird darin als entschlossene und idealistische Frau gezeigt, die die Ehe im Sinne eines Projekts unter gleichberechtigten, der Wissenschaft verpflichteten Menschen eingeht, aber an der Männerwelt scheitert. In dem Theater-Film-Projekt The Forbidden Zone von Duncan Macmillan (Inszenierung Katie Mitchell) von 2014 ist Clara Haber eine der Gestalten, anhand derer die Ohnmacht der Frauen im Krieg dargestellt wird. Ehrungen Gedenkstein 2006 wurde im Garten der Haber-Villa auf dem Gelände des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft ein Gedenkstein für Clara Immerwahr aufgestellt. Straßen und Plätze In den Industriegebieten von Kiel-Wellsee und Hanau, in Freiburg-Vauban, Köln-Braunsfeld, Lörrach, Berlin-Marzahn, Itzehoe, Emden, Hemmingen, Lemgo, Dortmund, Moers, Kassel, Troisdorf, Butzbach und Kaiserslautern sind Straßen und Wege nach ihr benannt. 2001 wurde in Karlsruhe der Clara-Immerwahr-Haber-Platz nach ihr benannt. 2014 wurde im Stadtrat von Erlangen ein Antrag auf „Umbenennung der Haberstraße in Clara-Immerwahr-Straße“ gestellt; 2016 wurde die Straße geteilt und ein Teil in Immerwahrstraße umbenannt. Preise und Medaillen Seit 1991 verleiht der Verein IPPNW (Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg) die Clara-Immerwahr-Auszeichnung „an Menschen, die sich trotz persönlicher Nachteile gegen Krieg, Rüstung und für Menschenrechte einsetzen“. Der mit 15.000 Euro dotierte Clara Immerwahr Award des Exzellenzclusters UniSysCat und der Technischen Universität Berlin ehrt seit 2012 junge Nachwuchsforscherinnen im Bereich der Katalyseforschung. Die Technische Universität Kaiserslautern vergibt seit 2015 den Clara-Immerwahr-Preis, einen Exzellenzpreis für weibliche Studierende im Studiengang Bio- und Chemieingenieurwissenschaften. Veröffentlichungen Berichtigung dazu: Berichtigung dazu: Literatur Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage: 1994, ISBN 3-406-38256-8. (Auszüge bei Google-Books) Weblinks Radiodokumentation „Späte Ikone für den Frieden: Clara Immerwahr“ bei SWR2 Wissen, Verfasser Rainer Volk, ausgestrahlt am 30. April 2014. Anne Preger: ZeitZeichen: 02.05.1915 – Todestag der Chemikerin Clara Immerwahr Einzelnachweise Chemiker (20. Jahrhundert) Absolvent der Universität Breslau Fritz Haber Deutscher Geboren 1870 Gestorben 1915 Frau
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Londinium
Londinium, das heutige London, war die größte Stadt und Hauptstadt der römischen Provinz Britannien. Durch seine günstige Lage an der Themse, die wiederum einen guten Anschluss ans Meer und ins Hinterland bot, war Londinium auch ein bedeutendes Handelszentrum. Die Geschichte von Londinium lässt sich aus wenigen verstreuten Erwähnungen bei antiken Autoren, anhand der allgemeinen Geschichte Britanniens und durch Ausgrabungen in der Stadt in groben Zügen rekonstruieren. Am Ende des dritten Jahrhunderts war sie sogar Residenz des Gegenkaisers Carausius und damit Hauptstadt eines Sonderreiches in Britannien. Als bedeutende römische Stadt hatte sie alle öffentlichen Gebäude einer solchen, wobei nur ein Teil von ihnen durch Ausgrabungen identifiziert werden konnte. Das große Forum im Zentrum der Stadt, einer der größten Bauten seiner Art nördlich der Alpen, bezeugt die starke wirtschaftliche Position Londiniums. Dies wird auch durch die Reste zahlreicher Warenlager an den Ufern der Themse bestätigt. Geschichte Im Jahre 43 n. Chr. wurden große Teile des heutigen England von den Römern erobert. In den Jahren nach der Eroberung kam es zu verschiedenen Stadtgründungen, bei denen es sich meist um die Hauptorte einheimischer Stämme handelte. Die Städte, deren Gründung oft die Errichtung eines Militärlagers vorausging, wurden der Ausgangspunkt der Romanisierung des Landes. Mit den Soldaten kamen auch Händler und Handwerker, die in der neuen Provinz ihr Glück suchten. Im Gegensatz zu vielen anderen römischen Städten in Britannien scheint Londinium keinen keltischen Vorgängerort gehabt zu haben, und die Stadt war auch nie der Hauptort eines Stammesgebietes (civitas). Im heutigen Stadtgebiet von London gibt es diverse vorgeschichtliche Siedlungen, doch ist keine von ihnen als wirkliche Vorgängersiedlung zu bezeichnen. Es wird ein römisches Militärlager an der Stelle der späteren Stadt vermutet, doch konnte dies bisher archäologisch nicht nachgewiesen werden und bleibt daher spekulativ. Dennoch ist schon bei der Namensgebung (Londinium ist wohl keltischen Ursprungs und enthält möglicherweise den keltischen Personennamen Londinos) ein starker keltischer Einfluss erkennbar. Möglicherweise ist der Ortsname aber vom vorkeltischen (ureuropäischen) Wort Plowonida abgeleitet, was ungefähr „Siedlung am breiten Fluss“ bedeutet. Die Lage des Ortes war ausgesprochen günstig. Hier war die Themse (lateinisch Tamesis) relativ flach und konnte deshalb ohne Schwierigkeiten durchquert werden. Der Fluss bot einen guten Anschluss an das Meer und damit nach Gallien und zum Mittelmeerraum. Von Londinium konnte man auf dem Landweg auch gut andere Orte in Britannien erreichen. Schon bei der römischen Invasion im Jahr 43 war die Stelle der späteren Stadt ein zentraler Anlaufpunkt der Römer. Vor dem Aufstand der Boudicca 47–60 n. Chr. Archäologen gehen heute davon aus, dass Londinium ein paar Jahre nach der Invasion als zivile Siedlung entstanden ist, ausgehend vom Cornhill im Osten des heutigen Stadtzentrums. Entlang der einstigen, in Ost-West-Richtung verlaufenden römischen Hauptstraße wurde in den Jahren 1994 bis 1996 beim Neubau des Hauses No 1 Poultry eine hölzerne Abwasserleitung entdeckt. Die dendrochronologische Untersuchung im Jahre 1997 ergab, dass sie aus dem Jahr 47 n. Chr. stammt; dies wird seitdem vielfach als wahrscheinlichstes Gründungsjahr der Stadt angesehen. Beiderseits des sumpfigen Walbrooktals (der Bach Walbrook mündete hier in die Themse) wurde der Ort auf Anhöhen errichtet. 2016 wurden beim Neubau eines Bürohochhauses hölzerne Schrifttafeln im feuchten Schlamm des ehemaligen Flusslaufes des Walbrook gefunden, die die ältesten handschriftlichen Dokumente in Großbritannien darstellen. Von insgesamt 405 Tafeln konnten 87 entziffert werden. Sie geben einen Einblick in das Alltagsleben in der Stadt in der Zeit des ersten Jahrhunderts nach Christus. Eine Tafel aus der ersten Dekade nach der Eroberung im Jahr 43 nach Christus liefert dabei die älteste Erwähnung des römischen Namens Londinium für die Stadt. Die Tafeln wurden größtenteils in Lagen von Abfall gefunden, der an diese Stelle gebracht worden war, um die Ufer des Flusses zu befestigen. Bislang konnten weder eine Brücke noch ein Kastell noch Bauten, die üblicherweise errichtet wurden, nachgewiesen werden. Diese Siedlung erlangte schon früh bedeutende Ausmaße. An der Stelle des späteren Forums gab es einen großen freien Platz, der wahrscheinlich als Markt fungierte. Die damaligen Häuser waren alle aus Holz. Dem Bericht von Tacitus zufolge war die Stadt wegen ihrer vielen Kaufleute und umfangreichen Handelsbeziehungen berühmt. Tacitus’ Aussagen wurden durch zahlreiche archäologische Funde im Hafenbereich untermauert. Die frühe besondere Bedeutung erlangte Londinium also durch den Handel mit dem europäischen Festland. Beim Aufstand der Boudicca im Jahr 60 n. Chr. nahmen die Rebellen den Ort, der sicherlich nicht befestigt war, ein und brannten ihn vollkommen nieder. Der römische Legat Gaius Suetonius Paulinus konnte die Stadt nicht halten und die Aufständischen ließen die florierende Stadt ihre besondere Wut spüren. Der Zerstörungshorizont ist heute archäologisch gut sichtbar. Aus der Zeit kurz vor und nach dem Aufstand stammen die Bloomberg-Tafeln. Es handelt sich um 405 hölzerne Schreibtafeln, die vor allem belegen, wie schnell sich das Leben nach dem Aufstand wieder normalisiert hatte. Zweites und drittes Jahrhundert In den Jahren nach dem Aufstand wurde die Stadt wieder aufgebaut. Londinium war nun Hauptstadt der Provinz Britannien, wobei der genaue Zeitpunkt des Umzuges der Provinzialverwaltung von Camulodunum (Colchester) nach Londinium nicht sicher ist. Doch spricht für die Bedeutung der Stadt beispielsweise, dass hier der Provinzverwalter Gaius Iulius Alpinus Classicianus bestattet wurde. Westlich des Walbrook wurden öffentliche steinerne Bauten errichtet, so ein Forum, ein Praetorium und Thermen. Südöstlich vom antiken Stadtzentrum, am heutigen Plantation Place stand ein kleines Militärlager, das bis etwa 85 n. Chr. in Betrieb war. Die genaue Funktion ist unbekannt. Das Forum wurde um 120 erweitert. Im Nordwesten der Stadt entstand ein vier Hektar großes Kastell, das in einem Zusammenhang mit dem officium des Statthalters zu sehen ist. In unmittelbarer Umgebung befand sich ein Amphitheater. Um das Jahr 100 begann man auch mit der Erweiterung der Kaianlagen, die aus riesigen Eichenbalken entlang dem Themseufer errichtet wurden. Obwohl es früh schon zahlreiche Steinbauten gab, bestand der Großteil der Wohnbebauung zunächst aus Holzhäusern. Die Stadt hatte einen Plan mit sich rechtwinklig kreuzenden Straßen, freilich mit zahlreichen Unregelmäßigkeiten, die vielleicht auf das ungeplante frühe Wachstum der Stadt zurückzuführen sind. Es gab verschiedene Stadtbrände, in denen Teile der Stadt vernichtet wurden. Das wohl verheerendste dieser Feuer kann in die Regierungszeit des Kaisers Hadrian datiert werden. Aus dieser Zeit konnte ein ausgebranntes Warenlager ausgegraben werden, voll von importierter, noch unbenutzter Terra Sigillata. Der genaue Umfang des Feuers ist in der Forschung jedoch umstritten. Vor allem öffentliche Gebäude waren nicht Opfer des Feuers. Möglicherweise sind bei Ausgrabungen diverse kleine Feuer erfasst worden, die unabhängig voneinander um 120 n. Chr. datieren. Im Jahr 122 besuchte Kaiser Hadrian Britannien und wahrscheinlich auch Londinium, und es wird vermutet, dass der Bau und die Erweiterung einiger öffentlicher Gebäude auf Anregung des Kaisers erfolgt sind. In der Folgezeit erreichte die antike Stadt ihre größte Blütezeit und es kann angenommen werden, dass mehrere zehntausend Menschen hier lebten. In den Jahren 185 bis 187 war der spätere Kaiser Pertinax Statthalter von Britannien und residierte in der Stadt. Kurz nach ihm wurde um 195 Clodius Albinus, der ebenfalls Statthalter von Britannien war, wahrscheinlich in Londinium zum Caesar, also zum Mitkaiser erhoben. Zwischen 190 und 220 errichtete man im Norden, Osten und Westen des Stadtgebietes eine Mauer, die gegen Ende des dritten Jahrhunderts bis zur Themse erweitert wurde. Die genauen Gründe für den Bau der London Wall bleiben im Dunkeln, doch geschah dies zu einer Zeit, als auch viele andere britannische Städte eine Stadtmauer erhielten. Um 200 wurde die britannische Provinz zweigeteilt. Londinium war nun die Hauptstadt von Britannia superior. Im Laufe des dritten Jahrhunderts wurden die Verhältnisse unruhiger, und die Stadt scheint auch Ziel von Angriffen seitens verschiedener Barbaren gewesen zu sein. Am Ende des dritten Jahrhunderts (286) war die Stadt wahrscheinlich Regierungssitz des Gegenkaisers Carausius und von dessen Nachfolger Allectus. 296 eroberte der legitime Imperator Constantius I., auf dessen Münzen sich das älteste Bild der Stadt findet, dieses britannische Sonderreich zurück. Die Quellen berichten von einer drohenden Plünderung der Stadt durch die Franken, die der Kaiser gerade noch verhindern konnte. Kurz darauf kam es zu einer erneuten Provinzteilung. Londinium war nun der Hauptort der Provinz Maxima Caesariensis. Das ganze dritte Jahrhundert ist archäologisch in der Stadt nur schlecht belegt. Gegenüber dem zweiten Jahrhundert machte Londinium offensichtlich eine Phase des Niederganges durch. Viertes Jahrhundert Ab 314 ist für die Stadt auch ein Bischof bezeugt: Restitutus nahm in diesem Jahr am Konzil von Arles teil und wird in diesem Zusammenhang in den Quellen genannt. Administrativ behielt die Stadt ihre Bedeutung weiterhin. Neben der Erhebung zur Augusta ist auch die Stationierung des praepositus thesaurum Augustensium im späten 4. Jahrhundert zu nennen. Im Verlauf des vierten Jahrhunderts gab es auf Britannien zahlreiche Angriffe von Franken und Sachsen. Inwieweit die Stadt davon betroffen war, ist nicht bekannt. Flavius Theodosius, der Vater des späteren Kaisers Theodosius I., setzte 368 mit seinem Sohn nach Britannien über und gelangte nach Londinium, wo er überwinterte, um dann die Ordnung wiederherzustellen. Dennoch war Britannien in der Spätantike vor allem ein Sprungbrett für Usurpatoren. Im Jahr 383 gab es mit Magnus Maximus wieder einen Gegenkaiser in Britannien, dessen Hauptstadt kurzzeitig Londinium gewesen sein dürfte und der hier auch Münzen prägen ließ. Nachdem der Usurpator Konstantin III. 407 Britannien mit den Resten des Feldheeres verlassen hatte, war die Provinz weitgehend sich selbst überlassen. Wie bei so gut wie allen britannischen Städten hat sich im Laufe des vierten Jahrhunderts ein langsamer Niedergang vollzogen, obwohl es anscheinend noch eine Reihe von bewohnten ansehnlichen Stadtvillen gab. Das Forum wurde um 300 aufgegeben. Das Amphitheater war bis etwa 350 in Betrieb. Im Laufe des fünften Jahrhunderts wurde die Stadt weitestgehend verlassen, der Siedlungsschwerpunkt verlagerte sich nach außerhalb der Mauern in den Westen, auf die andere Seite des River Fleet. Hier entstand auch das angelsächsische Lundenwic, das nach Anzeichen neuerer Grabungen schon um 500 entstand. Rechtliche und religiöse Stellung Unklar ist heute trotz der unzweifelhaften Bedeutung der Stadt ihr konkreter Status. Es ist nicht bekannt, ob Londinium eine colonia oder eine civitas war. Wahrscheinlich ist jedoch, dass es in flavischer Zeit zum municipium erhoben wurde. Für das vierte Jahrhundert gibt es Anzeichen, dass die Stadt in den Status einer colonia erhoben worden war. Darauf deutet unter anderem die Tatsache hin, dass Londinium in Augusta umbenannt wurde. Die Funktion von Londinium als Provinzhauptstadt wird in den antiken Quellen nicht ausdrücklich erwähnt, kann jedoch aus verschiedenen Indizien erschlossen werden. Zunächst war es die größte römische Stadt Britanniens. Es fand sich bei der Nicholas Lane eine Inschrift, die vielleicht die numina Caesaris Augusti nennt, bei denen es sich um die guten Geister (Numina) des Kaisers handelt; sie deuten auf die Existenz des Kaiserkultes in der Stadt. Dieser Kult wurde meist in der Provinzhauptstadt ausgeübt. In der Stadt fand sich außerdem ein hölzernes Schreibbrett, das den Stempel des kaiserlichen Procurators trägt. Das Brett ist nie benutzt worden. Es scheint ungewöhnlich, dass solch ein Brett fern von seinem Büro verworfen wurde. Das entsprechende Büro ist also in Londinium zu vermuten. Es gibt darüber hinaus den Grabstein eines speculators, bei dem es sich um einen Beamten handelt, der bisher nur im Palast eines Provinzstatthalters bezeugt ist. Ein Centurio mit dem Namen Vivius Marcianus ist von seinem Grabstein aus London bekannt. Er trägt eine Rolle und es wird vermutet, dass er Princeps praetorii (Praetur) war. Schließlich fanden sich Dachziegel mit der Aufschrift: P.PR.BR.LON – der Provinzprocurator von Britannien in Londinium. Im vierten Jahrhundert war die Stadt aber mit Sicherheit, wie in der Notitia dignitatum verzeichnet ist, der Sitz des Vicarius und des Praepositus thesaurorum, bei denen es sich jeweils um hohe Beamte der Provinzialverwaltung handelte. Die Bevölkerung der Stadt war weitaus bunter gemischt als in allen anderen Städten Britanniens, was bei der Rolle der Stadt als Verwaltungszentrum auch nachvollziehbar ist. Kaufleute, Soldaten und kaiserliche Beamte beeinflussten das Leben in der Stadt nachhaltig. So war beispielsweise ein breites Spektrum antiker Kulte vertreten. Schon im 1. Jahrhundert entstand ein Isis-Tempel, der um 250 erneuert wurde. Östlich des Walbrook befand sich ab dem späten 2. Jahrhundert bis zu seiner Zerstörung im frühen 4. Jahrhundert ein reich mit Skulpturen ausgestattetes Mithräum. Vor nicht allzu langer Zeit fand man am Tower Hill eine Basilika, die wohl als christliche Kirche des späten 4. Jahrhunderts zu identifizieren ist. Handwerk und Handel Es gibt zahlreiche Belege für verschiedene Handwerksbetriebe. An der Stelle des späteren Praetoriums scheint ein Goldschmied im ersten Jahrhundert gearbeitet zu haben. Aus der Zeit vor dem Aufstand der Boudicca gibt es auch Belege für Eisenschmiede und Kupferverarbeitung. Bemerkenswert, da nicht oft anzutreffen, sind die Reste von Glaswerkstätten aus dem ersten und zweiten Jahrhundert. Vor dem Aufstand bestand in der Stadt auch eine Töpferei, wobei der Töpfer eventuell aus dem Rhonetal kam, wo es schon vorher eine blühende Töpferindustrie gab. Besonders wichtig für die Stadt war aber der Handel, vor allem mit Gallien, Germanien, Spanien und Italien. Am Ufer der Themse konnten Kaianlagen ausgegraben werden, und im Fluss fand man sogar ein relativ gut erhaltenes Schiff. Inschriften belegen, dass die Einwohner der Stadt aus allen Teilen des römischen Reiches nach Londinium kamen. Die besondere Bedeutung des Handels belegen auch die zahlreichen ausgegrabenen Warenlager, vor allem an den Ufern der Themse. Als Handelsgut ist archäologisch vor allem Keramik belegt, wozu auch Lampen und Tonfiguren gehören. In der Zeit nach dem Aufstand der Boudicca wurde die einfache Tafelware meist in der Umgebung der Stadt produziert oder kam aus verschiedenen Töpfereien bei Verulamium. Im zweiten Jahrhundert kamen diese aus Töpfereien aus Dorset. Anspruchsvolle Tischware, vor allem Terra Sigillata, wurde aus Gallien eingeführt. Ab dem dritten Jahrhundert nahmen diese Importe aber ab und man verwendete nur noch lokale Keramik. Glaswaren nahmen, trotz der eigenen Produktion, als Importgut sicherlich vor allem seit dem zweiten Jahrhundert zu. Wertvolle Baumaterialien wurden teilweise auch von weit her eingeführt, obwohl diese im Gesamthandelsvolumen sicherlich keine große Rolle spielten. Lebensmittel wurden zu einem Teil lokal hergestellt. In Londinium selbst fand man die Reste eines Betriebes, in dem Fischsoße (Garum) produziert wurde. Bestimmte anspruchsvollere Lebensmittel wie Oliven, Fischsoßen aus Spanien, diverse Fischsorten, Früchte und Wein wurden aber importiert. In der Themse fand sich eine Amphore mit 6000 Oliven. Als britannisches Exportgut erscheinen in antiken Texten vor allem Textilien. Als besondere Delikatesse werden in römischen Quellen britannische Austern genannt. Wie Funde zeigen – im Hafen von Londinium fanden sich viele Austern – war die Stadt einer der Orte, von dem aus diese Muscheln verschifft wurden. Kunst Eine große Stadt wie Londinium war sicherlich reich mit Kunstwerken geschmückt, von denen auch Beispiele aus allen Bereichen erhalten sind. Die Architektur ist jedoch dermaßen zerstört auf uns gekommen, dass es kaum möglich ist, sich ein wirkliches Bild von ihr zu machen. Es kann zum Beispiel nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob es Tempel im klassischen Stil gab. Das gut erhaltene Bad am Themseufer beim Huggin Hill wirkt architektonisch eher anspruchslos und ist rein funktional konzipiert. Das Praetorium war dagegen ein Repräsentationsbau mit großen Hallen, einem Garten und verschiedenen Sälen mit Apsiden. Bei jüngsten Ausgrabungen fand man in der Vorstadt südlich der Themse einen Bezirk mit zwei gallo-römischen Umgangstempeln. Etwas klarer ist das Bild im Bereich Plastiken und Flachbild, wobei letzteres in Mosaik und Malerei unterteilt werden kann. Wie die meisten Städte im römischen Reich waren die öffentlichen Plätze und Tempel und sicherlich auch die Häuser wohlhabender Bürger reich mit Statuen ausgeschmückt. Beispiele von Plastiken finden sich auch auf den Friedhöfen der Stadt. Es lassen sich grundsätzlich zwei Stile unterscheiden. Eine Reihe von Werken ist offensichtlich nicht vor Ort, sondern in Italien oder an anderen Orten am Mittelmeer produziert worden. Sie fallen durch ihren rein klassischen Stil (siehe den Bronzekopf des Hadrian), ihre stilistische Vollkommenheit und den hohen handwerklichen Standard auf. Mehrere solche Werke fanden sich auch im Mithräum. Es handelt sich meist um kleine, aber auch lebensgroße Marmorskulpturen. Einheimisch gefertigte Skulpturen sind meist viel gröber und wirken teilweise etwas unproportioniert. Dies war, zumindest teilweise, bedingt durch die Verwendung lokaler Gesteinsarten. Diese Skulpturen stehen Werken der gallorömischen Kultur nahe. In Londinium wurden über hundert Reste von Mosaikfußböden gefunden, die meist geometrische Muster zeigen. Die wenigen erhaltenen figürlichen Darstellungen wirken eher bescheiden bezüglich ihrer Qualität. Dies steht im Gegensatz zu den erhaltenen Beispielen der Wandmalerei. Die Reste einer Wand in Southwark stehen mit ihrer Darstellung plastischer Architektur kaum italischen Beispielen aus der gleichen Zeit nach (siehe Bild unten). Vergleichbare Reste sind aber auch aus anderen Teilen der Stadt bekannt und belegen, wie eng diese Kunstform in Londinium italischen Vorbildern verpflichtet war. Malereien, die zum Beispiel in der Fenchurch Street gefunden wurden, gehören zu aufwändigen Architekturmalereien mit Aedikulae. Sie datieren wahrscheinlich vom Beginn des zweiten Jahrhunderts. Reste römischer Wandmalerei Struktur und Umgebung der Stadt Londinium lag an der Themse, die zur römischen Zeit viel breiter als heute war. Das Stadtgebiet zog sich in einer Länge von etwa 1,5 Kilometer am Fluss entlang und war etwa 600 bis 1000 m breit. Es wurde um das Jahr 200 ummauert. Außerhalb der Stadtmauern, wo vor allem die Nekropolen zu finden sind, war die Besiedlung dünn. Das Zentrum der Stadt war von Anfang an die Gegend um das Forum. In diesem Bereich standen auch viele aufwändige Wohnbauten und hier fanden sich die meisten Mosaiken. Eine weitere Konzentration an Bauten findet sich am Ufer der Themse. Auch hier wurden Reste bedeutender öffentlicher Gebäude, reich ausgestatteter Wohnbauten, zahlreiche Warenlager und Kaianlagen gefunden. Nach Norden hin, abseits des Themseufers, scheint die Bebauung lockerer gewesen zu sein und vor allem in der Zeit des Bevölkerungsrückgangs im dritten und vierten Jahrhundert waren diese Gebiete unbebaut und wurden als Gärten oder Ackerland genutzt. Am Ende des vierten Jahrhunderts, als die Bevölkerung immer weiter abnahm, blieben vor allem die Gebiete am Themseufer besiedelt. Im ganzen Stadtgebiet des heutigen Großraums London (Greater London) gibt es römische Funde. Größere Siedlungen existierten aber wohl nur bei Enfield, Brockley Hill und Old Ford im Norden und Brentford, Putney, Croydon und Grayford im Süden. Alle diese Orte, über die sonst wenig bekannt ist, liegen an den Ausfallstraßen Londiniums. Villen sind aus dem näheren Umfeld der Stadt dagegen kaum bekannt. Es ist fraglich, ob dies Zufall ist oder einen besonderen, heute nicht mehr ersichtlichen Grund hatte. Bauten Forum Im Zentrum der Stadt stand das Forum. Es handelte sich um einer der größten Baue dieser Art nördlich der Alpen. Schon vor dem Aufstand der Boudicca gab es hier einen freien Platz. Von dem eigentlichen Forum lassen sich zwei Bauphasen unterscheiden; in der zweiten wurde das Forum erheblich erweitert. Die Identifikation des Baues in der ersten Phase als Forum ist umstritten und es ist auch vorgeschlagen worden, dass es sich bei den gefundenen Resten um Lagerhäuser handelte. Eine weitere Möglichkeit wäre schließlich, dass es sich um ein Macellum gehandelt hat. Die wenigen Reste zeigen Reihen von Räumen, die zu Warenlagern, aber auch zu den genannten Bauten gehört haben könnten. Der Ausbau in der zweiten Bauphase wird oft mit dem Besuch von Kaiser Hadrian in Verbindung gebracht; bewiesen werden konnte das bisher nicht und es wurde auch die These vertreten, dass es auch unter den Flaviern (69 bis 96 n. Chr.) ausgebaut worden sein könnte. Immerhin lässt sich immer wieder an anderen Orten im römischen Reich beobachten, dass Kaiser bei ihren Besuchen Geld für den Aufbau oder die Erweiterung von öffentlichen Gebäuden spendeten. Das Forum bestand aus einem großen freien Platz mit einem Wasserbecken in der Mitte. Der Platz war einst von Kolonnaden und Läden gesäumt. Im Norden schloss sich eine Basilika mit Apsiden an. Die Basilika bestand aus einem Mittelschiff. Der ganze Komplex war ca. 168 × 167 m groß. Der Haupteingang lag wohl im Süden. Dieses Forum wurde um 300 abgerissen und nie wieder aufgebaut. Praetorium Am Ufer der Themse (in der Gegend des heutigen Bahnhofs Cannon Street) stand ein großes repräsentatives Gebäude mit einem Garten, Wasserbecken und Springbrunnen. Es handelt sich vielleicht um das Praetorium (Palast des Statthalters) der Stadt, obwohl die schlecht erhaltenen Reste eine andere Funktion, wie etwa die eines großen Bades, nicht vollkommen ausschließen. Der Gebäudeplan ist nur in Teilen erhalten. Der Bau war aber einst reich ausgestattet, wie Reste von Mosaiken zeigen. Es gab einen großen Mittelsaal und Bauteile mit Apsiden. Der Bau wurde in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts errichtet, wobei diverse An- und Umbauten in der Folgezeit beobachtet werden konnten. Der Bau wurde bis ca. 300 benutzt. Tempel Londinium hatte mehrere Tempel. Auf einem Altar wird die Renovierung eines Jupitertempels erwähnt. Durch Inschriften ist der Bau eines Tempels einer Muttergottheit und ein Tempel der ägyptischen Göttin Isis belegt. Ein Krug trägt die Aufschrift von Londinium beim Tempel der Isis. Ein Altar nennt schließlich die Renovierung des Isis-Tempels. Neben dem Bau, der vielleicht das erste Forum darstellte, fanden sich die Fundamente eines rechteckigen und ca. 10 × 20 m großen Tempels. Es gab zwei Räume und im zweiten, größeren Raum eine Nische, sicherlich für die Kultstatue. Vor dem Bau lag ein zum Tempelbezirk gehörender freier Platz. Welche Gottheit hier verehrt wurde, ist nicht bekannt. Der Bau wurde mit Errichtung des großen Forums eingeebnet. Am Ufer der Themse, eher im Westen der Stadt (in der Nähe von Peter’s Hill) wurden bei Ausgrabungen starke Fundamente zweier unbekannter Gebäude gefunden. Es wird vermutet, dass sie zu zwei Tempeln in klassischem Stil gehören. Die Tempel sind sehr schlecht erhalten. Es gab umfangreiche Umbauten am Ende des 3. Jahrhunderts. Es wurde vermutet, dass diese mit den Kaisern Carausius und Allectus in Verbindung stehen, die den Komplex eventuell in eine Palastanlage (mit Tempeln) umwandelten. Schließlich konnten neuere Ausgrabungen in der Vorstadt von Southwark einen kleinen Tempelbezirk erfassen. Hier standen zwei gallo-römische Umgangstempel. Die hier verehrten Gottheiten bleiben jedoch vorerst unbekannt. Doch wurde hier die Inschrift des Tiberinius Celerianus gefunden, die dem Mars Camulus geweiht ist und einen der frühesten Belege für den Ortsnamen London darstellt. Den Ausgrabungen des Tempelkomplexes wurde von der breiten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit geschenkt, da sich hier eine Cremedose fand, in der noch die antike Creme steckte. Ein weiterer gallo-römischer Umgangstempel wurde im Winter 2006/2007 im Osten der Stadt entdeckt. Mit Sicherheit identifiziert werden konnte jedoch nur ein Mithräum. Der Bau enthielt bei seiner Auffindung 1954 noch zahlreiche Skulpturen. Die Reste wurden versetzt und sind deshalb heute noch erhalten. Westlich der Stadt, außerhalb der Stadtmauern, fand man die Reste eines oktogonalen Baues, der vielleicht auch die Reste eines Tempels darstellt. Er wurde um 270 oder vielleicht sogar erst im vierten Jahrhundert errichtet. Andere öffentliche Bauten Mehrere Bäder sind bekannt, wobei es im Einzelfall nicht immer sicher ist, ob die gefundenen Reste zu öffentlichen oder privaten Badeanlagen gehörten. Das Bad am Huggin Hill (in der Nähe des Themseufers), das in flavischer Zeit errichtet wurde und fast vollständig ausgegraben werden konnte, ist sicherlich ein öffentliches Bad gewesen. Es enthielt einen der größten beheizbaren Räume im römischen Britannien. Es wurde jedoch schon am Ende des zweiten Jahrhunderts abgerissen. An der Fenchurch Street, etwas östlich des Forums, fand man die Reste eines Saales, der in hadrianischer Zeit niederbrannte. Die Bedeutung ist unsicher, doch könnte es sich um den Versammlungssaal einer Zunft handeln, wenngleich dies nur eine von verschiedenen vorgeschlagenen Deutungen ist. Etwas südlich des Militärlagers konnten die Fundamente eines Amphitheaters ausgegraben werden. Es war ca. 130 × 110 m groß und wurde im zweiten Jahrhundert erbaut und in der Mitte des vierten Jahrhunderts aufgegeben. Südlich von Peter’s Hill am Themseufer, wo die starken Fundamente, die vielleicht zu einem Tempel gehörten, gefunden wurden, fanden sich auch die wiederverbauten Reste eines Triumphbogens. Der einstige Aufstellungsort des Bogens bleibt unbekannt, doch bei der Annahme, dass er nicht weit von dem hier vermuteten Tempel stand, kann vermutet werden, dass es hier ein religiöses Zentrum der Stadt mit verschiedenen öffentlichen Gebäuden gab. Reste eines Aquäduktes konnten bisher nicht gefunden werden. Wahrscheinlich wurde die Stadt durch die Themse und deren Nebenflüsse mit Frischwasser versorgt. An mehreren Stellen in der Stadt fand man Abwasserleitungen aus Holz, die Schmutz- und Regenwasser fortleiteten. Warenlager Am Ufer der Themse konnten in den Jahren 1973 bis 1983 zahlreiche Lagerbauten ausgegraben werden, die die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt bezeugen. Hier fand man auch den Betrieb, in dem die für römische Gerichte so beliebte Fischsoße produziert wurde. Die Uferlinie schob sich dabei im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach Süden, womit also neues Land gewonnen wurde. Teile der Uferbefestigungen mit den Landestegen aus Holz sind bei Ausgrabungen gefunden worden und waren zum Teil überraschend gut erhalten. Die Reste eines Holzkastens, der einst im Wasser stand, könnten die Fundamente der vermuteten Themsebrücke sein. Militärlager Im Norden der Stadt gab es ein ca. 4,5 ha großes Militärlager, das am Ende des ersten oder zu Beginn des zweiten Jahrhunderts errichtet wurde. Es ist umstritten, was für eine Militärtruppe hier stationiert war, vielleicht Soldaten, die in Verbindung mit dem in Londinium residierenden Statthalter standen. In Texten auf Weihesteinen aus der Stadt erscheinen Legionen. Doch ist es sehr zweifelhaft, dass diese hier ihr Lager hatten. Drei Legionen sind bezeugt. Es sind die Legio II Augusta, die Legio XX Valeria Victrix und die Legio VI Victrix. Das Lager wurde um 200 n. Chr. aufgegeben, als die Stadtmauer errichtet wurde. Die Nord- und Westmauer des Lagers wurden Teile der Stadtmauer. Das Gelände des Lagers war in der Folgezeit anscheinend zum großen Teil unbebaut. Wohnbauten Antike Wohnbauten konnten im ganzen modernen Stadtgebiet nachgewiesen werden. Da die Ausgrabungen jedoch meist nur kleine Ausschnitte erfassen, sind nur wenige Gebäude in ihrem Gesamtplan erkennbar. Im ersten und zweiten Jahrhundert scheinen vor allem Holzbauten dominiert zu haben, die dicht an dicht die Stadt bedeckten, obwohl es auch bedeutende Steinhäuser gab. Bemerkenswert sind einige runde Hütten des ersten Jahrhunderts, die zweifelsohne von einheimischen Briten stammen, die sich in der Stadt ansiedelten. Im dritten Jahrhundert wurden immer mehr Steinbauten errichtet, wobei diese Bauten meist größer waren und es den Anschein hat, dass es in Handwerk und Industrie einen Rückgang gab. In dieser Zeit scheinen einige Bereiche innerhalb der Stadtmauern unbebaut und dem Acker- oder Gartenbau vorbehalten gewesen zu sein. Ein besonders großer Wohnbau mit Badeanlagen fand sich an der heutigen Lower Thames Street, nahe der Themse, etwas südöstlich des Forums. Die reicheren Häuser, besonders im Zentrum der Stadt, hatten Mosaiken, Wandmalereien, Hypokausten und Badeanlagen. Sie belegen den Wohlstand in der Stadt. Stadtmauer Die Stadtmauer aus Stein, die zum Umland hin ca. 3,2 km lang war, ist wie die meisten Stadtmauern Britanniens am Ende des zweiten Jahrhunderts errichtet worden. Unterhalb der Mauer fand sich eine Münze von Commodus, sodass dessen Regierungszeit den frühestmöglichen Zeitpunkt der Anlage (Terminus post quem) darstellt. Es gab mindestens sechs Tore, ein weiteres, wenn nicht noch mehr, kann zur Themse hin erwartet werden, wo es eine Brücke über den Fluss gab. Die Brücke kann bisher auch nur aus der Konzentration von Funden in dieser Gegend und dem Standort der Vorstadt auf der anderen Seite der Themse erschlossen werden. Eindeutige Reste fanden sich bisher nicht. Die Stadtmauer schloss das Militärlager, aber auch das Amphitheater mit ein, was in den meisten anderen britannischen Städten in der Regel nicht der Fall war. Der Verlauf der Stadtmauer ist im Allgemeinen gesichert, nur an der Westseite, südlich von Ludgate Hill, ist sie bisher nicht archäologisch nachweisbar. Wie das Ufer der Themse gesichert war, ist nicht eindeutig nachgewiesen. Man ging zunächst von einer Reihe von Türmen aus. Neuere Grabungen am Themseufer förderten jedoch massive Mauern zutage, weshalb einiges dafür spricht, dass die Ufersicherung mittels einer Mauer erfolgte. Problematisch ist, dass die Ufermauer wohl erst um 270 n. Chr. erbaut wurde, also viel später als die Landmauer. Vorstädte Auf der Südseite der Themse (heutiges Southwark) gab es eine große Vorstadt, die mit der eigentlichen Stadt durch eine Brücke verbunden war. Das Gelände war hier flach, wurde oft überflutet, so dass nur auf einer Reihe von kleinen Hügeln gesiedelt werden konnte. Die Bebauung scheint typisch für eine Vorstadt gewesen zu sein und entwickelte sich vor allem entlang der Ausfallstraßen. An ihnen konnten jedoch auch bedeutende Steinbauten mit teilweise reichen Innenausstattungen ausgegraben werden. Hier stand wahrscheinlich auch der Isis-Tempel. Eine Inschrift, die sich vor Ort fand, listet Legionäre mit Namen auf. Es bleibt unklar, was der Zweck dieser Inschrift ist und warum sie sich gerade hier fand. Immerhin könnte diese Inschrift mit einer hier vermuteten Mansio in Verbindung stehen. Es fand sich ein Tempelbezirk mit zwei Tempelbauten. Etwa ein Kilometer östlich der römischen Stadt, im heutigen Shadwell, befand sich eine weitere, anscheinend substanzielle Vorstadtsiedlung. Hier stand ein großes Bad und ein weiteres Steingebäude unbekannter Funktion, daneben fanden sich Reste von Grabbauten. Die Bauten datieren in das 3. Jahrhundert. Es ist vermutet worden, dass es sich hier um den eigentlichen Hafen Londiniums handelte, nachdem der Hafen in der Stadt im 3. Jahrhundert an Bedeutung verloren hatte. Konkrete Belege für diese Annahme fehlen jedoch. Nekropolen Außerhalb der Stadtmauern gab es umfangreiche Nekropolen mit teilweise monumentalen Grabbauten. Das Grabmal des Gaius Iulius Alpinus Classicianus gehört einer historisch fassbaren Person. Verschiedene Inschriften auf Grabsteinen belegen den kosmopolitischen Charakter der Bevölkerung. Alfidus Olussa zum Beispiel stammte aus Athen, L. Pomeius Da […] aus Arretium in Italien. Sein Grabmal wurde von einer marmornen Inschrift geziert. Urnenbestattungen waren die Regel, erst ab dem dritten Jahrhundert kommen Erdbestattungen immer häufiger vor. Die ältesten Gräber fanden sich innerhalb der späteren Stadtmauer, nahe dem Forum. In der Gegend der West Tenter Street, östlich der Stadtmauer wurde ein größerer Friedhofsabschnitt ergraben. Es fanden sich 672 Körpergräber und 134 Brandbestattungen. Sie datieren vom Ende des ersten bis in das fünfte Jahrhundert. Es wurden Holzsärge gefunden, und ein Grab enthielt mit Silber eingelegte Bronzebroschen, die typisch für hohe Militärangehörige sind. Ausgrabungen Durch die intensive Bebauung der modernen Stadt gestaltet sich die archäologische Erforschung von Londinium schwierig. Viele antike Bauten wurden schon im Mittelalter abgetragen, daneben bewahrten aber auch die dicken mittelalterlichen Schichten römische Reste vor neuzeitlichen Zerstörungen. Die römische Stadt liegt im Zentrum des heutigen London, genau dort wo sich die größten Bauten mit den tiefsten Kellern befinden. Die Fundamente großer Häuser sind seit viktorianischer Zeit oft sehr tief und zerstören dabei viele alte Reste, wobei sich die entstandenen Schäden in den letzten Jahren als weniger dramatisch als befürchtet erwiesen haben. Die viktorianischen Mauern bilden oft nur Fundamente an den Außenseiten der Gebäude und lassen den Raum dazwischen ungestört. Seit der Renaissance wurde antiken Objekten, die bei Bauarbeiten in der Stadt zu Tage kamen, Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem nach dem Großen Brand von London (1666) wurden auch einige mächtige Mauerstrukturen, die zum Forum und Praetorium gehören, von Sir Christopher Wren beobachtet und beschrieben. Inschriften und Skulpturen, seit dem 18. Jahrhundert auch Mosaiken, wurden kopiert und sind teilweise noch heute erhalten. Systematische Ausgrabungen werden seit dem 19. Jahrhundert unternommen und sind besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges intensiv. Es können dabei in der Regel nur kleine Ausschnitte der antiken Stadt erfasst werden, die den modernen Parzellen entsprechen. Das Bild der antiken Bebauung bleibt daher ungleichmäßig. Im heutigen London sind nur noch wenige Reste der antiken Stadt zu sehen. Ruinen der Stadtmauer (die wiederum im Mittelalter weiter benutzt und ausgebaut wurde) finden sich beim Tower of London und vor allem in der Nähe des Museum of London. Einige Mauern des Amphitheaters sind heute unter der Guildhall zu sehen. Die Fundamente des Mithräums wurden abgebaut und versetzt. Sie stehen heute in der Queen Victoria Street. Die Einzelfunde der Grabungen sind vor allem im Museum of London zu sehen. Dort gibt es auch die lebensgroße Rekonstruktion eines Wohnraumes aus römischer Zeit mit Mosaik und Wandmalerei. Einige herausragende Objekte von überregionaler Bedeutung sind auch im British Museum ausgestellt. Siehe auch Liste der Statthalter Britanniens Literatur Allgemeines Edward Bacon: Auferstandene Geschichte. Archäologische Funde seit 1945. Aktualisierte Auflage. Orell Füssli, Zürich 1964, S. 15–24. Richard Hingley: Londinium, A biography, Roman London from its Origins to the Fifth Century. London 2018, ISBN 978-1-350-04729-7. Peter Marsden: Roman London. London 1980. Ralph Merrifield: London, City of the Romans. Berkeley (California) 1983, ISBN 0-520-04922-5. (eher populäre Zusammenfassung) Gustav Milne: The Port of Roman London, London 1993 (reprint), ISBN 0-7134-4365-0. (Zusammenfassung der Grabungen an der Themse) John Morris: Londinium, London in the Roman Empire. London 1999, ISBN 0-7538-0660-6. Dominic Perring: Roman London (The Archaeology of London). London 1991, ISBN 1-85264-039-1. (vor allem archäologische Zusammenfassung zum römischen London, reich an Plänen) John Wacher: The Towns of Roman Britain. London/New York 1997, ISBN 0-415-17041-9, S. 88–111. (vor allem archäologische Zusammenfassung zum römischen London) Lacey M. Wallace: The Origin of Roman London. Cambridge University Press, Cambridge 2014, ISBN 978-1-107-04757-0. R. J. A. Wilson: A Guide to the Roman Remains in Britain. 4. Auflage. London 2002, ISBN 1-84119-318-6, S. 604–652. Antike Autoren Stanley Ireland: Roman Britain. A Sourcebook. London 1996, ISBN 0-415-13134-0. (Sammlungen aller Stellen bei klassischen Autoren, die Britannien und London erwähnen) Ausgrabungsberichte Die Ausgrabungsberichte zum römischen London finden sich verstreut in verschiedenen Zeitschriften und Aufsätzen, deren Zahl unüberschaubar erscheint. In den letzten Jahren werden Ausgrabungsberichte in der Reihe MoLAS Monograph Series veröffentlicht. Besonders wichtig sind: P. Marsden: The Roman Forum Site in London. Discoveries before 1985. London 1987, ISBN 0-11-290442-4. John D. Shepherd: The temple of Mithras, London. London 1998, ISBN 1-85074-628-1. Werke der MoLAS Reihe: Bruno Barber, David Bowsher: The eastern cemetery of Roman London: excavations 1983–90. (= MoLAS Monograph). London 2000, ISBN 1-901992-06-3. Brian Yule: A Prestigious Roman Building Complex on the Southwark Waterfront: Excavations at Winchester Palace, London, 1983–90. (= MoLAS Monograph). London 2005, ISBN 1-901992-51-9. Weblinks Informationen zu Londinium auf Roman-Britain.org (englisch) Informationen zu Londinium auf Britannia.com (englisch) Einzelnachweise Römische Stadt in Britannien Archäologischer Fundplatz in London City of London
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pergamonaltar
Pergamonaltar
Der Pergamonaltar ist ein monumentaler Altar, der unter König Eumenes II. in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. auf dem Burgberg der kleinasiatischen Stadt Pergamon errichtet wurde und dessen Rekonstruktion mit den originalen Friesen heute im Berliner Pergamonmuseum zu sehen ist. Der Altar war 35,64 Meter breit und 33,40 Meter tief. Die von Westen auf den Altar führende Freitreppe hatte eine Breite von fast 20 Metern. Es handelt sich um eines der bedeutendsten erhaltenen Kunstwerke des Hellenismus, wenn nicht der griechischen Antike insgesamt: Den Sockel schmückte ein Hochrelief, das den Kampf der Giganten gegen die griechischen Götter darstellte. Ein zweiter Fries an den Hofwänden des Pergamonaltars erzählt in einem Zyklus aufeinanderfolgender Reliefbilder die Legende von Telephos. Telephos, ein Sohn des Helden Herakles und der tegeatischen Königstochter Auge, galt als mythischer Gründer Pergamons. 1878 begann der deutsche Ingenieur Carl Humann auf dem Burgberg von Pergamon mit offiziellen Ausgrabungen, die 1886 ihren vorläufigen Abschluss fanden. Das Hauptziel der Ausgrabungen war es, die Altarfriese wiederzugewinnen und das Fundament des Altars freizulegen. Später wurden weitere Baukomplexe der pergamenischen Akropolis freigelegt. In Verhandlungen mit der beteiligten türkischen Regierung konnte vereinbart werden, dass alle damals gefundenen Fragmente der Altarfriese den Berliner Museen zugesprochen wurden. In Berlin setzten italienische Restauratoren die Platten der Friese aus tausenden Fragmenten wieder zusammen. Um die Friese zusammenhängend ausstellen zu können, wurde auf der Museumsinsel eigens ein Museum errichtet. Der erste Bau von 1901 wurde 1909 zugunsten eines größeren, 1930 vollendeten Neubaus abgerissen. Nach den dort ausgestellten Friesen und einer Rekonstruktion der Westfront des Pergamonaltars erhielt dieser Museumsneubau von den Berlinern den Namen Pergamonmuseum. Der Pergamonaltar ist heute das bekannteste Ausstellungsstück der Antikensammlung auf der Museumsinsel. Der Saal mit dem Pergamonaltar ist seit 2014 wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten voraussichtlich bis mindestens 2027 geschlossen. Der Altar in der Antike Historischer Hintergrund Das zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. gegründete Pergamenische Reich war unter dem Gründer Philetairos und dessen Nachfolger Eumenes I. zunächst ein Teilgebiet des seleukidischen Reiches. Erst Attalos I., Nachfolger des Eumenes I., ging den Schritt der völligen Selbstständigkeit und proklamierte sich nach dem Sieg über die keltischen Galater 238 v. Chr. zum König. Der Sieg über die Galater, die das pergamenische Reich bedrohten, festigte ihn in seiner Macht, die er nun zu konsolidieren versuchte. Durch Eroberungen in Kleinasien auf Kosten der geschwächten Seleukiden konnte er sein Reich kurzzeitig vergrößern. Auch ein Gegenschlag der Seleukiden unter Antiochos III., der bis vor die Tore Pergamons führte, konnte die pergamenische Selbstständigkeit nicht beenden. Da die Seleukiden im Osten wieder erstarkten, wandte sich Attalos nach Westen, nach Griechenland, und konnte fast ganz Euböa einnehmen. Sein Sohn Eumenes II. drängte den Einfluss der Galater weiter zurück. Er regierte zusammen mit seinem Bruder und Mitregenten Attalos II., der ihm auch auf dem Thron nachfolgen sollte. 188 v. Chr. konnte Eumenes II. durch ein Bündnis mit Rom den Frieden von Apameia schließen und somit den Einfluss der Seleukiden in Kleinasien verringern. Die Attaliden waren also eine aufstrebende Macht, die ihre Bedeutung auch nach außen durch die Errichtung repräsentativer Bauten zeigen wollten. Stiftung, Datierung und Funktion des Altars Wie die meisten jungen Dynastien suchten sich auch die Attaliden durch Stiftungen und monumentale Bauwerke zu legitimieren. Damit kommt der Stiftung und Anlage des Altars auch eine politische Dimension zu. In der Forschung wurde zum Teil noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts davon ausgegangen, dass der Altar 184 v. Chr. von Eumenes II. nach einem Sieg über die keltischen Tolistobogier unter deren Führer Ortiagon gestiftet wurde. Mittlerweile werden spätere Zeitansätze in Kombination mit archäologischen Befunden und historischen Ereignissen diskutiert. Nicht unbedingt zwingend ist die Verbindung der Altarstiftung mit konkreten militärischen Ereignissen, wie den Siegen der Römer im Bündnis mit Eumenes II. über Antiochos III. im Jahre 188 v. Chr. oder Eumenes’ II. aus eigener Kraft über die Galater im Jahre 166 v. Chr. Untersuchungen des Altarbaues haben ergeben, dass dieser nicht als Siegesdenkmal konzipiert wurde. Die Gestaltung der Siegesdenkmale der Pergamener sind literarisch und in monumentalen Überresten fassbar. Am berühmtesten sind die in römischen Kopien überlieferten Bronzestatuen der „Großen Gallier“, Darstellungen besiegter Kelten nach dem Sieg Attalos’ I. über die Tolistobogier, oder die Reliefs mit Beutewaffen von den Hallenbauten des pergamenischen Atheneheiligtums, einer Weihung Eumenes’ II. an die siegbringende Göttin nach dem Sieg von 188 v. Chr. über die Seleukiden und ihre Verbündeten. Der sogenannte Gigantenfries des Pergamonaltars vermeidet weitgehend Anspielungen auf aktuelle Kriegszüge – abgesehen von dem „Stern der Makedonen“ auf dem Rundschild eines Giganten, der auf dem Fries der Ostseite zu sehen ist, oder einem keltischen Langschild in der Hand eines Gottes im Nordfries. Der Kampf der olympischen Götter, unterstützt durch Herakles, aber auch die Gestirns- und Tagesgötter aus dem alten Geschlecht der Titanen, Kriegs- und Schicksalsmächte, Meerwesen und Dionysos mit seinem Gefolge erscheinen vielmehr als kosmologisches Ereignis von allgemein sittlicher Bedeutung. Er ist vielleicht im Sinne stoischer Philosophie auslotbar und sicher auch nicht ohne politisches Kalkül konzipiert, wie alle bildkünstlerischen Metaphern, die den Kampf des guten und gerechten Prinzips – die olympischen Götter und ihre Gehilfen – gegen das Böse – die chaotischen Naturkräfte in Gestalt der erdgeborenen Giganten – zum Thema haben. Auch die spärlichen Reste der Weihinschrift scheinen darauf hinzuweisen, dass der Altar den Göttern für erwiesene „Wohltaten“ gestiftet wurde. Als göttliche Adressaten sind besonders der Göttervater Zeus und seine Tochter Athene zu erwägen, da sie im Gigantenfries an prominenter Stelle dargestellt werden. Ein wichtiges Kriterium für eine Datierung ist die Einbindung des Altars in den städtebaulichen Kontext. Denn als bedeutendster Marmorbau der hellenistischen Residenz, zudem an markanter Position errichtet, wurde er sicher nicht am Ende der zahlreichen Maßnahmen zur Aufwertung der Bergstadt Pergamon unter Eumenes II. in Angriff genommen. Dass sich konkrete Ereignisse aus den letzten Regierungsjahren Eumenes’ II., die wachsende Distanz zu den Römern und der Sieg über die Kelten von 166 v. Chr. bei Sardes in den beiden Friesen des Pergamonaltars widerspiegeln, ist eine Vermutung, die aber kaum beweisbar ist und keinen ausreichenden Grund für eine Spätdatierung des Altares bietet. Der innere Fries, der Telephosfries, zeigt die Legende des Telephos und sollte die Überlegenheit Pergamons gegenüber den Römern versinnbildlichen. So wurde der Gründer Roms, Romulus, nur von einer Wölfin, Telephos, auf den sich die Attaliden zurückführten, hingegen von einer Löwin gestillt. Die Bauzeit des Frieses lässt sich zwischen 170 v. Chr. und wenigstens dem Tod Eumenes II. (159 v. Chr.) ansetzen. Einer der letzten Datierungsvorschläge zur Bauzeit des Altars stammt von Bernard Andreae. Nach seinen Erkenntnissen wurde der Altar zwischen 166 und 156 v. Chr. als allgemeines Siegesmal der Pergamener und insbesondere von Eumenes II. über die Makedonen, die Gallier und die Seleukiden errichtet und von Phyromachos, dem siebten und letzten der sieben größten griechischen Bildhauer neben Myron, Phidias, Polyklet, Skopas, Praxiteles und Lysipp entworfen. Im Fundament des Altars wurde eine in das Jahr 172/71 v. Chr. datierbare Tonscherbe gefunden, das Bauwerk muss folglich nach diesem Zeitpunkt errichtet worden sein. Da bis 166 v. Chr. für die Kriege viel Geld aufgebracht werden musste, war die Errichtung des Altars wohl erst nach dem Krieg, also ab 166 v. Chr., möglich. Der Große Altar ist entgegen dem allgemeinen Verständnis kein Tempel, sondern wahrscheinlich der Altar für einen Tempel. Es wird vermutet, dass der Athene-Tempel sein kultischer Bezugspunkt war. Möglicherweise diente er nur als Opferort. Dafür sprechen einige Statuenbasen und Weihinschriften im Altarbezirk, deren Stifter Athene nannten. Eine weitere Möglichkeit ist, dass hier Zeus und Athene gleichermaßen verehrt wurden. Möglich ist auch, dass der Altar eine eigenständige Funktion hatte. Anders als Tempel, zu denen immer ein Altar gehörte, gehörte zu einem Altar nicht zwangsläufig ein Tempel. Altäre konnten beispielsweise in kleiner Form in Häusern stehen oder – in selteneren Fällen – wie der Pergamonaltar gigantische Ausmaße haben. Altäre standen im Allgemeinen im Freien vor den Tempeln. Aus den wenigen Resten der Weihinschrift lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, für welche Gottheit der Altar gestiftet wurde. Bis heute konnte sich keine der Theorien grundsätzlich durchsetzen. Das führte dazu, dass ein langjähriger Leiter der Ausgrabungen in Pergamon zum Schluss kam: Ebenso unklar ist die Form der hier vollzogenen Opfer. Aus den Resten des eigentlichen kleineren Opferaltars im Inneren des großen Altarbaus lässt sich zumindest schließen, dass er eine hufeisenartige Form hatte. Offenbar war es ein Wangenaltar mit einer oder mehreren Stufen. Möglicherweise wurden hier Schenkel von Opfertieren verbrannt. Möglich ist ebenso, dass der Altar nur zur Libation – also dem Darbringen von Opfern in Form von Weihrauch, Wein und Früchten – diente. Wahrscheinlich durften nur Priester, Angehörige des Königshauses und hohe auswärtige Gäste den Altar betreten. Schon Attalos I. begann, die Akropolis von Pergamon umzugestalten. Im Laufe der Zeit entstanden so neben der ursprünglichen Burg auf dem Hügelkopf ein Dionysostempel und ein nach Dionysos benanntes Theater, ein Heroon, die Obere Agora der Stadt und eben der heute als Pergamonaltar bekannte Große Altar. Zudem gab es mehrere Paläste und eine Bibliothek im Atheneheiligtum. Der Altar bis zum Ende der Antike Verschiedentlich wird ein Abschnitt der Offenbarung des Johannes auf den Pergamonaltar bezogen. Dort ist von einem „Thron des Satans“ die Rede, der in Pergamon stehe: Die Form des Altars mit seinen Risaliten kann in der Tat an einen Thron mit seinen Armstützen denken lassen. Man hat aber auch erwogen, im ‚Thron Satans‘ ein Monument des Kaiserkults zu erkennen, an dem sich frühe Christenverfolgungen oft entzündeten, doch lässt sich hierüber keine Gewissheit erlangen, zumal der Pergamonaltar in römischer Zeit auch in den Kaiserkult integriert worden sein könnte. Eindeutig in ihrem Bezug ist die Erwähnung des Altars bei einem wenig prominenten römischen Schriftsteller, Lucius Ampelius, der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert (vielleicht aber auch erst in der Spätantike) in seinem liber memorialis („Merkbüchlein“) im Abschnitt über die Weltwunder, die miracula mundi, bemerkt: Neben einer Bemerkung des Pausanias, der in einem Nebensatz die Opfergewohnheiten in Olympia mit denen in Pergamon vergleicht, sind dies die einzigen schriftlichen Erwähnungen des Altars in der gesamten Antike. Das ist umso verwunderlicher, als bei den Schriftstellern der Antike viel zu derartigen Kunstwerken geschrieben wurde und Ampelius den Altar immerhin zu den Weltwundern zählt. Das Fehlen schriftlicher Quellen zum Altar aus der Antike wird unterschiedlich interpretiert. Eine mögliche Erklärung ist, dass der hellenistische Altar den Römern als unwichtig erschien, da er nicht in der klassischen Epoche der griechischen, vor allem attischen, Kunst entstanden war. Nur diese Kunst und die spätere Rückbesinnung auf diese Werte galten als bedeutend und erwähnenswert. Diese Sichtweise wurde ab dem 18. Jahrhundert, vor allem seit dem Wirken Johann Joachim Winckelmanns, insbesondere von deutschen Forschern vertreten. Die einzige bildliche Darstellung des Altars stammt von Münzen aus der römischen Kaiserzeit. Sie stellen den Altar in stilisierter Form dar. Seit im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein Umdenken in der Wahrnehmung und Interpretation antiker Kunstwerke außerhalb der als „klassisch“ angesehenen Zeiträume eingesetzt hat, ist unstrittig, dass der Große Altar von Pergamon eines der bedeutendsten Werke, wenn nicht den Höhepunkt der hellenistischen Kunst darstellt. Die ignorierende Geringschätzung des Altars mutet aus heutiger Sicht seltsam an, stammt doch auch die Laokoon-Gruppe – eine der Skulpturen, die heute zusammen mit wenigen weiteren Kunstwerken als besonders herausragendes Zeugnis der antiken Kunst genannt wird und schon in der Antike als „Meisterwerk aller Kunst“ angesehen wurde  – aus einer pergamenischen Werkstatt, wo sie ungefähr zur Zeit der Entstehung des Altars geschaffen worden sein muss. Auffällig ist dabei, dass der gigantische Gegner der Göttin Athene, Alkyoneus, in Haltung und Darstellung dem Laokoon sehr ähnelt. Als er gefunden wurde, soll ein Ausruf „Jetzt haben wir auch einen Laokoon!“ zu hören gewesen sein. Wiederentdeckung bis zur Präsentation in Berlin Antike bis zu den Ausgrabungen im 19. Jahrhundert Spätestens als in der Spätantike das Christentum die paganen Religionen abgelöst und verdrängt hatte, verlor der Altar seine Funktion. Im siebten Jahrhundert wurde die Akropolis Pergamons zum Schutz vor den Arabern stark befestigt. Dabei wurde unter anderem auch der Pergamonaltar teilweise zerstört, um daraus Material zu gewinnen. Dennoch fiel die Stadt 716 vorübergehend an die Araber und wurde daraufhin als bedeutungslos aufgegeben; erst im 12. Jahrhundert kam es zu einer Wiederbesiedlung. Im 13. Jahrhundert fiel Pergamon an die Türken. Zwischen 1431 und 1444 besuchte der italienische Humanist Cyriacus von Ancona Pergamon und berichtete darüber in seinen commentarii (Tagebüchern). 1625 bereiste William Petty, der Kaplan von Thomas Howard, 21. Earl of Arundel, Kleinasien. Auch er besuchte Pergamon und brachte von dort zwei Reliefplatten des Altars mit nach England. Die Stücke gerieten nach der Auflösung der Sammlung des Earls in Vergessenheit und wurden erst in den 1960er Jahren wiederentdeckt. Eines der beiden Fragmente, die Rückansicht eines Giganten, fand man 1962 an der Außenwand eines Wohnhauses im englischen Worksop, die zweite Platte, die einen toten Giganten zeigt (Fawley-Court-Gigant), war in einer neogotischen Ruine in Fawley Court verbaut und wurde 1968 entdeckt. Abgüsse beider Fragmente sind mittlerweile Bestandteil der Berliner Rekonstruktion. Weitere Reisende während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, von denen Besuche in Pergamon bekannt sind, waren beispielsweise der französische Diplomat und Altertumsforscher Comte de Choiseul-Gouffier, der englische Architekt Charles Robert Cockerell sowie die beiden Deutschen Otto Magnus von Stackelberg und Otto Friedrich von Richter. Choiseul-Gouffier schlug als erster Ausgrabungen in Pergamon vor, die anderen drei Reisenden fertigten Zeichnungen von der Akropolis der Stadt an. 1864/65 kam Carl Humann erstmals nach Pergamon. Der deutsche Ingenieur war mit geografischen Untersuchungen beauftragt und besuchte die Stadt in den folgenden Jahren immer wieder. Er setzte sich für den Erhalt der Altertümer auf dem Burgberg ein und versuchte, Partner für eine Ausgrabung zu finden, da er als Privatmann einem solchen Unternehmen nicht gewachsen gewesen wäre. Es fehlten finanzielle und logistische Mittel. Der schnelle Beginn der Grabungsarbeiten war auch deshalb wichtig, weil die damaligen Bewohner Bergamas, wie Pergamon nun hieß, den Altar und die anderen oberirdischen Ruinenstätten als Steinbruch nutzten, Reste der antiken Bebauung plünderten, um neue Gebäude zu errichten, und den Marmor zum Teil zu Kalk brannten. 1871 kamen der Berliner Altphilologe und Archäologe Ernst Curtius und mehrere andere deutsche Forscher auf Einladung Humanns nach Pergamon. Er veranlasste den Versand einiger Fundstücke, darunter zwei Fragmente des Altars, nach Berlin. Die Altarreliefs beschrieb er als „Schlacht mit Männern, Rossen, wilden Thieren“. Zunächst wurden die Stücke zwar ausgestellt, fanden aber nur wenig Beachtung. Erst der 1877 zum Direktor der Skulpturensammlung der Königlichen Museen in Berlin berufene Alexander Conze brachte die Stücke mit der Überlieferung bei Ampelius zusammen und erkannte ihre Bedeutung. Es traf sich gut, dass die deutsche Regierung nach der Reichsgründung 1871 bestrebt war, mit den anderen Großmächten auch kulturell mitzuhalten: Umgehend nahm Conze mit Humann Kontakt auf, der zu der Zeit in der Türkei für ein Straßenbauunternehmen tätig war. Nun ging alles schnell. Die deutsche Regierung kümmerte sich um eine Grabungslizenz in der Türkei, und im September 1878 begannen die von Humann und Conze geleiteten Ausgrabungen. Große Teile der Akropolis wurden bis 1886 untersucht und in den folgenden Jahren auch wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert. Durch ein Abkommen zwischen der osmanischen und der deutschen Regierung kamen die Reliefplatten des Pergamonaltars und einige weitere Stücke ab 1879 nach Berlin und in den Besitz der Antikensammlung. Dabei war man sich auf deutscher Seite sehr wohl bewusst, dass man ein Kunstwerk von seinem angestammten Platz entfernte, und war mit dieser Situation selbst nicht vollständig glücklich: Osman Hamdi war 1881 zum ersten Direktor des Müze-i Humayun ernannt worden. 1884 wurde das osmanische Antikengesetz geändert, um die Ausfuhr von neu gefundenen archäologischen Objekten zu verhindern. Diese Neuregelung betraf auch das deutsche Interesse am Pergamonaltar. Doch anstelle nun die Funde mit dem neuen Museum in Konstantinopel zu teilen, gingen die Deutschen eine Tauschaktion ein und versammelten sämtliche Stücke des Reliefs in Berlin. Der Pergamonaltar in Berlin Zunächst konnten die Stücke nicht in einem angemessenen Ausstellungsrahmen präsentiert werden, sie wurden im überfüllten Alten Museum gezeigt, wobei vor allem der Telephosfries nicht angemessen ausgestellt werden konnte (die einzelnen Platten wurden gegenüber dem Altar nur an die Wand gelehnt). Deshalb wurde eigens ein neues Museum errichtet. Ein erstes „Pergamonmuseum“ wurde 1897 bis 1899 von Fritz Wolff erbaut und 1901 mit der Enthüllung eines Bildnisses Carl Humanns von Adolf Brütt eröffnet. Es war bis 1908 in Benutzung, wurde jedoch nur als Interimslösung angesehen und deshalb auch nur „Interimsbau“ genannt. Ursprünglich waren vier archäologische Museen, darunter ein eigenes Pergamonmuseum, geplant gewesen. Doch musste das erste Museum wegen Fundamentschäden abgerissen werden. Es war ursprünglich auch nur für die Funde vorgesehen, die nicht in den anderen drei archäologischen Museen präsentiert werden konnten, und somit von vornherein zu klein für den Altar. Nach Abriss des Museums wurde der Telephosfries mit anderen Antiken in den Kolonnaden an der Ostseite des Neuen Museums eingemauert, jedoch wurden Fenster zur Betrachtung der Kunstwerke offen gelassen. Der Neubau von Alfred Messel wurde bis 1930 errichtet. Dieses neue Pergamonmuseum präsentierte den Altar in etwa so, wie er auch heute noch ausgestellt wird. Im zentralen Saal des Museums erfolgte eine Teilrekonstruktion und an den umgebenden Wänden wurde der restliche Fries angebracht. Der Telephosfries ist wie im Originalbau über die Freitreppe zu erreichen, er ist jedoch in einer verkürzten Form wiedergegeben. Es ist bis heute unklar, warum beim Bau und der Altarrekonstruktion darauf verzichtet wurde, den Altar komplett zu rekonstruieren. Theodor Wiegand, zu dieser Zeit Museumsdirektor, orientierte sich in seiner Ausstellungskonzeption an den Vorstellungen Wilhelm von Bodes, dem ein großes „Deutsches Museum“ im Stile des British Museums vorschwebte. Dabei war offenbar kein Gesamtkonzept vorhanden und die Präsentation des Altars musste beim Konzept eines großen Architekturmuseums, das exemplarisch Beispiele aller altorientalischen und mediterranen Kulturen versammelte, zurückstehen. Bis zum Kriegsende wurde nur der Ostteil des Museums mit den drei großen Architektursälen „Pergamonmuseum“ genannt. 1939 wurde das Museum kriegsbedingt geschlossen, zwei Jahre später wurden die Reliefs abgenommen und ausgelagert. Bei Kriegsende gelangten die Altarteile, die im Bunker am Berliner Zoo gelagert waren, in die Hände der Roten Armee und wurden als Beutekunst in die Sowjetunion verbracht. Dort wurden sie bis 1958 in den Magazinen der Eremitage in Leningrad gelagert. 1959 wurde ein großer Teil der Sammlung an die DDR zurückgegeben, darunter auch die Altarreste. Unter der Leitung des Museumsdirektors Carl Blümel wurde nur der Altar wieder so präsentiert wie vor dem Krieg. Die anderen Antiken wurden, nicht zuletzt, da das Alte Museum zerstört war, neu geordnet. Im Oktober desselben Jahres wurde das Museum wieder eröffnet. 1982 wurde ein neuer Eingangsbereich geschaffen, der nun einen Museumsbesuch mit dem Pergamonaltar beginnen ließ. Zuvor befand sich der Eingang im Westflügel des Gebäudes, so dass Besucher durch das Vorderasiatische Museum zum Pergamonaltar gelangten. 1990 kamen neun Köpfe des Telephosfrieses ins Pergamonmuseum zurück, die kriegsbedingt in den Westteil Berlins verbracht worden waren. Diese kriegsbedingten Ereignisse hatten alles andere als positive Auswirkungen auf die erhaltenen Altar- und Friesreste. Es stellte sich zudem heraus, dass die früheren Restaurierungen selbst Probleme verursacht hatten: Bügel und Klammern, die einzelne Fragmente miteinander verbanden und auch als Verankerungen der Friese und Skulpturteile in der Wand dienten, waren aus Eisen, das zu rosten begonnen hatte. Der Rost breitete sich aus und drohte, den Marmor von innen zu sprengen. Eine Restaurierung wurde nach 1990 unumgänglich. Von 1994 bis 1996 wurde der Telephosfries aufgearbeitet, der in den 1980er Jahren teilweise nicht zugänglich war. Dem schloss sich die Restaurierung der Gigantomachie unter der Leitung von Silvano Bertolin an. Zunächst wurde der Westteil, anschließend Nord- und Südteil und zuletzt der Ostfries restauriert. Die Restaurierung kostete mehr als drei Millionen Euro. Am 10. Juni 2004 wurde der komplett restaurierte Fries der Öffentlichkeit übergeben. Somit präsentiert sich der Pergamonaltar derzeit in einer nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gestalteten Form. 1998 und erneut 2001 forderte der türkische Kulturminister İstemihan Talay die Rückgabe des Altars und anderer Artefakte. Allerdings hatte die Forderung keinen offiziellen Charakter und wäre nach heutigem Ermessen auch nicht durchsetzbar. Generell schließen die Staatlichen Museen Berlin wie andere Museen in Europa und Amerika mögliche Rückgaben antiker Kunstwerke bis auf wenige Ausnahmen aus. Am ursprünglichen Platz finden sich heute noch der Großteil des Fundaments und einige weitere Reste wie Mauerwerk. Zudem befinden sich in der Türkei auch einige kleinere Friesteile, die erst später gefunden wurden. Bau und Aufbau des Altars Für die Errichtung des Großen Altars wurden der vorgesehenen Platz nach Abriss der älteren Bebauung planiert und die für den Altar bestimmte Terrasse erweitert. Zur besseren Nutzbarkeit wurden mehrere Terrassen angelegt. Wie für ein griechisches Heiligtum üblich, wurde ein in sich geschlossener Bereich geschaffen. Der Weg von der pergamenischen Unterstadt zur Oberstadt führte direkt am heiligen Altarbezirk vorbei, zu dem an der Ostseite ein Zugang bestand. Betrat ein Besucher den Bezirk, sah er in der Antike als erstes die Ostseite des großen Altars, auf der die griechischen Hauptgötter abgebildet waren, und hier zunächst die rechte Seite des Ostfrieses, wo die Götter Hera, Herakles, Zeus, Athene und Ares kämpften. Doch der Blick des Besuchers reichte auch darüber hinaus. Im Hintergrund befand sich nicht nur die Wand einer weiteren Terrasse, an der vermutlich viele Statuen standen; der Betrachter sah auch auf den schon 150 Jahre früher errichteten, schlichten dorischen Athenetempel, der eine Terrasse höher stand. Die Westseite des Altars mit seiner Freitreppe lag trotz des Höhenunterschiedes in derselben Flucht wie der Athene-Tempel. Die Anlage des Altars wurde bei der Umgestaltung der Akropolis also direkt nach der des Athene-Tempel ausgerichtet. Es war wohl so, dass der Altar im direkten Zusammenhang der Umgestaltung des Tempels als Hauptneuanlage und Hauptweihegabe an die Götter entstanden ist. In seiner freien Anlage war der Altar so konzipiert, dass Besucher ihn umschreiten konnten. Dabei ergaben sich zweifelsohne weitere konzeptionelle Blickachsen. Der Altar hat eine fast quadratische Form. Er orientiert sich dabei an ionischen Vorbildern. Für diese war vorgesehen, dass eine Mauer den eigentlichen Opferaltar rechteckig an drei Seiten umschloss. An der offenen Seite war der Altar durch eine Treppe zugänglich. Aus Kultgründen waren solche Altäre meist nach Osten ausgerichtet, so dass der Opfernde den Altar von Westen kommend betrat. Der pergamenische Altar folgt dieser Tradition, steigert sie jedoch ins Monumentale. Der mächtige Unterbau ist 35,64 Meter breit und 33,40 Meter tief und erstreckt sich über fünf Stufen. Die Freitreppe ist fast 20 Meter breit und schneidet in einen fast sechs Meter hohen Unterbau. Der Fundamentkern besteht aus sich kreuzenden Tuffmauern, die wie ein Gitterrost angeordnet sind und damit die Erdbebensicherheit erhöhten. Das Fundament ist heute noch erhalten und in Pergamon zu besichtigen. Der obere sichtbare Aufbau besteht aus einer Sockelzone, einem 2,30 Meter hohen Fries mit Hochreliefplatten sowie einem mächtigen, vorkragenden Gesims. Verwendet wurde hier ein für Pergamon typischer, grau geäderter Marmor von der Insel Marmara. Neben diesem prokonnesischen Marmor, der im Großen Fries, dem Telephosfries und dem Sockel Verwendung fand, wurde im Sockel auch dunkler Marmor mit noch erkennbaren fossilen Einschlüssen (Megalodonten) von Lesbos-Moria verbaut. Der Fries ist insgesamt 113 Meter lang und damit nach dem Parthenonfries der längste erhaltene Fries der griechischen Antike. An der Westseite wird er von einer etwa 20 Meter breiten Treppe unterbrochen, die den Unterbau durchschneidet und zu einem mit Säulen umzogenen Oberbau führt. Zu beiden Seiten der Freitreppe gibt es Vorsprünge (Risalite), die ebenso aufgebaut und verziert sind wie der übrige umlaufende Fries. Der Oberbau hat nur eine relativ geringe Tiefe. Die umgebenden Säulen weisen profilierte Basen und ionische Kapitelle auf. Auf dem Dach standen viele Statuen: Pferde in Viergespannform, Löwengreifen, Kentauren und Götterfiguren sowie unfertige Wasserspeier. Die obere Halle wirkte lichter, da hier die Säulen in einem weiteren Abstand standen. Im inneren Altarhof war ursprünglich eine weitere Säulenhalle geplant, auf die jedoch verzichtet wurde. In Augenhöhe war ein Fries angebracht, der das Leben des mythischen Stadtgründers Telephos zeigte. Obwohl bislang keine Farbreste gefunden wurden, ist anzunehmen, dass der Altar in der Antike bunt bemalt war. Gigantenfries Die Gigantomachie stellt den Kampf der Götter gegen die Kinder der Urgöttin Gaia, die schlangenfüßigen Giganten, dar. Nachdem die neuen Götter unter der Führung des Zeus und unter Mithilfe der Gaia die alten Götter um Kronos entmachtet hatten, wandte sich Zeus entgegen seinen Versprechen gegen mehrere Kinder der Gaia. Deshalb stiftete sie mehrere ihrer Kinder – die Giganten und die Hekatoncheiren – dazu an, die Götter zu stürzen. Den Göttern wurde geweissagt, dass sie nur mit Hilfe Sterblicher siegen könnten. Deshalb nahmen Herakles und Dionysos am Kampf teil, die beide von sterblichen Müttern geboren worden waren. Die Götter sind entsprechend ihrem göttlichen Wesen und mit ihren mythischen Attributen dargestellt. Durch Kraft und Dynamik ausgezeichnete Götter, wie beispielsweise der Göttervater Zeus, werden auf eine solch kraftvolle Weise dargestellt. Dagegen ist Artemis, die eher von der Geschicklichkeit lebt, als Bogenschützin gezeigt. Die Beschreibung der einzelnen Seiten erfolgt immer von links nach rechts. Ostfries Auf der sich dem eintretenden Betrachter zuerst darbietenden Ostseite waren fast alle wichtigen olympischen Götter versammelt. Links beginnt die Darstellung mit der dreigestaltigen Göttin Hekate. Sie kämpft in ihren drei Inkarnationen mit einer Fackel, einem Schwert und einer Lanze gegen den Giganten Klytios. Ihr am nächsten agiert Artemis. Die Göttin der Jagd kämpft ihrer Funktion entsprechend mit Pfeil und Bogen gegen einen Giganten, der möglicherweise Otos sein soll. Ihr Jagdhund tötet einen weiteren Giganten durch einen Genickbiss. Artemis zur Seite kämpft ihre Mutter Leto mit einer Fackel gegen einen tierhaften Giganten, auf Letos anderer Seite kämpft ihr Sohn und Zwillingsbruder der Artemis, Apollon. Auch er ist wie seine Schwester mit Pfeil und Bogen bewaffnet und hat den ihm zu Füßen liegenden Ephialtes erschossen. Von der nächsten Reliefplatte ist nur ein Flügelfragment eines Giganten erhalten, als dessen Gegnerin man Demeter vermutet. Ihr folgt Hera, die auf einem vierspännigen Streitwagen in die Schlacht zieht. Die vier geflügelten Pferde werden als die Personifikationen der vier Winde Notos, Boreas, Zephyros und Euros identifiziert. Zwischen Hera und seinem Vater Zeus kämpft Herakles, der nur noch anhand eines Fragmentes mit einer Tatze seines Löwenfelles identifiziert werden kann. Zeus ist physisch besonders präsent und agil. Er schleudert Blitze und kämpft Regen sendend sowie Wolken zusammenziehend nicht nur gegen zwei junge Giganten, sondern auch gegen den Anführer der Giganten, Porphyrion. Auch das folgende Kampfpaar zeigt eine besonders wichtige Szene des Kampfes. Athene, die pergamenische Stadtgöttin, trennt den Giganten Alkyoneus vom Boden, aus dem die Mutter der Giganten, Gaia, auftaucht. Alkyoneus war der Sage nach solange unsterblich, wie er mit dem Erdboden verbunden blieb, wo er von der Kraft seiner Mutter durchströmt wurde. Den Abschluss der Ostseite bildet der Kriegsgott Ares, der mit einem Zweigespann in die Schlacht fährt. Seine Pferde bäumen sich vor einem geflügelten Giganten auf. Südfries Hier beginnt die Darstellung des Kampfes mit der großen kleinasiatischen Muttergottheit Rhea/Kybele. Sie reitet mit Pfeil und Bogen auf einem Löwen in den Kampf. Links oben ist der Adler des Zeus mit einem Blitzbündel in den Krallen zu sehen. Daneben kämpfen drei Götter gegen einen mächtigen, stiernackigen Giganten. Die erste Göttin ist nicht zu identifizieren, es folgen Hephaistos, der einen Doppelhammer über den Kopf hebt, und ein weiterer, nicht zu identifizierender, kniender Gott, der dem Giganten einen Spieß in den Leib stößt. Es schließen sich die Gottheiten des Himmels an. Eos, Göttin der Morgenröte, reitet in die Schlacht. Sie reißt ihr Pferd zurück und ist mit einer Fackel bewaffnet, die sie nach vorn stößt. Als Nächstes taucht Helios mit seinem vierspännigen Wagen aus dem Meer auf und fährt mit einer Fackel bewaffnet in die Schlacht. Sein Ziel ist ein ihm im Weg stehender Gigant, einen weiteren hat er überrollt. Inmitten ihrer Kinder folgt Theia, die Mutter der Tages- und Nachtgestirne. Neben ihrer Mutter reitet mit dem Rücken zum Betrachter die Mondgöttin Selene auf ihrem Maulesel über einen Giganten hinweg. Im letzten Drittel der Südseite kämpft ein nicht eindeutig zu identifizierender jugendlicher Gott, der möglicherweise Aither darstellen soll. Er hält einen Giganten – möglicherweise Leon – mit Schlangenbeinen, Menschenkörper, Löwenpranken und Löwenkopf im Würgegriff. Der nächste Gott trägt sichtbare Alterszüge. Es wird vermutet, dass es sich um Uranos handelt. Zu seiner Linken ist seine Tochter Themis, die Göttin der Gerechtigkeit, dargestellt. Am Ende – oder Anfang, je nach Sichtweise – befinden sich die Titanin Phoibe mit einer Fackel und ihre Tochter Asteria mit einem Schwert. Beide werden von einem Hund begleitet. Nordrisalit der Westseite Am Nordrisalit des Altars sind die Meeresgottheiten versammelt. Am Kopfende kämpfen Triton, dargestellt mit menschlichem Oberkörper, Flügeln, Fischleib und Pferdevorderbeinen, sowie seine Mutter Amphitrite gegen mehrere Giganten. Am Aufgang zum Altar, begrenzt von den Treppenspuren, sind die Paare Nereus und Doris sowie Okeanos und die fast nicht mehr vorhandene Tethys im Kampf dargestellt. Südrisalit der Westseite Am Südrisalit sind mehrere Naturgottheiten und mythologische Wesen versammelt. An der Frontseite greift Dionysos, begleitet von zwei jugendlichen Satyrn, in den Kampf ein. Ihm zur Seite steht seine Mutter Semele, die einen Löwen in den Kampf führt. An der Treppe sind drei Nymphen dargestellt. Hier ist auch die einzige bekannte Künstlerinschrift THEORRETOS am Gesims gefunden worden. Nordfries An der Stelle, wo der Nordfries an den Ostfries anschließt, beginnt Aphrodite den Reigen der Götter an dieser Seite und befindet sich damit, da man den Fries ohne Kanten sehen muss, an der Seite ihres Liebhabers Ares. Die Göttin der Liebe zieht eine Lanze aus einem getöteten Giganten. Neben ihr kämpfen ihre Mutter, die Titanin Dione, und ihr Sohn Eros. Die beiden nächsten Figuren sind in der Deutung nicht ganz sicher. Wahrscheinlich sind hier die Zwillinge Kastor und Polydeukes, also die Dioskuren, dargestellt. Kastor wird von hinten von einem Giganten gepackt und in den Arm gebissen, woraufhin ihm sein Bruder zur Hilfe eilt. In diesen beiden Figuren können auch die Aressöhne Phobos („Angst“) und Deimos („Schrecken“) gesehen werden. Die anschließende Gruppe von drei Kampfpaaren wird dem Gefolge des Kriegsgottes Ares zugeordnet. Wer dargestellt ist, ist unklar. Zunächst holt ein Gott mit einem Baumstamm aus, in der Mitte stößt eine geflügelte Göttin ihr Schwert in einen Gegner und zum Schluss kämpft ein Gott gegen einen gepanzerten Giganten. Die darauf folgende Gottheit wurde lange Zeit als Nyx identifiziert, mittlerweile geht man jedoch davon aus, dass es eine der Erinnyen, der Rachegöttinnen, ist. Andere Forscher tendieren dazu, in ihr Klotho oder Persephone zu erkennen. Sie hält ein von Schlangen umwundenes Gefäß schleuderbereit in der Hand. Als nächstes kämpfen weitere Personifikationen. Die drei Moiren (Schicksalgöttinnen) erschlagen mit Bronzekeulen die Giganten Agrios und Thoas. Die vorletzte Kampfgruppe zeigt eine „Löwengöttin“, die man als Keto deutet. Diese Gruppe folgt nicht direkt auf die Moiren, es gibt eine Lücke, die ein weiteres Kampfpaar vermuten lässt. Hier werden die Graien, Kinder der Keto, vermutet. Keto war Mutter mehrerer Ungeheuer, so auch eines Wals (griechisch: „Ketos“), der links zu ihren Füßen auftaucht. Den Abschluss der Seite bildet der Meeresgott Poseidon, der mit einem Seepferdgespann aus dem Meer auftaucht. Hier schließt sich der Nordrisalit mit den Meeresgottheiten an. Telephosfries Da im Innenbereich des Altars nur ein begrenzter Platz zur Verfügung stand, wurde für den Telephosfries im Innenraum eine weniger tiefe Reliefierung gewählt als beim Gigantenfries. Auch war der Fries mit 1,58 Meter von geringerer Höhe und in seiner Anlage kleinteiliger. Von der ursprünglichen Bemalung des Fries sind keine nennenswerten Reste erhalten. Technisch hatte er einige Neuheiten der Entstehungszeit zu bieten. Die Figuren wurden in der Tiefe gestaffelt, architektonische Elemente deuten Handlungen in geschlossenen Räumen an und die Landschaftsdarstellungen wirken idyllisch. Diese neue Darstellungsweise der Raumverhältnisse sollte für den Späthellenismus und die römische Zeit prägend sein. Nach der Restaurierung Mitte der 1990er Jahre wurde festgestellt, dass die bislang angenommene chronologische Aufstellung nicht in allen Fällen richtig war. Deshalb wurden die Platten neu angeordnet. Die Nummerierung der 51 im Pergamonmuseum befindlichen Reliefplatten wurde jedoch nach altem Muster beibehalten. Die Neusortierung ergab beispielsweise, dass die bislang angenommene erste Platte nun hinter Platte 31 angeordnet wurde. Nicht alle Platten sind erhalten, so dass es einige Lücken in der Darstellung der Geschichte gibt. Der Fries erzählt in chronologischer Reihenfolge die auch aus schriftlichen Quellen überlieferte Geschichte des Telephos, eines Heroen der griechischen Mythologie. Statuenbesatz Auf dem Dach des Altars stand eine unbekannte Anzahl kleinerer Götterstatuen, Pferdegespanne, Kentauren und Löwengreifen, deren Funktion und Anordnung von den Archäologen bis heute nicht eindeutig geklärt werden konnten. Auch fand sich an der Nordmauer des Altarbezirkes ein 64 Meter langes Postament, das reich mit Statuen geschmückt war. Es ist bis heute unklar, wie umfangreich die Ausstattung mit Bronze- und Marmorstatuen im Altarbereich war. Doch war sie außergewöhnlich reichhaltig und zeugte von dem großen, durch die Stifter betriebenen Aufwand. Über dem Gigantenfries befand sich in der zweiten Etage, die auch den Telephosfries beherbergte, eine umlaufende Säulenhalle. Zwischen den Säulen standen möglicherweise weitere Statuen, wofür der Fund von etwa 30 Frauenskulpturen sprechen könnte. Vielleicht personifizierten sie die Städte des pergamenischen Reiches. Auf dem eigentlichen Opferherd werden keine Statuen oder anderer Besatz vermutet, möglicherweise wurde jedoch in römischer Zeit ein Baldachin errichtet. Beziehungen zu anderen Kunstwerken An vielen Stellen kann man am Altarfries Vorbilder anderer griechischer Kunstwerke erkennen. So erinnert Apollon in seiner idealisierten Haltung und Schönheit an eine schon in der Antike berühmte, etwa 150 Jahre vor dem Fries entstandene klassische Statue des Bildhauers Leochares, die möglicherweise in einer Kopie aus römischer Zeit, dem Apollo von Belvedere, überliefert ist. Die Hauptgruppe aus Zeus und Athene erinnert in ihrer Darstellung der auseinanderstrebenden Kämpfer an die Darstellung des Kampfes zwischen Athene und Poseidon am Westgiebel des Parthenon. Diese Rückgriffe sind nicht zufällig, da sich Pergamon als eine Art neues Athen sah. Der Fries selbst hatte auch Einfluss auf die nachfolgende antike Kunst. Bekanntestes Beispiel ist die schon erwähnte Laokoon-Gruppe, die, wie Bernard Andreae glaubte nachweisen zu können, etwa zwanzig Jahre nach dem Relief in Pergamon geschaffen wurde. Die Künstler der Statuengruppe standen laut Andreae noch in direkter Tradition der Schöpfer des Reliefs oder waren möglicherweise gar an der Friesschöpfung beteiligt. Künstler Es ist eine viel diskutierte, aber bislang ungeklärte Frage, wie viele Künstler an der Schaffung des Gigantenfrieses mitwirkten. Ebenso umstritten ist, inwieweit die Persönlichkeit einzelner Künstler im Kunstwerk wiederzufinden ist. Unbestritten ist, dass zumindest der Entwurf des Frieses von nur einem einzelnen Künstler stammt. Dieser Entwurf muss, bei Sicht auf die bis in Details stimmige Arbeit, akribisch ausgearbeitet gewesen sein; nichts ist dem Zufall überlassen. Schon in der Anlage der Kampfgruppen fällt auf, dass nicht zwei dieser Gruppen identisch sind und beispielsweise die Frisuren und das Schuhwerk der Göttinnen in allen Fällen variieren. Alle Kampfpaare sind individuell zusammengestellt. Somit erschließt sich ein selbständiger Charakter eher aus den geschaffenen Figuren selbst als aus den persönlichen Stilen der Künstler. In der Forschung wurden bislang zwar durchaus Unterschiede festgestellt, die auf verschiedene Künstler zurückgehen, doch bei der Stimmigkeit des Gesamtwerkes ist es beachtlich, dass diese Unterschiede bei der Gesamtbetrachtung nahezu nicht ins Gewicht fallen. Künstler aus vielen Teilen Griechenlands haben sich demnach dem Entwurf eines einzelnen leitenden Künstlers unterworfen. Dies belegen beispielsweise Inschriften von Künstlern aus Athen und Rhodos. Die Bildhauer durften den von ihnen gestalteten Abschnitt des Frieses an der unteren Fußleiste signieren, doch sind nur wenige dieser Inschriften überliefert. Somit kann daraus kein Rückschluss auf die Anzahl der beteiligten Künstler gezogen werden. Nur eine Inschrift vom Südrisalit ist so überliefert, dass sie zugeordnet werden kann. Da es hier keine Fußleiste gab, wurde der Name, Theorretos (), nahe der dargestellten Gottheit eingemeißelt. Bei der Betrachtung der Inschriften wurde anhand des Schriftbildes festgestellt, dass es eine ältere und eine jüngere Bildhauergeneration gab, weshalb die Stimmigkeit des Gesamtwerks umso höher einzuschätzen ist. Anhand des Abstandes von 2,7 Meter von der vorhandenen Signatur und der dazugehörenden -Inschrift ( – „hat es gemacht“) wird vermutet, dass hier möglicherweise noch eine weitere Bildhauer-Signatur vorhanden war. Wenn dem so wäre, kann man bei einer Hochrechnung mit mindestens 40 beteiligten Bildhauern rechnen. Die längere Stirnseite des Risalits wurde von zwei Bildhauern signiert, deren Namen jedoch nicht mehr erhalten sind. Rezeption Das Deutsche Reich, das die Ausgrabungen nicht zuletzt aus Prestigegründen förderte, begann schnell, den Altar und andere archäologische Zeugnisse zu vereinnahmen. Die „Jubiläumsausstellung der Berliner Akademie der Künste“ im Mai und Juni 1886 widmete sich auf einem 13.000 Quadratmeter großen Gelände den archäologischen Errungenschaften der jüngsten Ausgrabungen in Olympia und Pergamon. Da der griechische Staat keine Genehmigung zur Ausfuhr der Kunstschätze gegeben hatte, konnte jedoch kein Fundmaterial aus Griechenland gezeigt werden. Dafür entstand der Nachbau eines „Tempel von Pergamon“. Auf einem maßgenauen Nachbau der Westfront des Altarsockels mit ausgewählten Kopien der Friese – darunter Zeus- und Athene-Gruppe – wurde ein dem Zeustempel von Olympia nachempfundener Eingangsbereich für ein Gebäude errichtet. Zur Ausstellung gehörte ein nach dem damaligen Wissensstand gefertigtes Modell der Stadt Pergamon im 2. nachchristlichen Jahrhundert. Wohl das augenfälligste Beispiel für die Rezeption des Altars ist das Museum selbst, in dem sich der Altar heute befindet. Die Anlage des nach Plänen Alfred Messels von 1912 bis 1930 erbauten Pergamonmuseums beruht auf der ins Gigantische übersteigerten Form der Vorderfront des Altars. Für die weitere Betrachtung, ja für die Beschäftigung mit dem Kunstwerk an sich, wurde die Rekonstruktion im Pergamonmuseum bedeutend. Hier wurde nicht die antike Hauptseite im Osten für die Teilrekonstruktion des Baus genutzt, sondern die gegenüber liegende Westseite mit der Treppe. Diese Rekonstruktion inklusive der Anbringung der restlichen Friese an den übrigen Wänden des zentralen Ausstellungsraumes wurde nicht unkritisch gesehen. Kritiker sprachen von einem „umgestülpten Ärmel“ und von „Theatralik“. Im nationalsozialistischen Deutschland diente später diese Form der Architektur als Vorbild. Wilhelm Kreis wählte für seine Soldatenhalle beim Oberkommando des Heeres in Berlin (1937/38) und ein Kriegerehrenmal am Fuß des Olymp in Griechenland eine Bauform, die große Ähnlichkeit mit dem Pergamonaltar aufwies – beide wurden nie realisiert. Bei der Soldatenhalle sollte der Fries jedoch auf die Frontseite des Risalits beschränkt werden. Die Friese des Bildhauers Arno Breker kamen allerdings nie zur Ausführung. Der Rückgriff auf diese Architekturform hatte nicht zuletzt mit den ideologischen Vorstellung der Nationalsozialisten zu tun. Ein Altar erinnerte an Opferbereitschaft und Heldentod. Sowohl der Pergamonaltar als auch diese beiden über den Entwurf nicht hinausgekommenen Zeugnisse nationalsozialistischer Architektur waren „Kultbauten“. Auch die Botschaft des Altarfrieses vom Sieg des Guten über das Böse versuchten sich die Nationalsozialisten so zu eigen machen. Der Pergamonaltar diente auch als Vorbild für die von 1935 bis 1937 nach einem Entwurf von Albert Speer in Nürnberg auf dem Reichsparteitagsgelände an der nordöstlichen Seite des Zeppelinfeldes errichtete Zeppelinhaupttribüne mit einer Länge von 360 Metern und einer Höhe von 20 Metern. Peter Weiss beginnt seinen Roman Die Ästhetik des Widerstands mit einer eindrucksvollen Schilderung des Reliefs. Es ist der bedeutendste Niederschlag des Altars in der belletristischen Literatur. Weiss versucht nicht nur, den Fries in seiner eigentlichen Bedeutung zu interpretieren, sondern lässt seine Protagonisten aus dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit Hilfe von Kunstwerken ihre eigenen Standpunkte ergründen. Den an realen Personen orientierten Romanfiguren Heilmann und Coppi, beide junge Gegner des NS-Regimes, erscheint 1937 der Kampf der Götter gegen die Giganten als verborgene Darstellung der Kämpfe des Pergamon-Reiches. Sie fragen sich, mit welchen Gefühlen die Unterworfenen und Untertanen an dieser zum steinernen Mythos gewordenen Niederlage vorbeigeschritten sein mögen. „Aus der Unterwerfung der vom Norden eindringenden gallischen Völker war ein Triumph adliger Reinheit über wüste und niedrige Kräfte geworden, und die Meißel und Hämmer der Steinmetzen und ihrer Gesellen hatten das Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt.“ Wo die Herrschenden und die Wissenden das Kunstwerk erblickten, hätten die Unterdrückten das Abbild ihrer eigenen Verletzungen und Niederlagen gesehen, „spürten den Schlag der Pranke ins eigene Fleisch“. Der zum Mythos stilisierte Krieg sei der Kampf der Könige um die Herrschaft gewesen. Die Widerstandskämpfer identifizieren sich mit den geschlagenen Söhnen der Erde, demaskieren die Göttlichkeit als Maske der Herrschenden. Im Rückgriff wird die Betrachtung auch auf die Entstehung, die Geschichte bis zur Wiederauffindung und die Rekonstruktion im Museum ausgedehnt. Für einige Missstimmung in der Presse und Teilen der Bevölkerung sorgte die Nutzung des Pergamonaltars als Kulisse für die Bewerbung der Stadt Berlin um die Olympischen Sommerspiele 2000. Der Senat von Berlin hatte die Mitglieder des IOC-Exekutivkomitees zu einem Essen vor dem Altar eingeladen. Das weckte Erinnerungen an die Bewerbung Berlins um die Spiele 1936. Auch damals lud der nationalsozialistische Innenminister Wilhelm Frick die Mitglieder des IOC zu einem Essen vor dem Altar ein. Im April 2013 wurde die 30 × 4 Meter große Fotoinstallation Pergamon 2nd Life („Das zweite Leben des Pergamonaltars“), eine fiktive, künstlerisch inspirierte Rekonstruktion der fehlenden Teile des Gigantenfrieses, im Puschkin-Museum in Moskau erstmals öffentlich ausgestellt. Literatur (chronologisch geordnet) Heinz Kähler: Der grosse Fries von Pergamon. Untersuchungen zur Kunstgeschichte und Geschichte Pergamons. Mann, Berlin 1948, . Michael Pfanner: Bemerkungen zur Komposition und Interpretation des Großen Frieses von Pergamon. In: Archäologischer Anzeiger. 1979, S. 46–57. Max Kunze, Volker Kästner: Antikensammlung II. Der Altar von Pergamon. Hellenistische und römische Architektur. 2. Auflage. Henschelverlag, Berlin 1990, ISBN 3-362-00436-9. Bernard Andreae: Laokoon und die Kunst von Pergamon. Die Hybris der Giganten. Fischer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10743-1. Hans-Joachim Schalles: Der Pergamon-Altar zwischen Bewertung und Verwertbarkeit. Fischer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-23935-4. Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin (Hrsg.): Die Antikensammlung im Pergamonmuseum und in Charlottenburg. von Zabern, Mainz 1992, ISBN 3-8053-1187-7, S. 21–63. Max Kunze: Der Pergamonaltar. Seine Geschichte, Entdeckung und Rekonstruktion. von Zabern, Mainz 1995, ISBN 3-8053-1468-X. Mechthild Amberger-Lahrmann: Anatomie und Physiognomie in der hellenistischen Plastik. Dargestellt am Pergamonaltar. (= Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1996, Nr. 10). Steiner, Stuttgart 1996, ISBN 3-515-06978-X. Wolf-Dieter Heilmeyer (Hrsg.): Der Pergamonaltar. Die neue Präsentation nach Restaurierung des Telephosfrieses. Wasmuth, Tübingen 1997, ISBN 3-8030-1045-4. Wolfgang Radt: Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole. Primus, Darmstadt 1999, ISBN 3-89678-116-2, S. 168–179. Christoph Michels: Der Pergamonaltar als „Staatsmonument“ der Attaliden. Zur Rolle des historischen Kontextes in den Diskussionen über Datierung und Interpretation der Bildfriese. Europäischer Univ.-Verl., Berlin 2004, ISBN 3-86515-227-9. Huberta Heres, Volker Kästner: Der Pergamonaltar. von Zabern, Mainz 2004, ISBN 3-8053-3307-2 (2. Auflage: von Zabern, Mainz 2018, ISBN 978-3-8053-5144-7). François Queyrel: L’Autel de Pergame. 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De Gruyter, Berlin 2020, ISBN 978-3-11-059814-8. Weblinks Der Große Altar von Pergamon in der Online-Datenbank der Staatlichen Museen zu Berlin Der Pergamonaltar 3D – Online-Viewer auf der Website der Staatlichen Museen zu Berlin Short Visit: Pergamonaltar – Onlineausstellung bei Google Arts & Culture Was geschah in Pergamon? Zur Entstehung und Ausgrabung des Pergamonaltars – Onlineausstellung bei Google Arts & Culture Einzelnachweise Pergamon Heiligtum (antikes Griechenland) Archäologischer Fund (Türkei) Altar Pergamonmuseum Museumsbestand (Antikensammlung Berlin) Erbaut im 2. Jahrhundert v. Chr. Skulptur (2. Jahrhundert v. Chr.)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gastornis
Gastornis
Gastornis ist eine ausgestorbene Gattung großer, flugunfähiger Vögel aus der näheren Verwandtschaft der Gänsevögel. Sie war vom Mittleren Paläozän bis zum Mittleren Eozän vor 62 bis 43 Millionen Jahren sowohl im heutigen Eurasien als auch in Nordamerika verbreitet. Die ersten Fossilien der Gattung Gastornis wurden 1855 nahe Paris entdeckt und noch im selben Jahr erstbeschrieben. Die ältesten nordamerikanischen Funde stammen aus dem Jahr 1876 und wurden ursprünglich zur Gattung Diatryma gestellt. Über lange Zeit galten beide Gattungen als eigenständig, wofür zum Teil eine fehlerhafte Rekonstruktion aus dem Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich war. Erst Anfang der 1990er-Jahre wurde erkannt, dass Diatryma und Gastornis nahe miteinander verwandt sind, neue Knochenfunde aus Frankreich führten schließlich zu Synonymisierung von Diatryma mit Gastornis. Über lange Zeit wurde Gastornis als wendiger, auf Fleischnahrung spezialisierter Beutegreifer angesehen, der hauptsächlich Jagd auf kleinere Säugetiere machte und in Verbindung mit seiner Größe, die bis knapp über 2 m betrug, einen Spitzenprädator seiner Zeit repräsentierte. Die Ansicht ging einher mit einem den südamerikanischen „Terrorvögeln“ (Phorusrhacidae) ähnelnden Skelettbau, der anhand eines nahezu vollständigen, 1916 entdeckten Skelettfundes aus Wyoming erarbeitet wurde. Teilweise beruhte diese Ähnlichkeit aber auf fehlerhaften Annahmen zur Länge einzelner Knochen im Fußskelett. Erst in den 1970er-Jahren konnte durch Neufunde von Fußknochen das Bild des wendigen Läufers korrigiert werden. Demnach stellte Gastornis aufgrund des Körperbaus einen sich eher langsam fortbewegenden, bodenbewohnenden Vogel dar. Die Ernährungsweise war lange Zeit ungeklärt. Neben der Spezialisierung auf Fleischnahrung wurde immer wieder eine rein pflanzliche Ernährung diskutiert, die sich vorwiegend aus anatomischen Erwägungen wie der Größe des Tiers und dem Bau des Schnabels ergab. Mehrere unabhängige Untersuchungen aus dem Jahr 2013 bestätigen vorerst die Ansicht der Spezialisierung auf Pflanzennahrung. Merkmale Habitus Gastornis war ein sehr großer und robust gebauter, flugunfähiger Vogel, der eine Scheitelhöhe von 1,75 bis etwas über 2 m erreichte. Dabei waren europäische Vertreter im Durchschnitt etwas kleiner als nordamerikanische. Das Körpergewicht betrug für die frühen Formen in Europa schätzungsweise etwa 100 kg, bei späteren zwischen 135 und 156 kg, teilweise auch bis 180 kg. Gewichtsspannen für die durchschnittlich größeren Individuen aus Nordamerika reichen von 160 bis 229 kg. Damit war er einer der größten und schwersten bekannten Vögel. Besondere Merkmale der Vertreter von Gastornis stellten der große Kopf mit einem mächtigen Schnabel, der kurze, aber kräftige Hals und die massiven Beine dar, deren untere Abschnitte eher kurz gestaltet waren. Wie bei den heutigen großen flugunfähigen Vögeln wiesen die Flügel in ihrer Länge stark reduzierte Knochen auf. Schädel und Schnabel Der Schädel war sehr groß und maß bei einem vollständigen Exemplar 43 cm, der mächtige Schnabel nahm davon 23 cm ein. Dieser war zudem sehr hoch, insgesamt 16,5 cm, und seitlich stark verschmälert. Die Schnabeloberseite wies eine deutlich konvexe Krümmung auf, während die Schnabelspitze nicht hakenartig verlängert war. Vor allem durch letzteres Merkmal unterscheidet sich Gastornis deutlich von den ähnlich gebauten Phorusrhacidae („Terrorvögel“). Die äußeren Nasenlöcher befanden sich etwa 5 cm vor der Orbita und nahe der Unterkante des Schnabels. Sie waren klein und nach vorn gerichtet. Auch hier bestehen Unterschiede zu den Phorusrhaciden, deren Nasenlöcher häufig direkt am Augenfenster ansetzen. Die Orbita selbst war von einem kräftigen und prominent erhöhten Wulst umgeben. Das für Vögel typische Quadratbein zeichnete sich durch seine Größe aus, war aber insgesamt eher kurz und gedrungen. Die Jochbeinbögen wiesen ebenfalls einen kurzen Bau auf und verliefen in einer S-Kurve. Der gesamte hinter den Augenfenstern ansetzende Hinterschädel besaß im Gegensatz zum massiven Schnabel nur eine geringe Ausdehnung. Der Unterkiefer war massiv, bis zu 38 cm lang und am Knochenkörper mit bis zu 10 cm sehr hoch. Beide Unterkieferhälften waren durch die Symphyse im vorderen Bereich fest miteinander verwachsen, das vordere Ende lief spitz aus. Die Verbindung reichte teils über eine Länge von 18 cm und nahm so fast die Hälfte der Gesamtlänge des Unterkiefers ein, was für Vögel ungewöhnlich ist. Körperskelett Die Wirbelsäule ist nicht vollständig bekannt, allgemein zeichneten sich die Wirbel aber durch ihre Robustheit und ihren kurzen Wirbelkörper aus. Der Hals wurde aus 13 oder 14 Wirbeln gebildet. Am Rücken befanden sich sieben rippentragende Wirbel. Die dort ansetzenden Rippen waren dünn und weit gebogen. Der Schwanz umfasste zehn oder mehr Wirbel. Die Vordergliedmaßen waren stark verkümmert. Typisch für flugunfähige Vögel war der stumpfe Winkel zwischen Schulterblatt und Rabenbein, der 180° erreichte, ähnlich wie bei den zweibeinig laufenden Dinosauriern mit verkürzten Vordergliedmaßen, aber im Gegensatz zu den flugfähigen Vögeln, bei denen der Winkel unter 90° liegt. Die Hinterbeine dagegen waren äußerst kräftig ausgebildet. Der Oberschenkelknochen erreichte über 38 cm Länge und war am unteren Gelenkende gut 10 cm breit. Der Tibiotarsus maß fast 60 cm und wies einen geraden Schaft auf. Das Wadenbein wirkte demgegenüber sehr grazil. Mit rund 25 cm Länge sehr kurz und eher breit war der Tarsometatarsus gestaltet. Die Beine endeten in vierstrahligen Füßen, von denen drei Strahlen nach vorn (II bis IV) ragten und einer (I) nach hinten stand. Von den drei nach vorn weisenden Zehen besaß der mittlere (III) die größte Länge, was unterschiedlich zu den ebenfalls riesigen Moas mit drei gleich langen Strahlen ist. Der kürzeste Strahl war der nach hinten zeigende. Die Endphalangen wiesen eine nur kurze Form und einen dreieckigen Querschnitt auf. In der Längsansicht waren sie nur wenig gekrümmt, was sie wiederum von den Phorusrhaciden unterscheidet. Biogeographie Fossilfunde Gastornis ist sowohl in Europa als auch in Nordamerika nachgewiesen. Die europäischen Funde datieren in die Zeit vom Mittleren Paläozän bis zum Mittleren Eozän vor 62 bis etwa 41 Millionen Jahren. Zu den ältesten Nachweisen gehören die spärlichen Überreste von Walbeck im westlichen Sachsen-Anhalt, die in das Seelandium vor rund 60 Millionen Jahren datieren. Unter ihnen befindet sich unter anderem ein 7 cm langes Rabenbein. Die umfangreichsten Funde des Kontinents sind aus dem Geiseltal bekannt. Sie umfassen mehr als drei Dutzend Fundobjekte, darunter größtenteils Reste der Laufbeine und des Beckens, aber auch Flügelknochen und Teile des Schädels wie dem Unterkiefer. Sie können insgesamt neun Individuen zugewiesen werden und verteilen sich über die Unterkohle bis zur Oberen Mittelkohle der Fundstelle, datieren somit ins Mittlere Eozän vor rund 47 bis 43 Millionen Jahren. Die Funde der oberen Mittelkohle sind gleichzeitig die jüngsten Gastornis-Funde überhaupt. Gleich alt zur Geiseltaler Unterkohle ist ein singulärer Fund in Form eines etwa 30 cm langen Oberschenkelknochens aus der Grube Messel in Hessen, der sich in einer Gesteinsknolle befand. Er war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts während des Bergbaubetriebs gefunden worden, konnte aber erst in den 1960er Jahren sicher zugewiesen werden. Dagegen sind vom Mont-de-Berru bei Reims im Ostteil des Pariser Becken wiederum zahlreiche Reste bekannt. Sie sind etwas jünger als jene von Walbeck und repräsentieren unter anderem zahlreiche Laufbeinreste. Ein Unterkiefer von der gleichen Lokalität ist mit 31 cm Länge noch deutlich kleiner als derjenige der späteren Vertreter. Aus der gleichen Region und ebenfalls dem ausgehenden Paläozän angehörend kamen Funde, vor allem Reste des Bewegungsapparates, aus Louvois zu Tage. Zu den südlichsten europäischen Resten sind des Weiteren einige Beinknochen, Wirbel und ein 18 cm langer und 17 cm hoher Rest eines Oberschnabels aus Saint-Papoul im Département Aude im südlichen Frankreich zu rechnen. Darüber hinaus fanden sich Fossilien von Gastornis in London und in Belgien. Die bekannten nordamerikanischen Funde sind alle dem Unteren Eozän vor 56 bis 49 Millionen Jahren zuzuweisen und verteilen sich auf über 50 Fundstellen. Hervorzuheben ist dabei eines der wenigen vollständigen Skelette, das rekonstruiert bis zu 2,1 m hoch ist. Dieses stammt aus dem Bighorn-Becken im US-Bundesstaat Wyoming. Es wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt und ist das Resultat zahlreicher vorangegangener, tiefgründiger Untersuchungen, bei denen schon zuvor einige Bein- und Fußknochen zum Vorschein gekommen waren. Aus dem gleichen Becken stammt aus der Willwood-Formation eine größere Kollektion, die auch Schädel- und Beinreste sowie Wirbelfunde beinhaltet. Weitere Funde kamen darüber hinaus in New Mexico zum Vorschein. Hier ist vor allem ein Tarsometatarsus von Bedeutung, der im Jahr 1876 zur Aufstellung der Gattung Diatryma führte. Wenige Knochenreste konnten auch aus der untereozänen Margaret-Formation auf Ellesmere Island im arktischen Norden Kanadas beschrieben werden. Diese stellen die nördlichsten bekannten Funde von Gastornis überhaupt dar. Aus Asien sind nur wenige Reste bekannt, die ebenfalls ein untereozänes Alter aufweisen. Hierzu gehört ein unteres Ende eines großen Tibiotarsus aus der Yuhuangding-Formation in der chinesischen Provinz Henan. Dieser wurde 1980 als zur nahe mit Gastornis verwandten Gattung Zhongyuanus beschrieben, eine Revision im Jahr 2013 ergab aber keine bedeutenden morphologischen Unterschiede zu Gastornis. Weichteile, Eier und Spurenfossilien Neben fossilen Knochenresten sind nur wenige Überbleibsel des Weichteilgewebes bekannt. Bereits in den 1920er Jahren waren Federfunde vom Loan Creek im westlichen US-Bundesstaat Colorado beschrieben worden, die gut 20 cm lang waren und aus der Green-River-Formation stammten. Diese erwiesen sich nach genaueren Untersuchungen als Reste von Pflanzenfasern. Tatsächliche Federn, in Form unter anderem eines 24 cm langen Exemplars, kamen dagegen im Fossil Butte Member, ebenfalls der Green-River-Formation zugehörig, zutage. Da aber weitere fossile Überreste fehlen, können sie aufgrund ihrer Größe nur bedingt Gastornis zugewiesen werden. In der Provence und im Languedoc im südöstlichen und südlichen Frankreich wurden in Ablagerungen des Oberen Paläozäns (Thanetium) und des Unteren Eozäns (Sparnacium), zahlreiche fragmentierte Eier gefunden, deren Entdeckung bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Die Eierschalen waren bis zu 3,1 mm dick. Einige wenige, teils vollständig erhaltene Eier erreichten Dimensionen von 24 × 15 cm, womit sie größer als jene des Straußes (Struthio), aber kleiner als die der madagassischen Elefantenvögel (Aepyornis) sind. Einige andere Eier besaßen sogar Durchmesser von bis zu 40 cm. Anhand der Kurvatur großer Schalenfragmente konnte für einzelne Eier ein Volumen von bis zu 1300 cm³ berechnet werden, das ursprüngliche Gewicht betrug wohl 1,4 kg. Da die Eierschalen von unterschiedlicher Größe und Struktur sind, werden sie als Hinterlassenschaften verschiedener Vogelarten gedeutet, die, da kein weiteres Fossilmaterial vorliegt, dem Oogenus Ornitholithus zugewiesen werden, wobei Ornitholithus arcuatus die größere Art darstellt und mit Gastornis übereinstimmen könnte. Die nächstgelegene Fundstelle mit Gastornis-Resten liegt mit Saint-Papoul nur einige Dutzend Kilometer entfernt. Allerdings ist es durchaus möglich, dass auch andere frühe Vögel, etwa der straußartige Palaeotis, einen Teil der Eier gelegt haben könnten. Weitere Funde von Eierschalen, die dem gleichen Oogenus zugewiesen werden, stammen aus der Tremp-Formation im nordöstlichen Spanien. Zu den ebenfalls seltenen Funden gehören Spurenfossilien. In der Chuckanut-Formation im Nordwesten des US-Bundesstaates Washington wurden in untereozänen Sandsteinlagen eingetiefte Trittsiegel eines großen Vogels mit drei nach vorn weisenden Zehen gefunden. Die größten Siegel haben Längen von 28,5 und Breiten von 24,5 cm. Aufgrund der Größe der Fußspuren kann Gastornis als Verursacher angesehen werden. Da keine weiteren Fossilien vorliegen, werden sie aber der Ichnospezies Rivavipes giganteus zugewiesen. Bereits zuvor war aus dem King County des gleichen Bundesstaates über eine ähnliche, aber singuläre Spur berichtet worden, die dem Mittleren bis Oberen Eozän angehört und damit außerhalb der zeitlichen Reichweite von Gastornis in Nordamerika liegt. Heute wird diese Spur als Pseudofossil angesehen. Auch aus Europa, aus Gipsablagerungen von Montmorency nördlich von Paris, wurden fossile Spuren großer Vögel bekannt und mit Gastornis in Verbindung gebracht. Sie gehören allerdings dem Oberen Eozän an, wofür es keine Nachweise dieser Vogelgattung in Europa gibt. Paläobiologie Ernährungsweise Die Ernährungsweise von Gastornis war und ist Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Bereits sehr früh schlossen Wissenschaftler aus dem mächtigen und sehr kräftigen Schnabel, dass es sich bei Gastornis vermutlich um einen Fleischfresser gehandelt haben muss. Dieser entwickelte sich konvergent zu den südamerikanischen, heute ebenfalls ausgestorbenen Phorusrhacidae („Terrorvögel“), bei denen sich unter anderem ein ähnlich gearteter Schnabel findet. Beide Linien entstanden demzufolge unabhängig voneinander nach dem Aussterben der Dinosaurier vor rund 65 Millionen Jahren und besetzten die dadurch frei gewordene Nische der großen Beutegreifer. Untersuchungen zur Biomechanik des Unterkiefers in Verbindung mit der massiven Symphyse und dem mächtigen Oberkiefer ergaben, dass der Schnabel und die Kiefergelenke darauf ausgelegt waren, eine hohe Beißkraft zu entwickeln, vor allem im hinteren Teil des Schnabels. Dabei hielt die Symphyse großen, sowohl quer als auch vertikal wirkenden Beanspruchungen stand. Die daraus resultierende Kraft, so wurde errechnet, reichte aus, um jede bekannte Nuss zu knacken. Für eine rein pflanzliche Ernährung wurde der Schnabel daher als zu gut ausgestattet angesehen, auch wenn er im Bau jenen von Papageien und anderen Samen- und Nussfressern ähnelt. Er diente nach dieser Ansicht somit dem Beutefang, dem Zerfleischen von Aas und dem Zerbrechen von Knochen oder von Krustentieren. Als Nahrungsgrundlage dienten demnach kleinere Säugetiere wie das unter anderem im Geiseltal häufig auftretende Propalaeotherium, aber auch kleinere Reptilien und Weichtiere. Dabei wirkte Gastornis beim Beutefang als starker „Buschbrecher“. Als Spitzenprädator seiner Zeit hätte Gastornis lediglich mit den großen, zumeist Wasser bewohnenden Krokodilen konkurriert. Als alternatives Szenario wurde bereits in den 1970er Jahren eine überwiegend pflanzliche Ernährung angenommen, wobei diese Ansicht zu Beginn der 1990er Jahre neuen Aufschwung erhielt. Dabei wurde argumentiert, dass dem Oberschnabel das für Greifvögel typische hakenförmige Ende fehlt – lediglich ein juveniles Skelett aus dem Bighorn-Becken in Wyoming weist einen leicht nach unten gerichteten Mittelkieferknochen auf. Auch besaßen die Füße nicht die charakteristischen Greifvogelkrallen, die ebenfalls bei den Phorusrhacidae („Terrorvögel“) nachgewiesen sind und deren Abwesenheit man auch bei den fossil erhaltenen, Gastornis zugeordneten Fußabdrücken beobachten kann. Dieser Ansicht zufolge ernährte sich Gastornis von zahlreichen Pflanzen der dichten tropischen Regenwälder, die er mit dem Schnabel zerbiss oder zerschnitt. Als eine in Erscheinung und möglicherweise in der Ernährungsweise zu Gastornis analoge Vogelgattung wird darüber hinaus der heute noch lebende (Porphyrio) angesehen. Dieser heute auf Neuseeland verbreitete, flugunfähige Vogel verfügt über einen kräftigen, hohen Schnabel, einen kurzen Hals und ebenfalls kurze Beinknochen, besitzt aber nur ein Gewicht von maximal 3 kg und ist ein Verwandter der Rallen. Eine vollständig auf Pflanzen basierende Ernährungsweise ist bei heutigen flugfähigen Vögeln wenig bekannt, da die für den Flug benötigte Energie unmittelbar aus der Nahrung bereitgestellt werden muss. Bei großen flugunfähigen Vögeln kommt eine derartige Ernährungsweise aber vor. Da Blätter eine eher energiearme Kost sind, die zudem lange verdaut wird, hätte Gastornis bei einer deutlich blätterhaltigen Pflanzenkost sehr viel Zeit mit dem Fressen verbringen müssen. Die Umstellung auf eine rein pflanzliche Nahrung bei Gastornis wurde aber teilweise mit dessen enormer Körpergrößenzunahme im Zusammenhang gesehen. Eine im Jahr 2013 durchgeführte Analyse von Kalzium-Isotopen in den fossilen Knochen von Gastornis-Funden aus dem Geiseltal ergab ähnliche Isotopenverhältnisse wie bei pflanzenfressenden Säugetieren. Diese unterscheiden sich wiederum deutlich von denen der fleischfressenden Säugetiere und den sich ebenso ernährenden Dinosauriern wie Tyrannosaurus, da Tiere mit einer derartigen Ernährungsweise einen deutlich höheren Anteil an flüchtigen Isotopen (42Ca) aufweisen. Zu vergleichbaren Ergebnissen kamen Untersuchungen von Gastornis-Resten aus mehreren Fundstellen Frankreichs. Diese wurden mit verschiedenen carnivor und herbivor lebenden Vögeln und Säugetieren verglichen, ebenso erfolgten erneute biomechanische Untersuchungen des Schnabels. Hierbei stellte sich heraus, dass vor allem der Musculus adductor mandibulae vergleichbar ähnlich stark entwickelt war wie bei den heutigen, samenknackenden Formen der Darwinfinken, während er bei räuberisch lebenden Greifvögeln weniger deutlich hervortritt. Der Muskel steht in Verbindung mit der Nahrungsaufnahme und dient dem Schließen des Schnabels und damit dem Zerteilen der aufgenommenen Nahrung, wobei für Gastornis ebenfalls ein Zerbeißen von harten Samen angenommen wird. Dadurch ist es nun wahrscheinlicher, dass die Vertreter der Gattung Gastornis Pflanzenfresser waren. Fortbewegung Die Laufbeine sind ähnlich aufgebaut wie die des heutigen Straußes (Struthio). Wie bei diesem konzentriert sich auch bei Gastornis ein Großteil der Muskelmasse der Beine direkt unterhalb des Körpers, was an dem eher kurzen und sehr kompakten Oberschenkelknochen erkennbar ist. Dadurch wirken die Beine wie ein Pendel unter dem Rumpf und ermöglichen die Fortbewegung. Als schneller Läufer besitzt der Strauß einen langen und schlanken Tarsometatarsus und zwei nach vorn ragende Zehenstrahlen an den Füßen. Andere heute lebende bodenbewohnende Vögel, unter anderem Kasuare (Casuarus) und Nandus (Rhea), verfügen neben einem ebenfalls langen Tarsometatarsus über Füße mit drei nach vorn zeigenden Strahlen. Diese Reduktion der Anzahl der Zehenstrahlen gegenüber vier bei vielen flugfähigen Vögeln ist eine funktionale Anpassung an das schnelle Laufen in offenen Landschaften und reduziert den Reibungswiderstand mit dem Boden. Gastornis hingegen besitzt einen vergleichsweise kurzen und breiten Tarsometatarsus. Das Laufbein endet zudem in vierstrahligen Füßen, von denen ein Strahl nach hinten zeigt (anisodactyl). Diese Merkmalskombination ist als sehr urtümlich anzusehen, auch im Vergleich zu anderen heute lebenden Laufvögeln. Aufgrund des kurzen Fußknochens und des nach hinten zeigenden vierten Zehs wird für Gastornis nur eine geringe Laufgeschwindigkeit rekonstruiert. Da der überwiegende Lebensraum der Vogelgattung dichte tropische und subtropische Regenwälder umfasst, wird ein langsamer Laufgang angenommen, der möglicherweise von kurzen schnelleren Gangarten unterbrochen wurde. Auch die wenig gebogenen Krallen der Füße stellen eine Anpassung an stärkere Bodenaktivitäten und langsames Gehen dar und sind weniger für eine schnelle Jagd nach Beutetieren geeignet. Ob dabei die hintere kurze Zehe funktional den Fuß bei der Fortbewegung unterstützte, ist unklar. Die Trittsiegel aus der Chuckanut-Formation weisen keinen hinteren, vierten Zehenabdruck auf, so dass dieser Zeh möglicherweise zu stark reduziert gewesen sein könnte. Geschlechtsdimorphismus Anhand der Funde von Louvois südlich von Reims, die zahlreiche Reste der Fuß- und Beinknochen umfassen, ließ sich eine gewisse Größendifferenz feststellen. So wird die erste Phalanx des vierten Zehenstrahls bei großen Individuen bis zu 7,6 cm lang, bei kleineren nur bis zu 4,9 cm. Entsprechende Maße des zweiten Zehengliedes belaufen sich auf 3,1 beziehungsweise 2,3 cm. Vergleichbare Unterschiede ließen sich auch bei anderen Funden ermitteln. Die Größenabweichungen betragen zwischen 30 und 65 %. Im Aufbau der einzelnen Knochen besteht kein Unterschied, so dass nicht von der Anwesenheit verschiedener Arten auszugehen ist. Die Wissenschaftler vermuten daher einen Geschlechtsdimorphismus. Dieser ist auch bei anderen großen bodenlebenden Vögeln belegt. Bei den Moas etwa wurden weibliche Tiere um bis zu 150 % größer und bis zu 280 % schwerer als männliche. Bei den heutigen Straußen ist das Verhältnis dagegen umgekehrt, die männlichen Individuen werden größer als die weiblichen. Für Gastornis kann vorerst nicht bestimmt werden, welches Geschlecht größer war. Über einen Größenunterschied zwischen männlichen und weiblichen Tieren wurde bereits bei der Aufarbeitung der Funde aus dem Geiseltal und aus Saint-Papoul nachgedacht. Systematik Gastornis ist eine Gattung aus der Familie der Gastornithidae. Diese stellen große flugunfähige Vögel dar, die durch einen kräftigen, seitlich verschmälerten Schnabel charakterisiert sind, der eine konvex gebogene Oberseite (Culmen) aufweist, im Gegensatz zu den ähnlich gebauten Phorusrhacidae aber keine hakenartige Spitze besitzt. Die Herkunft der Gastornithidae ist nicht vollständig geklärt. Möglicherweise können sie mit großen Vögeln aus der Oberkreide in Verbindung gebracht werden, wie sie mit Gargantuavis, anhand eines rund 6,5 cm langen Synsacrums aus der Nähe von Fox-Amphous im französischen Département Var in der Provence erstmals für diese Zeitperiode nachgewiesen wurden. Weitere Funde, so ein Becken sowie ein Oberschenkelknochen und mehrere Wirbel, stammen ebenfalls aus dem südlichen Frankreich. Diese Fossilreste weisen auf einen etwa straußengroßen Vogel hin, der möglicherweise bis zu 140 kg wog, und besitzen Ähnlichkeiten zu jenen von Gastornis, allerdings stellen diese spätkreidezeitlichen Vögel höchstwahrscheinlich nicht die direkten Vorfahren dar. Anhand der Merkmale der Gliedmaßenknochen und des Kiefergelenks ist aber deutlich, dass Gastornis und seine in der Ordnung Gastornithiformes zusammengefassten Verwandten mit den Gänsevögeln (Anseriformes) und den Hühnervögeln (Galliformes) verwandt sind. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2017 bilden die Gastornithiformes möglicherweise die Schwestergruppe zu den Hühnervögeln. Sie schließen hierin außerdem noch die einst in Australien heimischen Donnervögel (Dromornithidae) mit ein. Eine vier Jahre später veröffentlichte Analyse ordnet dieser umfassenderen Gruppe zusätzlich noch die aus Südamerika bekannten Brontornithidae mit Brontornis zu. Bei letzteren ist die genaue phylogenetische Position jedoch umstritten. Im Laufe der Forschungsgeschichte wurden zahlreiche Arten von Gastornis beschrieben, heute anerkannt sind folgende: G. geiselensis Fischer, 1976 G. gigantaeus Cope, 1876 G. laurenti Mourer-Chauviré & Bourdon, 2020 G. parisiensis Hébert, 1855 G. russelli Martin, 1992 G. sarasini Schaub, 1929 G. xichuanensis Hou, 1980 G. russelli stellt die stammesgeschichtlich älteste und kleinste Art dar, die nur die Hälfte der Größe eines heutigen Straußes erreichte. Sie steht als Schwesterform den anderen Arten von Gastornis gegenüber. Weitere beschriebene Arten wie G. steini, G. edwardsi und G. klaasseni sind heute nicht mehr gültig. Für Nordamerika wird neben G. gigantaeus teilweise auch noch G. regens als eigenständige Art anerkannt, die in der Proportion der Zehenglieder etwas abweicht. Andere Forscher halten G. geiselensis für synonym zu G. sarasini, was aber nur teilweise anerkannt ist. Generell wird eine neue Revision der Gattung angemahnt. Stammesgeschichte Da die ältesten Nachweise von Gastornis aus dem heutigen Europa stammen, wird die Entstehung der Gattung und Familie hier vermutet. Allerdings ist der Ursprung bisher nicht geklärt. Während des Paläozän stellte das heutige Europa eine Insel dar mit endemischer Fauna, die hier nach dem Massensterben an der Kreide-Paläogen-Grenze, dem ein Großteil der Landwirbeltiere über 25 kg Körpergewicht zum Opfer fiel, zahlreiche ökologische Nischen vorfand. Zur Zeit der frühesten Nachweise von Gastornis vor rund 62 Millionen Jahren erreichten die größten Säugetiere dieser Insel nur ein Gewicht von rund 45 kg. Möglich ist, dass sich die Gattung unter einem derartigen isolierten Inselökosystem zur Riesenform entwickelte, ähnlich wie dies aus späterer Zeit mit den Aepyornithidae auf Madagaskar überliefert ist, die dort zur größten einheimischen Tiergruppe heranwuchs, die alle vorhandenen Säugetiere an Größe übertraf. Erst im Übergang zum Unteren Eozän entstanden Verbindungen zu Nordamerika (via Grönland), wodurch auch ein erheblicher Faunenaustausch begann. Dies führte einerseits dazu, dass Gastornis als größter Bewohner von einigen großen Säugetieren wie etwa Coryphodon aus der Gruppe der Pantodonta abgelöst wurde, andererseits ermöglichte es ihm, ebenfalls neue Regionen zu erreichen. Als wahrscheinlichste Route gilt die über Grönland, was auch die spärlichen Funde von Ellesmere Island aufzeigen. Nach Asien gelangte die Gattung entweder über Nordamerika oder eventuell direkt über die Turgai-Straße, die den Kontinent von Europa trennte. Auf beiden Landmassen lebten aber bereits große pflanzenfressende Säugetiere, die im Fall der Pantodonten bis zu 600 kg wogen. Annehmbar ist deshalb, dass Gastornis in Konkurrenz zu diesen in Nordamerika und Asien bereits zum Ende des Unteren Eozän ausstarb. In Europa hielt sich die Gattung noch erfolgreich bis zum ausgehenden Mitteleozän vor etwa 43 Millionen Jahren. Gastornis und Diatryma – Zur Forschungsgeschichte Die Erforschung der Gattung Gastornis reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Im Jahr 1855 entdeckte der französische Physiker Gaston Planté (1834–1889), der spätere Erfinder des Bleiakkumulators, in Ablagerungen des Oberen Paläozäns und Unteren Eozäns, dem „Conglomérat de Meudon“ in einem westlichen Vorort von Paris, die ersten Knochen eines riesigen Vogels, die einen Femur und einen Tibiotarsus umfassten. Diese wurden im gleichen Jahr von Edmond Hébert als zur neu geschaffenen Gattung Gastornis gehörig beschrieben, die damals zu den ältesten bekannten Vogelgattungen überhaupt zählte. Der Name Gastornis leitet sich dabei vom Vornamen Plantés, Gaston, und der griechischen Bezeichnung ὄρνις (órnis) für „Vogel“ ab. Nur kurze Zeit später kamen einige wenige weitere Funde bei Passy, ebenfalls nahe Paris gelegen, zum Vorschein. Die systematische Position von Gastornis war zu jener Zeit völlig ungeklärt. Hébert selbst schlussfolgerte (1855), dass Gastornis zu schwer zum Fliegen war und stellte die Gattung wie auch Alphonse Milne-Edwards (1867) nahe zu den Entenvögeln (Anatidae), Édouard Armand Lartet (1855) dachte an eine Verwandtschaft mit den Regenpfeiferartigen (Charadriiformes), Achille Valenciennes (1855) sah sogar Übereinstimmungen mit Albatrossen (Diomedeidae) und Charles Lucien Jules Laurent Bonaparte (1856) hielt Gastornis für einen Verwandten des großen, madagassischen Vogels Aepyornis. Richard Owen wiederum gab 1859 eine erste genaue Beschreibung des Tibiotarsus wieder und hielt Gastornis für einen terrestrisch lebenden Vogel. Sehr umfangreiches Material entdeckte man nach einem Zeitabstand von rund 20 Jahren im unterpaläozänen „Conglomérat de Cernay“ bei Reims, welche damals die älteste bekannte Fossilfundstelle des Tertiärs in Europa war. Dieses Fundmaterial veranlasste Victor Lemoine (1823–1911) im Jahr 1881 dazu, eine Skelettrekonstruktion anzufertigen, die vom heute bekannten, tatsächlichen Aussehen von Gastornis aber beträchtlich abwich. So erarbeitete er einen großen, grazil wirkenden Vogel mit langem Hals, kurzen Flügeln und langen Beinen mit einem ebenfalls langen und schlanken Tarsometatarsus. Die paddelartig gestalteten Füße suggerierten zudem Schwimmfähigkeit. Lemoine hatte sich bei seiner Rekonstruktion von kürzlich entdeckten Vögeln wie Archaeopteryx oder Hersperornis inspirieren lassen. Diese war über die nächsten Jahrzehnte bildbestimmend für das Aussehen von Gastornis. In der darauffolgenden Zeit wurden nur wenige weitere Funde zu Gastornis gestellt, so die Fossilreste von Croydon in England und Walbeck in Deutschland. Anhand eines großen Tarsometatarsus aus dem Untereozän des US-Bundesstaates New Mexico beschrieb Edward Drinker Cope (1840–1897) im Jahr 1876 die Gattung Diatryma, wobei der Name sich auf ein den Knochenschaft am oberen Ende durchdringendes Foramen, eine Öffnung im Knochen, bezieht. Cope erkannte zwar Ähnlichkeiten zum europäischen Gastornis, favorisierte aber einen eigenen Gattungsnamen. Allerdings waren in der Folgezeit kaum anatomische Vergleiche der beiden Vogelgattungen möglich, da aus Nordamerika nur spärliche Fossilreste bekannt wurden. Einen Zehenknochen aus New Jersey verwies Othniel Charles Marsh 1894 zu Barornis, der später mit Diatryma vereint wurde. Die Situation änderte sich erst 1916, als im Bighorn-Becken von Wyoming ein nahezu vollständiges Skelett gefunden wurde, welches William Diller Matthew (1871–1930) und Walter W. Granger (1872–1941) im folgenden Jahr umfänglich beschrieben. Ihre Skelettrekonstruktion erwies sich aber als völlig unterschiedlich zu Lemoines, was durch den untersetzt-robusten Körper und den riesigen Kopf mit mächtigem Schnabel verdeutlicht wurde. Dadurch fiel den beiden Forschern ein Vergleich mit dem europäischen Gastornis relativ schwer, sie äußerten auch vorsichtig Zweifel an der Zugehörigkeit aller Knochen in Lemoines Rekonstruktion zu Gastornis. Weiterhin bescheinigten sie beiden Vogelvertretern einen jeweils eigenständigen Gattungsstatus, eine Ansicht, der später zahlreiche Wissenschaftler folgten. Während der Rekonstruktion des Diatryma-Skelettes hatten Matthew und Granger aufgrund des teils unvollständigen Fußskeletts den Tarsometatarsus verlängert rekonstruiert, möglicherweise beeinflusst durch die langen Beine heutiger Laufvögel, in dessen Folge nicht nur der mächtige Schnabel, sondern auch die Gliedmaßen ähnlich denen der Phorusrhacidae („Terrorvögel“) wirkten. Diese Vogelgruppe war seit den 1880er Jahren mit den intensiv einsetzenden Forschungen in Patagonien in den Focus der Öffentlichkeit gelangt. Hauptsächlich in der Santa-Cruz-Formation waren zahlreiche „Terrorvögel“ wie Phorusrhacos, Psilopterus und Patagornis entdeckt worden. Dabei handelte es sich um große, flugunfähige Vögel mit langen Gliedmaßen, massigem Schnabel mit greifvogelartigem, spitzen Ende und Füße mit kräftigen, gebogenen Krallen, was die Tiere als schnelle und effektive Beutegreifer charakterisierte. Beide Forscher befürworteten eine Trennung von Diatryma und den Phorusrhaciden, nahmen aber aufgrund der annähernd übereinstimmenden Größe und den Ähnlichkeiten im Körperbau einschließlich der langen unteren Gliedmaßenabschnitte auch eine vergleichbare Lebensweise an. In der Folgezeit bekamen auch europäische Neufunde, so aus dem Geiseltal und der Grube Messel in Deutschland oder von Lyon in Frankreich eine Zuweisung zur Gattung Diatryma. Obwohl sich Matthew und Granger in ihrer Erstveröffentlichung des Skeletts von Diatryma neben dessen prinzipieller äußerlichen Übereinstimmung mit den „Terrorvögeln“, teilweise hervorgerufen durch die falsche Rekonstruktion eines langen Tarsometatarsus, nur wenig über dessen Lebensweise äußerten, kam in der Mitte der 1920er Jahre erstmals die Sichtweise über eine fleischliche Ernährung dieses riesigen Vogels auf, die auf kleinen Reptilien und Säugetieren basieren sollte. Die extrem populäre Vorstellung einer Jagd auf die kleinen, am Beginn ihrer Stammesgeschichte stehenden Urpferdchen wie Hyracotherium oder Paarhufer wie Diacodexis etablierte sich dabei in den 1930er Jahren, maßgeblich unterstützt durch Alfred Romer. Selbst die Entdeckung eines Teilskeletts eines noch juvenilen Diatryma-ähnlichen Vogels aus dem Jahr 1928 im Bighorn-Becken von Wyoming mit nahezu vollständigem Fuß, der einen kurzen und breiten Tarsometatarsus anstatt des langschmalen zeigte, beeinflusste diese Vorstellung kaum (beschrieben wurde das Teilskelett als Omorhamphus, heute ein Synonym zu Gastornis). Zahlreiche Forscher vertraten die Meinung eines schnell laufenden, jagenden Riesenvogels im Eozän, so etwa George Gaylord Simpson 1950 in seinem Vergleich von Diatryma mit dem südamerikanischen „Terrorvögeln“ und dem europäischen Gastornis nach Lemoine. Auch in Europa war die Ansicht verbreitet, so etwa auch für die Diatryma-Funde aus dem Geiseltal, wobei als Beute des Vogels das hier nachgewiesene Propalaeotherium angenommen wurde. Dabei war es Karlheinz Fischer, der 1978 erstmals anhand von vollständigen Funden des Tarsometatarsus aus dem Geiseltal im Vergleich zu anderen Beinknochen die korrekten Proportionen in den Gliedmaßen von Diatryma darstellte. So erreichte der Tarsometatarsus rund 24 bis 25 cm Länge, deutlich abweichend von den von Matthew und Granger projizierten 38 cm, und nahm knapp 21 % der Beinlänge ein, womit der Fuß deutlich kürzer war als vorher angenommen. Damit stellte sich Diatryma nicht als schnell laufender, sondern mehrheitlich langsam schreitender Vogel heraus. Noch bis in die ausgehenden 1980er Jahre wurden die beiden Vogelgattungen Gastornis und Diatryma unterschiedlichen Familien zugewiesen, erstere zu den Gastornithidae und letztere zu den Diatrymidae. Die Erkenntnis, dass beide Vogelgattungen sich wesentlich ähnlicher waren, erwuchs erst zu Beginn der 1990er Jahre. Während einer Revision der Skelettrekonstruktion von Lemoine und der Aufnahme von neuem Fundmaterial im Jahr 1992 erkannte L. D. Martin, dass die Rekonstruktion nur zu einem geringen Teil auf Fossilresten von Vögeln basierte, nämlich nur auf einem Wirbel und Teilen der Laufbeine sowie einige Fußknochen, der weitaus größere Teil dagegen von Fischen und Reptilien entstammte, wodurch die urtümliche Gestalt von Gastornis hervorgerufen worden war. Martin stellte dabei auch morphologische Ähnlichkeiten von Gastornis zu Diatryma her und verwies beide zur Familie Gastornithidae. Neufunde aus Reims, so ein oberes Ende eines Tibiotarsus, der von Gastornis bis dahin noch nicht beschrieben worden war, von Diatryma aber bereits mehrfach vorlag, ließ 1997 die Frage aufkommen, ob beide Gattungen nicht identisch seien. Nur wenige Jahre später, 2002, wurden Gastornis und Diatryma formal synonymisiert, was 2008 durch den Neufund eines weiteren Tibiotarsus aus Saint-Papoul bestätigt werden konnte. Dabei hatte Éric Buffetaut diesen Fund zur Typusart G. parisiensis gestellt, bemerkte aber gleichzeitig sowohl Ähnlichkeiten zu vergleichbaren Knochen von G. geiselensis, das ursprünglich als Diatryma beschrieben worden war, als auch zu ähnlichen Funden aus Nordamerika. Die einzelnen, bestehenden Unterschiede werden als so klein angesehen, dass Diatryma nun als synonym zu Gastornis gilt. Die Funde aus Saint-Papoul gehören seit dem Jahr 2020 nach einer Neubeschreibung zur Art G. laurenti. Literatur Allison V. Andors: Diatryma among the Dinosaurs. Natural History 1995 (6), S. 68–72 Delphine Angst und Eric Buffetaut: Palaeobiology of Giant Flightless Birds. Oxford, 2017, S. 1–282 (S. 173–214) Eric Buffetaut und Delphine Angst: „Terror cranes“ or peaceful plant eaters: changing interpretations of the palaeobiology of gastornithid birds. Revue de Paléobiologie 32 (2), 2013, S. 413–422 Eric Buffetaut und Delphine Angst: Stratigraphic distribution of large flightless birds in the Palaeogene of Europe and its palaeobiological and palaeogeographical implications. Earth-Science Reviews 32 (2), 2014, S. 394–408 Meinolf Hellmund: Reappraisal of the bone inventory of Gastornis geiselensis (Fischer, 1978) from the Eocene “Geiseltal Fossillagerstätte” (Saxony-Anhalt, Germany). Neues Jahrbuch für Geologie und Paläontologie Abhandlungen 269 (2), 2013, S. 203–220 Einzelnachweise Edward Drinker Cope: On a gigantic bird from the Eocene of New Mexico. Proceedings of the Academy of Natural Sciences of Philadelphia 28, 1876, S. 10–11. Weblinks Thomas Tütken: Vom Top-Räuber zum Vegetarier. Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie und Paläontologie der Universität Bonn, 30. August 2013 Eric Buffetaut: The unfinished story of the Early Tertiary giant bird Gastornis. Geological Society of Denmark †Gastornis Aves Fossiler Vogel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Katzenaugen-Syndrom
Katzenaugen-Syndrom
Das Katzenaugen-Syndrom (Synonym: Schmid-Fraccaro-Syndrom und Kolobom-Analatresie-Syndrom) ist eine seltene erblich bedingte Erkrankung des Menschen, deren Leitsymptome Veränderungen an den Augen (Kolobom) und eine Fehlbildung des Enddarms (Analatresie) sind. Die Ausprägung der Symptome ist nicht vom Schweregrad der Erbgutschädigung abhängig. Die Analyse des Erbgutes weist in klassischen Fällen ein überzähliges Chromosom auf, das aus einem Fragment von Chromosom 22 besteht. Namensgebend ist die in fast allen Fällen vorkommende vertikal-ovale Spaltbildung (Kolobom) an der Regenbogenhaut (Iris), die an die Schlitzpupillen von Katzenaugen erinnert. Epidemiologie Das Katzenaugensyndrom ist eine angeborene Erkrankung, die durch eine Veränderung des Erbgutes bedingt ist. Der Erbgang ist autosomal-dominant. Die Häufigkeit des Katzenaugen-Syndroms liegt bei 1,35 Fällen pro 100.000 Personen. Bis 2009 wurden 105 Fälle veröffentlicht. Ursache Klassische Ursache dieses Syndroms ist eine Anomalie des Chromosoms 22 (Region q11.2). Charakteristisch ist bei 83 % der Fälle ein in allen Zellen des Körpers auffindbares kleines überzähliges Extrachromosom, in dem sich ein Teil der Erbinformation des Chromosoms 22 findet. Es wird angenommen, dass dieses durch eine Inversions-Duplikation entsteht, daher bizentrisch ist und an beiden Enden Satelliten trägt. Da die Erbinformation der betroffenen Region somit mehr als zweifach im Erbgut der Patienten vorliegt, spricht man von einer Tri- oder Tetrasomie. Nicht in allen Fällen lässt sich jedoch ein Extrachromosom nachweisen. Ursächlich werden dann ein (unerkanntes) Mosaik, eine Genmutation oder eine unerkannte Translokation diskutiert. Klinische Erscheinung Die erkennbaren körperlichen Auswirkungen (Phänotyp) der genetischen Defekte sind nicht bei allen Betroffenen gleich. Auch die für den Namen Katzenaugen-Syndrom verantwortliche angeborene vertikal-ovale Spaltbildung an der Iris liegt nicht in allen beschriebenen Fällen vor. Als typische Symptome gelten die Analatresie und andere anorektale Fehlbildungen, ein- und beidseitig auftretende Iriskolobome sowie Präaurikularanhänge – läppchenartige Anhängsel, in der Regel aus Haut- oder Bindegewebe dicht vor der Ohrmuschel. Die Augenlidachsen der Betroffenen verlaufen häufig schräg nach außen und unten (laterokaudal). Oft sind die phänotypischen Veränderungen von einer meist geringgradigen geistigen Behinderung begleitet. Seltener sind Fehlbildungen des Harn- und Geschlechtsapparats, wie beispielsweise doppelt angelegte Harnleiter, Wassersackniere und Verlagerung der Harnröhrenmündung. Weiterhin kann das Skelettsystem betroffen sein, unter anderem in Form von Kleinwuchs, Fehlen des Daumens, Verformungen der Rippen, Sirenomelie und Spina bifida. Des Weiteren gibt es eine Reihe von ebenfalls beobachteten Symptomen an den Augen, zum Beispiel großer Augenabstand, Schielen, Mongolenfalte, Grauer Star, retinale Dysplasie und krankhafte Verkleinerung des Augapfels. Auch Herzfehler wie die Fallot-Tetralogie oder isolierte Septumdefekte von Vorhof und Kammer sowie die Beteiligung weiterer Organe wie Gehirn (Oligophrenie), Gallengangssystem (Atresie der Gallenblase) und Dickdarm (Morbus Hirschsprung) sind beschrieben. Diagnose und Differentialdiagnose Diagnose Bei Vorliegen der typischen Leitsymptome (Kolobom und Analatresie) kann die Diagnose Katzenaugen-Syndrom klinisch – also ohne Analyse des Erbgutes – gestellt werden. Die Diagnose von Art und Umfang des im Einzelfall genetischen Defektes erfolgt mittels Chromosomenanalyse. Das verlässlichste Kriterium für die Diagnose stellt das Vorhandensein des Extrachromosoms dar. Wird in einem Fall eine Genanalyse durchgeführt und eine entsprechende Tri- oder Tetrasomie 22 festgestellt, dann wird der Begriff jedoch auch beim Fehlen der typischen Leitsymptome verwendet, man spricht dann aber von einem „inkompletten“ Katzenaugen-Syndrom. Umgekehrt kann bei Patienten mit typischen klinischen Zeichen, aber ohne nachweisliche Erbgutveränderungen, diese Diagnose gestellt werden, insbesondere, wenn in solchen Fällen auffällig lange Daumen und eine von der Norm abweichende Stellung von Händen und Füßen vorliegen. Differentialdiagnose Angeborene Störungen, die meist mit einer Minderbegabung und Missbildungen einhergehen, durch Mutationen größerer Genomabschnitte verursacht werden und so zu einem Dosis-Effekt zahlreicher Gene führen, nennt man auch Genomische Erkrankungen. Mutationen, die mehrere Megabasenpaare umfassen, können nicht selten zytogenetisch charakterisiert werden, da durch ein solches Ereignis ganze Chromosomenbanden verändert werden. Solche Störungen sind in ihrer Summe keine seltenen Ereignisse. Sie machen bis zu etwa 1 % aller kongenitalen Störungen aus. Die häufigste Störung dieser Art ist das DiGeorge-Syndrom (Syn.: Velocardiofaziales Syndrom), das ähnlich wie das Katzenaugen-Syndrom durch eine Mutation im Bereich der Chromosomenbande 22q11 verursacht wird. Das DiGeorge-Syndrom und das Conotruncal anomaly face syndrome stellen zusammen mit dem sehr seltenen der(22)-Syndrom sowie dem Katzenaugen-Syndrom einen Störungscluster dar, der mit dem Begriff „Genomische Störungen im Bereich von 22q11“ beschrieben wird. Diese drei kongenitalen Erkrankungen sind diejenigen, die am häufigsten mit Veränderungen im Bereich von Chromosom 22q11 in Verbindung gebracht werden. Indirekt werden auch die Schizophrenie und Bipolare Störungen mit Veränderungen in 22q11 in Verbindung gebracht, da sich dort das Gen für das Enzym Catechol-O-Methyltransferase befindet und Patienten mit einer 22q11-Deletion und einem DiGeorge-Syndrom in etwa 30 % der Fälle eine Psychose entwickeln. Eine ähnliche Situation wie im Falle des DiGeorge-Syndroms (angeborene Störung mit Haploinsuffizienz und Psychose) findet sich auch beim Williams-Beuren-Syndrom. Ein Syndrom der Mikroduplikationen und Mikrotriplikationen einer 22q11.2-Region scheint ein eigenständiges Syndrom zu sein. Weitere mit dieser Region zusammenhängende Störungen sind das autosomal-dominante „Giant platelet Syndrom“, das Fechtner-Syndrom und das Rhabdoid-Prädispositions-Syndrom. Aufgrund der Vielfalt der beschriebenen Störungen sei an dieser Stelle nur der vermutliche Mechanismus von Katzenaugen-, DiGeorge- und der(22)-Syndrom kurz beschrieben. Bei allen drei Erkrankungen liegt eine Fehlverteilung der Region 22q11 vor. Beim DiGeorge-Syndrom gibt es eine sogenannte Haploinsuffizienz der betroffenen Gene. Von der Region 22q11 existiert nur ein gesundes Allel. Genauer gesagt liegt hier eine Deletion des dem Telomer zugewandten Abschnittes von 22q11 vor. Beim der(22)-Syndrom gibt es bei den betroffenen Individuen eine zusätzliche Kopie der dem Zentromer zugewandten Region von 22q11. Beim Katzenaugen-Syndrom findet man regelmäßig zwei zusätzliche Kopien des zentromeren Abschnittes von 22q11. Diese zusätzlichen Kopien liegen üblicherweise in Form eines zusätzlichen bizentrischen Chromosoms vor. Dabei findet man drei verschiedene Varianten dieses Zusatzchromosoms. Eine Analyse der in dieser Region liegenden Gene ergab Hinweise darauf, dass der Dosis-Effekt beim DiGeorge-Syndrom etwa 24 und beim Katzenaugen-Syndrom etwa 14 Gene betrifft. Prognose und Therapie Die Prognose des Katzenaugen-Syndroms ist maßgeblich von Schweregrad und Art der Fehlbildungen an Herz und Nieren sowie dem Ausmaß der geistigen Entwicklungsstörung abhängig. Bei Patienten mit nur wenigen oder leichten Symptomen ist die Lebenserwartung nicht eingeschränkt. Vorbeugend wird eine Familienberatung nach Chromosomenanalyse empfohlen. Hierbei sind Fälle mit dem Nachweis eines Extrachromosoms von solchen ohne Nachweis zu unterscheiden. Die Geschwister von ersteren gelten, sofern bei ihnen kein Extrachromosom vorhanden und keine weiteren Fälle (auch bei entfernteren) Blutsverwandten bekannt sind, als nicht gefährdet, die Erkrankung weiterzugeben. In allen anderen Fällen besteht ein potenziell erhöhtes Risiko dafür. Im zentralen Interesse der Therapie stehen, sofern vorhanden, Analatresie sowie Fehlbildungen des Herzens und der Nieren. Die Analatresie wird chirurgisch korrigiert, da sie zu einem raschen Tod des Neugeborenen führen würde. Die Behandlung der Fehlbildungen an Herz und Nieren ist abhängig von deren Art. Nicht korrigierbare Fehler können die Lebenserwartung erheblich einschränken. Geschichte und Herkunft des Namens Der Name Katzenaugen-Syndrom bezieht sich auf die für dieses Erkrankungsmuster besonders typische und in fast allen Fällen vorliegende angeborene vertikal-ovale Spaltbildungen an der Iris, die den Augen der Betroffenen ein „katzenartiges“ Aussehen verleiht. Ein eigenständiges Syndrom aus Iriskolobom und Analatresie wurde bereits 1878 durch Otto Haab erstmals beschrieben (daher auch der Name Kolobom-Analatresie-Syndrom), aber erst 1969 als eigenständige Erkrankung abgegrenzt. Zu diesem Zeitpunkt war das mögliche Vorliegen eines Extrachromosoms jedoch bereits bekannt, die Erstbeschreibung eines bei einem Patienten mit Kolobom und Analatresie auftretenden Extrachromosomes war 1965 publiziert worden. Werner Schmid (Zürich) und Marco Fraccaro (Pavia) waren maßgeblich an dieser Entdeckung beteiligt (daher auch die Bezeichnung Schmid-Fraccaro-Syndrom). 1972 wurde von Erica Bühler und Mitarbeitern erstmals erkannt, dass das Extrachromosom vom Chromosom 22 abstammt und es sich somit um eine zumindest partielle Trisomie 22 handelt. Literatur J. Kunze: Atlas der klinischen Syndrome: Für Klinik und Praxis. Schattauer Verlag, 2009, ISBN 978-3-7945-2657-4, S. 94–95. H. Chen: Atlas of genetic diagnosis and counseling. Humana Press, 2006, ISBN 1-58829-681-4, S. 136–138. A. J. Augustin: Augenheilkunde. Springer, 2007, ISBN 978-3-540-30454-8, S. 493. Weblinks Einzelnachweise Erbkrankheit Fehlbildung Krankheitsbild in der Augenheilkunde
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https://de.wikipedia.org/wiki/Altaussee
Altaussee
Altaussee ist eine Gemeinde mit Einwohnern (Stand: ) im steirischen Salzkammergut in Österreich. Die Gemeinde liegt im Bezirk Liezen (Gerichtsbezirk Liezen) und umfasst mit  km² große Teile des Ausseerlandes und des Toten Gebirges. Der Ort am Fuße des Losers ist besonders als Kurort bekannt und liegt direkt am Altausseer See. Die Besiedelungsgeschichte Altaussees geht auf die Zeit um 200 bis 400 nach Christus zurück, wobei der Salzbergbau eine tragende Rolle bei der Entstehung des Ortes spielte. Nach dem Ende der Römerzeit siedelten sich Slawen im Ausseerland an, die ab dem 8. Jahrhundert nach und nach von bairischen Siedlern assimiliert wurden. Im Mittelalter war das Gemeindegebiet zunächst Teil der landesfürstlichen Herrschaft Grauscharn-Pürgg, dann der Herrschaft Pflindsberg. Im Lauf des 19. Jahrhunderts trat der Tourismus in Form der Sommerfrische in Erscheinung und löste in der Folge den Bergbau als wichtigsten Wirtschaftsfaktor ab. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Ort in die Verwaltungseinheit Oberdonau (Oberösterreich) eingegliedert, 1948 kam er wieder zurück zur Steiermark. Von 1943 bis 1945 bestand im Salzbergwerk Altaussee ein Kunstdepot für österreichische und deutsche Kunstgüter und NS-Raubkunst aus ganz Europa. Altaussee gehört heute zu den Gemeinden mit der höchsten Anzahl an Übernachtungen im Bezirk Liezen. Das Salzbergwerk Altaussee ist die größte Salzabbaustätte Österreichs. Geografie Lage Die Gemeinde Altaussee liegt im Ausseerland im steirischen Salzkammergut im Bezirk Liezen, Bundesland Steiermark. Altaussee erstreckt sich über eine Fläche von  km² und liegt auf einer Seehöhe von am Westufer des Altausseer Sees am südwestlichen Rand des Toten Gebirges. Das Gemeindezentrum befindet sich in einem Talkessel, der nördlich vom Loser (), östlich von der Trisselwand () und westlich vom Sandling () begrenzt ist. Der höchste Berg Altaussees ist der Schönberg mit an der Landesgrenze zu Oberösterreich. Durch die alpine Lage und den starken Anteil am Toten Gebirge besteht rund die Hälfte des Gemeindegebietes aus alpinem Ödland, der Rest sind Wälder, Grünland und sonstige Flächenformen. Gemeindegliederung Altaussee besteht aus zwei Katastralgemeinden und gliedert sich in fünf Ortschaften: Die Katastralgemeinde Altaussee (8.320,74 ha) umfasst die Ortschaften: das engere Ortsgebiet von Altaussee ( Einwohner) samt Reith Fischerndorf ( Ew.) samt Posern Lichtersberg ( Ew.) samt Hinterposern, Moos, Ramsau, Steinberg, Waldgraben, Wimm, Lupitsch, Bach, Gründl, Klaus, Mitteregg, Neunhäuser, Oberlupitsch und Unterlupitsch Puchen ( Ew.) Die Katastralgemeinde Lupitsch (936,74 ha) bildet eine eigene Ortschaft ( Ew.) samt Arzleiten, Hollau und Platten. Die Angaben in Klammern beziehen sich auf die Fläche (Stand 31. Dezember 2019) und Wohnbevölkerung am (). Nachbargemeinden Nur zwei der sechs Nachbargemeinden Altaussees liegen in der Steiermark, das sind die beiden übrigen Gemeinden des Ausseerlandes Bad Aussee und Grundlsee. Die weiteren Nachbargemeinden liegen im oberösterreichischen Bezirk Gmunden (GM). Im Uhrzeigersinn und im Westen beginnend sind diese Bad Goisern, Bad Ischl, Ebensee und Grünau im Almtal. Alle Nachbargemeinden liegen im Salzkammergut. Gewässer und Heilquelle Der zur Gemeinde gehörende Altausseer See wird durch die Altausseer Traun entwässert, einen der drei Quellflüsse der Traun. Vom Nordwesten her kommend fließt der kleine Augstbach durch den Ort, der kurz nach deren Austritt aus dem Altausseer See in die Altausseer Traun mündet. Im Gemeindegebiet befinden sich auch der Augstsee, der Wildensee und der Ostersee. Im Jahr 1938 wurde im Scheibenstollen des Salzbergwerks Altaussee nach 1207 Metern Vortrieb eine hypertonische borsäurehaltige Natriumsulfat-Chlorid-Quelle entdeckt. Die Hauptquelle wurde 1961 gefasst und offiziell als Ausseer Heilquelle anerkannt. Das glaubersalzhaltige Wasser wird vom Salzbergwerk direkt zu den Trinkbrunnen der Trinkhalle im Altausseer Kur- und Amtshaus geführt. Im Rahmen einer Trinkkur soll es unter anderem Linderung bei Gallen-, Leber-, Magen- und Darmerkrankungen sowie bei Gicht verschaffen. Die Verschreibung der Trinkkur erfolgt durch den ansässigen Kurarzt. Das abgefüllte Heilwasser ist zudem in der Kleinen Feinen Kur Stefan im Kur- und Amtshaus erhältlich. Geologie Das Tote Gebirge, dessen Ausläufer Altaussee auf drei Seiten umgeben, besteht zum Großteil aus Kalkstein und Dolomit, die in den Meeren des Mesozoikums, insbesondere der Trias und Jura, vor ungefähr 210 bis 135 Millionen Jahren entstanden. Im Westen Altaussees tritt überwiegend der Hallstätter Kalk der Trias, im Norden hauptsächlich der Dachsteinkalk der Trias und im Osten die Jura mit Plassen- und Tressensteinkalk sowie der Oberalm-Formation in Erscheinung. Den Süden Altaussees in Richtung Bad Aussee kennzeichnet eine hochglaziale Grundmoräne aus der Würm-Kaltzeit. Der Altausseer Siedlungskern selbst liegt komplett auf einem Schwemmkegel, der sich etwa acht Meter über den Seespiegel des Altausseer Sees erhebt. Das Seebecken des Altausseer Sees wurde während der Würmvereisung als Zungenbecken eines Gletschers geformt. Es handelt sich um einen glazial übertieften Bereich einer schon präglazial vorhandenen Steilstufe am Rand der Dachsteinkalkplattform des Toten Gebirges. Das Salzvorkommen im Sandling-Massiv entstand vom Oberperm bis zum Skythium und besteht aus alpinem Haselgebirge. Mit der Verkarstung bildeten sich viele Dolinen und Höhlen, wie zum Beispiel die rund 86 km lange Raucherkarhöhle an der Grenze Altaussees zu Oberösterreich. Diese Höhle ist Teil des Schönberg-Höhlensystems, welches mit einer Länge von 140 km (Stand: September 2014) die längste Höhle Österreichs und der Europäischen Union ist. Das Höhlensystem liegt auf Platz 13 der Liste der längsten Höhlen der Welt. Klima Das Klima in Altaussee ist durch seine geographische Lage im Ausseer Becken bestimmt. Es ist vor allem durch die Hochlage und die Lage im Nordstaugebiet gekennzeichnet. Das Resultat sind, bei Strömungslagen aus dem Westen bis Norden, oft tagelange Niederschlagsperioden, die im Winter mit großem Schneereichtum einhergehen. Mit 100 bis 120 Tagen Schneedecke pro Jahr gehört das Ausseer Becken zu den schneesichersten Beckenlagen Österreichs. Von Oktober bis Mai sind Schneefälle zu erwarten, wobei es von Dezember bis März im Durchschnitt jeden dritten Tag Neuschnee gibt. Der Herbst ist mit einer relativen Sonnenscheindauer über 50 % die witterungsmäßig günstigste Zeit in der Region. Das Klima im Ausseer Becken ist oft, speziell im Winter, als Reizklima ausgebildet. Altaussee ist seit 1989 ein anerkannter Luftkurort. Naturschutz Ein Großteil des Altausseer Gemeindegebiets steht unter strengstem Naturschutz. Es existieren folgende Naturschutzstufen: Natura 2000 Europaschutzgebiete (Totes Gebirge mit Altausseer See – AT2243000) Naturschutzgebiete (Altausseer See – NSG 03 a, Totes Gebirge West – NSG 16 a) Geschützte Höhlen (Nagelsteghöhle (Katasternummer 1626/5), Loserhöhle bei Aussee (1623/8), Raucherkarhöhle (1626/55), Schwarzmooskogeleishöhle (1623/40)) Geschützte Landschaftsteile (Seeklaus / Altausseer Traun) Landschaftsschutzgebiete (LSG-14b – Salzkammergut West) Naturdenkmale (Wasserfall des Trattenbaches, Sommerlinde) ÖPUL Projektgebiete und Biotope Die gesamte Gemeinde liegt zusätzlich im Geltungsbereich der Alpenkonvention. Im Jahr 1997 hat die UNESCO einen kleinen Landstrich im äußersten Süden des Gemeindegebietes zur Pufferzone der Welterberegion Hallstatt-Dachstein-Salzkammergut erklärt. Geschichte Namensgeschichte Der Name Altaussee wird standarddeutsch [] ausgesprochen. In der Ausseer Mundart heißt der Ort Åid'n Aussee [] oder Åidaussee []. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ortsname 1265 als Aussee interior (Inneres Aussee). Die Namensform „Alt Awssee“ wurde erstmals 1393 erwähnt. Das Präfix Alt- lässt sich dadurch erklären, dass der Name Aussee wahrscheinlich zunächst nicht das Siedlungsgebiet des heutigen Bad Aussee, sondern jenes Altaussees bezeichnete. Die Etymologie des Wortes Aussee ist nicht genau geklärt. Die gängige Interpretation ist die Herkunft aus dem Altslawischen. Erklärungsversuche gehen von altslawisch osoje (der auf der Schattenseite liegende Ort) über altslavisch ov(i)sah (bei den Haferbauern) bis hin zu slawisch ovec/ovca (das Schaf). Eine andere Interpretation sieht in der ersten Silbe des Wortes Aussee das mittelhochdeutsche aust, bzw. althochdeutsche ougest (Ernte) und in der zweiten Silbe das mittelhochdeutsche se (See). Dieser Ansatz geht davon aus, dass den Namen ursprünglich der Altausseer See führte, bzw. dass Ort und See den gleichen Namen trugen. Urzeit, Kelten und Römerzeit Die frühesten Zeugen menschlicher Siedlungstätigkeit im Ausseerland sind altsteinzeitliche Funde in der Salzofenhöhle im Toten Gebirge (Gemeindegebiet Grundlsee). Dort aufgefundene Holzkohlereste einer paläolithischen Feuerstelle konnten auf ein Alter von rund 34.000 Jahren datiert werden. Zahlreiche Relikte aus der Bronze- und der Eisenzeit, sowie eine bronzezeitliche Siedlungsstelle wurden entlang der natürlichen Verkehrslinie des Koppentales (Gemeindegebiet Bad Aussee) gefunden. Diese Funde sind im Kontext des nur 20 km entfernt liegenden Ortes Hallstatt zu erklären, der aufgrund seiner archäologischen Bedeutung namensgebend für die ältere Eisenzeit (800–450 v. Chr.) wurde. Die jüngere Eisenzeit/La-Tène-Zeit (500–100 v. Chr.), die von den Kelten getragen wurde, hinterließ archäologisch keine Spuren. Nur der Flussname Traun (aus keltisch druna, die Laufende) deutet auf keltische Besiedelung hin. Als Zeugen der römischen Herrschaft in Noricum wurden bei Ausgrabungen in Bad Aussee (Koppental), sowie am Altausseer Michlhallberg (Sandling-Massiv) spätrömische Siedlungsspuren entdeckt. Dem bisher geborgenen Fundmaterial zufolge dürfte die Siedlung im Altausseer Gemeindegebiet vom Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. bis ins späte 4. Jahrhundert bestanden haben. Es wird dort ein römerzeitlicher Salzbergbau vermutet. Slawen und Bajuwaren Die Epoche der Völkerwanderung hinterließ keine Spuren im Ausseerland. Die nächste Bevölkerungsgruppe, die sich mit Sicherheit nachweisen lässt, waren die Slawen. Namensmäßige Spuren der slawischen Besiedelung sind im gesamten Ausseerland zu finden (Orts- und Flurnamen mit den Endungen -itz, -itsch, -isch; in Altaussee z. B. Lupitsch). Um 800 begann eine starke Zuwanderung von Bajuwaren. Wichtige Spuren der ersten Berührung der Slawen mit den Baiern sind wiederum die Ortsnamen. Die frühesten datierbaren Eindeutschungen von Ortsnamen im Ausseerland stammen aus der althochdeutschen Zeit vor 1100. Mittelalterlicher Salzabbau, Erzbistum Salzburg, Steiermark Erstmals urkundlich erwähnt wurden Ansiedlung und Salzabbau im heutigen Gemeindegebiet Altaussees im Jahre 1147. Markgraf Ottokar III. schenkte dem Stift Rein bei Graz zwei Salzpfannen beim Ahornberg („in Enstal apud Mahorn“) am östlichen Abhang des Sandling. Nach dem Tod des letzten Babenberger Herzogs Friedrich II. im Jahr 1246 besetzte der erwählte Erzbischof von Salzburg, Philipp von Spanheim, weite Teile des Ennstals und somit auch das Ausseerland. Zur Befestigung des neuen Machtanspruchs und zum Schutz der nahen Salzbergwerke am Sandling-Massiv und der Saumpfade erbaute er auf einem Hügel östlich von Altaussee die kleine Festung Pflindsberg. Philipp von Spanheim musste sich nach dem Frieden von Ofen von 1254 wieder zurückziehen und die Burg und das Ausseerland fielen um 1260 wieder an die Steiermark. Die vorherige Geschichte des Ausseerlandes ist umstritten. Höchstwahrscheinlich war es im 12. bis 13. Jahrhundert Teil einer Grafschaft im Ennstal unter den Markgrafen der Kärntner Mark. Die Theorie, dass das Ausseer Gebiet vorher zur Grafschaft Traunau gehörte, lässt sich nicht nachweisen. Im Jahr 1265 wurde die Burg Pflindsberg erweitert und als Vlinsperch castrum erstmals urkundlich erwähnt. Im gleichen Jahr wurde auch der Ort erstmals namentlich als Aussee interior erwähnt. Die Burg Pflindsberg war aufgrund der Schutzfunktion für die Saline und die Straße über den Pötschenpass gegen Ende des 13. Jahrhunderts eine wichtige Grenzfeste der Steiermark. Die Anlage entwickelte sich zum Verwaltungsmittelpunkt mit niederer Gerichtsbarkeit der eigenständigen Herrschaft Pflindsberg, die von der landesfürstlichen Herrschaft Grauscharn-Pürgg abgetrennt wurde. Sie umfasste rund 90 % der Güter des Ausseerlandes und war als Teil des Salzkammergutes landesfürstlich. Das Pflegamt wurde von einem landesfürstlichen Beamten ausgeübt. Die kleine Festung fungierte zusätzlich als Sitz des für die Saline zuständigen Pflegamtes (Hallamt). Die beiden Ämter (Pfleger der Herrschaft Pflindsberg und Pfleger der Saline) wurden meist in Personalunion ausgeübt. Den Amtssitz der Salinenverwaltung verlegte man jedoch bereits 1395 in den Markt Aussee. Zwischen 1460 und 1490 wurde der Herrschaft die hohe Gerichtsbarkeit übertragen. Die Burgpfleger fungierten ab diesem Zeitpunkt auch als Landrichter und der Bergfried der Burg Pflindsberg diente als Gefängnis des Landgerichts. Protestantismus, Rekatholisierung (ab 1599), Dominanz des Salzabbaus Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde der Verwaltungssitz der Herrschaft Pflindsberg in den Markt Aussee verlegt. Mit der Reformation im 16. Jahrhundert war die Bevölkerung des Ausseerlands weitgehend protestantisch geworden. Ab 1599 setzte eine Rekatholisierungskommission gewaltsam die Gegenreformation durch. Von den größeren kriegerischen Auseinandersetzungen und sozialen Aufständen des 16. und 17. Jahrhunderts (Bauernkriege, Dreißigjähriger Krieg) blieb das gesamte Ausseerland verschont. Gründe für das Ausbleiben sozialer Spannungen waren ein relativ gesichertes Auskommen der Bevölkerung und weitreichende soziale Zugeständnisse von Seiten der Obrigkeit. Das gesamte Salzkammergut war ein geschlossenes Herrschaftsgebiet, das sich einer Monowirtschaft verschrieben hatte. Der einzige Erwerbszweig war die Salzproduktion, auf die alle wirtschaftliche Tätigkeit abgestimmt war. Die meisten Altausseer waren im Salzbergbau beschäftigt und daneben meist kleine Nebenerwerbsbauern, die gemeinsam mit ihren Familienangehörigen einen Teil der lebensnotwendigen Produkte selbst erzeugten. Als Privilegien gab es Badestuben für die Salinenbelegschaft und im Krankheitsfall die unentgeltliche Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe. Bereits 1764 wurde die Arbeitszeit im Bergwerk auf acht Stunden festgelegt. Überstunden wurden gesondert entlohnt. Zusätzlich bekamen die ständigen Arbeiter einen Naturallohn. Weiterhin stand den Arbeitern eine Altersversorgung zu. Die Einrichtung gewerkschaftlicher Knappschaftskassen, der so genannten Bruderladen, bot eine weitere soziale Absicherung. Während der Napoleonischen Kriege marschierten zwischen 1800 und 1809 mehrmals französische Truppenverbände durch das Ausseerland. Im Jahr 1809 wurden deshalb der Koppen- und der Pötschenpass verschanzt und befestigt. Zu Kampfhandlungen kam es aber nicht. Im Jahr 1813 befestigte man den Pötschenpass abermals, dieses Mal mit mehreren Geschützstellungen, einem Pulvermagazin und zwei Kasernen. Die erwarteten Kämpfe um den Pass blieben aus, da Napoleons Truppen im Oktober 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig entscheidend geschlagen wurden. Anfänge des Tourismus Während der Koalitionskriege besichtigte Kaiser Franz I. 1808 das Salzbergwerk Altaussee, zwei Jahre später Erzherzog Johann und 1812 schließlich Erzherzog Karl. In der Folgezeit wurde das Salzkammergut für die Sommerfrische entdeckt. Das nahe Bad Ischl entwickelte sich zu einem prominenten Kurort und war ab 1849 kaiserliche Sommerresidenz. Durch die Anwesenheit des Adels in der Region wurde das Ausseerland immer mehr zum Anziehungspunkt für die vornehme Gesellschaft. 1847 baute der Offizier und Schriftsteller Joseph Christian Freiherr von Zedlitz auf Anraten Adalbert Stifters, der den Ort schon kannte, als erster Gast ein Sommerhaus am Altausseer See. Es folgte die Familie des Dichters August Daniel von Binzer. 1864 erwarb die Familie des späteren deutschen Reichskanzlers Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst ein Haus und baute es zur Sommervilla um. Schon bald zog es viele Künstler und Vertreter der Wiener Gesellschaft nach Altaussee, das seit 1848 durch die Aufhebung der Grundherrschaft eine politische Gemeinde geworden war. Im Jahr 1877 wurde die Kronprinz‑Rudolf‑Bahn eröffnet und das Ausseerland war schließlich infrastrukturell bestens für den Fremdenverkehr erschlossen. Um die Jahrhundertwende verbrachten ihren Urlaub und wohnten in Altaussee vor allem Autoren um die Gruppe Jung Wien, wie Hugo von Hofmannsthal, Leopold Andrian, Raoul Auernheimer, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr und Jakob Wassermann. Letzterer verlegte 1919 seinen Wohnsitz nach Altaussee, wo er bis zu seinem Tod 1934 lebte. Auch Theodor Herzl verbrachte viele Sommer in Altaussee. In den 1930er Jahren verbrachte Hermann Broch (1936–1938) die Sommermonate in der Gemeinde, ebenso wie Friedrich Torberg, der nach dem Zweiten Weltkrieg abwechselnd in Wien und Altaussee lebte. Nach dem Anschluss Österreichs wurde Broch im März 1938 in Altaussee verhaftet und im benachbarten Bad Aussee für drei Wochen inhaftiert. Sein nationalsozialistischer Briefträger hatte ihn als Kommunist denunziert. Dem Ende der Demokratie unter dem Austrofaschismus im Jahr 1933 hatte man in Altaussee schon 1935 ein Denkmal gesetzt: Im Steinbergstollen des Salzbergwerks Altaussee wurde zum Gedenken an den 1934 ermordeten Diktator Engelbert Dollfuß eine Barbarakapelle errichtet. Nationalsozialismus, NS-Raubkunst, Widerstand, Alpenfestung Nach der Volksabstimmung 1938 zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, bei der in Altaussee nur eine einzige Nein–Stimme abgegeben wurde, wurde das gesamte Ausseerland in den Reichsgau Oberdonau (Oberösterreich) eingegliedert. Die Eigenständigkeit der Gemeinden Bad Aussee, Grundlsee und Altaussee wurde aufgelöst und eine Bürgermeisterei in Bad Aussee eingerichtet. Die Gemeindeämter Altaussees und Grundlsees waren fortan Außendienststellen von Bad Aussee. Die insgesamt 29 Altausseer Villen im Besitz jüdischer Familien wurden arisiert. Der Ort zog in der Folge zahlreiche Nazi-Größen an, die diese Villen bewohnten. So zum Beispiel verbrachten drei nationalsozialistische Gauleiter regelmäßig ihre Ferien in Altaussee: August Eigruber, Konrad Henlein und Hugo Jury. Im Nachbarort Grundlsee residierte der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels samt seiner Familie. Im Jahr 1943 hatte man begonnen, im Salzbergwerk Altaussee ein Depot für Kunstgüter einzurichten. Im August desselben Jahres begann die Einlagerung von Kunstschätzen aus österreichischen Kirchen, Klöstern und Museen, um sie vor Bombenangriffen zu schützen. Ab Februar 1944 wurde der Bestand von etwa 4700 Kunstwerken eingelagert. Es war in ganz Europa geraubtes Kunstgut, das unter dem Decknamen Sonderauftrag Linz angesammelt wurde und für das geplante Führermuseum in Linz bestimmt war. Zum Kriegsende umfasste das gesamte Depot in elf stillgelegten Werksanlagen etwa 6500 Gemälde sowie zahlreiche Statuen, Möbel, Waffen, Münzen und Bibliotheken. Darunter auch ein Teil der so genannten Führerbibliothek. Der größte Bestand dieser Bibliothek wurde in der Villa Castiglioni im Nachbarort Grundlsee deponiert. Im April 1945 plante der Gauleiter August Eigruber eigenmächtig, die Kulturgüter zu vernichten. Zu diesem Zweck ließ er acht Fliegerbomben mit je 500 kg in die Stollen des Salzbergwerkes transportieren. Die Zerstörung der Kunstschätze und des Bergwerks konnte jedoch in letzter Minute von der Salinenverwaltung, den Bergungsbeauftragten und Bergleuten verhindert werden. Das Kunstdepot wurde im Mai 1945 von der U.S. Army beschlagnahmt, die Kunstwerke in den folgenden Jahren nach München in den Central Collecting Point gebracht. Hier setzte der schwierige Prozess der Rückgabe ein, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Der Gesamtwert der im Bergwerk deponierten Kulturgüter wurde nach dem Krieg auf ungefähr 3,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der deutsch-österreichische Spielfilm Ein Dorf wehrt sich (2019), der an Originalschauplätzen gedreht wurde, handelt von der vereitelten Zerstörung der Kunstschätze und des Bergwerks. Ab dem Frühjahr 1944 gab es im Toten Gebirge, nördlich des Losers in der Nähe der Schwarzenbergalm, ein Dauerversteck für Ausseer, Goiserer und Bad Ischler Wehrmachtsdeserteure, Wehrdienstverweigerer und Widerstandskämpfer. Dieses Versteck, Igel genannt, wurde von Vertrauenspersonen aus der Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt. Gegen Ende des Krieges hielten sich dort an die 20 Personen auf. Das Ausseerland war Teil der so genannten „Alpenfestung“ und 1944/45 ein letztes Rückzugsgebiet für nationalsozialistische Partei- und Regierungsstellen und Wehrmachtstäbe. Zuflucht suchten aber auch ganze Regierungen, die von den Nationalsozialisten in den Balkanstaaten eingesetzt worden waren. So hielten sich zu Kriegsende neun profaschistische Exilregierungen aus Osteuropa in Altaussee auf. Günther Altenburg fungierte zum Beispiel von Ende 1944 bis Kriegsende als Leiter der Dienststelle des Auswärtigen Amtes für Bulgarien und Rumänien (Büro Altenburg) in Altaussee, wo er die deutschlandhörigen Exilregierungen von Bulgarien und Rumänien betreute. Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, verlegte Ende April 1945 sein Hauptquartier von Berlin in die Villa Kerry in Altaussee. Von dort aus versuchte er mit Hilfe Wilhelm Höttls Kontakt zu den Westalliierten aufzunehmen, um einen Sonderfrieden zu erreichen. Kriegsende 1945 Bei Kriegsende 1945 setzte sich eine Vielzahl an hohen NS-Funktionären und zentral für den Holocaust mitverantwortlichen SS-Mitgliedern nach Altaussee ab und versuchte dort unterzutauchen, darunter August Eigruber, Hugo Jury, Adolf Eichmann, Franz Stangl (Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka) und Anton Burger (Lagerkommandant im Ghetto Theresienstadt). Am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, erreichten die Amerikaner das Ausseerland. Am nächsten Tag folgte die Hauptmacht der amerikanischen Armee. Zuvor hatte sich in Bad Aussee schon eine selbsteingesetzte Zivilregierung unter Albrecht Gaiswinkler gebildet, die die Ordnung wahrte und die Verpflegung der Bevölkerung sicherstellte. Ernst Kaltenbrunner floh nach Kriegsende auf die Altausseer Wildenseehütte. Er wurde dort am 12. Mai 1945 von einer amerikanischen Militärstreife des CIC verhaftet. Bei Kriegsende entdeckte man bei der Villa Kerry, in der Kaltenbrunner gewohnt hatte, unter anderem eine Kiste mit circa 60 kg Raubgold. Ein Großteil davon ist seit den Wirren der ersten Nachkriegstage verschollen. Kriegsopfer In den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts sind insgesamt 162 Altausseer als Soldaten gefallen (44 im Ersten und 118 im Zweiten Weltkrieg). Zweite Republik Am 1. Juli 1948 wurde das Ausseerland mit Altaussee wieder in die Steiermark zurückgegliedert. 1945 bis 1955 war es Teil der amerikanischen Besatzungszone in Österreich. In den folgenden Jahrzehnten investierte die Gemeinde große Summen in die Infrastruktur. Im Jahr 1960 kaufte sie die 1884 errichtete Auspitzvilla im Ortsteil Fischerndorf und ließ sie als Kurhaus umbauen, das 1961 mit einem Trinkbrunnen für die Ausseer Heilquelle in Betrieb genommen wurde. 1969 begannen die Arbeiten zur Kanalisierung der Gemeinde, 1972 erfolgte der Bau des Volkshauses als Feuerwehrhaus, Veranstaltungszentrum und Turnsaal der Volksschule. In den 1990er Jahren wurde das Kurhaus umgebaut und generalsaniert; 1994 zog dort die Gemeindeverwaltung ein und es dient seither als Kur- und Amtshaus. Von den ersten Gemeinderatswahlen nach dem Zweiten Weltkrieg bis 2010 stellte durchgehend die SPÖ den Bürgermeister Altaussees. Seit 2010 hat dieses Amt erstmals ein Kandidat der ÖVP inne. Bis 2011 war Altaussee Teil der Expositur Bad Aussee, welche ab 1. Jänner 2012 in eine Außenstelle der Bezirkshauptmannschaft Liezen umgewandelt wurde. Im Rahmen der steiermärkischen Gemeindestrukturreform stand ein Zusammenschluss mit den Gemeinden Bad Aussee und Grundlsee zur Debatte. Seit Februar 2013 ist allerdings entschieden, dass die drei Gemeinden eigenständig bleiben werden. Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung und -struktur Das Gemeindegebiet ist mit einer Bevölkerungsdichte von  Einwohnern je Quadratkilometer vergleichsweise dünn besiedelt; zum Vergleich: Die Steiermark hat eine Dichte von  Einw./km², Österreich  Einw./km² (Stand: ). Die Einwohnerzahl Altaussees war von 1951 bis 2012 konstant rückläufig. Im Jahr 2013 war ein leichter Anstieg zu vermerken. Der markante Anstieg der Bevölkerung von 1939 bis 1951 erklärt sich durch den massiven Zuzug von „Bombenflüchtlingen“ aus den Städten während des Zweiten Weltkrieges und von Heimatvertriebenen (vor allem aus dem Sudetenland) nach dem Zweiten Weltkrieg. Hatte die Gemeinde 1951 laut Volkszählung noch 2.267 Einwohner, so sank die Bevölkerung bis 2012 auf 1.777 und liegt somit unter dem Stand von 1910. Die grobe Altersstruktur der Altausseer Bevölkerung zum 1. Jänner 2012 zeigt, dass 65,6 % der Altausseer über 15 und unter 65 Jahre alt sind. 11,9 % der Bevölkerung sind jünger, 22,5 % älter. Der Frauenanteil der Bevölkerung beträgt 49,9 %. Laut Volkszählung 2001 hatten 8,1 % der Altersgruppe über 15-Jährigen den Abschluss einer Universität, Fachhochschule oder Akademie (Frauenanteil: 44,6 %), 10,1 % hatten die Matura (Frauenanteil: 49,9 %) und 51,1 % hatten eine Lehre oder berufsbildende mittlere Schule abgeschlossen (Frauenanteil 44,3 %). 30,7 % hatten nur einen Pflichtschulabschluss, darunter 68,3 % Frauen. Herkunft Laut Statistik vom 1. Jänner 2012 waren 93,5 % der Altausseer Einwohner österreichische Staatsbürger und 90,7 % wurden in Österreich geboren. 4,7 % der Altausseer kamen aus anderen EU-Staaten, 1,7 % aus Nicht-EU-Staaten. In Altaussee wird, wie im gesamten restlichen Salzkammergut, eine Varietät des mittel- oder donaubairischen Dialekts gesprochen. Sprache Bei der Volkszählung 2001 hatten als Umgangssprache angegeben: 96,1 % Deutsch 0,8 % Kroatisch 0,7 % Serbisch 0,5 % Ungarisch 0,2 % Slowenisch 0,1 % Bosnisch 0,1 % Türkisch 1,4 % eine andere Sprache. Religion Bei der Volkszählung 2001 gaben die Altausseer als Religionsbekenntnis an: 81,7 % römisch-katholisch 5,7 % evangelisch 0,7 % orthodox 0,3 % islamisch 0,1 % israelitisch 2,1 % sonstige Glaubensrichtungen 9,5 % der Einwohner gaben an, ohne Bekenntnis zu sein. Der einzige offizielle religiöse Versammlungsraum im Gemeindegebiet ist die katholische Pfarrkirche hl. Ägid in der Ortschaft Fischerndorf. Die Kirche wurde erstmals 1280 urkundlich erwähnt, dürfte aber bereits im 12. Jahrhundert entstanden sein. Im Jahr 1770 stiftete Kaiserin Maria Theresia ein eigenes Vikariat, 1892 stieg dieses zur selbständigen Pfarre auf. Das Gebiet der Gemeinde Altaussee ist heute Teil des katholischen Pfarrverbunds der „Ausseerland-Pfarren“ und wird vom Pfarramt Bad Aussee aus betreut. Die Mitglieder der evangelischen Kirche gehören zur evangelischen Kirchengemeinde Bad Aussee. Lebens- und Wohnsituation Altaussee verzeichnet eine immer wachsende Anzahl an Zweitwohnsitzen. Im Jahr 2006 waren mit 509 Wohnobjekten bereits 38,7 % aller Wohnungen und Häuser in der Gemeinde Zweitwohnsitze. Als Resultat sind Häuser und Grundstücke in Altaussee sehr teuer geworden und für Einheimische so gut wie nicht mehr leistbar. So zahlt man heute bereits bis zu 400 Euro pro m² Baugrund und die Wohnungspreise liegen zwischen 3.500 und 6.000 Euro pro m². Das tendenziell höhere Preisniveau, welches in tourismusintensiven Gebieten herrscht, wird im gesamten Ausseerland zusätzlich durch eine sehr hohe Millionärsdichte forciert, die heute eine der höchsten Österreichs darstellt. Die Folgen dieser Entwicklung – starke soziokulturelle und sozioökonomische Veränderungen – zeigen Parallelen zu städtischen Gentrifizierungserscheinungen und führen zu einer Abwanderung junger Leute. Die Gemeinde Altaussee versucht zwar, mittels geförderter Wohnungen für Einheimische gegenzusteuern, von der Einführung einer Zweitwohnsitzsteuer, welche Gemeinden in vergleichbarer Situation einheben, wird bis dato aber abgesehen. 1999 wurde eine Siedlungsanlage errichtet, um ein leistbares Wohnungsangebot für Einheimische zu schaffen. In den Jahren 2012/13 erfolgten ein weiterer geförderter Siedlungsneubau und der Bau eines Generationenhauses für ältere und pflegebedürftige Menschen. Kultur und Sehenswürdigkeiten Architektur Katholische Pfarrkirche Altaussee hl. Ägidius: Das älteste Bauwerk der Gemeinde ist die Pfarrkirche, sie wurde erstmals im Gesamturbar des Herzogtums Steiermark, das unter Albrecht I. zwischen 1280 und 1295 angelegt wurde, urkundlich erwähnt. Der Kirchenpatron weist auf eine Entstehung im 12. Jahrhundert hin. Der heutige Bau stammt aus dem Jahr 1434. Kaiser Franz Joseph I. finanzierte von 1859 bis 1861 einen vergrößernden Umbau im Stil der Neugotik. Vom Vorgängerbau ist u. a. noch ein spätgotisches Sakramentshäuschen erhalten (um 1520). Burg Pflindsberg: Weiters im Gemeindegebiet befindet sich mit der Burgruine Pflindsberg der einzige größere mittelalterliche Wehrbau des Ausseerlands. Die Burg wurde um 1250 im Auftrag des erwählten Salzburger Erzbischofs Philipp von Spanheim als Wehranlage erbaut. Nachdem 1755 der letzte Bewohner die Burganlage verlassen hatte, wurde sie dem Verfall preisgegeben. 2000 errichteten die Österreichischen Bundesforste auf dem Gelände der ehemaligen Burganlage eine Aussichtswarte. Eine architektonische Rarität ist die Altausseer Freiluft-Gradieranlage, welche 1956 erbaut wurde. In ihr tropft Sole aus dem Altausseer Salzbergwerk über Tannenreisig, wodurch ätherische Öle freigesetzt werden. Eine regelmäßige Anwendung soll Linderung bei Bronchien- und Asthmaerkrankungen verschaffen. In Altaussee ist mit der Mühlberg-Mühle auch eine historische Wassermühle erhalten. In den Sommermonaten findet wöchentlich ein Schaumahlen statt. Museen und Kulturwanderwege Im Kur- und Amtshaus befindet sich das 1970 gegründete Literaturmuseum Altaussee. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf Literaten, die in Altaussee gewirkt haben, wie Hugo von Hofmannsthal, Friedrich Torberg und Jakob Wassermann. Das Museum sieht sich als Ort der Begegnung für Literaturbegeisterte. Historische Exponate, Hör- und Videobeispiele, Lesungen, Bücherflohmarkt, Buchshop, Leseraum und Literaturgarten sollen zur Literaturvermittlung beitragen. Das zweite Museum sind die Salzwelten Altaussee, das Schaubergwerk des Altausseer Salzbergwerks. Es befindet sich etwas außerhalb des Ortes an den nordöstlichen Hängen des Sandlings im 1319 angeschlagenen Steinbergstollen. Das zentrale Museum der Region ist das in Bad Aussee liegende Kammerhofmuseum mit Sammlungen zur Geschichte und Volkskultur des Ausseerlandes. Im Altausseer Gemeindegebiet bestehen drei markierte Kulturwanderwege: Die Via Artis begibt sich auf die Spuren der im Verlauf der Geschichte in Altaussee weilenden Literaten und Künstler und umrundet dabei den Ortsteil Fischerndorf (fünf Stationen, Strecke: circa 4 km, Gehzeit: etwa 1 ½ bis 2 Stunden). Die Via Salis folgt den Spuren des Salzbergbaus in Altaussee (23 Stationen, Wegstrecke: circa 8 km, Höhenunterschied: circa 300 m, Gehzeit: etwa 2 ½ bis 3 Stunden), Die LiteraTour begibt sich auf einen literarischen Spaziergang durch den Ort (Ausgangspunkt ist das Literaturmuseum Altaussee). Regelmäßige Veranstaltungen Der Altausseer Kiritåg, dessen Bierzelt eines der bekanntesten Österreichs darstellt ist mit rund 20.000 Gästen an drei Tagen ist es eines der größten Zeltfeste des Landes. An den drei Bierzelt-Festtagen werden rund 600 Fässer Bier konsumiert. Das Zeltfest findet seit 1961 jährlich am ersten Wochenende im September statt. Veranstalter des Bierzelts ist die Freiwillige Feuerwehr Altaussee, unterstützt durch andere Vereine, wie die ortsansässige Bergrettung, und Privatpersonen. Jedes Jahr Ende Mai wird im Ausseerland das Narzissenfest veranstaltet. Der dazugehörende Bootskorso findet jährlich wechselnd einmal in Altaussee und einmal in Grundlsee statt. Zweimal jährlich – in der Woche vor Ostern und in der ersten Oktoberwoche – finden in Altaussee die Fortbildungsworkshops der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse statt, an der mehr als hundert Kandidaten aus dem gesamten deutschen Sprachraum und zahlreichen Ländern Ost- und Südosteuropas teilnehmen. Kunst Bekanntester Künstler Altaussees ist der Schauspieler und Regisseur Klaus Maria Brandauer. Er ist Vorsitzender des Vereins Poesie im Ausseerland, der jeden Sommer Kulturprojekte realisiert. Unter anderem inszeniere er mehrere Jahre lang William Shakespeares Ein Sommernachtstraum in der Altausseer Seewiese und Felix Mitterers Spiel im Berg im Salzbergwerk. Die Schriftstellerin Barbara Frischmuth lebt in der Gemeinde und leitet das örtliche Literaturmuseum. Der Altausseer Maler Horst K. Jandl ist vor allem für seine romantischen Landschaftsgemälde bekannt. Die Ausseer Landschaft hat schon früh viele Maler angezogen. Zwischen 1801 und 1848 ließ Erzherzog Johann seine Kammermaler im Ausseerland arbeiten, unter anderen Jakob und Friedrich Gauermann, Matthäus Loder, Thomas Ender und Jakob und Rudolf Alt, wobei eine Vielzahl an Landschaftsbildern mit Altausseer Motiven entstand. Als weitere in Altaussee wirkende Maler sind Carl von Binzer, Anton Filkuka und Christl Kerry zu erwähnen. Die alpine Landschaft Altaussees diente bereits des Öfteren als Filmkulisse. Der bekannteste Filmdreh in jüngerer Zeit fand 2015 statt, als dort Szenen für den James-Bond-Film James Bond 007: Spectre gedreht wurden. In Altaussee spielt z. B. auch der 2019 gedrehte Film Ein Dorf wehrt sich. Außerdem fanden hier die Dreharbeiten zum Fernsehfilm Letzter Kirtag (2020) statt, der auf dem gleichnamigen Altaussee-Krimi von Herbert Dutzler basiert. Seit 2010 findet in Räumlichkeiten des Schaubergwerks Altaussee jeweils von Mai bis Oktober die Ausstellungsreihe Kunst am Steinberg statt. Die jährlichen Gruppenausstellungen bieten jeweils bis zu fünf zeitgenössischen Künstlern ein Forum für ihre Kunst. In Altaussee gibt es auch eine lange Tradition des Laienschauspiels. Im Jahr 1924 wurde mit der Heimatbühne Altaussee die erste Theatergruppe des Ortes gegründet, welche bis 1935 bestand. Von 1949 bis 1957 spielte der Altausseer Geselligkeitsverein Glück-Auf Theater, und von 1979 bis 2005 brachte die wiedergegründete Heimatbühne Altaussee insgesamt 22 Stücke zur Aufführung. Im Jahr 2011 wurde mit der Bühne Altaussee ein neuer Theaterverein ins Leben gerufen, der wieder alljährlich ein Stück aufführt. Brauchtum Die meisten Bräuche gibt es um die Rauhnächte in der relativ langen Winterzeit. Am 5. Dezember ist der so genannte Miglåtåg (abgeleitet von Nikolaus – Nikolo – Niklo – Miklo). Am Abend ziehen die laut schreienden Miglån [], wie die Krampusse in Altaussee genannt werden, in verschiedenen Gruppen (Pass’n) von Haus zu Haus und begleiten die Gestalt des Hl. Nikolaus bei ihren Kinderbesuchen. Neben den Pözteufön (Pelzteufeln) mit ihren geschnitzten Holzmasken gibt es schwarze oder rote Ganggerln in einer Montur aus Stoff, Miglåmandl und Miglåweuwö und die aufwendig hergestellten Figuren der Grosteufön aus Tannenreisig und Miasteufön (aus Moos und Flechten). Am 5. Jänner ist der so genannte Glöckötåg (Glöcklertag). An diesem Tag gehen vormittags bis zwölf Uhr Kinder mit Glocken und weißen Leinensäcken von Haus zu Haus, um den Winter „auszuläuten“ und werden dafür mit Glöckökrapf’n und Süßigkeiten belohnt. Läuten bei einem Haus viele Glöckler, so bedeutet das viel Glück im neuen Jahr. Am Abend findet auf einem zentralen, meist tief verschneiten Feld im Dorfzentrum ein symbolischer Kampf der den Frühling repräsentierenden, laut läutenden Glöckler mit den Bärigln (Pelzperchten) statt, die den Winter repräsentieren. Die Glöckler wollen den Winter „ausläuten“, die Perchten versuchen, der Glocken der Glöckler habhaft zu werden und diese in den Schnee zu werfen, wodurch ein wilder Kampf entsteht. Nach dieser Aktion gehen die mit Fellen vermummten Perchten von Haus zu Haus. Dabei kontrollieren sie die Häuser auf Sauberkeit und dürfen, während sie ihr Gesicht noch verborgen halten, kein Wort sprechen. Um Mitternacht ist der Spuk dieser letzten Rauhnacht vorbei. Auch um die Faschingszeit gibt es eine Vielzahl an Bräuchen, die in den so genannten heiligen drei Faschingstagen von Faschingssonntag bis Faschingsdienstag kulminieren. Während dieser Tage gehen die Maschkera (maskierte Faschingsgeher) um und es finden die so genannten Faschingsbriefe statt, in denen bei einer bissigen, meist musikalisch begleiteten Aufführung über peinliche Verfehlungen von Personen aus der Dorfgemeinschaft hergezogen wird. Weiters gibt es Schützenumzüge, den Umzug der Trommelweiber am Faschingsmontag und den der aufwendig gestalteten Altausseer Knopferln am Faschingsdienstag. Über all dem Treiben steht akustisch drei Tage lang der ausgelassene Ausseer Faschingsmarsch. Nur in der auf den Fasching folgenden Fastenzeit werden im steirischen Salzkammergut die Beigel, ein salziges, ringförmiges Laugengebäck gebacken. Am Palmsonntag, dem letzten Sonntag in der Fastenzeit, verteilen Kinder zuvor geweihte Palmbuschen an Nachbarn und Bekannte. Musik und Tracht In Altaussee dominieren die Volksmusik und die Neue Volksmusik. Wie im übrigen Salzkammergut werden auch in Altaussee die überlieferten Liedformen wie Jodler, Landler und Steirer weitertradiert und variiert. Das Gstanzlsingen und Paschen beim Steirer, beim Schleinigen und beim Landler ist besonders charakterisierend für die Volksmusik im inneren und steirischen Salzkammergut. Die wichtigste Musikgattung ist die Tanzmusik in ihrer Form als Geigenmusik. Zentrale Instrumente der Ausseer Volksmusik sind Geige, Kontrabass, steirische Ziehharmonika und Gitarre. Die Besetzung wird in den beliebigsten Variationen erweitert und verändert. Über das Schützenwesen hat sich in Altaussee auch die militärische Pfeifer- und Trommelmusik erhalten. Den unkonventionellen Umgang mit der Volksmusik dokumentiert zum Beispiel die Altausseer Band Rauhnacht, indem sie traditionelle Motive mit Elementen der Welt-, Funk- und Rockmusik fusioniert. Die 1852 gegründete Salinenmusik Altaussee und die Feuerwehrmusikkapelle Lupitsch geben im Sommer regelmäßig Platzkonzerte im Altausseer Kurpark. Das „Ausseea G’wånd“ ist für viele Altausseer eine alltägliche Selbstverständlichkeit, die keine festgesetzten Normen kennt. Es wird kontinuierlich an den jeweiligen Zeitgeschmack angepasst. In diesem Kontext ist auch die Tatsache zu sehen, dass es im gesamten Ausseerland keinen einzigen Trachtenverein gibt. Das „G’wånd“ für Frauen ist ein Dirndl mit weißer Bluse, welches farblich in allen möglichen Variationen vorkommt. Die klassische Version besteht aus einem rosafarbenen Rock („Kittl“), einem grünen „Leibl“ und einer lila Schürze („Fischta“). Bei besonders festlichen Anlässen wird eine schwarze Seidenschürze umgebunden und ein Seidentuch über die Schulter gelegt. Die Tracht der Herren besteht aus einer grün bestickten Lederhose, die entweder als kurze Hose oder als Kniebundhose ausgeführt ist. Die klassische Altausseer Lederhose ist eine kurze, „sieb’nnahtige“ (mit sieben seitlichen Nähten), bei der am Beinende ein etwa 2 cm breites „Bürserl“ angestückelt wird. Das Resultat ist ein heller Streifen kurz vor dem Hosenende. Zur Lederhose werden handgemodelte grüne Kniestrümpfe (Stutzen), eine grüne Weste (Leüwö) und darüber ein grauer oder ein grüner Spenzer (Janka oder Rock) getragen. Bei besonderen Anlässen wird ein weißes Hemd (Pfoad) angezogen und ein bedrucktes, seidenes Bindl umgebunden. Wirtschaft und Infrastruktur Beschäftigung Im Jahr 2009 waren 6,1 % der in Altaussee beschäftigten erwerbstätigen Personen in der Land- und Forstwirtschaft tätig (Vollerwerb). In Industrie und Bauwesen waren 22,6 % beschäftigt, davon 4,5 % im Bergbau. Der Großteil der Erwerbstätigen war im Dienstleistungssektor beschäftigt, davon 11,8 % im Tourismusbereich. Die allgemeine Erwerbsquote belief sich auf 46,0 %, die Erwerbsquote der 15–64-Jährigen auf 68,0 %. Die Arbeitslosenquote betrug 1,8 %. Die Anzahl der Arbeitsstätten stieg zwischen den beiden letzten Volkszählungen 1991 und 2001 um 9,5 % auf 115. Die Anzahl der Arbeitsplätze erhöhte sich im selben Zeitraum um 11,3 % auf 561. Somit bot die Gemeinde 2001 theoretisch für 75,3 % seiner 745 erwerbstätigen Einwohner einen Arbeitsplatz. 2009 hatten 265 außerhalb der Gemeinde wohnende Personen einen Arbeitsplatz in Altaussee, während 497 Altausseer auswärts arbeiteten. Somit waren im Jahr 2009 63 % aller erwerbstätigen Altausseer außerhalb ihres Wohnorts beschäftigt. 80,4 % der Einpendler kamen aus dem Bezirk Liezen, ebenso blieben 62,6 % der Auspendler innerhalb der Grenzen des Bezirkes. Tourismus Seit der Zeit der Sommerfrische im 19. Jahrhundert hat der Tourismus eine lange Tradition im Ort. Mit 133.345 Nächtigungen pro Jahr (Nächtigungen in allen Unterkunftsarten, Stand: 2011) und 34 touristischen Arbeitsstätten (Stand: 2006) ist die Tourismuswirtschaft in der Sommer- und Wintersaison einer der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren im Dienstleistungssektor. Die Gemeinde Altaussee bildet gemeinsam mit den anderen drei Gemeinden des steirischen Salzkammerguts die Ferienregion Ausseerland-Salzkammergut. Diese wiederum ist Teil der größeren, bundesländerübergreifenden Tourismusregion Salzkammergut. In Altaussee gab es 2012 insgesamt 1.661 Gästebetten in 152 Quartieren. Davon waren drei Hotels, zwei davon mit Vier-Sterne-Niveau. Die Hälfte der Betten wurden in Appartements und Ferienhäusern angeboten, rund 35 % in Hotels, Gasthöfen und Pensionen und knapp 15 % in Privatquartieren. Den größten Anteil an Quartieren stellten mit rund 64 % Ferienwohnungen und Ferienhäuser, gefolgt von Privatzimmern (22 %). Weiters gab es ein Jugendgästehaus und einen Campingplatz. Die Tourismusbetriebe der Gemeinde sind in der Sommersaison besser ausgelastet als in der Wintersaison. Im Winterhalbjahr 2009/10 lag die Bettenauslastung mit 19,6 % deutlich unter dem durchschnittlichen Wert des Bezirkes Liezen (31,6 %). Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 4,3 Tage, die Nächtigungsdichte lag bei 26,7 Übernachtungen pro Einwohner. Beide Werte liegen nur knapp unter dem Bezirksmittel (Aufenthaltsdauer: 4,7, Nächtigungsdichte: 27,4). Im Vergleich dazu betrug im Sommerhalbjahr 2009/10 die Bettenauslastung 31,8 %, was deutlich über dem durchschnittlichen Wert des Bezirkes liegt (23,8 %). Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 3,6 Tage, die Nächtigungsdichte lag bei 47,4 Übernachtungen pro Einwohner. Die Nächtigungsdichte lag klar über dem Bezirksmittel (21,7), die Aufenthaltsdauer knapp darunter (4,1 Tage). Landwirtschaft und Bergbau Seit mindestens 1147 wird am Sandling-Massiv bei Altaussee ohne Betriebsunterbrechung Salz abgebaut. Der Salzbergbau hat maßgeblich zur Entstehung des Ortes beigetragen und über Jahrhunderte neben der kargen Landwirtschaft für ein schmales, aber gesichertes Einkommen der Bevölkerung gesorgt. Die Salinen Austria AG ist heute noch der größte Industriebetrieb der Gemeinde und beschäftigt 57 Mitarbeiter (Stand: 2012). Mit einer jährlichen Produktion von 450.000 Tonnen Salz (Stand: 2008) ist das Salzbergwerk Altaussee heute die größte Salzgewinnungsstätte Österreichs. Land- und Forstwirtschaft waren in Altaussee seit jeher eng mit dem Bergbau verbunden. Die Bergarbeiter waren des geringen Verdienstes wegen meist gezwungen, ihr Auskommen zusätzlich als Nebenerwerbsbauern abzusichern. Die Forstwirtschaft stand ebenfalls unter dem Zeichen des Bergbaues, wurden die Sudpfannen der Bad Ausseer Saline doch bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich mit Holz befeuert. Dieser Geschichte trägt auch die heutige Gestalt der Land- und Forstwirtschaft Rechnung. Der größte Forstbesitzer sind die staatlichen Österreichischen Bundesforste (der Salzbergbau und die Salinen Austria waren bis 1997 ebenfalls verstaatlicht). Die Landwirtschaft ist von Nebenerwerbsbetrieben dominiert. 1999 gab es in Altaussee 95 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, wovon vier als Haupterwerbs-, 81 als Nebenerwerbsbetriebe und zehn als Betriebe juristischer Personen (z. B. die Österreichischen Bundesforste) geführt wurden. Im Vergleich zu 1995 ging die Zahl an Betrieben insgesamt um 11,2 % zurück, die Betriebe im Nebenerwerb gingen um 11 % zurück, die Zahlen an Haupterwerbsbetrieben und jener juristischer Personen blieben konstant. Die von Altausseer Betrieben im Jahr 1999 land- und forstwirtschaftlich genützte Fläche betrug 13.070 ha, wovon 96 % auf Betriebe juristischer Personen, 3 % auf Nebenerwerbsbetriebe und lediglich 0,4 % auf Haupterwerbsbetriebe und fielen. Im Jahr 1999 betrug die durchschnittliche Betriebsgröße 13,8 ha für Haupterwerbsbetriebe, 5,1 ha für Nebenerwerbsbetriebe und 1.260,5 ha für Betriebe juristischer Personen. Da die Gesamtfläche Altaussees nur 9.211,5 ha beträgt, liegen mindestens 29 % der von den ansässigen land- und forstwirtschaftlichen Betrieben bewirtschafteten Fläche außerhalb des Gemeindegebietes. Verkehr Aufgrund der relativ abgeschiedenen Lage in einem Talkessel ist Altaussee nur im Süden an das überregionale Straßennetz angebunden. Hier ist es die Salzkammergutstraße B 145, die die Gemeinde in Richtung Westen über den Pötschenpass mit Bad Goisern und Bad Ischl und in Richtung Osten mit dem Hinterbergtal und weiter über die Klachauer Höhe mit Trautenfels im Ennstal verbindet. Die Ortschaften Lupitsch und Lichtersberg liegen direkt an der Salzkammergut Bundesstraße, die übrigen Ortschaften werden über die Altausseerstraße L 702, welche Altaussee mit Bad Aussee verbindet, erschlossen. Zusätzlich gibt es mit der Wimmstraße L 702a eine größere Zubringerstraße direkt von der Salzkammergutstraße, welche vor dem eigentlichen Ortsbeginn in die Altausseerstraße mündet. In Altaussee nimmt weiters die neun Kilometer lange Loser Panoramastraße (erbaut 1970–1975) ihren Anfang. Sie wird als Mautstraße betrieben und führt bis auf Seehöhe. Seit 2001 laufen Planungen einer direkten Verbindungsstraße vom Pötschen zum Skigebiet Loser. Ziel ist eine Entlastung der durch das Altausseer Ortszentrum führenden Altausseerstraße. Eine Realisierung war bis 2020 geplant, die Finanzierung ist jedoch noch offen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist Altaussee mittels Linienbussen der ÖBB-Postbus GmbH erreichbar. Die Buslinie 955 bindet die Gemeinde dabei täglich bis zu zwölfmal an die Nachbargemeinde Bad Aussee an (Fahrzeit: zehn Minuten). Der nächstgelegene Anschluss an das Bahnnetz befindet sich ebenfalls im rund vier Kilometer südlich gelegenen Bad Aussee. Am Altausseer See verkehrt von Ende April bis Ende Oktober ein kleines, solarbetriebenes Ausflugsschiff. Von der Schiffsanlegestelle „Altaussee Madlmaier“ nahe dem Altausseer Ortszentrum fährt es täglich ein- bis fünfmal zur Seewiese am Ostufer des Altausseer Sees und retour. Die Fahrzeit einer einfachen Strecke beträgt circa 25 Minuten. Soleleitung In den Jahren 1905/06 erfolgte der Bau einer Soleleitung (auch „Salzsträhn“ genannt) von Altaussee durch das Rettenbachtal nach Bad Ischl. Dort mündet sie in die historische Soleleitung von Hallstatt zur Saline in Ebensee. Die Gesamtlänge der Leitung beträgt rund 36 km. Seit der Stilllegung der Saline in Bad Aussee im Jahr 1983 fließt die im Salzbergwerk Altaussee gewonnene Sole ausschließlich nach Ebensee. Zuvor wurde die Sole seit dem 13. Jahrhundert vom Altausseer Bergwerk am Sandling über eine rund sieben Kilometer lange Leitung (als „Saltzrynn“ urkundlich belegt) zu den Sudhäusern in Bad Aussee geleitet. 1616 wurde diese Leitung erneuert. Sie bestand aus 3.784 drei Meter langen Holzrohren. Bildung, Sicherheit, Gesundheit und Vereine Seit 1897 gibt es in der Gemeinde eine eigenständige Volksschule. Bis 1991 gab es auch eine eigene Volksschule in der Ortschaft Lupitsch. Im Jahr 1992 wurde das Altausseer Schulgebäude generalsaniert, in den Jahren 2008/09 erfolgte der Bau eines neuen Turnsaales. Die Schule beherbergt heute vier Klassen, die von sechs Lehrpersonen betreut werden. Weiterführende Schulen bis zur Matura befinden sich in der Nachbargemeinde Bad Aussee. Die nächstgelegene Volluniversität liegt im 79 km entfernten Salzburg. Altaussee verfügt heute über keine eigene Polizeistation mehr, wobei das Zuständigkeitsgebiet des ehemaligen Gendarmeriepostens der Polizeiinspektion Bad Aussee angegliedert wurde. Die Freiwillige Feuerwehr wurde 1877 gegründet. Neben dem 2006 neueröffneten Hauptgebäude im Ortsteil Puchen verfügt sie seit 1956 über eine eigene Wasserwehr am Altausseer See. Zusätzlich gibt es in der Ortschaft Lupitsch seit 1919 eine eigenständige Feuerwehr. Zur Bergung von Bergopfern wurde 1952 eine Einsatzgruppe des Österreichischen Bergrettungsdienstes eingerichtet. Für die Gesundheitsversorgung steht in der Gemeinde ein Arzt für Allgemeinmedizin zur Verfügung. Für den Besuch eines Facharztes muss jedoch ins benachbarte Bad Aussee ausgewichen werden. Dort befindet sich auch das LKH Bad Aussee, welches gemeinsam mit dem LKH Rottenmann als „Krankenanstaltenverbund Rottenmann-Bad Aussee“ betrieben wird. In der Gemeinde Altaussee sind mehr als 40 Vereine (2012) gemeldet. Der älteste Verein ist die Privilegierte Schützengesellschaft, die um das Jahr 1793 gegründet wurde. Sport und Freizeit In Altaussee gibt es elf Sportvereine. Größter ist der 1951 gegründete Wintersportverein Altaussee (WSV). Der 1971 gegründete Altausseer Fußballverein (FC Altaussee) wurde 2011 in FC Ausseerland umbenannt und stellt, seit der Auflösung des SV Bad Aussee, den einzigen Fußballverein des Ausseerlandes dar. Neben dem Fußballplatz verfügt der Ort über einen Tennisplatz und eine Stocksportanlage. Von den gemeldeten Sportvereinen betreibt der Taubenschützenverein Altaussee die wohl ungewöhnlichste Sportart. Bei dieser speziellen Form des „Taubenschießens“ zielt man mit einer hölzernen Taube, die an einem Pendel hängt, auf eine Zielscheibe. Altaussee bietet Winter- und Sommersportmöglichkeiten. Das Skigebiet Loser-Sandling (850–1770 m) umfasst 29 km Pisten und Abfahrten. Zudem sind im Gemeindegebiet 15 km Langlaufloipen (klassisch und skating) gespurt. Die umliegenden Berge des Toten Gebirges sind durch ein gut markiertes Wandernetz erschlossen, so führt auch der violette Weg des grenzüberschreitenden Weitwanderwegs Via Alpina durch das Gemeindegebiet. Auf diesem bestehen zudem drei Schutzhütten, die Loserhütte, die Ischler Hütte und die Wildenseehütte. Die bekannteste Wandermöglichkeit der Gemeinde ist ein Rundgang um den Altausseer See (7,5 km, zwei Stunden Gehzeit). Beliebte Kletterrouten führen durch die Loser-Südwand – über einen 2007 eröffneten Klettersteig (D). – und die Trisselwand-West- und Südwestwand (III+ bis VII-) Am Loser-Plateau bestehen weiters zwei Startrampen für Drachenflieger (1550 m und 1600 m) und drei ausgewiesene Startplätze für Paraglider (1680 m bis 1837 m). Politik Gemeinderat und Wahlen Der Gemeinderat als oberstes Gremium der Gemeinde umfasst 15 Sitze und wird alle fünf Jahre im Zuge steiermarkweiter Gemeinderatswahlen gewählt, die letzte Wahl fand 2020 statt. Bei einer Wahlbeteiligung von 69,5 % lag die Zahl der ungültigen Stimmen bei 1,4 %. Bei der Wahl traten mit der ÖVP, der SPÖ und der erstmals kandidierenden Bürgerliste Dialog Lebenswertes Altaussee (DLA) drei Parteien an. Es ergab sich folgende Mandatsaufteilung: Die ÖVP erhielt mit 43,7 % sieben Mandate, die Bürgerliste DLA mit 28,5 % vier Mandate und die SPÖ mit 27,8 % ebenfalls vier Mandate. Die ÖVP verlor im Vergleich zu den Gemeinderatswahlen 2015 32,6 %. Die Bürgerliste DLA, die sich gegen den touristischen Ausverkauf der Gemeinde wehrt, schaffte mit 28,5 % vom Stand weg den Sprung auf den zweiten Platz und kippte somit die absolute Mehrheit der bisherigen Bürgermeisterpartei. Die drittplatzierte SPÖ konnte gegenüber 2015 4,2 % dazu gewinnen. Bürgermeister ist seit 2015 Gerald Loitzl. Bedingt durch die vom Bergbau geprägte Bevölkerung waren die Sozialdemokraten in Altaussee traditionell stark verwurzelt. Von 1945 bis 2010 stellten sie ununterbrochen den Bürgermeister und die Mehrheit im Gemeinderat. Noch bei den Gemeinderatswahlen 2005 erhielt die SPÖ 9 und die ÖVP 6 Mandate. Die Gemeinderatswahl 2010 brachte eine Wende. Erstmals stellte die ÖVP nun mit 9 Mandaten die Mehrheit, die SPÖ erhielt 6. Ausschlaggebend für diese Trendumkehr hin zur ÖVP war die Kontroverse um den Neubau des LKH Bad Aussee, gegen den sich die SPÖ aussprach. 2015 konnte die ÖVP den Vorsprung ausbauen und erreichte 12 Mandate, die SPÖ nur mehr 3. Eine erneute Trendwende brachte die Gemeinderatswahl 2020 (siehe oben), als mit der unabhängigen Bürgerliste DLA erstmals in der zweiten Republik eine dritte politische Kraft in Erscheinung trat. Die neue Bürgerliste will die Lebensqualität in der Gemeinde steigern und kämpft unter dem Slogan „Altaussee darf nicht Hallstatt werden“ gegen touristische Übervermarktung an. Ihre Kandidatur wurde von zahlreichen prominenten Altausseern wie Klaus Maria Brandauer und Barbara Frischmuth sowie den Grünen unterstützt. Ausschlaggebend waren bei der Wahl 2020 also die klassischen Themen der Altausseer Kommunalpolitik: die steigenden Wohn- und Immobilienpreise, ausgelöst durch zahlreiche ortsfremde Investoren und viele Zweitwohnungsbesitzer, die Umwidmung von Bauland und die mit dem Overtourism einher gehenden Probleme wie Straßenverkehrslärm und -überlastung, Zerstörung der Natur und steigende Lebenserhaltungskosten. Wappen Die offizielle Blasonierung des 1971 verliehenen Gemeindewappens lautet: Persönlichkeiten In Altaussee geboren Im Bereich Kunst und Kultur ist zunächst der Hofnarr von August dem Starken Joseph Fröhlich (1694–1757) zu nennen. Ebenfalls aus Altaussee stammen der Fotograf Michael Moser (1853–1912), die Regisseurin Karin Brandauer (1945–1992) und der Komponist und Musikpädagoge Hermann Markus Preßl (1939–1994). Die Schriftstellerin Barbara Frischmuth wurde ebenfalls in der Gemeinde geboren und lebt wieder dort. Aus dem Bereich des Sports ist der Alpinist und Mitbegründer des Freikletterstils Paul Preuß (1886–1913) anzuführen, aus dem politischen Bereich der Heimatblock-Politiker Hans Tanzmeister (1892–1955), der ÖVP-Politiker Hermann Gaisbichler (1899–1970), die Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus Marianne Feldhammer (1909–1996) und der SPÖ-Politiker Adolf Schachner (* 1941). Mit Altaussee verbunden Die wichtigsten mit Altaussee verbundenen und dort wirkenden Personen wurden in den Abschnitten Geschichte und Kunst bereits genannt. Als aktuell in der Gemeinde lebende und wirkende Persönlichkeiten sind der Industrielle und ehemalige Politiker (SPÖ) Hannes Androsch (Ehrenring der Gemeinde Altaussee), der Schauspieler und Regisseur Klaus Maria Brandauer (Ehrenbürger von Altaussee), der Maler Horst K. Jandl, der Schauspieler Walter Langer, der Publizist Paul Lendvai, der deutsche Schriftsteller und Regisseur Hans Neuenfels und die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar hervorzuheben. Bekannte Personen, die auf dem Altausseer Friedhof begraben liegen, sind unter anderen der Geologe und Anthropologe Ferdinand Leopold von Andrian-Werburg (1835–1914, Ehrenbürger von Altaussee), der Schriftsteller und Diplomat Leopold Andrian (1875–1951), der nationalsozialistische Schriftsteller und Herausgeber Bruno Brehm (1892–1974), der deutsche Roman-, Drehbuchautor und Regisseur Eberhard Frowein (1881–1964), der österreichische SS-Offizier Wilhelm Höttl (1915–1999), die italienische Ärztin und Psychoanalytikerin Alice Ricciardi (1910–2008), der deutsch-jüdische Schriftsteller Jakob Wassermann (1873–1934) wie auch sein Sohn Charles Wassermann (1924–1978). Literatur Reinhard Lamer: Das Ausseer Land. Geschichte und Kultur einer Landschaft. Styria, Graz 1998, ISBN 3-222-12613-5. Karl Vocelka: Die Haus- und Hofnamen der Katastralgemeinden Altaussee, Grundlsee, Lupitsch, Obertressen, Reitern und Straßen im steirischen Salzkammergut. Band 1 und 2 (Dissertationen der Universität Wien, Band 102). Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, Wien 1974, . Weblinks altaussee.at Webpräsenz der Gemeinde Altaussee Archivaufnahmen und O-Töne aus und über Altaussee im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek Einzelnachweise Kurort in der Steiermark Katastralgemeinde im Bezirk Liezen Ort im Salzkammergut Ort im Einzugsgebiet der Traun (Donau) Totes Gebirge Ersterwähnung 1265
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ringzug
Ringzug
Der Ringzug, ursprünglich auch 3er-Ringzug genannt, ist ein Schienenpersonennahverkehrssystem im Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg im südlichen Baden-Württemberg. Der Ringzug nahm seinen regulären Betrieb am 31. August 2003 auf und wird seit dem 12. Dezember 2004 in seiner heutigen Form betrieben. Konzept des Ringzugs ist es, ein vertaktetes und auf eine Vielzahl anderer Busse und Bahnen abgestimmtes S-Bahn-ähnliches Angebot in einem ländlich strukturierten Raum zu schaffen. Im März 2006 zeichnete der Fahrgastverband Pro Bahn den Ringzug als vorbildliches Nahverkehrssystem mit dem „Fahrgastpreis 2006“ aus. Der Ringzug fand über die Region hinaus weite Beachtung und kann auf stetig steigende Fahrgastzahlen und sinkenden Zuschussbedarf verweisen. Bezeichnung Die Bezeichnung „Ringzug“ wurde gewählt, weil seine Streckenführung ursprünglich einen Ring bilden sollte, unterbrochen wird er aber nach wie vor durch die Lücke zwischen Immendingen und Donaueschingen. Vervollständigt wird das Netz durch Strecken, die nicht Teil des Rings sind. Dazu gehören die Trossinger Eisenbahn sowie Teile der Bregtalbahn, der Wutachtalbahn und der Bahnstrecke Tuttlingen–Inzigkofen. Die alternative Bezeichnung „3er-Ringzug“ sollte darauf hinweisen, dass sich drei Landkreise (Tuttlingen, Rottweil und Schwarzwald-Baar) am Projekt beteiligen. Geschichte Ausgangslage Die Deutsche Bundesbahn gab in den 1970er- und 1980er-Jahren einen Großteil der Bahnhöfe und Haltepunkte im Ringzug-Gebiet infolge des sogenannten Eilzugmäßigen Fahrens auf, die Nahverkehrszüge wurden weitgehend eingespart. Auf dem 28 Kilometer langen Abschnitt Rottweil–Tuttlingen der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen war der Bahnhof Spaichingen der einzig verbliebene Zwischenhalt. Selbst in der 7500-Einwohner-Gemeinde Aldingen hielt kein Zug mehr. Auf der Bahnstrecke Marbach–Bad Dürrheim wurde der Personenverkehr bereits 1953 aufgegeben, die Heubergbahn folgte 1966 und das nördliche Teilstück der Wutachtalbahn von Lauchringen nach Zollhaus-Blumberg war ab 1967 ohne planmäßigen Personenverkehr. Seit 1972 galt dies auch für die Bregtalbahn. Die Trossinger Eisenbahn sollte nach einem 1996 gefassten Beschluss des Trossinger Gemeinderats sogar ganz stillgelegt werden. Lediglich im Bereich des Naturparks Obere Donau zwischen Tuttlingen und Fridingen wurde mit dem im September 1990 gestarteten „Donautal-Modell“ des Landkreises Tuttlingen eine Rückverlagerung eines Teils des Schülerverkehrs auf die Schiene erreicht. Ansonsten war der Nahverkehr der Region weitgehend auf die Schülerbeförderung per Omnibus ausgerichtet. Infolge dieses Rückzugs aus der Fläche blieben der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg nur noch überregionale Verbindungen erhalten, davon zwei im Schienenpersonenfernverkehr. Auf der Schwarzwaldbahn verkehrten, neben den Eilzügen, Interregio-Züge im Zwei-Stunden-Takt zwischen Hamburg und Konstanz. Auf der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen fuhren außer den Eilzügen D-Züge beziehungsweise EuroCitys von Stuttgart über Zürich nach Italien. Außerdem gab es langlaufende Eilzüge auf den Relationen Ulm–Tuttlingen–Donaueschingen–Neustadt (Schwarzwald) und Rottweil–Villingen–Donaueschingen–Neustadt (Schwarzwald). Politische Entscheidungen auf dem Weg zum Ringzug 1995–2001 Im Januar 1995 präsentierte der Regionalverband Schwarzwald-Baar-Heuberg die vom Tübinger Nahverkehrsberater Gerd Hickmann erarbeitete Studie „Integraler Taktfahrplan Bus und Bahn für die Region Schwarzwald-Baar-Heuberg“. Diese schlug vor, einen integralen Taktfahrplan in der Region einzuführen und Schienen- und Busverkehr miteinander zu verknüpfen. Rückgrat dieses neuen Verkehrskonzepts sollte ein „Ringzug“ sein. Im Anschluss an Hickmanns Studie betreute sein Kollege Ulrich Grosse das Konzept weiter und beriet die politisch Verantwortlichen bis zu dessen Umsetzung. Im Januar 1996 beschlossen bereits die Landräte der Landkreise Tuttlingen und Rottweil sowie des Schwarzwald-Baar-Kreises in der so genannten „Trossinger Vereinbarung“, die erarbeitete Konzeption umzusetzen. Der in der Region wohnende damalige Ministerpräsident Erwin Teufel sicherte als Vertreter des Landes Baden-Württemberg zu, das neu einzuführende Nahverkehrssystem fördern zu wollen. Nach der Trossinger Vereinbarung befassten sich die drei Kreistage mit dem Konzept und stimmten diesem 1999 zu. Daraufhin begann das Land Baden-Württemberg mittels einer Preisanfrage, nach einem Betreiber für das Ringzug-System zu suchen. Unter mehreren eingegangenen Angeboten von insgesamt vier Eisenbahnverkehrsunternehmen, darunter auch ein Angebot der Deutschen Bahn AG, setzte sich Ende 1999 schließlich die Hohenzollerische Landesbahn (heute Teil der SWEG) mit ihrem Angebot durch. Von 1999 bis 2001 stockte die weitere Planung, da zwischen den Landkreisen ein Streit über die Verteilung der Betriebskosten ausgebrochen war. Dieser Konflikt wurde 2001 beigelegt, im selben Jahr wurde auch der Finanzierungsvertrag mit dem Land Baden-Württemberg abgeschlossen. Im Dezember 2001 wurde der Zweckverband Ringzug ins Leben gerufen, dessen erster Vorsitzender der damalige Tuttlinger Landrat Hans Volle wurde. Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur 2001–2003 Die teilweise seit Jahrzehnten stillgelegten Strecken sowie die fehlenden Haltepunkte erforderten massive Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Auch die Sicherungstechnik, die teilweise aus der Frühzeit des 20. Jahrhunderts stammte, musste grundlegend erneuert werden und wurde schließlich durch ein computergesteuertes System ersetzt. Auch wurden elektronische Stellwerke eingeführt, die nun aus Karlsruhe ferngesteuert werden. Insgesamt kosteten alleine die neue Sicherungstechnik, die Haltepunkte und die Ertüchtigung des Streckennetzes circa 67 Millionen Euro. Dazu kamen 33 Millionen Euro für die Anfang 2003 insgesamt 20 ausgelieferten Regio-Shuttles, die das neue Streckennetz befahren. Für diese wurde ein neues Betriebswerk in Immendingen gebaut. Eingeschränkter Ringzug-Betrieb 2003/2004 Ursprünglich war der 15. Dezember 2002 als Ringzug-Start vorgesehen. Erhebliche Verzögerungen bei den Sanierungsarbeiten verschoben aber den Betriebsbeginn bis zum 31. August 2003. Da allerdings auch zu diesem Zeitpunkt die Infrastruktur noch nicht vollständig zur Verfügung stand, startete nur ein eingeschränkter Betrieb. Viele der vorgesehenen neuen Haltepunkte waren noch nicht fertiggestellt, sodass diese monatelang nicht angefahren werden konnten. Außerdem konnte wegen der Umstellung auf elektronische Stellwerke am Wutachtalbahn-Abzweig in Hintschingen diese Strecke zunächst noch nicht mit aufgenommen werden. Der Ringzug startete also mit unvollständigem Streckennetz und zu wenigen Haltepunkten, was dazu führte, dass im ersten Betriebsjahr noch Busse parallel zu den Bahnstrecken fuhren. Übernahme der Aufgabenträgerschaft Zum 1. Januar 2022 übernahm das Land Baden-Württemberg vom Zweckverband Ringzug die Aufgabenträgerschaft für den Ringzug. Zukunftspläne Schon seit Beginn des Betriebs besteht die Forderung, die Netzlücke zwischen Immendingen und Donaueschingen zu schließen. Dies würde direkte Ringzug-Verbindungen von Tuttlingen nach Donaueschingen ermöglichen. In der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre war außerdem im Bereich der Stadt Tuttlingen ein kommunales Thema, ob mit zusätzlichen Haltepunkten in der Stadt und einem Taktverkehr zwischen Tuttlingen und Fridingen eine Art Stadtbahn realisiert werden könnte. Der Verwaltungsausschuss des Landkreises Rottweil beschloss im Juni 2008 außerdem eine Ausweitung des Betriebs auf den Gäubahn-Abschnitt von Rottweil nach Horb am Neckar zu prüfen, gab das Vorhaben jedoch im November 2008 wieder auf. Seit 2018 wird erneut an der Zukunft des Ringzuges unter dem Namen Ringzug 2.0 geplant. So wurden mehrere Szenarien von den Landkreisen zur Planung beauftragt, welche im Jahr 2019 den Kreisgremien vorgestellt wurden. Im Kern soll der Ringzug weitgehend oder komplett elektrisch verkehren, außerdem sollen weitere Strecken und damit auch Haltestellen für den Ringzug aktiviert oder reaktiviert werden – damit einher geht auch eine Erneuerung der bahnseitigen Infrastruktur. Dies betrifft die Strecke von Villingen nach St. Georgen im Schwarzwald, wo neue Haltepunkte im Bereich Villingen-West oder Peterzell geplant sind, und eine Ausweitung des Verkehrs im Donautal nach Fridingen. Während auf der Strecke zwischen Tuttlingen und Fridingen eine Elektrifizierung zur Debatte steht und sie zwischen Tuttlingen und Immendingen gesetzt ist, soll der Abschnitt von Immendingen nach Blumberg langfristig ohne elektrische Antriebstechnik befahren werden. Auch die Strecke von Hüfingen nach Bräunlingen und von Rottweil nach Villingen soll elektrifiziert werden. Damit soll auch der jetzige Regionalexpress von Stuttgart nach Rottweil bis Villingen weiter fahren. Die Ringzug-Verbindung von Immendingen nach Donaueschingen über Geisingen wurde auch in diesem Projekt erneut überprüft, konnte aber wegen Überschneidungen mit Schwarzwaldbahn-Zügen nicht berücksichtigt werden. Für die Trossinger Eisenbahn ist eine zwischen Gleich- und Wechselspannung umschaltbare Oberleitung geplant. Im Jahr 2020 wurde seitens der Landkreise ein Planungsauftrag an DB Netz erteilt, damit diese die konkrete Kosten- und Zeitplanung in Angriff nehmen kann. Der ursprüngliche Inbetriebnahmetermin 2024 kann nicht gehalten werden. Ab 2024 müssen die dann über 20 Jahre eingesetzten Fahrzeuge erneut zur Hauptuntersuchung und sind bilanziell ab diesem Zeitpunkt nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. Neuere DB-Angaben sehen die Inbetriebnahme ab 2027 möglich. Ende 2021 beauftragte der Zweckverband die DB mit Grundlagenermittlung und Vorplanung. Diese ersten beiden Planungsphasen sollen nunmehr 2024 abgeschlossen werden. Im Juni 2022 schrieb die DB verschiedene Vermessungsleistungen für das Projekt aus. Streckennetz Integrierte Strecken Das Ringzug-Streckennetz besteht aus folgenden sieben Eisenbahnstrecken: der Bregtalbahn von Bräunlingen (früher von Furtwangen) nach Donaueschingen in ihrer gesamten noch vorhandenen Länge, der Schwarzwaldbahn von Offenburg nach Konstanz in den Abschnitten Villingen–Donaueschingen und Hintschingen–Immendingen, der Bahnstrecke Rottweil–Villingen in ihrer ganzen Länge, der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen im Abschnitt Rottweil–Immendingen, der Bahnstrecke Tuttlingen–Inzigkofen im Abschnitt Tuttlingen–Fridingen an der Donau, der Wutachtalbahn im Abschnitt Hintschingen–Blumberg-Zollhaus, der Trossinger Eisenbahn von Trossingen Bahnhof nach Trossingen Stadt in ihrer ganzen Länge. Keine der genannten Bahnstrecken gehört zum Stammnetz der Hohenzollerischen Landesbahn. Beim Großteil der Strecken ist die DB Netz AG das zuständige Eisenbahninfrastrukturunternehmen, die Trossinger Eisenbahn gehört den Stadtwerken Trossingen, die Wutachtalbahn den Bahnbetrieben Blumberg und der Abschnitt Hüfingen–Bräunlingen der Südwestdeutschen Verkehrs-AG (SWEG). Letztere beide wurden, nachdem auf ihnen zuvor jahrzehntelang kein regelmäßiger Personenverkehr stattfand, für den Ringzug reaktiviert. Auf den drei Strecken, die nicht zur DB Netz AG gehören, verkehrt heute ausschließlich der Ringzug als ganzjähriges Regelangebot im Personenverkehr. Auf den übrigen Streckenabschnitten verkehren zusätzlich auch Züge der Deutschen Bahn. Lücke zwischen Donaueschingen und Immendingen Zwischen Immendingen und Donaueschingen besteht eine Lücke im System. Ursächlich hierfür ist die Fahrplangestaltung Mitte der 1990er-Jahre, als das Konzept entwickelt wurde. Zu dieser Zeit belegten die Interregio-Züge auf der Schwarzwaldbahn zwischen Donaueschingen und Immendingen genau zu den Zeiten die Fahrplantrassen, zu denen der Ringzug sie benötigt hätte. Darum wurde zunächst davon abgesehen, die betreffende Strecke in das Konzept aufzunehmen. Stattdessen entschied man sich, die Wutachtalbahn im verhältnismäßig dünn besiedelten Abschnitt Immendingen–Blumberg-Zollhaus in den Ringzug einzubeziehen. Dies führte zur ursprünglich nicht geplanten Reaktivierung dieses Abschnitts und zur oben erwähnten Lücke. Nach dem Ende des Interregio-Verkehrs auf der Schwarzwaldbahn und der Verschiebung der Fahrzeiten auf dieser Strecke wäre es heute möglich, die Lücke zwischen Immendingen und Donaueschingen mit dem Ringzug zu befahren. Damit könnten Geisingen Bahnhof, Geisingen-Gutmadingen, Donaueschingen-Neudingen sowie Donaueschingen-Pfohren angeschlossen werden. Dies ist immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen, aktuell aber nicht geplant. Stationen Bis 2004 hat die DB Station&Service für den Ringzug-Betrieb 18 neue Haltepunkte eingerichtet und 16 aufgelassene Stationen reaktiviert. Auch wurden einige vorhandene Stationen näher an die jeweiligen Siedlungen gerückt. Der durchschnittliche Abstand zwischen den Zugangsstellen beträgt 1,9 Kilometer. Es wurden in der Regel alle an der Strecke liegenden Gemeinden und Gemeindeteile angeschlossen, so dass auch kleinere Orte wieder über eine oder sogar mehrere Stationen verfügen. Ein Großteil der Ringzug-Stationen sind Bedarfshalte, die meisten sind barrierefrei. Betrieb und Organisation Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln Mit der Betriebsaufnahme wurde der Nahverkehr in der Region grundlegend neu organisiert. Parallele Busverkehre entlang der Bahnstrecken wurden weitgehend eingestellt. Die Buslinien dienen seither als Zubringer zur Schiene und wurden konsequent mit dem Ringzug vertaktet. Wichtige Verknüpfungspunkte zwischen Schiene und Bus sind Bräunlingen Bahnhof, Donaueschingen Bahnhof, Brigachtal-Klengen, Brigachtal-Kirchdorf, Villingen (Schwarzwald), Schwenningen, Rottweil, Aldingen, Tuttlingen, Immendingen, Geisingen-Hausen und Geisingen-Leipferdingen. In Rottweil sind die aus beiden Richtungen kommenden Ringzüge teilweise mit dem Fernverkehr zwischen Stuttgart und Zürich vertaktet, sodass alle Stationen zwischen Leipferdingen und Rottweil Anschluss an die stündlich verkehrenden Intercitys nach Süden haben. In Villingen besteht regelmäßiger Anschluss zur Breisgau-S-Bahn nach Freiburg. In Immendingen und Villingen besteht regelmäßiger Anschluss zur Schwarzwaldbahn in Richtung Karlsruhe beziehungsweise Konstanz. Im Sommer dient der Ringzug außerdem als Zubringer für die Museumsbahn von Blumberg-Zollhaus nach Weizen. Verkehr und Taktfolge Der Ringzug bedient sowohl werktags als auch am Wochenende die Linie von Bräunlingen nach Rottweil im Stunden- sowie weiter nach Geisingen-Leipferdingen beziehungsweise Blumberg im Zwei-Stunden-Grundtakt. Werktags kommen zu dieser Grundleistung nochmals zahlreiche zusätzliche Verstärker-Leistungen hinzu, die aber meist nicht über die komplette Strecke fahren. Viele Züge haben ihren Anfangs- beziehungsweise Endpunkt in Rottweil oder in Trossingen Stadt und fahren von und nach Leipferdingen. Werktags ergibt sich dadurch zwischen Bräunlingen und Leipferdingen mindestens ein Stundentakt. Dieser Stundentakt wird auf manchen Relationen zu den Hauptverkehrszeiten nochmals verstärkt, so dass sich beispielsweise zwischen Tuttlingen und Spaichingen werktags zwischen 15:00 Uhr und 18:00 Uhr ein annähernder Halbstunden-Takt ergibt. Einige Züge fallen sowohl aus diesem Taktschema als auch aus der Linienführung heraus. So verkehren die Züge auf der Trossinger Eisenbahn so, dass in Trossingen Bahnhof grundsätzlich alle dort haltenden Züge erreicht werden können. Auf dem Abschnitt Tuttlingen–Fridingen an der Donau hingegen ist der Ringzug-Verkehr nicht vertaktet. Dort verkehren nur einzelne Züge an Werktagen. Am Wochenende gibt es dort keinen Ringzug-Verkehr. Hier wird der Großteil des öffentlichen Verkehrs auch weiterhin über Busse abgedeckt. Auf der Wutachtalbahn enden und beginnen werktags die meisten Ringzüge in Geisingen-Leipferdingen anstatt in Blumberg-Zollhaus, so dass der Wutachtalbahn-Abschnitt Geisingen-Leipferdingen–Blumberg-Zollhaus werktags größtenteils ebenfalls von Bussen befahren wird. Einige wenige Ringzüge verkehren über das eigentliche Streckennetz hinaus bis nach Sigmaringen und nach Singen (Hohentwiel). Einige wenige Zugpaare fahren an Schultagen ebenfalls von Immendingen über Geisingen Bahnhof nach Donaueschingen. Es werden jährlich 1.258.000 Zugkilometer gefahren. Fahrzeuge Die Fahrzeuge des Ringzugs sind Dieseltriebwagen des Typs Stadler Regio-Shuttle RS1, von welchen insgesamt 20 angeschafft wurden. Von anderen Fahrzeugen gleichen Typs unterscheiden sie sich dadurch, dass an einigen Sitzplätzen Steckdosen für die Laptop-Nutzung zur Verfügung stehen. Alle sind klimatisiert und besitzen eine Toilette. Teilweise werden in der morgendlichen Hauptverkehrszeit Ringzüge in Kooperation mit der DB Regio AG gefahren und mit einem Elektrotriebwagen der Baureihe 3442 durchgeführt. Ursächlich hierfür war die Tatsache, dass die Ringzug-Regio-Shuttles teilweise auch in Mehrfachtraktion der enorm hohen Nachfrage zu dieser Zeit nicht gewachsen waren. Auch die Baureihen 611 oder 425 verkehrte bereits planmäßig als Ringzug. Die unerwartet hohen Fahrgastzahlen führten schon früh zu Kapazitätsengpässen, die ab Dezember 2004 unter anderem zur Folge hatten, dass auf der Trossinger Eisenbahn die Altbautriebwagen T3 und T5 der Baujahre 1938 und 1956 wieder zum planmäßigen Einsatz kamen. Die eigentlich für den Verkehr auf der Trossinger Eisenbahn vorgesehenen modernen Regio-Shuttles mussten als Mehrfachtraktionen unerwartet stark ausgelastete Züge auf anderen Strecken verstärken. Die Überarbeitung der Sitze, Haltestangen, Müllbehälter und Türtaster der 20 Regio-Shuttle-Triebwagen sowie die Änderung vom elfenbein-roten Design der Hohenzollerischen Landesbahn zum gelb-weiß-schwarzen Landesdesign begann im März 2023 mit voraussichtlichem Abschluss im Frühjahr 2025 durch die OWS Service für Schienenfahrzeuge in Weiden in der Oberpfalz auf Kosten des Landes Baden-Württemberg. Die ersten beiden neugestalteten Triebwagen wurden am 25. Juli 2023 in Villingen vorgestellt. Die Dieseltriebwagen sollen in den frühen 2030er Jahren nach der Elektrifizierung durch elektrische Fahrzeuge ersetzt werden. Fahrgastzahlen und Pünktlichkeit Der Ringzug befördert täglich durchschnittlich 10.000 Fahrgäste. An Schultagen werden Werte zwischen 12.000 und 12.500 Fahrgästen täglich erreicht. Die Fahrgastzahlen sind so seit dem Start im Jahr 2003 deutlich angestiegen. Besonders stark frequentierte Bahnhöfe sind Villingen, Tuttlingen, Schwenningen und besonders markant Aldingen als reaktivierter Halt mit mehr als 1000 Fahrgästen täglich. Insgesamt fahren 53,7 Prozent der Fahrgäste auf dem Gebiet des Landkreises Tuttlingen, 36,6 Prozent innerhalb des Schwarzwald-Baar-Kreises und nur 9,7 Prozent auf dem Gebiet des Landkreises Rottweil. 20 Prozent der Fahrgäste überschreiten bei ihrer Fahrt eine Kreisgrenze. Dabei fahren 54,8 Prozent der Fahrgäste die zentralen Orte Villingen-Schwenningen, Tuttlingen, Rottweil und Donaueschingen an. Durchschnittlich legt ein Fahrgast 10,5 Kilometer mit dem Ringzug zurück, wobei 53,4 Prozent der Fahrgäste Haltepunkte benutzen, die mit dem Ringzug reaktiviert oder neu eingerichtet wurden. Der durchschnittlich höchste Besetzungsgrad wird zwischen Villingen und Brigachtal erreicht. Die Pünktlichkeit des Ringzugs liegt bei einem Wert von über 97 Prozent. Organisation und Finanzen Der Betrieb ist auf zwei Organisationen verteilt. Für den technischen Betrieb sowie das Betriebswerk in Immendingen ist die Hohenzollerische Landesbahn zuständig. Diese beschäftigt für den Betrieb zurzeit 50 Mitarbeiter und erhält für ihre Aufgaben fixe Betriebskostenzuschüsse. Der Leiter des SWEG-Standorts Ringzug ist derzeit Mirco Köhler. Aufgebaut wurde der damalige HzL-Verkehrsbetrieb Ringzug durch Frank von Meißner. Der Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg, ursprünglich Zweckverband Ringzug, fungiert hingegen als Dachorganisation der drei beteiligten Kreise. Diesem Verbund, der inzwischen ebenfalls zum Eisenbahnverkehrsunternehmen geworden ist, obliegen die kaufmännische Geschäftsführung, der Vertrieb, das Marketing sowie die Koordination der Tarife. Der Verbund trägt ebenfalls das Erlösrisiko des Betriebs und verteilt das Betriebsdefizit beziehungsweise den Gewinn an die drei beteiligten Landkreise. Alle Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf sowie die Zuschüsse aus der Schülerbeförderung gehen an den Zweckverband und somit an die Landkreise. Der Geschäftsführer des Verbunds ist seit dem 1. Januar 2019 Michael Podolski. Der Verbandsvorsitzende ist der Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises Sven Hinterseh. Vor dem Ringzug-Start wurde ein jährliches Betriebsdefizit von 2,9 Millionen Euro erwartet, das zur Hälfte vom Land Baden-Württemberg und den drei beteiligten Landkreisen getragen werden sollte. Die Mischfinanzierung und die langfristigen Verträge mit der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg und den Landkreisen waren auch der Grund, weshalb der Ringzug von den Zugstreichungen, die es infolge der gekürzten Regionalisierungsmittel 2007 in Baden-Württemberg gab, ausgenommen war. Die steigenden Fahrgastzahlen und die gestiegenen Einnahmen aus der Schülerbeförderung führten vielmehr dazu, dass der ursprünglich berechnete Zuschussbedarf stark abnahm und die Verteilung der Lasten und Erlöse in eine Schieflage geriet. Während der Anteil des Landes in etwa stabil blieb, verringerte sich der Zuschussbedarf der Landkreise, an die die erhöhten Fahrgeldeinnahmen und die Zuschüsse der Schülerbeförderungen flossen, stark. 2005 und 2006 erwirtschafteten die Landkreise sogar einen Überschuss. Darauf drängte das Land die Landkreise zu einem neuen Finanzierungsvertrag, mit dem diese sich ab 2007 mittels einer jährlichen Sonderzahlung von 750.000 Euro wieder an den Ringzugkosten beteiligen und so das Land finanziell entlasten. Da diese Schieflage über viele Jahre anhielt und auch mit dem neuen Finanzierungsvertrag von 2007 nicht gelöst werden konnte, kündigte das Land Baden-Württemberg im November 2020 an, den Finanzierungsvertrag vollständig fristgerecht zum Jahr 2022 zu kündigen. Außerdem sollte so wie in nahezu allen anderen Regionen des Landes die Bestellung und Finanzierung des Nahverkehrs einheitlich geregelt werden. Das Land schickte mit der Kündigungsmitteilung auch einen Entwurf eines neuen Vertrages an die drei Landkreise, in dem die neu zu verhandelnden Finanzierungsregularien festgeschrieben werden sollen. Grundsätzlich sieht das Land gemäß dem Zielkonzept 2025 einen Taktfahrplan vor, der bei gewünschtem Mehrverkehr von den Landkreisen bezahlt verdichtet wird. Verkehrsverbünde und Tarifsystem Zum Ringzug-Start konnte zunächst kein einheitlicher Verkehrsverbund für das gemeinsame neue Verkehrssystem geschaffen werden. Vielmehr existierten drei Verkehrsverbünde auf Landkreis-Ebene: TUTicket im Landkreis Tuttlingen, der Verkehrsverbund Rottweil im Landkreis Rottweil und der Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar im Schwarzwald-Baar-Kreis. Es wurde jedoch mit der Regionalen Tarifkooperation Schwarzwald-Baar-Heuberg, auch 3er-Tarif genannt, ein Dachtarif zwischen den drei Verbünden geschaffen. Dieser ermöglichte auch Fahrten über die Kreisgrenzen hinaus und bot somit einen einheitlichen Tarif im gesamten Ringzug-Gebiet. Am 1. Januar 2023 wurden die drei Verkehrsverbünde aufgelöst und ihre Aufgaben auf den bisherigen Zweckverband Ringzug übertragen. Dieser bietet seitdem als „Verkehrsverbund Schwarzwald-Baar-Heuberg“ einen einheitlichen Tarif an. Diese Maßnahme wurde vom Land Baden-Württemberg subventioniert, jedoch durch die COVID-19-Pandemie verzögert. Am 9. Dezember 2018 trat außerdem der Baden-Württemberg-Tarif in Kraft. Seitdem gibt es einen landesweit einheitlichen Tarif für Bus und Bahn. Damit kann man bei verbundüberschreitenden Fahrten auch an seinem Zielort z. B. die Busse und Straßenbahnen nutzen, ohne dass man einen weiteren Fahrschein lösen muss. Der Baden-Württemberg-Tarif erkennt auch die Bahncard an. Literatur Weblinks Region Schwarzwald/Heuberg/Bodensee bei der SWEG Der Ringzug auf www.privat-bahn.de Ringzug durch 3 Landkreise Private Seite mit Bildern und Zeitungsartikeln zum Ringzug Einzelnachweise Schienenverkehr (Baden-Württemberg) SPNV-Linie mit Namen (Deutschland) Verkehr (Landkreis Tuttlingen) Verkehr (Landkreis Rottweil) Verkehr (Schwarzwald-Baar-Kreis)
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Nazarener (Kunst)
Als nazarenische Kunst wird eine romantisch-religiöse Kunstrichtung bezeichnet, die deutschsprachige Künstler zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien und Rom begründeten. Vertreter dieser Stilrichtung, die Nazarener, standen überwiegend dem Katholizismus nahe, und nicht wenige konvertierten zu ihm. Hintergrund ihres Aufbruchs waren die gesellschaftspolitischen Umbrüche der napoleonischen Ära und im repressiven Metternichschen System, die sich in der Kunst und der Lehre an den Kunstakademien niederschlugen. Das Ziel der Nazarener war die Erneuerung der Kunst im Geiste des Christentums, wobei ihnen alte italienische und deutsche Meister als Vorbilder dienten. Sie beeinflussten die Kunst der gesamten Romantik. Die Bezeichnung Nazarener Die Bezeichnung Nazarener ist zunächst biblischen Ursprungs. Mit diesem Begriff wurden die Anhänger Jesu nach dessen Kreuzestod bezeichnet. Im 17. Jahrhundert kannte man in Rom alla nazarena als Bezeichnung einer Haartracht, bei der das Haar lang und in der Mitte gescheitelt getragen wurde. Sowohl Raffael als auch Albrecht Dürer haben solche Frisuren getragen, und die in Rom lebenden Künstler, die man später als Nazarener bezeichnete, sollen sie zumindest eine Zeit lang ebenfalls so getragen haben. Eine Theorie besagt, dass die Bezeichnung i Nazareni für die Anhänger dieser Kunstrichtung auf die spottlustigen Römer zurückzuführen sei, die damit die Künstler karikieren wollten. Belegt ist, dass Goethe diesen Begriff in seinem Briefwechsel mit Johann Heinrich Meyer verwendete. Er taucht auch in den Briefen des Kunstagenten und Bildhauers Johann Martin Wagner auf, der die Künstler unter anderem auch als langhaarige Altkatholiken bezeichnete. Gerade diese Benennung reflektierte den ideellen, präreformatorischen Anknüpfungspunkt der Künstler. Dieser dokumentierte sich wiederum in den vielen Konversionen zum Katholizismus. Der Name Nazarener im stilkundlichen Sinn wurde wahrscheinlich erst im Nachhinein geprägt. Zum ersten Mal in schriftlicher Form findet er sich in diesem Sinne 1891 in den Jugenderinnerungen des Malers Wilhelm von Schadow. Die Gründungsmitglieder des Lukasbundes, der Keimzelle dieser Kunstrichtung, haben sich selbst so nicht bezeichnet. Kunsthistorisch hat es sich eingebürgert, den Begriff Nazarener auf Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anzuwenden, die religiöse Inhalte in Altarbildern und Kirchenfresken behandelten und dabei der Kunstauffassung der ursprünglichen Lukasbrüder nahestanden. Geschichte Die Wiener Kunstakademie Die Kunstrichtung wurde von Studenten, die seit 1804 an der Kaiserlichen Akademie der bildenden Künste Wien studierten, ins Leben gerufen. An der Kunstakademie in Wien begannen sowohl der Lübecker Patriziersohn Friedrich Overbeck als auch Franz Pforr, Sohn eines Frankfurter Malers, ihre Ausbildung, da die Institution zu dieser Zeit europaweit einen hervorragenden Ruf hatte. Die Ausbildung an der von Friedrich Heinrich Füger geprägten Akademie folgte einem strengen Lehrplan. Die technischen Aspekte der künstlerischen Fertigkeit hatten Vorrang vor dem künstlerischen Ausdruck. Hauptaufenthaltsort der Studenten war der Antikensaal mit Abgüssen antiker Statuen und Reliefs, nach denen die Schüler zu zeichnen hatten. In den weiterführenden Malklassen orientierte man sich thematisch, der damaligen klassizistischen Auffassung folgend, streng an antiken Vorbildern. Maler wie Albrecht Dürer, Hans Holbein der Jüngere oder Hans Baldung Grien wurden vom Klassizismus als Primitive gewertet. Die Gründung des Lukasbundes Einige Akademiestudenten vermissten bei dieser Ausbildung etwas ihrer Ansicht nach Wesentliches: Pforr, der in besonderer Weise von den altdeutschen Malern begeistert war und in ihnen jenen emotionalen Ausdruck sah, den er bei seiner Ausbildung vermisste, war zu dieser Zeit mit Overbeck bereits befreundet. Beide teilten ihre kritische Auffassung über die Ausbildung an der Wiener Kunstakademie. Im Laufe des Sommers 1808 erweiterte sich der Freundeskreis um Joseph Sutter, Josef Wintergerst, Johann Konrad Hottinger und Ludwig Vogel. Ab Juli 1808 trafen sich die sechs Künstler regelmäßig, um jeweils über ein künstlerisches Thema zu sprechen. Ein Jahr später, als die Freunde das einjährige Jubiläum ihres Treffens feierten, beschlossen sie, den Orden des Lukasbundes zu konstituieren. Sie wählten den Namen, weil der Evangelist Lukas als Schutzpatron der Maler gilt. In der Literatur bezeichnet man die Künstlergruppe auch als Lukasbrüder. Obwohl in technischer Hinsicht von der Akademieausbildung geprägt, entfernten sich diese Künstler inhaltlich rasch von den durch die Akademie vorgegebenen Themen. Im Einklang mit den romantischen und pietistischen Idealen jener Zeit fanden sie den von ihnen angestrebten Ausdruck in romantischen und insbesondere in religiösen Themen. Ihr religiös motiviertes Erneuerungsideal für Kunst und Gesellschaft entnahmen sie den Kunsttheorien der deutschen Romantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder, Friedrich Schlegel, Novalis und Ludwig Tieck. Schlegel sah die ursprüngliche Bestimmung der Kunst darin, die Religion zu verherrlichen und die Geheimnisse derselben noch schöner und deutlicher zu machen. Neben den biblischen Themen waren aus seiner Sicht nur die Stoffe von Dichtern wie Shakespeare und Dante als Bildinhalt geeignet. Tieck beeinflusste die Lukasbrüder durch seinen 1798 erschienenen Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen, dessen Hauptfigur Franz sein Leben der religiösen Kunst weiht und bescheiden, treu und aufrichtig sein Handwerk ausführt. So wie dieser wollten die Lukasbrüder sich vorrangig der religiösen Kunst widmen. Ihre Vorbilder suchten sie in der Renaissance, beispielsweise in Albrecht Dürer, und in italienischen Malern aus der Zeit vor Raffael, wie Fra Angelico und Giotto. Das Ideal der jungen Künstler war die Epoche um 1500, das „Goldene Zeitalter“, in der Harmonie zwischen Religion, Künstler und Volk bestand. Der künstlerische Gegensatz zur Akademieausbildung führte schließlich zum offenen Konflikt. Als im Jahre 1809 die Akademie die Anzahl ihrer Schüler reduzieren musste, wurden die Lukasbrüder nicht wieder aufgenommen. Die Künstlerkolonie in Rom Kloster Sant’Isidoro 1810 verließen Franz Pforr, Friedrich Overbeck, Ludwig Vogel und Johann Konrad Hottinger Wien, um nach Rom zu ziehen und dort ihre italienischen Vorbilder zu studieren. Sie bezogen Quartier im leerstehenden Franziskanerkloster Sant’Isidoro am Fuße des Pincio (in der Nähe der Spanischen Treppe) und führten ein künstlerisches Außenseiterleben abgesondert von der Welt (Overbeck: „Unter sich im Stillen der alten heiligen Kunst nachzuarbeiten“). Im Unterschied zu den „Deutschrömern“, die schon früher nach Italien und besonders nach Rom gepilgert waren, suchten die Nazarener nicht das Rom der Antike, sondern das der mittelalterlichen Kirchen und Klöster, das „christliche“ Rom. Rom hatte seit mehr als einem halben Jahrhundert Künstler und Kunsttheoretiker wie Johann Joachim Winckelmann, Raphael Mengs, Jacques-Louis David, Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen angezogen, die das Schönheitsideal der Antike wiederbeleben wollten. In Rom herrschte zu dieser Zeit künstlerische Stagnation. Es fehlte sowohl an einer liberalen Mittelklasse als auch an einer fortschrittlich eingestellten Oberschicht, die neue Kunstrichtungen hätte anregen können. Nachdem 1814 die französische Besetzung Roms geendet hatte, war die Stadt vor allem vom Vatikan politisch und künstlerisch dominiert. Die Angehörigen des Lukasbundes verstanden sich vor diesem Hintergrund bald als die wahren Nachfolger von Roms spirituellem und künstlerischem Erbe und waren überzeugt, dass die Vereinigung klassischer Schönheit, deutscher Innigkeit und eines wahren Christentums zu einer neuen Renaissance führen würde. In Overbecks Gemälde Italia und Germania, in der zwei Frauenfiguren die Kunst ihres jeweiligen Landes symbolisieren, spiegelt sich diese Auffassung wider. Das Bild, das im Hintergrund eine römische Basilika und eine deutsche, mittelalterliche Stadt zeigt, wird daher gelegentlich als Programmbild der Lukasbrüder bezeichnet: Die blondhaarige Germania beugt sich zu Italia vor und unterweist die geduldig Zuhörende. Nahezu alle Künstler, die dem Lukasbund nahestanden, konvertierten zum Katholizismus. Bei Overbeck war das entscheidende Erlebnis, das ihn im Frühsommer 1813 übertreten ließ, der frühe Tod seines Freundes Franz Pforr, der am 12. Juni 1812 an Tuberkulose starb. Die Gruppe der Lukasbrüder in Rom zog von 1811 an zahlreiche weitere junge Maler aus Deutschland an. Sie alle wurden freundschaftlich aufgenommen. In den Jahren 1811–1816 stießen unter anderen Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Philipp Veit, Peter von Cornelius, Franz Ludwig Catel, Joseph Anton Koch, Wilhelm von Schadow und Carl Philipp Fohr zu ihr. Ein Teil dieser Männer zog allerdings eine lockerere künstlerische Verbundenheit dem klösterlichen Leben in Sant’Isidoro vor. Johann Konrad Hottinger dagegen schied aus dem Lukasbund aus – er fühlte sich vor allem den moralischen Anforderungen dieses Ordenslebens nicht gewachsen. Auch Ludwig Vogel musste sich 1812 von den Freunden trennen, weil ihn Familienverpflichtungen nach Zürich zurückbeorderten. Beide sind als Künstler später nicht mehr aktiv gewesen. Unter den neuen Mitgliedern des Lukasbundes war vor allem Peter von Cornelius prägend. Er lehnte die romantische Anlehnung an das Altdeutsche als zu treuherzig ab. Er erweiterte auch die Themenkreise, in denen die Lukasbrüder ihre Motive fanden. Die Antike wurde dank seines Einflusses nicht mehr als dem Christentum entgegengesetzte Mythologie gesehen, sondern als Vorläufer des Christentums. Auch die Landschaftsmalerei wurde für die Lukasbrüder ein akzeptiertes Bildthema. In letzterer taten sich vor allem Carl Philipp Fohr und Schnorr von Carolsfeld hervor. Die neue Kunstrichtung errang ihren Durchbruch und öffentliche Anerkennung durch zwei Großaufträge: den Freskenzyklus für die Casa Bartholdy und den Freskenzyklus für die Casa Massimo. Diese zwei Großaufträge sind die wichtigsten Arbeiten, die die Nazarener als Gruppe während ihrer frühen Jahre in Rom ausführten. Die Fresken für die Casa Bartholdy Der Freskenzyklus der Casa Bartholdy entstand 1815 bis 1817 im Auftrag des preußischen Generalkonsuls Jakob Ludwig Salomon Bartholdy. Bartholdy lebte zu dieser Zeit in einer Wohnung im Palazzo Zuccari, unweit des Klosters Sant’Isidoro. Die Fresken waren für den Empfangsraum dieser Wohnung bestimmt. Der Palazzo Zuccari wurde später in Casa Bartholdy umbenannt und ist heute die Bibliotheca Hertziana. Kunstgeschichtlich werden diese Gemälde daher als „Fresken der Casa Bartholdy“ bezeichnet. Die Lukasbrüder waren in der Freskomalerei nicht geübt, da diese zugunsten der Tafelmalerei seit mehreren Jahrzehnten aus der Mode gekommen war. Sie besaßen daher auch keinerlei Kenntnis der handwerklichen Voraussetzungen dieser Maltechnik, zu der unter anderem mehrere Jahre eingesumpfter Kalk, ein Auftrag des Putzes in feiner werdenden Schichten sowie eine Nass-in-Nass-Technik in verschiedenen, vorher genau geplanten Schritten gehört. Sie stießen jedoch nach einigem Suchen auf einen römischen Handwerker, der für den 1779 verstorbenen Raphael Mengs Putzwände für Freskenmalerei vorbereitet hatte. Ohne diesen Handwerker wären die vier an den Fresken beteiligten Künstler wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, den Auftrag durchzuführen. Die Fresken zeigen Szenen aus der alttestamentlichen Joseph-Geschichte. An der Ausführung waren Friedrich Overbeck, Philipp Veit, Wilhelm von Schadow und Peter von Cornelius beteiligt. Cornelius hatte zugunsten dieses ersten Großauftrags sogar die Arbeit an seinem Gemälde Die klugen und die törichten Jungfrauen aufgegeben, an dem er seit 1813 arbeitete, und das er bereits 1814 als sein bis dahin bestes Gemälde bezeichnete. Hinsichtlich ihres Stils und ihrer Qualität sind die Fresken der vier Künstler uneinheitlich. Kunsthistoriker werten heute die Arbeiten von Cornelius und Overbeck als die künstlerisch interessanteren unter den ausgeführten Fresken. In Joseph interpretiert die Träume des Pharao kontrastiert Cornelius die ruhige Figur des Joseph mit einer Gruppe von Höflingen, die Zweifel, Neid, Verblüffung und Bewunderung ausdrücken. Die im Hintergrund befindliche Landschaft erinnert an frühe Renaissance-Gemälde. Im Fresko Joseph wird von seinen Brüdern erkannt porträtierte Cornelius den Auftraggeber der Arbeiten, den Konsul Salomon Bartholdy, als vornehm gekleideten Zuschauer. Overbecks Lunette Die sieben mageren Jahre dagegen zeigt ein bedrückendes Bild von Hunger und Not. Die verzweifelte Mutter, die er malte, erinnert an Michelangelos Sibylle von Cumae. Der Verkauf Josephs an die ägyptischen Händler, ebenfalls von Overbeck, ist in einer ausgewogenen, an Raffael erinnernden Kompositionsweise mit harmonischem, vorwiegend aus Erdfarben gemischtem Kolorit und feiner Lichtperspektive gemalt. Von Wilhelm von Schadow stammen die drei Fresken Der Segen Jakobs, Josephs Traumdeutung im Gefängnis und Jakob erkennt Josephs blutbeflecktes Gewand, bei denen sich noch am stärksten die Verbindung zum klassizistischen Historienbild erkennen lässt. Die Arbeiten von Veit, der neben der Lunette Die sieben fetten Jahre das Fresko Joseph und das Weib Potiphars malte, reichen nicht an die Qualität seiner Kollegen heran. 1886–1887 wurden die Fresken aus der Casa Bartholdy entfernt und in die Sammlung der Nationalgalerie in Berlin aufgenommen. Heute befinden sie sich im Gebäude der Alten Nationalgalerie, zusammen mit einer Aquarellkopie. Die Abnahme war möglich, weil sich die Außenschicht zu einer festen Sinterschale verbunden hatte. Sie konnte daher, aufrecht aufgestellt in einem Zug von Rom nach Berlin, ohne großen Schaden in die Nationalgalerie überführt werden. Die Fresken für die Casa Massimo Trotz der unterschiedlichen Qualität erregten die Fresken sehr viel Aufmerksamkeit. Überliefert ist, dass nach der Fertigstellung Schaulustige vor der Casa Bartholdy Schlange standen, um das Werk zu besichtigen. Generalkonsul Bartholdy sandte Kopien der Arbeiten sogar an den preußischen Kanzler Prinz Karl August von Hardenberg. Bei den Kopien handelte es sich um Aquarelle, die jeder der einzelnen Künstler anfertigte, nachdem er seinen Teil der Arbeit an den Fresken für die Casa Bartholdy beendet hatte. Fünf Aquarelle wurden anschließend auf eine gemeinsame Leinwand aufgezogen und durch gemalte Architekturmotive miteinander verbunden. Das erste Mal wurde diese Arbeit auf der Herbstausstellung der Berliner Kunstakademie 1818 öffentlich gezeigt. Ziel sowohl von Bartholdy als auch den Künstlern war es, damit für die Arbeiten der Künstler in Rom zu werben und mit ähnlichen Großaufträgen auch in Deutschland beauftragt zu werden. Der nächste große Folgeauftrag für die Künstler des Lukasbundes kam jedoch erneut aus Rom. Bereits 1817 beauftragte der Marchese Massimo, ein Mitglied des römischen Hochadels, Mitglieder des Lukasbunds, in seiner nahe dem Lateran gelegenen Casa Massimo drei Räume nach den Erzählungen von Dante, Torquato Tasso und Ludovico Ariosto zu gestalten. Cornelius jedoch brach seine Arbeiten an den Dante-Fresken ab, nachdem er 1819 vom Kronprinzen Ludwig von Bayern an die königliche Münchner Akademie berufen worden war. Auch Overbeck vollendete seine Arbeit an den Tasso-Fresken nicht, da er sich entschloss, nur noch religiöse Motive zu malen. Philipp Veit und Joseph Anton Koch führten diese Arbeiten aus. Nur Julius Schnorr von Carolsfeld vollendete seinen Ariosto-Zyklus wie vorgesehen. Christus-Zyklus Der Mäzen und Stiftsregierungsrat Immanuel Christian Leberecht von Ampach, Domherr in Naumburg und Wurzen, gab 1820 ein weiteres Gemeinschaftswerk bei den Nazarenern in Rom in Auftrag. Die Malerfreunde Julius Schnorr von Carolsfeld, Friedrich von Olivier und Theodor Rehbenitz wohnten seit 1819 im Gebäude der Preußischen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl, im Palazzo Caffarelli auf dem Capitolhügel; sie wurden daher die drei Capitoliner genannt. Die neun Gemälde zum Leben Jesu wurden unter der Projektleitung von Julius Schnorr von Carolsfeld von neun von Ampach persönlich ausgewählten Künstlern, darunter auch die weiteren Capitoliner Olivier und Rehbenitz, für seine Privatkapelle in Naumburg gefertigt. Ampach vererbte den Zyklus mit seinem Tode dem Naumburger Dom, wo acht von ihnen heute noch in der Drei-Königs-Kapelle gezeigt werden. Julius Schnorr von Carolsfelds Lasset die Kindlein zu mir kommen verbrannte 1931 im Glaspalast München. Die Kartons zu den Gemälden schenkte Ampach dem Dom St. Marien in Wurzen. Weitere Entwicklung in Wien In Wien, ihrem Ausgangspunkt, hatte die neue künstlerische Bewegung es schwerer, sich durchzusetzen. 1812 zog der Deutsch-Römer Joseph Anton Koch von Rom nach Wien um. Er fand Aufnahme in einen Zirkel romantisch gesinnter Bürger und Künstler, unter ihnen Wilhelm von Humboldt und seine Frau Karoline, Joseph von Eichendorff, Clemens und Bettina Brentano, und einen Kreis junger Maler, die sich im Hause der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel trafen. Gestützt durch Aufträge aus diesem Umfeld, entstand eine Reihe von Landschaftsbildern mit religiösen Themen, insbesondere durch Ferdinand Olivier und Julius Schnorr von Carolsfeld. Trotz der Unterstützung durch das romantisch gesinnte Bürgertum traf die Bewegung im offiziellen, staatlich dominierten Kunstbetrieb auf scharfe Ablehnung. 1812 wurde Fürst Metternich zum Kurator der Wiener Akademie ernannt. Diese sah sich weiterhin den Idealen der klassizistischen Kunst verpflichtet, und der in allen Dingen politisch denkende Metternich sah in der Kunst eine Domäne des Staates und in jeglicher Abweichung von der offiziellen Linie bereits Ansätze von Geheimbündelei. Bereits 1815 begannen sich die Wiener Lukasbrüder wieder zu zerstreuen. Ferdinand Olivier scheiterte 1816 mit einer Ausstellung an der beißenden Kritik seitens der Akademie: man nannte seine Kunstauffassung rücksichtslos, ihn selbst einen Sonderling, einen Don Quichote, einen Manieristen, der von der Natur abweiche. Ludwig Schnorr von Carolsfeld bewarb sich 1818, nach Friedrich Heinrich Fügers Tod, auf die Direktorenstelle an der Akademie und fiel mit dieser Bewerbung durch. Erst ab 1830, als sich der romantische Nationalismus als politische Einstellung im gesamten deutschen Sprachraum durchsetzte, konnte die nazarenische Kunst, von Bayern und Preußen ausgehend, auch an ihrem Entstehungsort Wien wieder Fuß fassen. Das Fest in der Villa Schultheiß Der Durchbruch der Nazarener zu öffentlicher Anerkennung in Deutschland begann 1818 mit einem Besuch des bayerischen Kronprinzen Ludwig in Rom. Der Kronprinz hatte während seiner beschwerlichen Reise Sizilien und einen Teil Griechenlands besucht und traf am 21. Januar 1818 in Rom ein. Er galt als der neuen Kunst zugeneigt, und man wusste von ihm, dass er München zum neuen Zentrum der romantischen Kunst in Deutschland und Italien erheben wollte. Ihm zu Ehren veranstalteten die zahlreichen in Rom weilenden deutschen Künstler am 29. April 1818 ein Abschiedsfest in der vor der Porta del Popolo, auf dem Monte Parioli gelegenen Villa Schultheiß, bei dem die gesamte Dekoration die nazarenische Auffassung von der Rolle der Künstler und der Mäzene zum Motto hatte. Die Idee dafür war offenbar von Cornelius ausgegangen, und die beteiligten Künstler schufen in großer Eile dazu passende Transparente und Dekorationen. Die großen Gemälde, die den Kronprinzen im Hauptraum der Villa Schultheiß begrüßten, stammten von Cornelius, Fohr, Veit und Overbeck sowie Wilhelm von Schadow und Julius Schnorr von Carolsfeld. Zu den Gemälden zählte eine Allegorie auf die Poesie, die auf einem Thron unter einer deutschen Eiche sitzt; ein Gemälde Die Arche der wahren Kunst, getragen von Raffael und Dürer; ein Gemälde Overbecks, auf dem die größten Kunstpfleger aller Zeiten dargestellt und auf dem unter anderen Kaiser Maximilian, ein Doge von Venedig und die kunstfördernden Päpste Leo X. und Julius II. zu erkennen waren sowie ein Gemälde mit den vornehmsten Dichtern und Künstlern. Auf diesem waren unter anderen Raffael, Dürer, Michelangelo, Wolfram von Eschenbach, Erwin von Steinbach, Homer und König David dargestellt. Einige Darstellungen waren kritisch-satirisch gemeint. Die einstürzenden Mauern von Jericho stellten die einstürzenden Mauern der falschen Kunst dar, die unter den Posaunenklängen der Maler der Romantik zusammenfallen würden. In ähnlicher Richtung zielte auch die Darstellung des Herkules, der bei der Säuberung der Ställe des Augias gezeigt wurde. Kronprinz Ludwig war von dem ihm zu Ehren veranstalteten Fest tief beeindruckt. Überliefert ist, dass ihm beim Abschied vom Fest die Stimme vor Rührung versagte und er nur die Worte: Auf Wiedersehen in Deutschland hervorbrachte. Aus München sandte er als Dank für das Fest den Teutschen Künstlern in Rom ein von ihm verfasstes Gedicht zu, in dem er noch einmal die Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass diese Kunst sich in Deutschland durchsetzen werde. 1819 berief er auch folgerichtig Peter von Cornelius auf eine Lehrstelle an der königlichen Münchner Akademie. Durchbruch in Deutschland Der Münchner Erfolg Wenige Jahre nach dem Fest in der Villa Schultheiß waren die Direktorenstellen an den Akademien in Düsseldorf, Berlin und Frankfurt am Main mit Nazarenern besetzt. Dies ist sowohl der erfolgreichen Arbeit von Cornelius zu verdanken als auch der Protektion durch den bayerischen König sowie dem aufkommenden romantischen Nationalismus. Der erste bedeutende Auftrag, den Cornelius durch Ludwig I. erhielt, waren die Fresken der Glyptothek, die von 1820 bis 1830 entstanden. Der Bau, ein Entwurf von Leo von Klenze, sollte als Skulpturenmuseum dienen, in dem vor allem antike Statuen zu sehen waren. Die Fresken sollten dazu passende Einzeldarstellungen aus der griechischen Mythologie zeigen. An der Ausführung waren wie zu Zeiten Raffaels nicht nur Cornelius beteiligt, sondern auch seine Schüler. Schon nach der Vollendung des Göttersaales im Jahre 1824 wurde Cornelius zum Akademiedirektor ernannt. Glück wünsch’ ich der Kunst in Bayern, einen herzlich lichten Tag seh’ ich werden. Seit den Cinquecentis gab’s keinen Maler wie meinen Cornelius schrieb der bayerische König auf die Ernennungsurkunde. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Fresken erregten weitreichende Aufmerksamkeit. Mit dem Erfolg war es Cornelius möglich, auch eine Reihe weiterer Nazarener an die Münchener Akademie zu holen. Dazu zählten Julius Schnorr von Carolsfeld sowie Heinrich Heß und Friedrich und Ferdinand Olivier. 1830 war die Münchner Akademie von Nazarenern dominiert. Friedrich Overbeck hatte einen Ruf an die Münchner Akademie immer abgelehnt, während seines vierwöchigen Besuches in München im Jahre 1831 wurde er jedoch in ungewöhnlicher Weise geehrt. Künstler und Kunstfreunde empfingen ihn bereits vor den Toren der Stadt, spannten ihm die Kutschpferde aus und zogen ihn bis zur Wohnung von Cornelius. Auch Ludwig I. empfing den Künstler. Dank der Protektion durch Ludwig I. entstanden in München zahlreiche nazarenische Kunstwerke. Dazu gehörten Arbeiten wie die von Wilhelm von Kaulbach geschaffenen Flussallegorien an den Stirnseiten der Hofgartenarkaden in München und Kirchenausmalungen wie die der Allerheiligen-Hofkirche, die von Heinrich Maria Heß ausgeführt wurden, und die Kunsthistoriker als die bedeutendste monumentale Leistung der nazarenischen Bewegung bezeichnet haben. Sie ist im Zweiten Weltkrieg ebenso zerstört worden wie die Bonifatius-Basilika, die gleichfalls im nazarenischen Stil ausgemalt war. Auch die sogenannten Bayern-Fenster im Kölner Dom von Joseph Anton Fischer und die nazarenische Ausmalung des Speyerer Doms von 1844 bis 1853, die Johann von Schraudolph gemeinsam mit seinem Bruder Claudius und einer großen Schar von Gehilfen durchführte, sind auf den Münchner Erfolg zurückzuführen. An der Münchner Akademie studierte auch der Schweizer Kirchenmaler Melchior Paul von Deschwanden aus Stans. Die Auswirkung im übrigen Deutschland Als zweiter Hauptort der Nazarenerbewegung etablierte sich vor allem Frankfurt am Main. Philipp Veit wurde 1830 als Vorsteher der Malschule und Direktor der Galerie nach Frankfurt berufen. Johann David Passavant wurde zum Inspektor des Städels und trug maßgeblich dazu bei, dass dieses Museum heute eine so umfangreiche Sammlung an mittelalterlicher Kunst besitzt. Auf ihn ist beispielsweise auch der Ankauf der Lucca-Madonna von Jan van Eyck zurückzuführen. Zunehmend erhielten die Nazarener auch Aufträge außerhalb Münchens. Philipp Veit schuf für das Städel Fresken und arbeitete später an denen für den Mainzer Dom. Von ihnen sind heute nur noch die neutestamentlichen Bibelszenen in den Wandbögen des Mittelschiffs erhalten. Der Bildhauer Christian Mohr stattete, nach zeichnerischen Entwürfen von Ludwig Schwanthaler, die Südfront mit Skulpturen aus. Eduard von Steinle schuf Fresken für den Kölner Dom, die Ägidienkirche in Münster, den Kaisersaal und den Kaiserdom in Frankfurt am Main und die Marienkirche in Aachen. Nachdem Cornelius sich 1839 dem bayerischen König Ludwig I. entfremdet hatte, ging er nach Berlin und sollte dort für den in der Nähe des wiedererrichteten Berliner Doms geplanten Campo Santo ebenfalls Fresken malen. In der Folge der Revolution von 1848 gab Friedrich Wilhelm IV. allerdings die Pläne für den Bau des Campo Santo wieder auf. Cornelius, der seit 1843 an den Vorstudien arbeitete, setzte allerdings seine Arbeit daran bis zu seinem Tod fast zwanzig Jahre später fort. Dabei war ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich nie zur Ausführung kommen würden, da aufgrund ihrer Ausmaße kein anderer Ort als der geplante Campo Santo in Frage kam. Die Kohlezeichnungen, die Cornelius als seine wichtigsten künstlerischen Arbeiten betrachtete, werden heute in den Lagerräumen der Nationalgalerie in Berlin aufbewahrt. Besonders beeindruckend unter ihnen ist die 472 Zentimeter hohe und 588 Zentimeter breite Kohlezeichnung Die Apokalyptischen Reiter. St. Apollinaris in Remagen wurde als Gesamtkunstwerk gestaltet. Der Kölner Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner konzipierte das Gebäude bereits für die vorgesehene Ausmalung im Innern, die dann 1843–1853 durch Ernst Deger, Andreas und Karl Müller sowie Franz Ittenbach erfolgte. Der Ausklang der Bewegung Von der Säkularisation in den Kulturkampf Der Ausklang der nazarenischen Kunst wurde durch äußere und innere Gründe verursacht. Die Romantik polarisierte sich zwischen Religiosität und politischem Sturm und Drang. Ein äußerer Grund für die Konzentration der Nazarener aufs Religiöse waren die Revolutionen von 1830 und 1848/49 und die ihnen folgende Repression. Sukzessive entstand eine preußische politische Dominanz ab 1848. Nach einer kurzen Phase des Arrangements mit der katholischen Kirche war diese verbunden mit einer aggressiven Kulturpolitik Preußens: Der preußische Kulturkampf folgte auf die lokalen Kirchenstreite, wie beispielsweise im Herzogtum Nassau. Er richtete sich gegen alle Strömungen, die mit römisch-katholischen Geisteshaltungen verbunden waren, weil dahinter eine anti-preußische Haltung vermutet wurde (→ „Musspreußen“). Der preußische Kampf gegen den Ultramontanismus war begleitet von der Verwandlung des Kirchenstaats in ein ideelles ‚Staats-‘ Gebilde, dessen heutige territoriale Festlegung erst durch die Lateranverträge im folgenden Jahrhundert erfolgen sollte. Der Territorialverlust des Vatikan – als die für preußische Politik vermeintlich ‚günstige Gelegenheit‘, auch ideell-hegemoniale Ansprüche gegen die Katholiken in Preußen und Deutschland durchzusetzen – ging jedoch nicht einher mit der Aufgabe seiner geistig-religiösen Führungsrolle, vielmehr wandelte sich dieser von einem Staat im eigentlichen Sinn zu einer Institution der geistlichen Lehre und Leitung der Kirche. Er manifestierte sich in Bildwerken, deren Verbreitung durch moderne Druckmethoden sie auch im Privaten bekannt werden ließen. Das handwerkliche Ideal der frühen Nazarener fand den Weg in die technische Reproduzierbarkeit. Damit wurde gleichzeitig das katholische Milieu verlassen, denn die Sehnsucht nach dem verlässlichen Ideal bzw. Idyll war nicht religionsspezifisch. Es entstand eine Kunst für die politisch nicht mehr oder noch nicht repräsentierten Massen. Zeitgleich wurden durch die preußische anti-katholische Haltung nazarenische Künstler vielerorts aus den öffentlichen Einrichtungen hinausgedrängt. Nach der Metternichschen Repression war dies ein zweites Mal eine existenzielle Bedrohung dieser Kunstrichtung und ihrer Protagonisten. Wollte oder konnte man sich nicht dem politisch herrschenden Geschmack anschließen, so verblieben als Auftraggeber nur die katholische Kirche oder ihr gewogene Kreise. Auf diesem Hintergrund schufen manche der Künstler Bildwerke mit verstecktem preußen-kritischen Inhalt. So wurden von der preußischen Justiz verfolgte Bischöfe in Bildern mit christlichem Thema wiedergegeben. Diese Bilder konnte man öffentlich zeigen, obwohl die Dargestellten nach preußischem Recht rechtmäßig verurteilt waren, sich auf der Flucht befanden oder im Exil lebten. Auch stellten sich Künstler in Bildern zur Leidensgeschichte Christi als Unterstützer der katholischen Sache dar. So figurierte in der Kirche von Koblenz-Arenberg der Schadow-Schüler Peter Joseph Molitor als Träger des Kreuzes Christi nach Golgatha. Eine weitere Variante findet sich in Steinmetzarbeiten. Am Kreuzweg in Kiedrich sind Otto von Bismarck und der preußische Minister Adalbert Falk als Zuschauer der Passion Christi dargestellt. Als eine Folge dieser Repression verengte sich der künstlerische Horizont bei vielen Nazarenern auf religiöse Themen als einzige Broterwerbsmöglichkeit, während zuvor historische Themen und Landschaften einen wichtigen Anteil am Gesamtwerk hatten. Gleichzeitig begrenzte die Lösung vom italienisierten Hintergrund den Darstellungshorizont. Hatte man vorher gemeinsame Wurzeln gesucht oder konstruiert, beispielsweise im Bild Italia und Germania, brachte die Bildung der Nationen eine gegenseitige Abgrenzung. Die religiöse Erneuerung suchte zwischen Säkularisation und Kulturkampf nach einer ihr angemessenen Bildsprache. Biblische Themen waren originär an ländliche Lebensumstände gebunden und wurden ebenso abgebildet. Im Kontrast dazu stand die sich verstärkende Industrialisierung. Die doppelte Heimatlosigkeit – faktisch und spirituell – fand ihren Gegenentwurf in der idealisierten ländlichen Vergangenheit, die sich wiederfand als Hintergrundfolie für die klaren Handlungsanweisungen der Kirche. Diesem Bedarf entsprachen die Nazarener mit ihrem religiösen Ernst. Die katholische Kirche konnte auf breiter Ebene Aufträge erteilen. Gleichzeitig konnte sie, aufgrund der sich entwickelnden Reproduktionstechniken, Gegenwartskunst mit dem von ihr gewünschten Inhalt in jeden Haushalt transportieren. Eine besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang der 1841 gegründete Verein zur Verbreitung religiöser Bilder der spätnazarenisch geprägte Andachtsbilder von Stechern der Düsseldorfer Schule anfertigen ließ und international verbreitete. Zahllose neugotische Kirchenneubauten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Werken von Nazarenern der zweiten und dritten Generation ausgeschmückt. Diese zahlreichen Aufträge trugen zur Popularisierung der nazarenischen Kunst bei. Einen letzten Aufschwung gab das Wirken des Professors für Religiöse Malerei an der Akademie für Bildende Künste in München, Martin von Feuerstein (1856–1931). Die Trivialisierung eines Kunstideals Während der Impressionismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewann, hatte sich das Kunstideal der Nazarener inhaltlich verbraucht und war zur Schablone herabgekommen. Die gesamte Kunstrichtung wurde von Kunstkennern zunehmend geringgeschätzt und geriet in Vergessenheit. „Nazarenisch bezeichnet im Sprachgebrauch der Nichtfachleute eine blutleere und sentimentale religiöse Imagerie, die bis zum Zweiten Weltkrieg lebendig war und in ihren letzten Ausläufern noch heute faßbar ist. Es wird in etwa als deutsches Äquivalent jenes kirchlichen Kunstgewerbes verstanden, das in Paris um die Kirche Saint-Sulpice angesiedelt war und dessen standardisierte Serienproduktion als Inbegriff schlechten Geschmacks gelten.“ So fasste Sigrid Metken die Auswirkung der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Popularisierung zusammen. Dieses Urteil schloss auch frühe Protagonisten ein, die hervorragende Maler und zu ihrer Zeit mutige Neuerer waren. Zu diesem Urteil trug wesentlich die Fülle an süßlichen, qualitativ schwachen und frömmelnden Bildern bei, die in billigen Wandbilddrucken ihren Abklatsch fanden und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Beliebtheit in breiten Schichten gewannen. Diese Trivialkunst wurde industriell hergestellt und auf Jahrmärkten vertrieben. Auch bei Reproduktionen von Werken der Hauptvertreter der Nazarener, beispielsweise Overbeck und Steinle, wurden Originale sentimental vereinfacht. Dies verstärkte sich noch, als der Farbdruck aufkam. Sigrid Metken hat in ihrer Untersuchung gezeigt, wie Bildmotive von Schnorr, Overbeck und Steinle für die Herstellung von Heiligen- und Andachtsbildchen aufgegriffen und verkitscht wurden, um einem breiten Publikumsgeschmack entgegenzukommen. Die Wiederentdeckung der Nazarener Die ersten kunsthistorischen Arbeiten über die zum Kreis der Nazarener gehörenden Maler, die mehr als eine reine Quellen- und Materialsammlung waren, wurden in den 1920er und in den 1930er Jahren veröffentlicht. Es waren Monographien, die sich vor allem mit den Hauptfiguren unter den Lukasbrüdern beschäftigten. In den 1930er Jahren wurde dies durch eine umfangreichere Arbeit über die Fresken in der Casa Massimo erweitert. Die ausführliche Auseinandersetzung mit der nazarenischen Kunst setzte allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. 1964 erschien The Nazarenes – A Brotherhood of German Painters in Rome von Keith Andrews, ein Buch, das ebenso wie mehrere kleine Ausstellungen, darunter eine im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, eine ausführlichere und sachliche Auseinandersetzung mit der Kunstauffassung der Nazarener einleitete. Ab den 1970er Jahren kam es zu einer Neubewertung des künstlerischen Historismus des 19. Jahrhunderts und in diesem Zusammenhang zu einem erneuten Interesse an nazarenischer Kunst. 1977 widmete sich eine große Ausstellung im Städel zu Frankfurt am Main den Nazarenern und vereinte im Ausstellungskatalog grundlegende Artikel zu dieser Kunstrichtung. Dem folgte 1981 eine ähnlich große Ausstellung in Rom, in deren Folge auch die Fresken im Casa Massimo umfangreich restauriert wurden. In der ersten Jahreshälfte 2005 zeigte die Schirn in Frankfurt am Main erneut Werke der Nazarener in einer ihnen gewidmeten Ausstellung. Eines der Zentren der Kunst der Nazarener ist heute das Museum Behnhaus/Drägerhaus in Lübeck, Overbecks Heimatstadt. Das Museum besitzt seit 1914 seinen künstlerischen Nachlass. Merkmale nazarenischer Kunst In einer Hinsicht gleicht die nazarenische Kunst der klassizistischen Schule, aus der sie sich entwickelt hat: Die klare, konturierte Form hat Vorrang vor der Farbe, das Zeichnerische hat Vorrang vor dem Malerischen. Vorherrschendes Kompositionselement ist die menschliche Figur. Protagonist dieser Richtung war Johann Gottfried Herder (1744–1803), der führende Theoretiker des Sturm und Drang. Er wandte sich gegen einige der zentralen Lehren der Aufklärung (Klassizismus) und betonte die Schönheit auch der regellosen, urtümlichen Dinge, die Gegen-Antike (Mittelalter). Begonnen hatte diese Entwicklung schon im 17. Jahrhundert, aber eher in elitären Kreisen und mit geringen technischen Möglichkeiten. Im 18. und besonders im 19. Jahrhundert wurden diese Bestrebungen beträchtlich intensiviert. Jetzt erschienen auch Bücher, die Kunstwerke dieser Epochen wiedergeben sollten. Zur Reproduktion wurden diese Werke in Holzstiche oder Holzschnitte umgewandelt – und in dieser Form wurden die Werke der sogenannten „Primitiven“ populär. Die Betonung des linearen Elements – als Hauptcharakteristikum des Holzschnitts – in der Kunst der Nazarener stammt also aus einer technisch missverstandenen Sicht der mittelalterlichen Kunst. Das zweifellos sowieso schon vorhandene Übergewicht des Zeichnerischen und Konturhaften der älteren Malerei wurde durch die Erfordernisse des damaligen Buchdrucks noch zusätzlich betont. Diese Version der „vor-raffaelischen“ Malerei lernte Overbeck kennen und lieben als Werke von frommer Einfalt und mönchischer Werkergebenheit, bevor er in Rom die Originale sah. Die heute manchmal spürbare Süßlichkeit und Blutleere der nazarenischen Kunst beruht auf diesen begrenzten Möglichkeiten der technischen Reproduktion. Die Farben haben vor allem die Funktion, die Szene zu verinnerlichen und zu vergeistigen. In warmem, pastelligem Schmelz werden Figuren und Landschaft miteinander verbunden. Besonderer Wert wird auf die Lichtführung gelegt, die zu den zentralen Figuren hinleitet. In vielen nazarenischen Bildern ist sie das einzige dramatische Element in einer Bildkomposition, die im übrigen von tiefer Ruhe, Innerlichkeit und Ernst bestimmt ist. Diese Feierlichkeit entrückt Szenen, die thematisch sehr alltäglich scheinen, ins Überirdische. Die luftigen, durchsichtigen Blautöne des Barock-Klassizismus, welche die Szene in allegorische Ferne entrücken, sind tabu. Die geringe räumliche Tiefenwirkung und das Vermeiden greller Farbkontraste unterstützen die Feierlichkeit. Sie sind äußere Merkmale, die die Nazarener mit ihren mittelalterlichen Vorbildern verbinden. Der Gesichtsausdruck der dargestellten Figuren ist ernst und verinnerlicht; man sieht kein einziges heiteres oder gar lachendes Gesicht. Auffällig sind die weichen, glatt rasierten Gesichtszüge der Männer. Auch in dieser Hinsicht ist die nazarenische Kunst mittelalterlichen Vorbildern ähnlich. Dies gilt auch für die nazarenische Porträtkunst. Als exemplarisch gilt ein Gemälde von Overbeck, ein sogenanntes Freundschaftsbild, wie die Lukasbrüder die Porträts nannten, die sie voneinander malten. Mit ernsten, großen Augen schaut in dem 1810 entstandenen Gemälde Franz Pforr den Betrachter an. Pforr trägt „altdeutsche“ Kleidung und lehnt sich über die Brüstung eines von Wein umrankten Fensters. Hinter ihm ist seine imaginäre zukünftige Ehefrau zu sehen, die strickt und gleichzeitig in einem religiösen Buch liest. Eine Madonnenlilie, ein mittelalterliches Mariensymbol, setzt sie einer Madonna gleich. Das gegenüberliegende Fenster gibt den Blick auf eine mittelalterliche nordeuropäische Straße frei, in deren Hintergrund jedoch eine italienische Küstenlandschaft zu erkennen ist. Die Erotik wird als Thema in der nazarenischen Malerei fast völlig ausgeklammert. Die Menschen auf nazarenischen Bildern sind meist völlig bekleidet, auffällig oft in wallende Gewänder mit starkem Faltenwurf und klassizistischer Anmutung. Darstellungen fast nackter Körper, wie in Friedrich Overbecks 1820 vollendetem römischen Monumentalfresko Olindo und Sophronia auf dem Scheiterhaufen, sowie die Aktbilder von Julius Schnorr von Carolsfeld, sind Ausnahmen. Einfluss der nazarenischen Kunst auf andere Stilrichtungen Der künstlerische Einfluss der Nazarener war weitreichend und langanhaltend. Italien: Erste Erfolge für die Nazarener gab es in Italien, wo sie lange beheimatet waren, sogar im Vatikan und in Assisi (Overbeck in der Porciuncula-Kapelle in Santa Maria degli Angeli). Vor allem Tommaso Minardi folgte ihrem Stil, der seinen caravaggesken Frühstil um 1820 aufgab und Wortführer der Bewegung „Il Purismo“ wurde, der die nazarenischen Prinzipien in die religiöse italienische Malerei einführte. Frankreich: In Frankreich führte ihr Einfluss zu einer Erneuerung der religiösen Kunst in der Schule von Lyon und prägte den Maler Maurice Denis. Nazarenische Elemente gibt es in der Kirchenmalerei von Jean-Auguste-Dominique Ingres. Sein Schüler Hippolyte Flandrin schuf ein großes Wandgemälde in St. Germain-des-Prés 1846. Zentrum des deutschen Einflusses in Frankreich war Lyon, wo Paul Chenavard riesige Wandgemälde mit komplizierten philosophischen Themen entwarf. Holland: Der Holländer Ary Scheffer führte nazarenische Schlichtheit in seine Salonmalerei ein. England: In Großbritannien übten vor allem Julius Schnorr von Carolsfelds 240 Bibelillustrationen, die 1860 veröffentlicht wurden, großen Einfluss aus. Bereits die Präraffaeliten, eine von den Malern Dante Gabriel Rossetti und Everett Millais 1848 gegründete englische Künstlervereinigung, hatten Ideen der Nazarener aufgegriffen. Ford Madox Brown hatte Verbindung zu den Nazarenern aufgenommen. Auch die Präraffaeliten strebten nach einer religiös-seelischen Vertiefung der Kunst und betrachteten die italienische Kunst der Frührenaissance als Vorbild. Man vermisste schmerzlich eine Tradition in der Historienmalerei. Und als 1840 das House of Parliament mit Wandgemälden ausgestattet werden sollte, tat man das in deutscher Manier. Deutschland: In Deutschland war es vor allem die Schule von Beuron, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Gedankengut der Nazarener aufgriff. Die Beuroner Richtung war von dem Baumeister, Bildhauer und Maler Peter Lenz sowie Jakob Wüger und Lukas Steiner im Benediktinerkloster Beuron begründet worden mit dem Ziel, die religiöse Kunst wiederzubeleben. Nazarenische Künstler Ausstellungen Die Nazarener: Religion macht Kunst Ausstellung 15. April – 24. Juli 2005 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt Die Nazarener – vom Tiber an den Rhein. Drei Malerschulen des 19. Jahrhunderts. Ausstellung 10. Juni – 25. November 2012 im Landesmuseum Mainz Literatur Keith Andrews: Die Nazarener. München 1974. Rudolf Bachleitner: Die Nazarener. Heyne, München 1976, ISBN 3-453-41182-X. Klaus Gallwitz: Die Nazarener. Katalog. Städel’sches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt am Main 1977, . Klaus Gallwitz: Die Nazarener in Rom. Ausstellungskatalog. Prestel, München 1981, ISBN 3-7913-0555-7. Bradford D. Kelleher (Hrsg.): German Masters of the Nineteenth Century. Ausstellungskatalog des The Metropolitan Museum of Art. New York 1981, ISBN 0-87099-263-5. Landesmuseum Mainz (Hrsg.): Die Nazarener. Vom Tiber an den Rhein. Drei Malerschulen des 19. Jahrhunderts. bearbeitet von Norbert Suhr, Nico Kirchberger (Katalog zur Nazarener-Ausstellung im Landesmuseum Mainz vom 10. Juni bis 25. November 2012). Schnell + Steiner, Regensburg 2012, ISBN 978-3-7954-2602-6. Herbert Schindler: Nazarener – Romantischer Geist und christliche Kunst im 19. Jahrhundert. Friedrich Pustet, Regensburg 1982, ISBN 3-7917-0745-0. Christa Steinle, Max Hollein: Religion Macht Kunst. Die Nazarener. Katalog zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Walther König, Köln 2005, ISBN 3-88375-940-6. William Vaughan: Europäische Kunst im 19. Jahrhundert. Band 1: 1750–1850. Vom Klassizismus zum Biedermeier Herder, Freiburg/ Basel/ Wien 1990, ISBN 3-451-21144-0. Bettina Vaupel: Jedes Bild ein Gottesdienst. In: Monumente 23/1 (2013). , S. 75–81. Weblinks Die Nazarener in Rom Die Nazarener in Rheinland-Pfalz (PDF; 315 kB) Einzelnachweise und Anmerkungen Malerei (Christentum) Stilrichtung in der Malerei Künstlergruppe (Malerei)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tibetgazelle
Tibetgazelle
Die Tibetgazelle (Procapra picticaudata), auch unter der Bezeichnung Goa bekannt, ist die kleinste von drei Arten der Kurzschwanzgazellen. Sie ist im Hochland von Tibet verbreitet und lebt als Gebirgsspezialist vor allem auf alpinen Wiesen und Steppen in Höhen bis zu 5750 Metern. Über das Jahr lebt sie in kleinen und nach Geschlechtern getrennten Gruppen, die sich nur zur Paarungszeit im Winter zusammenschließen. Ihre Nahrung besteht aus unterschiedlichen Pflanzen, wobei sie vor allem im Sommer von ausgewählten Kräutern lebt und sich nicht wie andere Weidegänger auf Gräser als Hauptnahrungsquelle konzentriert. Aufgrund illegaler Bejagung sowie der Konkurrenz durch Weidevieh und der Umzäunung von Weideflächen sind die Bestände der Tibetgazelle stark rückläufig. Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) stuft die Art als „potenziell gefährdet“ ein und begründet dies mit dem starken Rückgang der Bestände um etwa 20 % in den letzten drei Generationen. Merkmale Allgemeine Merkmale Die erwachsene Tibetgazelle erreicht eine Schulterhöhe von etwa 54 bis 65 Zentimeter und eine Kopf-Rumpf-Länge von 91 bis 105 Zentimetern bei einem Gewicht von 13 bis 16 Kilogramm. Der Schwanz ist 8 bis 10 Zentimeter lang. Sie ist damit etwas kleiner als die Mongolische Gazelle (Procapra gutturosa) und die Przewalski-Gazelle (Procapra przewalskii). Sie wird als relativ klein und schlank mit langen und schlanken Beinen und kompaktem Körper beschrieben. Wie die beiden anderen Arten der Gattung besitzen bei der Tibetgazelle nur die Männchen Hörner, die Geschlechter unterscheiden sich jedoch nicht in ihrer Größe und Färbung. Die Tibetgazelle hat ein braungraues und dickes Rückenfell mit einer silbrigen Melierung, die durch die hellen Haarspitzen entsteht. Dieses besitzt im Gegensatz zu dem anderer kälteangepasster Arten wie etwa dem Yak (Bos mutus) keine Unterwolle, es besteht aus bis zu 38 Millimeter langen Deckhaaren. Im Sommer ist die Fellfarbe eher hell sandbraun, im Winter grau bis schiefergrau. In der Bauchgegend und am Hinterleib ist das Fell charakteristisch weiß und bildet einen hellen und herzförmigen Rumpffleck, an dessen Vorderrand das Fell rotbraun gefärbt ist. Der kurze Schwanz ist schwarz und struppig und wird bei Aufregung als Alarmzeichen erhoben; seine Unterseite ist nackt. An den Körperseiten oder im Gesicht weist die Art keine charakteristischen Farbmerkmale oder Zeichnungen auf. Die Klauen sind vorderseits flach und auf der Rückseite weit und abgerundet, die Afterklauen groß und stumpf. Die Schnauze ist mit verlängerten Haaren ausgestattet, die seitlich derselben Büschel bilden, die sich nach hinten bis zu den Augen ziehen. Die Augen sind groß und die Ohren sind lang, schmal und zugespitzt. Die Hörner setzen auf der Stirn zwischen den Augen an und verlaufen parallel, wobei sie durch eine Krümmung nach hinten zuerst einen nach oben und danach durch eine Krümmung nach oben einen nach unten gerichteten Bogen bilden. Im Gegensatz zu den anderen Arten der Gattung sind die Hörner verhältnismäßig gerade und stehen an den Spitzen nur wenig auseinander. Sie sind von der Basis bis zum letzten Viertel vergleichsweise schlank und geriffelt. Im Bereich des Verbreitungsgebietes kann die Tibetgazelle in Überschneidungszonen sowohl mit den beiden anderen Arten der Kurzschwanzgazellen wie auch mit der Kropfgazelle (Gazella subgutturosa) verwechselt werden. Im Vergleich zur Kropfgazelle haben bei den Kurzschwanzgazellen nur die Männchen Hörner, während diese auch bei weiblichen Kropfgazellen vorkommen können. Innerhalb der Kurzschwanzgazellen ist die Tibetgazelle die kleinste Art, wobei vor allem die Mongolische Gazelle mit einer Schulterhöhe von bis zu 84 Zentimeter deutlich größer als die Tibetgazelle mit maximal 65 und die Przewalski-Gazelle mit maximal 70 Zentimeter Schulterhöhe werden kann und auch deutlich schwerer ist. Generell besitzt die Tibetgazelle zudem den schmalsten und kleinsten Schädel sowie zugleich die dünnsten und längsten Hörner der Gattung, während die Mongolische Gazelle mit dem größten Schädel und den kürzesten Hörnern ausgestattet ist. Schädel- und Skelettmerkmale Der Schädel ist sehr leicht gebaut und besitzt deutlich hervorgehobene Augenhöhlen. Er hat eine Basallänge von 177 bis 185 Millimetern bei den Weibchen und 180 bis 188 Millimetern bei den Männchen sowie eine maximale Breite von etwa 84 bis 88 Millimetern bei den Weibchen und 91 bis 95 Millimetern bei den Männchen. Der Hirnschädel ist bei den Männchen 99 bis 102 Millimeter lang und bei den Weibchen 94 bis 98 Millimeter, die Nasenbeine bei den Männchen etwa 59 bis 63 Millimeter und bei den Weibchen 55 bis 62 Millimeter. Damit ist der Schädel der Männchen in der Regel deutlich größer als der der Weibchen, es existiert allerdings auch ein Bereich mit überschneidender Größe. Die Hörner, die nur bei den Männchen ausgebildet werden, haben bei den ausgewachsenen Tieren eine Gesamtlänge von 26 bis 32 Zentimetern bei einer Höhe von 9,7 bis 16,8 Zentimetern und eine maximale Weite zwischen den Hörnen von 12 bis 15 Zentimetern. Die Hornmaße variieren dabei regional. Die Zahnreihe im Oberkiefer ist etwa 41 Millimeter und im Unterkiefer etwa 45 Millimeter lang. Die Gazelle besitzt im Oberkiefer pro Hälfte nur zwei Vorbackenzähne (Praemolares) und drei Backenzähne (Molares), Schneidezähne (Incisivi) und Eckzähne (Canini) sind nicht vorhanden. Im Unterkiefer besitzt sie in jeder Hälfte drei Schneidezähne, einen Eckzahn, zwei Vorbackenzähne und drei Backenzähne, wobei sie als ausgewachsenes Tier einen Vorbackenzahn verliert. Insgesamt besitzen die Tiere somit 30 Zähne. Artspezifische Zahnmerkmale sind vor allem der voll ausgebildete Vorbackenzahn P2 im Unterkiefer sowie gut ausgebildete Zahnfalten auf dem P3. Verbreitung und Lebensraum Die Tibetgazelle war ursprünglich weit über das Hochland von Tibet verbreitet. Dabei umfasst das Verbreitungsgebiet das Autonome Gebiet Tibet (Xizang) sowie Teile der chinesischen Provinzen Qinghai und Xinjiang. Über 99 % des Weltbestandes beherbergt die Volksrepublik China. Die einzige sesshafte Population außerhalb Chinas lebt im indischen Unionsterritorium Ladakh und wird auf etwa 50–100 Tiere geschätzt. Ins benachbarte Sikkim, ebenfalls in Indien, wandern die Tiere lediglich zeitweise aus dem nördlich angrenzenden Tibet ein. Die Art lebt vornehmlich in Höhen zwischen 3000 und 3700 Metern, steigt aber gelegentlich auf bis zu 5750 Meter auf. Ihr typischer Lebensraum sind die kalten und trockenen, baumlosen Wüsten, Halbwüsten und Hochgebirgssteppen sowie das montane Gebüschland. Innerhalb dieser Lebensräume kommt sie auf flachen Hochebenen ebenso wie in bergigen Regionen vor, fehlt allerdings in zu steilem Gelände. Der Lebensraum ist zudem von starker Sonneneinstrahlung und reduzierter Sauerstoffverfügbarkeit geprägt. Im nördlichen Teil des Verbreitungsgebietes überlappt das Verbreitungsgebiet mit dem der Przewalski-Gazelle, wobei die Tibetgazelle die höheren Regionen und montanen Lebensräume nutzt. Lebensweise Die Tibetgazelle ist in der Regel dämmerungsaktiv mit zwei Aktivitätsmaxima zu Beginn und zum Ende des Tages, an denen sie auf Nahrungssuche geht; allerdings kann sie auch während des Tages aktiv sein und sie ruht in der Regel zur Mittagszeit. Anders als die sympatrisch lebende Tschiru (Pantholops hodgsonii) oder die Kropfgazelle bildet sie nur kleine Familiengruppen oder Herden von zwei bis etwa zehn Tieren, die sich nur zur Sommerwanderung in die höher gelegenen Weidegebiete zu größeren und temporären Herden bis maximal 50 Individuen zusammenschließen. Außerhalb der Brunftzeit bilden die Männchen und Weibchen mit Jungtieren jeweils eigene Gruppen, die sich zur Paarungszeit vom Dezember bis Februar zu gemischten Herden zusammenfinden. Daneben sind vor allem Männchen auch einzeln anzutreffen. Im überschneidenden Verbreitungsgebiet mit der Przewalski-Gazelle kommt es zudem zu gemischten Gruppen beider Arten, die sich aus etwa gleich vielen Individuen der beiden Arten zusammensetzen. Im Winter beinhalten Mischgruppen allerdings grundsätzlich nur Männchen jeweils einer der beiden Arten. Ernährung Über die Ernährung der Tibetgazelle gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen, die vor allem auf Beobachtung und der Untersuchung der Fäzes beruhen. Sie unterscheidet sich deutlich von den meisten anderen Weidegängern des tibetischen Hochlands, die sich in der Regel zu großen Anteilen von Gräsern und Seggen ernähren. Diese spielen in der Nahrungszusammensetzung der Tibetgazelle im Sommer nur eine untergeordnete Rolle und werden nur im Winter, wenn keine anderen Pflanzen verfügbar sind, als Hauptnahrungsquelle genutzt. Die Tibetgazelle ernährt sich als Selektierer vor allem von Hülsenfrüchtlern (Leguminosen) wie Tragant (Astragalus) und Spitzkielen (Oxytropis), die bei Untersuchungen am Buh He in Qinghai zwischen 33,2 % und 47,5 % ausmachten. Hinzu kommen Kräuter wie Heteropappus-Arten mit 13,5 % bis 17,1 % sowie Schwingel (Festuca) und Federgräser (Stipa) mit 13,1 % bis 26,1 % und Schuppenseggen (Kobresia) mit 8,5 % bis 13,2 %. Diese Daten wurden jeweils im Juni–September und Oktober bis Mai ermittelt, wobei im Sommer die Leguminosen und Kräuter und im Winter die Gräser und Seggen den größeren Anteil hatten. In Sichuan bestand die Nahrung im August bis Oktober zu 80 % aus Schuppenseggen, Edelweißen (Leontopodium) und Spitzkielen und Fäzes-Untersuchungen im Chang Tang Reserve von Juni bis Dezember wiesen Anteile der Zwergsträucher Ajania bis 89,1 % und Ceratoides bis 2,5 % sowie die Kräuter Potentilla bis zu 94,2 % und Oxytropis und Astragalus mit bis zu 39,6 % Anteilen nach. Insbesondere im nahrungsarmen Winter kommt es entsprechend zu größerer Konkurrenz zwischen den Gazellen und vor allem Hausschafen, die auf dem Hochplateau überwintern, wobei die Überschneidung der Nahrungspflanzen von 43 % bis 57 % im Sommer auf 76 % im Winter ansteigt. Aufgrund der Nahrungszusammensetzung ist das zur Verfügung stehende Futter zudem sehr arm an Proteinen, die weniger als 6 % der Futtermenge ausmachen, sowie an Mineralstoffen. Fortpflanzung und Entwicklung Die Geschlechtsreife der weiblichen Tibetgazellen tritt wahrscheinlich wie bei verwandten Arten nach 1,5 Jahren ein, für die Männchen liegen keine Angaben vor. Zur Paarung kommt es zur Brunft im Winter, vor allem im Dezember. Außerhalb der Brunftzeit markieren die Männchen in den späteren Paarungsarealen Brunftterritorien durch Urin und Kot sowie durch die Abgabe von Sekreten aus den Zwischenzehendrüsen mit darin enthaltenen Duftstoffen. Im Winter lösen sich die Gruppen der Männchen auf und die Einzeltiere verteidigen ihre jeweiligen Brunftgebiete teilweise aggressiv gegen Rivalen, wobei es zum Einsatz des Gehörns kommen kann. Die dominanten Männchen warten in ihren Brunftgebieten auf die Herden der Weibchen. Das Paarungsverhalten selbst wurde nicht beschrieben, ähnelt aber wahrscheinlich dem der Przewalski-Gazelle, bei der ein besonderer Paarungstanz beschrieben ist. Die Jungtiere werden nach einer Tragzeit von 5,5 bis 6 Monaten im darauf folgenden Juni bis Anfang August geboren. Dabei handelt es sich in der Regel um Einzelgeburten, seltener um Zwillingswürfe, wobei Angaben über die physischen Eigenschaften der Jungtiere fehlen. Zur Geburt trennt sich das Weibchen von den anderen Tieren der Herde und sucht einen geschützten Platz auf. Für etwa zwei Wochen bleibt sie allein mit den Jungtieren und versteckt sich mit diesen, wodurch im Sommer die Anzahl der Weibchen in den Herden stark abnimmt. In verschiedenen Studien wurde das Verhältnis von Neugeborenen zu geschlechtsreifen Weibchen ermittelt, um so die Fortpflanzungsrate zu bestimmen. Dabei wurde ein Verhältnis von 40 bis 70 Neugeborenen zu 100 fortpflanzungsfähigen Weibchen im Chang Tang Nature Reserve sowie im Südwesten von Qinghai festgestellt. In Sêrxü in der Provinz Sichuan lag das Verhältnis bei einer Stichprobe bei 44 Neugeborenen zu 100 fortpflanzungsfähigen Weibchen und 16 Neugeborenen zu 100 Tieren insgesamt (Männchen und Weibchen). Die maximale Lebensdauer der Tibetgazelle in der Wildnis ist unbekannt, aus dem Zoo von Peking wurde ein in der Wildnis geborenes Weibchen fünf Jahre und sieben Monate alt. Eine in Gefangenschaft lebende Mongolische Gazelle lebte sieben Jahre und man nimmt an, dass dies auch die maximale Lebenserwartung der verwandten Arten ist. Fressfeinde, Parasiten und Mortalität Über die Nahrungsnetze im Hochland von Tibet existieren nur begrenzte Daten und aufgrund der Reduzierung sowohl der Beutetiere wie auch der Beutegreifer ist die aktuelle Situation stark verzerrt gegenüber den ursprünglichen Räuber-Beute-Beziehungen. Im Lebensraum der Tibetgazelle leben als Großraubtiere vor allem Wölfe (Canis lupus), zudem Braunbären (Ursus arctos pruinosus), der Eurasische Luchs (Lynx lynx) sowie der Schneeleopard (Panthera uncia). Im Chang Tang Nature Reserve kamen Reste von Tibetgazellen in Kotproben von Wölfen zu 4,6 bis 5,2 % und in Qinghai zu 9,5 % vor. Darüber hinaus ist bekannt, dass Wölfe auch der Mongolischen Gazelle und der Przewalski-Gazelle nachstellen und diese erbeuten. Nach einzelnen Aussagen war die Tibetgazelle zudem regional ein wichtiges Beutetier des Schneeleoparden, wobei diese Aussagen nicht quantitativ belegt sind. Artspezifische Krankheiten und Parasiten der Tibetgazelle sind unbekannt, man geht jedoch von einer Übertragung von Krankheiten sowohl von Wildtieren wie auch von Nutztieren aus. So sind die Mongolischen Gazellen am nördlichen Rand des Verbreitungsgebietes der Tibetgazelle häufige Träger der Maul- und Klauenseuche, die sich in den großen Herden verbreitet und hohe Todesraten bedingt; da die Tibetgazelle keine großen Herden bildet, sind von ihr keine Epidemien bekannt. Neben Fressfeinden und Parasiten können vor allem extreme Wettersituationen zu einer erhöhten Mortalität führen. Insbesondere Kälte und Schnee kann eine erhöhte Sterblichkeit der Jungtiere, heranwachsenden und weiblichen Tiere der verwandten Tschiru verursachen und ähnliche Effekte werden auch bei der Tibetgazelle erwartet. Für den Zeitraum Januar bis März 2008 ist der Tod von mindestens 5.500 Tibetgazellen nach einem extremen Kälte- und Schneeeinbruch im Kreis Sêrxü im Nordwesten der chinesischen Provinz Sichuan dokumentiert. Evolution und Systematik Durch die Lebensweise im Hochgebirgsplateau und die dortigen klimatischen Verhältnisse liegen für die Tibetgazelle und auch für andere Arten der Kurzschwanzgazellen nur sehr wenige Fossilnachweise vor. Arten der Gattung Procapra sind frühestens im Pliozän oder frühen Pleistozän vor 2 bis 3 Millionen Jahren nachgewiesen, während antilopenartige Arten bereits für das Miozän vor 13 bis 15 Millionen Jahren dokumentiert sind. Der Ursprung der Kurzschwanzgazellen wurde bei anderen gazellenartigen Antilopen vermutet, als potenzielle Ahnen wurden dabei Gazella sinensis aus dem späten Pliozän und Gazella paragutturosa aus dem frühen Pleistozän vermutet. Über Isotopenuntersuchungen in Fossilien und im Vergleich zu heute lebenden Tieren des tibetanischen Hochlands wurde festgestellt, dass das Klima und die Witterungsverhältnisse vor 2 bis 3 Millionen Jahren in diesem Gebiet deutlich milder und die Diversität der Lebensräume zugleich vielfältiger waren als dies aktuell der Fall ist, wodurch eine Artenbildung unter anderem bei den Kurzschwanzgazellen ermöglicht wurde. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Tibetgazelle sowie der Gattung Procapra stammt von Hodgson aus dem Jahr 1846, der sie bereits mit dem noch heute gültigen Namen Procapra picticaudata beschrieb. Sie erfolgte auf der Basis eines Individuums aus Tibet, das nördlich von Sikkim gefangen wurde. Die Namensgebung der Gattung Procapra leitet sich von der griechisch-lateinischen Vorsilbe „pro“ (προ) für „vor“ und der Bezeichnung „capra“ für Ziegen ab, bedeutet also „Vor-Ziege“, während der Artname picticaudata aus dem Lateinischen stammt und „farbiger Schwanz“ bedeutet und sich wahrscheinlich auf den weißen Rumpffleck bezieht. Neben der Nominatform werden keine weiteren Unterarten unterschieden, allerdings wurden drei getrennte Populationen identifiziert: eine im Nordwesten Tibets, eine im Süden Tibets und eine in der Provinz Sichuan. Zeitweise wurde ihr die Przewalski-Gazelle als Unterart zugeordnet. Die Tibetgazelle wird heute gemeinsam mit der Przewalski-Gazelle und der Mongolischen Gazelle zur Gattung der Kurzschwanzgazellen (Procapra) gestellt, wurde jedoch häufig mit anderen Gazellen in der Gattung Gazella zusammengefasst. Molekularbiologische Untersuchungen bestätigten die Monophylie der Gattung Procapra und stellten sie den anderen Gattungen der als Tribus definierten Antilopini gegenüber. Dabei wurden die Przewalski-Gazelle und die Mongolische Gazelle als näher miteinander verwandt erkannt und der Tibetgazelle als Schwestergruppe gegenübergestellt. In einer weiteren Studie wurde die Gattung Procapra, vertreten durch die Mongolische Gazelle, als eine der basalsten Gruppen der Gazellenartigen (Antilopini) eingeordnet. Bedrohung und Schutz Ursprünglich war die Tibetgazelle sehr häufig und kam im gesamten tibetanischen Hochland vor. Aufgrund der kleinen Herden und Gruppen, die vereinzelt leben, sowie der guten Tarnung der Tiere, ist es schwierig, Angaben über Populationsdichten der Tibetgazelle im Hochland von Tibet zu machen. Nach Aussagen vor 1950 war die Art früher häufig und verbreitet, jedoch seltener als andere Weidegänger. Heute ist die Art dagegen in einigen Regionen sehr selten oder fehlt vollständig. In Regionen, in denen die Tibetgazelle vorkommt, beträgt die Dichte in der Regel weniger als 0,5 Tiere pro Quadratkilometer und häufig sogar weniger als 0,1 Tiere pro Quadratkilometer. In sehr begrenzten Gebieten kann sie jedoch höher sein, etwa in Yeniugou, Qinghai, wo 0,77 Tiere pro Quadratkilometer geschätzt wurden. Systematische Bestandserfassungen gibt es nicht, nach Schätzungen sollen die Bestände in den 1980er und frühen 1990er Jahren zwischen 20.000 und 180.000 Tiere umfasst haben. Der größte Anteil der Tiere lebt dabei im sowie östlich und südlich von diesem, wobei die Tiere jedoch in den wüstenhaften Gebieten im Norden des Naturschutzgebietes weitestgehend fehlen. Durch erhöhte Schutzmaßnahmen könnte sich der Bestand gegenüber den Populationsgrößen zu Beginn der 1990er Jahre leicht erhöht haben. Weitere wichtige Schutzgebiete, die ein zusammenhängendes System mit dem 300.000 Quadratkilometer großen bilden, sind das , das West Kunlun, das Mid Kunlun sowie das . Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) stuft die Art als „potenziell gefährdet“ () ein und begründet dies mit dem starken Rückgang der Bestände um etwa 20 % in den letzten drei Generationen (seit 1992). Dieser wird vor allem auf die unkontrollierte und illegale Jagd, die zunehmende Konkurrenz mit Weidevieh sowie die Zunahme von umzäuntem Weideland begründet. Heute lebt die Tibetgazelle vor allem in Regionen, in denen Menschen und Weidevieh selten vorkommen. Eine Bejagung der Tibetgazelle durch den Menschen fand wahrscheinlich bereits im Epipaläolithikum und frühen Neolithikum statt, wie durch Zahnfunde in frühen menschlichen Ansiedlungen bei Jiangxigou nahe dem Qinghai-See in der Provinz Qinghai belegt wurde. Belege Literatur C. P. Groves, David M. Leslie Jr.: Family Bovidae (Hollow-horned Ruminants): Tibetan Gazelle (660 f.). In: D. E. Wilson, R. A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hooved Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2009, ISBN 978-84-96553-77-4. John McKinnon: Tibetan Gazelle. In: Andrew T. Smith, Yan Xie: A Guide to the Mammals of China. Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-09984-2, S. 470. R. M. Nowak: Walker’s Mammals of the World, Sixth Edition. The Johns Hopkins University Press, Baltimore/London 1999. Weblinks Tibetgazelle, Bock Hornträger
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https://de.wikipedia.org/wiki/Protreptik
Protreptik
Protreptik (von , hier im Sinne von ‚überzeugend‘) ist die moderne Bezeichnung für die antike Kunst des Werbens für ein Ziel. Im engeren Sinn ist die eigens zu diesem Zweck produzierte Literatur gemeint. Diese umfasst die Texte, die darauf abzielen, das lesende oder einem Redner zuhörende Publikum vom Wert eines Fachgebiets oder einer Betätigung, Lebensweise oder Religion zu überzeugen. Ein protreptisches Werk (altgriechisch προτρεπτικὸς [λόγος] protreptikós [lógos] ‚überzeugende [Rede]‘ im Sinne von „Werberede“ oder „Werbeschrift“, lateinisch protrepticus) soll den Leser begeistern und dazu bewegen, sich dem betreffenden Wissensgebiet und Ziel zuzuwenden. Die protreptischen Schriften der Antike warben meist für die Hinwendung zur Philosophie. Damit war sowohl die philosophische Suche nach Wahrheit und Aneignung von Wissen als auch die entsprechende Haltung und Lebensweise gemeint. Die philosophische Protreptik betonte gewöhnlich die Forderungen der Ethik und ermunterte zum Erwerb und zur Pflege der Arete, der Tugend oder seelischen Tüchtigkeit. Als Hauptziel und höchstes Gut wurde dem Publikum aber nicht die Tauglichkeit und Bewährung im sozialen Leben vor Augen gestellt, sondern in der Regel die Erlangung des ausgeglichenen und glücklichen Gemütszustands der Eudaimonie. Dieser galt als Folge der Einsicht in die tatsächlichen Weltzusammenhänge, die den philosophiefernen Menschen verborgen seien. Einem anderen Zweck diente die religiöse Protreptik der antiken Christen, die deren Weltbild und Wertesystem propagierte. Die philosophische Protreptik setzte im 5. Jahrhundert v. Chr. ein und blühte noch in der Spätantike. Profilierte Autoren auf diesem Gebiet waren Aristoteles und Cicero, von deren einschlägigen Werken aber nur Bruchstücke erhalten geblieben sind. Die moderne Forschung hat sich intensiv mit der Sichtung des überlieferten Materials und Versuchen der Rekonstruktion beschäftigt. Die Frage, ob die Protreptik neben der Paränese als eigenständige Literaturgattung gelten soll, wird kontrovers diskutiert und heute überwiegend verneint. Begriff, Merkmale und Ziele Der moderne Ausdruck geht letztlich auf das griechische Verb προτρέπειν protrépein zurück, das „[jemanden zu etwas] hinwenden“, „aufmerksam machen“, „anregen“, „ermuntern“ bedeutet. Das zugehörige Adjektiv προτρεπτικός protreptikós – bezogen auf lógos (Rede, Abhandlung) oder substantiviert – wurde in der Antike zur Bezeichnung der einschlägigen Werke, der Protreptikoi, verwendet. Eine Anzahl von Schriften, meist aus dem Bereich der Philosophie oder der Religion, trugen den Titel Protreptikos, mit oder ohne nähere Bestimmung. Da die wichtigsten Quellen nicht erhalten geblieben sind, ist eine präzise Definition und Beschreibung der Protreptik schwierig und problematisch. Die Abgrenzung von dem verwandten Begriff der Paränese oder Paränetik (Ermahnung, Beratung) ist unscharf. Während protreptische Schriften primär auf Gewinnung neuer Anhänger ausgerichtet sind, mahnen paränetische hauptsächlich zu sinnvoller Lebensführung und stellen dafür Regeln auf. Wegen der ähnlichen Thematik gibt es aber zwischen ihnen Berührungen und Überschneidungen. Die Terminologie variiert in der Fachliteratur ebenso wie in den antiken Quellen: Entweder werden Protreptik und Paränese als zwei separate Bereiche unterschieden, oder der Ausdruck Protreptik dient als umfassende Bezeichnung für alle einladenden, auffordernden und ermahnenden Werke, wobei die Paränese als Sonderform erscheint. Der letztgenannte Sprachgebrauch kann sich darauf stützen, dass in manchen Quellen die Ausdrücke austauschbar sind und in Werktiteln protreptikos häufiger vorkommt als parainesis. Allerdings bieten andere Quellen Anhaltspunkte für eine klare begriffliche Scheidung. Wenn beide Aspekte in einem Werk vorliegen, ist zwischen der protreptischen und der paränetischen Funktion zu unterscheiden. Der Hauptunterschied besteht darin, dass sich die Protreptik in erster Linie an Außenstehende wendet, die dem betreffenden Wissensgebiet, Tätigkeitsbereich und Ziel noch distanziert oder unwissend begegnen, während Paränese die bereits Zugehörigen zu Beharrlichkeit im Bemühen auffordert, damit auf einem bereits eingeschlagenen, oft schwierigen Weg Fortschritte erzielt werden. Demgemäß hat die Protreptik einführenden Charakter und neigt zu einer ausgedehnten Beweisführung, während paränetische Literatur oft eine Auflistung von Ratschlägen bietet. In der antiken Praxis waren jedoch die Überschneidungen beträchtlich, denn das Publikum, das auffordernde Werke las oder hörte, war wahrscheinlich überwiegend gemischt. Es wies ein breites Spektrum auf, das von engagierten Anhängern bis zu Skeptikern und Gegnern reichte, die erst von der Sinnhaftigkeit und Überlegenheit des empfohlenen Wegs überzeugt werden mussten. Autoren, die einen breit gefächerten Rezipientenkreis erreichen wollten, waren sich der Notwendigkeit bewusst, gleichzeitig protreptische und paränetische Ziele zu verfolgen. Dies galt insbesondere angesichts der Konkurrenzsituationen, in denen es darauf ankam, sich mit Argumenten gegen rivalisierende Lehren durchzusetzen und zugleich in der Praxis der eigenen Anhängerschaft für Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit zu sorgen. In der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Angeboten der Lebensgestaltung bemühten sich die Protreptiker, ihre Position zu rechtfertigen und gegnerische Ansichten in Misskredit zu bringen. Dabei zeigte sich eine ausgeprägte Aggressivität gegenüber anderen Meinungen, gegen die polemisiert wurde. Rivalität prägte insbesondere das apologetische Schrifttum der antiken Christen. Dort wurde bezweckt, das Christentum gegen die Kritik paganer Gegner zu verteidigen, in der Absicht, Abtrünnige zurückzugewinnen, Schwankende im eigenen Lager zu halten und Verunsicherten Halt zu geben. Überdies sollten die eigenen Anhänger mit einem Weckruf zu verstärkten Anstrengungen auf ihrem Weg ermahnt werden oder nötigenfalls zu Reue und Umkehr bewogen werden. Dabei bestand eine Frontstellung sowohl zwischen Christen und Nichtchristen als auch zwischen der „Großkirche“ und „häretischen“ Strömungen innerhalb des Christentums. So kam es zu beträchtlichen Überschneidungen zwischen protreptischen, paränetischen und apologetischen Zielen. Die Uneinheitlichkeit der protreptischen Literatur macht die Klassifizierung und die Beschreibung struktureller Merkmale schwierig. Nur in Einzelfällen ist eine zwei- oder dreiteilige Struktur erkennbar, wobei ein Abschnitt des Werks die Vorzüge der empfohlenen Lebensweise preist, ein anderer auf die Gegner und ihre Einwände eingeht und gegebenenfalls ein dritter das Publikum direkt ermahnt. Generell kamen für einen philosophischen Protreptiker zwei Vorgehensweisen in Betracht: die positive, die darin bestand, die Tugend anzupreisen sowie Vorbilder zu schildern und zur Nachahmung zu empfehlen, und die negative, deren Ausgangspunkt fundamentale Kritik an der Widersprüchlichkeit und Verfehltheit der unphilosophischen Lebensweise des jeweils angesprochenen Publikums war. Über die Frage, welche Methode zu bevorzugen sei, gingen die Meinungen auseinander. Ein namhafter Wortführer der negativen Richtung war der kaiserzeitliche Ethiker Epiktet. Er wandte sich nachdrücklich gegen Redner, die unter Protreptik bloße Lobreden und Ermunterungen verstanden. Epiktet meinte, die Aufgabe der Protreptik sei nur das Aufrütteln: Sie solle den Angesprochenen zeigen, dass sie auf einem Irrweg seien, wenn sie zwar versuchten, die Eudaimonie zu erlangen, das heißt ein gelungenes Leben zu führen, aber dieses Ziel mit ungeeigneten Mitteln zu verwirklichen trachteten, statt sich der Philosophie zuzuwenden und sich um Tugend zu bemühen. Im Sinne dieses Konzepts bestimmte Epiktet die protreptische Art des Philosophierens als diejenige, die dem Adressaten den Widerspruch zeigt, in dem er lebt, um dann an das Aufzeigen des Übelstands den Aufruf zu dessen Beseitigung zu knüpfen. Verbreitet war die Verwendung medizinischer Metaphern; der Protreptiker trat als Therapeut auf, der den infolge seiner Unwissenheit seelisch „erkrankten“ Adressaten zu heilen hatte, wobei er ihm zunächst die Medizin der Protreptik verabreichte. Ein inhaltliches Merkmal der protreptischen Literatur, das sie mit der Diatribe, einer verwandten Textsorte, teilt, ist die Erörterung des Werts der verschiedenen Güter. Dabei werden die äußeren und körperlichen Güter wie edle Herkunft, Freundschaften, Reichtum, gute und zahlreiche Nachkommen, Gesundheit, Schönheit, Stärke, Ansehen und günstige Schicksalsfügungen als relativ unwesentlich abgewertet. Aus der Sicht der Protreptiker sind sie von Natur aus problematisch und erweisen sich als fragwürdige Lebensziele, da sie keinen dauerhaft völlig befriedigenden Zustand gewährleisten können. Die inneren Güter – gemeint sind gewöhnlich die Grundtugenden und die Weisheit – werden als ausschlaggebend für ein gelungenes Leben dargestellt, und die Philosophie wird als der Weg zur Erreichung dieses Ziels angepriesen. Als höchstes unter den inneren Gütern gilt in der Protreptik die Weisheit, die durch wissenschaftliches Bemühen erlangte Einsicht in grundlegende Sachverhalte. Sie sei wichtiger als alle anderen Lebensinhalte einschließlich der Grundtugenden. Forschung und Erkenntnis als Selbstzweck seien nicht nur weitaus wertvoller als jeder praktische Nutzen und äußere Gewinn, sondern auch gegenüber den ethischen Qualitäten höherrangig. Nicht das Wissen müsse für etwas anderes nützlich sein, sondern das Nützliche habe dem Erwerb und Genuss des Wissens zu dienen. Aristoteles und die ihm folgenden späteren Protreptiker waren der Ansicht, die höchste Lebensform sei das „betrachtende Leben“ (bíos theōrētikós) des Philosophen, das lateinisch vita contemplativa genannt wurde. Es sei höher zu schätzen als das praktisch tätige Leben (bíos praktikós, vita activa), die politische und soziale Aktivität. Diese Behauptung wird in der protreptischen Literatur anhand eines Gedankenexperiments plausibel gemacht, das ursprünglich von Aristoteles stammt und bei Cicero in einer ausführlichen Version überliefert ist. Man soll sich vorstellen, es gebe die Möglichkeit, auf den paradiesischen „Inseln der Seligen“ zu leben, wo der griechischen Mythologie zufolge von den Göttern begünstigte unsterbliche Menschen ein sorgenfreies Dasein in vollendeter Glückseligkeit genießen. Dort braucht man keine Beredsamkeit, da es keine Prozesse gibt; man benötigt keine Tapferkeit, weil das Leben von Mühen und Gefahren frei ist, keine Gerechtigkeit, da Konflikte um Besitz ausgeschlossen sind, und keine Selbstzucht, da schädliche Begierden nicht vorkommen können. Nicht einmal Klugheit ist erforderlich, denn man muss sich nicht mehr zwischen Gutem und Schlechtem entscheiden. Wenn somit die Tugenden und tugendhaften Betätigungen überflüssig werden, bleibt nur noch ein einziges hohes Gut als Quelle der Glückseligkeit übrig: das Denken und geistige Betrachten, das heißt die Weisheit oder Wissenschaft. Ihr wendet sich der freie Wille zu, wenn jeder Zwang der Notwendigkeiten weggefallen ist. Also ist das Erkennen und Wissen das höchste Gut und das eigentliche Ziel des Lebens und der Philosophie. Geschichte Die Geschichte der Protreptik beginnt – soweit erkennbar – im 5. Jahrhundert v. Chr. und endet in der Spätantike. Da nur ein geringer Teil der einschlägigen Werke erhalten geblieben ist und gerade die maßgeblichen verloren sind, ist jeder Versuch, eine Entwicklungslinie zu ermitteln, mit beträchtlicher Unsicherheit behaftet. Angesichts der ungünstigen Quellenlage ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass ein verzerrtes Bild entsteht. Immerhin zeigt der erstmals in der griechischen Klassik und zuletzt in der Spätantike bezeugte Gebrauch des Werktitels Protreptikos, dass man mit dieser Bezeichnung eine klare Vorstellung verband, die auch von dem jüdischen Denker Philon von Alexandria und von christlichen Autoren übernommen wurde. Schwer zu erkennen ist allerdings, inwieweit diese Vorstellung im Lauf der Jahrhunderte Wandlungen durchmachte. Anscheinend stand in der Anfangszeit das Bestreben im Vordergrund, die nicht auf eine bestimmte Lehre oder Ausrichtung festgelegten Leser oder Hörer zu einem Wandel der Lebensform aufzurufen. In der christlichen Welt hingegen bestand das Zielpublikum vor allem aus Personen, deren grundsätzliche Entscheidung für ihren religiösen Lebensweg bereits gefällt war und die nun zu weiteren Schritten ermuntert werden sollten. Griechische Philosophie und Bildung Klassik Die Ausgangsbasis für das Aufkommen der Protreptik bildete das Auftreten der Sophisten, der Vertreter einer umstrittenen Bildungsbewegung, die im späten 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen großes Aufsehen erregte. Die Sophisten boten eine Ausbildung außerhalb des herkömmlichen Unterrichtssystems an, für die sie Bezahlung forderten. Manche von ihnen befassten sich mit Fragen, die später zu wichtigen Themen der Philosophie wurden. Da fast alle Sophisten umherziehende Fremde ohne Bürgerrecht waren, mussten sie, um als Wanderlehrer vom Unterricht leben zu können, für ihr Angebot, nützliche Fähigkeiten zu vermitteln, Werbung treiben. Dies geschah sowohl im persönlichen Gespräch als auch in öffentlichen Reden, in denen sie den Wert der Kenntnisse, die sie den Schülern beizubringen versprachen, anpriesen. Davon ist nur wenig überliefert. Immerhin zeigen einzelne erhaltene Texte – die Dissoi logoi und der im Zeitraum zwischen 340 und 323 v. Chr. entstandene Erotikos logos des Pseudo-Demosthenes als späte Abwandlung der sophistischen Werberede – protreptische Motive. Weiteres geht aus der parodierenden Darstellung in Dialogen Platons hervor. Zu den wesentlichen Elementen dieser Protreptik zählten die Anpreisung einer erlernbaren Kompetenz wie etwa rhetorischer Fähigkeiten, die Vorführung von Kostproben der sophistischen Redekunst und die Darlegung des praktischen Nutzens, der in einer Steigerung der Leistungsfähigkeit und dem daraus resultierenden Wohlergehen bestehe. Damit verbunden war die Warnung, dass man ohne das angebotene Wissen hilflos sei. Hinzu kam die Verteidigung gegen ablehnende oder konkurrierende Meinungen. Bei der Empfehlung ihres Lehrprogramms konnten die Sophisten auf Motive zurückgreifen, die sie in der älteren Dichtung vorfanden, insbesondere in der Adelsdichtung, die den vorbildlichen Einsatz in Situationen des Kampfes und des Wettstreits verherrlichte und so die ruhmbegierige Jugend zur Nachahmung anspornte. Dieser Ansatz appellierte an den stark entwickelten Wettkampfgeist. Er zielte darauf ab, dem Angesprochenen sein Zurückbleiben hinter dem gepriesenen Tüchtigkeitsideal vor Augen zu stellen und ihm damit einen Handlungsbedarf aufzuzeigen. Die Sophisten wandelten die Motivierungsmethode der Dichter ab, indem sie in ihrer Werbung die Erreichung des Lebensziels, durch Tüchtigkeit Ruhm zu erlangen, vom Besitz der rhetorischen Technik abhängig machten. So gelang es ihnen, das Verlangen nach einer besonderen Ausbildung hervorzurufen. Sokrates, der ein profilierter Gegner der Sophistik war, griff deren protreptische Elemente auf und gestaltete sie um. Er selbst verfasste zwar keine Schriften, doch lässt die Dialogliteratur seiner Schüler, der Sokratiker, erkennen, dass er mündlich Protreptik für seine Philosophie betrieb. Als Ziel stellte er die Erlangung der Arete, einer im Sinne von Tugend aufgefassten Tüchtigkeit, in Aussicht. Gegner warfen ihm vor, seine Protreptik sei zwar erfolgreich, doch sei er außerstande, seine Schüler zum versprochenen Ziel zu führen. Die namhaften Sokratesschüler Antisthenes und Aristippos von Kyrene, die selbst neue Richtungen initiierten, verfassten Protreptikoi. Platon, der bekannteste Schüler des Sokrates, schrieb zahlreiche literarisch gestaltete Dialoge, in denen sein Lehrer oft als dominierende Gestalt auftritt. Diese Werke sind nicht explizit protreptisch, aber zum Zweck der Verbreitung der platonischen Philosophie konzipiert; nur eine implizite Protreptik, die ihr Ziel indirekt erstrebt, lässt sich dort eruieren. Eindeutig protreptischen Charakter weist nur der Platon zugeschriebene, aber möglicherweise nicht authentische Dialog Alkibiades I auf. Im Euthydemos ist protreptisches Gedankengut präsent: Sokrates beweist, dass alle Güter ohne Weisheit wertlos sind, und regt seinen jugendlichen Gesprächspartner Kleinias zur Suche nach diesem Gut an. Dabei ist das Ziel nicht, ein Bedürfnis zu erzeugen, vielmehr soll ein bereits vorhandenes Bedürfnis mit seinem Objekt verbunden werden. Auch der berühmte Redner Isokrates, ein Widersacher Platons, verfasste beratende Reden, die von manchen Forschern zur protreptischen, von anderen zur paränetischen Literatur gezählt werden. Jedenfalls verfolgte Isokrates unter anderem ein protreptisches Ziel. Er wollte sein Publikum aber nicht für eine philosophische Theorie gewinnen, sondern für sein Bildungskonzept, das von anerkannten Normen ausging und auf praktisch verwertbare Fertigkeiten abzielte, insbesondere auf die politische Praxis. Die bekannteste und einflussreichste Hinführung zur Philosophie war der Protreptikos des Aristoteles. Dieses heute nur in Fragmenten vorliegende Werk, eine Frühschrift des Autors, entfaltete eine bedeutende Wirkung. Es scheint das Vorbild für spätere Texte solcher Art gewesen zu sein. Sicher ist, dass es eine typische philosophische Protreptik war, die den Leser aufforderte, sich für die empfohlene Lebensform zu entscheiden. Dabei ging es dem Autor in erster Linie um die Hinwendung zur Philosophie ganz allgemein, nicht um die Besonderheit seines eigenen Systems. Die in der älteren Forschung verbreitete Meinung, der aristotelische Protreptikos sei ein Dialog gewesen, trifft wahrscheinlich nicht zu; vielmehr handelte es sich um ein Sendschreiben, das Aristoteles wohl in den vierziger Jahren des 4. Jahrhunderts an einen zyprischen Herrscher namens Themison richtete. Der Philosoph schlug dem Machthaber vor, seine beträchtlichen äußeren Güter in den Dienst der Philosophie zu stellen. Aristoteles wandte sich aber nicht nur an seinen zyprischen Adressaten, sondern hatte ein breiteres Lesepublikum philosophischer Laien im Auge, das er mit der Veröffentlichung des Werks erreichen wollte, vor allem die athenische Jugend. Daher schrieb er es in stilistisch ausgefeilter Kunstprosa, im Gegensatz zu seinen in nüchternem Stil gehaltenen fachwissenschaftlichen Schriften. In der Forschung ist die Ansicht verbreitet, man könne Aufbau und Inhalt dieses Protreptikos aus mutmaßlichen Zitaten bei dem spätantiken Autor Iamblichos rekonstruieren. Gegen die Rekonstruktionsversuche wird allerdings geltend gemacht, es handle sich um unbeweisbare Hypothesen. Ein Kerngedanke des Sendschreibens war jedenfalls die These, dass der menschliche Geist als wichtigster Teil der Seele dazu berufen sei, die Wahrheit zu erkennen, und dass die Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen sei. Es wurde besonders betont, dass das vom Bemühen um solche Erkenntnis geprägte philosophische Leben mit größter Freude verbunden sei. Außerdem sei die philosophische Einsicht durchaus für das praktische Leben förderlich. Auch anderen Werken des Aristoteles, insbesondere seiner Nikomachischen Ethik, ist eine protreptische Zielsetzung zugeschrieben worden. Hellenismus In der hellenistischen Zeit entstand eine erhebliche Anzahl Protreptikoi, von denen keiner das Ende der Antike überdauerte. Als Autoren solcher Werke nennt der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios die Peripatetiker Theophrast und Demetrios von Phaleron, die Stoiker Kleanthes, Persaios von Kition und Ariston von Chios, den Kyniker Monimos sowie Epikur, den Gründer der epikureischen Schule. Mit Epikur setzte außerdem die protreptische Briefliteratur ein. Die Stoiker Chrysippos und Poseidonios verfassten Abhandlungen Über das Werben (Peri tou protrepesthai), von denen wenige Fragmente erhalten geblieben sind. Der Peripatetiker Chamaileon schrieb einen Protreptikos, in dem er den ethischen Wert der Musik betonte. Zur Theorie der Protreptik äußerten sich zwei namhafte späthellenistische Denker in der Tradition des Platonismus, Philon von Larisa und Eudoros von Alexandria. Philon war der letzte Scholarch der platonischen Akademie. Er verglich die Aufgabe des Philosophen, den er als Seelenarzt auffasste, mit der des Arztes. Beide seien in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich heilend tätig, und beide hätten zuerst Überzeugungsarbeit zu leisten, denn dem Philosophieschüler müsse ebenso wie dem Patienten zunächst die Zweckmäßigkeit des empfohlenen Vorgehens und dessen Überlegenheit gegenüber möglichen Alternativen einsichtig gemacht werden, bevor konkrete Schritte unternommen werden könnten. Der Mittelplatoniker Eudoros von Alexandria bestimmte die Aufgabe der Protreptik als Darstellung von Tugend und Laster unter gesamtheitlichem Aspekt, im Gegensatz zur Erörterung der einzelnen Tugenden. Daneben berichtete Eudoros von einer Begriffsverwendung, der zufolge die praktische Ethik in drei Bereiche gegliedert ist, von denen einer die Protreptik ist. Kaiserzeit Aus der römischen Kaiserzeit einschließlich der Spätantike sind vier griechische Texte nichtchristlicher Autoren mit dem Titel Protreptikos ganz oder teilweise überliefert: der als allgemeine Einleitung dienende erste Teil einer von dem berühmten Arzt Galen verfassten „Werbung für die Heilkunst“, deren Rest verloren ist, der philosophische Protreptikos des Neuplatonikers Iamblichos und zwei Reden des spätantiken Philosophen und Rhetors Themistios. Das Werk des Iamblichos entstand im frühen 4. Jahrhundert als zweites der zehn Bücher seiner Gesamtdarstellung des Pythagoreismus, deren ursprünglicher Titel nicht bekannt ist. Es führt generell in die Philosophie ein und behandelt speziell die spezifisch pythagoreische Lehre und Lebensweise. Dieser Protreptikos besteht weitgehend aus Paraphrasierungen und Zitaten. Die beiden Reden des Themistios sind im Titel als Protreptiken gekennzeichnet; die eine ist an den Thronfolger Valentinianus Galates gerichtet, die andere an die Einwohner der Stadt Nikomedia. Von einer protreptischen Absicht geprägt ist auch eine Reihe weiterer Werke, darunter die dreizehnte Rede des Dion Chrysostomos, mehrere Schriften Plutarchs, Epiktets Lehrgespräche und Mark Aurels Selbstbetrachtungen. Die von starkem Selbstbewusstsein getragene Werbung der Protreptiker stieß aber auch auf Kritik. Im 2. Jahrhundert setzte sich der Satiriker und Philosophiekritiker Lukian mit dem philosophischen Lehrbetrieb und dem Selbstverständnis der Philosophen auseinander. Ihm missfiel besonders die aus seiner Sicht abwegige, groteske und jämmerliche Lebensweise, die in den asketischen Strömungen angepriesen wurde, und die Scharlatanerie mancher angeblicher Weisheitslehrer. Daher nahm er die Protreptik aufs Korn, in der er eine fragwürdige Propaganda für verschrobene Ideale und sinnlose Bemühungen sah. In den Dialogen Hermotimos und Nigrinos verspottete er die von den Protreptikern angestrebte emphatische Hinwendung zur Philosophie mit ihren emotionalen Begleiterscheinungen. Im Hermotimos gelingt es dem Skeptiker Lykinos, den Stoiker Hermotimos von der Philosophie abzubringen. Somit findet eine umgekehrte Bekehrung statt, die ebenso wie die von der Protreptik herbeigeführten Konversionen vom Betroffenen als Erlösung und Heilung empfunden wird: Zum Schluss bekennt Hermotimos tief bewegt seine Wandlung. Er ist nun gründlich und für immer vom Geschwätz der Philosophen geheilt. Im Nigrinos beschreibt der Erzähler einem Gesprächspartner enthusiastisch seine Bekehrung zur Philosophie bei der Begegnung mit dem Platoniker Nigrinos in Rom. Er schildert die überwältigende Wirkung der Worte des Nigrinos, die in ihm eine anhaltende Ergriffenheit hervorgerufen hat. Der Vorgang ähnelt einem religiösen Erweckungserlebnis. Die Macht dieser Protreptik ist so gewaltig, dass der Dialogpartner des Erzählers im Rahmengespräch beim bloßen Zuhören von der Begeisterung angesteckt und ebenfalls für die Philosophie gewonnen wird. Diesem verblüffenden Effekt entspricht aber das, was man im Dialog inhaltlich von den Ausführungen des gepriesenen Philosophen erfährt, keineswegs, denn Nigrinos hat in Wirklichkeit nur Gemeinplätze dargeboten. Außerdem ist sein werbender Diskurs von selbstverherrlichendem Eigenlob durchtränkt. Durch den Kontrast zwischen dem bescheidenen Niveau der protreptischen Darlegungen und deren unverhältnismäßiger Wirkung auf den Berichterstatter und dessen Zuhörer erzielt der satirische Autor einen parodistischen Effekt: Das Bekehrungserlebnis als Wendepunkt im Leben macht den Eindruck einer lächerlichen, theatralischen Schwärmerei. Abschließend wird der ansteckende Enthusiasmus der Philosophenjünger mit der Tollwut verglichen, die sich durch Bisse immer weiter fortpflanzt. Die Philosophie erscheint somit geradezu als Seuche. Lukian, der diesbezüglich nicht zwischen den verschiedenen Schulrichtungen unterschied, wollte seine Leser vor der Gefahr warnen, der Verführung durch Protreptiker zum Opfer zu fallen. Auch in dem Dialog Der Verkauf der Philosophenleben verspottete er die Eigenwerbung der Philosophen. Römische Philosophie und Bildung Republikanische Zeit In der Zeit der römischen Republik entstanden mehrere lateinische Werke, deren Autoren zu einer philosophischen Einstellung und Lebensweise ermuntern wollten. Der Dichter Ennius, der im späten 3. und frühen 2. Jahrhundert v. Chr. lebte, schrieb einen Protrepticus in Gedichtform, aus dem ein kleines Fragment überliefert ist. Eine protreptische Absicht verfolgte auch Lukrez, der im 1. Jahrhundert v. Chr. in seinem Lehrgedicht De rerum natura für die epikureische Lehre warb. Er betonte den Gegensatz zwischen dem von Angst und Sorge geprägten Leben des unphilosophischen Menschen und der überlegenen Haltung des Weisen. Von Cicero stammt die letzte und bekannteste Protreptik der republikanischen Zeit in lateinischer Sprache, der Dialog Hortensius. Dieses berühmte Werk, das noch im 4. Jahrhundert den jungen Augustinus stark beeinflusste, ist als Ganzes verloren, doch zahlreiche Zitate überliefern Fragmente, die einen Eindruck vom Inhalt vermitteln. Cicero schrieb den Hortensius 46/45 v. Chr. unter dem Eindruck der damaligen politischen Umwälzungen. Den aktuellen Hintergrund bildete die persönliche Situation des Autors nach der endgültigen Etablierung der Alleinherrschaft Caesars im Römischen Reich. Diese Entwicklung war für Cicero eine Niederlage, die sein staatsmännisches Lebenswerk vernichtete und ihn aus der Politik verdrängte. Die erzwungene Untätigkeit gab ihm den Anstoß zu einer verstärkten Hinwendung zur Philosophie, in der er Trost fand. Der Dialog sollte diese neue, unrömisch wirkende Lebenseinstellung des prominenten Politikers einem skeptischen Publikum plausibel machen. In dem fiktiven, literarisch gestalteten Streitgespräch trat der Autor selbst als Protagonist auf. Er schilderte, wie es ihm gelang, den anfangs als Kritiker auftretenden Redner Hortensius, nach dem der Dialog benannt ist, für die Philosophie zu gewinnen. Gemeint war die Philosophie schlechthin, nicht eine bestimmte Schulrichtung. Die Kritik der Dialogfigur Hortensius an der Philosophie fiel außerordentlich scharf und leidenschaftlich aus. Er behauptete, dieses Betätigungsfeld sei im Gegensatz zur Rhetorik, die er selbst sein Leben lang gepflegt hatte, nutzlos. Als Lehrmeisterin sei die Philosophie überflüssig, denn zur Belehrung des Menschen genüge die Natur; man brauche nur zu beachten, was die menschliche Natur verlange. Das späte Auftreten der Philosophie in der Geschichte zeige, dass der Mensch nicht auf sie angewiesen sei. Somit sei sie entbehrlich. Die Behauptungen der philosophischen Ethik seien unklar und weltfremd, und es bestehe eine Kluft zwischen Theorie und Praxis. Die Gedankengänge der stoischen Dialektik und der klassischen aristotelischen Logik seien widersprüchlich, paradox und ergebnislos. Dagegen brachte Cicero – einen Gedanken des Aristoteles aufgreifend – vor, die These, man solle nicht philosophieren, sei als Stellungnahme zur Frage, was man tun soll, selbst eine philosophische Aussage. Außerdem machte Cicero geltend, die Kritik an der Logik mache selbst von deren Methoden Gebrauch. Er befand, die Suche nach der Wahrheit sei auch dann wertvoll, wenn sie nicht zum Ziel führe. Nur die Philosophie könne den Menschen von der Todesfurcht befreien und ihn zu der Glückseligkeit führen, die seiner Natur gemäß sei. Ihre angeblich späte Entstehung sei kein stichhaltiger Einwand, denn spät aufgekommen sei nur ihr Name; der Sache nach habe es sie schon viel früher gegeben, und sie sei die treibende Kraft hinter der menschlichen Kulturentwicklung gewesen. Cicero übernahm von Aristoteles nicht nur den Grundgedanken, dass das der Wissenschaft gewidmete Leben die höchste Daseinsform sei, sondern auch Einzelheiten, Argumente und rhetorische Vergleiche. Seine Eigenleistung bestand vor allem darin, den protreptischen Stoff in Dialogform zu präsentieren. Dafür war ein ganz persönliches Anliegen bestimmend: die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Rhetorik oder die Philosophie den höheren Rang einnehme. Cicero war durch die Überlegenheit seiner Beredsamkeit bis zum Konsulat aufgestiegen und verdankte ihr seinen Ruhm; nach seinem Scheitern und der politischen Resignation entschied er sich für den Vorrang der philosophischen Lebensform und versuchte dieser persönlichen Entscheidung im Hortensius eine objektive Begründung zu geben. Bezeichnenderweise ließ er das fiktive Gespräch im Jahr 62 oder 61 v. Chr. stattfinden, also zu der Zeit, als er auf der Höhe seines Ruhms stand, unangefochten als Retter des Vaterlandes gelten konnte und frei von äußerem Druck war. So konnte seine 46/45 v. Chr. verfasste Darstellung den Eindruck erwecken, er habe nicht aus Mangel an Alternativen, sondern aus innerster Überzeugung der philosophischen Kontemplation den Vorzug gegenüber Macht und Ruhm gegeben. Kaiserzeit Auch die römische Kaiserzeit brachte eine Reihe von lateinischen Schriften hervor, deren Zweck die Werbung für ein philosophisches Leben war oder die zumindest protreptische Züge aufweisen. Der Geschichtsschreiber Sueton berichtet, Kaiser Augustus habe Aufforderungen zur Philosophie (Hortationes ad philosophiam) verfasst. Die verlorenen Ermahnungen (Exhortationes) des Stoikers Seneca propagierten ein philosophisches Leben im Sinne der Stoa, und auch in vielen Briefen Senecas an seinen Freund Lucilius ist diese Thematik präsent. Im neunzigsten Brief setzt er sich mit der Auffassung des Poseidonios auseinander. Das bedeutendste spätantike Werk mit protreptischer Ausrichtung ist der in den zwanziger Jahren des sechsten Jahrhunderts verfasste Trost der Philosophie des Politikers, Gelehrten und neuplatonischen Philosophen Boethius. Dieses Prosimetrum, das im Mittelalter zu einem der meistgelesenen und meistkommentierten Texte wurde, ist ein Dialog zwischen dem Autor und der personifizierten Philosophie, die ihn tröstet und belehrt. Boethius war zwar Christ, verzichtete aber in diesem philosophischen Werk weitgehend auf christliche Bezüge. In nichtphilosophischem Zusammenhang erscheint der Ausdruck protreptisch im Titel des Gedichts Liber protrepticus ad nepotem (Ermutigendes Buch an den Enkel), das der Dichter Ausonius in der Zeit zwischen 379 und 383 verfasste. In den hundert Hexametern wendete sich Ausonius in spielerischem Ton an seinen gleichnamigen Enkel, einen Schuljungen, um ihn zu Bildungsbemühungen anzuspornen. Christentum In der frühchristlichen Literatur zählte das Bestreben, pagane Leser zum Christentum zu bekehren oder Gemeindemitglieder zu einer konsequent christlichen Haltung und Lebensweise zu ermutigen, zu den Hauptmotiven der Kirchenschriftsteller. Wie in der Philosophie kam es darauf an, das Lesepublikum zur Entscheidung für einen neuen Lebensweg zu bewegen oder in einem solchen Entschluss zu bestärken. Daher lehnten sich die literarischen Mittel der Missionstätigkeit und der Belehrung über den Glauben oft an das Vorbild der philosophischen Protreptik an. Den gebildeten Kirchenvätern war die protreptische Tradition, insbesondere Ciceros Dialog Hortensius, vertraut. In einer beträchtlichen Anzahl von Erzeugnissen der antiken christlichen Literatur, insbesondere der Apologetik, kommen protreptische Elemente vor, die oft mit paränetischen verwoben sind. Deutlich erkennbar ist die Nachahmung Ciceros bei dem Apologeten Minucius Felix, der wohl in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts den Dialog Octavius schrieb. Hier führen der Heide Caecilius und der Christ Octavius ein Streitgespräch über die christliche Religion, in dem auf eine Stellungnahme des Heiden eine mehr als doppelt so lange des Christen folgt. Der Heide vertritt erkenntnistheoretisch eine skeptische Position; er hält es für eine Anmaßung, ein sicheres Urteil über Gott und die Schöpfung zu beanspruchen, und zieht die Möglichkeit einer gänzlich dem Zufall unterworfenen Welt in Betracht. In metaphysischen Fragen sei die philosophisch angemessene Haltung der Zweifel. Da Caecilius aber ein konservativer Römer ist, will er an der religiösen Lehre und Praxis seiner Vorfahren festhalten. Sein Bild von den Christen ist von haltlosen Gerüchten geprägt. Octavius antwortet mit der Skizzierung einer christlichen Metaphysik auf der Grundlage einer rational verfahrenden Theologie. Zur Widerlegung der Annahme, die Lebewesen seien zufällige Zusammensetzungen von Elementen, trägt er einen teleologischen Gottesbeweis vor. Er behauptet, aus der Ordnung in der Natur und der Gesetzmäßigkeit der natürlichen Abläufe sowie aus den Erkenntniskräften des Menschen lasse sich eine vollkommene Vernunft als Ursache dieser Gegebenheiten erschließen. Gegen die Begründung der traditionellen Kultpraxis mit dem Hinweis auf die römische Weltmacht, die auf die Gunst der Götter zurückzuführen sei, wendet er historisch argumentierend ein, die politischen und militärischen Erfolge der Römer seien Ergebnisse des von ihnen begangenen Unrechts. Es gelingt Octavius, seinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass philosophische Einsicht und christliche Lehre miteinander konvergieren. – Minucius Felix wandte sich mit diesem Werk an Leser aus der gebildeten Oberschicht, um sie für das Christentum zu gewinnen. Daher orientierte er sich am traditionellen philosophischen Diskurs und verzichtete darauf, sich auf die Autorität der christlichen Offenbarung zu berufen, denn er wollte bei seinem paganen Zielpublikum keinen Anstoß erregen. Aus diesem Grund war die Basis seiner Ausführungen schmal; wesentliche Inhalte und Anliegen des Christentums konnten nicht zur Sprache kommen. Einige Kirchenschriftsteller übernahmen in den Titeln ihrer Werke den Begriff protreptikos oder dessen lateinisches Äquivalent exhortatio (Ermunterung, Ermahnung). So schrieb Tertullian eine Schrift Über die Ermahnung zur Keuschheit (De exhortatione castitatis) und Origenes eine Aufforderung zum Martyrium (Eis martýrion protreptikós). Der Kirchenvater Clemens von Alexandria bemühte sich mit seiner Werbeschrift an die Griechen (Protreptikós pros héllēnas) um Adressaten, die in der klassischen paganen Bildung verwurzelt, aber für christliches Gedankengut empfänglich waren. In diesem missionarischen Werk polemisierte Clemens gegen die paganen Kulte und setzte sich mit den verschiedenen philosophischen Richtungen auseinander, denen er den christlichen Anspruch auf eine überlegene Weltdeutung entgegenhielt. Die Lehren der paganen Philosophen kritisierte er als unzulänglich. Zwar billigte er manchen dieser Denker – insbesondere Platon – zu, Spuren und Elemente der Wahrheit erkannt zu haben, doch er betrachtete ihre Theorien als überholt und erklärte, man brauche sich nicht mehr mit ihnen zu beschäftigen, da nun dank der göttlichen Offenbarung in Christus die absolute Wahrheit enthüllt sei. Wie schon Philon von Larisa und Epiktet fasste Clemens den Protreptiker als Therapeuten auf und verglich ihn mit einem Arzt, da er ein Heiler der Seele sei. Forschung Die Rekonstruktionsbemühungen Die moderne Forschung richtete ihre Aufmerksamkeit zunächst vor allem auf die verlorenen Werke des Aristoteles und Ciceros. Ingram Bywater entdeckte im Protreptikos des Iamblichos aristotelisches Gedankengut und Wortmaterial und trug 1869 die Hypothese vor, die Protreptik des Aristoteles sei die Quelle eines umfangreichen Teils der Schrift des Neuplatonikers. Diese Annahme fand viel Anklang und bewirkte ein Anschwellen der Sammlungen von Aristoteles-Fragmenten. An Bywaters Ergebnisse knüpfte 1923 Werner Jaeger an. Er meinte aus den Fragmenten des aristotelischen Protreptikos bei Iamblichos das Bild einer frühen Phase in der Entwicklung der Philosophie des Aristoteles gewinnen zu können. Dagegen erhob Hans-Georg Gadamer 1927 aus hermeneutischer Sicht den Einwand, ein Protreptikos sei keine Ethik, „auch nicht die Urform einer solchen“. Man solle darin keine philosophische Position suchen, „sondern die Position der Philosophie selbst“. Aristoteles habe seinen Lesern keine Vorentscheidung für eine bestimmte Lehre nahelegen wollen. Vielmehr habe er seine Aufgabe darin gesehen, das den verschiedenen Richtungen Gemeinsame auf allgemeinverständliche Weise anzupreisen. In der Jaeger folgenden Forschung wurde der Text des Iamblichos weitgehend mit dem des Aristoteles gleichgesetzt und auf dieser Grundlage die Philosophie des aristotelischen Proteptikos hypothetisch erschlossen. Einflussreich war die Arbeit von Ingemar Düring, der 1961 versuchte, den Aufbau des verlorenen Werks zu rekonstruieren. In neueren Untersuchungen wird zwar weiterhin davon ausgegangen, dass Iamblichos die aristotelische Schrift stark benutzt und oft auch deren Wortmaterial übernommen hat, aber über die Frage der Rekonstruierbarkeit gehen die Meinungen weit auseinander. Die Ergebnisse neuer Rekonstruktionsversuche von Anton-Hermann Chroust (1964) und Gerhart Schneeweiß (1966, 2005) unterscheiden sich gravierend sowohl untereinander als auch von Dürings Befund. Daraus folgert Hellmut Flashar (2006), dass eine skeptische Einschätzung des Werts solcher Hypothesen angebracht sei. Wesentlich optimistischer sind Douglas S. Hutchinson und Monte Ransome Johnson (2005), die Bywaters Einschätzung für im Wesentlichen korrekt halten und meinen, die Reihenfolge der Textblöcke und damit auch der Themen bei Iamblichos entspreche der des aristotelischen Protreptikos. Sie glauben, man könne mehr als fünfhundert Zeilen dieses Werks aus der Schrift des Neuplatonikers gewinnen. Das hält Flashar für „eine schöne Illusion“. Die Nachzeichnung der Anlage und Gedankenführung von Ciceros Hortensius begann 1892 mit der Dissertation von Otto Plasberg, der den Aufbau des Dialogs aus den Fragmenten zu rekonstruieren versuchte. Klaus Bringmann urteilte 1971, Plasbergs Arbeit sei „noch immer“ der beste Rekonstruktionsversuch. Im Jahr 1990 publizierten Laila Straume-Zimmermann und Olof Gigon das Ergebnis eines neuen Anlaufs, die Struktur des Werks zu erschließen. Die gattungstheoretische Debatte Neben der Erforschung der einzelnen Quellen setzte schon im späten 19. Jahrhundert die gattungstheoretische Debatte ein, die weiterhin andauert. Die Frage der Begriffsbestimmung und der Abgrenzung von Protreptik und Paränese wird kontrovers diskutiert. Den Anfang machte Paul Hartlich. Er legte 1889 in seiner Dissertation die erste Untersuchung über Protreptik und Paränese als separate Diskursformen mit spezifischen Funktionen und unterschiedlichem Zielpublikum vor. Hartlichs Abgrenzung der beiden Gattungen wurde für die Folgezeit maßgeblich. Sie wirkt bis ins 21. Jahrhundert nach, stößt aber in der neueren Forschung, insbesondere bei Diana Swancutt (2004), auf Widerspruch und wird als unangemessene Vereinfachung kritisiert. Die Auffassung, es gebe eine eigenständige protreptische Gattung, ist heute eine Minderheitsposition. Stark verbreitet ist die gegenteilige Sichtweise, der zufolge die Protreptik nicht als Literaturgattung zu betrachten ist, sondern eher als Typus, Stil oder Funktion. Nach diesem Verständnis erscheint sie als kommunikatives Ziel literarischer Werke unterschiedlicher Art. Simon Roelof Slings (1981) vertritt eine gemäßigte Variante der Gattungshypothese. Er nimmt die Existenz einer eigenen Literaturgattung Protreptik für das 4. Jahrhundert v. Chr. an und meint, sie sei eher durch den Inhalt als formal abgrenzbar. Slings zählt Texte, die zu einem bestimmten Studium – etwa der Philosophie oder der Rhetorik – anregen sollen, zur Protreptik im engeren Sinn; im weiteren Sinn nennt er alle Texte protreptisch, die auf einen Wandel im Verhalten des Lesers abzielen, beispielsweise auf eine Änderung der politischen Haltung. Mark D. Jordan (1986) hingegen glaubt nicht, dass es eine nach Form oder Gegenstand abgrenzbare Literaturgattung Protreptik gibt. Für ihn ist das einzige gemeinsame Merkmal aller philosophischen protreptischen Texte eine bestimmte „rhetorische Situation“. Diese entstand – so Jordan – durch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Lebenswegen und Schulrichtungen um die Gunst des Publikums. Es ging immer um den Versuch, bei dem Hörer oder Leser im Moment seiner Entscheidung über die Wahl einer Lebensweise einen bestimmten Willens- oder Erkenntniszustand hervorzurufen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass zur Erzielung des erwünschten Ergebnisses nicht jedes Mittel eingesetzt werden durfte; rhetorische Überredungskunst, die gezielt Gefühle erzeugt und manipuliert, war bei den meisten Philosophen verpönt. Neben diesen Ansätzen werden im Forschungsdiskurs weitere Definitionsvorschläge erörtert. Den meisten Begriffsbestimmungen ist gemeinsam, dass Protreptik als kommunikativer Prozess beschrieben wird, dessen Ziel darin besteht, jemanden zur Umkehr zu bewegen oder von einer bestimmten Handlungsweise zu überzeugen. Sophie Van der Meeren (2002) verteidigt die Auffassung, es gebe eine protreptische Gattung. Deren Einheit beruht ihrer Meinung zufolge sowohl auf formalen als auch auf inhaltlichen Merkmalen. Van der Meeren definiert Protreptiken als Einführungen in die Philosophie, die der persönlichen Praxis oder theoretischer Belehrung dienen und den Hörer oder Leser zur Bekehrung aufrufen, wobei die Philosophie unter dem Gesichtspunkt ihres Zwecks, der Erlangung der Eudaimonie, dargestellt wird. Den Hintergrund bildet das in der Antike gängige Konzept der Philosophie als einer Lebensweise, die konsequent zu verwirklichen ist. Eine neue Interpretation des Verhältnisses von Protreptik und Paränese hat Diana Swancutt 2004 vorgelegt. Sie hält Hartlichs Unterscheidung von zwei Gattungen für verfehlt. Swancutt assoziiert Paränese mit traditioneller, etablierter, praxisbezogener Bildung und mit dem Bestreben von Gruppen und Individuen, den eigenen Status in einem konservativen Milieu zu festigen oder zu verbessern. Nach diesem Verständnis ist das Zielpublikum der Paränese bereit, sich beraten zu lassen, um im Rahmen einer herkömmlichen Wertordnung erfolgreich zu sein. Im Gegensatz dazu ist Protreptik die unkonventionelle Rhetorik von sozial aufsteigenden Außenseitern und Neuerern, die theoretisches Wissen in den Vordergrund stellen und gängige soziale Normen kritisieren. Damit verbindet sich der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Lebensform über die der herrschenden Eliten. Ein markantes Beispiel dafür ist die kynische Protreptik, die sich an das Zielpublikum einer extremen Außenseitergruppe, der Kyniker, richtet und die Funktion einer Rhetorik des kulturellen Widerstands übernimmt. Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare Véronique Boudon (Hrsg.): Galien: Exhortation à l’étude de la médecine. Art médical (= Galien, Band 2). 2. Auflage, Les Belles Lettres, Paris 2002, ISBN 2-251-00483-1, S. 1–146 (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Hellmut Flashar u. a. (Übersetzer): Aristoteles: Fragmente zu Philosophie, Rhetorik, Poetik, Dichtung (= Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Band 20, Teil 1). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, S. 50–72 (Text) und 167–197 (Kommentar) Alberto Grilli (Hrsg.): Marco Tullio Cicerone: Ortensio. Pàtron, Bologna 2010, ISBN 978-88-555-3086-6 (kritische Edition der Fragmente mit Einleitung, italienischer Übersetzung und Kommentar) Claude Mondésert (Hrsg.): Clément d’Alexandrie: Le Protreptique (= Sources Chrétiennes, Nr. 2 bis). 2., überarbeitete Auflage, Les Éditions du Cerf, Paris 2004, ISBN 2-204-07625-2 (kritische Edition mit französischer Übersetzung; Nachdruck) Édouard des Places (Hrsg.): Jamblique: Protreptique. Les Belles Lettres, Paris 1989, ISBN 2-251-00397-5 (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Gerhart Schneeweiß (Hrsg.): Aristoteles: Protreptikos. Hinführung zur Philosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-16472-5 (kritische Edition der Fragmente mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar) Otto Schönberger (Übersetzer): Iamblichos: Aufruf zur Philosophie. Erste deutsche Gesamtübersetzung. Mit zweisprachiger Ausgabe von Ciceros »Hortensius«. Königshausen + Neumann, Würzburg 1984, ISBN 3-88479-143-5 Laila Straume-Zimmermann, Ferdinand Broemser, Olof Gigon (Hrsg.): Marcus Tullius Cicero: Hortensius. Lucullus. Academici libri. Artemis, München/Zürich 1990, ISBN 3-7608-1657-6, S. 6–111 (unkritische Textausgabe und Übersetzung) und 327–370 (Untersuchung) Sophie Van der Meeren (Hrsg.): Exhortation à la philosophie. Le dossier grec. Aristote. Les Belles Lettres, Paris 2011, ISBN 978-2-251-74210-6 (Einleitung, griechischer Text der Fragmente, französische Übersetzung und Kommentar) Literatur Übersichtsdarstellungen in Handbüchern Annemaré Kotzé: Protreptik. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 28, Hiersemann, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-7772-1815-1, Sp. 372–393 Jean-Pierre Wils: Protreptik. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 7, Niemeyer, Tübingen 2005, ISBN 3-484-68107-1, Sp. 376–380 Untersuchungen Konrad Gaiser: Protreptik und Paränese bei Platon. Untersuchungen zur Form des platonischen Dialogs. Kohlhammer, Stuttgart 1959 Mark D. Jordan: Ancient Philosophic Protreptic and the Problem of Persuasive Genres. In: Rhetorica 4, 1986, S. 309–333 Simon Roelof Slings: Protreptic in Ancient Theories of Philosophical Literature. In: Jelle G. J. Abbenes u. a. (Hrsg.): Greek Literary Theory after Aristotle. VU University Press, Amsterdam 1995, ISBN 90-5383-365-X, S. 173–192 Diana M. Swancutt: Paraenesis in Light of Protrepsis. Troubling the Typical Dichotomy. In: James Starr, Troels Engberg-Pedersen (Hrsg.): Early Christian Paraenesis in Context. De Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-018130-4, S. 113–153 Sophie Van der Meeren: Le protreptique en philosophie: essai de définition d’un genre. In: Revue des Études grecques 115, 2002, S. 591–621 Anmerkungen Griechische Philosophie Aristoteles ! ! Antike Literaturgattung Literarischer Begriff Rhetorik Redegattung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Essener%20M%C3%BCnster
Essener Münster
Das Essener Münster ist die Bischofskirche des Bistums Essen, des sogenannten „Ruhrbistums“, am Burgplatz in der Innenstadt von Essen. Es trägt das Patrozinium der heiligen Cosmas und Damian und der Jungfrau Maria und wird auch Essener Dom genannt. Der Dom, der mehrere Vorgängerbauten hatte, war ursprünglich die Stiftskirche des Essener Frauenstifts, das um 845 von dem Hildesheimer Bischof Altfrid gegründet worden war. Das nach Kriegszerstörung im Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaute Münster ist eine ursprünglich nach 1275 errichtete gotische Hallenkirche aus hellem Sandstein. Der oktogonale Westbau und die Krypta sind erhaltene Teile des ottonischen Vorgängerbaus. Dem Münster ist nördlich ein Kreuzgang angeschlossen. Zu seinen bedeutendsten Kunstschätzen zählt die Goldene Madonna, die älteste vollplastische Marienfigur nördlich der Alpen. Baugeschichte Vorherige Siedlungen Das Gelände des Domes war bereits vor der Gründung des Stiftes besiedelt. Der Hildesheimer Bischof Altfrid (Amtszeit 847–874) soll auf seinem Gut Asnide ein Frauenstift gegründet haben. Ein direkter Nachweis dieses Gutes ist bisher nicht gelungen. Pfostenlöcher, merowingerzeitliche Scherben und Bestattungen nahe der Münsterkirche lassen jedoch den Schluss zu, dass bereits vor Gründung des Stiftes eine Besiedelung des Platzes bestand. Erste Kirche Die heutige Essener Domkirche ist der dritte Kirchenbau an dieser Stelle. Grundmauern der Vorgängerkirchen wurden 1952 von Walter Zimmermann ausgegraben. Die erste Kirche an dieser Stelle wurde von den Gründern des Essener Stifts, dem Hildesheimer Bischof Altfrid und Gerswid, der ersten überlieferten Äbtissin, zwischen 845 und 870 errichtet. Der Bau, der bereits die Breite von Mittel- und Seitenschiffen seiner Nachfolgerbauten vorgab, war eine dreischiffige Basilika in west-östlicher Ausrichtung. Westlich vor dem Langhaus befand sich eine kleine, fast quadratische Vorhalle. Die Arme des Querhauses schlossen sich an einen rechteckigen Mittelraum an; sie hatten die Höhe des Mittelschiffes. Nur von den Querhausarmen aus waren Räume in den östlichen Enden der Seitenschiffe zugänglich. Ob diese Räume, wie Zimmermann anhand der Ausgrabungsbefunde annahm, die Höhe des Seitenschiffes hatten oder, wie Lange in einer neueren Rekonstruktion annimmt, die Höhe der Seitenchöre, ist strittig. Östlich der Vierung befand sich der halbrund geschlossene Chor, an den sich seitlich rechteckige Räume anlehnten, die vom Querhaus aus zugänglich waren. Diese erste Kirche wurde 946 durch einen Brand beschädigt, der in den Kölner Annalen als Astnide cremabatur („Essen brannte nieder“) verzeichnet ist. Frühottonische Stiftskirche Aus den Jahren von 960 bis 964 sind mehrere Weihinschriften für Teile der neuen Kirche überliefert, aus denen geschlossen wird, dass der Brand von 946 die Kirche nur beschädigt hatte. Für Langhaus und Chor sind keine Inschriften überliefert, diese wurden wohl vom karolingischen Bau übernommen, die einzelnen Bauabschnitte sind strittig, einige Teile können bereits vor dem Brand begonnen oder fertiggestellt worden sein. Notwendige Erneuerungen zu einem Ausbau der Kirchenanlage zu benutzen, war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Die neuen Teile, die vermutlich von den Äbtissinnen Agana und Hathwig in Auftrag gegeben wurden, waren eine Außenkrypta, ein Westwerk sowie ein dem Westwerk vorgelagertes Atrium mit einer Kapelle Johannes des Täufers. Dieser Kirchenbau kann aus den Grabungsbefunden rekonstruiert werden, hatte in dieser Form allerdings nicht lange Bestand, da möglicherweise bereits unter der kunstsinnigen Äbtissin Mathilde, die von 973 bis 1011 amtierte, vielleicht aber auch erst unter der von 1039 bis 1058 regierenden Äbtissin Theophanu, ein Neubau errichtet wurde. Möglich ist auch, dass ein von Mathilde begonnener Neubau durch Theophanu vollendet wurde. Von dem ottonischen Neubau sind heute noch bedeutende Bestandteile erhalten. Ottonischer Neubau Die Ausdehnung des ottonischen Neubaus war durch die beiden Vorgängerbauten vorgegeben. Der größte Teil der Fundamente wurde wieder verwendet, nur dort, wo die Belastungen gewachsen waren oder die Raumaufteilung stark abwich, wurden neue gesetzt. Auch der Neubau bestand aus einem dreischiffigen Langhaus mit Querhaus und einem anschließenden Chorraum, der von Nebenchören begleitet wurde. In den Chorraum war nun eine Krypta hineingebaut worden. Der Chor schloss innen mit einer halbrunden Apsis ab, die nach außen von fünf Seiten eines Zehnecks ummantelt war. An den Chor lehnte sich eine zweistöckige Außenkrypta an, deren Westmauern sich an die östlichen Mauern der Nebenchöre anschlossen. Türen neben den Altarnischen gewährten direkten Zugang zur Krypta. Die Nebenchöre besaßen Emporen, die sowohl zu den Querhausarmen als auch zum Hauptchor hin geöffnet waren. Die Außenwand der Querhausstirnseiten war nunmehr zweigeschossig, wobei das Obergeschoss durch drei Nischen mit Fenstern gegliedert war. Im Erdgeschoss befanden sich Nischen, diese Nischengliederung setzte sich in den Mauern des Seitenschiffes fort. Über diesen Nischen zog sich entlang der Wände ein Laufgang, der in das Emporengeschoss des neuen Westbaus führte. Das Zwischenjoch zwischen Westbau und Langhaus wurde beibehalten. Die Gliederung der Mittelschiffswände ist nicht bekannt, Rekonstruktionen anhand anderen Kirchen, insbesondere der Stiftskirche von Susteren, die in vielem vom Essener ottonischen Neubau inspiriert scheint, nehmen einen Wechsel von Pfeilern und Säulen an. Auf der Wandzone zwischen diesen Arkaden und den Fenstern oberhalb des Anschlusses der Seitenschiffdächer befanden sich vermutlich Wandmalereien, da Reste von Malereien im Westbau gefunden wurden. Außen hatten die Obergaden des Mittelschiffs eine Gliederung aus Pilastern und Volutenkapitellen, wahrscheinlich in zwölf Feldern. Westbau Die Vermutung, dass der unbekannte Baumeister der Essener Stiftskirche einer der besten Architekten seiner Zeit war, gründet sich besonders auf den Westbau, der noch heute das Bild der Kirche bestimmt. Wie bei der Vorgängerkirche ist der Westbau nur wenig breiter als die Flucht der Seitenschiffmauern. Von Außen besteht er aus einem fast quadratischen Mittelturm, der von einem achteckigen Glockengeschoss mit Zeltdach bekrönt war. In die Westwand des Baus waren zwei achtseitige Treppentürme eingelassen, die unterhalb des Glockengeschosses des Mittelturms endeten. Das oberste Geschoss der Treppentürme war rund. Glockengeschoss des Mittelturms und die Obergeschosse der Treppentürme waren mit Pilastern versehen. An die Nord und Südseite des Mittelturmes lehnten sich zweigeschossige Seitenräume an, deren Obergeschoss von Pilastern gegliedert war. Im Erdgeschoss dieser Nebenräume führten in Nischen gesetzte Portale in die Kirche, der Mitteleingang des Vorgängerbaus in den Westbau wurde aufgegeben und durch ein großes rundbogiges Fenster ersetzt. Der Westbau verlor damit die Funktion, einen Triumpheingang in die Kirche zu schaffen. Stattdessen bildete der gedrungene Baukörper ein optisches Gegengewicht zu dem breit angelegten Ostbau. Innen war der Westbau reich und kompliziert gegliedert. In den Mittelraum ist ein Westchor in der Form eines halbierten Sechsecks eingebaut, der von einem Umgang umschlossen wird. In der Mitte befand sich in der Westwand eine flache Nische, seitlich befanden sich in flachen Nischen die Zugänge zu den Treppentürmen. Der Westbau öffnet sich gegen das Zwischenjoch in einem großen, von Pfeilern getragenen Bogen. Vor diesem Bogen stand im Westchor ein Altar zu Ehren des heiligen Petrus. Im Aufbau folgen die Wände dem Vorbild des Westchores der Aachener Pfalzkapelle, an den auch die Verwendung des Oktogons für das Glockengeschoss erinnert. Im Erdgeschoss setzen drei unterteilte Bogen auf sechseckigen Pfeilern auf. Die Bogenöffnungen des Obergeschosses sind zweireihig mit Säulenstellungen gefüllt, die Säulen tragen antikisierende Kapitelle. Von Außen gesehen war der Westbau damit eine Dreiturmanlage, die innen einen Westchor umhüllte, der ein halbierter Zentralbau war. Ein vergleichbares Bauwerk ist nicht bekannt. Der Westbau war reich ausgemalt, wobei die Bemalung in der Halbkuppel zum Langhaus das jüngste Gericht zeigte. Die Malerei nahm auf die Erscheinung Jesu Bezug, daraus wird geschlossen, dass die Auftraggeberin der Ausmalung die Äbtissin Theophanu (dieser griechischer Name bedeutet Gotteserscheinung) war. Krypta Durch den Einbau der Krypta wurde der Boden des Hauptchores über das Niveau der Böden von Lang- und Querhaus erhoben. Die Seitenchöre blieben auf einer Höhe mit Lang- und Querhaus. Die Krypta bestand aus der dreischiffigen Krypta der Agana, die durch den über ihr gebauten neuen Ostchor der Theophanu nun zur Innenkrypta wurde, und einer um diese gelegte fünfschiffige Außenkrypta. Der Zugang zur Innenkrypta erfolgte von den Ostseiten der Nebenchöre aus, durch die man zunächst in die Außenkrypta gelangte. Die Außenkrypta hatte quadratische und längsrechteckige Joche, die im Wechsel angelegt waren und durch feingegliederte quadratische Pfeiler getrennt wurden. Die drei mittleren Ostjoche waren besonders hervorgehoben. Während die Ostwände in den beiden seitlichen Jochen einfache halbrunde Nischen zeigten, war an das mittlere Joch ein kleiner, mit drei halbrunden Nischen versehener Chor angesetzt. An den mittleren Wandpfeilern der Außenkrypta sind Sandsteinplatten erhalten, denen sich als Weihedatum der Krypta der 9. September 1051 und die in den Kryptenaltären erhaltenen Reliquien entnehmen lassen. Spätere Anbauten Kurze Zeit nach der Fertigstellung der ottonischen Kirche, vermutlich unter der Nachfolgerin der Äbtissin Theophanu, wurde das Atrium erneuert. Das Atrium wurde 1471 bei der Erneuerung und Vergrößerung der dem Münster westlich vorgelagerten Kirche St. Johann Baptist, die als Tauf- und Pfarrkirche der Stiftsuntertanen diente, verkleinert, präsentiert sich jedoch ansonsten in seiner vermutlich 1060–1080 entstandenen Form. Die nächste Erweiterung der Kirchenanlage war ein Anbau an das südliche Querhaus im 12. Jahrhundert. Dieser sehr massive Anbau enthielt im Obergeschoss das sectarium, in dem die Urkunden und Akten des Stifts aufbewahrt wurden, und diente auch als Schatzkammer. Die darunter gelegene offene Halle, die zu einem späteren Zeitpunkt geschlossen wurde, diente den Zwecken des kirchlichen Gerichts. Dieser Anbau ist heute Teil der Essener Domschatzkammer. Gotische Hallenkirche 1275 brannte die ottonische Stiftskirche nieder, wobei der Westbau und die Krypta erhalten blieben. Beim Aufbau, der in die Amtszeit der Äbtissinnen Berta von Arnsberg und Beatrix von Holte fiel, verbanden die Baumeister altes mit den neuen Bauformen der Gotik. Die Form der Hallenkirche wurde in bewusstem Kontrast zum Kölner Dom gewählt, da sich das Stift Essen der Machtansprüche der Kölner Erzbischöfe erwehren musste und die Bauherrinnen mit der Bauform ihre Einheit und Unabhängigkeit ausdrücken wollten. Am Neubau wirkten nacheinander zwei Baumeister, von denen der erste, ein Meister Martin, im Jahr 1305 aufgrund von Differenzen mit der Äbtissin Beatrix von Holte auf sein Amt verzichtete. Meister Martin, der, wie aus Details seiner Ornamentik gedeutet wird, Kirchenbauten aus Burgund und der Champagne kannte wie auch die Formensprache der Kölner und Trierer Dombauhütten, zeichnete für die Gesamtkonzeption verantwortlich. Diese sah zunächst einen Langchor ähnlich der St.-Vituskirche in Mönchengladbach vor. Noch unter der Bauleitung von Meister Martin wurde dieses Konzept aufgegeben und ein von der 1235 begonnenen Marburger Elisabethkirche inspirierter Hallenchor gebaut, mit dem die Außenkrypta überbaut wurde. Dies war in Deutschland die erste Übertragung der Form des Langhauses auf den Chor. Der Nachfolger Meister Martins ist namentlich nicht bekannt. Seine Formensprache ist eher bodenständig-westfälisch, er übernahm jedoch die Baukonzeption seines Vorgängers und führte sie zu Ende. Die ursprünglich flacheren Dächer des Oktogons und der Treppentürme wurden durch spitzere Hauben ersetzt, die Treppentürme außerdem um ein Stockwerk erhöht. Über der Vierung besaß die gotische Stiftskirche noch einen Vierungsturm. Auch der Kreuzgang wurde erneuert. Der gesamte Neubau wurde an einem 8. Juli neu geweiht, wahrscheinlich 1316. Der 8. Juli ist der heute noch begangene Weihetag der Münsterkirche. Spätere Veränderungen Im 18. Jahrhundert erfolgte eine Barockisierung der Stiftskirche. Der alte Vierungsturm wurde durch einen schlankeren Dachreiter ersetzt. Die Fenster der Südseite des Domes wurden verbreitert und verloren ihr gotisches Maßwerk. Die spitzen Hauben des Westbaus wurden durch barocke Zwiebelhauben ersetzt, zudem erhielt das Glockengeschoss eine Uhr. Im Inneren wurde ein Großteil der alten Ausstattung entfernt und ersetzt, sodass sich nur wenige Teile der gotischen Ausstattung erhalten haben. Diese lassen sich nicht mehr in Zusammenhänge bringen. Um 1880 folgte man in Essen der modischen Begeisterung, die Gotik als urdeutschen Baustil anzusehen, und machte die Änderungen des Barocks soweit rückgängig, wie es möglich war. Der Westbau erhielt sein vorheriges Aussehen zurück, wobei der Essener Architekt und Kunsthistoriker Georg Humann verhindern konnte, dass dieser gotisiert wurde. Außerdem entfernte man die barocke Innenausstattung, von der heute ein Seitenaltar als Hauptaltar in der vorgelagerten Anbetungskirche St. Johann Baptist steht. Einige Heiligenfiguren befinden sich dort, einige andere in der Domschatzkammer. Die als Ersatz für die barocken Stücke neu gefertigte Ausstattung fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer, sodass von ihr noch weniger erhalten ist. Während der Baumaßnahmen um 1880 erhielt die Kirche auch ihre heutige Dachgestaltung und einen neugotischen Dachreiter auf der Vierung. Kriegszerstörung und Wiederaufbau In der Nacht vom 5. auf den 6. März 1943 flog die Royal Air Force mit 442 Flugzeugen einen Angriff auf die durch die Kruppwerke für die Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus wichtige Stadt Essen, bei dem in weniger als einer Stunde 137.000 Brandbomben und 1100 Sprengbomben über der Innenstadt abgeworfen wurden. Die Münsterkirche brannte aus und erlitt schwerste Schäden, lediglich die ältesten Teile des Baus, der Westbau und die Krypta, wurden weniger beschädigt. Der Entschluss zum Wiederaufbau fiel nach der Befreiung durch die alliierten Truppen bereits in einer der ersten Sitzungen des von diesen eingesetzten Stadtrats unter dem kommunistischen Oberbürgermeister Heinz Renner einstimmig. Renner rief auch zur Gründung eines Vereins auf, der den Wiederaufbau unterstützen sollte, 1947 gründete sich daraufhin der noch heute aktive Verein für die Erhaltung und Ausstattung des Essener Münsters (Münsterbauverein). Noch im selben Jahr begann man mit Sicherungsarbeiten der Trümmer. Die Kriegszerstörungen ermöglichten auch umfangreiche archäologische Ausgrabungen in der Kirche durch Walter Zimmermann; diese erbrachten zahlreiche Erkenntnisse über die Vorgängerbauten der heutigen Kirche wie auch über die Bestattungen in der Kirche. Der Wiederaufbau begann 1951 und geschah zügig: Bereits 1952 waren der Westbau und das Langhaus wieder benutzbar, bis 1958 war auch der Rest der Kirche wieder aufgebaut, wobei man auch die Nordseite des Kreuzganges wieder schloss, die man im 19. Jahrhundert abgebrochen hatte. Der neugotische Dachreiter aus dem Vorjahrhundert wurde durch einen schlankeren und statisch günstigeren Dachreiter ersetzt, wodurch die Kirche ihre heutige äußere Gestalt erhielt. Die vollständig wiedererrichtete Kirche wurde 1958 zum Bischofssitz. Jüngste Ergänzungen Die Stiftskirche war nie über die Größe der ottonischen Kirche hinaus gewachsen. Erst die Einrichtung des Ruhrbistums machte eine neue Erweiterung notwendig. Franz Kardinal Hengsbach, der erste Ruhrbischof, hatte bereits zu Lebzeiten erklärt, dass er von seinem Vorrecht, in seiner Bischofskirche bestattet zu werden, Gebrauch machen wolle, aber nicht neben dem Hl. Altfrid in der ottonischen Krypta. Um diesen Wunsch zu erfüllen, wurde unter dem Atrium von 1981 bis 1983 eine von Dombaumeister Heinz Dohmen geplante Westkrypta angelegt, deren Eingang innerhalb des alten Westbaus liegt. Sie wurde von Emil Wachter mit modernen Betongussreliefs gestaltet. Seit Dezember 2000 heißt sie „Adveniat-Krypta“; der Name erinnert daran, dass Kardinal Hengsbach Mitbegründer des Bischöflichen Hilfswerkes Adveniat war. In der Westkrypta/Adveniat-Krypta wurden die bei der Ausschachtung gefundenen Gebeine der im Mittelalter im Atrium bestatteten Kanoniker bestattet, 1991 Kardinal Hengsbach und 2014 sein Amtsnachfolger Bischof Hubert Luthe. Die südliche Seitenschiffskapelle ist seit dem 10. Oktober 2004 der Erinnerung und Verehrung des 2001 seliggesprochenen Nikolaus Groß gewidmet und neu gestaltet. Abmessungen Die gesamte Kirchenanlage einschließlich der vorgelagerten Kirche St. Johann ist 90 m lang, die Breite beträgt zwischen 24 m und 31 m beim Querhaus mit Ansatz der Domschatzkammer. Die Höhen betragen: Der Rauminhalt des Münsters beträgt grob geschätzt 45.000 m³, die Mauerwerksmasse etwa 10.000 m³. Das Bauwerk wiegt geschätzt 25.000 t. Ausstattung Aufgrund der Barockisierung im 18. Jahrhundert, der Regotisierung des 19. Jahrhunderts und der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sind von der früheren Ausstattung der Münsterkirche nur wenige, aber dafür umso bedeutendere Reste erhalten. Der Innenraum wirkt vergleichsweise schlicht, vor allem durch seine Architektur, deren Detailschönheit von vielen Besuchern übersehen wird, da der Glanz der beiden bedeutendsten mittelalterlichen Kunstwerke des Domes sie überstrahlt. Domschatz Das Münster besitzt einen Domschatz, der der Öffentlichkeit zugänglich ist. In der nördlichen Seitenschiffskapelle befindet sich seit 1959 der größte Schatz der Kirche, die Goldene Madonna, die älteste vollplastische Marienfigur der Welt und die Schutzpatronin des Ruhrbistums. Die 74 cm hohe Figur aus Pappelholz, die mit Goldblech beschlagen ist, stammt aus der Zeit der Äbtissin Mathilde und stellt Maria als Himmelskönigin dar, die die Macht über den Erdkreis für ihren Sohn hält. Die Figur, die ursprünglich bei Prozessionen mitgeführt wurde, gelangte vermutlich aufgrund Mathildes Verwandtschaft zum ottonischen Königshaus nach Essen. Die über tausend Jahre alte Figur wurde 2004 umfassend restauriert. Im Zentrum des Westbaus steht heute der monumentale Siebenarmige Leuchter, den die Äbtissin Mathilde zwischen 973 und 1011 anfertigen ließ. Der Leuchter, 2,26 m hoch und 1,88 m breit, ist aus 46 aus Bronze gegossenen Einzelteilen zusammengesetzt. Der Leuchter symbolisiert die Gesamtheit von Dreifaltigkeit und die Erde mit ihren vier Himmelsrichtungen und Christus als das Licht der Welt, das im jüngsten Gericht die Gläubigen heimgeleitet (Offb 7). Im Domschatz sind zudem die sogenannte Kinderkrone Ottos III., die vier ottonischen Vortragekreuze, das lange als Richtschwert der Märtyrer Cosmas und Damian verehrte ottonische Schwert, der Buchdeckel des Theophanu-Evangeliars, mehrere gotische Armreliquiare, die größte weltweit erhaltene Sammlung burgundischer Agraffen sowie das karolingische Evangeliar bemerkenswert. Idasäule Das älteste erhaltene Ausstattungsstück der Münsterkirche ist die Kreuzsäule im Chorraum, die heute ein modernes Kreuz der Fuldaer Benediktinerin Lioba Munz OSB trägt. Bis ins 15. Jahrhundert trug sie ein mit vergoldetem Kupferblech überzogenes Kreuz, von dem sich noch heute die Stifterplatte und möglicherweise weitere Reste im Domschatz befinden. Die Inschrift („Dieses Kreuz ließ die Äbtissin Ida anfertigen“) lässt die 971 verstorbene Essener Äbtissin Ida als Auftraggeberin erkennen, diskutiert wurde jedoch auch die Schwester der Essener Äbtissin Theophanu, Ida, Äbtissin von St. Maria im Kapitol zu Köln. Die Säule selbst ist wahrscheinlich eine antike Spolie, wie aufgrund des kannelierten Untersatzes mit attischer Basis angenommen wird. Das Kapitell ist der Antike nachempfunden, allerdings besonders reich verziert. In der Gestaltung ist es den Kapitellen der Westempore, der Krypta, sowie denen in der Ludgeridenkrypta der Werdener Abteikirche und der Luciuskirche in Werden verwandt. Altfrids-Grabmal In der Ostkrypta befindet sich das gotische Hochgrab des Hildesheimer Bischofs und Gründers von Essen Altfrid aus Kalksandstein, das auf die Zeit um 1300 datiert wird und vermutlich unter der Äbtissin Beatrix von Holte entstand. Begründet wird die Datierung mit auffallenden Ähnlichkeiten der Tumba mit Kölner Heiligengräbern, insbesondere dem Grab der Hl. Irmgard im Kölner Dom. Weitere Kunstwerke Die Sandstein-Figurengruppe der „Grablegung Christi“ im südlichen Seitenschiff stammt aus der Spätgotik. Der unbekannte Kölner Meister, der sie im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts schuf, wird mit dem Notnamen Meister der von Carbenschen Gedächtnisstiftung bezeichnet. Eine weitere Skulptur des frühen 16. Jahrhunderts ist die kurz nach 1500 am Niederrhein entstandene Figur des heiligen Nothelfers Rochus an der Nordwand des Münsters. Die Epoche des Barocks ist im Essener Münster durch zwei Epitaphe vertreten. Das ältere der im Jahr 1614 verstorbenen Äbtissin Elisabeth von Bergh enthält noch deutliche Renaissanceelemente. Diese in Antwerpen aus schwarzem Marmor gefertigte Platte befindet sich an der Nordwand des östlichen Seitenschiffjochs und zeigt die Äbtissin in ihrer Amtskleidung, umgeben von den Wappen ihrer Vorfahren. Das zweite Epitaph, das der Äbtissin Anna Salome von Salm-Reifferscheidt, wird Johann Mauritz Gröninger zugeschrieben und befindet sich an der Nordwand der Orgelempore. Aufgrund der Kriegszerstörungen hat die Münsterkirche keine alten Fenster des Mittelalters. Das Essener Domkapitel beauftragte beim Wiederaufbau bedeutende Künstler, neue Fenster zu entwerfen und moderne Sakralkunstwerke zu schaffen, die sich in die alte Bausubstanz harmonisch einfügen. Das Michaelsfenster und die Fenster der Emporengeschosse des Westbaus sind von Heinrich Campendonk gestaltet, die Chorfenster von Ludwig Gies, die des Langhauses von Wilhelm Buschulte und die Fenster der Krypta von Alfred Manessier. Das Altarfries ist ein Werk des Bildhauers Elmar Hillebrand und seines Schülers Ronald Hughes. Die Bronzetüren von Atrium und Kirche wie auch der Kreuzwegfries im Langhaus sind Werke des österreichischen Künstlers Toni Schneider-Manzell. Orgel Das Münster verfügt seit 2004 über eine neue Orgel, die von der Orgelbauwerkstatt Rieger aus Schwarzach (Vorarlberg) erbaut wurde. Das Instrument besteht aus zwei Orgelwerken, die von einem Generalspieltisch aus angesteuert werden können. Die Orgelanlage hat insgesamt 69 Register (5.102 Pfeifen, 95 Pfeifenreihen). Auf der Chorempore im Norden befindet sich die Hauptorgel mit 57 Registern auf 3 Manualen und Pedal. Auf dem vierten Manual des Spieltischs lässt sich das Auxiliarwerk anspielen. Es befindet sich an der Westwand des südlichen Seitenschiffes und dient mit seinen 10 Manual- und zwei Pedalregistern der Beschallung im hinteren Teil des Kirchenraumes und der besseren Gemeindeführung. Seine Manualregister sind auf drei Werke verteilt: Prinzipalwerk, schwellbares Hochdruckwerk und Bombardwerk. Sie sind jeweils einzeln an die drei Manuale und das Pedal der Hauptorgel ankoppelbar. Die Disposition lautet (die Zahlen entsprechen nicht der Nummerierung der Register am Spieltisch): Auxiliaire Koppeln: mechanisch: Normalkoppeln: II/I, III/I, III/II, I/P, II/P, III/P elektrisch Normalkoppeln: II/I, III/I, III/II, IV/I, IV/II, IV/III, IV/P Suboktavkoppeln: II/I, III/I, II/II, III/III Superoktavkoppeln: II/P, III/P Auxiliaire-Werkskoppeln: Normalkoppeln: Principalwerk, Hochdruckwerk, Bombardwerk, Pedal (Auxiliaire) jeweils an I, II, III und Pedal Spielhilfen: elektronische Setzeranlage: 1000 (8×125) Kombinationen mit je 2 Inserts (A,B), Sequenzschaltung Registercrescendo vierfach programmierbar 8 Benutzer (eine freie Ebene, 7 ID-Karten): jede Ebene verfügt über die genannten Möglichkeiten (insgesamt stehen zur Verfügung also 24.000 Kombinationen und 32 frei zu programmierende Registercrescendi) Anmerkungen: Glocken Im Oktogon des Westwerkes hängen drei Glocken. Die älteste Christusglocke stammt aus dem Ende des 13. Jahrhunderts und trägt die Inschrift – daher rührt auch ihr Beiname Dumsone. Die große Marienglocke trägt eine längere Inschrift, die als Jahr des Gusses nennt. Gegossen wurde die Glocke auf dem heutigen Burgplatz. Die dritte Glocke ist inschriftlos, der Form nach jedoch in das 14. Jahrhundert einzuordnen. Der Dachreiter enthält drei kleinere Glocken, von denen zwei 1955 von der Glockengießerei Petit & Gebr. Edelbrock aus Gescher gegossen wurden. Diese beiden Glocken tragen die Inschriften und . Die größte Glocke im Dachreiter trägt die Inschrift . Das Geläut des Münsters wird durch das Geläut der vorgelagerten Kirche St. Johann Baptist erweitert. Technische Daten der Glocken: Nutzungsgeschichte Vom Anfang bis 1803 Das Essener Münster war seit der Gründung des ersten Kirchenbaus bis 1803 die Stiftskirche des Stifts Essen und Mittelpunkt des Stiftslebens. Die Kirche war weder Pfarr- noch Bischofskirche, sondern diente hauptsächlich den Angehörigen des Damenstifts. Ihre Stellung war daher einer Klosterkirche vergleichbar, auch wenn das Damenstift Essen nicht der benediktinischen Klosterregel folgte, sondern der Institutio sanctimonialium, der 816 von der Aachener Reichssynode festgelegten kanonikalen Lebensform für Frauenkommunitäten, in einer noch weltlicheren Ausprägung. Im Münster fanden die Stundengebete und Messen der Stiftsgemeinschaft statt, sowie die Fürbitten für die verstorbenen Stiftsangehörigen, die adeligen Förderer des Stiftes und deren Vorfahren im Rahmen des organisierten Totengedenkens (Memoria). Die Anzahl der aus dem Adel stammenden Stiftsdamen, denen die Kirche diente, schwankte über die Jahrhunderte zwischen etwa 70 während der Blütezeit unter der Äbtissin Mathilde im 10. Jahrhundert und drei im 16. Jahrhundert. Lediglich an hohen Feiertagen war die Kirche für die Stiftsabhängigen und später für die Bevölkerung der Stadt Essen zugänglich. Deren Gottesdienst fand ansonsten in der dem Münster vorgelagerte Kirche St. Johann Baptist statt, die sich aus der ottonischen Taufkapelle entwickelt hatte, oder in der St.-Gertrudiskirche (heute Marktkirche) auf dem Marktplatz. Die Reformation hatte auf die Münsterkirche keinen Einfluss. Die Bürger der Stadt Essen, mit dem Stift ohnehin im Dauerstreit, ob die Stadt freie Reichsstadt oder stiftsabhängig war, schlossen sich zwar überwiegend der Reformation an, die Äbtissinnen und Kanoniker und damit die Kirchgebäude des Stiftes blieben jedoch katholisch. Die protestantischen Bürger der Stadt übernahmen die nicht im Stiftsgelände gelegene St.-Gertrudiskirche, die heutige Marktkirche, die katholisch verbliebenen Bürger nutzten weiter die im Stiftsbereich gelegene Kirche St. Johann Baptist als Pfarrkirche und die Stiftsdamen ihre Stiftskirche. Von 1803 bis heute 1803 wurde das Stift vom Königreich Preußen säkularisiert. Die Münsterkirche mit ihrem gesamten Inventar wurde allerdings sofort von der Pfarrgemeinde St. Johann Baptist übernommen. Die nächsten 150 Jahre war die Kirche Pfarrkirche. Der Name Münsterkirche, der sich eingebürgert hatte, blieb, auch wenn kein Stift mehr bestand. Als Pfarrkirche diente sie der katholischen Innenstadt-Gemeinde der Stadt Essen, die gerade im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts an Mitgliedern erheblich zunahm. Nachdem es bereits in den 1920er-Jahren erste Bestrebungen gegeben hatte, ein Bistum im Ruhrgebiet zu errichten, wurde 1958 aus Teilen der Bistümer Münster, Paderborn und Köln ein neues Bistum errichtet, zu dessen Bischofskirche die Essener Münsterkirche erhoben wurde. Am 1. Januar 1958 wurde der erste Essener Bischof Franz Hengsbach in einem Festgottesdienst durch den Apostolischen Nuntius Aloysius Muench in sein Amt eingeführt. Seitdem ist das Essener Münster der religiöse Mittelpunkt des Bistums. Den Höhepunkt seiner über tausendjährigen Geschichte stellte schließlich 1987 der Besuch des Papstes Johannes Paul II. dar. Domkapitel Das Essener Domkapitel umfasst sechs residierende und vier nichtresidierende Domkapitulare unter Vorsitz des Dompropstes. Gemäß dem Preußen-Konkordat von 1929 kommt ihm neben seinen üblichen Aufgaben (Sorge um die liturgischen Feiern in der Hohen Domkirche, Wahl eines Diözesanadministrators, Beratung und Unterstützung des Bischofs bei der Leitung der Diözese, Verwaltung des Domschatzes) auch das Recht der Bischofswahl zu. Der knapp zehn Jahre als Dompropst amtierende Monsignore Thomas Zander hat nach Angaben des Bistums Essen Bischof Franz-Josef Overbeck gebeten, ihn als Propst und Pfarrer für die Propstei und Stadtpfarrei St. Lamberti in Gladbeck zu ernennen. Sein Nachfolger als Dompropst wird zum Hochfest Christkönig 2023 Monsignore Michael Dörnemann, der Pfarrer der Essener Innenstadtpfarrei St. Gertrud. So können die Leitungsaufgaben für Dom und Innenstadtpfarrei zukünftig aus einer Hand gestaltet werden. Dommusik Die erste und vornehmste Aufgabe der Essener Dommusik ist die musikalische Gestaltung der Pontifikal- und Kapitelsämter im Hohen Dom zu Essen. Aus dem Kirchenchor der Essener Münsterkirche ging nach der Gründung des Bistums Essen der Essener Domchor hervor. Er wird seit dem Jahr 2021 von Domkapellmeister Steffen Schreyer geleitet. 1961 wurden die Essener Domsingknaben gegründet und knüpfen an die alte Tradition der Scholaren am Essener Damenstift an, die bis in die Zeit der Stadtgründung zurückreicht. Seit 2016 leitet Harald Martini den Chor. Der Mädchenchor am Hohen Dom zu Essen wurde auf Wunsch des Domkapitels 1992 vom damaligen Domkapellmeister Raimund Wippermann gegründet. Bedeutende Auszeichnungen (u. a. erster Preis beim Deutschen Chorwettbewerb 2010) zeigen die hohe Qualität und das eigene Profil, das sich der Chor in dieser Zeit erarbeitet hat. Seit 2021 steht das Ensemble unter Leitung von Steffen Schreyer. Er rief mit seinem Stellenantritt auch ein Profiensemble mit dem Namen Capella cathedralis ins Leben. Domorganist ist seit 2014 Sebastian Küchler-Blessing. Siehe auch Liste Essener Sakralbauten Weblinks Website der Münsterkirche Website der Dommusik Website des Bistums Website des Münsterbauvereins Auszug aus der Denkmalliste der Stadt Essen. Eintr.-Datum: 14. Februar 1985 (PDF; 626 kB) In: essen.de, 12. Februar 2009 Marcus Schymiczek: Wie der Essener Dom einst neu aufgebaut wurde. In: derwesten.de Literatur Georg Humann: Der Westbau des Münsters zu Essen. Essen 1890, . Paul Clemen: Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Essen (= Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz. Band 2/III). Schwann, Düsseldorf 1893, S. 15 ff. (Digitalisat – Internet Archive). Walter Zimmermann: Das Münster zu Essen (= Die Kunstdenkmäler des Rheinlands Beiheft 3). Fredebeul & Koenen, Essen 1956. Leonhard Küppers: Das Essener Münster. Fredebeul & Koenen, Essen 1963. Klaus Lange: Der Westbau des Essener Doms. Architektur und Herrschaft in ottonischer Zeit. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster 2001, ISBN 3-402-06248-8. Klaus Lange: Die Krypta der Essener Stiftskirche (= Essener Forschungen zum Frauenstift. Band 2). In: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter. Klartext Verlag, Essen 2003, ISBN 3-89861-238-4, S. 161–184. Klaus Lange: Der gotische Neubau der Essener Stiftskirche (= Essener Forschungen zum Frauenstift. Band 2). In: Thomas Schilp (Hrsg.): Reform – Reformation – Säkularisation. Frauenstifte in Krisenzeiten. Klartext Verlag, Essen 2004, ISBN 3-89861-373-9, S. 89–114. Clemens Kosch, Andreas Lechtape: Die romanischen Kirchen von Essen und Werden. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (= Große Kunstführer. Band 253). Schnell + Steiner, Regensburg 2010, ISBN 978-3-7954-2346-9. Einzelnachweise Ottonische Architektur Bauwerk der Vorromanik in Deutschland Essen Munster Stift Essen Munster Munster Römisch-katholische Kathedrale in Deutschland Hallenkirche Munster Gotische Kirche Munster Essen Essen Oktogon Cosmas-und-Damian-Kirche Essen, Essener Munster Innenraum der Romanik Munster Essen Dom Kirchengebäude in Europa
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Goldene Madonna
Die Goldene Madonna ist eine Marienfigur des Essener Domschatzes. Mit einer Entstehungszeit um 980 ist sie die älteste erhaltene vollplastische Marienfigur der abendländischen Kunst. Neben dem Kölner Gerokreuz ist sie eines der wenigen erhaltenen ottonischen Großkunstwerke. Heute ist die Marienfigur noch immer ein hochverehrtes Kultbild und eine Identifikationsfigur des Ruhrgebietes mit seiner Geschichte. Der Name Goldene Madonna ist erst im 19. Jahrhundert aufgekommen. In den alten Manuskripten wie dem Essener Liber Ordinarius, einer um 1370 entstandenen Handschrift mit liturgischen Anweisungen für das Essener Damenstift, wurde sie als dat gulden bild onser vrouwen oder ymago aurea beatae Mariae Virginis bezeichnet. Das Schatzverzeichnis des Stiftes Essen von 1626 nennt Noch ein gross Marienbelt, sitzend uff einen sthuell mit lauteren golt uberzogen. Die Statue Entstehungszeit und Entstehungsort Datiert wird die vergoldete Statue in die Zeit um 980. Damit entstand die Madonna in der Regierungszeit der Essener Äbtissin Mathilde (971–1011), die eine Enkelin Kaiser Ottos des Großen war. Unter Mathilde und ihren Nachfolgerinnen Sophia (1012–1039) und Theophanu (1039–1058), die alle dem ottonischen Königshaus angehörten, erlebte das der Heiligen Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria und den Heiligen Cosmas und Damian geweihte Stift Essen eine Blütezeit, aus der die wertvollsten Kunstwerke des Essener Domschatzes stammen. Entstehungsort und Künstler der Goldenen Madonna sind unbekannt; die Essener örtliche Überlieferung gibt Köln oder Hildesheim als mögliche Entstehungsorte an, wo eine wenig später entstandene Madonnenfigur erhalten ist. Dabei ist Köln wahrscheinlicher. Hierfür sprechen stilistische Ähnlichkeiten der Ausführung des Faltenwurfes beim Gewand der Madonna mit dem Schurz des Korpus des auf 982 datierten Otto-Mathilden-Kreuzes, das sich ebenfalls im Essener Domschatz befindet. Dieser Korpus ist vom Typus des Kölner Gerokreuzes, so dass das Otto-Mathilden-Kreuz und damit indirekt die Madonna einer Kölner Goldschmiedewerkstatt zugeschrieben wurde. Aufgrund der zweifelsfreien Herkunft der Emails des Otto-Mathilden-Kreuzes aus der Trierer Egbert-Werkstatt wird die Kölner Herkunft des Kreuzes allerdings in Zweifel gezogen. Auch der Nimbus des Kindes und der bereits im 11. Jahrhundert entfernte Nimbus der Madonna selbst waren reich mit Goldemails besetzt, die teilweise an anderen Stücken des Essener Domschatzes als Spolien verwendet wurden. Diesen Emailtäfelchen fehlen zwar einige Charakteristika der Trierer Egbert-Werkstatt, eine zweite Emailwerkstatt im Reich ist jedoch nicht nachweisbar und aufgrund der schwer beherrschbaren Technik bei der Emailherstellung auch eher unwahrscheinlich. Der Kreis der möglichen Herstellungsorte der Madonna ist um Trier als wahrscheinlichen Herstellungsort der Emails und Essen, wo Äbtissin Mathilde als mutmaßliche Auftraggeberin die Kontrolle über die Herstellung hätte wahrnehmen können, erweitert worden. Beschreibung der Skulptur Maria ist auf einem Schemel sitzend dargestellt, mit einem leicht übergroßen Christus, der rechtwinklig zu ihr auf ihrem Schoß sitzt. Sie ist bekleidet mit einer enganliegenden, langärmeligen Tunika und einem Mantel in Form einer „Palla“. Auf ihrem Kopf trägt sie einen Schleier, dessen Enden vom Mantel bedeckt sind. Ihre rechte Hand hält mit Daumen und zwei Fingern eine Kugel empor. Das Kind, das sie mit der linken Hand stützt, trägt priesterliche Gewandung und einen Kreuznimbus, der bereits im Mittelalter mit einer vergoldeten Silberplatte hinterlegt wurde. Mit der linken Hand presst es ein Buch auf die Brust. Die Statue der Goldenen Madonna ist 74 cm hoch, der Sockel 27 cm breit. Der Kern der Statue ist aus einem einzigen, noch feuchten Stück Holz geschnitzt, bei dem es sich nach den Erkenntnissen der jüngsten Restauratoren um Pappelholz handelt. Der Kunsthistoriker Georg Humann, der die Statue 1904 ausführlich beschrieb, hatte für den Holzkern Birnbaum- oder Pflaumenholz angenommen; der Goldschmied Classen, der sie 1950 restaurierte, beschrieb ihn noch als Lindenholz. Unter dem Sitz der Madonna befindet sich eine mit einem Holzgitter verschlossene, leere Aushöhlung, die möglicherweise zeitweise Reliquien barg. Der goldene Glanz der Figur kommt von den ausgewalzten Goldblechen, mit denen der Holzkern beschlagen ist. Die einzelnen Goldplatten sind lediglich einen Viertelmillimeter dünn. An ihren Kanten sind sie mit dünnen Goldstiften und Nägeln am Kern befestigt. Die Größe der Platten variiert, da der Künstler sie in Größe und Form an die Figur anpasste, so sind die Gesichter Marias und des Kindes jeweils aus einer einzigen Platte getrieben. Die farbigen Augen der Madonna und des Kindes sind im Zellschmelzverfahren entstanden, wobei die Augen der Madonna in beim Schnitzen des Holzkerns vorbereitete Höhlen eingesetzt und die des Kindes auf den Holzkern aufgelegt sind. Die rechte Hand des Kindes ist nachträglich im 14. Jahrhundert aus Silberguss ergänzt, die ursprüngliche rechte Hand ist verloren. An der Kugel, die die Madonna in der rechten Hand hält, dem hinteren rechten Bein des Schemels, an dem vom Kind gehaltenen Buch und am Nimbus des Kindes sind Reste des originalen Schmucks des 10. Jahrhunderts erhalten, der aus Filigran, Edelsteinen und Emaille bestand. Der Schemel wurde vermutlich bereits früh seines Schmucks beraubt, angenommen wird, dass die Transenemails am Kreuzstamm des um 1045 datierten Theophanu-Kreuzes vom Schemel der Madonna stammen könnten. Die Adleragraffe des Gewandes ist eine nachträgliche Zutat des frühen 13. Jahrhunderts. Der Fürspan darunter mit einer sitzenden Muttergottes weist gotische Formen auf, er wird auf das 14. Jahrhundert datiert. Restaurierungsgeschichte und Zustand 1905 wurde die Statue erstmals restauriert, da sie von Holzparasiten befallen war. Die Figur war von Fressgängen vollständig durchzogen und drohte zusammenzufallen, da die Metallverkleidung ohne den Holzkern nicht standfähig ist. Um sie zu konservieren, wurde die Figur vorsichtig in einen Gipsmantel eingehüllt, danach wurde die Figur mit Druckluft ausgeblasen. Durch die von den Schädlingen gebohrten Gänge wurde anschließend Imprägnierungsmittel geleitet. Nach deren Trocknung wurde ein Gemisch aus Leim, Kreide und Wasser eingesetzt, um die von Holzwurm und Holzbock gebohrten Gänge zu verfüllen. Bei der gesamten Prozedur wurde die Figur mehrfach gedreht und gewendet, um möglichst alle Hohlräume zu füllen. Zuletzt wurden die für die Einleitung der Masse gebohrten Kanäle mit Keilen aus Eichenholz verschlossen und die vorher abgenommenen Goldplatten wieder befestigt. Die Kosten der damaligen Renovierung betrugen 3.200 Goldmark, an denen sich der Staat Preußen beteiligte. Durch Transporte während und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Madonna gelitten; viele Goldbleche waren lose, auch wurde erneuter Schädlingsbefall festgestellt. 1950 wurde daher durch den Essener Goldschmied Classen eine zweite Restaurierung vorgenommen. Dieser leitete zunächst schädlingsvernichtendes Gas durch die Figur. Anschließend füllte er die Schädlingsgänge mit „flüssigem Holz“, einer damals für Holzrestaurierung üblichen Plastikmasse. Bei dieser Restauration wurde unter den Füßen des Thrones eine rechteckige Holzplatte angebracht. Die beiden Restaurierungen waren zwar auf dem damaligen Stand der Technik, allerdings nicht optimal. Man wusste weder, wie sich die Füllmasse von 1905 oder das „flüssige Holz“ genau zusammensetzten, noch, ob diese Mittel miteinander reagierten. Auch war unbekannt, ob noch Hohlräume in der Figur verblieben waren. Deshalb erfolgte 2004 die dritte Restaurierung, für deren Durchführung eigens eine Restaurierungswerkstatt in der Domschatzkammer eingerichtet wurde, um die fragile Figur keiner längeren Transportstrecke aussetzen zu müssen. Zunächst wurde eine gründliche Untersuchung vorgenommen, bei der der Zustand umfassend dokumentiert wurde. Unter anderem wurden Röntgenuntersuchungen des Sockels vorgenommen, der Hohlraum unter dem Thronsitz der Madonna mittels Endoskopie untersucht, Proben des Holzes untersucht, die Reste der vorgefundenen Schädlinge bestimmt und der Belag aus Schmutz und Kerzenruß, der sich auf der Oberfläche der Figur gebildet hatte, wie auch Proben aus dem Inneren chemisch analysiert. Bei den Untersuchungen wurden keine lebenden Schädlinge festgestellt, jedoch insbesondere der Thron wies viele hohle Stellen auf. Die Goldblechverkleidung ist zu über 95 Prozent noch mittelalterlich, wobei am Thron der Beschlag vermutlich im 11. Jahrhundert durch minderwertigeres Material ersetzt wurde. Alle Befestigungsnägel sind neuzeitlich und entstammen den Restaurierungen von 1904 und 1950 sowie Reparaturen. Empfohlen wurde, die Figur möglichst nicht mehr zu bewegen und sie in konstantem Klima und erschütterungsfrei aufzubewahren. Im Anschluss an die Untersuchungen wurde das Holz an Thron und Sessel durch die Kölner Holzrestauratorinnen Ria Röthinger und Michaela von Welck gefestigt. Der Silberschmied Peter Bolg befreite die Kupfer- und Goldbleche von dem Belag und polierte die im 14. Jahrhundert aus Silber ergänzte rechte Hand des Kindes, die über die Jahrhunderte schwarz sulfidiert war, wieder auf Glanz. Die Konservierung der Figur, die von einer Kommission von Kunsthistorikern, Denkmalpflegern und Restauratoren unter Leitung der Leiterin der Domschatzkammer Birgitta Falk begleitet wurde, dauerte 10 Monate und wurde durch Spenden der Essener Bevölkerung, Essener Firmen, den Münsterbauverein sowie öffentliche Mittel gefördert. Im Dezember 2004 konnte die Goldene Madonna an ihren Platz im Essener Dom zurückgebracht werden, eine Nachuntersuchung zur Restaurierung erfolgte am 10. und 11. Juli 2006. Der ausführliche Restaurierungsbericht ist bisher noch nicht publiziert worden. Geschichte Erwähnungen im Mittelalter Wer die Goldene Figur dem Essener Stift übereignete, ist nicht bekannt, da die Figur keinen diesbezüglichen Vermerk trägt und auch keine Urkunde über eine Stiftung erhalten ist. Aufgrund dessen, dass Äbtissin Theophanu Emaillearbeiten vom Nimbus der Madonna am Theophanu-Kreuz und dem Kreuznagelreliquiar als Spolien verwendete, war die Figur mit Sicherheit bereits im 11. Jahrhundert in Essen. Seitdem hat die Figur die Stadt nur in Kriegs- und Krisenzeiten verlassen, wobei die Quellenlage, wie eigentlich die gesamte Forschung, zu diesem bedeutenden Kunstwerk eher dünn ist. Die bei der ersten Erwähnung der Figur im Liber Ordinarius (um 1370) geschilderten Prozessionen sind zu dem Zeitpunkt bereits eine alljährlich gepflegte Tradition mit präzise festgelegter Liturgie. Offenbar hatte weder der Streit zwischen dem Erzbistum Köln und den Herren von Isenberg über die Vogtei über das Stift Essen, die 1225 in der Ermordung des Kölner Erzbischofs Engelbert von Berg durch Friedrich von Isenberg ihren Höhepunkt fand, noch der Jahrhunderte dauernde Streit zwischen Stift und Stadt Essen, ob die Stadt dem Stift untertänig oder freie Reichsstadt sei, Einfluss auf Besitz und Verbleib der Madonna. Auf dem Essener Stadtsiegel von 1244 ist die Madonna zwischen den Heiligen Cosmas und Damian abgebildet. Aufgrund der schwachen Quellenlage ist nicht einmal gesichert, wo das Stift Essen die Goldene Madonna aufbewahrte. Da zu den Lichtmessprozessionen der Kanoniker die Figur aus der Hand der Schatzmeisterin erhielt, wird angenommen, dass die Figur nur für Prozessionen verwendet und die übrige Zeit an anderer Stelle verwahrt wurde. Als Aufbewahrungsorte werden das festungsartige Westwerk der Stiftskirche oder ein Anbau neben dem rechten Seitenschiff, das armarium dictum sychter, an der Stelle der heutigen Schatzkammer diskutiert. Beide Orte waren nach den baulichen Befunden mittelalterliche Schatzkammern. Evakuierungen in der Neuzeit Erst der Dreißigjährige Krieg erforderte eine erste Evakuierung der Madonna aus der Stadt. 1622 flüchtete man den Domschatz nach Düsseldorf, brachte ihn aber wohl bald zurück. 1634 brachte die Essener Äbtissin Maria Clara von Spaur sich und den Domschatz nach Köln in Sicherheit, wo sie bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges blieben. Die Madonna und der verlorene Marsus-Schrein des Domschatzes wurden während dieser Zeit bei den Kölner Prozessionen mitgeführt. Dabei überstrahlten sie, wie zeitgenössische Berichte feststellten, die Kölner Schätze mit ihrer Pracht. Das genaue Jahr der Rückkehr der Schätze aus Köln ist nicht verzeichnet. 1794, als die Franzosen auf Essen vorrückten, wurde die Madonna erneut in Sicherheit gebracht, diesmal nach Steele in das von der Fürstäbtissin Christine gestiftete Waisenhaus. Mit der Säkularisation 1803 blieb die Madonna in Essen. Statt des aufgelösten Frauenstiftes wurde nun die katholische Pfarrgemeinde St. Johannes, die die Stiftskirche als Pfarrkirche nutzte, Eigentümerin der Madonna. Im folgenden Jahrhundert blieb die Madonna in der Schatzkammer, nur gelegentlich von Kunsthistorikern besucht. 1905 erfolgte, nachdem Humann 1904 Schäden festgestellt hatte, eine erste Restaurierung, ohne die die Figur die zahlreichen Reisen des Jahrhunderts vermutlich nicht überstanden hätte. Ereignisse im 20. Jahrhundert Während des Ersten Weltkrieges blieb die Figur in Essen, die Furcht vor einer drohenden kommunistischen Revolution bewog die Leitung der St.-Johannes-Gemeinde im Sommer 1920 jedoch, den Domschatz einschließlich der Madonna in Sicherheit zu bringen. Dabei wollte man aus Sicherheitsgründen selbst das Versteck nicht kennen. Ein Aachener Goldschmied und Restaurator beschaffte als Mittelsmann ein Versteck in einem anderen deutschen Bistum, dessen Bischof zwar von der Versteckaktion, nicht aber über das Versteck selbst informiert wurde, das außer dem Mittelsmann und dem Hüter des Verstecks niemand kannte. Eine Urkunde, die das Versteck für den Fall nannte, dass die Verstecker den Tod fanden, wurde zur Absicherung in einem niederländischen Bistum hinterlegt. Die Geheimhaltung funktionierte so gut, dass bis heute nicht genau bekannt ist, wo exakt das Versteck war, in das die Vertrauensperson den in schäbige Koffer und Pappkartons verpackten Domschatz brachte, da die in den Niederlanden hinterlegte Urkunde nach Rückkehr des Domschatzes vernichtet wurde. Bekannt ist lediglich, dass sich das Versteck im Bistum Hildesheim befand. Ähnlich konspirativ wie die Verbringung wurde die Rückkehr der Madonna und des Domschatzes organisiert. Als der Kirchengemeinde Ende 1924 die Situation sicher genug erschien, fuhr die Vertrauensperson mit ihrem Sohn im Sommer 1925 nach Hildesheim, nahm den Schatz in Empfang und fuhr mit den in unscheinbare Verpackungen gehüllten Schätzen mit der Reichsbahn als Reisende 4. Klasse, also als Reisende mit Traglasten, nach Essen zurück. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Goldene Madonna mit dem Rest des Domschatzes zunächst nach Warstein und dann auf die Albrechtsburg in Meißen evakuiert. Von dort wurde sie in einen Luftschutzbunker nach Siegen gebracht, in dem auch der Kölner Domschatz mit dem Gerokreuz, der Siegburger Kirchenschatz mit dem Annoschrein, dem Schatz der Xantener Stiftskirche und die Kirchenschätze aus Elten und Vreden versteckt waren. Dort wurde sie bei Kriegsende von amerikanischen Truppen gefunden, die sie in das Landesmuseum nach Marburg brachten. Von dort gelangte sie in das Kunstdepot Schloss Dyck bei Rheydt, aus dem mehrere Ausstellungen wie 1947 in der Kölner Universität, aber auch im benachbarten Ausland bestückt wurden. Von April bis Juni 1949 war die Madonna das Glanzstück einer Ausstellung in Brüssel, die danach bis Oktober noch in Amsterdam gezeigt wurde. Danach kehrte die Skulptur nach Essen zurück, zunächst, bis die kriegszerstörte Schatzkammer der Stiftskirche wieder aufgebaut war, in einen Tresor der Stadtsparkasse. Seitdem hat sie die Stadt nicht mehr verlassen. Kunstgeschichtliche Einordnung und Ikonographie Vermutete Einflüsse Die Goldene Madonna ist die älteste vollplastische Skulptur nördlich der Alpen und die älteste erhaltene Marienfigur. Zudem ist sie durch ihre Vergoldung eines der wenigen erhaltenen Exemplare goldbeschlagener Kultfiguren, die im frühen Mittelalter häufiger erwähnt sind, von denen sie aber mit Ausnahme einer Hl. Fides im Schatz der Abtei von Conques in Südfrankreich, die älteste erhaltene ist. Die Ausführung als Vollplastik wie auch die Verwendung von Zellenschmelz deutet auf byzantinischen Einfluss hin, der sich im Heiligen Römischen Reich erst nach der Heirat Kaiser Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu im Jahr 972 bemerkbar machte. Gleichzeitig ist der Figur anzusehen, dass der Bildhauer gewohnt war, Reliefs zu erschaffen, aber mit der Gestaltung einer Vollplastik noch ungeübt war, da die Übergänge zwischen Front-, Seiten- und Rückansicht teilweise unvollkommen sind. Die verschiedenen Ansichten fügen sich nicht zu einer echten Einheit zusammen. Religiöser und politischer Symbolgehalt Die Ikonographie der Madonna ist wie bei vielen mittelalterlichen Kunstwerken sehr komplex. Dargestellt ist Maria mit dem kindlichen Jesus auf dem Schoß, sitzend auf einem Schemel und mit einem eher schlichten Gewand. Die Figur des Kindes ist übergroß dargestellt. Diese Übergröße spiegelt die Bedeutung des Erlösers wider. Maria, theologisch zwar eine wichtige Heilige, tritt ihm gegenüber aber zurück. Die Figur stellt Maria in einer dienenden Rolle dar, angelehnt an Lukas 1, 38: Siehe, ich bin des Herren Magd. Zugleich ist sie dargestellt als Thron göttlicher Weisheit; diese Darstellung gründet sich auf 1 Kön 10, 18, wo es vom Thron Salomos heißt: Und der König machte einen großen Thron von Elfenbein und überzog ihn mit dem edelsten Gold. Durch die halb sitzende Haltung des Kindes wie auch durch dessen Bekleidung mit priesterlichem Ornat ist es als thronender Herrscher des Himmels gekennzeichnet, der die christliche Lehre verkündet. Als Verkünder der Lehre hält die Jesusfigur ein Buch. Es ist anzunehmen, dass die ursprüngliche rechte Hand eine segnende Geste machte, wie sie typisch für die Darstellung Jesu als Lehrer göttlicher Weisheit war. Auffällig ist indes, dass die Figur des Jesuskindes ihren Blick nicht dem Betrachter der Statue zuwendet. Sein Blick ist vielmehr auf das Gesicht der Madonna gerichtet, deren Augen stets auf den Betrachter gerichtet zu sein scheinen. Maria ist also nicht nur in ihrer dienenden Rolle dargestellt, sie ist auch die Mittlerin zwischen dem Betrachter und dem Bringer der Heilslehre. Gleichzeitig tritt sie dem Betrachter noch in einer anderen Rolle entgegen, denn sie hält mit ihrer rechten Hand eine wertvoll verzierte Kugel. Für diese Kugel gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten, die einander nicht ausschließen. Aufgrund ihrer thronenden Haltung ist man versucht, die Kugel als Reichsapfel zu deuten; die Übergabe eines Reichsapfels ist jedoch erst für die Krönung Konrads II. 1024 bezeugt. Die Deutung als Reichsapfel scheidet daher aus; zudem wird der Reichsapfel in den üblichen Darstellungen vom Träger fest, mit der ganzen Hand gehalten, nicht leicht mit nur drei Fingern. Verbreitet ist daher die Deutung der Kugel als Apfel des Heils. In gleicher Weise, wie Eva den Apfel des Unheils vom Baum der Erkenntnis hielt, hält Maria dem Betrachter einen Apfel entgegen, der die Erlösung symbolisiert, die sie durch die Geburt Christi in die Welt gebracht hat. Die Goldene Madonna ist daher eine Darstellung der neuen Eva. Eine weitere Deutung der Kugel knüpft an die Deutung des Reichsapfels an. Bei der Krönung der römisch-deutschen Kaiser symbolisierte der Reichsapfel die Macht über den Kreis der Welt, den Mundus. Auch wenn der Reichsapfel später eingeführt wurde, war die Darstellung des Mundus als Kugel zur Entstehungszeit der Madonna bereits bekannt; Darstellungen von Königen mit diesem Machtsymbol finden sich insbesondere in karolingischer und ottonischer Buchmalerei. Die von der Goldenen Madonna gehaltene Kugel kann daher als Darstellung des Mundus gedeutet werden. Maria hält die Macht über den Erdkreis in ihrer Hand, und diese Macht hält sie leicht mit ihren schlanken Fingern für denjenigen, dem sie eigentlich zusteht, nämlich dem Kind auf ihrem Schoß. Eine Mutter, die die Macht über den Erdkreis für ihren kindlichen Sohn hält, erscheint aus heutiger Sicht als harmlose Aussage, zur Entstehungszeit der Madonna könnte dies anders gewesen sein. 983 war Kaiser Otto II., der Onkel Mathildes II., der damaligen Äbtissin in Essen, in Rom verstorben, und hatte als Erbe lediglich seinen dreijährigen Sohn, den späteren Kaiser Otto III. hinterlassen. Für Otto III. hatte, obwohl die Ausübung einer solchen Macht durch eine Frau zu der Zeit eher ungewöhnlich war, dessen Mutter Theophanu die Regentschaft ausgeübt. Dieses Recht und den Anspruch Ottos III. hatte zunächst Heinrich der Zänker als nächster männlicher Verwandter Ottos II. für sich beansprucht, gegen den sich Theophanu mit Hilfe der Kirche durchsetzte. Die Goldene Madonna kann daher auch als Ausdruck des Anspruchs Theophanus interpretiert werden, als durch Gottes Gnade erhobene Herrscherin den Anspruch Ottos III. auf das Kaisertum aufrechtzuerhalten. Deshalb spricht einiges dafür, Kaiserin Theophanu als Stifterin der Madonna anzunehmen. Mathilde II. von Essen dürfte in den Auseinandersetzungen mit dem Zänker auf Theophanus Seite gestanden haben, da sie als Erbin ihres Bruders Ottos von Schwaben, der nach des Zänkers Revolte 976 dessen Herzogtum Bayern erhalten hatte, nicht in dessen Gunst gestanden hätte. Die Ehren, die Otto III. dem Essener Stift durch die Stiftung des Marsusschreines und Schenkungen von Gütern erwies, bestätigen dies. Es ist daher naheliegend, wenn auch nicht bewiesen, dass die Goldene Madonna zum Dank für die politische Unterstützung Theophanus nach Essen gelangte. Einflüsse Die Goldene Madonna wurde selbst zum Vorbild weiterer goldbeschlagener Kultfiguren. Die große goldene Madonna des Hildesheimer Domschatzes entstand vermutlich wenig später unter Bischof Bernward. Das Benna-Kreuz entstand um 1000, das um 1060 entstandene Helmstedter Kreuz, dessen Feuervergoldung unter der korrodierten Oberfläche erhalten ist, war eine der letzten goldenen Großskulpturen. Etwa gleichzeitig mit dem Helmstädter Kreuz entstanden mit der thronenden Muttergottes des Frankfurter Liebieghauses und der Paderborner Imad-Madonna Skulpturen, die vom Typ der Goldenen Madonna entsprachen, aber bereits ursprünglich farbig gefasst waren, wobei die Imad-Madonna, die kurz nach ihrer Entstehung bei einem Brand beschädigt worden war, um 1060 doch noch eine inzwischen verlorene Goldumhüllung bekam. Liturgische Bedeutung Historische Verehrung Die Goldene Madonna nahm in der Liturgie des Essener Stiftes eine wichtige Rolle ein. Sie wurde bei allen wichtigen Prozessionen mitgeführt, zudem war der Altar der Madonna der Platz, an dem Schenkungsurkunden zugunsten des Stiftes niedergelegt wurden, so dass die geschenkten Güter symbolisch in die Obhut Marias gestellt wurden. Hierbei ist allerdings unklar, ob die Altarfigur die heute als Goldene Madonna bezeichnete Figur war, da in den erhaltenen Inventaren des Stiftes noch zwei weitere Marienfiguren aufgeführt sind. Die wichtigste Festlichkeit im Essener Marienkult war das Fest Maria Lichtmeß, mit dem 40 Tage nach Weihnachten der Tag gefeiert wird, an dem Maria den neugeborenen Jesus in den Tempel brachte. Zur Vorbereitung des Festes wurde die Figur von der Hüterin der Schatzkammer am Vorabend dem jüngsten Kanoniker übergeben. Der brachte sie unter dem Mantel verborgen auf einem festgelegten Weg in die heute in Essen als Marktkirche bezeichneten St. Gertrudis-Kirche, die Stadt- und Bürgerkirche war. Dort wurde sie über Nacht aufbewahrt. Am Tag des Festes wurde dann die Statue verhüllt über einen festgelegten Prozessionsweg vor die Stiftskirche gebracht. Auf dem „steyn“, an dem sonst die Abgaben an das Stift entrichtet wurden, wurde sie niedergesetzt. Dort wurde sie festlich enthüllt und mit der im Domschatz erhaltenen goldenen Krone gekrönt, bei der es sich möglicherweise um die Kinderkrone Kaiser Otto III. handelt. Anschließend hielt die Madonna unter dem Geleit der Bevölkerung Einzug in die Stiftskirche, wie Maria beim Tempelgang von der Bevölkerung des himmlischen Jerusalems begleitet worden war. Diese Prozessionen wurden bis 1561 durchgeführt und dann eingestellt, da aufgrund der Reformation, die in der Stadt Essen eingeführt worden war, St. Gertrudis protestantische Kirche geworden war. Eine andere wichtige Prozession, bei der die Madonna mitgeführt wurde, fand jährlich am Montag vor Christi Himmelfahrt statt, das 40 Tage nach Ostern gefeiert wird. An diesem Tag wurde die Madonna von den Stiftsdamen zu den jährlichen förmlichen Treffen zwischen den Stiftsdamen, Kanonikern und Scholaren des Stifts Essen und dessen Tochtergründung, dem möglicherweise von der Essener Äbtissin Mathilde II. gegründeten Stift in Essen-Rellinghausen, mit den Mönchen der Abtei im benachbarten Werden mitgebracht. An diese jährlichen Treffen erinnert noch heute ein Gedenkstein am Markuspfad in Essen-Bredeney, wo der Treffpunkt der Essener und Werdener Prozessionen, eine Kapelle des Hl. Markus, stand. Der erste Essener Bischof Franz Hengsbach erneuerte 1978 den mittelalterlichen Brauch der Marienkrönung. Aufgrund der restauratorischen Bedenken mussten die Krönungen 2000 wieder eingestellt werden. Heutige Verehrung Da Maria als Mutter vom guten Rat, verehrt im Bildnis der Goldenen Madonna, bei der Gründung des Ruhrbistums 1959 durch Papst Johannes XXIII. zur Schutzheiligen des Bistums Essen erhoben wurde, symbolisiert die jahrhundertealte Statue nun das Ruhrbistum. Der Essener Bischof Franz Hengsbach entschied daher, die Goldene Madonna nicht in der nur gegen Eintrittsgeld zugänglichen Domschatzkammer aufzubewahren, sondern den Gläubigen frei in der benachbarten Münsterkirche zu zeigen. Am 11. Oktober 1959, dem Fest Mariä Mutterschaft, übertrug er die Goldene Madonna aus der Domschatzkammer in die nördliche Seitenkapelle des Münsters, die seither Mutter-vom-guten-Rat-Kapelle heißt. Dort befindet sich die Goldene Madonna in einer klimatisierten Hochsicherheitsvitrine, vor der während der Öffnungszeiten der Münsterkirche stets Gläubige anzutreffen sind. Die Goldene Madonna, im Essener Volksmund auch „Essen sein Schatz“ genannt, war das Motiv eines Werbeplakates der Essener Stadtwerbung. Ebenfalls wurde diese Bezeichnung bei einer Sonderausstellung des Bistums Essen in der dortigen Domschatzkammer genutzt. Literatur Georg Humann: Die Kunstwerke der Münsterkirche zu Essen. Düsseldorf 1904, S. 251–266. Leonhard Küppers, Paul Mikat: Der Essener Münsterschatz. Fredebeul & Koenen, Essen 1966. Alfred Pothmann: Die "Goldene Madonna" der Essener Domkirche. In: Das Münster am Hellweg. Bd. 31, 1978, S. 117–130. Frank Fehrenbach: Die goldene Madonna im Essener Münster. Der Körper der Königin. Edition Tertium, Ostfildern 1996, ISBN 3-930717-23-9. Eduard Hlawitschka: Kaiserinnen Adelheit und Theophanu. in: Frauen des Mittelalters in Lebensbildern. Styria Verlag, Graz 1997, ISBN 3-222-12467-1, S. 27–71. Franz Arens (hrsg.): Der Liber Ordinarius Der Essener Stiftskirche. Paderborn, 1908,S. 32–35, 86 Antje Bosselmann-Ruickbie, Yvonne Stolz: Ottonischer Nimbus oder byzantinischer Halsschmuck? Zur Goldenen Madonna und zehn trapezoiden Emails auf dem Nagelreliquiar und dem Theophanukreuz im Essener Domschatz. In: Mitteilungen zur spätantiken Archäologie und byzantinischen Kunstgeschichte 6, 2009, S. 77–114. Alfred Pothmann: Der Essener Kirchenschatz aus der Frühzeit der Stiftsgeschichte. in: Herrschaft, Bildung und Gebet – Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen. Klartext, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2, S. 135–153. Birgitta Falk: „ein Mutter gottesbild mit gold plattirt“ – Zum Erhaltungszustand der Goldenen Madonna des Essener Doms. in: Das Münster am Hellweg Bd. 56, 2003 = Alfred Pothmann – Hüter und Bewahrer – Forscher und Erzähler – Gedenkschrift. Essen 2003, ISBN 3-00-012328-8, S. 159–174. Jan Gerchow: Der Schatz des Essener Frauenstifts bis zum 15. Jahrhundert. Zur Geschichte der Institution. in: Das Münster am Hellweg Bd. 56, 2003 = Alfred Pothmann – Hüter und Bewahrer – Forscher und Erzähler – Gedenkschrift. Essen 2003, ISBN 3-00-012328-8, S. 79–110. Klaus Gereon Beuckers: Zum Filigran der Goldenen Madonna in Essen, in: Opus. Festschrift für Rainer Kahsnitz, hg. v. Wolfgang Augustyn, Berlin 2019, S. 57–76. Weblinks Goldene Madonna auf den Seiten der Domschatzkammer Essen Anmerkungen Essener Domschatz Stift Essen Marienstatue in Deutschland Ottonische Kunst Goldschmiedearbeit Skulptur (10. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blue%20Angels
Blue Angels
Die Blue Angels ( für Blaue Engel) sind eine Kunstflugstaffel der United States Navy, zu der auch Angehörige des United States Marine Corps gehören. Die Blue Angels wurden 1946 gegründet und treten jedes Jahr vor über 10 Millionen Zuschauern auf. Sie fliegen Stand 2021 sechs Kampfflugzeuge vom Typ Boeing F/A‑18E/F Super Hornet. Vorher war 34 Jahre lang die Vorgängermaschine F/A-18 Hornet im Einsatz. Vier der Angels bleiben während der Flugshow in verschiedenen Formationen zusammen, die anderen beiden fliegen als Solos auch Einzelmanöver. Die Blues sind auf der Naval Air Station Pensacola in Florida stationiert und unterstehen dem Naval Air Training Command, dem für die Ausbildung von Piloten zuständigen Kommandobereich der US Navy. Eine weitere Kunstflugstaffel der US-amerikanischen Streitkräfte sind die Thunderbirds, die zur Air Force gehören. Geschichte Gründung Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann die Geschichte der Blue Angels, die bei ihrer Gründung schlicht den Namen Navy Flight Exhibition Team (dt. etwa Flug-Vorführ-Team der Navy) trugen. Am 24. April 1946 gab der damalige Chief of Naval Operations, Admiral Chester Nimitz, die Weisung zur Gründung einer Kunstflugstaffel heraus. Neben der Stärkung der Moral der Angehörigen der US Navy ging es dabei vor allem um mediale Aufmerksamkeit für die Marineflieger, die neben Budgetkürzungen auch mit der Konkurrenz durch die sich mehr und mehr von der United States Army lösenden United States Army Air Forces zu kämpfen hatten. Noch im selben Monat wurde Lieutenant Commander Roy Marlin Voris, ein Weltkriegs-Fliegerass ausgewählt, um Piloten für die neue Staffel anzuwerben. Dieser wählte zwei weitere Piloten aus, die zu Beginn auf der Naval Air Station in Jacksonville, Florida, stationiert wurden und in den nächsten Monaten über den Everglades übten. Noch im Juni 1946 flogen die drei auf der Grumman F6F Hellcat ihre erste Vorführung auf der Southeastern Air Show in Jacksonville. Die Show war damals rund 17 Minuten lang und bestand lediglich aus einigen Formationsflügen. In den folgenden Wochen flog die Staffel an mehreren Orten in den Vereinigten Staaten. Während eines Aufenthalts in New York wurde die Bezeichnung Blue Angels zum offiziellen Staffelnamen gemacht. Er leitet sich von einem Nachtclub gleichen Namens in dieser Stadt ab. Im August wechselten die Angels auf die Grumman F8F Bearcat, im folgenden Jahr wurde das Team dann auf vier, später auf fünf Piloten vergrößert. Zum 30. Mai verließ Voris die Angels, die in den folgenden Jahren Flugshows überall in den Vereinigten Staaten abhielten. 1948 wechselte das Team auf den Marinefliegerhorst in Corpus Christi, Texas. Auflösung und Wiederbelebung Ab Anfang 1950 flogen die Blues erstmals ein Flugzeugmodell mit Jet-Antrieb, die Grumman F9F-2 Panther. Ende des Jahres wurde die Staffel ein weiteres Mal verlegt, nun zurück nach Florida, auf die Naval Air Station Whiting Field in Milton. Dort blieben die Blue Angels aber nur bis Mitte 1950. Im Rahmen des Koreakrieges benötigte die Navy dringend gute Piloten, so dass die Angels von ihrer Kunstflugstaffel abgezogen und diese aufgelöst wurde. Die Piloten wurden in Kalifornien, auf der Moffett Field Naval Air Station bei Mountain View auf den Fronteinsatz vorbereitet. Anfang November meldeten sich die Piloten auf der USS Princeton (CV-37), wo sie den Kern der Staffel „VF-191 Satan’s Kittens“ bildeten. Am 25. Oktober 1951 wurden die Blue Angels offiziell wiedergegründet und zurück auf den Marinefliegerhorst in Corpus Christi verlegt. Die neue Staffel stellte wiederum Lt. Cdr. Voris zusammen, der auch wieder ihr Kommandeur wurde. Außerdem wechselte die Einheit auf die verbesserte Grumman F9F-5 Panther. Im Juni 1952 folgte die erste Flugshow auf dem Mid-South Naval Festival in Memphis, Tennessee. 1955 wechselte die Staffel auf die Grumman F9F-8 Cougar. Außerdem wurden die Blue Angels wieder nach Florida verlegt, seitdem haben sie ihren Heimatflugplatz in Pensacola. Erste Auslandsauftritte 1956 wurde die Staffel auf ihre heutige Größe von sechs Flugzeugen aufgerüstet, im September desselben Jahres absolvierte die Staffel zudem mit einer Vorführung in Toronto, Kanada ihren ersten Auslandsauftritt. In den folgenden Jahren wechselten die Blue Angels zuerst 1957 auf die Grumman F11F Tiger, die im eigentlichen Dienst in der Navy ein Flop war und nur bis 1961 flog, bei den Angels aber bis 1969 in Dienst blieb. 1963 flogen die Blue Angels ihre 1000. Aufführung über Pocatello, Idaho. In den Jahren auf der Tiger folgten außerdem weitere Auftritte in Kanada, 1959 aber auch erstmals auf den Bermudas, 1964 dann in Mexiko, wo geschätzte 1,5 Millionen Zuschauer auf der Aeronaves de Mexico Anniversary Air Show die Blue Angels sahen. 1965 flogen die „Angels“ nach einer Tour durch die Karibik außerdem die ersten Shows in Europa, wo sie ein Highlight der Pariser Luftfahrtschau waren. Nachdem die Auftritte 1965 eher Nordwesteuropa, neben Frankreich auch England, Dänemark, Niederlande, Finnland und Island, galten, flog die Staffel 1967 überwiegend in Südeuropa, Italien sowie der Türkei und erstmals auch auf dem afrikanischen Kontinent in Tunesien. Vergrößerung der Staffel 1970 wechselte die Staffel auf die McDonnell Douglas F-4J Phantom II, erstmals auf ein Flugzeug, das nicht von der Grumman Aerospace Corporation hergestellt wurde. Das Programm wurde um viele Manöver erweitert, die teils noch heute im Programm sind. Im selben Jahr flogen die Blue Angels außerdem erstmals in Südamerika. Ihre Show in Quito, Ecuador war dabei der erste Auftritt auf einem derart hochgelegenen Flugplatz und durch den niedrigeren Luftdruck auch besonders anspruchsvoll. Im Jahr darauf flogen die 'Blues' erste Vorführungen in Fernost, etwa in Südkorea, Japan, Taiwan, den Philippinen und auf Guam. 1972 stand wieder eine Europatour an, die England, Frankreich, Spanien, Türkei, Italien und Griechenland sowie auch eine Show in Teheran, Iran umfasste. Bereits nach fünf Jahren wurde die riesige, doppelschallschnelle Phantom wieder in den Hangar gestellt, die Angels stiegen auf die kleinere, wendigere Douglas A-4F Skyhawk II um. 1974 wurde aus dem Navy Flight Demonstration Team außerdem das Navy Flight Demonstration Squadron, was den Angels die Führung eines größeren Stabes erlaubte. Aus dem vorherigen Team Leader wurde nun auch offiziell der kommandierende Offizier der Staffel. Damit wurde der Missionsschwerpunkt der Staffel außerdem stärker auf die Rekrutierung neuer Marineflieger gerichtet. Am 4. Juli 1976 flogen die Blue Angels zur Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten auf dem Marinefliegerhorst in Willow Grove, Pennsylvania eine Choreographie zusammen mit der Kunstflugstaffel des Canadian Forces Air Command, den Snowbirds. Die Staffel blieb in den folgenden Jahren auf der Skyhawk und auch auf und über dem Gebiet von Nordamerika. Zeit auf der Hornet Nach über zehn Jahren auf der Skyhawk, zur Flugsaison 1987, wechselten die Kunstflieger auf die McDonnell Douglas F/A-18 Hornet. Bis 1992 flogen sie weitere Auftritte auf dem amerikanischen Kontinent, und erstmals nach 19 Jahren machten die Blue Angels wieder einen Trip nach Übersee. Die Angels zeigten dabei ihre Show erstmals im ehemaligen Ostblock, flogen in Russland und Bulgarien. Auch in Deutschland machte die Staffel auf ihrem Weg westwärts Halt, eine Flugvorführung war nach den dort geltenden strengen Sicherheitsvorschriften nach dem Flugtagunglück von Ramstein 1988 aber nicht eingeplant. 1993 wurde der Kommandierende Offizier der Staffel Robert E. Stumpf abgelöst. Stumpf, der 1991 als Vertreter der Staffel auf dem Tailhook-Symposium war, geriet in den Strudel des sogenannten „Tailhook-Skandals“. 1998 landeten die Blue Jets erstmals auf einem Flugzeugträger, der USS Harry S. Truman (CVN-75). Ihren bisher letzten Europaaufenthalt leisteten die Blue Angels 2006, im Jahr ihres 60-jährigen Bestehens, ab, als sie eine Vorführung in den Niederlanden gaben. Im Juli 2022 wurde mit Amanda Lee die erste weibliche Pilotin der Blue Angels vorgestellt. Flugzeuge Kunstflugzeuge Eine Übersicht über die geflogenen Flugzeuge Die Staffel besitzt zwölf Jets, davon zehn einsitzige F/A-18A, die in der Show eingesetzt werden und zwei zweisitzige F/A-18B, die für VIP-Flüge verwendet werden. Sämtliche Jets sind für die Verwendung in der Staffel nur gering verändert: Neben dem Ausbau der M61-Vulcan-Maschinenkanone um Platz für einen Paraffinöltank zu schaffen, wurde die Funktion des Steuerknüppels verbessert, um damit die Kontrolle während des Überkopffluges zu optimieren. Das Paraffinöl wird verwendet, um eine erkennbare Rauchspur hinter den Flugzeugen zu erzeugen. Hierzu wird das Paraffinöl in die laufenden Triebwerke eingespritzt. Dies erleichtert den Zuschauern die Verfolgung der Flugwege und erhöht für die Piloten die Sicherheit, die so besser die Position eines sich nähernden Flugzeugs erkennen können. Jedes der Flugzeuge besitzt noch den Fanghaken für die Landung auf Flugzeugträgern und ist auch ansonsten grundsätzlich kampftauglich. Nach kleineren Umbauarbeiten sowie einer neuen Lackierung könnte jeder Jet innerhalb von 72 Stunden im Kampfeinsatz verwendet werden. Am 4. November 2020 flogen die Blue Angels die letzte Vorführung mit den F/A-18A und -B Versionen. Ab der Saison 2021 sind sie mit F/A-18 Super Hornets ausgestattet. Transportflugzeuge Für den Transport der Bodencrew sowie von Ersatzteilen zu den Flugshows unterhalten die Blue Angels außerdem ein Transportflugzeug. Ab der Gründung der Staffel war dies eine Douglas C-54 Skymaster, die 1968 von einer Lockheed C-121 Constellation abgelöst wurde. Ende 1970 wurde mit der Lockheed C-130 Hercules das noch heute verwendete Transportflugzeug an die Staffel übergeben. Dabei ist anzumerken, dass das Flugzeug offiziell nicht zur US Navy gehört, sondern zum Marine Corps. Die C-130, die den Spitznamen Fat Albert (nach Bill Cosbys gleichnamiger Zeichentrickserie) trägt, nimmt heute teilweise an der Show teil, wofür ihr bis Mitte November 2009 JATO-Raketen anmontiert wurden. Diese Raketen für einen erlaubten dem Flugzeug den Start auf Pisten, die nur rund 800 Meter lang sein müssen. Die Fat Albert hob dabei nach weniger als 500 Metern ab und erreichte innerhalb kürzester Zeit eine Höhe von über 300 Metern. Da die verwendeten JATO-Raketen nicht mehr produziert werden, mussten die JATO-Starts der Fat Albert zum Ende der Saison 2009 aus dem Flugprogramm gestrichen werden. Nach eigenen Aussagen arbeitet die US Navy bereits an einem Ersatz für die spektakulären JATO-Starts. Lackierung Die Flugzeuge der Blue Angels sind in den offiziellen Farben der US Navy gestrichen; sie sind blau grundiert mit goldenen Markierungen. Unter beiden Flügeln prangt der Schriftzug „US Navy“, auf den Seiten ist unter dem Cockpit „Blue Angels“ zu lesen, außerdem die Insigne der Staffel zu sehen. Bei der Gründung der Staffel wurden sämtliche goldenen Lackierungen mit echtem Blattgold verziert. Das Seitenleitwerk zeigt die Nummer des Flugzeuges innerhalb der Staffel. Die Fat Albert ist blau-weiß grundiert mit goldenen Markierungen und trägt den Schriftzug „United States Marines“. Das Wappen prangt hier auf dem Seitenleitwerk. Der Wappenschild in seiner gegenwärtigen Form ist diagonal geteilt, oben rechts blau, unten links gold. Im blauen Teil sind vier Flugzeugsilhouetten in Form der F-18 auf weißem Grund zu sehen, frühere Wappen trugen hier den Umriss der jeweils aktuellen Flugzeuge. Im goldenen Teil ist das Wappen des Naval Air Training Command eingearbeitet. Personal Piloten Jeder Pilot der Blue Angels ist ein Mitglied der US Navy oder des US Marine Corps. Jeder Offizier, der qualifiziert für Trägerlandungen ist, kann sich bei den Angels bewerben. Als Grundvoraussetzung wird dabei „Karriereorientiertheit“ angegeben. Für die Piloten auf den Flugzeugen Zwei bis Sieben sind mindestens 1250 Flugstunden auf Jets nötig. Die Vergabe dieser Positionen an Bewerber erfolgt mittels Wahl durch die restlichen Piloten, die einstimmig ausfallen muss. Eine Dienstperiode bei den Angels dauert zwei Jahre und wird nicht extra besoldet. Der Pilot der Nummer Eins, also der Kommandierende Offizier, wird hingegen vom Chief of Naval Air Training nominiert, dafür sind über 3000 Stunden Flugerfahrung sowie ein Kommando über eine Jetstaffel nötig. Das Transportflugzeug der Staffel wird grundsätzlich nur von Marines geflogen, auf der Fat Albert werden drei Offiziere und fünf Mannschaftsdienstgrade eingesetzt. Die beiden Piloten müssen als aircraft commander qualifiziert sein und mindestens 1200 Flugstunden aufweisen. Bisher sind 232 Piloten bei den Blue Angels geflogen, das Durchschnittsalter lag bei 33 Jahren. Durch Unfälle bei den Blues sind bisher 25 Piloten ums Leben gekommen. Der letzte tödliche Absturz ereignete sich am 2. Juni 2016, als die Nummer sechs bei einer Flugshow in Smyrna aus bisher ungeklärten Gründen abstürzte. Der Pilot Captain Jeff Kuss kam dabei ums Leben. Einen Ersatzpiloten für erkrankte fliegende Mitglieder der Staffel gibt es nicht, da dieser nicht genug Gelegenheit bekommen könnte, mit der Crew zu trainieren. Bei Erkrankung bleibt eine Position der Staffel leer, lediglich, wenn Nummer Eins ausfällt, bleibt die ganze Staffel am Boden. Die Piloten tragen im Gegensatz zu Kampfpiloten keinen Anti-g-Anzug, der auch bei hohen G-Werten ein Absacken des Blutes in die Beine und das Abdomen verhindert. Eine solche Hose „flattert“ beim Aufblasen so stark, dass sie kleine Schläge auf den Steuerknüppel abgibt, der sich zwischen den Beinen des Piloten befindet. Stattdessen trainieren die Angels ihre Bauchmuskeln entsprechend. Bodencrew Neben den neun fliegenden Offizieren sind weitere sieben am Boden tätig. Unter diesen befinden sich die Verantwortlichen für Public Affairs, Nachschub, Verwaltung, Koordination und Wartung, ein Kommentator, der den Zuschauern die Manöver der Staffel ankündigt, sowie ein Flugarzt. Die Offiziere sind teils für zwei, teils für drei Jahre bei den Blue Angels. Außerdem arbeiten rund 110 Mannschaftsdienstgrade bei den Blue Angels, von denen jeweils rund 45 die Staffel zu einer Flugshow begleiten. Die Mannschaften werden von ihren Vorgesetzten in der Flotte vorgeschlagen und können sich dann dem Auswahlprozess der Blue Angels stellen, der aus Gesprächen mit dem Offizier des jeweiligen Ressorts besteht. Sie bleiben drei Jahre bei der Staffel. Der Altersdurchschnitt liegt bei 26 Jahren. Im Gegensatz zu den Piloten, bei denen bisher nur in der Fat Albert Frauen flogen, werden am Boden bereits seit 1968 weibliche Offiziere und Mannschaften eingesetzt. 2007 waren 15 Staffelmitglieder weiblich. Show Vorbereitungen Die Flugsaison der Angels geht von März bis November. In dieser Zeit fliegt die Staffel jedes Jahr rund 70 Flugshows auf ca. 35 Veranstaltungen. Neben den Flugshows, die heutzutage von bis zu 15 Millionen Menschen jährlich live angesehen werden, stehen für die Flugzeugführer aber auch soziale Termine an. Dabei besuchen die Piloten pro Jahr rund 50.000 Kinder etwa in Krankenhäusern und Schulen. In der Zeit von Anfang Dezember bis Anfang März halten sich die Piloten zum Wintertraining auf der Naval Air Facility in El Centro, Kalifornien auf. Dabei muss jeder Pilot 120 Flüge absolvieren. Im September jedes Jahres können sich die Veranstalter von Flugshows beim Department of Defense (DoD) auf einen Auftritt der Blue Angels für die nächste Saison bewerben. Dies geschieht regelmäßig hundertfach. Das DoD trifft daraufhin bereits eine Vorauswahl, sortiert zu kleine Veranstaltungen oder ungeeignete Flugplätze aus. Neben diesen Kriterien muss auch darauf geachtet werden, dass das Kunstflugteam der United States Air Force, die Thunderbirds, und die Blue Angels nicht beide innerhalb eines Radius von 150 Kilometer auftreten, um keine Konkurrenz zwischen den Teams zu erzeugen und so den Rekrutierungsauftrag zu unterminieren. Die restlichen Bewerbungen werden an den Kommandanten der Blue Angels weitergegeben, der daraufhin mit der Staffel einen Reiseplan erstellt, der jedes Jahr Anfang Dezember bekannt gegeben wird. Ablauf Während die Begleitcrew mit der Fat Albert zu einer Veranstaltung fliegt, werden die Jets von den Piloten selbst dorthin gesteuert. Die Flugshow selbst läuft immer nach einem fest geplanten, aber wetterabhängigen Muster ab. Dazu muss eine horizontale Sichtweite von mindestens drei Seemeilen (5,5 Kilometer) vom Mittelpunkt des Flugfeldes gegeben sein. Für das komplette Programm ist außerdem eine Wolkenuntergrenze von mindestens 8000 Fuß (rund 2,5 Kilometer) nötig. Reduzierte Programme benötigen 3500 Fuß (rund 1 Kilometer) beziehungsweise, als absolutes Minimum 1500 Fuß (rund 500 Meter). Außerdem ist eine Teilnahme der Fat Albert möglich. Wenn das Transportflugzeug teilnimmt, ist es der Anreißer der Show, hebt JATO-unterstützt ab, fliegt eine Bahn über den Flugplatz und setzt wieder auf. Die Hornets starten erst daraufhin, aufgeteilt in die zwei Gruppen. Die vier zuerst startenden Kampfflugzeuge bilden eine Karo- („Diamond“)-Formation, die beiden anderen sind die Solos. Diese beiden Gruppen fliegen abwechselnd ihre Manöver. Die Show beginnt mit einem Überflug der Diamonds in extrem enger Formation, wie sie von keinem anderen Kunstflugteam geflogen wird. Hierbei sind Flügelspitze und Cockpithaube zweier Flugzeuge nur jeweils 18 Zoll (45 Zentimeter) voneinander entfernt. Das erste Manöver der Solos ist der so genannte Opposing Knife-Edge Pass; die beiden Flugzeuge fliegen im Tiefflug direkt aufeinander zu, um sich im Abstand von nur wenigen Metern zu passieren. Daraufhin folgen mehrere Arten von Rollen und Loopings. Mit dem Sneak Pass erreicht ein Solo dann, in nur rund 50 Fuß (15 Meter, ist die geringste Höhe der Show) über der Startbahn, die höchste Geschwindigkeit der Show, fast 700 Knoten, direkt unterhalb der Schallgeschwindigkeit. Nur kurze Zeit später erreichen die Solos schließlich mit gerade 125 Knoten (230 Kilometer pro Stunde) die niedrigste Geschwindigkeit. Im Section High-Alpha Pass zeigen die Nasen der Hornets um 45° in den Himmel, während die Flugzeuge „auf dem Schwanz balancieren“. Im Anschluss fliegen alle sechs Angels erstmals zusammen eine Rolle in der Delta-Formation, bevor die Diamonds die „Fleur-de-Lis“ fliegen, die „Signatur“ der Formation. Nachdem sich die sechs Flugzeuge in der Folge in alle Richtungen verstreut haben drehen sie wieder auf den Mittelpunkt des Flugfeldes ein, den sie in der Höhe gestaffelt gleichzeitig überfliegen. Nach einem erneuten Überflug des Platzes im Delta brechen die Angels einzeln weg und fliegen zur Landung ein. Auf den Veranstaltungen gibt es außerdem ein Rahmenprogramm, so steht eine zweisitzige F/A-18B am Boden bereit, ein Pilot der Staffel steht Zuschauern Rede und Antwort. Außerdem haben einige lokale Medienvertreter die Gelegenheit, in dem hinteren Sitz ein reduziertes Programm mitzuerleben. Literatur Robert K. Wilcox: First Blue: The Story of World War II Ace Butch Voris and the Creation of the Blue Angels. Thomas Dunne Books, New York City 2004, ISBN 978-0-312-32249-6 Nicholas A. Veronico: Blue Angels: 50 Years of Precision Flight. Motorbooks International, St. Paul, Minnesota 1996, ISBN 978-0-7603-0138-8 Nicholas A. Veronico: The Blue Angels: A Fly-By History: Sixty Years of Aerial Excellence. Motorbooks International, St. Paul, Minnesota 2005, ISBN 978-0-7603-2216-1 Luigino Caliaro: Akrobaten der Lüfte. Die Kunstflugteams der Welt. Krone Verlag, Lünen 2006, ISBN 978-1-4054-7905-9 Manfred Leihse, ARTISTEN AM HIMMEL, Die Geschichte der Kunstflugstaffeln 1921 bis Heute. Motorbuchverlag 1973, ISBN 3-87943-283-X (Seiten 139–143) Film Im IMAX-Film The Magic of Flight sind neben der Entwicklung der Fliegerei auch eindrucksvolle Flugszenen der Blue Angels Hauptbestandteil. Auch existiert eine DVD-Ausgabe dieses Filmes in Englisch. Weblinks Offizielle Homepage (engl.) Private Seite über die Blue Angels (engl.) Videoaufnahmen der Show im RealMedia-Format Einzelnachweise United States Navy Militärische Kunstflugstaffel Gegründet 1946
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https://de.wikipedia.org/wiki/Grand%20Theft%20Auto
Grand Theft Auto
Grand Theft Auto (abgekürzt GTA, deutsch etwa „Schwerer Autodiebstahl“) ist eine Videospielserie des US-amerikanischen Publishers Rockstar Games. Die Titel der Reihe sind Action-Adventure-Spiele mit Rennspiel- und Third-Person-Shooter-Elementen und verfügen über ein Open-World-Spielprinzip. Der Name ist dem US-amerikanischen Straftatbestand des schweren Kraftfahrzeugdiebstahls (englisch „grand theft auto“) entlehnt. 1997 erschien der erste Teil der Serie, entwickelt vom schottischen Entwicklerstudio Rockstar North (bis 2001 DMA Design). Mit knapp 400 Millionen verkauften Spielen ist sie eine der erfolgreichsten Computerspieleserien überhaupt. Alle Teile der Reihe weisen eine vergleichbare Handlung auf, bei der meist ein männlicher Protagonist mit einer kriminellen Vorgeschichte in einer amerikanischen Großstadt eine Verbrecherkarriere anstrebt. Dazu kann er Aufträge mit unterschiedlicher Komplexität und Schwierigkeit annehmen, deren Erfüllung zu weiteren Kontakten auf höheren Ebenen der Verbrecherhierarchie führt. Neben diesen Hauptaufträgen kann der Spieler eine Reihe freiwilliger Zusatzaufgaben übernehmen. Diese führen in der Regel nicht die Haupthandlung weiter, sondern belohnen den Spieler mit Geld, Waffen oder ähnlich nützlichen Belohnungen. Grand Theft Auto zeichnet sich durch eine große Bewegungs- und Interaktionsfreiheit innerhalb der fiktiven Welt aus. Es gibt eine Vielzahl von Nebenaktivitäten sowie spieleigene Fernseh- und Radiosender, Internetdienste und in Kinos einsehbare, extra für die Spiele geschaffene Animationsfilme, die maßgeblich zur atmosphärischen Gestaltung der Spiele beitragen. Handlung und optische Aufmachung sind häufig satirisch-humoristisch geprägt und eine überspitzte, parodistische Darstellung des American Dream sowie des westlich-kapitalistischen Lebensstils der USA. Aufgrund der in der Serie dargestellten kriminellen und teilweise gewalttätigen Handlungen sowie der häufig klischeehaften Darstellung ethnischer Gruppierungen stehen die Spiele des Öfteren in der Kritik. Spielprinzip Das Grundprinzip des Spiels entstand aus der Umkehrung der ersten Idee, die vorsah, dass der Spieler die Rolle eines Verkehrspolizisten einnehmen sollte. Doch „es konnte einfach kein schnelles Action-Arcade-Spiel herauskommen, wenn man sich an die [Verkehrs-] Regeln halten soll.“ Deshalb drehten die Entwickler das Prinzip um und machten den Spieler zum Kriminellen, der Aufträge für seinen Gangster-Boss ausführen soll. Da Spieletester häufig gar kein Interesse an den Missionen zeigten und lieber die Spielewelt erkundeten, wurde die lineare Entwicklung des Spielablaufs aufgegeben. Der Spieler kann frei auf Spritztour gehen oder sich je nach Ort beliebige Missionen von seinem Boss geben lassen. Dachten die Entwickler zunächst noch, dass ein erfolgreiches Spiel ein Endziel haben müsse, gaben sie auch dieses auf, als ihnen die Analogie zu Flipperautomaten einfiel: ein Spiel, das durch Extras potenziell unendlich weitergehen kann. Einzige Begrenzung ist die Intensität der Fahndung durch die Polizei nach dem Spieler. Hauptmissionen Der Spieler kann verschiedene Missionen innerhalb der Haupthandlung des Spiels annehmen. Diese werden in der Regel mit der Hilfe von Waffen und Fahrzeugen gelöst und beinhalten unter anderem Kurierfahrten, das Verfolgen, Einschüchtern und Ausschalten von Gegnern, Autodiebstahl, das Zerstören von Fahrzeugen, Attentate oder auch schwerwiegendere Aktionen wie beispielsweise die Sprengung eines Polizeireviers mit einem sprengstoffbeladenen Tanklaster (im ersten Spiel der Reihe). Ab dem dritten Spiel der Reihe (Grand Theft Auto III), in dem erstmals eine 3D-Welt benutzt wird, wird das Spielterrain (Geländeformen, Gebäudeformen) in die Missionsgestaltung einbezogen und kann auch vom Spieler zur Missionslösung eingesetzt werden. Die Spielfigur besitzt zudem Fähigkeiten, die in einer 3D-Welt nützlich sind, wie die Fähigkeiten zu springen und sich zu ducken. Seit Grand Theft Auto: San Andreas ist zudem auch Schleichen, Klettern und Schwimmen möglich. Viele Missionen erfordern nicht, dass der Spieler sich an einen bestimmten Lösungsweg hält. Die Waffen- und Fahrzeugwahl ist dem Spieler überlassen: Mit Motorrädern lassen sich Verfolger besser abschütteln, mit Hubschraubern können Fahrzeuge besser verfolgt werden und mit Scharfschützengewehren, Flammenwerfern, Granaten oder Raketenwerfern lassen sich Gegner auf Distanz bekämpfen. Allerdings sind starke Waffen nicht frei erhältlich. Sie sind entweder gut versteckt oder können erst im weiteren Spielverlauf gefunden, gekauft oder durch Nebenmissionen erworben werden. Ein charakteristisches Beispiel für eine freie Missionslösung ist die Mission „Gefeuert!“ aus Grand Theft Auto: Vice City: Die Erfüllung dieser Mission erfordert die Abholung eines bewachten Koffers auf einem Gebäudedach. Die schwere Bewachung der Umgebung erfordert normalerweise, dass der Spieler sich zuerst durch einen Hof und dann über mehrere Dächer bis zum Zielort durchkämpft. Wesentlich einfacher ist es jedoch, mit einem Hubschrauber auf einem Dach gegenüber dem Koffer zu landen. Von dort aus lassen sich die Bewacher einfach mit einem Scharfschützengewehr töten. Anschließend kann der Spieler mit dem Hubschrauber direkt auf dem Dach mit dem Koffer landen, diesen mitnehmen und fliehen. Ein durchgehendes Prinzip der Spielereihe ist es, dass der Spieler selbst zu den Missionsschauplätzen innerhalb der Spielwelt fahren muss. Während einer Mission ist es zudem nicht möglich, zu speichern. Ist eine Mission gescheitert, muss diese komplett wiederholt werden. Sowohl in GTA: San Andreas als auch in Grand Theft Auto V existieren während (je) einer Mission jedoch ein oder mehrere Kontrollpunkte, sodass nur ein Teil wiederholt werden muss. Die Spielfigur besitzt zwei als Trefferpunktsystem realisierte Eigenschaften, die seine Stärke quantifizieren: Lebenskraft und Panzerung. Beide Werte können durch entsprechende Powerups, die überall auf der Spielwelt verteilt sind, gesteigert werden. Wird die Lebenskraft aufgebraucht, landet die Spielfigur im nächstgelegenen Krankenhaus, was den Verlust von ein wenig Geld und teilweise auch der Waffen zur Folge hat. Anschließend kann das Spiel wieder mit aufgefüllter Lebenskraft fortgesetzt werden. Kriminelle Handlungen erhöhen den Fahndungslevel des Spielers, was einen steigenden Verfolgungsdruck durch die Polizei bzw. in der höchsten Fahndungsstufe durch das Militär oder Spezialeinsatzkommandos bewirkt. Der Fahndungslevel lässt sich durch das Aufsammeln von Polizeisternen, durch das Umlackieren des Fahrzeugs, durch Kleiderwechsel oder durch das Erreichen eines Verstecks verringern. Kommt es zu einer Verhaftung, werden dem Spieler sämtliche Waffen und etwas Geld abgenommen. Das Spiel kann dann wieder fortgesetzt werden. Außerdem führt die Verhaftung innerhalb einer Mission (ebenso wie die Einlieferung in ein Krankenhaus) zum Scheitern. Alle Fahrzeuge verfügen über ein Schadensmodell, d. h. sie können bei Unfällen zerstört oder beschädigt werden. Dieses Spielelement zwingt den Spieler, sein Fahrzeug des Öfteren zu wechseln oder reparieren zu lassen. Ist ein Fahrzeug fester Bestandteil einer Mission, bedeutet die Zerstörung des Fahrzeugs das Scheitern der Mission. Fahrzeuge können zusätzlich in den meisten Spielen der Serie mit einer Bombe ausgestattet werden. Zudem ist es möglich, mit Fahrzeugen sogenannte Drive-by-Shootings, also das Schießen aus dem fahrenden Auto durchzuführen. Nebenmissionen Nebenmissionen sind Missionen, die in der Regel nicht in die Handlung eingebunden sind. Sie stellen eine Abwechslung zu den Hauptmissionen dar und dienen als Anreiz für den Spieler, sich in der Spielwelt umzusehen. Die Belohnungen für das Erfüllen der Nebenmissionen fallen je nach Spiel und Mission unterschiedlich aus: erhöhte Gesundheit, Feuerfestigkeit, zusätzliche Waffen in den Verstecken, besondere Fahrzeuge, spezielle Kleidung oder Geld. In der Regel kommen folgende Nebenmissionen vor, die je nach Spiel leicht variieren: Üblicherweise kann mindestens eine Sammelaktion durchgeführt werden, in der versteckte Objekte, die über die ganze Spielwelt verteilt sind, gefunden werden müssen. Der Spieler wird im Anschluss oder während der Sammelaktion mit kostenlosen und stärkeren Waffen in den Verstecken belohnt. Des Weiteren gibt es levelbasierte Spezialfahrzeug-Missionen, die gestartet werden können, wenn die Spielfigur in einem bestimmten Fahrzeugtyp sitzt, wie in einem Taxi, Krankenwagen, Polizeiwagen, Feuerwehrwagen oder Müllwagen. Level-basiert bedeutet hierbei, dass der Spieler ähnliche Aufgaben mehrfach hintereinander lösen muss, um belohnt zu werden. Dazu muss der Spieler innerhalb einer festgelegten Zeit bestimmte Orte oder Personen erreichen. Zu diesen Missionen gehören im Prinzip auch die Nebenjobs als Kurierfahrer, die der Spieler auf einem Motorroller oder Fahrrad durchführen muss, um bestimmte Dinge (Pizza, Zeitungen, Drogen etc.) auszuliefern. Monsterstunts sind spezielle von den Entwicklern vorgesehene Orte, um besonders weite Sprünge mit Fahrzeugen durchzuführen. An diesen Orten sind entweder Rampen aufgestellt oder es existiert ein für einen Sprung geeigneter Gelände- oder Straßenverlauf. Innerhalb der Spielwelt können illegale Straßenrennen gefahren werden und es existieren für besondere Fahrzeuge (wie Geländewagen, Motocross-Räder oder Strandbuggys) Geschicklichkeitsparcours. Offizielle Rennen finden dagegen in den Stadien statt. Eine Import-/Export-Garage oder ein Kran dienen zum Verkauf von Fahrzeugen. Der Spieler muss dazu bestimmte Fahrzeugtypen entwenden und sie bei dieser Garage bzw. dem Kran abliefern. Der Spieler wird zunächst mit Geld belohnt. Sind alle Fahrzeuge abgeliefert, kann der Spieler auf die exportierten Fahrzeugtypen zugreifen. Das hat den Vorteil, dass der Spieler die Fahrzeuge nicht mehr in der Spielwelt suchen muss. Rampages (Amokläufe) können an bestimmten Orten gestartet werden. Der Spieler muss dann innerhalb einer vorgegebenen Zeit mit einer festgelegten Waffe eine bestimmte Anzahl von rivalisierenden Gangmitgliedern töten. Diese Nebenmissionen sind üblicherweise in der deutschen Version der Spiele entfernt. Selbständiges Agieren Zusätzlich zu den von den Entwicklern vorbereiteten Haupt- und Nebenmissionen hat der Spieler die Möglichkeit, selbständig in der Spielwelt nach Abenteuern zu suchen. Es bietet sich an, absichtlich die eigene Fahndungsstufe zu erhöhen, um einen Kampf mit der Polizei zu starten. Das Ziel ist es dann, möglichst lange zu überleben, um die höchste Fahndungsstufe zu erreichen und/oder anschließend der Polizei durch geschickte Manöver wieder zu entkommen. Des Weiteren besteht in den neueren Spielen, da bei diesen auch Motorräder und Fahrräder vorkommen, die Möglichkeit, Stunts durchzuführen. Hierzu sucht der Spieler nach Orten, die sich für weite Sprünge oder Sprünge über hohe Objekte oder tiefe Stürze eignen. Das kann ziellos geschehen oder mit der Absicht, an Stellen in der Spielwelt zu gelangen, die schwer zu erreichen sind. Letztlich kann der Spieler mit den zahlreichen und unterschiedlichen Fahrzeugen (möglichst rasant) durch die Gegend fahren bzw. mit Flugzeugen fliegen. Simulation der Spielwelt Die Spielwelt ist nicht nur der Schauplatz der Handlung und der Missionen, sondern zugleich auch eine Simulation einer virtuellen Welt, in der der Straßenverkehr, Passanten (mit dem Spieler und untereinander interagierend), das Wetter, der Tagesrhythmus (d. h. der Sonnenstand) und grundlegende physikalische Gesetze simuliert werden. Die Simulation des Straßenverkehrs ist zeit- und ortsabhängig. Beispielsweise sind in Finanzvierteln oder Villengegenden eher sportlichere und teurere Fahrzeuge anzutreffen als in „normalen“ Gegenden. An den Stränden tragen die Leute eher Badebekleidung, in Finanzvierteln Business-Kleidung oder Berufskleidung im Hafengebiet. Zudem befinden sich tagsüber etwas mehr Fahrzeuge und Passanten auf den Straßen als in der Nacht. Alle Fahrzeuge verfügen je nach Typ (Geländewagen, Sportwagen etc.) über eine entsprechende Fahrphysik und unterscheiden sich daher in der Beschleunigung, Höchstgeschwindigkeit und Bodenhaftung, wobei letzteres auch vom Untergrund abhängt. Eine Physik-Engine simuliert die Schwerkraft und Trägheit. Jedoch ist die Wirkung dieser Kräfte nicht vollkommen realistisch, damit die Spielfigur größere Stürze und Aufpralle überlebt. Nicht nur die Polizei reagiert auf die Taten des Spielers, sondern auch die Passanten in unmittelbarer Nähe. In GTA: San Andreas beispielsweise laufen einige Autofahrer ängstlich weg, nachdem der Spieler ihnen den Wagen abgenommen hat, andere wiederum wehren sich und versuchen, ihr Auto wiederzubekommen. Außerdem laufen die Passanten nicht nur weg, wenn der Spieler das Feuer eröffnet, sondern einige laufen zum Tatort, um sich diesen näher anzusehen. Manchmal wird das Feuer erwidert. Verursacht der Spieler einen Brand oder werden Passanten verletzt (und nicht getötet), erscheint kurz darauf die Feuerwehr, um das Feuer zu löschen bzw. ein Krankenwagen, um die Verletzten zu behandeln. Nicht jede Handlung muss vom Spieler initiiert werden: Die Polizei verfolgt hin und wieder Verbrecher auf der Flucht zu Fuß oder im Einsatzwagen oder es finden auf offener Straße Bandenkriege zwischen rivalisierenden Gangs statt. In die Entwicklung der neuen Spielwelt ab Grand Theft Auto III flossen auch die Erfahrungen mit dem von der Vorgängerfirma DMA Design zuvor entwickelten Spiel Body Harvest ein. Unterschiede zu anderen Spielen Die GTA-Reihe wird ab dem dritten Teil zwar aufgrund der Third-Person-Perspektive und des Waffeneinsatzes zur Aufgabenlösung prinzipiell in das Genre der Third-Person-Shooter eingeordnet, jedoch sind typische Elemente des Genres bei GTA nicht zu finden. Third-Person-Shooter bestehen üblicherweise aus mehreren Spielabschnitten, auch Level genannt, die der Spieler durchqueren muss. Diese Levels sind unterschiedlich gestaltet, sodass der Spieler sich in jedem Level in einer neuen Umgebung wiederfindet, die er zunächst erkunden muss. Ein Spiel der GTA-Reihe findet dagegen immer in einer Umgebung (eine 3D-modellierte Spielwelt) statt. Dem Spieler steht, auch wenn es zunächst abgesperrte Gebiete gibt, die gesamte Spielwelt offen. Da er zudem nicht gezwungen ist, irgendeine der Missionen sofort auszuführen, kann er die Umgebung und damit die zukünftigen Missionsschauplätze bereits vorher erkunden. Andere Third-Person-Shooter oder sonstige Spiele werden im Verlauf des Spiels, d. h. in den späteren Leveln, immer schwieriger. Die Level werden umfangreicher, die Zahl der Gegner nimmt zu, zudem sind sie besser bewaffnet. Auch das trifft auf die GTA-Reihe nur bedingt zu. Zwar sind in späteren Missionen die Gegner besser bewaffnet und treten in größeren Gruppen auf, jedoch wird dieser Nachteil durch die besser werdende Bewaffnung des Spielers wieder aufgehoben. Zudem erfordert die Lösung einer Mission in der Regel nur wenige Minuten Zeit, was verglichen mit Ego-Shootern relativ kurz ist. Zusätzlich wird dadurch die in einigen Ego-Shootern vorkommende (beabsichtigte) Munitionsknappheit verhindert. Aufgrund der offenen Spielwelt und der Interaktionsmöglichkeit mit der Umgebung besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Genre der Rollenspiele. Aber auch hier fehlen entscheidende Elemente, um die Serie als Rollenspiel anzusehen. Es gibt nicht die Möglichkeit, eine Rolle aus mehreren Alternativen auszuwählen, wie das bei Rollenspielen typischerweise der Fall ist (z. B. eine Rolle als Dieb, Magier, Krieger, Handwerker). Nachdem der Spieler diese Entscheidung getroffen hat, muss er üblicherweise seine Spielfigur trainieren, damit diese in den Fähigkeiten besser wird, die ihrer Rolle entsprechen. Dieses Training ist eine eher langwierige Aufgabe und ist entscheidend für die anstehenden Aufgaben bzw. Kämpfe. Die Spielfiguren der GTA-Reihe besitzen dagegen von Anfang an alle Fähigkeiten, die für die Spiele erforderlich sind. Die Städte der GTA-Reihe sind aufwendiger gestaltet als die Spielwelten vergleichbarer Spiele. In den Spielen Der Pate (2006) und Mafia (2002) beispielsweise kann der Spieler seine Spielfigur (bis auf wenige Ausnahmen) nur auf den Straßen bewegen. Daher existieren in diesen Spielen auch keine Flugzeuge oder Hubschrauber, mit denen man auf den Dächern der Gebäude landen könnte. Auch sind die Städte anderer Spiele eher planar aufgebaut und nicht vollständig modelliert (z. B. auch Scarface). So existieren zwischen einigen Stadtteilen nur einzelne Verbindungsstraßen oder es fehlen größere Teile der Stadt. Spieleübersicht Grand Theft Auto (1997) und GTA 2 (1999) Die ersten beiden Teile der Serie weisen ein fast identisches Spielprinzip auf: In beiden Spielen wird die Spielfigur mit Blick aus der Vogelperspektive gesteuert und die Spiele setzen sich aus Verbrecherlaufbahnen zusammen, die jeweils in einer Stadt spielen. In jeder Stadt arbeitet der Spieler für einen von drei Auftraggebern (Fraktionen). Erst nachdem der Spieler den Respekt bei einer Fraktion erlangt hat, werden die nächsten Aufträge freigeschaltet, wobei der Schwierigkeitsgrad der Missionen stetig zunimmt. Diese Gliederung vollzieht sich über drei Schwierigkeitsstufen. Aufträge kann der Spieler an Telefonzellen annehmen, wobei die einzelnen Auftragsziele dem Spieler über Textnachrichten übermittelt werden. Zur Lösung der Missionen kann der Spieler verschiedene Fahrzeuge und Waffen einsetzen. Durch das Absolvieren einer Mission verdient sich der Spieler Geld und, im Fall von GTA 2, auch den Respekt der Gang des Auftraggebers. Ein Übergang in die nächste Stadt ist nur durch das Erreichen eines bestimmten Geldbetrages möglich. In der ersten Stadt sind z. B. eine Million Dollar erforderlich, um das Level durch das Aufsuchen eines speziellen Aufnahmepunktes (meist bei der Kirche) verlassen zu können. Zwischen den Laufbahnen existieren Zwischensequenzen, die eine grobe Rahmenhandlung bilden. In Grand Theft Auto kann innerhalb einer Laufbahn nicht abgespeichert werden. Mit GTA 2 wurde die Möglichkeit geschaffen, das Spiel in einer Kirche zu speichern. Des Weiteren reagiert in GTA 2 nicht nur die Polizei auf die Taten des Spielers, sondern auch die gegnerischen Banden. Für GTA 1 erschien später noch das Add-on GTA: London 1969, das in London im Jahre 1969 spielt und wiederum durch das kostenlos zum Herunterladen bereitgestellte Mini-Add-on GTA: London 1961 erweitert werden konnte. GTA III (2001) GTA III spielt im Jahre 2001 in der fiktiven Stadt Liberty City, die der Stadt New York ähnelt. Der Spieler schlüpft in die Rolle eines namenlosen Gangsters (in GTA: San Andreas erfährt man in einer Zwischensequenz, dass er Claude heißt) und arbeitet für verschiedene kriminelle Organisationen. Mit GTA III wurde eine 3D-Spielwelt eingeführt, in der die Spielfigur aus einer Third-Person-Perspektive gesteuert wird. Die Missionen werden mit Zwischensequenzen eingeleitet, wodurch eine dichtere Rahmenhandlung entsteht, die sich an Mafiafilmen und Serien über die italienische Mafia wie Goodfellas und Die Sopranos orientiert. Damit der Spieler nicht sofort auf alle Waffen und Fahrzeugtypen Zugriff hat, ist die Stadt in drei Inseln aufgeteilt, die im Laufe des Spiels freigeschaltet werden. Pro Insel verfügt der Spieler über ein Versteck, in der das Spiel außerhalb einer Mission gespeichert werden kann. Anders als in GTA 2 wird der Spielfigur hierfür kein Geld mehr vom Konto abgezogen. Die Handlungen des Spielers wirken sich wie im Vorgänger GTA 2 auf die Spielwelt aus. GTA: Vice City (2002) Die Handlung spielt im Jahre 1986 in der fiktiven Stadt Vice City, die der Stadt Miami ähnelt. Der Spieler schlüpft in diesem Spiel in die Rolle des Tommy Vercetti und durchlebt, wie sich dieser von einem kleinen Laufburschen zu dem Drahtzieher in Vice City entwickelt. Optik und Handlung sind angelehnt an den Film Scarface aus dem Jahre 1983 und an die Fernsehserie Miami Vice. Das Spielprinzip ist dem des dritten Teils der Serie ähnlich. Als Neuerung können Immobilien erworben werden, für die der Spieler später auch Aufträge erfüllen kann. In den Immobilien kann zudem das Spiel gespeichert werden. Das bietet den Vorteil, dass die Fahrtzeiten zu den Missionen kürzer werden. Eine weitere Neuheit ist die Möglichkeit, die Spielfigur mit unterschiedlichen Outfits zu kleiden. Während einer Verfolgung durch die Polizei bewirkt das eine Reduzierung des Fahndungslevels. Zu den bisherigen Fortbewegungsmitteln in GTA III kommen Hubschrauber, ein Wasserflugzeug und Motorräder hinzu. Motorräder haben den Vorteil, dass der Spieler Verfolgern besser entkommen und während der Fahrt nicht nur zur Seite, sondern auch nach vorne schießen kann. GTA: San Andreas (2004) Die Handlung spielt im Jahr 1992 in den fiktiven Städten Los Santos, San Fierro und Las Venturas, die den realen Städten Los Angeles, San Francisco und Las Vegas ähneln. Die Handlung ist daher eine Interpretation der Gegebenheiten in Kalifornien Anfang der 90er. Ziel der Hauptfigur Carl Johnson (kurz CJ) ist es, seine Nachbarschaft in den Griff zu bekommen und sich vom Einfluss des korrupten Polizisten Frank Tenpenny zu befreien. Mit GTA: San Andreas wurden einige technische Verbesserungen realisiert, wie dynamische Echtzeitberechnung der Schatten, größere Sichtweite und Simulierung von Wetterphänomenen, wie Regen, Nebel, Sandstürme und das Flimmern der Luft bei starker Hitze. Die Spielfigur ist zusätzlich in der Lage, über Wände und Zäune zu klettern, zu schwimmen und zu tauchen. Weiterhin kann das Aussehen der Spielfigur durch Frisuren, Tätowierungen, Kleidung, Sport und Essen beeinflusst werden. Durch das wiederholte Benutzen von Fahrzeugen und Waffen lernt die Spielfigur den besseren Umgang mit den entsprechenden Objekten. Fängt der Spieler eine Mission ein zweites Mal an, so kann die erste Fahrt innerhalb der Mission auch übersprungen werden. Die Zahl der Bonusmissionen wurde im Vergleich zu den Vorgängern deutlich gesteigert. An einigen Stellen der Haupthandlung muss der Spieler einige Voraussetzungen (z. B. Übernahme feindlicher Ganggebiete oder ausreichendes Lungenvolumen) erfüllen, bevor die Geschichte fortgeführt wird. Der erfolgreiche Besuch der Flugschule ist Pflicht, während andere Fahrschulmissionen freiwillig sind. Ein weiterer Unterschied zu den Vorgängern besteht in der Möglichkeit, Straßenkämpfe nicht mehr alleine durchstehen zu müssen. Der Spieler kann z. B. vor einem Bandenkrieg eigene Bandenmitglieder zu einem Team zusammenstellen, das CJ folgt und bei Kämpfen unterstützt. Seit 2013 wird GTA: San Andreas auch auf mobilen Endgeräten (Android, iOS, Windows Phone) unterstützt. GTA Advance (2004), GTA: Liberty City Stories (2005) & GTA: Vice City Stories (2006) Die Spiele GTA Advance, GTA: Liberty City Stories und GTA: Vice City Stories haben keine entscheidenden Entwicklungen in die Spieleserie eingebracht. GTA Advance (für den Game Boy Advance) wird in der 2D-Vogelperspektive gespielt und ist grafisch ein Mix aus dem originalen Grand Theft Auto und GTA III. GTA: Liberty City Stories und GTA: Vice City Stories sind Prequels von GTA III und GTA: Vice City und orientieren sich daher an diesen Spielen. Die Hauptmissionen sind im Vergleich zu den drei Vorgängern einfacher gestaltet, da die Spiele erst nur für die PlayStation Portable erschienen sind und daher auch „zwischendurch“ spielbar sein mussten. Das macht sich in der Länge der Missionen und in der Einfachheit, mit der gegnerische Fahrzeuge oder Personen eliminiert werden können, bemerkbar. Das Aussehen der Spielfigur kann nur durch festgelegte Kleidungskombinationen verändert werden, die in den Verstecken verfügbar sind. Lediglich GTA: Vice City Stories bietet einige Bequemlichkeiten für den Spieler. Der Spieler kann im Spielverlauf Geschäfte übernehmen. Die Einnahmen aus diesen Geschäften werden, im Gegensatz zu den Vorgängern, in denen der Spieler die Einnahmen abholen musste, direkt auf das Konto des Spielers addiert. Daher bietet das Spiel die Möglichkeit, gegen Geld die verlorenen Waffen nach einem Krankenhausbesuch oder einer Verhaftung zurückzukaufen. Auch kann der Spieler die Anfahrt zu einer Mission erleichtern, indem er in seinem Versteck jedes Mal einen Hubschrauber kauft. Fängt der Spieler eine Mission ein zweites Mal an, so kann die erste Fahrt innerhalb der Mission auch übersprungen werden. Grand Theft Auto IV (2008) Die Hauptfigur ist der Serbe Nikolai „Niko“ Bellic, der nach Liberty City kommt, um eine Person zu suchen, die ihn und seine Freunde im Krieg verraten hat. Der Handlungsort Liberty City, der bereits in den Spielen GTA III und GTA: Liberty City Stories verwendet wurde, wurde neu modelliert und erinnert deutlicher als in den Vorgängern an New York. Durch den Plattformwechsel auf die leistungsfähigeren Spielkonsolen der siebten Generation (Xbox 360 und PlayStation 3) ist die Darstellung der Spielwelt detaillierter und die optischen Effekte aufwendiger. So wird beispielsweise auf glatten, nassen oder Wasseroberflächen die Umgebung gespiegelt. Die im Spiel eingesetzte „Euphoria Engine“ berechnet zur Laufzeit die Bewegungsabläufe der Personen, während in den Vorgängern vorberechnete Bewegungsabläufe eingesetzt wurden. Im direkten Vergleich zu GTA: San Andreas wurde der Spielumfang reduziert. Die Spielfigur kann z. B. nicht mehr tauchen, es stehen weniger Waffen zur Verfügung und es ist nur noch durch Kleidungswechsel möglich, das Aussehen der Spielfigur zu verändern. Die Rollenspiel-Elemente wurden entfernt, das heißt die Fähigkeiten der Spielfigur ändern sich nicht mit der Zeit. Dafür wurden aber typische Multiplayer-Modi wie Team-Deathmatch, Free-for-all (jeder gegen jeden) usw. hinzugefügt, die sich zeitweise großer Beliebtheit erfreuten. Außerdem wurde eine Onlineplattform errichtet, auf der man Fortschritte, besondere Errungenschaften und Bilder/Videos (z. B. von besonderen Stunts) anderen Spielern zeigen konnte. Für die Xbox 360 sind zwei Add-ons (Episoden) erschienen, die später unter dem Titel Grand Theft Auto: Episodes from Liberty City zusammengefasst wurden. Beide Episoden spielen in derselben Spielwelt wie GTA IV. In der ersten Episode The Lost and Damned übernimmt der Spieler die Rolle des stellvertretenden Anführers einer Biker-Gang. Die zweite Episode The Ballad of Gay Tony handelt vom Leibwächter des Nachtclub-Moguls Gay Tony. Die Add-ons sind am 16. April 2010 für die PlayStation 3 und den PC veröffentlicht worden. Grand Theft Auto: Chinatown Wars (2009) Grand Theft Auto: Chinatown Wars ist der zehnte Teil der GTA-Serie und der erste für Nintendo DS. Die Erstveröffentlichung für dieses System erfolgte im März 2009. Im Oktober 2009 folgte die Umsetzung für die PlayStation Portable, im Januar 2010 für Apples iOS und im Dezember 2014 für Android. Ein in der modernen Zeit gelegenes Liberty City (GTA-IV-Version) dient erneut als Schauplatz. Die Handlung erzählt von einem chinesischen Verbrechersyndikat, den „Triaden“, denen auch der Protagonist, Huang Lee, angehört. Das Spiel setzt Cel Shading in der Darstellung ein. Grand Theft Auto V (2013) Grand Theft Auto V ist das elfte Spiel der GTA-Serie. Es wurde im Oktober 2011 angekündigt, am 2. November 2011 wurde der erste Trailer veröffentlicht, ein Jahr später am 14. November 2012 erschien der zweite Trailer. Grand Theft Auto V spielt in und um Los Santos, das der realen Stadt Los Angeles nachempfunden ist. Die gesamte Spielwelt ist größer und detailreicher als in jedem bisherigen Teil der Serie. Während es bei San Andreas noch drei Städte in einer Welt gab, ist Los Santos die einzige große Stadt in GTA V, dafür aber deutlich umfangreicher. Außerhalb der Stadt gibt es Berglandschaften, Wüstenlandschaften und Gewässer. Im Vergleich zu GTA IV wurde der Spielumfang vergrößert. Wie in Grand Theft Auto: San Andreas kann die Spielfigur wieder tauchen und das Aussehen der Spielfigur kann nicht nur durch das Wechseln von Kleidung, sondern auch wieder durch das Besuchen von Friseursalons und Tätowierstudios verändert werden. Auch die Rollenspielelemente wurden wieder eingeführt. Die Kampagne bietet drei spielbare Charaktere. Während des Spiels und innerhalb bestimmter Missionen kann man an bestimmten Stellen zwischen den Charakteren wechseln. Die Erstveröffentlichung für PlayStation 3 und Xbox 360 erfolgte am 17. September 2013. Die Versionen für PlayStation 4 und Xbox One erschienen am 18. November 2014. Die Version für Windows-PC ist am 14. April 2015 erschienen. Die Versionen für PlayStation 5 und Xbox Series erschienen am 15. März 2022. Grand Theft Auto VI Am 4. Februar 2022 bestätigte Rockstar Games, dass sich ein Nachfolger zu Grand Theft Auto V in der Entwicklung befindet. Stab und Besetzung An jedem Teil der Serie haben Sam Houser und Dan Houser mitgewirkt. Sam Houser übernahm im ersten Spiel die Regie und fungierte in den anderen Spielen als ausführender Produzent. Dan Houser wirkte in allen Teilen als Drehbuchautor und Produzent mit. Seit GTA III wird er von James Worrall beim Ausarbeiten der Handlung unterstützt. Lazlow Jones war Autor der Moderationsbeiträge der Radiosender und hat auch selbst als Moderator gesprochen. Mit dem wachsenden finanziellen Erfolg der Serie konnten auch Hollywood-Darsteller verpflichtet werden. Da für die Zwischenszenen dieselbe Grafik-Engine verwendet wird wie für die Darstellung der Spielwelt und keine Realfilmaufnahmen zum Einsatz kommen, sind nur die Stimmen der Darsteller zu hören. Äußerlich stimmt meistens nur die Hautfarbe überein. Samuel L. Jackson übernahm die Sprechrolle des Bösewichtes Officer Frank Tenpenny in GTA: San Andreas, sein Partner Officer Eddie Pulaski wurde von dem mittlerweile verstorbenen Schauspieler Chris Penn gesprochen. Des Weiteren sprach Peter Fonda für The Truth und James Woods für den mysteriösen Geheimdienstagenten Mike Toreno. Außerdem lieh der West-Coast-Rapper The Game der Figur Mark Wayne aka B Dup seine Stimme. Der Radiosender „K-DST“ wird von Tommy „The Nightmare Smith“ moderiert, welcher von Guns-n’-Roses-Frontman Axl Rose gesprochen wird. In GTA: Vice City Stories gibt es drei Missionen, in denen Phil Collins mitspielt („In the Air tonight“, „Kill Phil“ und „Kill Phil: Part 2“). In GTA: Vice City sprachen unter anderem die Schauspieler Lee Majors, Burt Reynolds, Dennis Hopper, Philip Michael Thomas und Tom Sizemore sowie die Pornodarstellerin Jenna Jameson. Die Hauptfigur Tommy Vercetti wurde von Ray Liotta gesprochen. Dies war das einzige Spiel, in dem ein bekannter Darsteller der Hauptfigur die Stimme lieh. Sam Houser begründete das in einem Interview damit, dass er sich nicht mehr mit der Spielfigur identifizieren konnte, sondern das Gefühl hatte, Ray Liotta zu spielen. In GTA III übernahm Kyle MacLachlan die Rolle des Donald Love. Auch Joe Pantoliano, Michael Madsen, Robert Loggia und Frank Vincent wurden als Synchronsprecher engagiert. In GTA IV spielt Bas Rutten sich selbst in einer Fernsehsendung namens „The Men's Room“. Juliette Lewis, Iggy Pop und Karl Lagerfeld sind als Radiomoderatoren zu hören. Auch Ricky Gervais hat einen Gastauftritt. In GTA V werden Radiomoderatoren von Pam Grier, Cara Delevingne, Danny McBride, Bootsy Collins und Kenny Loggins gesprochen. Fred Armisen und Tyler, the Creator sind ebenfalls im Spiel zu hören. Die Sprechrolle des Trevor Philips verhalf dem Schauspieler Steven Ogg zum Durchbruch. Den Protagonisten namens Michael de Santa übernahm Ned Luke und die Sprechrolle von Franklin Clinton übernahm Shawn Fonteno, der schon in GTA: San Andreas eine kleine Sprechrolle als Bandenmitglied (FAM1) in den Families übernahm. Auswirkungen Einfluss auf das Spielgenre Von der Spielreihe wird erwartet, dass sie sich selbst übertrifft. So wird GTA Liberty City Stories von einigen Spieletestern deutlich schlechter als GTA III bewertet, obwohl die beiden Spiele an sich fast identisch sind. Der finanzielle Erfolg und die Beliebtheit der Serie haben dazu geführt, dass ähnliche Spiele immer wieder mit der GTA-Reihe verglichen werden. Diese Spiele werden daher auch als GTA-Klone bezeichnet. Unter anderem haben die Spiele Der Pate, Scarface: The World Is Yours, Mafia: The City of Lost Heaven, True Crime: Streets of LA, The Simpsons Hit & Run und True Crime: New York City gleiche oder ähnliche Spielprinzipien wie die GTA-Reihe. Im Falle von Saints Row gehen die Ähnlichkeiten so weit, dass GTA: San Andreas als Vorbild identifiziert werden kann. Während oben genannte Spiele das Spielprinzip übernommen haben, hat sich die Driver-Reihe an die GTA-Reihe angepasst. Die ersten beiden Spiele der Driver-Reihe, die vor GTA III auf der ersten PlayStation erschienen sind, sind im Grunde Rennspiele, in denen der Spieler von einem Ort zum anderen fährt. Nach dem Erfolg von GTA III (2001) und GTA: Vice City (2002) wurde im Jahr 2004 die Reihe mit Driv3r auf der PlayStation 2 fortgesetzt. Das Spiel enthielt nun Elemente aus der GTA-Reihe, wie den Einsatz von Waffen und die Möglichkeit, andere Fahrzeuge als Autos zu verwenden. Kontroversen Die GTA-Reihe ist wegen der exzessiven Gewaltdarstellung umstritten. Bei Wissenschaftlern und amerikanischen Politikern ruft jeder neue Teil der Serie, insbesondere da seit GTA III eine 3D-Engine verwendet wird, teils scharfe Kritik hervor. In allen Teilen der Serie sind gewalttätige Handlungen gegen Personen (einschließlich Polizisten) möglich. Das Töten von Personen wird mit Fahndungssternen zwar bestraft, hat aber keine ernsten Folgen für den Spieler oder den Spielverlauf. Die schwerwiegendste Konsequenz ist lediglich eine symbolische Verhaftung, die den Verlust der mitgeführten Waffen und eine Geldstrafe mit sich bringt. Um eine USK-18-Einstufung bzw. Indizierung zu verhindern, wurden in den deutschen Versionen einiger GTA-Spiele Inhalte entfernt. Dies betrifft einige Missionen (GTA Vice City) sowie das Nachtreten und Berauben der am Boden liegenden Opfer. Die Amokläufe sind in den deutschen Versionen entweder gar nicht möglich oder es fehlen bestimmte Varianten, wie die Amokläufe gegen Passanten. Neben der Gewaltverherrlichung wird den Spielen auch Rassismus vorgeworfen, da einige Ethnien als geschlossen kriminell dargestellt werden und mit allerlei negativ besetzten Klischees behaftet sind, so zum Beispiel die Italiener, die Chinesen und die Jamaikaner in GTA III oder die Kubaner und die Haitianer in GTA: Vice City. Zusätzlichen Auftrieb bekommen die Kritiker dadurch, dass vor allem in den USA vermehrt Jugendliche und junge Erwachsene beim Begehen von teilweise schweren Straftaten wie Autodiebstahl, Raubüberfällen oder auch Vandalismus aufgefallen sind, die nach ihrer Festnahme angaben, sie seien zu ihren Taten durch das Spielen von GTA inspiriert worden. Für Empörung, aber auch Erheiterung sorgte im Juli 2005 eine „Hot Coffee“ genannte Mod für Grand Theft Auto: San Andreas. „Hot Coffee“ schaltet ein interaktives Sex-Minispiel frei, das bereits im Quellcode des Original-Programms enthalten war. Aufgrund dieser Modifikation wurde das Spiel in den USA und in Australien aus dem Handel genommen und durch eine entschärfte Version ersetzt. Am 9. August 2005 erschien ein Patch für die PC-Version, der die Aufgabe hat, den „Hot Coffee“-Mod zu deaktivieren und den entsprechenden Programmcode komplett aus dem Spiel zu entfernen. Modifizierbarkeit Computerspiele werden auf dem PC, im Gegensatz zu älteren Konsolen, auf die Festplatte des Rechners installiert. Das hat zur Folge, dass die Programmdaten für die Benutzer erreichbar und damit veränderbar sind. Bereits seit dem ersten Teil haben daher Fans Veränderungen an den Spielen vorgenommen und sogenannte Mods erstellt. Obwohl die Modder nur für die ersten beiden Teile aktive Unterstützung durch die Entwickler erhielten, wurden von Fans auch für die Nachfolger Editoren programmiert, die z. B. das Ersetzen von Fahrzeugen oder das Erstellen von neuen Missionen ermöglichten. Nach Veröffentlichung der Hot-Coffee-Mod wurde die Kommunikation mit den Moddern schließlich komplett eingestellt. Seit der Veröffentlichung von GTA III, das erstmals eine 3D-Engine besaß, rückte das Verändern der Umgebung in den Vordergrund. Das äußerte sich zuerst in der Erstellung eigener „Fun-Maps“, wie etwa Stunt-Parks, mündete jedoch auch in ambitionierte Projekte mit dem Ziel, die gesamte Spielumgebung zu verändern und teilweise authentische Städte nachzubilden, wie in der unveröffentlichten Mod GTA: Berlin. Zudem sind inzwischen für alle 3D-Teile Mods verfügbar, die diese Spiele um Mehrspieler-Features erweitern. Da diese Projekte von verschiedenen, konkurrierenden Gruppen geleitet werden und keine gemeinsame Basis besitzen, hat sich eine große Vielfalt von Möglichkeiten im Mehrspieler-Bereich von Grand Theft Auto gebildet. So gibt es Modifikationen des Spiels, die sich beispielsweise an die Spielweise von World of Warcraft anlehnen, Projekte, die das Ziel verfolgen einen Fun-Racer zu kreieren oder das Spielprinzip von Spielen wie Counter-Strike aufgreifen. Zudem gibt es Modifikationen, die einen Battle Royale Modus hinzufügen. Bekannte Mehrspieler-Projekte sind beispielsweise VC-MP für GTA: Vice City, SA-MP für GTA: San Andreas und das Open-Source-Projekt Multi Theft Auto, das für alle 3D-Teile von GTA verfügbar ist. Gegen die Onlineplattform OpenIV, mit der Modifikationen für GTA V geladen werden konnten, ging Rockstar Games gerichtlich vor. Ein Modder, der die Spielwelten aus Vice City, San Andreas und Liberty City vereinen wollte, nahm aus Angst vor der Rechtsabteilung des Publishers das Projekt selbst vom Netz. Im Zuge der GTA-Remaster-Trilogie wurde Quelltext, der von Fans durch Reverse Engineering zwecks Portierung der Originalspiele auf weitere Plattformen erstellt worden war, mittels einer durch den Digital Millennium Copyright Act begründeten Maßnahme von der Website GitHub entfernt. Nachdem einige Hobby-Entwickler dagegen Beschwerde einlegten, begann Take-Two einen Rechtsstreit. Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen Durch die Einordnung als realitätsnaher „Action-Shooter“ und die oben geschilderten Kontroversen wurde die Spieleserie mehrfach als Referenzspiel zur Beobachtung möglicher Auswirkungen fiktionaler Gewalt auf das Sozialverhalten genutzt: Eine 2020 abgeschlossene Langzeitstudie von Sarah M. Coyne (Brigham Young University) und Laura Stockdale (ebenda und Layola University Chicago) untersuchte über zehn Jahre den Einfluss von Grand Theft Auto auf gewalttätiges Verhalten und Aggressionspotential von Heranwachsenden und konnte keine Unterschiede im Sozialverhalten über den Zeitverlauf feststellen. Einzelne Teilnehmende zeigten gegen Ende der Untersuchung geringfügig gestiegenes Gewaltpotential oder depressive Episoden; dies beeinträchtige allerdings nicht die Gesamtbeurteilung. Auch eine 2018 über etwa zwei Monate angelegte Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, die neben Gewaltpotential auch psychische Gesundheit, Empathie, Sexismus und Impulsivität untersuchte, hatte ähnlich unauffällige Ergebnisse. Verkaufszahlen, Auszeichnungen und Bewertungen Wie aus den folgenden Zahlen ersichtlich, ist die Spieleserie beim Publikum und bei Spieletestern sehr beliebt. Die Spiele der GTA-III-Reihe (GTA III, GTA: Vice City und GTA: San Andreas) befinden sich daher meist auf den obersten Plätzen der Bewertungsranglisten. Verkaufszahlen Die GTA-Reihe zählt zu den kommerziell erfolgreichsten Videospielreihen. Während einer am 27. November 2012 gehaltenen Credit Suisse Technology Conference verkündete Strauss Zelnick, dass die Reihe die Marke von 125 Millionen ausgelieferten Einheiten überschritten habe, wovon 25 Millionen auf das Konto von GTA IV gingen. Laut neuestem Finanzbericht von Take-Two wurden bis 30. Juni 2022 insgesamt über 380 Millionen Titel der Serie verkauft. Jedes Spiel der GTA-III-Reihe wurde mindestens zehn Millionen Mal für die PlayStation 2 verkauft, bei weltweit über 150 Millionen verkauften Konsolen. Selbst in Japan sind die Verkaufszahlen für einen Titel westlicher Machart überdurchschnittlich. So wurden von GTA III, das 2005 zwei Jahre nach Erscheinen aufgrund von „expliziter Gewaltdarstellung“ indiziert worden war, immerhin etwa 350.000 Stück verkauft. Im Vergleich dazu verkaufte sich GTA III im deutschsprachigen Raum etwa 370.000 Mal. GTA: Vice City war genauso erfolgreich mit etwa 400.000 verkauften Exemplaren im deutschsprachigen Raum, von denen 310.000 Stück in Deutschland abgesetzt werden konnten. Auf der Xbox verkaufte sich die GTA-III-Reihe mit drei Millionen Einheiten bei knapp 22 Millionen Konsolen weltweit ebenfalls erfolgreich. Da die Reihe auf dem PC kommerziell nicht so erfolgreich ist wie auf den Konsolen, hält sich der Publisher mit Pressemeldungen über die Verkaufszahlen zurück. 2005 (in dem Jahr, in dem GTA: San Andreas für den PC erschienen ist) bevorzugten in den USA die Käufer von PC-Spielen Ego-Shooter, Simulationen oder Strategie-Spiele. Ähnliches gilt für das Jahr 2006. GTA: San Andreas ist laut GameSpot kurz nach der Veröffentlichung für den PC von Platz vier der Verkaufscharts auf Platz 20 gefallen. Als die Internetseite Kotaku den CEO von Take-Two Interactive am 15. September 2011 falsch zitierte und fälschlicherweise behauptete, dass GTA IV das meistverkaufte Spiel der Reihe sei, korrigierte ein Rockstar-Games-Sprecher und behauptete, dass San Andreas mit 27,5 Millionen verkauften Einheiten weltweit die Reihe anführe. Grand Theft Auto V generierte bereits am ersten Tag der Veröffentlichung einen Umsatz von 800 Millionen US-Dollar ( Millionen Euro; Millionen Schweizer Franken) und brach zwei Tage später laut Take-Two Interactive die Marke von einer Milliarde US-Dollar Umsatz. Somit ist es das Unterhaltungsprodukt, das bis dato am schnellsten diese signifikante Marke bricht (Stand September 2013). Laut dem Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) hat sich der Blockbuster in nur einer Woche mehr als eine Million Mal im deutschen Markt verkauft. Dafür bekommt der Ausnahmetitel den BIU Sales Multiplattform Award. Darüber hinaus wird der PS3-Version von Grand Theft Auto V für mehr als 500.000 verkaufte Einheiten den Sales Award Sonderpreis verliehen und der Xbox 360 Version den Sales Award in Platin für mehr als 200.000 verkaufte Spiele. Im August 2022 gab Take-Two Interactive bekannt, dass bis desselben Jahres über 170 Millionen Exemplare verkauft wurden. Verkaufszahlen (weltweit) in Millionen Einheiten Auszeichnungen VUD Awards Alle Spiele der GTA-III-Reihe wurden in Deutschland mindestens 200.000 Mal verkauft und erreichten damit Platin-Status. Auszeichnungen des Verbandes der Unterhaltungssoftware GTA III: Gold (2001), Platin (2002) GTA: Vice City: Gold (2002), Platin (2002) GTA: San Andreas: Gold (2004), Platin (2004) Gold für 100.000, Platin für 200.000 verkaufte Einheiten. Entertainment & Leisure Software Publishers Association (ELSPA) sales awards (England) In England bekamen folgende Spiele Diamond Awards für mindestens eine Million, Double Platinum für mindestens 600.000 und Platinum für mindestens 300.000 verkaufte Einheiten: GTA 2: Platinum GTA III: Diamond GTA: Vice City: Diamond GTA: San Andreas: Diamond GTA Liberty City Stories: Double Platinum GTA Vice City Stories: Platinum GTA IV: Double Platinum Game Developers Choice Awards für GTA III 2002 Game of the Year Excellence in Game Design Game Innovation Spotlights MTV Game Awards für GTA IV 2008 Game of the Year Best Supporting Role (für den Charakter Brucie in GTA IV) You Got The Style Guinness-Buch der Rekorde 2008 erhielt GTA IV zwei Einträge im Guinness-Buch der Rekorde: „Erfolgreichste Einführung eines Videospiels“ und „Erfolgreichste Einführung eines Entertainment-Produktes“. Bewertungen Wie aus der obigen Übersicht erkennbar, werden die GTA-Spiele durchweg positiv beurteilt. Als Stärken der Spiele werden die detaillierte Spielwelt, Handlungsfreiheit, Abwechslungsreichtum, Musik (in Version V Tangerine Dream, Woody Jackson, The Alchemist, Oh No, DJ Shadow) und atmosphärisch treffende Wiedergabe der jeweiligen Zeitepochen genannt. Auf der negativen Seite stehen meist eher technische Aspekte, wie die fehlende Möglichkeit, während einer Mission zu speichern oder kleinere Grafikprobleme. Die Gewaltdarstellung wird von den Spieletestern eher neutral dargestellt. Für Paul Kautz von 4Players war GTA III „eines der besten PC-Spiele überhaupt“. Er habe „selten ein Spiel mit derartiger Handlungsfreiheit“ erlebt. Er lobt „Grafik, Sound, Spielwitz und Mittendrin-Gefühl“. Negative Punkte „wie Grafikfehler, das eingeschränkte Speichersystem oder die eine oder andere maue Mission“ vermögen aus seiner Sicht „den Spielspaß kaum zu bremsen“. Das Spiel sei aber nur für Spieler geeignet, die „kein Problem mit der teils heftigen Gewaltdarstellung“ haben. Seine Zusammenfassung lautet: „Geht und kauft Euch eines der derzeit besten PC-Spiele überhaupt!“ Ähnliches gilt für GTA: Vice City: Für Thomas Weiß der Zeitschrift PC Games ist GTA: Vice City trotz einiger Mängel ein fast perfektes Spiel. Er schreibt: „Warum kann man nicht unmittelbar nach Missionsbeginn den Spielstand sichern? Wieso lässt sich die Mausgeschwindigkeit nicht ordentlich justieren? Wieso rennt Tommy durch die Straßen, als hätte er einen Düsenantrieb eingebaut? Vice City ist nicht perfekt – aber schon nahe dran. Nie war eine Spielestadt lebensechter; […] Nie waren Zwischensequenzen cooler […] Wenn Sie sich dieses Jahr nur ein Spiel kaufen wollen, dann dieses – besser können Sie Ihr Geld nicht anlegen.“ Etwas zurückhaltender in der Wortwahl, aber im Ergebnis nicht wesentlich anders, schreibt Christian Stöcker in Spiegel Online unter dem Titel Der pervertierte amerikanische Traum: „Die Titel der Grand-Theft-Auto-Serie gehören zu den meistverkauften Spielen überhaupt. Sie sind gewalttätig, amoralisch und höchst umstritten. Die neueste Folge, ‚San Andreas‘, ist dennoch ein Meilenstein – nicht nur weil sie das wohl erste wirklich schwarze Videospiel ist.“ Der Titel des Artikels bezieht sich dabei auf die typischen Handlungen der Spiele: „Ziel dieser Spiele ist es, mit Autodiebstahl, Auftragsmorden und gelegentlichen Botengängen vom Nobody an die Spitze der Unterwelt einer Großstadt aufzusteigen: Der pervertierte amerikanische Traum.“ Wie andere Kritiker auch ist er von der Handlungsfreiheit und der Art der Darbietung begeistert: „Und auch ‚San Andreas‘ ist wieder ein Meilenstein. Noch nie wurde in einem Spiel eine so ausgefeilte Geschichte mit so viel Aufwand erzählt, kombiniert mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten für Aktivitäten abseits der Story.“ Inhaltlich stellt er zudem ein Niveau fest, das über dem Niveau der sonst üblichen Shootern liegt: „Themen wie die Iran-Contra-Affäre oder der Rodney-King-Prozess und die anschließenden Rassenunruhen in LA schwingen im Hintergrund mit. Mit tumben Shootern wie ‚Doom III‘ hat all das nichts zu tun.“ Und letztlich findet er auch einige Mängel: „Weil die Wege so weit sind, nervt es gelegentlich, eine verpatzte Mission wiederholen zu müssen, und manche sind unverhältnismäßig schwer. Die Karte im Spiel ist ungenau und unübersichtlich, die Grafik ruckelt hin und wieder – perfekt ist „San Andreas“ also nicht.“ Er schließt mit den Worten: „ … und wer wissen will, wo es hingeht mit den Videospielen, sollte zumindest einen langen Blick darauf werfen.“ Auch GTA V erhielt gute Kritiken. Mathias Oertel schreibt auf 4Players: Literatur David Kushner: Jacked: The Outlaw Story of Grand Theft Auto. Wiley 2012, ISBN 978-0-470-93637-5. Nate Garrelts: The Meaning and Culture of Grand Theft Auto: Critical Essays. Jefferson, North Carolina, Vereinigte Staaten, 2006, McFarland, ISBN 978-0-7864-2822-9. Weblinks Offizielle Website zu allen Grand-Theft-Auto-Spielen (englisch) Deutsches Grand-Theft-Auto-Wiki Artikel über die Historie der GTA-Reihe von IGN (englisch) Einzelnachweise Computerspielreihe Rockstar Games
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https://de.wikipedia.org/wiki/Karl%20Alexander%20von%20M%C3%BCller
Karl Alexander von Müller
Karl Alexander von Müller (* 20. Dezember 1882 in München; † 13. Dezember 1964 in Rottach-Egern) war ein deutscher Historiker, der sich als Gegner der Weimarer Republik hervortat, unter den Nationalsozialisten führende Funktionen im indoktrinierten Wissenschaftsbetrieb innehatte und ein knappes Jahrzehnt die Historische Zeitschrift herausgab. Im Ersten Weltkrieg propagierte er eine unverminderte Fortführung des Krieges. Er war von 1914 bis 1933 Mitherausgeber der zunehmend radikalnationalistischen Süddeutschen Monatshefte. Im Jahr 1917 wurde er zum Syndikus der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. In der Weimarer Republik war er ein gefragter Redner und Publizist für zahlreiche republikfeindliche Gruppierungen. Nach mehreren gescheiterten Berufungsverfahren wurde Müller 1928 an der Universität München Professor für bayerische Landesgeschichte. Im nationalsozialistischen Deutschland stieg Müller zu einem der einflussreichsten Historiker auf und stand 1942 auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ihm ging es um eine Integration der deutschen Geschichtswissenschaft in den Nationalsozialismus. Zugleich betrieb er konsequent den Ausschluss der jüdischen Mitarbeiter aus der Wissenschaft. Von 1935 bis 1944 hatte er die Herausgeberschaft der renommierten Historischen Zeitschrift inne. Von 1936 bis 1943 bekleidete er als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ein einflussreiches wissenschaftsorganisatorisches Amt. Im ersten Kriegsjahr widmete er sich dem propagandistischen Kampf gegen England. Seine erfolgreichste Schrift in der NS-Zeit war eine Propagandabroschüre über das deutsch-englische Verhältnis. Außerdem trat er für die Neuordnung Europas im Sinne des nationalsozialistischen Deutschlands ein. Der Zusammenbruch des NS-Regimes bedeutete für Müller 1945 den Verlust sämtlicher Ämter. In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten kämpfte Müller um seine Rehabilitierung. Damit ging sein weitgehend erfolgreiches Bemühen einher, die eigene Lebensleistung durch die Veröffentlichung seiner Memoiren möglichst günstig erscheinen zu lassen. Diese und seine Publikationen zum bayerischen Volkstum stießen auf große Resonanz; auch öffentliche Ehrungen wie die Verleihung des Bayerischen Verdienstordens im Mai 1961 blieben nicht aus. In der Geschichtswissenschaft spielte Müller nach 1945 keine Rolle mehr. Seine akademischen Schüler vermieden eine kritische Auseinandersetzung mit Müllers Wirken in der NS-Zeit, wie kritische Stimmen dazu in der Geschichtswissenschaft insgesamt die Ausnahme blieben. Müllers suggestiver Selbstinszenierung mit Hilfe seiner Memoiren konnten erst in jüngster Vergangenheit neutrale Ergebnisse aus umfangreichen Archivforschungen gegenübergestellt werden. Leben Herkunft und Jugend Karl Alexander von Müller wurde am 20. Dezember 1882 als erstes von vier Kindern Ludwig August von Müllers und dessen Ehefrau Marie von Burchtorff (1857–1933) in München geboren. Er stammte aus großbürgerlichen Kreisen. Sein Vater war Kabinettssekretär König Ludwigs II., wurde 1887 Polizeipräsident von München und 1890 bayerischer Kultusminister, 1891 wurde er nobilitiert. Sowohl Müllers Vater als auch sein Großvater mütterlicherseits, Karl Alexander von Burchtorff, zählten zur bayerischen Beamtenelite. Ab 1893 besuchte er bis zum Abitur 1901 das Wilhelmsgymnasium München. Dort gehörte er zu den besten Schülern mit durchgängig sehr guten Noten. Seinen Vater verlor Müller 1895 im Alter von zwölf Jahren. Durch seine Herkunft genoss er ein kulturell anregendes Elternhaus und erhielt eine vorzügliche Erziehung. Studium Wie einst sein Vater begann Müller im Herbst 1901 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität München. Dabei wurde er von der Stiftung Maximilianeum gefördert, die das Studium einer kleinen Auswahl begabter bayerischer Studenten finanziert. Im Herbst 1903 gehörte Müller zu den ersten fünf deutschen Rhodes-Stipendiaten, was ihm ein Studium an der Universität Oxford ermöglichte. Er ging an das dortige Oriel College. Dieser wegen einer Erkrankung nur zweisemestrige Englandaufenthalt regte Müller zu einer lebenslangen Beschäftigung mit der englischen Geschichte an. Seine Heimat München hat er nach seiner Rückkehr in den kommenden Jahrzehnten nie für längere Zeit verlassen. Im März 1905 legte er die juristische Zwischenprüfung mit „Auszeichnung“ ab. Trotz erfolgreichen Examens entschied sich Müller im Jahre 1906 für ein Geschichtsstudium. Diesen Wechsel zur Geschichte stellte Müller Jahrzehnte später in seinen Memoiren als Erweckungserlebnis dar. Ab Herbst 1906 studierte er Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität. Seine wichtigsten akademischen Lehrer waren Hermann von Grauert, Michael Doeberl und vor allem Sigmund von Riezler. Schon im Juli 1908 wurde er mit der von Sigmund von Riezler und Karl Theodor von Heigel begutachteten Arbeit Bayern im Jahre 1866 und die Berufung des Fürsten Hohenlohe promoviert. Die aus gedruckten Quellen erarbeitete Untersuchung behandelte die Vorgeschichte des Ministeriums Hohenlohe. Müllers Studie wurde positiv aufgenommen. So äußerten sich einflussreiche Historiker wie Michael Doeberl, Walter Goetz, Hermann Oncken und Erich Marcks zustimmend. Die Arbeit erschien im Juni 1909 beim Oldenbourg Verlag, einem der führenden Verlage für geschichtswissenschaftliche Literatur. Müller galt durch sein Erstlingswerk als vielversprechende historische Nachwuchshoffnung. Eine erste Anstellung fand er im Januar 1911 als Akteneditor bei der Münchener Historischen Kommission, wo er bis November 1917 in der Abteilung Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges tätig war. Erster Weltkrieg Müller meldete sich am 6. August 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, zum Militärdienst. Der 32-Jährige wurde jedoch wegen seines labilen Gesundheitszustandes nach wenigen Tagen ausgemustert. Müller war Schriftführer und Kassierer des Roten Kreuzes für München und Oberbayern. Er erhielt für seine Arbeit das König Ludwig-Kreuz und das Verdienstkreuz für Kriegshilfe. Sein Sanitätsdienst war unter den deutschen Historikern eine seltene Ausnahme. Das „Augusterlebnis“ hatte wesentlichen Einfluss auf seine weitere berufliche Karriere. Der Nachwuchshistoriker wandelte sich zum Kriegspublizisten. In der Kriegspublizistik entfaltete er durch Vorträge und Veröffentlichungen in den Süddeutschen Monatsheften eine umfangreiche Tätigkeit. Zugleich kam seine wissenschaftliche Arbeit zum Stillstand. Müller war in München Mitbegründer des „Volksausschusses für rasche Niederkämpfung Englands“ und gehörte in der Deutschen Vaterlandspartei zu den Gründungsmitgliedern des bayerischen Landesverbandes. Er teilte anders als fast alle seine Fach- und Altersgenossen nicht das „Fronterlebnis“. Der Krieg beeinflusste ihn dennoch tiefgreifend und führte zu einer radikalen Haltung in seiner Publizistik. Ernst Schulin rechnete Müller in seiner generationsgegliederten Betrachtung – trotz abweichender Erfahrungen – zur „Frontgeneration“ der zwischen 1880 und 1899 Geborenen. Müllers Einsatz in der Kriegspublizistik schadete seinem Ansehen als Wissenschaftler keineswegs. Vielmehr nahm die Historikerschaft des späten Kaiserreiches seine Beiträge mit Begeisterung auf. Noch 1929 dankte Siegfried A. Kaehler „für so manche Anregungen, welche ich als ständiger, wenn auch nicht unkritischer Leser der Süddeutschen Monatshefte Ihren […] Arbeiten entnommen habe“. Die Anmeldung zur Habilitation hatte Erich Marcks „seit Jahren erwartet u. gewünscht“. Für Marcks war Müller eine „Hoffnung ersten Ranges“. Dessen akademischer Lehrer Riezler wünschte, dass Müller seine bis 1914 in acht Bänden veröffentlichte Geschichte Baierns fortsetze und beende. Müller wurde 1916 ohne Habilitation oder weitere Forschungserträge seit der Dissertation als außerordentliches Mitglied in die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Er hatte damit auf institutioneller Ebene mit seinen Lehrern und Förderern gleichgezogen. Im Jahr 1917 habilitierte er sich über Joseph Görres. Noch während des Krieges wurde er im Dezember 1917 zum Syndikus der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. In dieser Funktion blieb er bis 1928. Als Syndikus kümmerte er sich um den Geschäftsbetrieb der Akademie und die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates. Durch die häufigen Wechsel im Präsidentenamt kam Müller eine wichtige Position zu, da jeder neue Präsident bei den alltäglichen Geschäften auf den Rat des Syndikus zurückgriff. Zugleich wurde er zum 1. Dezember 1917 zum Honorarprofessor an der Münchener Universität ernannt. Für Riezler war Müller der Wunschkandidat für die eigene Nachfolge auf dem Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte. Er hob vor allem Müllers Verdienste an der „Heimatfront“ hervor. Damit wollte er die Kritik am jugendlichen Alter seines Schülers, der gerade erst abgeschlossenen Habilitation, der fehlenden Lehrerfahrung und den wenigen Forschungsarbeiten Müllers zum Mittelalter und der Reformation entkräften. Müllers Bewerbung um die Nachfolge seines Lehrers Sigmund von Riezler im Jahr 1917 blieb jedoch ohne Erfolg: Berufen wurde der wissenschaftlich erfahrenere und mehr als zwanzig Jahre ältere Michael Doeberl. Weimarer Republik Verhältnis zur Weimarer Republik Nach Kriegsende setzte Müller seine Tätigkeit als politischer Publizist fort. Besonders im publizistischen Kampf gegen den Versailler Vertrag und die „Kriegsschuldlüge“ tat er sich hervor. Laut Matthias Berg blieb er die meiste Zeit einer „Gegnerschaft zur Republik“ verhaftet. Müller wurde ein begehrter Redner und Publizist für verschiedene republikfeindliche Gruppierungen, ohne sich jedoch auf eine festzulegen. Im Juni 1919 erhielt Müller einen Ruf auf den ordentlichen Lehrstuhl für Geschichte der Technischen Hochschule Karlsruhe. Der Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Hugo von Seeliger setzte sich jedoch für Müllers Verbleib in München ein und unterbreitete den Vorschlag, ihn als Kompensation finanziell besserzustellen und zum Regierungsrat zu ernennen. So lehnte Müller den Ruf nach Karlsruhe ab, wurde 1919 zum Regierungsrat ernannt und blieb auf seinem Posten bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Auch einem 1920 erhaltenen Ruf auf die Direktorenstelle des Reichsarchivs in Potsdam folgte er nicht. Müller verlobte sich im Januar 1919 mit Irma Richter, der Tochter des Münchener Fabrikanten Georg Richter, und heiratete sie im selben Jahr. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Über seine Frau war Müller mit Gottfried Feder verschwägert, dem Wirtschaftstheoretiker der Nationalsozialisten. Feder hatte noch vor dem Ersten Weltkrieg eine Schwester von Müllers Ehefrau geheiratet. Durch Elsa Bruckmann, eine frühe Förderin Adolf Hitlers, war Müller wiederholt in direkten Kontakt mit Hitler gekommen. Bereits im Juli 1919 waren sich Müller und Hitler persönlich begegnet. Müller referierte im Rahmen „antibolschewistischer Aufklärungskurse“ vor Angehörigen der Reichswehr. Hitler besuchte einen Kurs von Müller, der über „die Schuldfrage“ einen Vortrag hielt. Dabei will Müller erstmals auf Hitler aufmerksam geworden sein. Er will auch Hitlers Vorgesetzten, seinen ehemaligen Schulkameraden Karl Mayr, auf das Redetalent Hitlers aufmerksam gemacht haben. Dieser Hinweis sei aber damals noch folgenlos geblieben. Eine Bindung Müllers an eine Partei ist nicht überliefert, seine Wahlentscheidungen sind unbekannt. Nach Elina Kiiskinen stand er der DNVP nahe. In den 1920er Jahren scheiterten trotz Erstplatzierung mehrere Berufungsverfahren. Als Nachfolger Fritz Hartungs an der Universität Kiel wurde statt Müller 1923 Friedrich Wolters berufen. Das von Willy Andreas ausgestellte Gutachten hob auf Müllers Unwillen, München zu verlassen, und auf das Fehlen von wissenschaftlichen Arbeiten ab. An der Universität zu Köln scheiterte 1925 eine Berufung Müllers am Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Die Fakultät, das preußische Kultusministerium und die gutachtenden Fachkollegen hatten sich für Müller ausgesprochen. Bei der Nachfolgeregelung von Richard Fester an der Universität Halle entschied sich das preußische Kultusministerium zum Sommersemester 1927 gegen den von der Fakultät vorgeschlagenen Müller und ernannte den politisch liberalen Otto Becker. Auch an der Universität Breslau war Müller der Erstplatzierte und wurde vom preußischen Ministerium 1928 abgelehnt. Müller begründete im dritten Band seiner Autobiographie seine Ablehnung der Republik mit seiner Zurückweisung bei den vielen Berufungen. Die Jahre zwischen 1916 und 1928 waren für ihn jedoch nach Einschätzung von Matthias Berg keineswegs ein Misserfolg. Er erhielt Anerkennung und Zuspruch in der politischen Publizistik und für seine historiographischen Veröffentlichungen. Sein Rang als Historiker wurde in Briefen und Gutachten anerkannt. Berg machte bei Müller Mitte der 1920er Jahre eine späte Annäherung an die Weimarer Republik aus. Die Goldenen Zwanziger und die Erlangung der Professur in München 1928 waren dafür entscheidend. Müller näherte sich national gesinnten, der Weimarer Republik jedoch nicht ablehnend eingestellten Personen an. Mit Lujo Brentano, Thomas Mann und dem Münchner Oberbürgermeister Karl Scharnagl engagierte sich Müller in der Münchner Sektion des Kulturbundes. Elsa Bruckmann zeigte sich im März 1929 über Müllers Umgang mit den „Bolschewiki“ entsetzt. Gemeinsam mit Thomas Mann war Müller im November 1929 Gründungsmitglied im Rotary Club. Lehrtätigkeit in München Am Abend des 8. November 1923 wollte Müller im Münchner Bürgerbräukeller eine Rede Gustav von Kahrs hören. Dadurch wurde er Zeuge des Hitlerputsches, mit dem ausgehend von München die Weimarer Republik beseitigt werden sollte. Am Folgetag forderte Müller die Studenten seines Seminars auf, sich zu Ehren der toten Putschisten für eine Schweigeminute zu erheben, während andere Historiker wie der republikfreundliche Hermann Oncken den Putschversuch verurteilten. Die politischen Vorstellungen der beiden Historiker gingen zunehmend auseinander. Als einer der frühen Förderer Müllers distanzierte sich Oncken in den 1920er Jahren von ihm. Nach Matthias Berg überbrückten allerdings die gegenseitige Akzeptanz als Fachkollege und die Zugehörigkeit zur Historikerschaft oftmals politische Differenzen. Müller übernahm 1923 einen Lehrauftrag für „Historische Politik“. In seinen Seminaren wurden regelmäßig aktuelle politische Fragen behandelt. Dadurch bekam er Zulauf von Studenten aus allen politischen Richtungen. In seinen Vorlesungen saßen die Nationalsozialisten Rudolf Heß, Hermann Göring und Baldur von Schirach. Aber auch junge sozialistische Historiker wie Wolfgang Hallgarten oder Michael Freund besuchten Müllers Lehrveranstaltungen. Im Jahr 1923 wurde Müller ordentliches Mitglied der Historischen Kommission, 1927 wurde er in die neu gegründete Kommission für bayerische Landesgeschichte berufen und 1928 als ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. In seinem Wahlvorschlag hob Hermann Oncken Müllers „literarisches Formtalent“ und die bereits vor zwei Jahrzehnten veröffentlichte Dissertation lobend hervor. In der Wahlsitzung im Februar 1928 erhielt Müller alle 19 abgegebenen Stimmen. Im selben Jahr wurde er Sekretär der Münchener Historischen Kommission. Michael Doeberl starb im März 1928 unerwartet. Nur drei Monate später übernahm Müller dessen Lehrstuhl für bayerische Geschichte. Seine Vorlesungen wurden gut besucht; die Vorlesung Deutsche Geschichte im Spiegel der bayerischen Entwicklung hatte 179 Hörer. In den Folgejahren lag die Hörerzahl bei Müllers Veranstaltungen bei 300 bis 400. Auch seine Schülerzahl nahm nun beträchtlich zu. Bis zum Wintersemester 1927/28 hatte er lediglich acht Dissertationen betreut. Durch die Übernahme des Lehrstuhls stieg die Zahl der betreuten Dissertationen stark an. Müller hatte als akademischer Lehrer 228 Doktoranden. Die Arbeiten hatten ihren Schwerpunkt im Bereich der bayerischen Geschichte. Die besten Arbeiten wurden seit 1933 in der von Müller mitherausgegebenen Reihe Münchner Historische Abhandlungen, Erste Reihe: Allgemeine und politische Geschichte veröffentlicht. Zu seinen akademischen Schülern gehörten die späteren Lehrstuhlinhaber Kurt von Raumer, Alexander Scharff, Theodor Schieder, Karl Bosl, Heinz Gollwitzer, Fritz Valjavec und Wolfgang Zorn, der spätere katholisch-konservative Kultus- und Landwirtschaftsminister Alois Hundhammer sowie die Nationalsozialisten Walter Frank, Wilhelm Grau, Ernst Hanfstaengl, Karl Richard Ganzer und Reinhold Lorenz. Weitere Schüler Müllers waren Georg Franz-Willing, Anton Hoch, Wilhelm von Kloeber, Michael Schattenhofer und Klaus Schickert. Als akademischer Lehrer war er allerdings unter seinen Schülern weniger für präzises Wissenschaftshandwerk und Arbeit mit ungedruckten Quellen bekannt; vielmehr vermittelte er nach Wolfgang Zorn eher als „Essayist nach Natur und Neigung in fesselnder, zuweilen auch rührender Erzählkunst Freude am Fach und am Lernen durch Hören“. Von 1930 bis 1936 leitete Müller das Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten, obwohl er keine süd- oder osteuropäische Sprache beherrschte und auch nicht mit Veröffentlichungen in diesem Themenfeld hervorgetreten war. Er galt aber durch seine Professur für bayerische Landesgeschichte und durch die bisherige Anerkennung seiner Arbeit als geeignet für eine Vermittlerrolle zwischen Wissenschaft und Politik. Den Schwerpunkt der Aufgaben des Instituts machte Müller „im Osten, im Abwehrkampf gegen das vordringende Tschechentum“ aus. Müller unterstützte 1931 die sogenannte „wissenschaftliche Abwehrarbeit“ gegen polnische Historiker, um zu verhindern, dass diese mittels Archivbeständen, die sich in deutschen Archiven befanden, nachweisen könnten, dass „das ganze Gebiet der polnischen Ostmark alter polnischer Besitz sei“. Nationalsozialismus Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 betrachtete Müller nicht als „Epochenwende“, sondern lediglich als Amtsantritt einer weiteren „für kurzlebig gehaltenen Regierung“. Bereits im Jahr 1933 war Müllers engstes persönliches Umfeld vom Terror des neuen NS-Regimes betroffen. Die mit ihm befreundeten Publizisten Erwein von Aretin und Paul Nikolaus Cossmann wurden im März und im April 1933 verhaftet. Später wurde auch sein akademischer Schüler Hundhammer verhaftet. Durch die Verhaftung langjähriger politischer Weggefährten erfuhr Müller schon früh die Bereitschaft der neuen Machthaber zur Gewalt gegen konservative, monarchistisch orientierte Gegner des Nationalsozialismus. Dennoch wandte er sich bewusst dem Nationalsozialismus zu. Als Aretin aus der Haft entlassen wurde, riet Müller ihm zum Anschluss an den „nationalen Aufbruch“, was Aretin ablehnte. Zur Teilhabe an der Macht im Nationalsozialismus war bei Müller kein vollständiger Rollenwechsel erforderlich. Seine föderalen, monarchistischen und konfessionellen Bindungen waren relativ wenig gefestigt und hinderten ihn nicht, sich am neuen Regime rasch und engagiert zu beteiligen. Nach Nikola Becker war Müller zwar katholisch, stand aber dem politischen Katholizismus ablehnend gegenüber; seine Sympathie galt vielmehr nach 1918 dem deutschnationalen Lager, wobei er eine starke Neigung zum Nationalsozialismus entwickelte. Angesichts des Misstrauens der Nationalsozialisten gegenüber dem Münchener Rotary Club trat Müller aus dieser Vereinigung aus. Am 14. März 1933 hatte er zum letzten Mal an einem Treffen der Rotarier teilgenommen. Dafür trat er am 1. August 1933 der NSDAP bei. Kein anderer Lehrstuhlinhaber der Münchener Philosophischen Fakultät und kein anderes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde schon 1933 Mitglied der NSDAP. Müller sah sich jedoch gezwungen, seinen späten Parteieintritt zu rechtfertigen. Als Begründung dafür gab er in seinem von Rudolf Heß persönlich befürworteten Aufnahmeantrag vom 27. August 1933 an, er habe als Universitätsprofessor weitaus freier für die Verbreitung der nationalsozialistischen deutschen Staats- und Geschichtsauffassung wirken können, weil er der Partei nicht angehörte. So habe er in aller Stille Historiker für das Dritte Reich herangebildet. Durch seine Entscheidung für den Nationalsozialismus konnte er unter den neuen Machthabern Karriere machen. In den folgenden Jahren wurden ihm zahlreiche Funktionen und Mitgliedschaften zuteil. Sein Lehrauftrag wurde 1934 ausgeweitet. Zugleich wurde die landeshistorische Ausrichtung abgewertet. Müllers Professur hieß fortan „Mittlere und Neuere Geschichte mit Berücksichtigung der Bayerischen Landesgeschichte“. Seine Lehrveranstaltungen behandelten vor allem Themen der bayerischen Landesgeschichte, der deutschen Geschichte besonders des 19. Jahrhunderts und das britische Weltreich. Von 1933 bis 1935 war Müller Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität München. Dies war sein erstes wichtiges Amt in der NS-Zeit. Müller wird als „Übergangsdekan“ eingestuft, der sich den politischen Vorgaben anpasste und für die Konstituierung einer nach nationalsozialistischen Vorgaben orientierten Fakultät sorgte. Er übernahm 1935 die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift. Im Januar 1936 erhielt er für seine historisch-politische Aufsatzsammlung Deutsche Geschichte und Deutscher Charakter den Verdunpreis. Nach Meinung des Reichswissenschaftsministers Bernhard Rust war der Preis eine „verdiente Würdigung Ihrer wissenschaftlichen Gründlichkeit, künstlerischen Gestaltungskraft und nationalpolitischen Erziehergabe“. Zum Reichsgründungstag 1936 lobte Müller Hitler als den Mann, der „zähes bäuerliches Blut des alten Deutschlands in seinen Adern“ habe, aber als „Arbeiter der Stirn und der Faust zugleich“ selbst „aus dem Schoß des großen, schweigsamen Volkes“ entsprungen sei und den Entschluss gefasst habe, das Elend zu wenden. Er übernahm im Herbst 1936 die Leitung der „Forschungsabteilung Judenfrage“ des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. Im selben Jahr wechselte Arnold Oskar Meyer an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Müller übernahm daraufhin dessen Lehrstuhl für Neuere Geschichte. Ebenfalls 1936 wurde er gegen den Willen der Mitglieder vom zuständigen Ministerium zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt und blieb in dieser Funktion bis 1944. Im April 1937 wurde Müller zum korrespondierenden Mitglied der württembergischen Kommission für Landesgeschichte gewählt. Zum „Anschluss“ Österreichs 1938 verherrlichte er in der Aula der Universität München vor den versammelten Lehrenden die Leistungen des Führers. Die nationalsozialistischen Gutachten entwerfen von Müller das Bild eines vorbildlichen Nationalsozialisten und beurteilen ihn als zuverlässiges Parteimitglied. Seine „nationalsozialistische Gesinnung“ sei „in jeder Beziehung einwandfrei. Er ist ein eifriger Besucher der Parteiversammlungen. Bei Sammlungen hat er stets eine offene Hand und gibt reichlich.“ Eine erfolgreiche Einflussnahme auf die Berufung auf einen historischen Lehrstuhl ist ein Indikator für Rang und Ansehen im Wissenschaftsbetrieb der nationalsozialistischen Zeit. Bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Neuere Geschichte im Jahre 1938 sorgte Müller für die Berufung Ulrich Crämers und setzte sich damit gegen seinen Schüler Walter Frank durch, der mit Kleo Pleyer einen seiner Mitarbeiter auf den Lehrstuhl bringen wollte. Müller ging nicht offen gegen Frank vor, sondern formulierte ein Gutachten, in dem er beide Kandidaten gegeneinander abwog und den Standpunkt vertrat: „Wenn aber für irgendeine Universität, so muss für die Universität der Hauptstadt der Bewegung gerade in diesem Punkt der unbedingten Anhänglichkeit an den Führer und des Gehorsams gegen seine Weisungen völlige und positive Sicherheit gegeben sein.“ Pleyer erschien nach Müllers Gutachten als weniger zuverlässig. Ein Grund für Müllers vehementes Eintreten für Crämer war, dass er sich von ihm eine größere Entlastung in der Lehre und mehr Freiraum für seine zahlreichen Ehrenämter erhoffte. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften wählte Müller 1939 zum korrespondierenden Mitglied. Im selben Jahr zog ihn die Wehrmacht als Englandexperten heran; er sollte die weltgeschichtliche Rolle des englischen Commonwealth untersuchen. Nach Meinung der SS war Müller dank seinem bisher erworbenen Ansehen geeignet, auch im Ausland bei „den Neutralen“ zu wirken. Aus dieser Tätigkeit ging die Propagandabroschüre Deutschland und England. Ein weltgeschichtliches Bild hervor. Im Juli 1942 wurde Müller in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Zu seinem 60. Geburtstag am 20. Dezember 1942 stand er auf dem Höhepunkt seines beruflichen Erfolges. Für den bayerischen Gauleiter Paul Giesler war Müller im Jahr 1942 ein „überzeugter Nationalsozialist“ und „einer der bedeutendsten lebenden deutschen Historiker“. Mit der Verleihung der Goethe-Medaille am 60. Geburtstag erreichte Müller den Höhepunkt seiner Anerkennung durch das Regime. Wenige Wochen zuvor war sein früherer langjähriger Freund und Mitherausgeber der Süddeutschen Monatshefte Paul Nikolaus Cossmann im Konzentrationslager umgekommen. Müller hatte seit Cossmanns Entlassung aus der Gestapohaft im April 1934 den Kontakt zu ihm gemieden. Über den Krieg an der Ostfront war Müller informiert, denn sein Schüler Hans Rall berichtete ihm davon während eines Heimaturlaubs. Noch im September 1941 zeigte sich Müller begeistert von den militärischen Eroberungen: „Die bisherigen Erfolge auch auf diesem Schauplatz sind ungeheuer; was man von unsern Neuordnungsplänen hört, geht in Perspektiven, bei denen einem schwindeln kann.“ Über viele Jahre pflegte Müller eine Freundschaft mit dem Philosophie-Professor Kurt Huber, einem engen Vertrauten der Geschwister Scholl, der 1943 hingerichtet wurde, doch nach der Verhaftung seines Freundes im Februar 1943 blieb er untätig. Als Kurt Huber bei seiner Verhandlung Müller als Entlastungszeugen aufrufen lassen wollte, ließ sich dieser nach dem Augenzeugenbericht Falk Harnacks entschuldigen, „er sei dienstlich aus München abwesend“. Nach der Ermordung Hubers unterhielt Müller weiterhin guten Kontakt zu dessen Witwe Clara; das Ehepaar Müller unterstützte Clara finanziell. Matthias Berg vertrat die These, Müller habe sich ab 1942 langsam vom NS-Regime zurückgezogen. Diese Ablösung resultierte nach Berg jedoch nicht aus der Verurteilung und Hinrichtung Hubers, sondern aus den zunehmenden Misserfolgen des Regimes. Im Spätherbst 1941 war sein Bruder Albert im Krieg gefallen. Nach Berg war dies ein erster persönlicher Anlass, die publizistische Unterstützung für den nationalsozialistischen Krieg zu überdenken. Dieser Meinungswandel wurde allerdings nicht konsequent vollzogen und wirkte sich nicht auf Müllers öffentliches Auftreten aus. Noch im Februar 1943 hielt Müller vor Gauleiter Giesler und Reichsstatthalter Franz Ritter von Epp eine Rede über England. Im März 1943 auf einer „Jungakademiker-Tagung im Luftgaukommando VII“ und im folgenden Jahr in der SS-Junkerschule Bad Tölz hielt er Vorträge zu „Gestalt und Wandel des Reiches“. Im Juni 1944 wurde er zu einem „antijüdischen“ Kongress nach Krakau eingeladen. Dort sollte er einen Vortrag über die „Rolle des Judentums in der Geschichte Deutschlands und ihre Bekämpfung“ halten. Im Zuge der Planungen für den Kongress sollte nicht der slowakische Staatsminister Alexander Mach, sondern Müller über die Judenfrage in Europa referieren. Die Tagung wurde jedoch wegen des Kriegsverlaufes abgesagt. Nach Matthias Berg verdeutlicht die Einladung zum Kongress Müllers Rolle als führender Historiker im nationalsozialistischen Deutschland. Müller übernahm 1943 die Herausgeberschaft der schweizerischen Literatur- und Kulturzeitschrift Corona. Seine Lehrtätigkeit als Professor setzte er fort. In den letzten beiden Kriegsjahren gehörten Heinz Gollwitzer und Wolfgang Zorn zu seinen wichtigsten Schülern. Zorn schloss seine Promotion bei Müller wenige Tage vor Kriegsende ab. Müllers Wohnung wurde durch einen alliierten Luftangriff zerstört. Ab dem Winter 1943/44 hielt er sich vom zunehmend zerstörten München fern und lebte fast ununterbrochen im oberbayerischen Rottach-Egern am Tegernsee. Im Januar 1945 meldete er sich beim Dekan krankheitsbedingt vom Universitätsbetrieb ab. Ihm wurde vom Arzt eine körperliche wie nervliche Überlastung bescheinigt. Nachkriegszeit Entnazifizierung und Verlust aller Ämter und Funktionen In den ersten Jahren nach dem Krieg war Müller weitgehend isoliert. Seine beiden Söhne waren an der Ostfront in Gefangenschaft geraten. Im Jahre 1944 war Müller als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Mariano San Nicolò abgelöst worden. Er hatte vergeblich versucht, eine Wahl des Präsidenten durch die Mitglieder zu verhindern. Später behauptete er, er habe sich freiwillig von der Präsidentschaft zurückgezogen. Die Akademie warf Müller vor, die Präsidentschaft gegen den Willen der Mitglieder übernommen und ihre institutionelle Autonomie eingeschränkt zu haben. Müller legte am 29. August 1945 eine sechzehnseitige Verteidigungsschrift vor, in der er den Vorwürfen widersprach. Nach seiner Darstellung konnte die Akademie dank seiner Amtsführung „als eine der wenigen überlebenden deutschen Institutionen ohne grundstürzende Veränderung in eine neue Zeit“ eintreten. Sein Wirken als Präsident habe auf Versöhnung abgezielt. Er habe die „positiven“ Aspekte des Nationalsozialismus mit der deutschen Kultur und Geschichte vereinigen wollen. Seine Argumentation konnte in der Akademie nur bedingt überzeugen. Am 23. Dezember 1945 erklärte Müller auch auf Rat einiger Akademiemitglieder gegenüber Mariano San Nicolò seinen „freiwilligen Austritt“ aus der Akademie. Damit erkannte er die Berechtigung der Vorwürfe gegen seine Person jedoch nicht an, vielmehr hielt er seine Verteidigung „im vollen Umfang aufrecht“. Zu Beginn des Jahres 1946 wurde Müller auf Weisung der Militärregierung als Hochschullehrer entlassen. Damit hatte er im Frühjahr 1946 alle seine Ämter und Funktionen verloren. Im März 1946 meldete er sich arbeitslos. Der 63-jährige Müller war für den Erhalt von Lebensmittelkarten als Heilkräutersammler in Rottach-Egern tätig. Nach Müllers eigener Darstellung, die er im Jahr 1949 gegenüber der Österreichischen Akademie der Wissenschaften über die Jahre zwischen 1933 und 1949 abgab, war es bei der Übernahme der Historischen Zeitschrift seine Absicht, „Altes und Neues auf dem gemeinsamen Boden sachlicher kritischer Wissenschaft zusammenzuführen, aber diese Aufgabe wurde von Jahr zu Jahr schwieriger […]. Eine verwandte Kurve entwickelte sich auch in der Leitung der Bayer. Akademie der Wissenschaften“. Es sei jedoch gelungen, „die Selbständigkeit der Körperschaft, trotz mancher Schwierigkeiten, zu bewahren und ihre Tätigkeit in den kartellierten wie in den eigenen Kommissionen nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern weiter auszubauen“. Im Entnazifizierungsverfahren gab Müller in seinem „Meldebogen“ an, „kein Parteibuch“ zu haben. Er sei nur Anwärter der NSDAP gewesen. Zu seiner Entlastung führte er die „enge Verbindung“ mit Kurt Huber und seinen Schutz für rassisch Verfolgte an. Sich selbst ordnete Müller daher in die Gruppe 4 der Mitläufer ein. Er versuchte seine einflussreiche Stellung als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften umzudeuten, indem er sich als „Schutzmacht“ einer bedrängten wissenschaftlichen Institution inszenierte: Er habe die Eigenständigkeit und die wissenschaftliche Unabhängigkeit der akademischen Institute aufrechterhalten und ihre Mitglieder gegen Anfeindungen und Denunziationen schützen wollen. Müller begann bis zum Frühjahr 1948 eine große Zahl entlastender Zeugnisse zu sammeln. Dabei stammten seine „Persilscheine“ sämtlich von eigenen Schülern und jüngeren Fachgenossen, nicht von seinen Kollegen. Er legte in seinen Bittgesuchen dar, dass sich sein Handeln nach 1933 nicht verändert habe. Von seinem Schüler Fritz Wagner erbat er die Bestätigung, dass er dessen Habilitation und berufliches Fortkommen trotz Wagners christlicher Einstellung gefördert habe. Wagner hob in seinem Gutachten auf Müllers Wissenschaftlichkeit ab und betonte dessen „streng methodisch wissenschaftliche Schulung“. Müller wurde im Februar 1948 als „Mitläufer“ entnazifiziert und mit 2000 RM Strafe belegt. Die Geldstrafe stellte ihn vor finanzielle Schwierigkeiten. Der weitgehend einkommenslose Müller konnte die Spruchkammersühne anscheinend teilweise durch den Verkauf nationalsozialistischer Literatur an Kurt Hubers Witwe Clara bezahlen. Nachdem Müller seine Strafe entrichtet hatte, begann er im Mai 1948 Ansprüche zu formulieren. Bei der Philosophischen Fakultät der Münchner Universität beantragte er die „Wiedereinsetzung in die Beamtenrechte zum Zwecke der Emeritierung“. Eine Emeritierung wurde ihm vom Kultusministerium jedoch verweigert. Auch die Fakultät konnte angesichts seiner exponierten Stellung im NS-Regime einer Emeritierung nicht zustimmen und beantragte Anfang Juni die Wiedereinsetzung in seine Beamtenrechte zum Zwecke der Pensionierung. Tatsächlich wurde Müller am 5. Juli 1948 durch seinen ersten Doktoranden, den nunmehrigen Kultusminister Hundhammer, pensioniert. Die akademischen Rechte eines emeritierten Professors wurden ihm aber verweigert. Die Versetzung in den Ruhestand bezeichnete Müller 1950 in einem Brief an den ehemaligen Akademieangestellten Wilhelm Reif als „Unrecht“. Er hoffte weiter auf die Umwandlung in eine formelle Emeritierung, die er schließlich nach mehreren Anträgen im Jahr 1956 erreichte. Müller bezog ein jährliches Ruhegehalt von 11.600 DM plus Wohnungszuschuss. Versuche der Rehabilitierung und publizistischer Wiederbeginn Müllers fast zwei Jahre dauernde Tätigkeit als Heilkräutersammler ließ ihm ausreichend Zeit, sich auf die historische und regionale Publizistik zu konzentrieren. Er begann auch die Arbeit an seinen Lebenserinnerungen bis zum Jahr 1914. Im Juni 1949 veröffentlichte er in der regionalen Kulturzeitschrift Zwiebelturm einen kurzen Beitrag über das ländliche Fischhausen im Jahre 1903. Außerdem arbeitete er an einer Chronik zum 100-jährigen Bestehen der Haindl’schen Papierfabriken. Sein Schüler Zorn besprach die weitgehend ohne Anmerkungen verfasste Chronik positiv. Wilhelm Treue hätte statt „der schönen Beschreibung von Situationen genauere Einzelangaben etwa über wirtschaftliche und soziale Verhältnisse“ gewünscht. Er hielt deshalb eine „Beratung durch einen Wirtschaftshistoriker“ für angebracht. Trotz Treues Kritik versuchte Müller weiter in der historischen Disziplin wahrgenommen zu werden. Dafür benötigte er aber eine vorzeigbare Arbeit. Er hatte einen historischen Essay über Danton verfasst. Sein bisheriger Hausverlag, die Deutsche Verlags-Anstalt, beglückwünschte ihn „zu Gelingen dieses Kabinettstückchens historischer Essayistik“. Müller drängte deshalb auf eine zügige Veröffentlichung. Im Herbst 1949 erschien sein Danton bei der Deutschen Verlags-Anstalt. Die Besprechungen von Max Braubach und Martin Göhring hoben die Darstellungskunst des Verfassers hervor, vermerkten aber deutlicher als früher die fachlichen Defizite der Arbeit. Außerdem begann Müller den publizistischen Nachlass einiger einst mit ihm verbundener Opfer des NS-Regimes zu bearbeiten. Müller äußerte sich mehrfach zum Schicksal Cossmans. In einem 1949 veröffentlichten Beitrag für die katholische Zeitschrift Hochland schilderte er Cossmanns Lebensgeschichte und erwähnte eine eigene Schuld, wenngleich sehr abstrakt. Er könne das „Emporsteigen im Martyrium“ Cossmanns, der im „verhältnismäßig beste[n] jüdische[n] Konzentrationslager“ umgekommen sei, nur an seinem „eigenen Versagen“ messen. Müller verfasste 1957 auch den Beitrag über Cossmann in der Neuen Deutschen Biographie. In Cossmanns persönlichem Umfeld wurde Müllers publizistische Arbeit mit Dankbarkeit aufgenommen. Seit Ende der 1940er Jahre trat Müller wieder als Redner auf. In Rottach-Egern hielt er von 1948 bis 1951 Vorträge über bayerische Geschichte, zu denen regelmäßig 100 bis 120 Besucher erschienen. Seit Mitte der 1950er Jahre arbeitete er an einer Fortsetzung seiner Erinnerungen über das Jahr 1919 hinaus. Zwischen 1951 und 1966 erschienen insgesamt drei Bände seiner Autobiographie. Müllers Wahrnehmung als Fachwissenschaftler blieb nach dem Krieg jedoch gering. Seine älteren Arbeiten sah er in der Nachkriegszeit keineswegs als überholt an. An einer Neuauflage seiner älteren Arbeiten hatten jedoch nicht einmal ihm freundlich gesinnte Verlage Interesse. Seine jüngsten Arbeiten wollte Müller einem größeren Fachkreis bekannt machen. Er wurde Mitglied im neu gegründeten Historikerverband. Im Jahr 1949 besuchte er den Deutschen Historikertag in München. In den Jahrzehnten zuvor hatte Müller hingegen lediglich 1913 den Wiener Historikertag besucht. Müller konnte auch wieder freundschaftliche Kontakte nach Oxford knüpfen. Der geringe Informationsstand der englischen Historiker gab ihm die Möglichkeit, eine beschönigende Fassung seines Engagements im Wissenschaftsbetrieb des nationalsozialistischen Deutschlands zu verbreiten. Als im März 1948 George Norman Clark Provost am Oxforder Oriel College wurde, nahm Müller Kontakt zu ihm auf und gratulierte zur Wahl. Ihm schilderte er in der weiteren Korrespondenz, dass er die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift übernommen habe, um das Ende der Zeitschrift und einen Kandidaten der Partei zu verhindern. Es gelang ihm auch, in den Kreis der Oxforder Rhodes Scholars zurückzukehren. Auch als Zeitzeuge über den Nationalsozialismus blieb Müller wirkmächtig und erhielt viel Aufmerksamkeit. Im Frühjahr 1959 erkundigte sich der jüdische Journalist Hans Lamm über die nationalsozialistische „Judenforschung“. Ihm war unklar, ob es ein oder zwei Institute in München oder Frankfurt gab. Müller grenzte sich in seiner Antwort von der NSDAP ab und hob auf die strenge Wissenschaftlichkeit seines Handelns und des Münchner Instituts ab, die dann zur Gründung in Frankfurt geführt habe. Helmut Heiber besuchte für seine Studie über Walter Frank und das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands Müller 1959 in Rottach-Egern. Auch Ernst Deuerlein, Georg Franz, Helmut Neubauer und Reginald H. Phelps wandten sich für ihre Studien an ihn. Große Beachtung fand Müller in den fünfziger und sechziger Jahren durch seine Radiobeiträge im Bayerischen Rundfunk. Er übernahm 1951 die Sendung zum 300. Todestag des Kurfürsten Maximilian I. Nicht nur in den Rundfunkbeiträgen, sondern auch in einer Vielzahl von Artikeln wirkte er für das „Bayerische Volkstum“. Von 1953 bis 1963 war er Mitherausgeber der Heimatzeitschrift Tegernseer Tal und autorisierte mit dem Kürzel KAM. Regelmäßig veröffentlichte er im Merian und in der Zeitschrift Schönere Heimat des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Durch den publizistischen Wiederbeginn hoffte Müller auch auf eine institutionelle Rückkehr bis hin zu einer vollständigen Rehabilitierung. Nach Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens wurde er 1949 einstimmig in die Kommission für bayerische Landesgeschichte wieder aufgenommen. Auch die Österreichische Akademie der Wissenschaften erkannte Müller als Mitglied wieder an. Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hingegen verweigerte ihm eine erneute Aufnahme. Damit konnte er sich nur schwer abfinden. In einem Brief an Walter Goetz schrieb er im September 1950: „Wenn ich sehe, was sich sonst ringsum an Rehabilitierungen begibt, will mir der dauernde Ausschluß von Srbik und mir gerade aus der Hist. Kommission doch schwer eingehen.“ Auch seine weiteren Bemühungen um Wiederaufnahme in die Kommission und Akademie blieben erfolglos. Immerhin wurde er im Mai 1953 in die Akademie der Schönen Künste gewählt. Letzte Jahre (1961–1964) Im Mai 1961 wurde Müller zusammen mit Franz Schnabel der Bayerische Verdienstorden verliehen. Die Auszeichnung erhielt er von Hans Ehard, dessen zweite Ehefrau Sieglinde Odörfer im Sommersemester 1939 bei ihm promoviert hatte. Müller wurde 1962 Ehrenmitglied des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Sein 80. Geburtstag wurde vom Institut für Bayerische Geschichte mit einer kleinen Tagung begangen, und seine Schüler besorgten eine Festschrift. Diese konnte mit Beiträgen seiner Schüler Bosl, Zorn, Raumer und Gollwitzer sowie weiterer bayerischer Landeshistoriker zwei Jahre später erscheinen. Müller starb nach langer Krankheit am 13. Dezember 1964 wenige Tage vor seinem 82. Geburtstag. Er wurde auf dem Friedhof der Kirche St. Laurentius in Egern beigesetzt. Wirken Veröffentlichungen Wissenschaftliche und populärgeschichtliche Arbeiten Müllers Dissertation über Bayern 1866 war mit 228 Seiten für damalige Verhältnisse ungewöhnlich umfangreich. Sie blieb seine umfangreichste wissenschaftliche Arbeit. Archivalien hatte er dafür nicht verwendet. Die bayerische Geschichte konzentrierte Müller vor allem auf Otto von Bismarck und die Reichseinigung. Eine Monographie zur bayerischen Geschichte verfasste er nicht. Er setzte auch nicht Riezlers Werk zur „Geschichte Bayerns“ fort. Angesichts der wirtschaftlichen Krise musste der Verlag im Juli 1932 Müller um eine Aufhebung der Vereinbarung bitten. Um den Jahreswechsel 1924/25 erschien von Müller eine Monographie zu Karl Ludwig Sand, dem Mörder von August von Kotzebue. Die Darstellung, die vor dem Hintergrund der politischen Morde an Kurt Eisner († 1919), Matthias Erzberger († 1921) und Walther Rathenau († 1922) entstanden war, wurde mehrmals aufgelegt. Müllers Sympathien galten historisch wie zeitgenössisch dem Attentäter. Wenige Tage nach der Veröffentlichung schickte er Anton Graf von Arco auf Valley, den Mörder Eisners, ein Exemplar. Das Buch kam sowohl beim Publikum als auch bei den Fachleuten an. Der als überaus kritisch geltende Georg von Below würdigte Müller wegen dieser Arbeit als „einen der besten Darsteller, die Deutschland z. Z. überhaupt besitzt“. Müllers Veröffentlichungen waren überwiegend kurze Aufsätze und Essays, die vor allem wegen ihres Stils gelobt wurden. Er versah seine Essays mit persönlichen Huldigungsadressen, mit denen er nahezu alle wichtigen Vertreter der Geschichtswissenschaft bedachte. Durch Nekrologe und Lobpreisungen trat er in der Öffentlichkeit als Vertreter der Geschichtswissenschaft hervor. Als Nachwuchshistoriker verfasste Müller einen Nachruf auf seinen akademischen Lehrer Karl Theodor von Heigel, seinen Doktorvater Sigmund von Riezler und auf den Amtsvorgänger als Syndikus Karl Mayr. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel zu Geburtstagen, etwa zu denen von Dietrich Schäfer, Erich Marcks oder Friedrich Meinecke, und sorgte für die posthume Veröffentlichung der Dissertation Adalbert von Raumers. Bei der Auswahl seiner Themen war er stets auf Ausgleich bedacht. Sein erster Beitrag in der Historischen Zeitschrift widmete sich 1913 Otto von Bismarck und Ludwig II. im September 1870. Der Beitrag verfolgte ausführlich den bayerischen Anteil an der Reichseinigung, denn, so schlussfolgerte Müller, „um so gewaltiger wächst vor unseren Augen die Arbeit und das Verdienst Bismarcks“. Nach seiner Dissertation wählte Müller den nicht nur für katholische Historiker vielversprechenden Joseph Görres als Forschungsgegenstand. Im März 1912 veröffentlichte er zu ihm eine kurze Briefedition ohne inhaltliche Kommentare. Der Beitrag wurde von Hermann von Grauert, Sigmund von Riezler, Georg Maria Jochner und Max Lenz positiv aufgenommen. Im Herbst 1912 präsentierte Müller in Würzburg auf der Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine erste Ergebnisse seiner Arbeit über Görres. Vor dem Ersten Weltkrieg erhoffte man von ihm eine bedeutende Görres-Biographie. Forschungsbeiträge Müllers blieben jedoch über mehrere Jahre aus. Im Januar 1922 veröffentlichte er in der Unterhaltungsbeilage der Münchner Neuesten Nachrichten mit dem Titel Joseph Görres. Ein deutscher Führer und Prophet einige Auszüge aus Werken von und über Görres. Müllers Führerbegriff blieb unpräzise und gewann seine Attraktivität aus seiner Anschlussfähigkeit. Im Jahr 1926 erschien – passend zu Görres' 150. Geburtstag – die Habilitationsschrift, die Müller 1917 eingereicht hatte. Die mit Anmerkungen und einem Quellenanhang ausgestattete Arbeit entsprach den wissenschaftlichen Gepflogenheiten. Müller konzentrierte sich darin gänzlich auf Görres’ Aufenthalt in Straßburg von Oktober 1819 bis Mai 1820, ohne diesen in das weitere Leben und Wirken des Gelehrten einzuordnen. Die sprachlich überzeugende Arbeit war keine problemorientierte Analyse. Die Habilitation warf keine neuen Fragen auf und wollte keine Kontroversen in der Fachwelt erzeugen, sondern war vor allem konsensorientiert ausgerichtet. Sie entsprach der gängigen Görres-Rezeption in der Zeit der Weimarer Republik als „Seher und Rufer zu nationalem Selbstbewußtsein“. Müllers Veröffentlichungen richteten sich vor allem an ein größeres Publikum. Mit Erich Marcks gab er das dreibändige Sammelwerk „Meister der Politik“ heraus. Laut Vorwort sollten damit „die entscheidenden Schicksalsstunden der Geschichte“ beleuchtet werden. Das Werk hatte einen unmittelbaren Gegenwartsbezug. An Persönlichkeiten der Geschichte sollte der Bedarf an Führungspersonen auch in der Gegenwart aufgezeigt werden. Das Werk bündelte Essays namhafter Historiker wie Karl Hampe, Erich Brandenburg oder Willy Andreas zu einer Reihe von historischen Persönlichkeiten von Perikles bis zu Otto von Bismarck. Die ersten beiden Bände erschienen 1921/22 und hatten einen Umfang von knapp 1400 Seiten. Ausgesprochen positiv fiel die Besprechung von Karl Brandi in der Historischen Zeitschrift aus. Er beklagte jedoch das Fehlen von Beiträgen zu Cecil Rhodes, dem britischen Premierminister William Pitt dem Älteren und Neville Chamberlain. Diese Kapitel hätte Müller schreiben sollen. Im dritten Band, der 1923 erschien, war Müller mit einer mehr als hundert Seiten umfassenden Studie über William Pitt auch als Autor vertreten. Es blieb Müllers einziger längerer Beitrag zur englischen Geschichte. Die „Meister der Politik“ stießen auf hohe Akzeptanz beim Publikum. Der Publikumserfolg von Müllers Arbeiten steigerte wiederum seine Anerkennung als wissenschaftlich ausgewiesener Historiker. Müller übernahm 1925 die Bearbeitung des dritten Bandes der „Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst“. Die Edition wurde 1931 veröffentlicht. Die Verkaufserwartungen des Verlages erfüllten sich jedoch nicht. Zu den „Denkwürdigkeiten“ hielt Müller im Juni 1931 einen Vortrag bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Die Edition und der veröffentlichte Vortrag zählen zu seinen wenigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Als neuer Lehrstuhlinhaber verlagerte Müller seinen Schwerpunkt von der Entwicklung Preußens zur „Bedeutung Bayerns für die geistige Kultur Deutschlands“. Seit 1933 versuchte er die jungen nationalsozialistisch orientierten Historiker mit den klassisch nationalen und nationalistischen Geschichtsprofessoren in einer einträchtig harmonisierten Geschichtswissenschaft für den NS-Staat zusammenzubringen. Sein Engagement für den Nationalsozialismus barg aber auch die Gefahr einer Entfremdung von seinen bisherigen Kollegen. Seine Bindung an die historiographische Disziplin des späten Kaiserreichs versuchte Müller durch seine im Frühjahr 1935 erschienene Publikation der Zwölf Historikerprofile zu dokumentieren. Darin bündelte er seine Nachrufe und Geburtstagswünsche. Die Beiträge behandelten Müllers Förderer und Lehrer Marcks, Meinecke, Heigel und Riezler. Er widmete sie seinen Schülern. Der Sammelband fand nicht nur in der älteren Generation Zuspruch, sondern wurde auch von seinen Schülern positiv aufgenommen. Müllers beruflicher Aufstieg brachte ihm zahlreiche Verlagsangebote ein. Seine Zusagen hielt er jedoch oft nicht ein. Die zahlreichen Ämter führten auch dazu, dass Müller zwischen 1936 und dem Kriegsbeginn kaum noch publizierte. In den 1950er Jahren veröffentlichte Müller wieder zahlreiche Beiträge, doch blieben wissenschaftliche Arbeiten eine seltene Ausnahme. Seine 1949 veröffentlichte Darstellung zu Georges Danton entsprach Müllers historiographischem Profil der 1920er Jahre. Anhand des Beispiels Danton beschrieb er das Wirken einzelner „großer“ Männer, die die jeweilige Zeit geprägt hätten. Für seine Arbeit wählte er die „freiere Form eines geschichtlichen Essays, dem die Rüstung quellenmäßiger Einzelbelege nicht zu Gesicht“ stehe. Memoiren Müllers Memoiren Aus Gärten der Vergangenheit: 1882–1914 (1951), Mars und Venus: 1914–1919 (1954) sowie der von seinem Sohn Otto Alexander von Müller aus dem Nachlass herausgegebene Band Im Wandel einer Welt: 1919–1932 (1966) sind eine traditionelle Autobiographie mit stark rechtfertigendem Charakter. Sie bricht 1932 ab, auf eine Darstellung der Zeit von 1933 bis 1945 verzichtete er. Müller spricht lediglich davon, „Beute des Nationalsozialismus“ geworden zu sein. Die Schilderung der Zeit, in der die Nationalsozialisten aufstiegen, erweckt beim Leser den Eindruck, der Autor sei ein nur marginal belasteter Gelehrter. Die Memoiren wurden vor allem in der Tagespresse positiv rezipiert und erreichten hohe Absatzzahlen. Der erste Band war nach Müllers Propagandaschrift Deutschland und England sein größter Erfolg beim Publikum. Müllers Memoiren gaben mehreren Generationen deutscher Bildungsbürger einen gemeinsamen Bezugspunkt für die Erinnerung. Sie entsprachen dem Bedürfnis einer verunsicherten Generation nach Erinnerung an eine Zeit ohne Nationalsozialismus und Weltkriege. Einsatz in der Kriegspublizistik Im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik Ab 1910 war Müller Mitarbeiter der Süddeutschen Monatshefte. Zwischen 1914 und 1933 war er mit Paul Nikolaus Cossmann ihr Herausgeber. Die Zeitschrift und ihre beiden Herausgeber befassten sich zwischen 1919 und 1925 vorrangig mit dem Kampf gegen den Versailler Vertrag und gegen die „Kriegsschuldlüge“. Diese Phase endete nach Hans-Christof Kraus mit dem Münchner Dolchstoßprozess. Daraufhin konzentrierte sich die Zeitschrift wieder mehr auf kulturelle und gesellschaftliche Themen. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der Beiträge Müllers in den Süddeutschen Monatsheften stetig ab. Im September 1914 konnte das erste „Kriegsheft“ der Süddeutschen Monatshefte erscheinen. Durch die „Kriegshefte“ wandelte sich das zunächst kulturell ausgerichtete Blatt zu einem Kampfblatt gegen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Müller legte bis 1918 ein Dutzend Beiträge vor, die seinen Ruf als politischer Publizist begründeten. Im Ersten Weltkrieg sah Müller in England den „bittersten Feind“ und den „eigentlichen Schuldigen dieses Krieges“. Als Motive Englands machte er Neid und Herrschsucht aus. Müller trat im Gegensatz zu Walter Goetz, Friedrich Meinecke und Hermann Oncken publizistisch auch für eine Kriegsverschärfung ein. Auch nach dem Kriegsende und der Novemberrevolution 1918 setzte Müller seine publizistische Tätigkeit unverändert fort. Im Dezember 1918 befasste er sich in den Süddeutschen Monatsheften mit dem „Ende der deutschen Flotte“. Unbegreiflich war ihm die Weigerung der Matrosen, den Krieg fortzuführen. Er hielt einen deutschen Sieg auch im Herbst 1918 noch für möglich. Es sei ohne Beispiel, dass „eine mächtige Flotte […] ungeschlagen, in voller Ordnung auf den Befehl des Feindes kampflos selbst in dessen Gefangenschaft zog und ihre Farben auf immer senkte, ohne sie zu verteidigen.“ Er vertrat gemeinsam mit Cossmann publizistisch die Vorstellung eines anhaltenden „Kriegs im Frieden“. Nach Müllers Aussagen aus dem Jahr 1940 wurde der Krieg „abgelöst von einem Frieden, der keiner war; nun folgt diesem abermals der Krieg“. Die Grundkonstanten, in denen Müller die Ursachen der katastrophalen Entwicklungen sah, waren fehlende Einheit, fehlendes Ziel und eine ungeeignete Herrschaftsform. In seinem 1920 veröffentlichten Beitrag für die Juli-Ausgabe der Süddeutschen Monatshefte behauptete er, Deutschland sei vor allem im Krieg von „zersetzenden inneren Parteiungen“ geteilt gewesen. Sowohl für die Kriegs- als auch für die Nachkriegszeit sei ein Mangel an einem „schöpferischen Ziel“ zu konstatieren. Den Parlamentarismus in der damaligen Form habe man nur infolge der Niederlage angenommen. Im Nationalsozialismus Engagement in der Kriegspropaganda gegen England Im Jahr 1938 veröffentlichte Müller eine Einführung zur deutschen Ausgabe von George Macaulay Trevelyans Edward Grey. Er sandte den Band an den Premierminister Neville Chamberlain und dessen Vorgänger Stanley Baldwin. Außerdem hoffte er auf Wahrnehmung in der Times. Nach seinen Worten war seine Einleitung „der erste Versuch, der Persönlichkeit Greys auch vom deutschen Standpunkt aus gerecht zu werden“. Die erhoffte Resonanz in der Times blieb jedoch aus. Nach Matthias Berg hat Müllers enttäuschte Hoffnung auf Rezeption in England dazu beigetragen, dass er sich auf die Kriegspropaganda gegen England konzentrierte. Im August 1939 hielt Müller auf den Salzburger Wissenschaftswochen den Vortrag Das englische Weltreich und Großdeutschland im Wandel der Jahrhunderte. Die daraus entstandene Broschüre Deutschland und England. Ein weltgeschichtliches Bild konnte im September 1939 im Berliner „Ahnenerbe-Stiftung-Verlag“ erscheinen. Die Broschüre wurde in allen Parteistellen beworben. Das Auswärtige Amt hatte schon bei Erscheinen der Propagandaschrift 5.000 Exemplare angefordert. Bereits ein Jahr später waren über 120.000 Exemplare verkauft. Von diesem Erfolg profitierte Müller auch finanziell spürbar. Er erhielt vom Verkaufserlös zehn Prozent. Siegfried A. Kaehler meinte 1946 rückblickend, Müller habe in seiner „wahnsinnigen Englandrede“ im Sommer 1939 „völlig den Kopf verloren und eine Rede über die nächste Zukunft gehalten, die man dem guten Englandkenner vorher nicht zugetraut“ habe. In einer Rede, die Müller 1943 vor dem bayerischen Gauleiter Paul Giesler und dem Reichsstatthalter Bayerns Franz Ritter von Epp hielt, bezeichnete er England als den eigentlichen „Feind auf Leben und Tod“, der erst den „Bolschewismus des Ostens“ und die „Plutokratie jenseits des Atlantischen Ozeans“ gegen Deutschland in den Krieg getrieben habe. Neuordnung Europas Ab 1940 begann sich Müller für eine Neuordnung Europas im Sinne des nationalsozialistischen Deutschlands zu betätigen. Am 30. Januar 1940 und damit zum siebten Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme verfasste er für den Völkischen Beobachter einen Beitrag mit dem Titel Warum Deutschland siegen muß? Die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Sieges. Darin skizzierte er seine Vorstellung eines unter deutscher Führung „geordneten Europas“. Es gehe um „das begrenzte Ziel eines von der verantwortlichen deutschen Mitte aus auf den neuen sozialen Grundlagen organisch geordneten Europas als einer Schicksalsgemeinschaft historisch erwachsener Völker, deren jedes nach seiner Kraft und nach seiner Eigenart Lebensraum und Freiheit zur eigenen Schöpfung besitzt und für deren Gesamtheit, bei der rassischen Stärke und Begabung unseres Erdteils, dadurch eine neue unerhörte Möglichkeit weltweiter Auswirkung sich eröffnet“. Im Jahr 1940 beteiligte sich Müller an einem weiteren Propagandaprojekt des „Ahnenerbes“. Er übernahm Konzeption und Gestaltung des Themenbereichs „19. Jahrhundert“ für die Ausstellung „Deutsche Größe“. Dabei übertraf er die Erwartungen des Veranstalters, der ihn daher auch mit der Abfassung des Einleitungskapitels für den Ausstellungskatalog betraute. Dort skizzierte Müller den bisherigen Geschichtsverlauf als wiederkehrende Abfolge von Auf- und Niedergängen. Durch das Hitlerreich sei diese Entwicklung unterbunden worden. Adolf Hitler habe „kaum vierzehn Jahre nach Versailles einen neuen starken, den ersten völkischen deutschen Staat“ errichtet und wolle nun auch eine „neue Ordnung Europas“ schaffen. Die Ausstellung wurde im November 1940 in München eröffnet und in verschiedenen deutschen Städten sowie in Brüssel, Prag und Straßburg gezeigt und zog mehr als 650.000 Besucher an. Nach Karen Schönwälder war die Ausstellung „schlichteste Geschichtspropaganda im Dienste der Apologie nationalsozialistischer Herrschaft“. Die militärischen Erfolge bewogen Müller dazu, sein publizistisches Engagement für das nationalsozialistische Deutschland noch zu steigern. Für die Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes verfasste er einen Beitrag über die „deutsche Geschichtswissenschaft im Krieg“, den er mit ungewohnter Pünktlichkeit ablieferte. Im Juli 1940 stellte die Reichsleitung der NSDAP den Antrag, Müller von den Prüfungsverpflichtungen zu entlasten. Im September 1940 reichte er den Artikel ein. Ab Januar 1941 arbeitete er für das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda an „einem populären historischen Werk über die Entwicklung des Deutschen Reiches“. Das Werk konnte nach Matthias Berg wohl aufgrund der Unzuverlässigkeit Müllers als Autor nicht erscheinen. Im April 1941 beauftragte das Amt Rosenberg Müller, „an Hand des Materials der Ausstellung einen grösseren Bilderatlas zur deutschen Geschichte“ herauszubringen. Für die Mitarbeit erhielt er das großzügige Honorar von 3000 RM. Sein längerer Beitrag im Bilderatlas zur Deutschen Geschichte wurde Ende 1944 von Rosenbergs Dienststellenleiter Hans Hagemeyer herausgegeben. In seinen Ausführungen knüpfte Müller an seine frühere Behandlung der Thematik an, betonte aber anders als bisher deutlich Deutschlands Kampf an „zwei Fronten“, gegen „marxistischen Bolschewismus“ und die „demokratische Plutokratie“. Tätigkeit als Wissenschaftsorganisator Förderung der nationalsozialistischen „Judenforschung“ Müllers Schüler Walter Frank wurde im Sommer 1936 zum Präsidenten des neu geschaffenen Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands berufen, worauf er seinem Lehrer die Leitung der neuen „Forschungsabteilung Judenfrage“ übertrug. Die Gründung war nach Müllers Eröffnungsrede vom November 1936 „selbst ein Akt der Revolution, der großen nationalsozialistischen Revolution Adolf Hitlers“. Die Forschungsabteilung solle „als erste die wissenschaftlichen Pioniere rüsten zu den Fahrten in ein vielfach unbekanntes Land“. Die Geschichtswissenschaft könne „nicht die unmittelbaren Kämpfe um die Macht führen“, aber „Waffen kann sie schmieden für sie, Rüstungen kann sie liefern, Kämpfer kann sie schulen“. Die Forschungsabteilung erfülle als „Waffenstätte“ ihren Zweck. In die Arbeit der Abteilung brachte sich Müller nicht in besonderem Maß ein, inhaltliche Beiträge zur „Judenforschung“ leistete er nicht. Doch waren fast alle Autoren (Wilfried Euler, Clemens Hoberg, Hermann Kellenbenz, Walter Frank, Wilhelm Grau und Klaus Schickert) in der Abteilung des Reichsinstituts und im später von Alfred Rosenberg gegründeten Institut zur Erforschung der Judenfrage Schüler Müllers. Bereits im Mai 1935 hatten sich Frank und Müller darauf verständigt, „fähige Köpfe“ unter den Schülern Müllers zu rekrutieren. Aus diesem Kreis ging ein Großteil der nationalsozialistischen „Judenforschung“ hervor. Im Wissenschaftsbetrieb berücksichtigte Müller politische Anliegen der Nationalsozialisten auch auf Kosten der Qualität. Er förderte trotz fehlender fachlicher Qualifikation die Habilitation von Wilhelm Grau, des Geschäftsführers der Forschungsabteilung Judenfrage. Arnold Oskar Meyer hatte im März 1936 ein vernichtendes Gutachten über Graus Habilitationsschrift geschrieben, die Wilhelm von Humboldt und das Problem des Juden behandelte. Neben stilistischen Mängeln kritisierte Meyer die unklare Abgrenzung der Begriffe Aufklärung und Judentum. Zudem war nach Meyer Graus These „von der zerstörenden Wirkung des Judentums auf Humboldt unhaltbar“. Mit Meyers Gutachten war Graus wissenschaftliche Reputation und die seiner Forschungsabteilung gefährdet. Müller hob in seinem Gutachten auf Graus leitende Position in der neuen Forschungsabteilung ab; aus seiner Sicht gehörten Habilitation und Geschäftsführung zusammen. Als Mittelweg schlug Müller für den Nachweis der wissenschaftlichen Befähigung vor, dass auf die Lehrbefugnis verzichtet werde. Er würdigte das Buch als einen ersten „bahnbrechenden Versuch“ in diesem Themenfeld. Die stilistischen Mängel konnten nach seinem Urteil nicht „den Gesamteindruck einer gründlichen und gewissenhaften Arbeit“ erschüttern. Der Mittelalterhistoriker Rudolf von Heckel folgte im Endurteil Müllers Empfehlung. Fast zwei Jahre nach Einreichung des Habilitationsgesuches konnte Grau im August 1937 trotz ungünstigen Verlaufs der Habilitationsprüfung vor allem dank der Fürsprache Müllers an der Philosophischen Fakultät habilitiert werden. Müller förderte auch weitere Arbeiten im Bereich der aufstrebenden „Judenforschung“ und verhinderte unerwünschte Beiträge. Herausgeber der Historischen Zeitschrift (1935–1943) Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde die Position Friedrich Meineckes, eines überzeugten linksliberalen Anhängers der Weimarer Republik, als Herausgeber der Historischen Zeitschrift zunehmend unhaltbar. Einen Wechsel im Herausgeberamt betrieb vor allem der Verleger des Periodikums, Wilhelm Oldenbourg, der dabei sowohl Altersgründe als auch Meineckes politische Einstellung geltend machte. Überdies fürchtete Oldenbourg die Gründung einer nationalsozialistischen Konkurrenzzeitschrift. Unter dem Druck vermeintlicher oder wirklicher wirtschaftlicher Interessen beugte er sich dem Druck der neuen Machthaber und suchte nach einem neuen Herausgeber. In der Diskussion um die Nachfolge Meineckes war Müller nach Gerhard A. Ritters Analyse (2006) „trotz seiner engen Verbindungen zum Verleger und zur Partei eher eine allerdings wichtige Figur auf dem Schachbrett als eine treibende Kraft“. Für Albert Brackmann kam nur Müller für die Position in Betracht, obwohl ihm nach Brackmanns Meinung Führereigenschaften fehlten. Oldenbourg äußerte dazu einen Vorbehalt: „Was die Persönlichkeit von Herrn Prof. K. A. von Müller anbelangt, so würde sein Name zweifellos eine Zierde für die H.Z. sein, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass irgendwelche Arbeit, vor allem regelmässige und pünktliche Arbeit, von ihm nicht geleistet werden würde.“ Auch Meinecke selbst fand Müller für die ihm zugedachte Stellung als Herausgeber zu „weich und zu wenig arbeitsam“. Als mögliche Kandidaten waren zwischen Oldenbourg, dem Leiter der Filiale des Verlages in Berlin, Max Bierotte, und weiteren Historikern auch Fritz Hartung, Rudolf Stadelmann und Helmut Berve im Gespräch. Am 11. April 1935 vollzog Oldenbourg die endgültige Trennung von Meinecke, doch war immer noch kein Nachfolger gefunden. Bei der Entscheidung für Müller spielten vor allem die bekennenden Nationalsozialisten Günther Franz und Walter Frank eine wesentliche Rolle. Oldenbourg sprach sich trotz Bedenken für ihn aus: „Es wäre mir ja auch an sich weitaus am liebsten, wenn er die Zeitschrift übernähme, wenn ich nicht andererseits wüsste, dass er einerseits überlastet und andererseits sehr unpünktlich ist.“ Ausschlaggebend war dann ein Brief, den Walter Frank als „Referent für Geschichte beim Stellvertreter des Führers und beim Beauftragten des Führers für die gesamte weltanschauliche Erziehung der NSDAP“ am 24. Mai 1935 an den Verleger Oldenbourg richtete. Er schlug Müller als Leiter und als Mitherausgeber Erich Marcks und Heinrich von Srbik vor. Schließlich wurde Müller alleiniger Herausgeber und Walther Kienast musste die redaktionelle Arbeit leisten. Zu den ersten Maßnahmen des neuen Herausgebers gehörte, die Zeitschrift „judenfrei“ zu machen. Nach einem Brief an Wilhelm Engel vom November 1936 war Müller selbst „überrascht und erschreckt, wie viele Juden hier eingenistet waren, oft unter ganz harmlos klingenden Namen. Es war oft nicht leicht, Gewissheit zu erhalten; aber die Säuberung war dringend notwendig.“ Nach einer Briefäußerung Walther Kienasts an Wilhelm Oldenbourg vom November 1935 war unter dem neuen Herausgeber Müller die „Gleichschaltung […] doch etwas stärker ausgefallen, als manche es zunächst erwartet haben“. Müller strebte nach einer möglichst breiten Repräsentanz der Historischen Zeitschrift. Ihm ging es um eine für den Nationalsozialismus geeinte Wissenschaft, wobei er die Rolle des Bindeglieds zwischen traditionellen und nationalsozialistischen Historikern übernehmen wollte. Bereits in seinem Geleitwort zum ersten Heft bekannte er sich zur aktiven Unterstützung der Geschichtswissenschaft für das Regime. Die deutsche Geschichtswissenschaft komme nicht mit leeren Händen zum neuen deutschen Staat und seiner Jugend. Als erster Aufsatz erschien im ersten Heft unter Müller Walter Franks Beitrag Zunft und Nation. Es war Franks Rede zur Eröffnung seines Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. Er legte darin seine Vorstellungen einer nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft dar und griff seine gegenüber dem „neuen Deutschland“ kritisch eingestellten Kollegen aufs Schärfste an. Im anschließenden Beitrag untersuchte Erwin Hölzle das Volks- und Rassenbewusstsein in der englischen Revolution. Mit seinem Vorgehen erntete Müller den Zuspruch Heinrich von Srbiks und Arnold Oskar Meyers. Im zweiten Heft setzte er seinen Kurs fort. Arnold Oskar Meyer übernahm mit einer ausführlichen Besprechung zur Aktenveröffentlichung über die auswärtige Politik Preußens 1858–1871 den Part der traditionellen Geschichtswissenschaft. Mit Kleo Pleyer und Ernst Anrich kamen zwei Vertreter der nationalsozialistischen Ausrichtung zu Wort. Außerdem wurde in diesem Heft die von Wilhelm Grau betreute Rubrik „Geschichte der Judenfrage“ eingerichtet. Die Vorworte der Historischen Zeitschrift versah Müller mit tagespolitischen Einleitungen zum „Anschluss“ Österreichs 1938 oder zur Situation nach dem Frankreichfeldzug 1940 und mit Lobreden auf den Führer. Den 158. Band leitete er mit seinem Vorwort Zum 10. April 1938 ein. Nach Müllers Worten war es das erste Heft, das „in dem neuen Großdeutschen Reich“ erschien. Mit dem Anschluss werde „eine der bittersten Wunden unsrer Vergangenheit geheilt, ist das letzte schwere Vermächtnis der halbtausendjährigen einzelstaatlichen Zersplitterung unsres Volkes abgeschlossen.“ Ab dem Beginn des Krieges konzentrierten sich die Beiträge auf die neuere Militärgeschichte. Den 166. Band aus dem Jahr 1942 dominierte ein ausführlicher Nachruf von Walter Frank auf den Musternationalsozialisten Kleo Pleyer. Nach einer quantitativen Analyse von Ursula Wiggershaus-Müller zeigen in der gesamten NS-Zeit 44 Aufsätze – ein Anteil von 15,6 Prozent – eine nationalsozialistische Tendenz. Keiner von ihnen erschien unter der Herausgeberschaft Meineckes. Dagegen wurden gleich im ersten Heft nach Müllers Amtsantritt sieben Aufsätze dieser Kategorie publiziert, was einem prozentualen Anteil von 27 Prozent entspricht. Nach Andreas Fahrmeir durchlief die Historische Zeitschrift unter Müller einen Wandel von einer wissenschaftlichen Zeitschrift „zu einem Organ, in dem häufiger historische Appelle von geringem wissenschaftlichen Innovationsgrad und einer bemerkenswerten quellenkritischen Naivität erschienen, die belegen wollten, daß Deutschland den vergangenen Weltkrieg nicht wegen des Versagens der eigenen Eliten oder einer strukturellen Unterlegenheit, sondern allein wegen des mangelnden Siegeswillens verloren hatte“. Mit Ausnahme seiner Geleit- und Vorworte war Müller selbst in der Zeitschrift kaum mit Beiträgen vertreten. Im Jahr 1935 erschien von ihm ein Aufsatz unter dem Titel Ein unbekannter Vortrag Rankes aus dem Jahr 1862, der im Wesentlichen aus einem Text Leopold von Rankes bestand, den Müller mit einer kurzen Einleitung und einem Nachwort versah. Ähnlich ging Müller auch bei der Veröffentlichung von Texten Heinrich von Sybels vor. Damit wollte er seine Zugehörigkeit zur historischen Disziplin hervorheben. Im Jahr 1943 organisierte Müller ein Doppelheft zu Ehren von Meinecke, der seinen 80. Geburtstag beging. Das erste Meinecke gewidmete Heft vereinte Beiträge von Fritz Hartung, Rudolf Stadelmann, Heinrich von Srbik, Wilhelm Mommsen, Gerhard Ritter, Siegfried A. Kaehler und Willy Andreas. Nationalsozialistische Historiker waren nicht beteiligt. Müllers Annäherung an seinen Vorgänger sieht Berg als Beginn einer „Ablösung“ vom Nationalsozialismus. Die Historische Zeitschrift wurde 1943 mit dem Band 168 kriegsbedingt eingestellt. Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1936–1943) Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte für die wissenschaftlichen Akademien zunächst keine einschneidenden Änderungen. Durch den unerwarteten Wechsel des amtierenden Präsidenten Leopold Wenger nach Wien ergaben sich für die Machthaber neue Gestaltungsmöglichkeiten. Die Akademie verlor ihr Recht auf die Wahl des Präsidenten. Im Juni 1935 unterband das Kultusministerium eine von der Akademie anberaumte Präsidentenwahl. Im Januar 1936 wurde durch Satzungsänderung die Ernennung des Präsidenten auf den Reichswissenschaftsminister übertragen. Die Akademie konnte lediglich eine geeignete Persönlichkeit vorschlagen. Obwohl Müller bisher als Akademiemitglied nicht in besonderem Maße hervorgetreten war, schlug ihn das bayerische Kultusministerium im November 1935 dem Reichswissenschaftsminister vor. Am 2. März 1936 wurde er zum Akademiepräsidenten ernannt. Die Akademie hatte sich in ihrem eigenen Vorschlag hingegen für Eduard Schwartz ausgesprochen. Im Juni 1937 hielt Müller seine erste Ansprache als Präsident, wobei er den NS-Staat und Adolf Hitler verherrlichte. Als Akademiepräsident setzte Müller den Ausschluss der jüdischen Mitglieder konsequent und noch vor den ministeriellen Anordnungen um. Anfang September 1938 erteilte er Kanzleisekretär Gottlob Klingel den „vertraulichen“ Auftrag, in Frage- und Personalbögen festzustellen, „welche der gegenwärtigen Mitglieder Juden oder jüdische Mischlinge, jüdisch versippt, und Mitglieder einer Freimaurerloge oder einer anderen logenähnlichen Organisation waren bzw. sind“. Noch vor Eintreffen des entsprechenden Erlasses vom 15. November 1938 meldete das bayerische Kultusministerium beim Reichswissenschaftsministerium, dass den vier nichtarischen Mitgliedern Lucian Scherman, Alfred Pringsheim, Richard Willstätter und Heinrich Liebmann mitgeteilt worden sei, dass „sie der Akademie nicht mehr angehören können“. Im nächsten Jahr wurden die „jüdisch versippten“ Mitglieder zum Rücktritt gedrängt. Größere inhaltliche Änderungen in der Akademie sind unter Müllers Präsidentschaft nicht auszumachen. Die laufenden Projekte wurden fortgesetzt. Durch den Krieg verschlechterte sich allerdings die finanzielle Lage. Rezeption in der Nachwelt Wissenschaftliche Nachwirkung In der Nachwelt hat Müller eine gewisse Bekanntheit als Herausgeber der Historischen Zeitschrift und als Münchener akademischer Lehrer, da nach dem Ersten Weltkrieg spätere NS-Größen in seinen Veranstaltungen saßen. Anders als Gerhard Ritter mit seiner Stein-Biographie oder Friedrich Meinecke mit seiner Darstellung Weltbürgertum und Nationalstaat blieb Müller nicht mit einem „großen Buch“ in Erinnerung. Er war als Wissenschaftler keine prägende Persönlichkeit. Von ihm ging keine inhaltliche oder methodische Orientierung für die Geschichtswissenschaft aus. Durch den Wandel der Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 1960er Jahren war Müllers Geschichtsschreibung nicht mehr zeitgemäß. Nur noch als Verfasser von Schriften über die bayerische Heimat und seiner Autobiographie fand er Anerkennung. Vor allem angesichts des grundlegenden methodischen und thematischen Wandels in der Geschichtswissenschaft versuchten seine Schüler Kontinuität herzustellen und eine vermeintlich ungebrochene wissenschaftliche Tradition zu demonstrieren. Müllers in den 1950er Jahren veröffentlichte Lebenserinnerungen werden in der Geschichtswissenschaft oft als Zeugnis über München und Bayern im frühen 20. Jahrhundert zitiert. Der Augenzeugenbericht zum Hitlerputsch 1923 im dritten Band ist eine wichtige Quelle für die frühe NS-Geschichte. Für Matthias Berg hat sich Müller nicht mit seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern mit der Autobiographie seinen Rang als Historiker verschafft. Diskussion über Müllers Rolle im Nationalsozialismus Viele Zeitgenossen nahmen Müller nicht als Nationalsozialisten wahr. Seine akademischen Schüler suchten nicht die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Lehrer, sondern huldigten ihm bereits zu seinen Lebzeiten devot. Noch 1952 sagte Theodor Schieder in einer Rede zu Müllers siebzigstem Geburtstag: „Es ist lange her, daß wir zu Ihren Füßen sitzen durften.“ Wilhelm Fichtl, ein weiterer Schüler, schrieb Müller 1951 nach einem von dessen Vorträgen im Bayerischen Rundfunk, er habe „im Radio plötzlich, ohne darauf gefasst zu sein, ‚die Stimme meines Herrn‘“ vernommen. Schieder wies wenige Tage nach Müllers Tod in einem Brief an Kurt von Raumer den Vorwurf des „moralischen Versagens“, der dem Verstorbenen wegen seines Verhaltens zwischen 1933 und 1945 gemacht worden war, vehement zurück. Noch 1982 – zum 100. Geburtstag – legten mehrere seiner Schüler, darunter Theodor Schieder, Fritz Wagner, Wolfgang Zorn, Heinz Gollwitzer und Karl Bosl, einen frischen Kranz auf sein Grab. Müllers Schüler Heinz Gollwitzer und Karl Bosl betonten in ihren Nachrufen, dass ihr Lehrer kein Nationalsozialist gewesen sei. Theodor Schieder bemühte sich als Herausgeber der Historischen Zeitschrift um einen „würdigen“ Nachruf. Er selbst wollte diesen nicht schreiben, weil „mein Verhältnis zu Müller ein so persönliches gewesen ist, dass dies so bekannt ist, dass ich besser in diesem Falle nicht unmittelbar hervortrete“. Hermann Heimpel, der zunächst für den Nachruf angefragt war, erklärte sich im September 1965 außerstande dazu. Deshalb wandte sich Schieder an Heinz Gollwitzer, der dann der Bitte des Herausgebers nachkam. Gollwitzer beschrieb Müller als einen Nationalkonservativen, der sich gegenüber dem Nationalsozialismus passiv verhalten habe und zum Eintritt in die NSDAP gezwungen worden sei. Im März 1968 löste Gollwitzers Nachruf einen Skandal aus: Geschichtsstudenten der Freien Universität Berlin beschwerten sich über die ihrer Meinung nach beschönigende Darstellung und verschickten eine Protestresolution mit Unterschriftenliste an alle Historischen Seminare in Deutschland. Weitaus kritischer als Gollwitzer, aber auch mit einem gewissen Respekt urteilte Helmut Heiber in seinem 1966 veröffentlichten Buch über Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Nach Heiber war Müller „zweifellos Nationalsozialist aus Überzeugung, der eben nicht doktrinär, nicht engstirnig war“. Zuvor hatte Schieder Heibers Manuskript begutachtet. Er versuchte die Streichung einiger Abschnitte, die seinen Doktorvater belasteten, durchzusetzen. Klaus Schwabe sah 1989 in Müller den „Typus des rückhaltlos überzeugten Nationalsozialisten“. Vorherrschend blieb aber das Bemühen der Historiker, Müllers Wirken in der NS-Zeit zu relativieren. Angesichts des verschlossenen Nachlasses basierten die Darstellungen zu Leben und Werk Müllers oftmals auf seinen suggestiven Selbstzeugnissen. Dadurch konnte Müller in der Wissenschaft auch wohlwollende Deutungen über sein Wirken etablieren. Bis in die 1960er Jahre war die Mehrzahl der Geschichtsprofessoren in der Zeit des Nationalsozialismus ausgebildet worden oder von ihm entscheidend geprägt. Erst im Zuge des einsetzenden Universitätsausbaus und der Zunahme der Professuren begann die Generation der ab 1930 Geborenen langsam an Einfluss zu gewinnen. Seit Mitte der 1990er Jahre befasste sich die Geschichtswissenschaft verstärkt mit den Verstrickungen ihrer Vertreter in das „Dritte Reich“. Der Umstand, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft erst sehr spät mit der Rolle einiger prominenter Historiker in der NS-Zeit kritisch auseinandersetzte, löste 1998 auf dem Frankfurter Historikertag heftige Debatten aus. Die stärkste Beachtung fand die Sektion Deutsche Historiker im Nationalsozialismus am 10. September 1998, die von Otto Gerhard Oexle und Winfried Schulze geleitet wurde. Dabei stand die Rolle von Karl Alexander von Müller im Nationalsozialismus nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Vielmehr konzentrierte sich die Forschung auf Karl Bosl, Theodor Schieder oder Werner Conze, die in der NS-Zeit aufstrebende Nachwuchshistoriker gewesen waren und erst zwischen 1950 und 1980 wichtige Lehrstühle in der Geschichtswissenschaft bekleideten. Einzig Karen Schönwälder, die bereits Anfang der 1990er Jahre in größerem Umfang die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus untersuchte, befasste sich eingehender mit Müller. Dabei stützte sie sich auf seine Ansprachen und auf die Vorworte in seinen Publikationen. Für Schönwälder war Müller ein „Aushängeschild des Dritten Reiches“. Noch ohne Auswertung des Nachlasses legte Margareta Kinner mit ihrer 1997 veröffentlichten Dissertation eine biographische Studie vor. Nach ihrem Fazit musste Müller „in einer Zeit leben, der er nicht gewachsen, für die er selbst zu weich war“; er habe sich „selbst in die große willenlose Herde der ‚Mitläufer‘“ eingereiht. Ein Jahr später untersuchte Ferdinand Kramer weitaus kritischer Müllers Rolle in der bayerischen Landesgeschichte. In jüngerer Zeit befasste sich Winfried Schulze in zwei Beiträgen mit Müller. Für Schulze war Müller ohne Zweifel ein Nationalsozialist. Eine monographische Darstellung blieb jedoch eine Forschungslücke, die erst durch die 2014 veröffentlichte Biographie von Matthias Berg geschlossen wurde. Berg wertete für seine Arbeit zahlreiche Archivbestände aus. Erstmals wurde von ihm der Nachlass Müllers im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vollständig einbezogen. Berg beschreibt Müller als Paradebeispiel eines Historikers, für den Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft an der Tagesordnung standen. Besonders in der NS-Zeit wirkte er als Bindeglied zwischen den Generationen. Schriften (Auswahl) Ein Schriftenverzeichnis erschien in Matthias Berg: Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 88). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-525-36013-2, S. 465–490. Monographien Bayern im Jahre 1866 und die Berufung des Fürsten Hohenlohe. Eine Studie (= Historische Bibliothek. Band 20). Oldenbourg, München, Berlin 1909. Karl Ludwig Sand. Beck, München 1925. Deutsche Geschichte und deutscher Charakter. Aufsätze und Vorträge. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1926. Zwölf Historikerprofile. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1935. Vom alten zum neuen Deutschland. Aufsätze und Reden 1914–1938. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1938. Deutschland und England. Ein weltgeschichtliches Bild. Ahnenerbe-Stiftung-Verlag, Berlin 1939 (online). Danton. Ein historischer Essay. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1949. Aus Gärten der Vergangenheit. Erinnerungen 1882–1914. Kilpper, Stuttgart 1951. Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919. Kilpper, Stuttgart 1954. Im Wandel einer Welt. Erinnerungen. Band 3: 1919–1932. Herausgegeben von Otto Alexander von Müller. Kilpper, Stuttgart 1966. Herausgeberschaften mit Erich Marcks: Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen. 3 Bände. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1922–1923. Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Band 3: Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts. Band 28). Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1931. Literatur Matthias Berg: Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 88). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-525-36013-2 (Besprechungen) / Besprechung von Michael Pammer in: H-Soz-Kult, 30. Oktober 2015 (online). Matthias Berg: Karl Alexander von Müller. In: Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme. Unter Mitarbeit von David Hamann. 2., grundlegend erweiterte und überarbeitete Auflage. De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-043891-8, S. 525–532. Bernd Faulenbach: Müller, Karl Alexander von. In: Rüdiger vom Bruch, Rainer A. Müller (Hrsg.): Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2002, ISBN 3-406-47643-0, S. 232 f. Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (= Historische Studien. Band 9). Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1992, ISBN 3-593-34762-8 (Zugleich: Marburg, Universität, Dissertation, 1990). Winfried Schulze: Karl Alexander von Müller (1882–1964). Historiker, Syndikus und Akademiepräsident im „Dritten Reich“. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Porträts. In: Dietmar Willoweit (Hrsg.): Denker, Forscher und Entdecker. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58511-1, S. 281–306. Wolfram Selig: Müller, Karl Alexander von. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2/2: Personen L–Z. De Gruyter Saur, Berlin 2009, ISBN 978-3-598-24072-0, S. 565 f. Weblinks Anmerkungen Neuzeithistoriker Publizist Hochschullehrer (Ludwig-Maximilians-Universität München) NSDAP-Mitglied Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Mitglied der Kommission für bayerische Landesgeschichte Träger des Bayerischen Verdienstordens Maximilianeer Ehrenbürger von Rottach-Egern Adliger Deutscher Geboren 1882 Gestorben 1964 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gudea
Gudea
Gudea (auch Gudea von Lagaš oder Gudea von Lagasch) war ein Stadtfürst (Ensi) des sumerischen Staates Lagaš, der nach gegenwärtigem Forschungsstand wahrscheinlich um 2141 v. Chr. bis ca. 2122 v. Chr. regierte. Andere Datierungen gehen von den Jahren 2122 v. Chr. bis 2102 v. Chr. oder 2080 v. Chr. bis 2060 v. Chr. aus. Gudea, der in der neueren Literatur gelegentlich auch als Priesterfürst oder Priesterkönig bezeichnet wird, war der dritte und bedeutendste Ensi der zweiten Dynastie von Lagaš während der Gutäerherrschaft in Sumer und Akkad. Er ist durch mehrere überlieferte Statuen, die überwiegend aus Diorit hergestellt wurden, sowie durch diverse Inschriften auf Zylindern und Kegeln – hier vor allem Bauhymnen – die bekannteste sumerische Persönlichkeit und eine der bekanntesten Personen der Geschichte Mesopotamiens überhaupt. Die Situation in Sumer vor Gudea Die Situation des südlichen Mesopotamiens, später Babylonien, zur Zeit Gudeas „Sumer und Akkad“, war am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. instabil und von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Nach mehreren hundert Jahren eines zumeist kriegerischen Konfliktes zwischen dem Staat von Lagaš und dem Stadtstaat Umma um den Grenzverlauf zwischen beiden Gebieten und um die Nutzung von Wasser und Weideland konnte der Ensi Ummas, Lugal-Zagesi, um 2280 v. Chr. (neuere Literatur nennt eine Zeit um 2425 v. Chr.) den Konflikt zu Ummas Gunsten entscheiden. Sein Sieg war so weitgehend, dass er Girsu und Lagaš zumindest zum Teil zerstören konnte. Etwa 75 Jahre nach diesen für Lagaš katastrophalen Ereignissen wurde die traditionelle Lebensweise der Sumerer stark beeinträchtigt. Es folgte eine Phase der Fremdherrschaften. Erst hatten die aggressiven Nachbarn der Sumerer, die Akkader, für etwa 150 Jahre die Oberhoheit über Sumer inne, danach für etwa 100 Jahre die Gutäer aus dem Zagros-Gebirge im benachbarten iranischen Hochland. Diese hatten zwar die Herrschaft der Akkader beendet, übten jedoch ihrerseits in der Folgezeit die Oberherrschaft über Sumer aus. Städte wie Ur und Uruk waren gezwungen, sich den Gutäern unterzuordnen. Lagaš jedoch scheint eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt zu haben, auch wenn die Gutäer zumindest nominell die Oberherrschaft über Lagaš ausübten. Schon unter Gudeas Vorgänger Ur-Baba konnte Lagaš seinen Einfluss wieder auf weite Gebiete Sumers ausdehnen und den Einfluss der Gutäer und der sumerischen Stadtstaaten zurückdrängen. Trotzdem scheint Ur-Baba, wie auch später Gudea, ein gutes Verhältnis zu den Gutäern gehabt zu haben. Die Machtverhältnisse in Sumer waren nach einer langen Epoche von Kriegen ungeklärt, viele Städte waren verwüstet und die Infrastruktur weitgehend zerstört. In dieser prekären Situation kam der Restaurator Gudea an die Macht. Gudeas Herkunft und Legitimation Über Gudeas Herkunft ist nichts bekannt. Er folgte Ur-Baba auf dem Thron Lagaš' nach, dem Vater seiner ersten Frau Ninalla. In Inschriften beschreibt er sich als den, „der keine Mutter hat, der keinen Vater hat“. Dabei dürfte es sich jedoch um eine religiös-politische Aussage mit dem Zweck handeln, seine persönliche Schutzgöttin Nansche zu seiner Mutter zu erheben und sich damit in eine gottähnliche Position zu bringen. Nach seinem Tod bezeichneten drei Schreiber, die während der Regierungszeiten von Šu-Sin und Amar-Suena lebten, Gudea auf Inschriften posthum als „Gott von Lagaš“. Zu Gudeas Lebzeiten ist eine Vergöttlichung dagegen nicht belegt. Während seiner Herrschaft fehlt in zeitgenössischen Dokumenten das Gottesdeterminativ Dingir. Unklar ist, ob er zu seiner zweiten Frau Geme-šulpae eine zweite monogame Beziehung oder ob er mehrere Frauen gleichzeitig hatte, von denen nur eine als „regierende“ Königin fungierte, wie es in der anschließenden Ur-III-Zeit üblich war. Gudea stellte sich selbst als den vom Stadtgott Ningirsu berufenen „Hirten“ für das Land Sumer dar: „...recht(mäßig)e Hirte, der aufgrund des beständigen Wortes (seines Stadtgottes) Ningirsu ... ins Innere berufen wurde.“ Gudea ist ferner der erste fassbare Herrscher der Geschichte, der sich als „rechtmäßig“ und „weise“ darstellen lässt, eine Tradition, die bis in die Neuzeit beibehalten wurde. Aus ungeklärten Gründen ist die zweite Dynastie von Lagaš – und damit auch Gudea – nicht auf der sumerischen Königsliste verewigt, obwohl sie offensichtlich von weitaus größerer Bedeutung war als viele andere dort aufgeführte Dynastien. Gudea als Bauherr, Friedens- und Kriegsfürst In seinen Inschriften beruft sich Gudea darauf, nur den Göttern gefällige Werke getan zu haben. In seiner recht langen und für die ansonsten recht kriegerische Zeit relativ friedvollen Regierungszeit tat sich Gudea vor allem als Bauherr von Tempeln (von denen vor allem der E-ninnu-Tempel, der zentrale Ningirsu-Tempel in Girsu, zu nennen ist) hervor, als Förderer des kultischen Dienstes sowie als Förderer des Handels (Diorit aus Magan (wahrscheinlich heute im Oman), Zedern aus dem Amanosgebirge/Libanon und Platanen vom oberen Euphrat). Überhaupt gab es unter Gudea ein sehr weit verzweigtes Handelsnetz, das bis nach Dilmun (das heute wohl in Bahrain zu suchen ist) reichte. Mit den Gutäern scheint er Handelsabkommen getroffen zu haben, die den Durchzug seiner Karawanen nach Norden und Nordwesten sicherstellten. Möglicherweise erkannte Gudea symbolisch sogar die Oberhoheit der Gutäer über seinen Staat an. In der Praxis scheinen sich beide Reiche jedoch eher ergänzt als beherrscht zu haben. Besondere Bedeutung kommt in Gudeas Regierungszeit dem erwähnten Bauprogramm zu. In vielen Städten ließ er Tempel restaurieren oder neu bauen. Allein in Girsu sollen 15 Tempel entstanden sein. Er ließ Kanäle erneuern und förderte diverse Bauprojekte, um die zum Teil zerstörten Städte und die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. So ist es nicht verwunderlich, dass einer seiner Beinamen – in Anlehnung an eine seiner Statuen – „der Architekt mit dem Plan“ lautet. Die Bauhymnen, die zu diesem Anlass verfasst wurden, gehören zu den bedeutendsten Zeugnissen der sumerischen Literatur. Die bekannteste, 1363 Zeilen umfassende Tempelbauhymne auf den beiden „Zylindern von Gudea“, die anlässlich der Erbauung des Eninnu-Tempels verfasst wurde, schildert, wie Enlil Ningirsu ermuntert, sich einen Tempel errichten zu lassen. Dieser erscheint daraufhin Gudea im Schlaf, gibt Gudea den Bauplan und beauftragt ihn, den Tempel zu errichten. Nachdem Gudea seinen Traum wie üblich zunächst deuten ließ, begann er unverzüglich damit, diesen Tempel zu bauen. Die festliche Einweihung mit der Segnung des Tempels, Ningirsus und Gudeas durch Enlil krönte Gudeas nächtliche Eingebung. Auch wenn sich Gudea als Friedensfürst darstellte, kam es unter seiner Regentschaft zu Kriegen, so etwa gegen das in Elam liegende Land Anschan im iranischen Hochland. Nur über diesen Kriegszug liegen uns heute Berichte aus Inschriften vor. Auch hier stellt sich Gudea als gottgefällig dar und berichtet von der Kriegsbeute, die er in Ningirsus Tempel Eninnu gebracht hat. Andere Aktionen, wie das „Öffnen der Wege vom Oberen bis zum Unteren Meer“ – also die Öffnung von Handelswegen vom Mittelmeer zum Persischen Golf – waren wohl kaum ohne Waffengewalt zu bewältigen. Die alten Städte Nippur (religiöser Mittelpunkt Sumers) und Uruk wurden von Lagasch abhängig. Lagaš selbst befand sich unter der Oberhoheit Urs, faktisch jedoch war die Stadt unter Gudea selbstständig. Es spricht einiges dafür, dass auch Ur unter dem Einfluss von Lagaš stand, immerhin setzte er Enanepada, eine der Töchter seines Vorgängers und Schwiegervaters Ur-Baba, als Entu-Priesterin ein (es ist wahrscheinlich, dass dies jedoch schon Ur-Baba selbst getan hatte). Wie groß der Einfluss Gudeas war, ist daran ablesbar, dass man seine Statuen nicht nur auf dem Gebiet Lagaschs gefunden hat, sondern auch in Ur, Uruk, Adab und Nippur. Auch zu Eridu scheint Gudea ein gutes Verhältnis gehabt zu haben. Resümierend lässt sich feststellen, dass Gudeas Politik davon geprägt war, eine lockere Oberhoheit über die sumerischen Stadtstaaten auszuüben, ohne dass er dabei versucht hätte, die Städte wirklich aktiv zu regieren, wie es die Könige von Akkad getan hatten. Das hätte auch Gudeas restaurativer Einstellung widersprochen, da diese davon geprägt war, die alte sumerische Ordnung – zu der eben auch die Stadtstaatlichkeit gehörte – wiederherzustellen. Es dürfte sich eher so verhalten haben, dass die Vormachtstellung Lagaš' als Handelszentrum, für die Gudea verantwortlich zeichnete, die einigende Klammer Sumers war. Die Handelsbeziehungen, die Lagaš unterhielt, machten den Staat wohlhabend. Erst dadurch konnte Gudea seine Förderung von Wissenschaften, Künsten und den Ausbau der Infrastruktur finanzieren. Gudea als Restaurator sumerischer Traditionen Wie schon in der frühdynastischen Zeit wurde unter Gudea der Staat Lagaš vor allem vom Dreistädtebund Girsu, Lagaš und Nina-Siraran gebildet. Residenz und Kultzentrum war nicht die namengebende Stadt Lagaš, sondern die Stadt Girsu. Der Ort E-Nim-MAR.KI-Gu'aba war der Seehafen Lagaš'. Insgesamt variierte die Größe des Landes immer wieder. Nach heutigen Schätzungen übte Gudea die Oberherrschaft über ein Gebiet mit 17 Städten, rund 160.000 Hektar Fläche und mehr als 200.000 Einwohnern aus. Der jahrhundertelang ausgetragene Streit zwischen Lagaš und dem Stadtstaat Umma um den Verlauf der Grenze zwischen beiden Staaten, der um 2280 v. Chr. sogar zur Zerstörung Girsus geführt hatte, scheint zur Zeit Gudeas keine Rolle mehr gespielt zu haben. Gudeas Regentschaft stand am Ende der akkadischen Epoche Mesopotamiens. Das vormals mächtige Reich von Akkad war wieder zu einem Stadtstaat geschrumpft. Gudea nutzte die Gelegenheit und versuchte, die alte sumerische Kultur zu erneuern. Er förderte die sumerische Sprache, die sumerische Literatur und die übrige sumerische Kultur. Auch die schon erwähnten Tempelbauten gehörten zu seinem Restaurationsprogramm, das sich nicht nur auf den Bau von Gotteshäusern beschränkte, sondern sich auch in der Förderung des alten sumerischen Glaubens ausdrückte. So wurden unter Gudea diverse religiöse Texte kodifiziert und in eine Form gebracht, in der sie die mesopotamische Religion – sowohl der Babylonier als auch der Assyrer – in den nächsten knapp 2000 Jahren prägen sollten. Alles in allem kann man Gudeas Grundhaltung als sehr konservativ bezeichnen. Auch in der Außendarstellung ging er andere Wege als die kriegerischen akkadischen Fürsten. So ist wohl auch die verklärende Selbstdarstellung als Friedensfürst zu verstehen, obwohl dieser Anspruch nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Auch die Verwendung des alten Titels Ensi – obwohl dieser eigentlich hinter einem Königs- oder Hohepriestertitel zurückstand – ist ein Zeichen für diese Rückbesinnung und Anknüpfung an die alten sumerischen Traditionen. Hier kann man zusätzlich eine weitere demütige Verbeugung vor den Göttern erkennen. Jedoch ist auch Akkadisches erhalten geblieben (siehe unten). Gudea-Statuen Von besonderer Bedeutung und Bekanntheit sind die Statuen, die Gudea darstellen. Die meisten Statuen – manche in stehender, manche in sitzender Positur – stellen Gudea als Beter dar. Nur eine Statue, N, zeigt ihn eine Flasche haltend, aus der Fruchtbarkeit spendendes Wasser fließt. Die Echtheit dieser Statue wurde oft angezweifelt, da eigentlich nur Götter so dargestellt wurden und weil hier anders als üblich Calzit verwendet wurde. Auch stilistisch gibt es Unterschiede zu den anderen Statuen. Allerdings spricht die korrekte sumerische Inschrift für eine Echtheit der Statue. Zumeist waren die Statuen bestimmten Göttern gewidmet, meist Gottheiten, die für Lagaš besonders wichtig waren, wie der Staatsgott Ningirsu oder dessen Frau, die Stadtgöttin von Lagaš und Girsu, Baba. Nach aufwändigen Zeremonien galten die Statuen zur sumerischen Zeit als Abbild des Dargestellten, der auf diese Weise auch nach seinem Tod und seiner posthumen Vergöttlichung weiter verehrt werden konnte. Dass Gudeas Statuen nach seinem Tod Opfer dargebracht wurden, konnte mit mehrfach gefundenen Opferlisten belegt werden. Auf der anderen Seite waren die Statuen aber auch Platzhalter als Beter in Vertretung des Gudea selbst. Auf der wohl bekanntesten Statue, dem sogenannten „Architekten mit dem Plan“ – so benannt, weil der sitzende Gudea hier einen Plan auf dem Schoß liegen hat – kann man Folgendes lesen: „Aus dem Bergland Magan hat Gudea den Diorit herabgebracht und zu einer Steinstatue geformt. <Meinem König habe ich (sie) in sein Haus gebracht: Leben sei <mein Geschenk> nannte er ihr (der Statue) als Namen>. Dies hat er der Steinstatue als Auftrag übergeben. Diese Statue – weder Edelmetall noch Lapislazuli ist es, weder Kupfer noch Zinn, noch Bronze wird jemand diesem Werk applizieren. Sie ist aus Diorit! Am Wassertrinkort möge sie aufgestellt sein. Mit Gewalt kann sie niemand zerstören! Statue, dein Auge ist das des Ningirsu.“ Doch ausgerechnet der ersten dieser Statuen, die man fand, war der Kopf abgeschlagen worden. Der im Text beschriebene Wassertrinkort war der Ort im Eninnu, an dem traditionell die Herrscher und Würdenträger des Staates Lagaš verehrt wurden. Die Statuen waren in der Regel etwa lebensgroß (nur eine Statue, D, ist größer). Die chronologisch wohl früheren Statuen wurden noch aus lokalen Steinsorten (Alabaster, Kalkstein, Speckstein) geschaffen. Spätere Statuen konnten aus Diorit gemacht werden, weil sich die Handelspolitik des Gudea nun auszahlte. Die Statuen aus Diorit waren im Schnitt auch ein wenig voluminöser als die Statuen aus leichter zu bearbeitendem Gestein. Zudem waren die Statuen ein Bindeglied zwischen sumerischer Tradition und akkadischem Erbe. Von den Akkadern wurden die individuellen Züge und die Muskelstruktur übernommen. Die Statik und Blockhaftigkeit der Figuren, welche die echten Körperproportionen negieren, gehen auf sumerische Traditionen zurück. Augenfällig ist auch die proportionale Überbetonung des Kopfes sowie die Darstellung eines kahlgeschorenen Kopfes oder eines Kopfes mit einem großen Kopfschmuck aus Spiralen (wohl aus Pelz, manchmal als Turban bezeichnet). Auch diese Elemente lassen sich wieder auf ältere sumerische Traditionen zurückführen, denn typisch für akkadische Darstellungen waren volles Haupthaar und ein langer, welliger Bart. Stilistisch ist Gudea ansonsten bei fast allen Statuen in derselben Weise dargestellt, nur bei einer Statue (M) trägt er keine sumerische Bekleidung, sondern ist in der Tradition der akkadischen Könige gekleidet. Die Statuen sind auch in anderer Hinsicht von elementarer Bedeutung. Die erste von ihnen (A) wurde von Ernest de Sarzec in Girsu ausgegraben (wie auch B bis K). Auch ein Großteil der anderen wurde von Sarzec oder während späterer Raubgrabungen, die angeblich in Girsu stattgefunden haben sollen (M bis Q Raubgrabungskampagne 1924), gefunden. Ein Großteil dieser Statuen, die heute zum Teil im Louvre in Paris aufbewahrt werden, wurde auch vom französischen Archäologen Léon Heuzey ausgegraben. François Thureau-Dangin nutzte nicht zuletzt die darauf befindlichen umfangreichen Texte zur Entzifferung der sumerischen Sprache und etablierte damit die Sumerologie als eigenständige Unterdisziplin der Altorientalistik. Diese Inschriften lieferten das erste große Textkorpus, mit dessen Hilfe die sumerische Grammatik und diverse Wörter rekonstruiert werden konnten. Bei zwei Statuen (L und R) gibt es Zweifel, ob es sich bei der dargestellten Person wirklich um Gudea handelt. Es herrscht in der Literatur zudem nicht immer Einigkeit über die Anzahl der gefundenen Statuen, über die Fundorte und den heutigen Aufenthaltsort. Es wird auch berichtet, dass viele der Statuen in den Kunsthandel kamen. Wenn man sich die weltweite Verbreitung der Statuen M bis Q aus der 1924er Grabungskampagne vor Augen hält, muss man wohl annehmen, dass damit diese Statuen gemeint sind. Fazit und Ausblick Wahrscheinlich schon gegen Ende der Regentschaft Gudeas, mindestens jedoch kurz danach, wurde Sumer durch Ur-Namma ein letztes Mal für etwa 100 Jahre unter der Regentschaft der Herrscher von Ur (Ur-III-Zeit) geeint. Auch diese Herrscher förderten zumindest zu Beginn eine Rückbesinnung auf die altsumerische Kultur (Sumerische Renaissance genannt). Der Staat Lagaš und seine Städte hatten zu dieser Zeit bereits für immer ihre Bedeutung verloren. Die Herrschaft Gudeas war ein letzter Höhepunkt des einst so bedeutenden sumerischen Staates. Doch auch die Herrscher von Ur scheiterten mit ihrer konservativen, restaurativen Politik. Das Rad der Zeit konnte nicht mehr zurückgedreht werden und die Einflüsse, denen die Sumerer ausgesetzt waren, konnten nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Entwicklung, die nicht zuletzt durch äußere Einflüsse wie Akkader, Gutäer, Elamiter und Namaden in Gang gebracht wurde, konnte durch restaurative Bemühungen nicht mehr aufgehalten werden. Es hatte sich ein neues Menschenbild entwickelt, das der sumerischen Kultur und Tradition widersprach. Eine Koalition aus Elamitern und Aramäern zerstörte 100 Jahre nach der Herrschaft Gudeas das letzte sumerische Reich und machte den Weg für eine neue Epoche der mesopotamischen Geschichte frei: die Zeit der Babylonier. Diese adaptierten einen Großteil der sumerischen Kultur und Religion und entwickelten sie weiter. Eines der eindrücklichsten Beispiele für den nachhaltigen Einfluss Sumers dürfte darin bestehen, dass die sumerische Sprache noch fast 2000 Jahre als Gelehrtensprache in Benutzung sein sollte. Gudea war mit seinem Versuch, die alte sumerische Kultur zu erneuern, trotz vorübergehender Erfolge aus heutiger Sicht gescheitert. Jedoch waren nicht zuletzt die Impulse, die Gudea der sumerischen Kultur in deren Endphase gab, ein Grund für die hohe Wertschätzung, die die Sumerer noch über Jahrhunderte genießen sollten. Schließlich fanden sowohl Gudea als auch der von ihm errichtete Tempel Eninnu Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit – beide und die Entstehungsgeschichte des Eninnu finden noch 300 Jahre nach Gudeas Tod im Codex Hammurapi Erwähnung. Die Gudeastatuen scheinen selbst noch in parthischer Zeit eine gewisse Verehrung genossen zu haben. Im Palast des Adad-nadin-ahhe in Girsu, der ins zweite Jahrhundert v. Chr. datiert, sind viele der Statuen ausgegraben worden und fanden sich dort in den Repräsentationsteilen des Gebäudes. Sie scheinen diese Räume also geschmückt zu haben. Dies bezeugt noch für die parthische Zeit ein lebhaftes Interesse an der sumerischen Vergangenheit und an Gudea. Datierungen und Chronologie Beim derzeitigen Stand der Forschung ist es nicht möglich, genauere Angaben über die Datierung bestimmter Ereignisse der sumerischen Geschichte zu machen. Selbst chronologische Abläufe sind nicht immer eindeutig zu rekonstruieren. Zudem gibt es in der Altorientalistik mehrere verschiedene Ansätze zur Chronologie. Die bisher häufig gebrauchte Ansetzung der Gudea-Regierung vor die Ur-III-Zeit berücksichtigt nicht eine vorhandene Jahresdatenformel, in welcher Gudea und Ur-Nammu gleichzeitig als Bundesgenossen vom Konflikt mit Anschan und Elam berichten. Neuere Ansätze berücksichtigen diese Jahresdatenformel und setzen die Gudea-Zeit mit dem Beginn der Ur-III-Zeit gleich. Daraus ergeben sich die eingangs genannten recht unterschiedlichen Angaben zur Regierungszeit Gudeas und weitere divergierende Daten. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Fauna%20Australiens
Fauna Australiens
Die Fauna Australiens umfasst eine große Anzahl unterschiedlicher, nur auf diesem Kontinent verbreiteter Tierarten. 83 % der Säugetiere, 89 % der Reptilien, 90 % der Süßwasserfische und Insekten sowie 93 % der Amphibien sind endemische Arten, die nur auf dem australischen Kontinent vorkommen. Dieser hohe Anteil ist auf Australiens lange geographische Isolation und die geologische Stabilität des Kontinents zurückzuführen. Einen weiteren Einfluss hatte die im Vergleich zu anderen Kontinenten ungewöhnliche Folge von Klimaveränderungen und ihre Auswirkung auf die Bodenstruktur und die Pflanzenwelt. Kennzeichnend für die Fauna Australiens ist die relative Seltenheit einheimischer höherer Säugetiere. Die ökologische Nische, die diese auf anderen Kontinenten belegen, füllen hier die Beutelsäuger, darunter die Kängurus, die Kletter- und Raubbeutler. Der australische Kontinent ist auch die Heimat der fünf noch lebenden Arten eierlegender Kloakentiere. Auffällig ist auch die hohe Anzahl giftiger Spinnen, Skorpione, Kraken, Quallen, Muscheln und Stechrochen. Ungewöhnlich ist auch, dass Australien mehr giftige als ungiftige Schlangen beheimatet. Sowohl die erste Besiedlung Australiens durch Menschen vor etwa 50.000 Jahren als auch die Besiedlung durch Europäer seit 1788 hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die Zusammensetzung der australischen Fauna gehabt. Die Bejagung, die Einführung in Australien nicht-heimischer Tier- und Pflanzenarten und die Landbewirtschaftung hat Habitate so verändert oder gar zerstört, dass zahlreiche Tierarten ausgestorben sind. Zu den ausgestorbenen Tierarten zählen beispielsweise der Paradiessittich, der Schweinsfuß-Nasenbeutler und eine Art der Rattenkängurus. Viele Tierarten sind in ihrem Fortbestehen nach wie vor gefährdet. Australien hat deshalb eine umfangreiche Gesetzgebung zum Schutz einheimischer Tierarten erlassen und zahlreiche Naturreservate eingerichtet. Die Entwicklung der australischen Fauna Australien war einst Teil des südlichen Superkontinents Gondwana, der auch Südamerika, Afrika, Indien und Antarktika umfasste. Gondwana begann vor etwa 140 Millionen Jahren auseinanderzubrechen. Während des Eozäns vor 50 Millionen Jahren trennte sich Australien von dem antarktischen Kontinent und war bis zur Annäherung der Indo-Australischen Platte an Asien während des Pliozäns vor etwa 4,5 Millionen Jahren relativ isoliert. Nach dem Miozän gelangte nur ein geringer Teil der asiatischen Fauna nach Australien. Die Wallace-Linie, eine gedachte Grenze, welche die zoogeographischen Regionen Asien und Australasiens voneinander trennt, kennzeichnet dabei die plattentektonische Grenze zwischen der eurasischen Platte und der Indo-Australischen Platte. Das Fehlen von Landbrücken erklärt, warum es nur flugfähigen Tieren wie Fledermäusen und Vögeln gelang, ihr Verbreitungsgebiet von Asien nach Australien auszudehnen und dort eigenständige Arten auszubilden. Die Entwicklung der heutigen australischen Fauna wird dabei wesentlich vom Klima und der Geologie des australischen Kontinents beeinflusst. Australien blieb von den für andere Kontinente typischen klimatischen Veränderungen offenbar weitgehend unberührt. Die einzigartige Fauna Gondwanas, zu denen die Beutelsäuger zählen, konnte sich in dieser Nische weiterentwickeln. Vor 15 Millionen Jahren entwickelte sich außerdem auf dem australischen Kontinent ein Wüstenklima, das zur Evolution zahlreicher an sehr große Trockenheit adaptierter Tierarten führte. Kennzeichen des australischen Lebensraums Der australische Kontinent bietet eine Reihe sehr unterschiedlicher Lebensräume. Nur wenige Tierarten sind deshalb im gesamten australischen Kontinent vertreten. Australiens Kontinent besteht zu einem großen Teil aus Wüsten, Halbwüsten, Steppen und Savannen. Akazien und Kasuarinen sind typische Pflanzen dieser Lebensräume, wobei Akazien nur im Süden größere Wälder entwickeln. 20 % des australischen Kontinents sind mit Stachelkopfgräsern bedeckt. Im Osten, Südosten und im Südwesten des Kontinents gibt es außerdem ausgedehnte immergrüne Eukalyptuswälder, die wegen des geringen Schattenwurfs der Bäume häufig einen reichen Unterwuchs aufweisen. Eine Reihe der Bäume Australiens zählen zu den sogenannten Pyrophyten, also Bäumen, die nicht nur feuerresistent sind, sondern auch Feuer für das Aufkommen von jungen Sämlingen benötigen. Reste großer und sehr artenreicher tropischer Regenwälder finden sich im Norden von Queensland. Weder Akazien noch Eukalyptusbäume sind dort zu finden. Stattdessen dominieren dort Palmenarten, Feigen, Schraubenbäume, Araukarien, Baumfarne und Bambus. Entlang der Nord- und der Ostküste sind außerdem große Mangrovenwälder zu finden. Von den Seen, die in den Landkarten Australiens eingezeichnet sind, haben viele nur über bestimmte Zeiträume Wasser. Der Eyresee, der eine Wasserfläche bis zu 9500 Quadratkilometer haben kann, ist nur zwei- bis dreimal innerhalb eines Jahrhunderts vollständig mit Wasser gefüllt. Insgesamt ist das Klima Australiens überwiegend subtropisch. Der Norden dagegen ist tropisch; die Kimberley-Region gilt sogar als das heißeste Gebiet der südlichen Erdhälfte. Die südlichen Randgebiete Australiens dagegen haben ein gemäßigtes Klima. Tasmanien hat dagegen ein verhältnismäßig kühles Klima, das sich durch große Niederschlagsmengen auszeichnet. Das spezifische Verbreitungsgebiet einer Tierart innerhalb des australischen Kontinents ist in diesem Artikel nur ausnahmsweise angegeben. Sie sind detaillierter im jeweiligen Arten-Artikel nachlesbar. Säugetiere Aufgrund von Fossilienfunden weiß man, dass Australien eine weit zurückreichende Geschichte der Besiedlung von Säugetieren hat. Unter den ausgestorbenen Arten dominieren hier die Beutelsäuger. Für Kloakentiere lässt sich aufgrund des Fossilienbefundes belegen, dass sie in Australien seit der frühen Kreidezeit vorkommen. Sowohl Beutelsäuger als auch Höhere Säugetiere (Plazentatiere) kamen auf dem australischen Kontinent im Eozän vor 56 bis 34 Millionen Jahren vor. Die Höheren Säugetiere starben jedoch aus und traten erst während des Pliozäns wieder auf, nachdem Australien sich Indonesien näherte. Seit dieser Periode sind sowohl Fledermäuse als auch Nagetiere als Vertreter der Höheren Säuger wieder fossil belegt. Die Beutelsäuger entwickelten im Laufe der Evolutionsgeschichte Arten, die nicht nur ähnliche ökologische Nischen wie die Höheren Säuger in Eurasien und Amerika entwickelten. Viele Beutelsäuger gleichen dabei Arten der Höheren Säuger, die wie sie dieselbe ökologische Nische besetzen. Diese Form der Evolution wird als konvergente Evolution bezeichnet. So gleicht der Tasmanische Tiger in vielen Merkmalen den Hundeartigen wie beispielsweise dem Wolf. Gleitbeutler und Flughörnchen zeigen ähnliche Anpassungen an ihren Lebensraum auf Bäumen, und der australische Ameisenbeutler und die südamerikanischen Ameisenbären, die ähnliche Körpermerkmale aufweisen, sind grabende Insektivoren. Kloakentiere Zwei der fünf noch existierenden Kloakentiere kommen auf dem australischen Festland vor; das Schnabeltier (ausschließlich in Australien) und der Kurzschnabeligel (Australien und Neuguinea) aus der Familie der Ameisenigel. Die anderen drei Kloakentierarten aus der Gattung der Langschnabeligel sind nur auf Neuguinea heimisch. Kloakentiere unterscheiden sich von anderen Säugetieren durch ihre Fortpflanzung. Sie gebären ihre Jungen nicht lebend, sondern legen stattdessen Eier. Auch verfügen Schnabeltiere noch nicht über mit denen der höheren Säugetiere vergleichbare Milchdrüsen. Das Schnabeltier – ein giftiger, eierlegender, entenschnäbeliger und amphibischer Säuger – wird häufig als eines der eigenartigsten Lebewesen bezeichnet. Als der britische Naturforscher Joseph Banks Bälge dieser Tierart in Großbritannien zeigte, glaubten viele seiner Kollegen an eine geschickt gemachte Fälschung. Der englische Naturforscher George Shaw (1751–1813) war der erste, der die australische Fauna intensiver erforschte und zahlreiche Arten, darunter auch das Schnabeltier, erstmals wissenschaftlich beschrieb. Der Kurzschnabeligel ist mit ähnlich eigenartigen Merkmalen wie das Schnabeltier ausgestattet. Er besitzt haarige Stacheln, eine röhrenartige Schnauze und eine Zunge, die bis zu einhundert Mal in der Minute aus der Schnauze hervorschnellt, um Termiten zu fangen. Beutelsäuger Australien ist die Heimat der weltgrößten Beutelsäuger. Beutelsäuger zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Jungtiere in einem Beutel großziehen. Fleischfressende Beutelsäuger, wie die Raubbeutlerartigen, werden heute von noch zwei existierenden Familien vertreten, den Raubbeutlern und den Myrmecobiidae, von denen nur noch der Ameisenbeutler, auch Numbat genannt, als Vertreter bis heute überlebt hat. Der Beutelwolf (oder auch 'Tasmanische Tiger') war der letzte überlebende Vertreter der Familie der Thylacinidae. Das letzte Individuum dieser Art starb 1936 in Gefangenschaft. Auch der Tasmanische Teufel, auch Beutelteufel genannt, starb auf dem australischen Festland vor etwa 600 Jahren aus und lebt heute wild nur noch auf Tasmanien. Die vier Arten der Beutelmarder sind ebenso wie dieser vom Aussterben bedroht. Die übrigen Vertreter der Raubbeutler sind die Beutelmäuse, von denen die meisten weniger als 100 Gramm wiegen. Die Australischen Nasenbeutler, zu denen unter anderem die Langnasenbeutler und die Kaninchennasenbeutler zählen, sind die Allesfresser unter den Beutelsäugern. Von ihnen gibt es insgesamt sieben Arten in Australien, die meisten gelten als in ihrem Bestand bedroht. Die relativ kleinen Tiere haben dabei eine Reihe charakteristischer Körpermerkmale gemeinsam: ein plumper Körper mit einem gekrümmten Rücken und einer langen, spitzen und beweglichen Schnauze. Die Ohren sind groß und zugespitzt und die Tiere haben lange, dünne Beine sowie einen langen spitzen Schwanz. Pflanzenfressende Beutelsäuger werden in die Ordnung der Diprotodontia eingeordnet und in zehn rezente Familie unterteilt. Hierzu zählen die bodenbewohnenden Wombats, die überwiegend von Gräsern und Wurzeln leben. Wombats nutzen ihre Vorderzähne und ihre kräftigen Krallen, mit denen sie ausgedehnte Tunnelsysteme graben. Zum Schutz ihrer Jungen sind ihre Beutel im Gegensatz zu denen anderer Beuteltiere nach hinten geöffnet. Sie sind überwiegend dämmerungs- und nachtaktiv. Der Koala, der zu den bekanntesten Beutelsäugern Australiens zählt, ist eine baumbewohnende Art, die ausschließlich von Eukalyptusblättern lebt. Bilchbeutler, Gleitbeutler, Ringbeutler, Zwerggleitbeutler, Kletterbeutler und Rüsselbeutler sind weitere Familien der Diprotodontia. Sie sind überwiegend baumbewohnende Beutelsäuger, einige Arten wie beispielsweise der Rüsselbeutler leben überwiegend von Nektar. Arten dieser Familie variieren in ihrer Größe von etwa der eines Goldhamsters bis zu der von Hauskatzen. Der Kurzkopfgleitbeutler aus der Familie der Gleitbeutler zählt in vielen Regionen Australiens zu den häufigsten Säugetierarten. Aufgrund seiner rein nächtlichen Lebensweise ist er jedoch nur sehr selten zu sehen. Kängurus und Rattenkängurus zählen für viele Menschen gemeinsam mit den Koalas zu den Tierarten, die am meisten mit der Fauna Australiens assoziiert werden; das Känguru erscheint auch im Wappen Australiens. Rattenkängurus sind eng mit den eigentlichen Kängurus verwandt und wurden früher als eine Unterfamilie dieser Gruppe betrachtet. Jedoch unterscheiden sie sich in einigen Aspekten (vor allem in der Ernährung) erheblich von diesen. Die Familie umfasst elf Arten, von denen zwei bereits ausgestorben sind. Mit Ausnahme des Moschusrattenkängurus, das tagaktiv ist und in Regenwäldern lebt, sind Rattenkängurus nachtaktiv und bewohnen lichte Wälder oder zumindest baumbestandene Gebiete. Sie verbringen die Ruhephasen in Nestern. Diese bauen sie aus Gräsern und Zweigen in hohlen Baumstämmen oder unter überhängenden Ästen, wobei sie das Baumaterial mit ihrem zusammengerollten Schwanz transportieren. Nicht alle Arten der Kängurus entsprechen unserer gängigen Vorstellung dieser Tiere: Auffälligstes Kennzeichen fast aller Arten sind die großen hinteren Gliedmaßen, die deutlich größer sind als die vorderen. Nur bei den Baumkängurus, die sich an das Leben in den Bäumen angepasst haben und sich nicht mehr hüpfend fortbewegen, sind die Gliedmaßen annähernd gleich lang. Der Schwanz ist lang, muskulös und meistens behaart, er wird oft als Stütze oder zur Balance benutzt. Die Arten ähneln sich hinsichtlich des Körperbaus, unterscheiden sich jedoch beträchtlich in ihrer Größe. So erreicht das Zottel-Hasenkänguru oft nur 1 bis 2 kg Körpergewicht, während das Rote Riesenkänguru 90 kg schwer werden kann. Kängurus sind Pflanzenfresser, die sich je nach Lebensraum von den unterschiedlichsten Pflanzen ernähren. Oft besetzen sie die gleichen biologischen Nischen wie auf anderen Kontinenten die Paarhufer, und auch ihr Verdauungssystem hat sich konvergent zu diesen entwickelt. Höhere Säugetiere In Australien sind Höhere Säugetiere aus den Ordnungen der Fledertiere und Nagetiere ursprünglich beheimatet. Die Fledertiere kommen mit sechs Familien in Australien vor, die Nagetiere nur mit der Familie der Langschwanzmäuse. Fleder- und Nagetiere sind verhältnismäßig junge Tierarten Australiens. Fledertiere lassen sich in Fossilien erst seit 15 Millionen Jahren nachweisen und haben wahrscheinlich von Asien aus den australischen Kontinent besiedelt. Dafür spricht auch, dass zwar sieben Prozent der weltweiten Fledertierarten in Australien vorkommen, allerdings nur zwei Gattungen in Australien endemisch sind. Nagetiere besiedelten Australien in mehreren Einwanderungsereignissen vor fünf bis 10 Millionen Jahren und haben sich in eine Reihe von Arten entwickelt, die als „Alte endemische“ Nagetiere bezeichnet werden und heute durch vierzehn Gattungen vertreten sind. Zu diesen zählen Arten wie die Australischen Kaninchen- und Häschenratten, Australische Baumratten und die Australische Breitzahnratte. Sie werden zu den Langschwanzmäusen gerechnet, wie auch die Gattung der echten Ratten, deren Vertreter Australien vor einer Million Jahren von Neuguinea aus erreichten und sich in sieben Arten entwickelten, die zusammenfassend als „Neue endemische“ Nagetiere bezeichnet werden. Die endemischen Nager stellen etwa 25 % der Säugetierfauna des Kontinents. Seit der Mensch den australischen Kontinent besiedelt, hat er eine Reihe von Höheren Säugetieren in Australien eingeführt, die heute dort wild vorkommen. Als erste bewusst eingeführte Art gilt der Dingo. Fossilienfunde weisen darauf hin, dass er vom Menschen vor etwa 5.000 Jahren eingeführt wurde. Nach der Besiedelung durch Europäer nahm die Anzahl eingeführter Arten sprungartig zu; viele Arten wurden vor allem im 19. Jahrhundert durch Akklimatisationsgesellschaften gezielt eingeführt, um eine Tierwelt zu schaffen, die an Europa erinnert und die als artenarm empfundene Fauna Australiens zu bereichern. Dazu zählen unter anderem der zu Jagdzwecken eingeführte Rotfuchs, der Feldhase, der Rothirsch und das Wildkaninchen. Auch Damhirsch, Sambar, Axishirsch, Schweinshirsch, Hirschziegenantilope und Mähnenhirsch verdanken ihre Existenz auf dem australischen Kontinent diesem Grund. Andere domestizierte Arten entkamen als Gefangenschaftsflüchtlinge – dazu zählen die Hauskatze, die Hausziege, das Hausschwein, der Wasserbüffel, das Hauspferd, der Hausesel und das Dromedar. Nur drei Arten der Höheren Säugetiere sind nicht absichtlich in Australien eingeführt worden – nämlich die Hausmaus, die Hausratte und die Wanderratte. Die meisten der eingeführten Höheren Säugetiere haben teilweise gravierende Auswirkungen auf die einheimische Fauna und Flora Australiens gehabt. Die Vermehrung der Wildkaninchen und Australiens Kampf gegen diese als Plage empfundene Tierart gehören zu den bekanntesten Beispielen von invasiven Neozoen. Verwilderte Hauskatzen haben sich ähnlich wie in anderen Ländern negativ auf die einheimische Vogel- und Nagetierpopulationen ausgewirkt. Auch andere Beispiele zeigen, welche Folgen die unbedachte Ansiedelung von Tierarten haben kann: Verwilderte Wasserbüffel stellten beispielsweise in den Marschregionen an Australiens Nordküste ein gravierendes ökologisches Problem dar. Sie verstärkten durch ihre Trampelpfade und ihr Suhlen die Bodenerosion, veränderten durch ihr Fressverhalten die Zusammensetzung der lokalen Flora und erleichterten durch ihr Suhlen das Eindringen von Salzwasser in Süßwasserhabitate. Sie veränderten damit ihren Lebensraum so nachhaltig, dass die Anzahl der dort lebenden Krokodile, des australischen Süßwasserfisches Barramundi und ähnlicher einheimischer Arten drastisch zurückging. Sie übertrugen außerdem Tuberkulose und Rinderbrucellose auf Hausrinder. Die Anzahl der verwilderten Wasserbüffel, von denen 1985 in Australien mit einem Bestand von 350.000 Tieren mehr als die Hälfte der weltweit nicht als Haustiere gehaltenen Wasserbüffel lebten, wird heute mit aufwändigen Abschussprogrammen reguliert. Die Dromedarpopulation wurde 2007 auf 800.000, 2009 auf eine Million geschätzt. In keinem anderen Land der Erde gibt es Herden derartiger Größe, und jährlich nimmt die Population um etwa 80.000 Tiere zu. Auch die Dromedare richten massiven Schaden im Ökosystem an und hindern die Bemühungen, die wüstenartigen Landschaften im Outback wieder zu begrünen. 46 Meeressäuger der Ordnung Cetacea oder Wale lassen sich in den Küstengewässern Australiens beobachten. Da die Mehrzahl der Arten eine weltweite Verbreitung haben, werden sie von einer Reihe von Autoren nicht als spezifisch der Fauna Australiens zugehörig betrachtet. Neun Arten der Bartenwale, darunter der Buckelwal, sind in den Küstengewässern Australiens zu beobachten. 37 Arten aus allen sechs Gattungen der Zahnwale, darunter 21 Arten der Delfine, kommen gleichfalls in den Küstengewässern vor. Der Australische Stupsfinnendelfin wurde erst im Jahre 2005 als eigenständige Art beschrieben. Einige der Delfine wie der Orca, kommen in den Küstengewässern rund um Australien vor; andere wie der Irawadidelfin sind nur in den wärmeren, nördlichen Küstengewässern zu finden. Der Dugong ist der einzige pflanzenfressende Meeressäuger Australiens und kommt nur an der nordöstlichen und nordwestlichen Küste vor und bewohnt vor allem die Torres-Straße. Dieses bis zu 3 Meter lange und 400 Kilogramm schwere Tier zählt zu den gefährdeten Arten, da die Seegraswiesen, von denen es lebt, zunehmend gefährdet sind. Außerdem lassen sich noch elf Arten der Robben in den australischen Küstengewässern finden. Vögel Australien beheimatet 800 Arten von Vögeln. 350 von ihnen gelten als endemisch für die zoogeografische Region von Australien, Neuguinea und Neuseeland. Auch ohne eingebürgerte Arten und überwinternde Sommergäste sind rund zwei Dutzend auch in Europa heimischer Arten in Australien vertreten. Dazu zählen Kormorane, Silber-, Seiden- und Kuhreiher, Rohrdommel, Brauner Sichler, Greifvögel wie Schwarzer Milan, Fischadler und Wanderfalke sowie die Schleiereule, einige Rallenarten wie Purpurhuhn, Blässhuhn und Zwergsumpfhuhn, Seeschwalben wie Lach-, Raub-, Rosen- und Rußseeschwalbe sowie der Cistensänger. Der Fossilienbefund für Vögel ist in Australien nur bruchstückhaft, allerdings lassen sich einige Fossilien von Vorfahren heutiger Arten bereits für das späte Oligozän belegen. Einige Vögel gehören zu der Fauna Gondwanas, darunter die fluglosen Ratiten wie der Emu und der Kasuar sowie eine große Gruppe endemischer Papageien. Die australischen Papageien machen ein Sechstel der weltweiten Anzahl dieser Familie aus. Der bekannteste ihrer Vertreter ist der Wellensittich, der schon bald nach seiner Entdeckung zu einem beliebten Stubenvogel überall auf der Welt wurde und heute in vielen Farbschlägen gezüchtet wird. Die Wildform ist streng geschützt und darf nicht exportiert werden. Zu den bekanntesten und für Australien typischen Vertretern der Vögel zählen die Kakadus, zu denen auch der in Australien weit verbreitete Nymphensittich zählt. Die größte Kakaduart ist der Palmkakadu, der in Australien nur auf der Cape York Halbinsel vorkommt. Die kleinste Papageienart Australiens ist der Maskenzwergpapagei, der in drei Unterarten in tropischen und subtropischen Regenwäldern Nordost-Australiens verbreitet ist. Australien beheimatet auch einige Loriarten. Mit Allfarb-, Moschus-, Schuppen-, Blauscheitel-, Zwergmoschus- und Buntlori ist diese Unterfamilie der Papageien allerdings nur mit wenigen Arten vertreten. In Australien sind auch zahlreiche Vertreter der Sittiche beheimatet. Ein für Papageien ungewöhnliches Habitat nutzt der Klippensittich, der ausschließlich an der Küstenlinie Australiens vorkommt und sich nur wenige hundert Meter vom Meer entfernt. Der mit ihm eng verwandte Goldbauchsittich ist mit einer Population von nur noch etwa 200 Individuen eine der seltensten Vogelarten Australiens. Australien beheimatet auch eine Reihe endemischer Taubenarten. Dazu gehören mit der Rotspiegeltaube und der Weißflügel-Steintaube zwei Lebensraumspezialisten, die im äußersten Norden Australiens vorkommen. Sie besiedeln nur steiniges und felsiges, stark zerklüftetes Gelände, wie es beispielsweise für die Katherine Gorge charakteristisch ist. Ein sehr großes Verbreitungsgebiet haben die Schopf- und die Spinifextaube, die fast ganz Australien besiedeln. Die Familie der Eisvögel ist mit zehn Arten in Australien vertreten. Der bekannteste ist sicherlich der Jägerliest (oder auch Lachender Hans bzw. Kookaburra), der weltweit größte Vertreter der Eisvögel. Sein Vorkommen erstreckt sich über ganz Ost-Australien und dem südlichsten Ausläufer Westaustraliens. Sein nächster Verwandter, der Haubenliest ist nur wenig kleiner und unterscheidet sich hauptsächlich durch die blaugefärbten Flügel von seinem größeren Vetter. Der Rotbürzelliest ist der Eisvogel mit dem größten Verbreitungsgebiet in Australien. Bis auf Tasmanien kann man ihn nahezu überall auf dem australischen Kontinent antreffen. Dessen Verwandte Spiegelliest, Götzenliest und Halsbandliest kommen ebenfalls in Australien vor. Die kleinsten Vertreter dieser Vogelfamilie, Azurfischer und Papuafischer, nahe Verwandte des auch in Mitteleuropa heimischen Eisvogel, sind beide im Norden Australiens anzutreffen, das Verbreitungsgebiet des Azurfischers erstreckt sich aber auch über einen dünnen Küstenstreifen südwärts bis nach Tasmanien. Die beiden seltensten Eisvögel Australiens sind sicher der Paradiesliest, welcher lediglich von November bis April auf der Kap-York-Halbinsel im Norden Queenslands anzutreffen ist und der Gelbschnabelliest, der nur im nahezu unzugänglichen, nördlichsten Zipfel der Kap-York-Halbinsel lebt. Der grün-blaue Regenbogenspint ist der einzige Vertreter der Bienenfresser in Australien. In Nordaustralien sind diese das ganze Jahr über anzutreffen. Weiter südlich lebende Vögel sind Zugvögel welche in den Sommermonaten Oktober bis März dort brüten. Groß ist auch die Anzahl der Sperlingsvögel, die in Australien zu finden sind. An der Familie der Prachtfinken, die von Afrika über Eurasien bis nach Australien verbreitet ist, lässt sich auch die Evolutionsgeschichte dieser Familie nachzuvollziehen. Grundsätzlich sind in Australien die jüngeren Arten dieser Familie zu finden und in Afrika die älteren. Für Australien typische Vertreter der Prachtfinken sind der als Ziervogel in Europa sehr beliebte Zebrafink und die mittlerweile in ihrer Heimat selten gewordene Gouldamadine. Von Eurasien aus haben in erdgeschichtlich jüngerer Zeit Schwalben, Lerchen, Drosseln und Nektarvögel den australischen Kontinent besiedelt. Ähnlich wie bei den Höheren Säugetieren haben Akklimatisationsgesellschaften vor allem im 19. Jahrhundert eine Reihe von Vögeln eingeführt, die vor allem aus Europa stammen. Auch hier war die Motivation, die als artenarm empfundene Fauna Australiens zu bereichern und eine Tierwelt zu schaffen, die an Europa erinnerte. Einige der europäischen Arten wie der Goldammer und der Grünfink leben in Australien ohne negative Auswirkung auf den dortigen Vogelbestand. Andere Arten wie der Haussperling, die Amsel und der Europäische Star beeinflussen dagegen die australische Vogelwelt negativ; sie verdrängen konkurrenzschwächere Arten und destabilisieren Australiens Ökosystem. Über 200 Arten von Seevögeln leben an Australiens Küste, darunter sehr viele Zugvögel. Australien liegt am südlichen Ende einer Zugstrecke, die vom Östlichen Russland, Sibirien und Alaska über Südostasien bis nach Australien und Neuseeland reicht. Etwa zwei Millionen Vögel folgen dieser Route von und nach Australien jedes Jahr. Zu den typischen Seevögeln Australiens zählt der Brillenpelikan, der an fast allen Küsten gefunden werden kann. Die häufigste Möwenart ist die Silberkopfmöwe, die nur in Australien und einigen benachbarten Inseln vorkommt. Der Zwergpinguin ist der einzige Vertreter der Pinguine, der auf dem Festland Australiens brütet. Reptilien In Australien sind sowohl im Salzwasser als auch im Süßwasser lebende Krokodile heimisch. Das Salzwasserkrokodil, von den Australiern umgangssprachlich Salty genannt, ist die größte existierende Krokodilart. Es erreicht eine Körperlänge von bis zu sieben Meter und wiegt mehr als 1000 Kilogramm. Entgegen seinem Namen ist es auch im Süßwasser anzutreffen. Es ist gefürchtet, weil es immer wieder auch Menschen angreift und tötet. Das Salzwasserkrokodil wird in Australien auch wegen seines Fleisches und Leders auf Krokodilfarmen gezüchtet. Die zweite in Australien beheimatete Krokodilart ist das Johnson-Krokodil, das ausschließlich im Süßwasser lebt und im Allgemeinen für Menschen nicht gefährlich ist. Gelegentlich kommen beide Arten im selben Fluss vor; dies ist durch die Besetzung verschiedener ökologischer Nischen möglich. Während das Johnson-Krokodil auf Fisch spezialisiert ist, ernährt sich das Salzwasserkrokodil mehr von Vögeln und Säugetieren. Die australische Küste wird von sechs Arten von Meeresschildkröten besucht, darunter die Suppenschildkröte. 29 Arten von Süßwasserschildkröten sind gleichfalls in Australien heimisch, die acht Gattungen der Familie Chelidae oder Schlangenhalsschildkröten zugeordnet werden. Nur eine davon ist in ihrem Verbreitungsgebiet auf Australien beschränkt. Landschildkröten fehlen dagegen in Australien. Australien hat mehr giftige als ungiftige Schlangen. Sie vertreten insgesamt sieben Familien. Die giftigsten, darunter der Taipan und die Tigerottern, gehören der Familie der Giftnattern (Elapidae) an, von denen 86 der 200 Arten in Australien vorkommen. Die meisten Menschen, die in Australien an Schlangenbissen sterben, sterben am Biss der Braunschlangen, die ebenfalls zu den Giftnattern gehören. Auch viele der in den Küstengewässern Australiens zu findenden Seeschlangen sind ausgesprochen giftig. Zwei Arten der Warzenschlangen sind gleichfalls an Australiens Küste zu finden. Von den Nattern, die die artenreichste Familie der Schlangen darstellen, sind nur elf Arten in Australien zu finden. Keine dieser Arten ist in Australien endemisch; sie gelten als relativ junge Einwanderer aus dem asiatischen Raum. 15 Arten der Riesenschlangen sowie 31 Arten insektenfressender Blindschlangen sind ebenfalls in Australien vertreten. Der australische Amethystpython ist dabei die größte Schlangenart des Kontinents. Auch der seltener anzutreffende Grüne Baumpython hat seinen Lebensraum hier gefunden. Dieser erstreckt sich über die nördlichen Regenwälder von Cape-York. In Australien leben mehr Echsen als irgendwo sonst auf der Welt. Sie repräsentieren fünf Familien. 115 Arten gehören zu 18 Gattungen der Geckos, die bis auf Tasmanien auf dem gesamten australischen Kontinent zu finden sind. Die Flossenfüße bilden eine Echsenfamilie, die überwiegend in Australien endemisch ist. Die 34 Arten ähneln sehr den Schlangen aufgrund ihrer langgestreckten Körper, ihrer zu verschuppten Fortsätzen zurückgebildeten Hinterbeine sowie der fehlenden Vorderbeine. Diese Tiere sind in der Lage, Töne zu erzeugen. Aufgrund gemeinsamer Merkmale gelten sie als mit den Geckos verwandt. Lediglich eine dieser Arten ist nicht in Australien beheimatet. Die Agamen werden durch 66 Arten aus 13 Gattungen repräsentiert. Zu ihnen zählt die Kragenechse, die bei Gefahr ihr Maul aufreißt und dadurch ihren grell gefärbten Kragen aufstellt. Der aufgerichtete Kragen wird zusätzlich durch verlängerte Kieferknochen unterstützt. Zusätzlich stellt sie sich auf die Hinterbeine und gibt zischende Geräusche von sich und schlägt mit dem Schwanz auf den Boden. Sie wirkt dadurch bedrohlicher und größer als sie ist. Um den Eindruck noch zu verstärken, stellt sie sich oft auf einen erhöhten Platz. Bis zu 30 Zentimeter kann der Kragen bei größeren Tieren vom Körper abstehen. Mit dem aufgestellten Kragen regelt sie auch ihre Körpertemperatur. Ebenfalls zu den Agamen zählt der Dornteufel, der in besonderer Weise an das Leben in den australischen Wüsten angepasst ist. Die Haut des Dornteufels ist von winzigen Furchen durchzogen. Durch die Kapillarkräfte der Furchen wird alle Feuchtigkeit direkt in Richtung Mundwinkel geführt, wo das Tier sie aufnehmen kann. Auf diese Weise kann die Echse den morgendlichen Tau der kalten Wüstennächte ausnutzen oder sie kann trinken, indem sie beispielsweise ein Bein ins Wasser taucht. 26 Arten der Warane, beispielsweise Goulds Waran, leben in Australien, wo sie als Goannas bezeichnet werden. Der größte unter ihnen ist der Riesenwaran, der eine Körperlänge von zwei Metern erreichen kann, kleinster Vertreter ist Gillens Zwergwaran, der nur 38 Zentimeter lang wird. 50 % der in Australien lebenden Echsen, etwa 389 Arten, gehören allerdings den Skinken an. Zu ihnen gehört die Blauzungenskinke, die eine sehr große und bewegliche, oft leuchtend blaue Zunge besitzen. Amphibien In Australien sind etwa fünf Familien von Froschlurchen mit 227 Arten einheimisch. Die Schwanzlurche fehlen dagegen auf diesem Kontinent. Die bekannteste Vertreterin der Amphibien ist allerdings eine eingeführte Art, die Agakröte (Bufo marinus). Sie wurde ab 1935 eingebürgert, um Schädlinge in Zuckerrohrplantagen zu bekämpfen. Der Versuch scheiterte – die Agakröten breiteten sich jedoch in Australien stark aus und gehören heute zu den verhasstesten Neozoen. Gegen Feinde setzt sich die Aga-Kröte mit giftigen Substanzen zur Wehr, die sie insbesondere aus den beiden großen Hinterohrdrüsen absondert. Mit diesem Sekret wird die Haut überzogen; es kann aber auch aktiv bis zu 30 Zentimeter weit verspritzt werden. Die Augen und Mundschleimhäute von Angreifern werden durch die Gifte stark gereizt. Sie können beispielsweise für Säugetiere oder auch größere Reptilien bei Verzehr der Kröten durchaus tödlich sein. Bei Menschen kommt es beim bloßen Kontakt zu starken Schleimhaut- und Hautreizungen. Die Einführung der Aga-Kröte durch den Menschen hat zur Destabilisierung des Ökosystems Australiens beigetragen. Der starke Populationsrückgang von einheimischen Reptilien wird unter anderem auf ihre Ausbreitung zurückgeführt. Selbst Krokodile können nach dem Verzehr mehrerer Agakröten verenden. Zu den formenreichen Gruppen der einheimischen Froschlurche zählen die Australischen Südfrösche (Myobatrachidae i. w. S.), von deren 128 Arten in 21 Gattungen hier 122 vorkommen. Eine zoologische Kuriosität stellen darunter die beiden Arten der Magenbrüterfrösche (Rheobatrachus) dar, die allerdings inzwischen als ausgestorben oder verschollen gelten. Groß ist auch die Artenzahl von Laubfröschen aus der Familie Hylidae; diese sind vor allem in den Regenwäldern der nördlichen und östlichen Küste zu finden. Von der Gattung Litoria (Australische Laubfrösche) sind auf dem Kontinent etwa 68 Arten vertreten. Am bekanntesten ist wohl der große Korallenfinger (Litoria caerulea). Der in Trockengebieten vorkommende Wasserreservoirfrosch (Cyclorana platycephala) kann als Anpassung an die Trockenheit in seiner Blase und in den Unterhauträumen so viel Wasser durch die Haut aufnehmen und speichern, dass er völlig aufgedunsen wirkt. Aborigines mach(t)en sich dies zunutze, indem sie nach den Fröschen suchen und das Wasser zum Trinken verwenden. Die 19 australischen Arten der Engmaulfrösche (Microhylidae) sind in ihrem Verbreitungsgebiet auf die Regenwälder im Nordosten beschränkt. Die sonst weltweit verbreitete Familie der Echten Frösche ist mit lediglich einer Art, dem Australischen Waldfrosch (Rana daemeli) vertreten. Er kommt ebenfalls schwerpunktmäßig in den Regenwäldern von Queensland vor. Der global zu beobachtende Trend eines starken Rückgangs von Froschlurchen, der als „Amphibian Decline“ Eingang in die Fachliteratur gefunden hat, lässt sich auch hier feststellen. Die genauen Ursachen sind noch nicht endgültig geklärt. Unter anderem werden die – besonders in Australien und der Südhemisphäre – erhöhte ultraviolette Strahlung infolge der zurückgehenden Ozonschicht, eine Pilzkrankheit und Pestizide als Einflussfaktoren angesehen (vergleiche: Amphibien). Fische Mehr als 4400 Arten von Fischen bewohnen die Gewässer Australiens, die meisten davon leben im küstennahen Meer. Es gibt nur knapp über 250 bisher beschriebene Süßwasserfischarten in Australien (Europa 540 Arten, USA 890 Arten, China 1300). Dazu kommen noch 60 bis knapp über 100 Arten die bekannt aber bisher unbeschrieben sind. Mehr als 90 % der australischen Süßwasserfische kommen nur hier vor. Dies ist auf die lange geografische Isolierung Australiens und die relative Seltenheit von Süßwasser auf diesem Kontinent zurückzuführen. Zu den bekanntesten Süßwasserfischen gehört der Barramundi, der häufig beangelt wird. Süßwasserfische Primäre Süßwasserfische sind der Australische Lungenfisch, der Salamanderfisch (Lepidogalaxis salamandroides), die Knochenzüngler Scleropages jardinii und Scleropages leichardti, sowie die Dorschbarsche. Diese gehören damit lediglich fünf Familien an. Einige der Familien lassen sich auf die Fauna Gondwanas zurückführen, darunter die Knochenzüngler und der Australische Lungenfisch, der der ursprünglichste unter den heute noch lebenden Lungenfischen ist. Zu den ungewöhnlichsten Fischen zählt der Salamanderfisch, der im Südwesten von Westaustralien vorkommt. Er ist einer der kleinsten Süßwasserfische und übersteht Trockenzeiten, indem er sich im Schlamm eingräbt. Artenreicher sind die sekundären Süßwasserfische, die von marinen Vorfahren abstammen, die ins Süßwasser gewandert sind. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen. 70 % der Süßwasserarten der australischen Fischwelt zeigen eine Verwandtschaft mit den tropischen Fischen des indopazifischen Raums. Zu dieser Gruppe gehören vier Arten der Flussaale (Anguilla), der Australische Süßwasserhering (Nematalosa erebi) und die Heringsart Potamalosa richmondia, mehrere Arten der Kreuz- und Korallenwelse, der Hornhecht Strongylura krefftii, der Halbschnabelhecht Arrhamphus sclerolepis, die Regenbogenfische (Melanotaeniidae) und die Blauaugen (Pseudomugilidae). Der Höhlen-Kiemenschlitzaal (Ophisternon candidum), sowie eine weitere nah verwandte Art, leben in den unterirdischen Wasserläufen von Nordwestaustralien. Auch die Familie der Glasbarsche, die mit mehreren Arten der Gattungen Ambassis und Denariusa vertreten ist, gehört in diese Gruppe. Die südliche Gruppe umfasst vor allem Arten, die ihren Ursprung in gemäßigten und kalten Gewässern haben und deren Verwandte auch in Neuseeland vorkommen. Es sind dies drei Arten der Neunaugen (Geotria australis, Mordacia mordax, M. praecox), von den Neuseelandlachsen der Australische Stint (Retropinna semoni), der Tasmanische Stint (R. tasmanica) und der Australische Forellenhechtling (Prototroctes maraena). Außerdem gehören hierzu die Galaxien Aplochiton und Lovettia sealii sowie Pseudaphritis urvilli aus der Unterordnung der Antarktisfische. Eine Reihe von Süßwasserfischen wurde durch den Menschen in den Gewässern Australiens ausgesetzt. Dazu zählen die Bach- und Regenbogenforelle, der Atlantische Lachs und der Königslachs, Flussbarsche, Karpfen und Moskitofische aus der Gattung der Gambusen. Die meisten der ausgesetzten Arten haben einen negativen Effekt auf die einheimische Fischwelt Australiens. Moskitofische gelten als besonders aggressive Tiere, die andere Fische vertreiben und deren Flossen anfressen. In den Gewässern, in denen sie ausgesetzt wurden, zeigt sich eine deutliche Populationsabnahme und teilweise auch ein regionales Aussterben kleiner, einheimischer Fischarten. Besonders bedroht ist Scaturiginichthys vermeilipinnis. Ähnliche Auswirkungen haben die ausgesetzten Forellenarten, die auch am Rückgang australischer Froscharten beteiligt sind. Karpfen haben einen großen Anteil am Rückgang von Unterwasserpflanzen in australischen Flüssen. Meerwasserfische Meeresfische, die gelegentlich das Süßwasser aufsuchen kommen aus den Familien der Tigerfische, der Schützenfische, der Meeräschen, Grundeln und Schläfergrundeln. Aus den beiden letztgenannten Familien haben sich in Australien auch viele reine Süßwasserarten entwickelt, wie die Gattungen Chlamydogobius, Mogurnda, Kimberleyeleotris oder Philypnodon. Weitere Arten aus dem Meer sind der Australische Kurter (Kurtus gulliveri), die Seezunge Aseraggodes klunzingeri und die Hundszunge Cynoglossus heterolepis aus der Ordnung der Plattfische. Im Northern Territory findet man außerdem auch zwei im Süß- und Brackwasser lebende Arten der Flusshaie (Speerzahnhai und Glyphis garricki). Beide Arten sind in ihrem Bestand gefährdet und streng geschützt. Zu den interessantesten Arten der Salzwasserfische zählen die Muränen, Soldaten- und Husarenfische, Seenadeln und Seepferdchen. Achtzig Arten von Zackenbarschen kommen vor, darunter der Dunkle Riesenzackenbarsch (Epinephelus lanceolatus), der bis zu 2,7 Meter lang und 400 Kilogramm schwer wird. Er zählt zu den größten Knochenfischen der Welt. Der große Artenreichtum der australischen Gewässer ist vor allem auf das Great Barrier Reef zurückzuführen, wo zahlreiche kleine bis mittelgroße Rifffische leben. Dazu zählen die Riffbarsche, deren bekannteste Vertreter die Anemonenfische sind, die in Symbiose mit Seeanemonen leben. Weitere Arten kommen aus den Familien der Falterfische, der Kaiserfische, der Grundeln, der Kardinalbarsche, der Lippfische, der Drückerfische und der Doktorfische. Eine Reihe der Fische ist giftig; dazu zählen die Kugelfische, der Pazifische Rotfeuerfisch sowie die Arten der Stechrochen. Zu den größten Arten, die am Great Barrier Reef leben, gehören die Barracudas. Für den menschlichen Verzehr sind die meisten Arten nicht geeignet, da die Gefahr einer Ciguatera-Vergiftung besteht. Haie bewohnen sowohl die Küstengewässer als auch die Brackwasserzonen Australiens. Insgesamt sind 166 Arten vertreten, dazu zählen 30 Arten der Requiemhaie, 32 der Katzenhaie, sechs der Teppichhaie und 40 der Dornhaie. 1988 fand man auch einen Riesenmaulhai am Strand von Perth. Diese Art gilt als wenig erforscht und ist möglicherweise gleichfalls regelmäßig in den Gewässern Australiens vertreten. Im Jahr 2004 kam es an den Stränden Australiens zu 12 Angriffen von Haien auf Menschen. Bei zwei davon kamen Menschen um. Generell gelten drei Arten der Haie als für den Menschen besonders gefährlich; der Weiße Hai, der Tigerhai und der Bullenhai. Zu Angriffen kommt es gelegentlich auch durch Port-Jackson-Stierkopfhaie, die häufig am Boden flacher Uferteile ruhen. Treten Badende auf sie, wehren sie sich gelegentlich durch Bisse. Einige der beliebtesten Strände in Queensland und New South Wales werden durch Netze geschützt. Diese Maßnahme ist als Schutz für Menschen wirkungsvoll, hat aber auch zur Folge, dass die Populationen sowohl gefährlicher als auch harmloser Haie abnehmen, da sie sterben, wenn sie sich im Netz verfangen. Die Befischung von Haiarten in Australiens Gewässern hat die Haipopulationen gleichfalls signifikant zurückgehen lassen. Einige Arten gelten mittlerweile als gefährdet. Wirbellose Von den etwa 200.000 Tierarten, die in Australien leben, sind 96 % Wirbellose. 90 % der dazu zählenden Insekten gelten als endemisch. Wirbellose besetzen zahlreiche ökologische Nischen und spielen in allen australischen Habitaten eine wichtige Rolle als Bestäuber und Teil der Nahrungskette. Die größte Gruppe der Wirbellosen machen die Insekten aus, zu denen etwa 75 % der bekannten australischen Tierarten gehören. Von diesen sind die Käfer (Coleoptera) am bedeutendsten, von denen etwa 28.000 Arten bekannt sind. Etwa 20.000 weitere Arten werden den Schmetterlingen (Lepidoptera) zugeordnet und etwa 12.800 den Hautflüglern (Hymenoptera). Die Zweiflügler (Diptera), zu denen die Fliegen und Mücken zählen, machen etwa 7.800 Arten aus. Etwa 3.000 Arten der Geradflügler (Orthoptera), darunter Heuschrecken und Grillen, gehören gleichfalls zu der Fauna Australiens. Auch für Wirbellose gilt, dass eingeführte Arten einen signifikant negativen Einfluss auf die Ökosysteme Australiens haben. Zu den eingeführten Arten, die einheimische Arten verdrängen, zählen Kurzkopfwespen, Bienen, Hummeln und die Rote Feuerameise. Australien verfügt über eine große Anzahl von Spinnentieren (Arachnida). Dazu gehören Webspinnen, die auch vielen Laien geläufig sind. Zu den giftigen Arten zählt vor allem die berüchtigte Atrax robustus, im englischen „Sydney Funnel-Web Spider“ genannt. Sie ist sehr giftig und gehört zur Familie der Hexathelidae. Sie kommt im Stadtgebiet und in der Umgebung von Sydney vor und legt ihre trichter- oder röhrenförmigen Netze an feuchten, kühlen Stellen auch in Häusern an. Ihr Biss kann ein Kind innerhalb von 15 Minuten töten. Ein Gegengift steht seit 1980 zur Verfügung. Auch die giftige Latrodectus hasselti, in Australien „Redback Spider“ genannt, die zu den Echten Witwen (Latrodectus) gehört, ist ein Kulturfolger. Das über 10 Millimeter lange Weibchen, die in und an Häusern siedelt, trägt in der Regel auf dem Hinterleibsrücken ein breites, rotes Längsband und auf der Bauchseite eine uhrenglasförmige, rote Zeichnung. Von den Wenigborstern (Oligochaeta) sind zwei Familien in Australien vertreten: die Enchyträen (Enchytraeidae) und die Megascolecidae. Zu letzterer Familie zählt der bisher größte bekannte Wenigborster Megascolides australis mit durchschnittlich 80 Zentimeter Länge. Man hat aber auch schon Exemplare gefunden, deren Länge 3 Meter erreichte. Die Würmer sind dann bis zu 3 Zentimeter dick. Sie leben im australischen Busch und werfen über ihren Gängen kleine, vulkanartige Hügel auf, die einem erwachsenen Menschen bis ans Knie reichen können. Etwa 124 Arten der Australischen Flusskrebse (Parastacidae) bewohnen die australische Region. Einige der Arten können längere Trockenperioden überstehen, in dem sie sich bis zu 75 Zentimeter tief im Erdboden eingraben. Von kommerzieller Bedeutung ist Euastacus armatus, der bis zu 45 Zentimeter lang wird. Einige Arten wie der Yabbi (Cherax destructor) und der Marron (Cherax tenuimanus) werden auch kommerziell in Shrimp-Farmen gezüchtet. Auch in den Gewässern entlang Australiens Küste finden sich viele Wirbellose. Besonders artenreich ist das Great Barrier Reef. Hier leben zahlreiche Vertreter der Schwämme, der Blumentiere, der Stachelhäuter und Weichtiere. Auch hier finden sich einige sehr giftige Arten. Dazu gehören die Seewespen, zwei in derselben Familie stehende und eng verwandte Würfelquallen-Arten (Cubozoa), die mit wissenschaftlichem Namen Chiropsalmus quadrigatus, Chironex fleckeri, Carukia barnesi (= "Irukandji") und Morbakka fenneri heißen. Letztere ist wahrscheinlich der am meisten gefürchtete Organismus pazifischer Badestrände. Ganze Badegebiete werden in Australien eingezäunt, um sich vor diesen Tieren zu schützen. Auch der Blaugeringelte Krake und zehn Arten der Giftzüngler zählen zu den gefürchteten Wirbellosen. Neben den giftigen Tieren gelten aber auch andere Meereswirbellose als problematisch. Der Dornenkronenseestern bewohnt Korallenriffe normalerweise mit sehr geringen Individuenzahlen. Aus Gründen, die bis jetzt noch nicht völlig verstanden sind, kommt es gelegentlich zu starken Populationsanstiegen, bei denen die Steinkorallen schneller gefressen werden, als sie sich regenerieren. Auch die Ökosysteme der australischen Küstengewässer sind gefährdet. Durch Ballastwasser wurden Muscheln und Stachelhäuter eingeschleppt, die die einheimischen Arten verdrängen. In den Küstengewässern findet man auch zahlreiche Krebstiere; dazu zählen zahlreiche Vertreter der Zehnfußkrebse wie Einsiedlerkrebse, Riffhummer, Garnelen und Langusten. Zu den weniger bekannten Tiergruppen gehören die Remipedia, die Cephalocarida, Branchiopoda, Maxillopoda (zu denen unter anderem die Fischläuse und die Ostracoda gehören). Pleistozäne Megafauna Australiens Australien beherbergte im Pleistozän eine reichhaltige Großtierfauna, zu der das riesige Diprotodon, das Beutelnashorn Zygomaturus, der Beutellöwe, der Beuteltapir Palorchestes, große Kurzschnauzenkängurus (Procoptodon, Simosthenurus), das Riesenrattenkänguru Propleopus, der Waran Megalania und der riesige Vogel Genyornis zählten. Im Zuge der Quartären Aussterbewelle verlor Australien von den 24 Großtiergattungen (solche, die Vertreter mit 45 kg und mehr enthielten) alle mit Ausnahme einer einzigen, der der großen Kängurus (Macropus). Die meisten dieser Großtierarten dürften vor rund 50.000 Jahren ausgestorben sein, was stark mit dem ersten Erscheinen von Menschen auf dem Kontinent korreliert. Australiens Fauna und der Mensch Für mehr als 40.000 Jahre hat die Fauna Australiens eine integrale Rolle im traditionellen Lebensstil der Aborigines gespielt. Zu den von ihnen bejagten Tieren zählten die Beutelsäuger (z. B. der ausgestorbene Beutelwolf), Robben und Fische. Als Nahrungsgrundlage wurden auch Weichtiere und einige Insektenarten wie der Bogong-Falter genutzt. Zu ihrer Jagdweise gehörte der gezielte Einsatz von Buschfeuern. Nach wie vor diskutiert wird, inwieweit die Aborigines am Aussterben der australischen Megafauna beteiligt sind, zu denen einige Pflanzenfresser wie das riesige Diprotodon, die Kurzschnauzenkängurus und die flugunfähigen Vögel der Gattung Genyornis gehören. Archäologische Belege haben sich dafür bis jetzt nicht finden lassen. Als weitere mögliche Ursache könnte auch der Klimawandel im Pleistozän am Aussterben der Arten beteiligt gewesen sein. Der Einfluss der Aborigines auf Australiens Fauna wird nach allgemeinem Verständnis als wesentlich geringer eingeschätzt als der der Europäer, die seit 1788 das Land besiedeln. Bejagung, Habitatzerstörung und die Einführung nichteinheimischer Tier- und Pflanzenarten haben bis jetzt das Aussterben von mindestens 27 Säugetier-, 23 Vogel- und vier Froscharten zur Folge gehabt. 380 weitere Tierarten gelten als gefährdet. Besonders verheerend war die Einführung des Rotfuchses zu Jagdzwecken, der sich insbesondere nach der Dezimierung des lange zuvor heimischen Dingos stark ausgebreitet hat. Den Füchsen und auch verwilderten Hauskatzen fielen zahlreiche ursprünglich weit verbreitete Kleinsäugerarten Australiens zum Opfer. Einige, wie das Gebänderte Hasenkänguru und das Zottel-Hasenkänguru, überlebten zumindest auf kleinen, dem Festland vorgelagerten Inseln. Ein wichtiges Inselrefugium sind etwa Bernier und Dorre Island. Andere Arten, wie der Ameisenbeutler und das Kurznagelkänguru, konnten sich noch in winzigen Reliktarealen auf dem Festland halten. Teilweise werden sie heute in eingezäunten Reservaten, die frei von Füchsen gehalten werden, wieder ausgewildert. Zu diesen zählen das Scotia-Schutzgebiet in New South Wales und des Yookamurra-Schutzgebietes in South Australia. Die überwiegende Zahl der australischen Arten wird heute durch zahlreiche Gesetze geschützt; davon ausgenommen sind einige Känguru-Arten, die von der Ausdehnung der Weidelandwirtschaft profitierten und sich so stark vermehrt haben, dass sie gezielt abgeschossen werden. Zu den Schutzmaßnahmen gehört die Einrichtung von Reservaten und Naturschutzgebieten. Das Great Barrier Reef steht beispielsweise unter strengen Schutzbestimmungen. Seit 1973 existiert auch eine Bundesbehörde, die „Australian Biological Resources Study“, zu deren Aufgabe unter anderem die systematische Bestimmung, Klassifizierung und Verbreitung der australischen Tier- und Pflanzenwelt gehört. Geschützt sind auch alle Walarten in australischem Gewässer, und Australien hat die CITES-Konvention unterschrieben. Literatur T. M. Berra: A Natural History of Australia. Academic Press, San Diego 1998, ISBN 0-12-093155-9. Hans D. Dossenbach: Die Tierwelt Australiens. Silva-Verlag, Zürich 1986. D. W. Walton (Hrsg.): Fauna of Australia. Bd. 1A. Australian Government Publishing Service, Canberra 1987, ISBN 0-644-06055-7. G. M. McKay: Biogeography and Phylogeny of Eutheria (PDF; 351 kB). In: D. W. Walton, B. J. Richardson (Hrsg.): Fauna of Australia. Bd. 1B. Mammalia. Australian Govt. Pub. Service, Canberra 1989, ISBN 0-644-05483-2, S. 1–1227. Ronald Strahan (Hrsg.): Complete Book of Australian mammals, the national photographic index of Australian wildlife. Angus & Robertson, London 1984, ISBN 0-207-14454-0. Weblinks Australian Faunal Directory. Department of the Environment and Heritage, Canberra 2005. (nationales online resource Web-Portal) (Australian Faunal Directory) Australian Biological Resources Study Atlas of Living Australia Australiens Insekten Australiens Vögel Australian Museum, Australiens ältestes Naturkundemuseum in Sydney Crustacean Gallery – Krebstiere Australiens Fossilfundstätten Australiens Australian Venom Research Unit (Beschreibung und Bilder der giftigen Arten Australiens) Belege Geozoologie Umwelt und Natur (Australien)
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Ernst Heilmann
Ernst Heilmann (* 13. April 1881 in Berlin; † 3. April 1940 im Konzentrationslager Buchenwald) war ein deutscher Jurist und sozialdemokratischer Politiker. Vor dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Heilmann insbesondere als Journalist für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Während des Krieges gehörte er zu den entschiedenen Befürwortern der Burgfriedenspolitik und zählte zum rechten Rand der Partei, der offen für Annexionen eintrat. Nach der Novemberrevolution verlagerte Heilmann seinen Arbeitsschwerpunkt von publizistischen auf parlamentarische Aktivitäten. Er sicherte als Vorsitzender der SPD-Fraktion im Preußischen Landtag die Weimarer Koalition, die mit festem parlamentarischen Rückhalt im Freistaat Preußen über lange Jahre die Regierung stellte. Ab 1928 gehörte Heilmann ferner dem Reichstag an. Wenige Monate nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten wurde Heilmann inhaftiert. Die nachfolgenden Jahre verbrachte er in Konzentrationslagern, bis er schließlich in Buchenwald ermordet wurde. Herkunft, Jugend, Studium Ernst Heilmann wuchs in einer kleinbürgerlich-jüdischen Familie auf, in der der jüdische Glaube keine besondere Rolle spielte. Sein Vater Max besaß in Berlin ein Papiergeschäft. Seine Mutter Flora war eine geborene Mühsam, der Anarchist und Dichter Erich Mühsam war Vetter von Ernst Heilmann. Ernst Heilmann besuchte von 1888 bis 1900 das Cöllnische Gymnasium in Berlin, wo er häufig Klassenbester war. Zu den Schülern, die mit ihm das Abitur bestanden, zählte der spätere Schriftsteller Alfred Döblin. Ein weiterer Mitschüler, Moritz Goldstein, beschrieb Ernst als einen Gymnasiasten mit ausgeprägtem Interesse an Politik. Zudem bewies Heilmann Talent im Schachspiel. Er konnte mehrere Partien gleichzeitig und blind spielen. In den 1900er Jahren nahm er an mehreren Turnieren teil, unter anderem 1903/04 am ersten Turnier um die Meisterschaft von Berlin. Im Februar 1907 erreichte er seine höchste historische Elo-Zahl von 2516. Von 1900 bis 1903 studierte Heilmann an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin Rechtswissenschaften und Staatswissenschaften. Er schloss das Studium mit dem Ersten Staatsexamen ab. Der Vorbereitungsdienst wurde ihm aus politischen Gründen verwehrt, weil er bereits als siebzehnjähriger Gymnasiast der SPD beigetreten war. Diese Form des Berufsverbots für Anhänger der Sozialdemokratie war im Kaiserreich durchaus üblich. Politisches Wirken Arbeit für die SPD bis zum Ersten Weltkrieg Rasch nach seinem Eintritt in die SPD wurde Heilmann zum Leiter einer Gruppe sozialistisch gesinnter jugendlicher Arbeiter. Diesem ersten Schritt seiner Parteikarriere folgte nach 1903 die Arbeit als Parlamentsberichterstatter für sozialdemokratische Zeitungen. 1909 trat er als Chefredakteur in die Redaktion der sozialdemokratischen Chemnitzer Volksstimme ein und zog aus der Reichshauptstadt nach Chemnitz. In der Redaktion der Zeitung, die publizistisch zum rechten Parteiflügel gezählt wurde, arbeitete auch Gustav Noske. Heilmann selbst engagierte Erich Kuttner, der später gemeinsam mit ihm im Preußischen Landtag sitzen sollte. Die Zeitung, die sich zuvor in einer wirtschaftlichen Krise befunden hatte, erlebte unter Heilmanns Regie einen Aufschwung. Neben umfangreichen Werbemaßnahmen trug die Aktualität der Artikel dazu bei, für die Heilmann sorgte. Als leitender Redakteur des Blattes übernahm Heilmann die Verantwortung, wenn die Redaktion aus Sicht der Obrigkeit gegen Recht und Gesetz verstieß. Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über einen lokalen Streik erging gegen Heilmann 1911 eine Klage wegen Majestätsbeleidigung. Er verbüßte deshalb im zweiten Halbjahr dieses Jahres eine sechsmonatige Freiheitsstrafe. Neben seiner journalistischen Arbeit sprach Heilmann häufig in Wahlversammlungen und vor allem in sozialdemokratischen Bildungsveranstaltungen. In den letzten Vorkriegsjahren war er unter den Chemnitzer Parteifunktionären derjenige, der die meisten Vortragsverpflichtungen hatte. Mit seinen Veranstaltungen erreichte er die bildungsinteressierten, sozialistisch gesinnten Chemnitzer Arbeiter und Jugendlichen. Die Themen, über die Heilmann referierte, waren weit gespannt. So analysierte er im Jahr 1912 unter anderem das Ergebnis der Reichstagswahlen, sprach über den Ersten Balkankrieg, über Imperialismus, Frieden und Abrüstung. Auch Justizfragen und das allgemeine Wirtschaftsleben gehörten zu seinen Themen. Historische Gegenstände, die Bezug hatten zur 50-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie sowie zu den Befreiungskriegen von 1812, standen 1913 im Vordergrund. Ein weiteres Ergebnis der sächsischen Zeit Heilmanns war die Publikation der Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge. Die Veröffentlichung erfolgte aus Anlass des in Chemnitz im September 1912 tagenden SPD-Parteitages und wurde von Heilmann in nur knapp drei Monaten bewerkstelligt. Die Schrift war die erste umfassende Darstellung zu diesem Thema und zugleich, nach den Veröffentlichungen von Eduard Bernstein und Heinrich Laufenberg über die Berliner beziehungsweise die Hamburger und Altonaer Arbeiterbewegungsgeschichte, die dritte regionalgeschichtliche Studie über die Arbeiterbewegung überhaupt. Politik im Zeichen des Burgfriedens In der Julikrise 1914 organisierte die SPD, wie viele andere sozialistische Parteien Europas, Kundgebungen gegen den drohenden Krieg. Heilmann gehörte am 26. Juli 1914 zu den Rednern einer solchen Veranstaltung in Chemnitz. Hier legte er ein Bekenntnis zu Sozialismus und Frieden ab. Drei Tage später bekannte sich auch die Volksstimme zu diesen Zielen. Am 1. August 1914, nach der russischen Mobilmachung und nach der Ermordung des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès, vollzog die Zeitung unter seiner Leitung jedoch einen abrupten Wandel. Sie rief zur Erfüllung der Pflichten gegenüber dem Vaterland auf, jede Kritik an der Politik und den führenden Personen in Deutschland habe nun zu verstummen. Heilmann gehörte – wie die Mehrheit der sozialdemokratischen Funktionsträger – während des Ersten Weltkriegs zu den Befürwortern der Burgfriedenspolitik. Mehr noch, er exponierte sich als Vertreter einer sozialimperialistischen Politik innerhalb der Partei. Am 30. Juli 1915 schrieb er in der Volksstimme: „So zerschmetternd müssen die Feinde geschlagen werden, daß ihr Ring zerbricht, die Koalition birst […] Dazu hilft uns gegen diese Feinde nur eins: Den Daumen aufs Auge und die Knie auf die Brust.“ Für die radikale Linke stand das Urteil über Heilmann nach solchen Thesen fest, sie lehnte ihn fortan ab und konnte sich dabei auf Lenin berufen, der Heilmann 1917 als „extreme(n) deutsche(n) Chauvinist(en)“ bezeichnet hatte. Nachdem er in den ersten Kriegsmonaten junge Arbeiter zum Dienst an der Waffe aufgerufen hatte, meldete sich Heilmann 1915 selbst als Freiwilliger zum Militär. Damit endete seine Zeit in Chemnitz. 1916 kehrte er schwer verwundet und auf einem Auge blind von der Front zurück und wählte Charlottenburg zu seinem Wohnort. Publizistisch engagierte er sich weiterhin im Sinne der Mehrheitssozialdemokratie durch Beiträge in den Sozialistischen Monatsheften. Für die Zeitschrift Die Glocke verfasste Heilmann ebenfalls Beiträge. Diese Zeitschrift war Organ der Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe und galt als „Sprachrohr des ausgeprägt nationalen rechten Flügels der SPD“. Am 12. August 1916 forderte Heilmann in einem Glocke-Artikel offen Annexionen durch das Deutsche Reich. Einfluss nahm er auch durch die Leitung des Pressedienstes Internationale Korrespondenz, später in Sozialistische Korrespondenz umbenannt. Zudem gründete er mit Kuttner den Reichsbund der Kriegsbeschädigten. Preußischer Parlamentarier In den Wochen der Novemberrevolution versuchte Heilmann, die Geschehnisse durch Flugschriften und Zeitungsartikel im Sinne der Parteirechten zu beeinflussen, die eine Entwicklung nach dem Muster der Oktoberrevolution fürchtete und stattdessen eine parlamentarische Demokratie anstrebte. Nach der Revolution wurde Heilmann 1919 für die SPD Abgeordneter in der Stadtverordnetenversammlung von Charlottenburg, 1919 hatte er zudem einen Sitz in der Preußischen Landesversammlung. Anschließend gehörte er über die gesamten Jahre der Weimarer Republik der SPD-Fraktion im Preußischen Landtag an, seit Herbst 1921, nach dem Kapp-Putsch, war er ihr Vorsitzender. Von 1928 bis 1933 war er zudem Mitglied des Reichstags. 1929 übertrug ihm der SPD-Parteitag die Redaktion der Wochenzeitschrift Das freie Wort, in der er Beiträge unter seinem eigenen Namen und unter dem Pseudonym „Illo“ veröffentlichte. Persönlichkeit Hildegard Wegscheider, Fraktionskollegin im Preußischen Landtag, berichtete über Heilmanns rhetorische Fähigkeiten, er habe „mit einer ungeheuren Wucht und dabei mit leuchtender Klarheit reden“ können und so auf die Massen „ungeheuren Einfluss“ gehabt. Parlamentsreden hielt er frei, auch für offizielle Erklärungen im Namen der Fraktion machte er sich nur wenige Notizen. Gelegentlich zitierte er dabei Lassalle oder Bismarck aus dem Gedächtnis. Seine Artikel für Das freie Wort diktierte er ohne schriftliche Aufzeichnungen direkt in die Schreibmaschine. Seine Schriften zeichneten sich ebenfalls wiederholt durch scharfe Polemik sowie durch ein hohes intellektuelles Niveau aus. Mit seinem Redetalent machte Heilmann sich nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zeigte sich dies zum Beispiel im Barmat-Skandal. Im Zuge eines Korruptionsprozesses gegen die Brüder Barmat, drei aus Osteuropa eingewanderte Juden, waren SPD- und Zentrumspolitiker unter Druck geraten. Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) bemühten sich, auch Heilmann Verfehlungen anzuhängen. Der SPD-Politiker ging allerdings weitgehend schadlos aus den Verhandlungen eines eigens eingerichteten Untersuchungsausschusses hervor. Dennoch setzten seine deutschnationalen, völkischen und kommunistischen Gegner ihre Diffamierungen und Verleumdungen, er sei in den Skandal verwickelt gewesen, bis 1933 fort. Heilmann machte sich überdies angreifbar, indem er sich im Privatleben ausdrücklich als Bohemien verstand. Er genoss Unterhaltung, Spiel und Zigarren in seinem Lieblingslokal, dem Café Josty am Potsdamer Platz. Auch auf den Rennplätzen der Hauptstadt war er ein häufiger Gast. Hinzu kamen immer wieder Gerüchte über Frauengeschichten. All das reizte politische Gegner. Parteigenossen, häufig auf äußere Sittenstrenge Wert legend, hießen solch einen Lebenswandel ebenso wenig gut. Heilmann war gegenüber neuen Möglichkeiten der politischen Propaganda stets aufgeschlossen. So erkannte er früh die Bedeutung des Mediums Radio. 1923 gründete er die Aktiengesellschaft für Buch- und Presseausführung, die kurz darauf in die Drahtloser Dienst AG Dradag umgewandelt wurde. Sie war die zentrale Nachrichtenredaktion aller neuen Rundfunk-Sendegesellschaften der Republik. Als sie zu 51 Prozent in Staatshand überging, gehörte Heilmann bis 1931 dem Aufsichtsrat an. In den Kontrollgremien der Westdeutschen Rundfunk AG, der Mitteldeutschen Rundfunk AG und der Funk-Stunde Berlin hatte er ebenfalls Sitz und Stimme. Der rechtsgerichteten Redaktion der Rundfunkzeitschrift Der Deutsche Sender war Heilmann in seiner Rundfunkfunktion ein Dorn im Auge: Freiräume im Freistaat Im Freistaat Preußen fand Heilmann Bedingungen vor, die sich von denen im Reich deutlich unterschieden. Sie bildeten den Handlungsrahmen seiner politischen Entfaltung. Dazu gehörte zunächst das Fehlen von Konflikten, die die Reichsebene immer wieder vor schwere Belastungen stellten. Der Friedensvertrag von Versailles, die Außenpolitik und die Sozialpolitik waren Themen, die in erster Linie im Reichstag und in der Reichsregierung zu verhandeln waren, nicht im Preußischen Landtag oder im Preußischen Staatsministerium. Die Gestaltungsmöglichkeiten der SPD-Fraktion im Preußischen Landtag waren darüber hinaus durch das Fehlen einer parteiinternen Kontrollinstanz deutlich größer als jene der Reichstagsfraktion, die traditionell vor dem SPD-Parteitag Rechenschaft abzulegen hatte. In Preußen gab es keinen SPD-Landesverband, keinen Landesvorstand und auch keinen Parteitag. Die Landtagsfraktion, allen voran Heilmann, wies alle Versuche zurück, ihre Freiheit einzugrenzen. Das preußische Dreiklassenwahlrecht hatte dafür gesorgt, dass bis zur Novemberrevolution nur zehn Sozialdemokraten im Abgeordnetenhaus vertreten waren. Vor dem Ersten Weltkrieg avancierte die SPD hingegen im Reichstag zur größten Fraktion. Dennoch blieb sie dort ebenfalls von politischer Mitgestaltung ausgeschlossen und behielt deshalb bis August 1914 den strikten Oppositionskurs bei. Für viele SPD-Reichstagsabgeordnete galt der Kampf gegen die Regierung auch nach Krieg und Revolution als der Normalfall. Anders die Situation in Preußen: Von 114 Sozialdemokraten (1921) hatten nur vier vor dem Weltkrieg Mandate für das preußische Abgeordnetenhaus innegehabt. Die SPD-Fraktion im Preußischen Landtag konnte sich unter Führung Heilmanns deshalb rascher auf die neue Rollenverteilung von Parlament und Regierung einstellen. Die Homogenität der preußischen Parlamentarier war zudem größer. Die deutliche Mehrheit war reformorientiert und nicht revolutionär eingestellt. In der Reichstagsfraktion hingegen fanden sich viele Parteiintellektuelle, politische Schriftsteller und Redakteure. Sie zeigten ein höheres Maß an Individualismus, Kritikbereitschaft und Theoriefreude. Ein weiteres Kennzeichen der preußischen Landtagsfraktion war das Fehlen eines linken Flügels. In der Reichstagsfraktion dagegen hatte der linke Flügel durchaus Gewicht. Vor diesem Hintergrund gelang es Heilmann, die Machtstellung des preußischen Ministerpräsidenten zu sichern. Er schwor die SPD-Fraktion auf Braun ein, sodass diesem demütigende Erfahrungen erspart blieben, wie sie sozialdemokratischen Reichskanzlern wiederholt widerfuhren. Fundamental für die Stabilität der politischen Verhältnisse im Freistaat Preußen war schließlich das enge Bündnis zwischen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und dem politischen Katholizismus, dem Zentrum. Die Zusammenarbeit dieser beiden Parteien gelang, weil Heilmann als Vorsitzender der SPD-Fraktion und Joseph Heß, der Fraktionsgeschäftsführer und spätere Fraktionsvorsitzende des Zentrums, sich politisch und persönlich sehr gut verstanden. Beide hatten ihre jeweilige Fraktion fest im Griff und legten diese auf die Unterstützung der Staatsregierung fest, beide stimmten sich regelmäßig insbesondere in personalpolitischen und taktischen Fragen ab. Nicht zuletzt ihrer Kooperation war es zu verdanken, dass das schwarz-rote Bündnis trotz einiger Krisen bis 1932 bestand hatte. Dieses Bündnis wurde um die Deutsche Demokratische Partei (DDP) ergänzt, die das liberale, republikanisch gesinnte Bürgertum repräsentierte. Parlamentarischer Führer Heilmann war der Meinung, dass es starker Führungspersönlichkeiten bedürfe, um das parlamentarische System der Weimarer Republik zu tragen. In dieser Hinsicht lobte er Otto Braun, den langjährigen Ministerpräsident Preußens, öffentlich. Zu Brauns 60. Geburtstag schrieb er: In gleicher Weise erblickte er in Joseph Heß einen „wirklichen Führer“. Diese Wertschätzung der politischen Führungsfähigkeiten seiner politischen Weggefährten ist zugleich eine Charakterisierung Heilmanns eigener Stärken auf diesem Gebiet. In Konflikten wusste er sich durchzusetzen. Das zeigte sich bei wichtigen Personalentscheidungen. Nachdem Carl Severing 1926 als preußischer Innenminister zurückgetreten war, sollte nach dem Willen der SPD-Fraktion Robert Leinert nachfolgen, den Heilmann aber für kaum geeignet hielt. Braun liebäugelte zunächst mit Hans Krüger, dem damaligen Regierungspräsidenten von Lüneburg. Heilmann bevorzugte seinerseits Albert Grzesinski. Weil er sich damit in der Fraktion nicht durchsetzen konnte, trat er direkt vor der parlamentarischen Sommerpause als Fraktionsvorsitzender zurück. Nach der Sommerpause wählte die Fraktion ihn erneut zum Vorsitzenden. Wenig später bestellte Otto Braun Grzesinski qua Amtsmacht zum Innenminister. Heilmann hatte sich sowohl gegen die Fraktion als auch gegen Braun durchgesetzt. Dreieinhalb Jahre später, im Februar 1930, schied Grzesinski aus. Sein direkter Nachfolger Heinrich Waentig blieb nur ein Mann des Übergangs. Heilmann und Braun holten Carl Severing Mitte Oktober 1930 zurück, die Fraktion blieb auch bei dieser Personalentscheidung außen vor. Heilmann war wesentlich am Sturz von Kultusminister Carl Heinrich Becker beteiligt. Der Minister wurde, obgleich parteilos, allgemein der DDP zugerechnet, die auf diese Weise auf drei Minister kam, genau wie das Zentrum. Die SPD stellte als deutlich stärkste Fraktion im Landtag hingegen nur zwei: den Ministerpräsidenten und den Innenminister. 1928 kamen nach der Landtagswahl Überlegungen auf, die Weimarer Koalition von SPD, Zentrum und DDP durch Hinzuziehen der Deutschen Volkspartei (DVP) zu einer Großen Koalition auszubauen. In dieser Situation drängte die SPD auf ein Opfer der DDP – Becker geriet ins Visier. Heilmann stellte sich hinter die Forderung nach Ablösung dieses Ministers. Auch nachdem die Pläne zur Großen Koalition hinfällig geworden waren, hielten die SPD-Fraktion und ihr Vorsitzender an den Ablösungsplänen fest und forderten seit Sommer 1929 das Amt des Kultusministers für einen Sozialdemokraten. Der Kandidat der Genossen war Christoph König, Oberschulrat, Mitglied der SPD-Landtagsfraktion und mit starkem Rückhalt der Volksschullehrer unter den SPD-Landtagsabgeordneten ausgestattet. Heilmann und seine Fraktion hielten in dieser Frage den Druck auf Braun aufrecht, der sich Anfang 1930 gezwungen sah, Becker fallen zu lassen, obgleich bereits die Gerüchte um den Rücktritt dieses Ministers die liberale Öffentlichkeit aufgebracht hatten – gegen eine Ablösung hatten Prominente wie Thomas Mann, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Ernst Barlach, Max Liebermann, Albert Einstein und Theodor Wolff protestiert. Den Rücktritt Beckers konnte Heilmann als Erfolg verbuchen, nicht aber die Nachfolgeregelung im Kultusministerium. Braun entschied sich ohne weitere Konsultationen mit der Fraktion für Adolf Grimme, einen Sozialdemokraten, der nicht der Landtagsfraktion angehörte und der von Becker als Nachfolger vorgeschlagen worden war. Weil dieser sich als Minister rasch bewährte, gerieten die Turbulenzen um Becker bald in Vergessenheit. Hedwig Wachenheim, vor dem Ersten Weltkrieg persönliche und politische Weggefährtin von Ludwig Frank, dem charismatischen Spitzenpolitiker der süddeutschen Sozialdemokratie, erlebte Heilmann als Mitglied der SPD-Fraktion im Preußischen Landtag aus nächster Nähe. Rückblickend urteilte sie über dessen Führungsqualitäten: Heilmann gelang es zudem, einen Kreis enger Vertrauter aus der Fraktion um sich zu scharen, die halfen, die Fraktionsarbeit geschmeidig zu halten. Zu diesem Kreis zählten Wachenheim, Kuttner, Grzesinski, Ernst Hamburger, Toni Sender, Hans Staudinger und Wilhelm Siering. Eine Führungsrolle, wie er sie im Preußischen Landtag innehatte, konnte sich Heilmann im Reichstag nicht erarbeiten. Das Motiv dafür, ein Reichstagsmandat anzustreben, lag 1928 im Versuch, das demokratische Preußen über das Reich zu stärken. Gleiches galt auch für das Reichstagsmandat von Joseph Heß. Beide wollten zudem mit diesem Schritt das Reich und Preußen besser verzahnen – Pläne zur Personalunion preußischer und Reichsämter waren im Umlauf. Erfolg war ihren Ideen nicht beschieden: Heß gab bereits am 11. Juni 1928 sein Reichstagsmandat zurück, das er am 20. Mai 1928 gewonnen hatte; in der SPD stießen Heilmanns Gedanken zur stärkeren personellen Verklammerung von Preußen und Reich vielfach auf Unverständnis. Nation, Republik und Sozialismus Heilmann präsentierte sich während des Ersten Weltkrieges als Nationalist. In den Jahren der Republik lehnte er wie alle führenden deutschen Politiker den Versailler Vertrag ab, anfänglich hielt er es sogar für möglich, die Ratifikation zu verweigern. In späteren Jahren zeigte sich sein Patriotismus ebenfalls. Er sei immer wieder glücklich, wenn er von einer Auslandsreise nach Deutschland zurückkehre, so Heilmann. Sein Verhalten kurz vor seiner Verhaftung 1933, das Ausschlagen von Fluchtüberlegungen, resultierte ebenfalls aus diesem Bekenntnis zu Deutschland. Heilmann stand nicht nur zu seinem Vaterland, sondern auch zur Republik. Es erboste ihn, als 1930 die Jugendopposition der Partei mit dem Schlagwort operierte: „Republik, das ist nicht viel, Sozialismus bleibt das Ziel“. Die sich in solchen Losungen ausdrückende Gesinnung sei „vollendeter Unsinn“. Anhängern solcher Parolen seien sozialdemokratische Grundbegriffe noch kaum bekannt. Beides, Republik und Sozialismus, seien gleichwertige Ziele. Die Republik sei mehr als nur ein günstiger Kampfboden. Etwa zur gleichen Zeit machte er „eine gewollte Geringschätzung und Herabsetzung der Demokratie“ aus und hielt dies für unvereinbar mit der Zugehörigkeit zur SPD. Die parlamentarische Demokratie eröffnete für Heilmann die besten Möglichkeiten, die Ziele der Sozialdemokratie schrittweise zu erreichen. Dafür war seiner Meinung nach jedoch der Wille zur Macht, der Wille zum Regieren notwendig. Von den Oppositionsbänken aus sei das nicht zu leisten. 1927 sprach er auf dem Kieler Parteitag zu den Genossen: Als besonderen Erfolg der Koalition in Preußen bezeichnete Heilmann auf dem Preußentag der SPD am 14. Februar 1928 die Demokratisierung der Verwaltung. Nur wenn die SPD dauerhaft an der Regierung beteiligt sei und die Regierungen nicht in kurzen Intervallen wechselten, wäre eine Fortführung dieser Personalpolitik möglich – von ihm positiv als System Severing tituliert. Heilmann war überzeugt, dass mit der preußischen Schutzpolizei ein „zuverlässiges republikanisches Instrument“ entstanden sei. Mit einem gewissen Stolz blicke Heilmann außerdem auf das Krisenjahr 1923 zurück: Konsequenterweise kritisierte Heilmann die Tendenz in Teilen der Sozialdemokratie, in politischen Krisen die Oppositionsrolle anzustreben. Besonders deutlich wurde er dabei nach dem Auseinanderbrechen der Regierung Müller im Frühjahr 1930 und sah in den unsozialen Sparmaßnahmen der Nachfolgeregierung nachgerade eine Lernchance für die SPD: Bereits wenige Tage nach dem Ende der Großen Koalition auf Reichsebene hatte die von ihm geleitete SPD-Fraktion im Preußischen Landtag eine Entschließung angenommen, die das Verhalten der Schwesterfraktion im Reichstag offen kritisierte – ein höchst seltener Vorgang. An theoretischen Diskussionen über den Sozialismus und über den Weg dorthin beteiligte sich Heilmann kaum. Er war an praktischen Erfolgen interessiert. Sozialismus war für ihn nicht in einem einmaligen politischen Willensakt herstellbar, er ging stattdessen von einem Prozess aus, der Jahrzehnte andauern würde. Ihm kam es darauf an, auf diesem Weg des Wandels mehr und mehr Elemente der kapitalistischen Wirtschaft zurückzudrängen durch Formen der öffentlichen Wirtschaft. Die Förderung der Gemeinwirtschaft war zentrale Forderung der reformorientierten Sozialismusstrategie, die wesentlich von Rudolf Hilferding und Fritz Naphtali unter den Schlagworten „Organisierter Kapitalismus“ und „Wirtschaftsdemokratie“ ausformuliert wurde. Dieses Konzept versuchten die preußischen Sozialdemokraten unter Heilmanns und Brauns Führung nach und nach umzusetzen. Hierzu zählte das gezielt vorangetriebene Engagement des preußischen Staates als Unternehmer. Firmengründungen wie die der Preußag, der Preußischen Elektrizitäts AG oder der Vereinigten Elektrizitäts- und Bergwerk AG gehörten hierher. Auch die Hibernia AG wurde mit dieser Perspektive betrieben. Die Unterstützung des agrarisch-genossenschaftlichen Siedlungswesens durch die Preußische Staatsbank (Seehandlung) reihte sich in diese wirtschaftspolitischen Initiativen ein. Entsprechende Projekte der preußischen Kommunen wurden ebenso unterstützt. Der Sozialismus sollte nicht allein in der Wirtschaft, sondern zugleich über den Ausbau der Sozialpolitik und durch verbesserte Bildungschancen erstritten werden. Heilmann trieb mit Braun, Grzesinski und Grimme diesen Plan voran. Die Förderung des Wohnungsbaus und Reformen im Bildungswesen waren hierbei die wichtigsten Eckpunkte. Kampf gegen Republikgegner Ernst Heilmann wandte sich scharf gegen die Konservativen, Kommunisten und Nationalsozialisten, in denen er Gegner der Demokratie erblickte. Auf dem Preußentag der SPD stellte er im Februar 1928 die Politik der Regierungspartei dar und trat dabei deutlicher und kämpferischer hervor als Braun. Er kritisierte scharf die Rechtsparteien von der DNVP über die DVP und Wirtschaftspartei bis hin zu den Völkischen. Diese hätten seit 1925 immer wieder zusammen mit den Kommunisten versucht, die Regierung zu stürzen. Die Kommunisten hätten dabei die Ziele der Konservativen unterstützt und sich als „Hilfstruppe der Reaktion“ erwiesen. „Es ist wahrlich nicht das Verdienst der Kommunisten, daß in diesem Preußen nicht wieder die alte Junkerherrschaft aufgerichtet worden ist.“ Allerdings sei die Opposition von Rechts und von Links nur in der Negation vereint. Klammer sei der Hass gegen die Sozialdemokratie. Den Versuch, eine gemeinsame Regierung zu bilden, hätte die Opposition nie unternommen. Heilmann war bewusst, dass die Republik trotz vieler Erfolge auch in Preußen noch immer bedroht war. „Noch stehen im Osten und Westen tausende von Trutzburgen der Reaktion. Noch weht durch zahllose Amtsstuben die muffige Luft des alten bürokratischen Geistes aus dem Obrigkeitsstaat. Wir dürfen uns niemals dem Irrtum hingeben, daß wir mit dem Parlament allein dieser Rückständigkeit Herr werden könnten.“ Im Freien Wort bezeichnete er das Herrschaftssystem in der Sowjetunion als eine grässliche Karikatur des Sozialismus; ein Zusammengehen mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die aus seiner Sicht vollständig von Moskau abhing, hielt er für unmöglich, entsprechende Forderungen nannte er 1930 eine „unverzeihliche Naivität“. Im selben Jahr griff Heilmann die parteieigene Jugendorganisation, die Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ), scharf an, nachdem diese Karl-Liebknecht- und Rosa-Luxemburg-Feiern veranstaltet hatte. Er betonte, Liebknecht sei im Januar 1919 ein unversöhnlicher Gegner der Sozialdemokratie gewesen und in dieser Hinsicht mit Adolf Hitler vergleichbar. Feiern für Liebknecht seien für Sozialdemokraten „völlig unmöglich und untragbar“. Der sozialdemokratische Fraktionsführer griff die KPD auch an, weil diese mit ihrer Sozialfaschismus-Agitation den Faschismus-Begriff in ein Kampfinstrument gegen die Sozialdemokratie umbog und die Gefahr, die von den Nationalsozialisten ausging, verharmlose. Eine derart scharfe Abgrenzung nach links hielt Heilmann für notwendig, um resolut gegen die wachsende Gefahr des aufkommenden Nationalsozialismus kämpfen zu können. Eindringlich warnte Heilmann seit 1930 immer wieder vor dieser neuen politischen Kraft. Er betonte, Legalitätsbeteuerungen der Nationalsozialisten seien genauso wertlos wie deren Theorien. Es käme vielmehr auf deren politische Praxis an, und die sei „unbegrenzte Rohheit und zügellose Verleumdung“. Der Nationalsozialismus sei „ein Rückfall in Brutalität und Barbarei“. Heilmann skizzierte 1931 die Folgen, die eine Eroberung der Macht durch die NSDAP für die sozialistische Arbeiterbewegung haben würde: An anderer Stelle fasste er zusammen: „Die ganze Arbeiterbewegung wäre vogelfrei.“ Heilmann, der mit seinem Beitritt zur SPD die jüdische Kultusgemeinde verlassen hatte, thematisierte nicht ausdrücklich die Verfolgung und Vernichtung der Juden, die ihnen von den Nationalsozialisten drohten. Diese hatten Heilmann bereits vorgemerkt. Im Jahr 1929 – die NSDAP hatte im Deutschen Reichstag seinerzeit erst 12 Mandate – kündigte der spätere Reichsinnenminister Wilhelm Frick von der Tribüne des Parlaments den Tod Heilmanns an: Reichstagspräsident Paul Löbe rügte die Drohungen Fricks nicht, auch der Vorwärts reagierte nicht auf die Bemerkungen des Nationalsozialisten. In der Ära der Präsidialkabinette Das Ende der Regierung Müller und der Wechsel zum ersten Präsidialkabinett unter dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning im Frühjahr 1930 brachten für die Sozialdemokraten erhebliche Probleme mit sich. Brüning stützte sich nicht mehr auf das Parlament, sondern auf die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten. Zudem belasteten die von ihm durchgesetzten Maßnahmen zur Sanierung des Haushalts die Anhängerschaft der SPD. Zugleich wurde mit der Reichstagswahl vom 14. September 1930 deutlich, dass die radikalen Parteien gestärkt aus Wahlgängen hervorgingen, insbesondere die NSDAP, die ihre Mandatszahl von 12 auf 107 fast verneunfachen konnte. Um ein weiteres Anwachsen der Radikalen zu verhindern, tolerierte die SPD im Reichstag weitgehend die auf Kürzung der Sozialausgaben basierende Spar- und Deflationspolitik Brünings, welche aber die wirtschaftliche Krise noch verschärfte. Ernst Heilmann war in Preußen und im Reichstag einer der führenden Sozialdemokraten, der unter seinen Genossen für diese Tolerierungspolitik warb. Sie war seiner Ansicht nach zur Erhaltung der Republik alternativlos. Das entscheidende Medium seines Eintretens für diese Strategie war Das freie Wort. Er veröffentlichte in diesem sozialdemokratischen Diskussionsorgan zwischen Herbst 1929 und Ende Februar 1933, dem Zeitpunkt seines Verbots durch die Nationalsozialisten, mehr als 200 Artikel und Kommentare, zirka die Hälfte davon in den Jahren 1931 und 1932. Bereits in seinem ersten Kommentar nach der Reichstagswahl von 1930 erklärte Heilmann: In seinen weiteren Beiträgen nahm Heilmann oft die konkreten Gesetzesvorhaben der Regierung zum Anlass, um für die Beibehaltung des Tolerierungskurses gegenüber Brüning zu plädieren, der in der SPD höchst umstritten war. Der Berliner Parteibezirk und viele andere mehrheitlich linke Parteigliederungen liebäugelten nämlich mit einer Regierung Hitler-Hugenberg. An diese würden sie, wie Heilmann am 12. Oktober 1930 im Freien Wort höhnte, „die naivsten und entzückendsten Phantasien“, knüpfen, namentlich, dass sie den überall in Deutschland unbeliebten Young-Plan beseitigen und dann bald abwirtschaften würde. Heilmanns zentrale Frage war aber stets, ob eine Zustimmung zu von Brüning vorgelegten Gesetzentwürfen mit den Interessen der Arbeiterschaft vereinbar sei. Das Ergebnis war durchweg: Eine Wahl gibt es nicht, wesentliche Veränderungen gegenüber ersten Regierungsplänen sind von den Sozialdemokraten bereits durchgesetzt worden, lebenswichtige Interessen der Sozialdemokratie sind in dieser Entscheidung berücksichtigt. Die Tolerierung der Regierung Brüning sollte nach Heilmann zugleich die Weimarer Koalition in Preußen stabilisieren, da andernfalls die Zentrumsfraktion im Preußischen Landtag ihre langjährige Zusammenarbeit mit der SPD aufkündigen würde. Joseph Heß hatte Heilmann in dieser Hinsicht deutliche Warnhinweise gegeben. Um das demokratische Preußen abzusichern, entwickelten Politiker der Weimarer Koalition, allen voran Ernst Hamburger und Ernst Heilmann, eine neue Geschäftsordnung des Landtags. Sie sah vor, dass ein Ministerpräsident nur noch mit absoluter Mehrheit gewählt werden konnte – und nicht wie zuvor auch mit einer relativen Mehrheit im zweiten Wahlgang. Hintergrund war die am 24. April 1932 anstehende Landtagswahl, die befürchten ließ, dass in Preußen eine negative Mehrheit der Flügelparteien KPD und NSDAP entstehen würde. Tatsächlich waren die Befürchtungen berechtigt. Die SPD sank auf 21,2 % ab. Die DDP (jetzt Deutsche Staatspartei genannt) schrumpfte mit 1,5 % fast zur Bedeutungslosigkeit. Dagegen wuchs die NSDAP von 2,9 % auf 36,3 % an und wurde mit 162 Mandaten deutlich stärkste Fraktion. Die Weimarer Koalition hatte ihre Mehrheit verloren und kam zusammen nur noch auf 163 Mandate. Die veränderte Geschäftsordnung sicherte dennoch Brauns Verbleib im Amt des Ministerpräsidenten. Heilmann setzte sich nach der Wahl vehement dafür ein, die Chance der veränderten Geschäftsordnung auch tatsächlich zu nutzen; Stimmen aus der Fraktion, nun das Heil in der Opposition zu suchen, schob er beiseite, ebenso alle Bedenken des vom Wahlausgang schwer enttäuschen Otto Braun. Großen parlamentarischen Spielraum gab es nicht. Am wahrscheinlichsten schien eine Koalition aus NSDAP und Zentrum zu sein, die mit zusammen 229 Abgeordneten eine Mehrheitskoalition bilden konnten. Auch Braun und Severing hielten diese Lösung für wahrscheinlich. Dagegen erwartete Heilmann zu Recht, dass entsprechende Verhandlungen unter anderem an der Unnachgiebigkeit der NSDAP scheitern würden. „Die einzige Möglichkeit der Fortsetzung des staatlichen Lebens wäre dann, daß die Regierung Braun-Severing als geschäftsführendes Kabinett weiter amtet.“ Voraussetzung für ein dauerhaftes Minderheitskabinett wäre indes die Tolerierung durch die KPD gewesen. Heilmann appellierte daher: Heilmann warb nur in verhaltener Form um die KPD, um nicht den Koalitionspartner Zentrum in die Arme der NSDAP zu treiben. Ganz ausgeschlossen war eine Tolerierung durch die KPD nicht, da diese begonnen hatte, ihre Einheitsfrontpolitik zu ändern. Aber letztlich kam weder ein Bündnis aus Zentrum und NSDAP noch eine von der KPD gestützte Minderheitsregierung zu Stande. Das Eintreten Heilmanns für die Tolerierungspolitik auf Reichsebene führte innerhalb der SPD zum Erfolg. Die Partei stützte den Zentrumskanzler. Das damit verfolgte Ziel – Bewahrung der Demokratie – erreichte diese Strategie allerdings nicht. Brüning hielt den Einfluss der SPD auf Regierungsentscheidungen gering, er näherte sich SPD-Positionen nicht so an, wie Heilmann es erhofft hatte. Überdies honorierten die Wähler diese Politik nicht – insbesondere das Wachstum der NSDAP ließ sich auf diese Weise nicht verhindern. Selbst die Weimarer Koalition in Preußen war zur Ohnmacht verdammt, wie der Putsch der Regierung Papen am 20. Juli 1932 zeigte. Auch die Entscheidung des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932, die Minister formal wieder ins Amt zu setzen, änderte daran nichts. Dass die SPD bei der Reichspräsidentenwahl 1932 dafür warb, für Hindenburg zu stimmen, wie es auch Heilmann gefordert hatte, führte zu einer ähnlichen Bilanz. Hindenburg setzte sich zwar gegen Hitler und den KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann durch. Seine Macht gebrauchte er aber nicht, um Parlament und Republik, wie von der SPD gehofft, zu stärken. Heilmann verbreitete dennoch sowohl nach der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 als auch nach der Reichstagswahl vom 6. November 1932 Zuversicht. Er hielt den Angriff der Nationalsozialisten auf die Republik für abgewehrt. Zunächst wertete er im zweiten Halbjahr 1932 Hindenburgs Weigerung, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, als gutes Zeichen. Die Novemberwahl begrüßte Heilmann anschließend, weil sich in dieser Wahl erstmals Verluste der NSDAP einstellten. So frohlockte Heilmann am 13. November 1932 in Das freie Wort: „An die Hitler-Diktatur kann heute kein normaler Mensch mehr glauben.“ Zugleich blamiere dieses Wahlergebnis die Präsidialregierung unter Franz von Papen, die Heilmann als Vorspiel zum Faschismus betrachtet hatte. Heilmanns Optimismus war verfrüht. Am 30. Januar 1933 erfolgte schließlich die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Hindenburg. Von der Machtergreifung bis zur Verhaftung Gemäß der Tradition der deutschen Sozialdemokratie orientierte auch Heilmann seine Genossen auf den 5. März 1933, den Tag der Reichstagswahlen. Hier erhoffte er sich einen Sieg über die neue Regierung. Die Fixierung der Parteiarbeit auf Wahlkampf, Agitation, Mitgliederwerbung und Organisationsausbau wurde von ihm nach der Machtergreifung nicht in Frage gestellt – das Parlament galt weiterhin als Ausgangs- und Bezugspunkt politischen Handelns. Außerparlamentarische Strategien, etwa die Mobilisierung der Eisernen Front oder die Vorbereitung des Untergrundkampfes, hatten dagegen kaum Gewicht. Heilmann selbst ging weder in die Illegalität, noch floh er ins Ausland. Hedwig Wachenheim, die in die Schweiz auswich, forderte ihn auf, ebenfalls ins Exil zu gehen. Er lehnte ab: „Das ist nichts für mich, im Ausland als Emigrant und Privatmensch zu leben“. Victor Schiff, langjähriger Redakteur des Vorwärts, bot ihm einen Diplomatenpass, auch dieses Angebot schlug Heilmann aus. Er könne nicht fliehen. „Unsere Mitglieder, die Arbeiter können auch nicht davonlaufen.“ Er setzte vielmehr den Kampf gegen die Nationalsozialisten mit den ihm vertrauten parlamentarischen Mitteln fort. Die berühmte Rede, mit der der Parteivorsitzende Otto Wels am 23. März 1933 vor dem Reichstag begründete, warum die sozialdemokratischen Abgeordneten das Ermächtigungsgesetz ablehnten, basierte auf einem gemeinsamen Entwurf von ihm, Wels, Kurt Schumacher und dem Chefredakteur des Vorwärts, Friedrich Stampfer. Heilmann zeigte sich in diesen Wochen öffentlich und besuchte weiterhin sein Stammcafé. Auch an der Reichskonferenz der SPD am 19. Juni 1933 nahm er teil. Die Inlands-SPD versuchte auf dieser Tagung ihre Position zum Exilvorstand um Otto Wels zu finden, der die Partei von Prag aus zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufgerufen hatte. Heilmann trat auf dieser Konferenz nicht in den Vordergrund, sprach sich aber – wie die Mehrheit der Teilnehmer – dafür aus, die Verbindung zum Exilvorstand zu kappen. Widerstand lehnte er ab. Stattdessen sollten die Genossen „den Faden der Legalität weiterspinnen, solange er weitergesponnen werden kann“. Diese Legalitätstaktik fand ein rasches Ende. Drei Tage später, am 22. Juni 1933, verboten die Nationalsozialisten die SPD. Haft In Konzentrationslagern Am 26. Juni 1933 verhaftete die Gestapo Heilmann im Café Josty. Sie brachte ihn ins KZ Columbia und wenige Tage später in das Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Bereits in den ersten Hafttagen wurde Heilmann schwer misshandelt. Weitere Stationen der Internierung schlossen sich an: Haftanstalt Plötzensee, KZ Börgermoor, KZ Esterwegen, KZ Oranienburg, KZ Sachsenhausen, KZ Dachau und schließlich ab September 1938 das KZ Buchenwald. In Börgermoor versuchte Heilmann, seinen Qualen ein Ende zu bereiten, indem er die von den Wachmannschaften gebildete Postenkette überschritt, um tödliche Schüsse der Wachen zu provozieren. Diese schossen ihm jedoch nur in das rechte Bein. Kommunistische Inhaftierte in Buchenwald begegneten Heilmann mit Misstrauen und Hass. Sie sahen in ihm einen rechten Opportunisten und SPD-Bonzen. Ihre Ablehnung wurde durch Heilmanns Weigerung geschürt, sich im Lager ihren politischen Absichten unterzuordnen. Auch jüngere Sozialdemokraten, die die Tolerierungspolitik abgelehnt hatten, verhielten sich Heilmann gegenüber distanziert. In Buchenwald war von der politischen Kraft des vormaligen Fraktionsführers nach jahrelanger Haft nicht mehr viel geblieben. Walter Poller, Arztschreiber in Buchenwald, berichtete 1946 rückblickend von einer Begegnung mit Heilmann am Jahresende 1938: Heilmann sprach gegenüber Poller von einem kommenden Krieg, der für die nicht-jüdischen Gefangenen eine Chance bedeuten könne, weil sie dabei wohl gebraucht würden. Für Juden sah er dagegen kaum eine Überlebenschance. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges rechnete Heilmann nach Angaben des aus Österreich stammenden jüdischen Häftlings Dr. Gustav Bauer, später eingesetzt in der Häftlingsschreibstube in Buna/Monowitz, täglich mit seiner Ermordung. Sämtliche Versuche seiner Freunde und Verwandten, sein Schicksal abzuwenden oder zu mildern, scheiterten. Die Entscheidung darüber hatte sich Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, persönlich vorbehalten. Tod Am 31. März 1940 wurde Heilmann beim Abendappell herausgerufen und in den Bunker des Konzentrationslagers Buchenwald abgeführt. Am Morgen des 3. April tötete ihn der als „Henker von Buchenwald“ berüchtigte SS-Hauptscharführer Martin Sommer mit einer Giftspritze. In der Meldung an die Kommandantur des Lagers hieß es, Heilmann sei um 5:10 Uhr „an Herzschwäche bei Herzfehler (Wassersucht)“ verstorben. Das offizielle SS-Protokoll behauptete hingegen, eine ausgesprochene Altersschwäche sei die Todesursache gewesen. Heilmann hinterließ seine Ehefrau Magdalena, mit der er seit 1920 verheiratet war, sowie vier Kinder, darunter Peter Heilmann. Nachwirkung Forschungssituation Die Geschichtswissenschaft hat sich bis Mitte der 1970er Jahre kaum mit Heilmann befasst. Erstmals stellte der Historiker Hagen Schulze in seiner 1977 veröffentlichten Biographie über Otto Braun die Bedeutung Heilmanns heraus. Er sah in ihm einen entscheidenden personellen Faktor für die langjährige Zusammenarbeit der Weimarer Koalition im Freistaat Preußen. „Ohne Ernst Heilmann wäre Otto Brauns politische Stellung nicht möglich gewesen (…).“ Anfang der 1980er Jahre publizierte der Politikwissenschaftler Peter Lösche eine Reihe kleinerer Schriften zu Heilmann. Auch der Historiker Horst Möller trat mit einem entsprechenden Aufsatz hervor. Anlass dieser Publikationen war der hundertste Geburtstag Heilmanns. All diesen Darstellungen war gemein, dass sie sich auf die Hochphase des Heilmannschen Schaffens konzentrierten: auf seine Arbeit als Fraktionsführer der SPD im Preußischen Landtag. Lösche hält Heilmann für einen der „zehn bedeutendsten und einflussreichsten Politiker der Weimarer Republik“. Möller nennt ihn einen „der profiliertesten Verteidiger der Republik“ sowie einen der „hellsichtigsten Kämpfer() gegen den Nationalsozialismus in Deutschland“. Auch sei Heilmann nach Horst Möller zu den wenigen Weimarer Parlamentariern von überragendem Format zu zählen. Der Historiker und Journalist Rainer Krawitz verfasste ein Radio-Feature über Heilmann, das der Deutschlandfunk im April 1981 sendete. 1993 publizierte der Archivar Stephan Pfalzer einen kurzen Aufsatz über Heilmanns Aktivitäten in Chemnitz. Wolfgang Röll, Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald, beschäftigte sich in seiner Arbeit über sozialdemokratische Häftlinge im KZ Buchenwald auf einigen Seiten auch mit dem Schicksal Heilmanns in diesem Lager. Eine umfassende Biographie über Ernst Heilmann ist bislang nicht verfasst worden. Erinnerung Ernst Heilmann blieb über Jahrzehnte weitgehend vergessen. In den Erinnerungsschriften seiner Mitstreiter wie Braun, Severing, Grzesinski oder Stampfer führte er nur ein Schattendasein oder wurde überhaupt nicht erwähnt. Auch in Brünings Memoiren und in den Lebenserinnerungen Arnold Brechts wird er nicht beziehungsweise nur am Rande angesprochen. An verschiedenen Orten wird an Heilmann erinnert. Insbesondere in Berlin findet sich sein Name an unterschiedlichen Plätzen. Dazu gehören in der Nähe der Hinrichtungsstätte Plötzensee der Heilmannring und der Ernst-Heilmann-Steg zur Kreuzberger Lohmühleninsel. Im Abgeordnetenhaus von Berlin, dem Gebäude des früheren Preußischen Landtags, der bedeutendsten Wirkungsstätte dieses Politikers, findet sich ein Ernst-Heilmann-Saal. Seit 1989 ist an seinem früheren Wohnhaus in der Brachvogelstraße 5 in Kreuzberg eine Gedenkplatte für Heilmann angebracht. Seit 1992 erinnert in Berlin in der Nähe des Reichstags eine der 96 Gedenktafeln für von den Nationalsozialisten ermordete Reichstagsabgeordnete an Heilmann. Auf Beschluss des Berliner Senats ist die letzte Ruhestätte von Ernst Heilmann auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof in Stahnsdorf (Grablage: H-III-UW-72) seit 1999 als Ehrengrab des Landes Berlin gewidmet. Die Widmung wurde im Jahr 2021 um die übliche Frist von zwanzig Jahren verlängert. Ernst-Heilmann-Straßen gibt es in Chemnitz, in Forst (Lausitz), in Bergkamen sowie in Niederheimbach. In Cottbus ist der Ernst-Heilmann-Weg nach ihm benannt, in Hildesheim der Ernst-Heilmann-Grund. Literatur Spezifische Literatur Alex J. Kay: Death Threat in the Reichstag, June 13, 1929: Nazi Parliamentary Practice and the Fate of Ernst Heilmann. In: German Studies Review 35.1 (2012), S. 19–32. Jens Flemming: Heilmann, Ernst. In: Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, hrsg. von Manfred Asendorf und Rolf von Bockel: J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 1997, ISBN 3-476-01244-1, S. 242–244. Ernst Menachem Heilmann: Überlegungen und Erfahrungen sowie persönliche Schicksale und Lebensbilder einer verfolgten Familie In: Lorenz Gösta Beutin, Wolfgang Beutin, Ernst Menachem Heilmann (Hrsg.): In Nürnberg machten sie ein Gesetz (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte), Peter Lang GmbH – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/Main 2011, ISBN 978-3-631-61534-8. Rainer Krawitz: Preußens ungekrönter König. Zum 100. Geburtstag des SPD-Politikers Ernst Heilmann. Sendung des Deutschlandfunks am 7. April 1981, Manuskript (unpaginiert). Peter Lösche: Ernst Heilmann – Sozialdemokratischer parlamentarischer Führer im Preußen der Weimarer Republik. In: GWU, 33. Jg. (1982), H. 7, S. 420–432. Peter Lösche: Ernst Heilmann (1881–1940). Parlamentarischer Führer und Reformsozialist. In: Peter Lösche, Michael Scholing, Franz Walter: Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten. Colloquium Verlag, Berlin 1988, ISBN 3-7678-0741-6, S. 99–120. Horst Möller: Ernst Heilmann. Ein Sozialdemokrat in der Weimarer Republik. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Band XI, 1982, S. 261–294. (Neu veröffentlicht in: Horst Möller: Aufklärung und Demokratie. Historische Studien zur politischen Vernunft. Hrsg. von Andreas Wirsching. Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56707-1, S. 200–225 (books.google.de)). Stephan Pfalzer: Ernst Heilmann in Chemnitz. In: Helga Grebing, Hans Mommsen, Karsten Rudolph (Hrsg.): Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, Schriftenreihe A: Darstellungen, Band 4). Klartext Verlag, Essen 1993, ISBN 3-88474-032-6, S. 139–146. Siegfried Heimann: Ernst Heilmann – Parlamentarier, Sozialdemokrat. Abgeordnetenhaus von Berlin, Berlin 2010, ISBN 978-3-922581-02-4 Weiterführende Darstellungen Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen. 1919–1932 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus, im Auftrage der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien herausgegeben von Gerhard A. Ritter), Droste, Düsseldorf 1985, ISBN 3-7700-5133-5. Wolfram Pyta: Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, hrsg. von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 87). Droste, Düsseldorf 1989, ISBN 3-7700-5153-X. Wilhelm Ribhegge: Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789–1947 (Sonderausgabe für die Landeszentrale für politische Bildung NRW), Münster 2008; seitenidentisch mit (…) Verlag Aschendorff, Münster 2008, ISBN 978-3-402-05489-5. Wolfgang Röll: Deutsche Sozialdemokraten im Konzentrationslager Buchenwald. 1937–1945. Unter Einbeziehung biographischer Skizzen. Hrsg. von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Wallstein, Göttingen 2000, ISBN 3-89244-417-X. Robert Sigel: Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, Band 14). Duncker und Humblot, Berlin 1976, ISBN 3-428-03648-4. Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie. Ullstein, Propyläen, Frankfurt am Main u. a. 1977, ISBN 3-550-07355-0. Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Verlag Dietz J.H.W. Nachf., Bonn 1990, ISBN 3-8012-0095-7 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Band 11). Weblinks Literatur von und über Ernst Heilmann im Katalog der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn (in die Suchmaske „Ernst Heilmann“ eingeben). in der Internetausstellung „Die politischen Häftlinge des KZ Oranienburg“ Ernst Heilmann. Friedrich-Ebert-Stiftung: Archiv der sozialen Demokratie Alex Möller: Erinnerung an einen großen Sozialdemokraten, Ernst Heilmann wurde vor 31 Jahren vom NS-Regime ermordet. In: Sozialdemokratischer Pressedienst, 1971, H. 63, 1. April 1971, S. 1–2 (ibrary.fes.de (PDF; 214 kB) abgerufen am 6. September 2008). Alex Kay: Chronik eines angekündigten Mordes. Vor 70 Jahren wurde der Sozialdemokrat Ernst Heilmann im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Damit gedroht hatte NS-Führer Wilhelm Frick schon 1929 im Reichstag. In: der Freitag, Nr. 11, 19. März 2010, S. 12. Einzelnachweise Mitglied des Preußischen Landtags (Freistaat Preußen) Reichstagsabgeordneter (Weimarer Republik) Häftling im KZ Columbia Häftling im KZ Esterwegen Todesopfer im KZ Buchenwald Häftling im KZ Dachau Häftling im KZ Sachsenhausen Häftling im KZ Börgermoor SPD-Mitglied Jurist Schachspieler Schachspieler (Deutschland) Bestattet in einem Ehrengrab des Landes Berlin Deutscher Geboren 1881 Gestorben 1940 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ligue%201
Ligue 1
Die Ligue 1 [] ist die höchste Spielklasse im französischen Männerfußball; von 1932 bis 2002 hieß sie Division 1 oder Première Division (D1). Sie war von Anbeginn an eine Profiliga. Es gab zwar schon seit 1894 französische Meisterschaften, aber erst seit 1932 zählt der Gewinn der Meisterschaft (Championnat de France) als offizieller Titel. In einem Land, in dem diese Sportart in der Publikumsgunst noch bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinter Radsport, Boule und Rugby zurückstand, hat der professionelle Fußballspielbetrieb lange gebraucht, bis er um die Jahrtausendwende zu den fünf stärksten Ligen Europas gerechnet werden konnte. Der Spitzenfußball in Frankreich ist heute sehr viel globalisierter und damit verwechselbarer, hat dabei aber immer noch einige sehr „französische“ Eigenheiten bewahrt (siehe unten). Zu dieser Entwicklung haben sowohl außerfranzösische als auch landesspezifische Rahmenbedingungen, Organisationsformen und Strukturen beigetragen, die in der bisher rund 85-jährigen Ligageschichte das Gesicht des französischen Fußballs – weit über seine drei „großen Namen“ Kopa, Platini und Zidane und erste, inselhafte Erfolge (Ende der 1950er- und in den 1980er-Jahren) hinaus – geprägt haben und die hier en détail dargestellt werden. Hinweis: Zahlreiche französische Vereine haben in diesem Zeitraum ihren Namen geändert; hier wird stets die zum Zeitpunkt ihrer Erwähnung jeweils gültige Bezeichnung verwendet. Vorgeschichte Der späte Beginn: Ursachen Von den ersten Landesmeisterschaften (1894, noch auf Paris beschränkt) bis zur Bildung einer das ganze Land umfassenden, einheitlichen Spielklasse vergingen knapp vier Jahrzehnte, in denen gleichwohl bereits Meisterschaften und Pokalwettbewerbe ausgetragen wurden. Für diese – jedenfalls im Vergleich zum „Fußballmutterland“ England – lange Anlaufzeit gibt es eine Reihe von Ursachen, die teilweise typisch für die Frühgeschichte des Fußballs in ganz Europa sind, teilweise aber auch mit spezifisch französischen Bedingungen zusammenhängen. Ein wesentlicher Grund lag in der Verbandsvielfalt (oder, negativ ausgedrückt, in der organisatorischen Zerrissenheit) des französischen Sportes bis nach dem Ersten Weltkrieg: ein einheitlicher Verband, die Union des sociétés françaises de sports athlétiques (USFSA), existierte nur von 1887 bis 1905; zwischen 1905 und 1919 gab es hingegen bis zu fünf konkurrierende Verbände, in denen Fußballvereine organisiert waren und ihre jeweiligen Meister ermittelten (Genaueres hier). Zwar schufen diese 1908 einen gemeinsamen Dachverband (Comité Français Interfédéral, CFI), dem aber erst 1913 alle Organisationen des Fußballsports beigetreten waren; und schon 1914 unterbrach der Erste Weltkrieg für mehr als vier Jahre alle Einigungsbestrebungen, ehe diese Bemühungen 1919 zur Gründung der Fédération Française de Football Association (FFFA, später nur noch FFF) führten. Damit war der Weg zu einer landesweiten, professionellen Liga aber noch keineswegs frei, denn der CFI hatte mit dem Verlag Édition Hachette eine Abmachung getroffen, die dies zunächst verhinderte: Hachette sponserte den 1917/18 ins Leben gerufenen Landespokalwettbewerb, die Coupe de France, mit jährlich 5.000 Francs und hatte sich im Gegenzug dafür das Recht zusichern lassen, dass bis 1928 kein anderer landesweiter Wettbewerb ausgetragen werden dürfe. Zudem verzögerte sich der Start der Liga in den Jahren danach auch aufgrund der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und wegen der Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern einer Professionalisierung des Sportes. Entstehung eines verkappten Professionalismus Professionalisierung im Fußball war in Frankreich kein gänzlich neues Thema. So erhielt Frankreichs Nationaltorwart Pierre Chayriguès, wie er Ende der 1920er selbst bekannte, 1911 für seinen Wechsel zu Red Star Paris 500 Francs und verdiente anschließend ein monatliches Fixum von 400 FF zuzüglich Siegprämien von jeweils 50 FF. Nach Länderspielen holte er sich regelmäßig einen vierstelligen Betrag aus der FFFA-Geschäftsstelle ab, den der Verband – dessen Präsident Jules Rimet erklärter Verfechter des Amateurgedankens war – als „Reisespesen“, „Verdienstausfallerstattung“ oder „Arzneikosten“ deklarierte. Deswegen konnte Chayriguès es sich erlauben, 1913 ein lukratives Angebot von Tottenham Hotspur (die Rede war von 25.000 FF), in England zu spielen, auszuschlagen. Virulent wurde die Thematik aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, weil ab 1919 die FFFA eine Vereinheitlichung zugunsten des Amateurismus durchzusetzen vermochte, während bis 1914/18 die Verbände unterschiedlich „großzügig“ mit dieser Frage umgegangen waren. Bei etlichen Vereinen kam es daraufhin zu verschiedenen Formen eines heimlichen Berufsspielertums, wie sie auch in Deutschland vor Einführung der Bundesliga existierten. Manche Klubs wurden durch örtliche Unternehmen unterstützt, die sich einen Betriebssportverein hielten und dadurch Arbeitsplätze oder direkte Zahlungen bieten konnten (wie etwa der Automobilhersteller Peugeot in Sochaux, die Einzelhandelskette Casino in Saint-Étienne oder die Sektkellerei Pommery & Greno in Reims). Andere Vereine lockten umworbene Spieler mit der Existenzsicherung durch Übernahme eines kleinen Geschäfts: was früher in Deutschland die Lotto-Toto-Annahmestelle war, war in Frankreich oft ein Bar-Tabac. Einzelne populäre Spieler vermarkteten auch schon frühzeitig ihren Ruhm; so warben die Nationalspieler Eugène Maës und Henri Bard für Fußballstiefel, die ihren Namen trugen. Bei einigen Klubs waren Zahlungen an Spieler in den 1920ern ein offenes Geheimnis. Zu Olympique Marseille beispielsweise kamen Saison für Saison französische und ausländische Nationalspieler keineswegs nur wegen des angenehmen mediterranen Klimas; bei Red Star Paris spielten nach 1924 zwei Spieler, die kurz zuvor mit Uruguay Olympiasieger geworden waren; Sports Olympiques Montpelliérains hatte 1929 vier namhafte Spieler aus der Schweiz und Jugoslawien in seinen Reihen; der FC Sète ergänzte 1930 das „Ausländerkontingent“ in seinem Kader (drei Briten und ein Jugoslawe) um einen Ungarn, einen Algerier und einen weiteren serbischen Nationalspieler … Der Nachweis dieses verkappten Professionalismus, den die Franzosen l'amateurisme marron (etwa mit „trickreicher Amateurismus“ zu übersetzen) nennen, fiel der FFFA jedoch schwer: so schloss sie 1923 den FC Cette (heute Sète) aus dem Pokalwettbewerb aus, weil dessen Schweizer Spieler Georges Kramer noch kein halbes Jahr in Frankreich ansässig war – doch ein anderes Verbandsgremium entschied Monate später mit einer Stimme Mehrheit, dies rechtfertige nicht die harte Strafe (weshalb Sète sogar die verpassten Pokalrunden nachholen durfte; Genaueres siehe hier). Zwangsläufig gehörte Sètes langjähriger Präsident Georges Bayrou zu den hartnäckigsten Befürwortern der Einführung eines offiziellen Berufsspielertums, für das er in der Presse und auf allen Verbandsebenen immer wieder warb. Wenn also die FFFA die Bezahlung von Spielern schon nicht verhindern konnte, so musste ihr Interesse darin bestehen, diese Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken und dadurch zu kontrollieren. Der französische Verband hat sich dann – anders als beispielsweise der Deutsche Fußballbund, der sich 1929/30 („Fall Schalke“, Gründung des Deutschen Professional-Fußballbundes) ebenfalls massiv mit diesem Schisma auseinandersetzen musste – relativ zügig für einen offensiven Umgang mit dem Scheinamateurismus entschieden. Die „Coupe Sochaux“ Ausgerechnet der erst kurz vorher gegründete FC Sochaux leistete entscheidende Schrittmacherdienste für die Einführung eines landesweiten Ligabetriebes: 1930 stiftete der Vereinssponsor mit Genehmigung der FFF einen Pokal, die Coupe Sochaux, und lud zu diesem weitgehend im Ligamodus ausgetragenen Wettbewerb neben dem FC Sochaux die sieben vermeintlich stärksten Mannschaften ein: je zwei aus dem Norden (Lille Olympique, RC Roubaix), dem Süden (Olympique Marseille, FC Sète) und Paris (Red Star, Club Français) sowie eine aus dem Osten (FC Mulhouse). Dieser Wettbewerb endete 1931 mit dem 6:1-Endspielsieg des Ausrichters gegen Lille. Im Jahr darauf (1931/32) wurde der Wettbewerb wiederholt, diesmal bereits mit 20 Teilnehmern (Sieger: FC Mulhouse, 4:2 gegen Stade Français Paris), und das öffentliche Echo verdeutlichte das große Interesse an einer höchsten nationalen Spielklasse. Die „Stunde Null“ Am 16. Januar 1932 beschloss eine zwölf Monate vorher eigens dafür von der FFF eingesetzte Kommission unter Jean Bernard-Lévy die endgültigen Modalitäten des zukünftigen Berufsfußballs in Frankreich. Verabschiedet wurde u. a. auch ein Profispielerstatut, nach dem die Spieler mit monatlich höchstens 2.000 alten Francs entlohnt werden durften. Außerdem wurden zwei Aufsichtsgremien geschaffen: Das eine war für Spieler- und Vertragsfragen zuständig; ihm stand der ehemalige Nationalspieler und Journalist Gabriel Hanot vor. Das zweite (Groupement des Clubs Professionnels) befasste sich unter dem späteren Verbandspräsidenten (ab 1949) Emmanuel Gambardella mit Ligabetrieb und Meisterschaft; in ihm waren auch mehrere Vereinsvertreter stimmberechtigt. Die ersten Jahre (1932–1939) Mit der Spielzeit 1932/33 (exakt am 11. September 1932) begann in Frankreich der professionelle Spielbetrieb. Dazu mussten – und müssen sich bis heute – die teilnehmenden Klubs ein Profistatut geben. 20 Vereine erhielten 1932 die Zulassung für diese erste Spielzeit und gelten somit als die Gründungsmitglieder der Liga. Sie wurden in zwei Spielstaffeln eingeteilt, aber nicht nach regionalen Gesichtspunkten, sondern in jeder Gruppe spielten Vereine aus dem gesamten Staatsgebiet. Der Gruppe A wurden zugeordnet: FC Hyères, Olympique Lillois, Olympique Marseille, FC Mulhouse, SC Nîmes, OGC Nizza, Excelsior AC Roubaix, FC Sète sowie aus Paris Racing Club und Club Français.In Gruppe B spielten: Olympique Alésien, Olympique Antibes, AS Cannes, SC Fivois, FC Metz, Sports Olympiques Montpelliérains, Stade Rennais UC, FC Sochaux-Montbéliard und aus Paris Red Star Olympique sowie Cercle Athlétique. Die beiden Gruppensieger (Lille Olympique und Olympique Antibes) sollten in einem Endspiel den ersten französischen Meister ermitteln – das allerdings gewann Lille gegen die AS Cannes, den Zweiten der Gruppe B, weil Antibes der Bestechung eines Gegners überführt und auf Platz Zwei zurückgestuft wurde. Am Ende der ersten Saison stiegen gleich sechs Klubs ab (Club Français, Red Star, Hyères, Metz, Mulhouse und Alès), keiner kam neu hinzu – die D1 wurde vorübergehend auf 14 Mannschaften verkleinert und fortan nur noch in einer Gruppe ausgespielt. In den Vorkriegsspielzeiten bis 1938/39 litt der Ligabetrieb zunächst unter manchen „Kinderkrankheiten“. Der Spielmodus wurde häufig verändert (siehe unten), 1933 eine zweite und 1936 eine dritte Liga eingeführt, wobei Letztere nur eine Spielzeit lang Bestand hatte. Neun Vereine übernahmen sich wirtschaftlich und mussten nach kurzer Zeit den Berufsfußball zumindest vorübergehend wieder aufgeben (1934 OGC Nizza, US Suisse Paris, FC Lyon; 1935 US Tourcoing, FC Hispano-Bastidien Bordeaux, SC Nîmes, Club Français, US Saint-Servan-Saint-Malo; 1936 AS Villeurbanne). Andererseits erhöhte sich die Zahl der Profiklubs in D1 und D2 von 20 (1932/33) über 34 (1935/36) auf 37 (1938/39), und der französische Fußball zog Spieler aus vielen anderen Ländern an, was zweifellos seiner Qualität zugutekam: 1933/34 beispielsweise standen u. a. dreizehn Österreicher, zehn Engländer, sieben Ungarn, fünf Schotten und fünf Deutsche in Frankreichs Eliteklasse unter Vertrag – mit steigender Tendenz, was 1938 zur Beschränkung der Höchstzahl spielberechtigter Ausländer auf zwei pro Mannschaft führte (siehe auch unten). In dieser Zeit gab es noch keinen Verein, der die Liga eindeutig dominiert hätte; vielmehr teilten sich fünf Klubs die sieben Meistertitel: der FC Sochaux und der FC Sète waren je zweimal, Olympique Marseille, Lille Olympique und der Racing Club je einmal erfolgreich. Die „Kriegsmeisterschaften“ Von 1940 bis 1945 war Frankreich in weiten Teilen von der deutschen Wehrmacht besetzt, ein landesweiter, einheitlicher Spielbetrieb unter Profibedingungen auch aus anderen Gründen nicht möglich. So gab es zwar einen Ligabetrieb in zwei bzw. drei regionalen Gruppen, aber die Aufteilung des Landes in eine freie, eine besetzte und eine verbotene Zone (zone libre, zone occupée, zone interdite) ließ (außer 1945) keine Endspiele zu. 1940/41 konnten Mannschaften aus dem grenznahen Norden und Nordosten überhaupt nicht am zonenübergreifenden Spielbetrieb teilnehmen. Zudem versuchte die dem professionellen Sport ablehnend gegenüberstehende Vichy-Regierung, ihren bei Sportlern und Sportanhängern unpopulären Standpunkt in kleinen Schritten durchzusetzen: in der Saison 1941/42 setzte das Comité national des sports unter Leitung des Staatskommissars Colonel Pascot die Spieldauer von 90 auf 80 Minuten herab. Zwar wurde diese Entscheidung nach einem Jahr rückgängig gemacht, aber dafür musste 1942/43 jeder Profiverein mindestens vier Amateure einsetzen. 1943/44 spielten überhaupt keine Vereinsteams mehr um Meisterschaft und Pokal, sondern nur noch neu gebildete Regionalauswahlen, deren Spieler zu Staatsangestellten wurden. De facto bestanden diese Équipes Fédéraux allerdings ganz überwiegend aus den Spielern eines oder höchstens zweier Klubs, und schon 1944/45 wurde auch dieser Versuch wieder aufgegeben. Dennoch dürften diese Experimente sich kontraproduktiv bezüglich einer Steigerung des Fußballsports in der Zuschauergunst ausgewirkt haben. Darum finden diese Kriegs-Spielzeiten in Frankreich in keinerlei (Spieler-, Mannschafts-, Titel-) Statistiken Berücksichtigung; hingegen wurde der Landespokal weiterhin ausgetragen und auch in den Statistiken offiziell gewertet. Krieg, Besetzung und Widerstand sorgten auch im professionellen Fußball für eine deutliche Zäsur. Für Spieler, Trainer und Funktionäre unterbrachen bzw. beendeten diese Jahre eine berufliche Karriere (vgl. etwa die Biografien von Jean Snella, Roger Courtois, Étienne Mattler und Larbi Ben Barek). Ebenso überstand mancher Traditionsverein, insbesondere aus der im Grenzgebiet zu Belgien gelegenen zone interdite, die auch wirtschaftlich schwierigen Jahre nicht und war zur Fusion oder Auflösung gezwungen (wie beispielsweise der SC Fivois, US Tourcoing und RC Roubaix). Meisterschaften ab 1945 Nach der Befreiung Frankreichs änderte sich die oben angesprochene relative Ausgewogenheit der Division 1 nachhaltig und es lassen sich bis in die Gegenwart vier Epochen definieren, die jeweils durch die Dominanz eines oder weniger Vereine geprägt sind. 1945: Rückkehr zur Normalität Fast so, als hätte es nur eine kurze Sommerpause zwischen dem Ende der letzten Vorkriegssaison und der Wiederaufnahme des regulären Ligabetriebes im August 1945 gegeben, entschied der Fußballverband, dass die besten 14 Erstligisten und die beiden Aufsteiger der Saison 1938/39 die neue Division 1 bilden sollten; diese wurde zudem auf 18 Teilnehmer aufgestockt, so dass sich Mannschaften Hoffnungen machen konnten, in diesen Kreis aufgenommen zu werden, die während der Kriegsmeisterschaften besonders erfolgreich abgeschnitten hatten. Weil der SC Fivois mit Lille Olympique-Iris Club fusionierte, gab es schließlich sogar drei freie Plätze, die an Girondins-AS du Port de Bordeaux, Lyon Olympique Universitaire und Stade de Reims fielen – alle drei waren bis dahin ohne Erstligaerfahrung. Ebenfalls neu war der CO Roubaix-Tourcoing, eine Fusion dreier Profiklubs, der den Platz von Excelsior AC Roubaix einnahm. 1945–1963: Aus der Champagne nach Europa Ausgerechnet zwei dieser Neulinge sorgten gleich zu Anfang für Furore: CORT wurde 1946 Dritter und gewann 1947 die Meisterschaft. Anschließend beherrschte Stade Reims das fußballerische Oberhaus für fast zwei Jahrzehnte: sechsmal gewann der anfangs als „Provinzfußballer“ belächelte Verein aus der Champagne in dieser Zeit die Meisterschaft, wurde dazu dreimal Vizemeister und schloss in diesen 18 Jahren mit einer Ausnahme nie schlechter als auf Platz Vier ab. Dazu machten die Rot-Weißen auch in der Coupe de France (zwei Erfolge) und mehr noch auf europäischer Ebene von sich reden, gewannen 1953 die Coupe Latine und standen 1956 und 1959 jeweils gegen Real Madrid in den Endspielen um den Europapokal der Landesmeister. Die Mannschaft unternahm ausgedehnte Reisen zu Freundschaftsspielen auf sämtlichen Kontinenten, beileibe nicht nur in der frankophonen Welt. Mit sechs aktuellen und zwei langjährigen Reimser Profis stellte sie auch das Gerüst der Nationalelf bei Frankreichs bis dahin größtem Weltmeisterschaftserfolg (Dritter der WM in Schweden). Noch heute spricht man in Anspielung auf den jahrzehntelangen Vereinssponsor, eine Sektkellerei, vom „foot petillant“, dem „prickelnden Fußball“ der Elf aus der Champagne. Die Rolle als „Kronprinz der Liga“ teilten sich während dieser langen Vorherrschaft der Rémois drei Vereine: Lille OSC wurde zwischen 1945 und 1954 zweimal Meister und tat sich mehr noch im Pokal (fünf Titel) hervor; etwas später löste OGC Nizza (vier Meistertitel zwischen 1950 und 1959) Lille ab, dann folgte die AS Monaco (zweimal Erster 1961 und 1964). Für Spannung in der Division 1 sorgten ab Mitte der 1950er-Jahre zudem Racing Paris und Olympique Nîmes, die zwei- bzw. dreimal mit dem undankbaren zweiten Platz vorliebnehmen mussten. 1963–1981: Doppelherrschaft von „Grünen“ und „Gelben“ Mit dem Verlust der vorherrschenden Stellung von Stade Reims, das zeitweilig sogar nur noch zweitklassig spielte, ging der Aufstieg der AS Saint-Étienne einher, die wegen ihrer Spieltracht les Verts (die Grünen) genannt wurde. Von den 18 Titeln dieser Ära gewann der Verein alleine neun, davon vier in Serie (1967–1970), fügte zwei Vizemeisterschaften sowie fünf Pokalsiege hinzu und erreichte 1976 ebenfalls das Europapokalfinale. Ähnlich wie Reims anderthalb Jahrzehnte zuvor stellten die Stéphanois das Gerüst der Nationalelf – und sie wurden während einiger dieser Jahre sogar vom ehemaligen Reimser Trainer Albert Batteux gecoacht. Allerdings war die Dominanz der „Grünen“ während dieser Ära ständig bedroht, und dies von einem Klub, der überhaupt erst 1963 in die D1 aufgestiegen war: der FC Nantes (oder les Canaris wegen seines gelben Dresses) wurde seinerseits zwischen 1964 und 1986 sechsmal Landesmeister, landete dazu in sieben Spielzeiten auf Platz Zwei, war allerdings im Pokal (nur ein Titel) und auf europäischer Ebene weniger erfolgreich als Saint-Étienne. Lediglich am Ende der Saison 1971/72 stand weder die ASSE noch der FCN auf einem der beiden ersten Plätze: das war die kurze Zeit, in der Olympique Marseille sich anschickte, in die Phalanx von Grün und Gelb einzubrechen; die Südfranzosen wurden zwischen 1970 und 1972 auch zweimal französischer Meister, aber danach dominierten Saint-Étienne und Nantes noch ein Jahrzehnt lang die Liga wieder alleine. Auf europäischer Ebene allerdings zog ein Außenseiter mit den Verts gleich: 1978 erreichte der Liga-Nobody SEC Bastia das Endspiel im UEFA-Pokal, konnte es aber auch nicht gewinnen. In diese Zeit fällt auch eine Neuerung, die ganz maßgeblich dazu beigetragen hat, dass französische Vereine und insbesondere die Nationalmannschaft auf lange Sicht besser mit den anderen starken Nationen des Weltfußballs mithalten konnten: die Pflicht aller Profiklubs zu systematischer Ausbildung und Förderung des Nachwuchses (siehe eigenes Kapitel unten). 1981–1999: Beständig war nur der Wechsel In diesem Zeitraum gab es keine einzelne Mannschaft, die nahezu durchgehend als sicherer Titelaspirant gelten konnte, sondern sieben Vereine teilten sich die 18 Meisterschaften, und es gelang sogar nur zweien von ihnen, in aufeinanderfolgenden Jahren ihren Titel zu verteidigen: das waren Girondins Bordeaux (zwischen 1980 und 1999 viermal auf Platz Eins, dazu dreimal Vizemeister) und Olympique Marseille (zwischen 1986 und 1994 vier Meisterschaften – 1989–1992 in Serie –, dazu zwei zweite Plätze). Marseille beendete zudem die Saison 1992/93 als Tabellenführer, allerdings wurde ihm dieser Titel wegen einer Spielmanipulation nachträglich aberkannt, auch nicht an den Tabellenzweiten vergeben, und OM wurde 1994 in die zweite Liga zurückgestuft. Weitere Spitzenteams dieses Abschnittes waren AS Monaco (drei Titel und drei zweite Plätze zwischen 1978 und 1993), Paris Saint-Germain (zwei erste, vier zweite Plätze 1982–1997) und der FC Nantes (zwei Titel 1983 und 1995 sowie zweimal Vizemeister). Zudem gelang der AJ Auxerre (1996) und dem RC Lens (1998) jeweils ihre bisher einzige Meisterschaft. Möglicherweise trug allerdings diese Verbreiterung der Leistungsspitze in der D1, die die Mannschaften regelmäßig stärker forderte, dazu bei, dass die französischen Vertreter in den Europapokalwettbewerben häufiger als je zuvor die Endspiele erreichten. Im UEFA-Pokal gelang dies Bordeaux (1996) und Marseille (1999), im Pokalsiegerwettbewerb Monaco (1992) und Paris (1996, 1997) und in der Champions League Marseille (1991, 1993). Zum ersten Mal holten dabei zwei Teams aus der Division 1 sogar den jeweiligen Pokal, nämlich Marseille 1993 und PSG 1996. Seit 1999: Der Hegemonie Lyons folgt diejenige von Paris Im ersten Jahrzehnt dieses Zeitraums hatte sich ein Alleingang entwickelt: zwar gewannen anfangs mit AS Monaco und FC Nantes zwei „Altmeister“ den Titel, aber von 2002 bis 2008 konnte sich nur noch Olympique Lyon in die Meisterliste eintragen, nachdem die Elf aus dem Stade Gerland 2001 schon Platz Zwei belegt hatte. Erstmals misslang OL die erneute Titelverteidigung 2009, als bereits nach dem drittletzten Spieltag rechnerisch feststand, dass die Trophäe in einer anderen Vereinsvitrine – nämlich der der Girondins Bordeaux – Platz finden würde, und auch in den folgenden vier Jahren ging sie in andere Städte. Dennoch beendete Lyon auch in diesen Jahren die Saison nie schlechter als auf dem vierten Rang. Mit Olympique Marseille (2010), OSC Lille (2011) und Paris Saint-Germain (2013) wurden drei Klubs Meister, deren letzter Titelgewinn jeweils schon sehr lange zurücklag – bei Lille sogar weit über ein halbes Jahrhundert –, und der HSC Montpellier (2012) hatte noch nie zuvor die Meisterschaft gewonnen. Angesichts der gewaltigen Investitionen, die die neuen, ausländischen Besitzer von Paris Saint-Germain und AS Monaco seit Beginn der 2010er Jahre getätigt haben, gingen zahlreiche Fachleute davon aus, dass der Hauptstadtklub und der Verein aus dem Fürstentum über mehrere Jahre die Liga dominieren könnten. Tatsächlich waren die Monegassen 2017 erfolgreich, aber das war von 2014 bis 2020 die einzige Saison, in der Paris seinen Titel nicht zu verteidigen vermochte, und nach einem weiteren Titelgewinn für Lille (2021) trug PSG sich erneut in die Meisterliste ein. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch in den zurückliegenden Jahrzehnten für die dominierenden Klubs der Liga auf einige Jahre voller Triumphe der Alltag im Mittelfeld und gelegentlich sogar der tiefe Fall in die Ligue 2 folgte. Dass vergangene Größe wenig zählt, musste beispielsweise der FC Nantes erfahren, der 2007 nach 44 Jahren ununterbrochener Erstligazugehörigkeit abstieg; 2008 sind mit Racing Lens, Racing Strasbourg und dem FC Metz gleich drei Klubs abgestiegen, die in der Vergangenheit manch wichtiges Kapitel im „Buch des französischen Ligafußballs“ geschrieben haben. Außerdem spielte die AS Monaco ab 2011/12 zum ersten Mal seit 34 Jahren nicht mehr in der Ligue 1; gleiches gilt für die AJ Auxerre ab 2012/13 nach 32 Jahren in Serie. Dafür sind seit 2009 mit der US Boulogne, AC Arles-Avignon, FC Évian Thonon Gaillard, FCO Dijon und Gazélec FC Ajaccio die Erstligisten Nummer 67 bis 71 neu hinzugekommen. 2012 kehrte nach 33-jähriger Abwesenheit das einstige französische „Flaggschiff“ Stade Reims in die höchste Spielklasse zurück, musste diese 2016 wieder verlassen, kehrte aber 2018 zurück – begleitet von einem anderen Klub, dessen erfolgreichste Jahre lange zurücklagen, nämlich Olympique Nîmes. Insgesamt hat die Ligue 1 gerade seit der Jahrtausendwende derart an Stärke und Renommee gewonnen, dass sie neben Premier League, Primera División, Serie A und Bundesliga zu den bedeutendsten Fußballligen weltweit gezählt wird. Der AS Monaco gelang 2004 der Einzug in das Champions-League-Finale, was Paris 2019/20 gleichfalls schaffte; Serienmeister Olympique Lyon erreichte je dreimal das CL-Viertel- und Achtelfinale, ehe er sich 2010 nach einem „innerfranzösischen“ Viertelfinale gegen Girondins Bordeaux für die Vorschlussrunde qualifizierte. UEFA-Fünfjahreswertung und Europapokalplätze Der Meister und Vizemeister sind für die Gruppenphase der UEFA Champions League qualifiziert. Der drittplatzierte spielt in den Play-offs zur UEFA Champions League. Der französische Pokalsieger und der Vierte der Liga spielen in der Gruppenphase der UEFA Europa League. Der 5. der Liga tritt in den Play-off-Spielen zur UEFA Europa Conference League an. Sollte der Pokalsieger in der Liga auf einem der ersten 4 Plätzen stehen, geht der zweite Europa-League-Platz an den 5. der Liga und der Platz in der Conference League nimmt der 6. der Liga ein. Letzteres tritt auch ein, wenn der Pokalsieger in der Liga 5. wird. Die Ligue 1 im Vergleich mit den vier „großen“ europäischen Ligen Der Spitzenfußball in Frankreich wies einer auf Basis der Zahlen von 2007 erhobenen schweizerisch-französischen Untersuchung zufolge eine Reihe typischer Besonderheiten auf, die ihn von den Ligen in England, Italien, Spanien und Deutschland signifikant unterschieden: Nur 31,1 % der Profis waren auch Nationalspieler; bei den vier „Großen“ lagen die entsprechenden Werte zwischen 41,2 (Spanien) und 67,7 % (England); 32,5 % der Spieler standen bei dem Klub unter Vertrag, bei dem sie als Jugendliche ausgebildet wurden; dagegen bewegten sich die Vergleichszahlen nur zwischen 8,5 (Italien) und 20,5 % (Spanien); französische Erstligaspieler waren mit einem Durchschnittsalter von 24,9 Jahren etwas jünger als ihre Kollegen (zwischen 25,5 in Deutschland und 26,4 Jahren in Italien); in Frankreich besaßen nur 33,1 % der Profis eine andere Staatsangehörigkeit, während deren Anteil in den Vergleichsligen zwischen 36,8 (Italien) und 59,4 % (England) lag; 78 Franzosen, aber nur 16 Italiener, 15 Spanier, zehn Deutsche und kein einziger Engländer spielten in einer der vier anderen ausländischen Ligen, die hier verglichen wurden; die Vereinstreue ist in Frankreich relativ hoch und wurde lediglich von der Bundesliga übertroffen: seit mindestens drei Jahren beim selben Verein spielten in Deutschland 39,0, in Frankreich 36,2, in den drei anderen Ligen nur zwischen 31,1 und 34,6 % der Profis. Nach Fortschreibung dieser Studie haben sich die Spezifika der Ligue 1 in den Jahren 2008 und 2009 nur graduell, nicht jedoch grundsätzlich verändert. Insbesondere war der französische Fußball mit 85 Auslandsprofis weiterhin die „europäische Spielerquelle Nummer eins“; weltweit „exportierten“ nur Brasilien (139) und Argentinien (95) mehr Spieler als Frankreich. Auf dem vierten Rang folgten, mit weitem Abstand, die Niederlande (36). Mit Stand 2021 haben sich diese Zahlen jedoch teilweise deutlich verändert. So liegt der Anteil an ausländischen Spielern nunmehr bei 48,5 % (zum Vergleich: Deutschland 55,0 %, England 62,9 %, Italien 60,6 %, Spanien 38,9 %). Das Durchschnittsalter ist nun auf demselben Niveau wie in Deutschland (beide 25,6 Jahre; zum Vergleich: Spanien 27,7 Jahre, Italien 27,1 Jahre, England 27,2 Jahre). Meisterschaftsmodus im Wandel Die Aufteilung der Division 1 in zwei Gruppen wurde nach dem ersten Jahr aufgegeben: seit 1933 war die höchste Spielklasse, mit Ausnahme der Kriegs- und Besatzungsjahre (1939–1945), stets eingleisig. Ansonsten wurde der Ligacharakter (Heim- und Auswärtsspiel jedes Klubs gegen jeden anderen; die erreichten Punkte und das Torverhältnis entscheiden am Ende der Saison über die Platzierung) von 1932 bis in die Gegenwart beibehalten. Die Meisterschaft wird nicht kalenderjährlich, sondern über den Jahreswechsel hinweg ausgetragen; der Meister des Jahres x hat also seinen Parcours im Jahr x–1 begonnen. Saisondauer und Spielpausen Abhängig von der Zahl der teilnehmenden Mannschaften fand der erste Spieltag der D1 meist Anfang August jeden Jahres, im Einzelfall auch bereits ab Mitte Juli statt. Die Auftaktsaison 1932/33 startete sogar erst im September, allerdings hatten die Mannschaften da insgesamt auch nur je 18 Begegnungen auszutragen. Saisonende ist normalerweise im Mai, aber auch hier gab und gibt es Ausnahmen: so endete die erste Nachkriegssaison erst am 26. Juni 1946, in Jahren einer Weltmeisterschaft mit Beteiligung der Équipe tricolore hingegen auch deutlich früher (1985/86 etwa bereits am 12. April). Die rund zweimonatige Sommerpause ist zum einen den klimatischen Bedingungen im südlichen Teil Frankreichs geschuldet, hängt aber auch mit den Besonderheiten der französischen Urlaubsregelung zusammen: nach dem Zweiten Weltkrieg schälte sich ein System heraus, wonach insbesondere Angestellte (die „Juilletistes“) im Juli und Arbeiter (die „Aoûtistes“) ab dem ersten Augustwochenende ihren Jahresurlaub nehmen mussten – die großen Industriebetriebe schlossen bis in die jüngste Zeit im August wegen Betriebsferien –; auch die Ferien an Schulen und Hochschulen erstrecken sich über diese beiden Monate. Zwischen den Jahren wurde bis einschließlich 1963/64 ohne Unterbrechung durchgespielt, auch an den Weihnachtstagen und Silvester. Eine Winterpause wurde erstmals 1964/65 eingeführt, die in der Regel aber kürzer als beispielsweise die deutsche ist und nur ca. vom 20. Dezember bis 15. Januar dauert. Abendspiele unter Flutlicht wurden für die gesamte Liga erstmals am 19. September 1957, dem 5. Spieltag der Saison 1957/58, angesetzt. Teilnehmerzahl und Verfahrensregelungen Meist spielten 20 Mannschaften (1932/33, 1946/47, 1958–1963, 1965–1968, 1970–1997 und seit 2002 bis einschließlich 2023) um den Titel; eine 18er-Liga gab es 1945/46, 1947–1958, 1963–1965, 1968–1970, 1997–2002 und wieder ab 2023, 16 Konkurrenten 1934–1939 und nur 14 in der zweiten Saison (1933/34). Die Zahl der Ab- und damit auch der Aufsteiger variierte häufig: es gab Spielzeiten, in denen nur der Tabellenletzte in die zweite Liga musste (1968–1970), maximal betraf dies sogar die letzten vier Teams (1958–1963); sehr häufig gab es auch eine Kombination aus feststehenden Abstiegsplätzen (z. B. die letzten beiden) und Ausscheidungsspielen (Barrages) zwischen den nächstschlechteren Mannschaften gegen den Dritten (und Vierten) der Division 2, von deren Ausgang der Verbleib in der Liga abhing. Seit 1997 gilt hier, dass die letzten Drei absteigen; ab der Saison 2016/17 wird es aber wieder nur zwei direkte Absteiger geben, während der Drittletzte sich in einer Relegation gegen den Zweitligadritten die Ligazugehörigkeit bewahren kann. Die Zwei-Punkte-Regelung für einen Sieg galt von 1932 bis 1988; 1988/89 wurden versuchsweise für einen Sieg drei Punkte vergeben. Dann kehrte man zur alten Regelung zurück, ehe mit der Saison 1994/95 endgültig die Drei-Punkte-Regel eingeführt wurde. Zudem hat man kurzzeitig versucht, den attraktiven Angriffsfußball durch Zusatzpunkte zu fördern: pro Spiel bekam jede Mannschaft einen Punkt mehr, die mindestens drei Tore geschossen (1973/74) bzw. die ihr Spiel mit mindestens drei Toren Unterschied gewonnen hatte (1974–1976). Die unterhalb der D3 bestehende Vier-Punkte-Regel, wonach jede Mannschaft für jedes ausgetragene Spiel – unabhängig vom Ergebnis – einen zusätzlichen Punkt erhält, hat sich im Profibereich nie durchgesetzt. Veränderungen des Meisterschaftsmodus zur Steigerung der Torquote und zur Förderung der Spannung sind auch in jüngerer Zeit im Gespräch: in der Saison 2006/07 wurden Geldprämien für offensivfreudige D1-Teams ausgeschüttet (siehe unten); allerdings blieb der Verband damit hinter einem weitergehenden Vorschlag zurück, der u. a. eine Zusatzpunkteregelung analog derjenigen der 70er Jahre vorsah. Bei Punktgleichheit von Mannschaften wurde bis einschließlich der Saison 1963/64 der Torquotient, seither die Tordifferenz (und bei Gleichstand auch in dieser Frage: die höhere Zahl der erzielten Treffer) zur Ermittlung der Reihenfolge herangezogen; diese Neuerung bevorteilt Teams, die offensiver spielen. Von der alten Regelung profitierte beispielsweise 1961/62 Stade de Reims: mit einem Torverhältnis von 83:60 (Quotient 1,383) wurde es Meister vor dem punkt- und tordifferenzgleichen RC Paris (86:63 Tore, Quotient 1,365), der bei Anwendung der Differenzregel wegen seiner mehr erzielten Treffer die Nase vorn gehabt hätte. Ab 1958/59 bestand die Möglichkeit für nationale Verbände, die Einwechslung eines Ersatzmannes für einen verletzten Spieler zu erlauben. Auslöser war das Halbfinalspiel bei der WM 1958, in dem Frankreichs Robert Jonquet fast 60 Minuten lang mit einem doppelten Schienbeinbruch auf dem Spielfeld herumstand, damit die Équipe Tricolore nicht zu zehnt gegen Brasilien weiterspielen musste. Tatsächlich eingeführt wurde die Wechselmöglichkeit in Frankreich aber erst 1967. 1976 wurde das Austauschkontingent auf zwei Spieler erhöht, zudem zu einem grundsätzlichen Recht erweitert, bei dem es nicht mehr darauf ankam, ob der Ausgewechselte tatsächlich verletzt war; heute sind maximal drei Wechsel zulässig. Dazu müssen die möglichen Einwechselspieler vor Anpfiff auf dem Spielberichtsbogen vermerkt werden, der aktuell (2013/14) in der D1 insgesamt 18 Namen enthalten darf, in der D2 nur 16. Ab Saisonbeginn 1972/73 wurden gelbe und rote Karten zur Anzeige von persönlichen Strafen verwendet. Rückennummern auf den Spielertrikots wurden ab 1948 üblich, zuerst in der Nationalmannschaft, bald darauf auch in den Vereinen. Zwar haben heutzutage die klassischen Zahlen 1 bis 11 ausgedient, die zugleich ja auch die Spielposition ihres Trägers charakterisierten. Weiterhin sind die 1, 16 und 30 überwiegend den Torhütern jeder Mannschaft vorbehalten. Kommerzielle Werbung auf den Trikots ist seit 1968/69 zulässig. Als erster Verein machte die US Valenciennes-Anzin im Dezember 1968 von dieser Freigabe Gebrauch und warb auf den Trikotrückseiten für Vittel-Mineralwasser. Allerdings weigerte sich anfangs das staatliche Fernsehen ORTF, Spiele zu übertragen, in denen eine der Mannschaften sich mit werblichen Aufdrucken präsentierte. Bis 1962 galt die Regelung, dass bei allen Ligaspielen die Einnahmen zwischen den beiden beteiligten Klubs im Verhältnis 60:40 zugunsten des Heimvereins geteilt wurden, wovon vorrangig Vereine profitierten, die aufgrund ihrer spielerischen Attraktivität auswärts deutlich mehr Zuschauer als bei Heimspielen anzogen (wie es insbesondere für Stade de Reims bis Anfang der 1960er Jahre zutraf). Freiwillige und Zwangsabstiege, Lizenzkauf und Fusion Erstmals schon in den 30er Jahren (siehe oben), dann wieder Anfang der 1960er gab es eine regelrechte Welle freiwilliger, wirtschaftlich begründeter Ausstiege aus dem Profibereich, wovon auch ehemalige Landesmeister (FC Sète, CO Roubaix-Tourcoing) und Traditionsvereine (CA Paris, AC Troyes, Le Havre AC, FC Nancy) nicht verschont blieben. Ebenso sind die Jahre um 1990 von mehreren Konkursen gekennzeichnet, meist gefolgt von einer sofortigen Wiedergründung unter neuem Namen. Zwangsabstiege, meist aus wirtschaftlichen Gründen bis hin zum Konkurs, hat es insbesondere seit den 1980ern auch gegeben: so wurden 1991 gleich drei Vereine trotz sportlicher Qualifikation (Girondins Bordeaux als 10., Brest Armorique als 11. und OGC Nizza als 14. der Tabelle) zum Abstieg verurteilt. Teils wurden Vereine auch wegen rechtlicher Unregelmäßigkeiten relegiert: schon 1932/33 hatte Olympique Antibes sich einen Sieg erkauft und durfte deshalb nicht das Endspiel um die Meisterschaft bestreiten. Olympique Marseille erhielt nachträglich den Meistertitel für 1993 aberkannt („Affaire OM-VA“, Bestechung von Spielern der US Valenciennes-Anzin) und wurde ein Jahr später ebenfalls in die zweite Liga „strafversetzt“. Red Star Paris wurde sogar zweimal (1954 und 1960) wegen Bestechungsversuchen gegnerischer Mannschaften vorübergehend aus dem Profibereich ausgeschlossen. Man kann also feststellen, dass Verband bzw. Liga in Frankreich bei bekannt gewordenen Manipulationen konsequent durchgriffen. Das gilt auch für Dopingfälle: 1995/96 beispielsweise erhielten mehrere Spieler wegen nachgewiesenen Cannabis-Konsums Sperren (darunter, für zwei Spiele, Fabien Barthez), und 1998 wurde ein Profi wegen Nandrolon-Dopings für 18 Monate gesperrt. Als Besonderheiten gab es auch den Kauf des Ligaplatzes eines Klubs durch einen anderen (Red Star Paris 1967 von Toulouse FC) bzw. die Fusion zweier Vereine zwecks Ligaerhalt (aus RC Paris und UA Sedan-Torcy wurde 1966 dadurch zeitweise der RC Paris-Sedan; zwischen beiden Städten liegen rund 250 km). Die Meisterschaftstrophäe Der erste französische Meister, Olympique Lille, erhielt nach dem Endspiel 1933 eine große Blumenvase überreicht, die von der Tageszeitung Le Petit Parisien gestiftet worden war und in Lilles Besitz blieb. Der Zeitungsverlag stellte deshalb ab 1934 eine neue Trophäe zur Verfügung, nunmehr als Wanderpokal; mit dieser – nach 1945 lediglich mit einer anderen Plakette versehen, weil die Zeitung ab dann Le Parisien Libéré hieß – wurde bis 2002 der jeweilige Meister der Division 1 ausgezeichnet. Allerdings fand nur gelegentlich eine offizielle Übergabezeremonie am letzten Spieltag einer Saison statt. Mit der Umbenennung der Liga wurde ein von der Designerin Andrée Putman entworfener neuer Meisterpokal („Trophée de Ligue 1“) geschaffen und erstmals 2003, direkt nach dem Schlusspfiff des letzten Spieltages, an die Meistermannschaft übergeben. 2006 entschied der Ligaverband, dass Olympique Lyon die Trophäe für seine fünf in Folge errungenen Meisterschaften behalten dürfe; deshalb beauftragte der Verband den Bildhauer Pablo Reinoso mit der Herstellung eines neuen Wanderpokals, der seit Mai 2007 den Meister auszeichnet. Diese Trophäe trägt den Namen „Hexagoal“, ein Wortspiel aus Hexagone (Sechseck), wie Frankreich auch bezeichnet wird, und dem englischen Wort Goal (Tor). Systematische Nachwuchsförderung In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde ein heute eher noch intensiviertes System der Talentförderung eingeführt, das alle Profivereine dazu verpflichtet, ein Sportinternat (Centre de Formation, CdF) aufzubauen. Dies erfordert zwar hohe Investitionen, doch ermöglicht es auch den weniger finanzstarken Klubs, immer wieder gute, junge Spieler in die eigenen Reihen einzubauen und nennenswerte Erlöse aus deren Transfers an Vereine im In- und Ausland zu erzielen. Gelegentlich behalten sogar Vereine, die in den Amateurbereich zurückkehren, ihr CdF (wie 2004 die AS Cannes), weil die Existenz einer solchen Einrichtung durchaus auch bei einem Dritt- oder Viertligisten für begabte Jugendliche attraktiv sein kann. Sicherlich kann sich nicht jeder Klub eine Anlage wie Girondins Bordeaux leisten, die ihr Sportinternat im „Château Bel Air“, einem 1746 errichteten Schloss mit weitläufigem Trainingsgelände in Le Haillan, untergebracht haben; aber zahlreiche Vereine beschäftigen für den Nachwuchsbereich hochqualifiziertes Personal, oft auch ehemalige Profis: bei Bordeaux beispielsweise leitete Gernot Rohr viele Jahre deren Ausbildungszentrum. Die Mannschaften des ältesten Jugendjahrganges nehmen an der französischen Jugendmeisterschaft (Coupe Gambardella) teil. Seit der Saison 2002/03 bewertet die FFF diese Nachwuchsarbeit jährlich mithilfe eines differenzierten Punktesystems („Classement des centres de formation“) und zeichnet die jeweils besten drei Vereine aus. Die bisherigen Gewinner waren AJ Auxerre (2003), Montpellier HSC (2004, 2005), Stade Rennes (sechsmal in Folge von 2006 bis 2011) und FC Sochaux (2012). Auch die FIFA bewertet diese Investitionen hoch: pro Spieler und Jahr kalkuliert sie deren Kosten mit 90.000 Euro (für einen 16- bis 18-Jährigen); für jedes Ausbildungsjahr vor dem 16. Geburtstag werden weitere 10.000 Euro zu einem eventuellen Transferwert dazugerechnet. Im Gegenzug für diese nicht nur fußballerische, sondern auch schulische Ausbildung sind in Frankreich die Absolventen verpflichtet, ihren ersten Profivertrag für maximal drei Jahre bei dem ausbildenden Verein zu unterschreiben. Diese Regelung wird gelegentlich umgangen, indem Nachwuchsspieler – häufig aufgrund des Drängens ihrer wirtschaftlich interessierten Berater – einen Vertrag mit einem ausländischen Klub abschließen. Das ist aber die Ausnahme: von 1998 bis 2006 betraf dies 17 Fälle, die bekanntesten darunter Mickaël Silvestre (von Rennes zu Inter Mailand), Guy Demel (von Nîmes zu Arsenal) und Mathieu Flamini (von Marseille gleichfalls zu Arsenal). Dass die Internate sich für Vereine und junge Spieler gleichermaßen lohnen, lässt sich an der Saison 2007/08 exemplarisch nachweisen: von den insgesamt 518 Fußballern in den 20 Ligue-1-Kadern stehen 173 (entsprechend 33,4 %) bei dem Klub unter Vertrag, aus dessen Centre de Formation sie stammen, also im Mittel neun „Eigengewächse“ in einem 26 Spieler umfassenden Kader. Es ist nicht ungewöhnlich, dass diese mit Erreichen der Volljährigkeit zunächst für ein Jahr an einen Zweit- oder Drittdivisionär ausgeliehen werden, um dort Spielpraxis zu sammeln; anschließend wird aber ein nennenswerter Anteil vom Stammverein zurückgeholt und in das eigene Erstligaaufgebot eingebaut. So verfahren auch nicht etwa nur Klubs, die sportlich bzw. finanziell zu den schwächeren gehören – Bordeaux, Lille und Rennes liegen mit einem Anteil von über 40 % sogar noch weit über dem Ligadurchschnitt. Spitzenreiter sind Aufsteiger FC Metz und die AS Nancy, deren Profis nahezu zur Hälfte schon vor ihrer Volljährigkeit bei diesen Klubs spielten, während bei den Vorjahresaufsteigern Lorient und Valenciennes (11 bzw. 12 %) sowie bei Marseille und Paris (um 20 %) nur sehr wenige Spieler aus dem eigenen Internat stammen. In der Saison 2008/09 hat sich Aufsteiger Le Havre AC in dieser Hinsicht an die Ligaspitze katapultiert: 16 Spieler entsprechend zwei Dritteln seines Kaders stammen aus der eigenen Nachwuchsförderung; hinzu kommen acht weitere in Le Havre ausgebildete Fußballer, die bei Ligakonkurrenten unter Vertrag stehen. Auch Nancy, Lille, Monaco und Bordeaux setzen auf eine zweistellige Zahl von Eigengewächsen. Schlusslichter dieser Wertung sind Nizza, Lorient (je 4), Marseille (3) und Valenciennes (1). Auch der französische Fußballverband selbst betreibt in den verschiedenen Regionen des Landes solche „Talentschmieden“, die eng mit den jeweiligen Vereinsinternaten kooperieren, sowie in Clairefontaine-en-Yvelines bei Paris das INF (Institut national de formation), das sich insbesondere der jugendspezifischen Trainerausbildung verschrieben hat, und das Centre technique national Fernand-Sastre. Außerdem müssen alle Profiklubs eine zweite Mannschaft für Nachwuchsspieler (Reserve Pro oder Équipe B) unterhalten. Diese Reserveteams nehmen am Spielbetrieb der Amateurligen teil, können also nicht höher als in die viertklassige CFA aufsteigen. Spielten in der Saison 2007/08 noch 22 Reservemannschaften in den vier Staffeln dieser höchsten Amateurliga, sind es 2013/14 nur noch neun, davon acht B-Teams von Erstligisten. Die Fachwelt ist sich weitestgehend darüber einig, dass gerade diese Maßnahmen wesentlich zur dauerhaften Etablierung des französischen Fußballs in der europäischen Spitze beigetragen haben – neben der Tatsache, dass die Liga schon frühzeitig bevorzugtes Ziel für Immigranten aus der frankophonen Welt war. Die französische Liga als Magnet für ausländische Spieler Die ab 1932 klare Trennung zwischen bezahltem und Amateurfußball führte dazu, dass in Frankreich schon in den 1930er Jahren Spieler aus vielen europäischen Staaten ihrem Sport legal gegen Bezahlung nachgingen, insbesondere von den britischen Inseln, aus Österreich und Ungarn, aber auch einzelne Deutsche wie Willibald Kreß, der vom DFB wegen angeblichen Berufsspielertums für die Saison 1932/33 gesperrt worden war, und Oskar Rohr. Begünstigt wurde dies im Einzelfall auch durch die politische Entwicklung in den deutschsprachigen Ländern; so nahmen manche Spieler insbesondere nach dem „Anschluss“ Österreichs die französische Staatsbürgerschaft an und spielten danach auch für die französische Fußballnationalmannschaft (z. B. Rudolf „Rodolphe“ Hiden, Heinrich „Henri“ Hiltl, Gustav „Auguste“ Jordan oder Edmund „Edmond“ Weiskopf). Auf diese Weise konnten die Klubs zudem die anfängliche Regelung umgehen, dass pro Mannschaft nicht mehr als vier Ausländer spielen durften. Aufgrund des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) zog es zahlreiche Spieler katalanischer und baskischer Herkunft insbesondere zu Klubs im Süden Frankreichs. Darüber hinaus haben sich viele Einwanderer aus Italien und Polen, die vor allem im nordfranzösischen Bergbau tätig waren, bzw. ihre Söhne und Enkel in der Ligue 1 einen Namen gemacht; stellvertretend seien aus den frühen Jahren Roger Piantoni, Michel Platini, Raymond Kopaczewski und Léon Glovacki genannt. Auch Spieler aus den französischen überseeischen Besitzungen und den ehemaligen Kolonien der Grande Nation prägten die Liga zunehmend (von Raoul Diagne und Larbi Ben Barek über Marius Trésor bis Zinédine Zidane). Ihrer aller Geschichte ist ein „verkleinertes und zeitlich verzögertes Abbild der französischen Immigration des 20. Jahrhunderts“. Zahlen ausländischer Profis in Frankreich (Jeweils ohne naturalisierte Spieler) Von 1932 bis 1939 standen insgesamt 541 Ausländer bei den Profiklubs der D1 und der D2 unter Vertrag, davon 132 Briten, 108 Österreicher, 84 Ungarn, 44 Tschechen, 34 Spanier, 22 Schweizer und 21 Argentinier. Von 1944 bis 1997 spielten insgesamt 2.281 Ausländer in D1 und D2, als größte Gruppen 265 Jugoslawen, 147 Algerier, 145 Argentinier, 142 Polen, 121 Spanier, 92 Senegalesen, 87 Italiener, 81 Marokkaner, 75 Kameruner, 74 Ivorer, 68 Niederländer, 67 Brasilianer, 66 Ungarn, 60 Deutsche, 50 Tschechen und 49 Dänen. Nach 1997 liegen keine den gesamten Zeitraum abdeckenden Zahlen vor, aber der hierüber ablesbare Trend (von „Fußballmigranten“ aus West-/Mitteleuropa hin zu Spielern aus Schwarzafrika und Osteuropa) hat sich nicht signifikant verändert, ebenso wenig die Attraktivität, die Frankreich speziell auf Argentinier ausübt, von denen zwei (Delio Onnis und Carlos Bianchi) zu den erfolgreichsten Ligue-1-Torschützen aller Zeiten gehören. Der massenhafte „Exodus“ brasilianischer Fußballer ist ein relativ neues Phänomen, das nicht nur in Frankreich zu beobachten ist. Dies bestätigen aktuell (Saisonbeginn 2013/14) die folgenden Zahlen: von insgesamt 228 Ausländern aus 52 Nationen (entsprechend einem Anteil von über 30 % aller Ligue-1-Spieler) stammen 116 aus Afrika (darunter 19 Senegalesen, 15 Malier, 12 Ivorer und 9 Kameruner) und 46 aus Südamerika (die 20 Brasilianer stellen die größte einzelne Nationalitätengruppe insgesamt dar; des Weiteren 12 Argentinier), außerdem 61 Fußballer aus 19 europäischen Ländern sowie 5 aus Nord- und Mittelamerika. Diese Relationen haben auch am Ende der Spielzeit 2016/17 noch Gültigkeit. Was sich allerdings seit den 1990er Jahren stark verändert hat, ist die „umgekehrte Richtung“: die Zahl französischer Kicker gehobener Spielstärke hat stark zugenommen, die die Ligue 1 verlassen, um ihrerseits im Ausland – und da vor allem in den drei europäischen Spitzenligen (England, Spanien, Italien) – Geld zu verdienen. In der englischen Premier League bildeten 2010/11 die 36 Franzosen sogar das größte Ausländerkontingent, noch vor Iren und Schotten. Vereine der deutschen Liga hingegen sind in nennenswertem Umfang erst mit gehöriger Verspätung (ab etwa 2010) zum Ziel von Franzosen geworden. Dafür ist einerseits das Bosman-Urteil verantwortlich, andererseits aber auch die gute, systematische Ausbildung sehr vieler französischer Kicker seit frühester Jugend; hinzu kommt, dass selbst führende Klubs der Liga nur in den seltensten Fällen mit den finanziellen Möglichkeiten der G-14 und anderer ausländischer Vereine Schritt halten können (siehe auch unten). Zulässige Zahl ausländischer Kicker 1938 sah sich die FFF genötigt, wegen des starken Zustroms von Ausländern deren Zahl auf zwei je Mannschaft zu beschränken; während der „Kriegsmeisterschaften“ versuchte das Vichy-Regime – wenn auch angesichts seiner Kurzlebigkeit erfolglos – sogar durchzusetzen, dass ausschließlich eigene Staatsangehörige Leistungssport betrieben. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Frankreich damals noch über zahlreiche Kolonien verfügte, deren Bewohner ebenfalls als Franzosen betrachtet wurden. Über Jahre hinweg spielten Einwanderer aus Ost- und Südeuropa wie auch von den Antillen, aus dem Maghreb und Schwarzafrika und deren Nachkommen eine große Rolle im französischen Fußball, in der Liga wie in der Nationalmannschaft, was allerdings immer wieder auch zu nationalistisch und fremdenfeindlich motivierter Kritik führte. So sorgte der rechtsextreme Politiker Jean-Marie Le Pen mit seiner Kritik an der Zusammensetzung der Nationalmannschaft für einen Skandal, als er um die Jahrtausendwende monierte, er könne darin – wegen des hohen Anteils an schwarzen und arabischen Spielern – keine „französische“ Mannschaft mehr erkennen. 1958 verbot der französische Verband vorübergehend die Verpflichtung neuer Ausländer. Mit der Einführung der Freizügigkeit von Personen innerhalb des Europäischen Binnenmarktes ist in den 1990ern eine veränderte Situation entstanden; Profifußballer aus anderen EU-Staaten dürfen ihre Arbeitskraft ohne quantitative Beschränkung auch in Frankreich anbieten und fallen nicht mehr unter entsprechende Ausländerregelungen. Dem haben sich Verband und Liga inzwischen angepasst: Heutzutage (Stand: 2006) ist es Vereinen der Ligue 1 erlaubt, bis zu vier (Ligue 2: zwei) Spieler unter Vertrag zu nehmen, die nicht aus einem der Staaten des EWR oder einem mit der EU assoziierten Gebiet stammen. Diese dürfen bei Ligabegegnungen auch gleichzeitig eingesetzt werden. Spieler aus Frankreichs überseeischen Besitzungen, Doppelstaatsbürger und eingebürgerte („naturalisierte“) Berufsfußballer fallen ohnehin nicht unter diese einschränkende Klausel. Populäre Ausländer Im Sommer 2012 hat die Redaktion von France Football eine Liste der 50 besten ausländischen Spieler in Frankreichs erster Liga zusammengestellt, die sie selbst mit der Einschränkung versehen hat, dass Fußballer aus der Zeit zwischen den Weltkriegen unterrepräsentiert seien, weil kein Redakteur und kaum noch ein Leser je die Chance hatte, diese noch in Aktion sehen zu können. Diese Zusammenstellung enthält in der Mehrzahl Offensivspieler (28 Stürmer und 15 Mittelfeldspieler); gut die Hälfte sind Europäer, das größte Kontingent von ihnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, gefolgt von Brasilianern und Argentiniern.Die 20 Besten sind demnach: Die weiteren Platzierten sind aus Südamerika die Argentinier Jorge Burruchaga, Hugo Curioni, Gabriel Heinze und Lisandro López, die Brasilianer Ronaldinho, Ricardo und Paulo César, aus Uruguay Enzo Francescoli sowie der Kolumbianer Carlos Valderrama, aus Europa der Pole Andrzej Szarmach, die Jugoslawen Dragan Džajić, Ivan Osim, Ilija Pantelić, Nenad Bjeković, Zlatko Vujović und Alen Bokšić, die Niederländer Johnny Rep, Bram Appel und Kees Rijvers, die Belgier Eden Hazard und Enzo Scifo, die Deutschen Rudi Völler, Karlheinz Förster und Klaus Allofs, der Italiener Marco Simone, der Luxemburger Victor Nurenberg sowie der Engländer Glenn Hoddle, aus Afrika Roger Milla (Kamerun), Mustapha Dahleb (Algerien) und Japhet N’Doram (Tschad). Der Unterbau: Ligue 2 Einführung 1933/34 Zur Saison 1933/34 wurde eine zweite Liga, die Division 2 (heute: Ligue 2; D2 bzw. L2), geschaffen. Damit kam der Fußballverband dem Bedürfnis mehrerer Vereine nach, unter professionellen Bedingungen spielen zu können, ohne die leistungsmäßige Spitze durch eine zu große Ligue 1 zu verwässern; außerdem verhinderte diese Maßnahme, dass die Absteiger aus der D1 sofort wieder unter Amateurbedingungen spielen mussten. In diesem ersten Jahr bestand die D2 aus den sechs D1-Absteigern der Saison 1932/33 und 15 neu für den Profibereich zugelassenen Klubs, die in zwei regionalen Staffeln (Nord mit 13, Süd mit acht Vereinen) antraten. Bereits ein Jahr später spielte auch die D2 in nur noch einer landesweiten Staffel und wurde auf 14 Mannschaften verkleinert; dazu trug bei, dass für 1934/35 nur zwei neuen Vereinen (Lens, Caen) der Profistatus zuerkannt wurde, während er mehreren anderen Klubs (Monaco, Hyères, Béziers) wegen finanziellen Defizits aberkannt wurde oder diese (wie D1-Absteiger Nizza) freiwillig in den Amateurbereich zurückgingen. Entwicklung bis in die Gegenwart Die Ligue 2 hat ihr Gesicht häufiger verändert als die höchste Spielklasse. Dafür gibt es mehrere Gründe: der Fußball war bis mindestens in die 1980er Jahre in Frankreich in Zuschauergunst und Medieninteresse keineswegs so stark verwurzelt, dass für viel mehr als etwa zwei Dutzend Vereine eine tragfähige finanzielle Basis bestanden hätte, zumal die Tatsache, dass das Hexagon großflächig und nicht so dicht wie Deutschland besiedelt ist, zu erhöhten Fahrtstrecken und Reisekosten führt und auch weniger zuschauerträchtige Lokalderbys ermöglicht. Zur Veranschaulichung mag dienen, dass selbst ein absoluter Spitzenklub der 50er und frühen 60er Jahre wie Stade de Reims in 16 von 17 Spielzeiten lediglich einen Saisondurchschnitt zwischen 7.000 und 10.000 Zuschauern aufwies – und das in der höchsten Spielklasse. Die verbreitete Diskrepanz zwischen relativ hohen Kosten und niedrigen Einnahmen hatte zur Folge, dass die D2 über längere Zeitabschnitte nicht ein-, sondern mehrgleisig organisiert war: zwei Gruppen (Nord und Süd) 1933/34, 1945/46, 1972–1993 drei Gruppen (Nord, Mitte und Süd) 1970–1972 vier Gruppen (Nord, Ost, Süd und West) 1937/38 mit einer sich anschließenden „Meisterrunde“ (phase finale) der je vier bestplatzierten Mannschaften Von 1970 bis 1992 war die Division 2 eine „offene“ Liga, in der sowohl Amateur- als auch Profiklubs antreten durften; vor 1970 und wieder ab 1992 handelt(e) es sich um eine reine Profiliga. In der Saison 1948/49 spielte nach kurzfristigem Rückzug der AS Angoulême der 1. FC Saarbrücken als FC Sarrebruck in der D2 mit – sehr erfolgreich, aber nur außer Konkurrenz. Deswegen zeigt die offizielle Abschlusstabelle dieser Spielzeit auch lediglich 19 Teilnehmer mit Racing Lens und Girondins-AS du Port Bordeaux auf den Plätzen Eins und Zwei. Wären die Begegnungen der Saarländer gewertet worden, hätten die beiden Aufsteiger Sarrebruck und Bordeaux heißen müssen.Zu den politisch-geschichtlichen Hintergründen dieses Intermezzos siehe hier. Die grundsätzlichen Probleme der zweiten Liga sind erst recht in der 1936/37 eingeführten dritten Spielklasse (D3) festzustellen, die den Übergang zwischen Amateurismus und Professionalismus erleichtern sollte, aber in ihrer „Zwitterrolle“ (in ihr können sowohl Vereine mit professionellen Strukturen als auch Amateurklubs spielen) treffend mit dem Satz „Profis der Ausgaben, Amateure der Einnahmen“ charakterisiert werden kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich zwar die Zahl der Spielstaffeln, die Zahl der Vereine und die Bezeichnungen für D2 und D3 zeitweise verändert, aber diese dreistufige Struktur der Leistungsspitze existiert bis heute und sie stützt sich auf ein breites Fundament von Amateurspielklassen: Die Ligenbezeichnungen haben sich wiederholt geändert; hierüber werden die aktuell (ab der Saison 2017/18) gültigen Bezeichnungen genannt. Übrigens wird in jüngerer Zeit auch der Erstplatzierte der Ligue 2 als Französischer Meister bezeichnet, wenn auch mit dem Ligazusatz (Championnat de France D2 bzw. L2), und mancher Klub führt diesen Zweitligatitel durchaus bei seinen Erfolgen auf. Organisation des Profifußballs heute Struktur der Vereine Bis in die erste Hälfte der 1990er waren viele Klubs nach Vereinsrecht (in Frankreich Association loi 1901 à statut renforcé) organisiert; sie wurden von einzelnen Männern  geführt, die oft erhebliche private Mittel in den Verein investiert hatten und ihn dann – teilweise über Jahrzehnte – nach ihrem persönlichen Gusto führten. Dieser Typus des „hemdsärmeligen Sonnenkönigs“ auf dem Präsidentensessel ist auch in den deutschsprachigen Ländern nicht unbekannt. Diese stellten insgesamt zwar nur eine Minderheit dar, während zahlreiche andere wie Roger Rocher in Saint-Étienne oder Henri Germain in Reims ihre Vereine über lange Jahre sportlich außerordentlich erfolgreich und finanziell grundsolide geführt haben. Aber es sorgten eben auch immer wieder Präsidenten für negative Schlagzeilen, die ihren Klub um des kurzfristigen Erfolges willen und aus Gründen persönlicher Eitelkeit in die roten Zahlen manövrierten, weil sie auf kaufmännische Sorgfalt wenig Wert legten und fußballerische Experten neben sich auf Dauer nicht duldeten. Deshalb ist die Liste französischer Profivereine lang, die zwischen etwa 1965 und 1995 Konkurs anmelden mussten oder sich nach anhaltenden sportlichen Misserfolgen im Amateurlager wiederfanden: FC Nancy, Toulouse FC, US Valenciennes, Brest Armorique, auch ehemalige Meister wie der FC Sète und Stade Reims, … Einige wenige Klubs wurden auch vom Verband wegen ihrer Verstöße gegen die Statuten zum Zwangsabstieg verurteilt (siehe oben). Um dies zukünftig zu vermeiden, müssen seither alle Profiklubs nach Aktien- oder Kapitalgesellschaftsrecht strukturiert sein, wobei unterschiedliche Organisationsformen zulässig sind. Verbreitet sind die SASP (Société Anonyme Sportive Professionnelle) und die SAOS (Société Anonyme à Objet Sportif), also Aktiengesellschaften; sehr viel seltener kommen SEMS (Société d'Économie Mixte Sportive), SARL (Société à Responsabilité Limitée, in etwa der deutschen GmbH vergleichbar) und EUSRL (Entreprise Unipersonelle Sportive à Responsabilité Limitée, eine Ein-Personen-Gesellschaft) vor.Von den 61 Mannschaften in den obersten drei Ligen gehörten in der Saison 2010/11 45 einer SASP, drei einer SAOS, zwei einer SARL (darunter die AS Monaco, eine Société Anonyme nach monegassischem Recht) und eine einem EUSRL. Lediglich zehn (allesamt Drittligisten) waren noch ausschließlich nach Vereinsrecht organisiert. Die Kapitalgesellschaften sind jeweils als unabhängige Abteilungen in den Gesamtverein eingebettet. Auch in Frankreich sind die Rechte der Vereinsmitglieder in diesen Gesellschaften gering; Präsident, Generaldirektor und Vorstand entscheiden über das operative Geschäft auch im sportlichen Bereich, deren Kontrolle obliegt dem Aufsichtsrat und der Aktionärs- bzw. Gesellschafterversammlung. Die Präsidenten bzw. Vorstandsvorsitzenden dieser Gesellschaften sind es auch, die – im Vergleich zu den Vorsitzenden des Gesamtvereins – im medialen Rampenlicht stehen. Dass einfache Vereinsmitglieder Miteigentümer ihres Klubs werden können, ist in Frankreich sehr selten. Lediglich beim Le Havre AC können diese schon seit 2008 Gesellschafter werden – allerdings ausschließlich indirekt, nämlich über die Dachorganisation der HAC-Fanclubs (Fédération des supporters havrais). Ab März 2017 können sie dies auch bei EA Guingamp, und dort auch als Einzelpersonen, die sich für je 40 Euro in den Club des Kalons (Bretonisch für „Klub der Beherzten“) einkaufen und so zu Gesellschaftern werden dürfen. Der Verein rechnet mit etwa 7000 Beitritten.Über die Berufsfußballabteilung hinaus müssen die Vereine auch Amateur- und Jugendmannschaften unterhalten und Nachwuchsspieler ausbilden (siehe oben). Der französische Profiverein des 21. Jahrhunderts kennt trotzdem auch noch die einflussreiche Einzelperson, ohne die im Klub keine größeren Entscheidungen getroffen werden können; allerdings können sich diese, oft als Haupt-Kapitalgeber in Präsidium oder Aufsichtsrat agierend, in der Regel keine Alleingänge alter Prägung leisten und sind in Finanzfragen aufgrund ihrer Biografie alles andere als unbedarft. Zu diesem neuen Typus zählen unter anderem der Modeschöpfer Daniel Hechter (in den 70er und 80er Jahren bei Paris Saint-Germain und Strasbourg) und der Milliardär Robert Louis-Dreyfus, der Ende 2006 seinen Mehrheitsanteil an Olympique Marseille für 115 Mio. € an den Kanadier Jack Kachkar verkaufen wollte.Auch in der Gegenwart führen zahlreiche Präsidenten die Profiabteilung ihres Vereins während eines langen Zeitraumes. 2014 beispielsweise ist Montpelliers Louis Nicollin seit 40 Jahren im Amt, Jean-Michel Aulas aus Lyon seit 17 und auch die Präsidenten von Bordeaux, Toulouse, Caen, Lille und Reims seit mindestens zehn Jahren. An der Börse sind bisher erst zwei Vereine notiert. Ermöglicht wurde dies durch eine Gesetzesänderung, die der Senat im Dezember 2006 auf den Weg gebracht hatte. Vorreiter war Olympique Lyon, der sich auf diesem Weg Anfang 2007 etwa 100 Mio. € an frischem Kapital beschaffte. Allerdings hat diese Aktie inzwischen gegenüber dem damaligen Ausgabekurs von 24 € einen erheblichen Wertverlust – bis auf 1,73 € am 10. April 2013 – hinnehmen müssen. Im Juni 2007 folgte mit dem FC Istres ein Klub, der zu diesem Zeitpunkt gerade in die dritte Liga abgestiegen war. Eine Diskussion darüber, inwieweit sich Renditeerwartungen von „sportfernen“ Kapitaleignern auf die Betriebsabläufe innerhalb eines Vereins auswirken können, ist erst in den Anfängen begriffen. Am Beispiel von Olympique Lyon lässt sich erkennen, auf welchen Feldern zumindest die erfolgreichsten Klubs wirtschaften. Unter dem Dach einer gemeinsamen Holding, der OL Groupe, gibt es die SASP Olympique Lyonnais, die das Kerngeschäft des Konzerns ausmacht, nämlich die Fußballabteilung. Daneben existieren als selbständige Unternehmen, aber unter einheitlicher Marke OL Phone, OL Voyages, OL Café, OL Boisson, OL Music, OL Coiffure, OL Taxi, Restaurant Argenson Gerland und Cro Lyon Boulangeries (eine OL Land für den geplanten Stadionneubau ist 2007 dazukommen) – insgesamt also ein breit gefächertes Geschäftsfeld, an dessen Umsatz der Fußball inzwischen nur noch mit ca. 70 % beteiligt ist. Allerdings gibt es in der Ligue 1 nicht einmal eine Handvoll Vereine, die die Grundlagen dafür besitzen, sich in einen ähnlich diversifizierten Konzern umzuwandeln (siehe auch unten). Die LFP – Vertretung der Profivereine Die Interessenunterschiede zwischen dem Gros der unter Amateurbedingungen arbeitenden Vereine und der schmalen Schicht professionell organisierter Klubs brachen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg offen aus. Letztere warfen der FFF nicht zu Unrecht vor, während der Kriegsjahre kaum Widerstand gegen die politischen Versuche, den Professionalismus im Sport abzuschaffen, geleistet zu haben. Die Fronten zwischen beiden Teilen des organisierten Fußballs verhärteten sich bis in die späten 1960er Jahre; im bewegten Mai 1968 besetzten Vertreter mehrerer Amateurvereine unter der Parole „Le football aux footballeurs!“ („Der Fußball den Fußballern!“) sogar den Sitz der FFF in Paris. Erst danach kam es zu einer Annäherung, die 1970 in einen dauerhaften Kompromiss mündete. Seither untersteht die Ligue 1 nicht mehr dem französischen Verband bzw. dessen Groupement des Clubs Professionnels, sondern der Ligue de Football Professionnel, die unter dem Dach der FFF weitestgehend autonom über alle Fragen des Ligabetriebes entscheidet. Die LFP umfasst die beiden höchsten Spielklassen (Ligue 1 und Ligue 2); diese sind gegenüber der dritten Liga, der ebenfalls eingleisigen National (D3), durch eine feste Auf- und Abstiegsregelung (derzeit je drei Mannschaften) allerdings offen – die Liga kann sich also ihre Bewerber so wenig aussuchen wie ihre Abgänge, sondern darüber entscheiden alleine sportliche Kriterien. Es gibt allerdings die Möglichkeit, Vereinen aus finanziellen Gründen den Profistatus zu verweigern, denn Aufsteiger müssen generell auch ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nachweisen. Das hat vor einigen Jahren beispielsweise dazu geführt, dass einem zweiten Verein aus der korsischen Hauptstadt Ajaccio (dem Gazélec FC) die Zulassung zum Profibereich verwehrt wurde, weil angesichts niedriger, überwiegend nur vierstelliger Zuschauerzahlen unterhalb der Ligue 1 das Potential für zwei Klubs aus derselben Stadt, wenn sie nicht wenigstens 100.000 Einwohner zählt, als nicht ausreichend bewertet wurde und wird. Außerdem richtet die LFP den Ligapokal (Coupe de la Ligue) aus, an dem nur Profimannschaften (2007/08 die 40 Erst- und Zweitligisten sowie fünf Klubs aus der D3) teilnehmen und der, wie in vielen anderen Ländern, nur eine vergleichsweise geringe Attraktivität besitzt. Des Weiteren ist die LFP neuerdings für alle französischen Jugendnationalmannschaften, die B-Elf der Männer und alle Frauennationalteams zuständig. Dafür bezahlt sie der FFF jährlich rund 10 % ihrer Einnahmen aus dem Rechtehandel. Präsident der LFP war seit Mai 2002 Frédéric Thiriez; er ist im April 2016 kurz vor Ablauf seiner zweiten siebenjährigen Amtsperiode zurückgetreten. Die Liga hat sich inzwischen eine Ethik- und eine Antirassismus-Charta gegeben, letztere unter dem Titel „Den Rassismus ins Abseits stellen“. Mitte Oktober 2007 haben sieben Klubs (Girondins Bordeaux, RC Lens, OSC Lille, Olympique Lyon, AS Monaco, Paris Saint-Germain und der FC Toulouse) einen „elitären Zirkel der Großen“, den Verein Football avenir professionnel (FAP) gegründet, der nach eigenem Verständnis für alle Ligamitglieder offen sein soll und Einfluss auf die Zukunft des Spitzenfußballs nehmen will. Nach Aussage des auf fünf Jahre gewählten Präsidenten Jean-Michel Aulas wichen die Interessen der stärksten Erstligisten von denen der anderen Profivereine so stark ab, dass die FAP-Gründung erforderlich geworden sei. Dieser Vorgang stößt in den Medien, aber auch bei anderen Vereinen – so sind beispielsweise Olympique Marseille und die AS Saint-Étienne der FAP bewusst nicht beigetreten – auf Kritik, weil er neben den weit auseinanderklaffenden finanziellen Möglichkeiten der LFP-Mitglieder und der Beteiligung dreier Vereine an der G-14 als ein weiterer Schritt zur Spaltung des Profifußballs verstanden wird. Im Mai 2008 hat der FAP seine Auflösung bekanntgegeben. Die Spielergewerkschaft UNFP siehe auch den Hauptartikel Union Nationale des Footballeurs Professionnels Die Erkenntnis, dass Berufsfußballer sich organisieren müssen, um ihre Interessen gegenüber ihren Arbeitgebern durchsetzen zu können, ist in Frankreich nahezu so alt wie der Professionalismus. 1934 entstand die Amicale des joueurs professionnels, die sich 1936 zu einem gewerkschaftsähnlichen Verein (syndicat) weiterentwickelte. Sein Hauptthemen waren Regelungen bezüglich der Spielertransfers, die die Betroffenen mit einbezog, und die Krankheitskostenerstattung im Verletzungsfall. Zu den Hauptinitiatoren der Organisation zählten Jacques Mairesse, Edmond Delfour, Étienne Mattler, Raoul Diagne und einige andere, überwiegend Nationalspieler. Ende 1937 kündigten diese einen Spielerstreik für ein Länderspiel an, der aufgrund massiver Drohungen der FFFA und zu geringer Unterstützung aus Spielerkreisen folgenlos blieb. Mit Mairesses Tod im Weltkrieg schlief diese Bewegung für anderthalb Jahrzehnte ein. Im November 1961 kam es zur Neugründung einer Interessenvertretung in Form der Union Nationale des Footballeurs Professionnels, die heutzutage einflussreicher ist als ihre deutsche Schwester und über Sitz und Stimme in der LFP verfügt. Treibende Kraft hinter ihrer Gründung war der kamerunische Spieler Eugène Njo-Léa, ein brandgefährlicher Torschütze und 1957 auch Landesmeister mit der AS Saint-Étienne, der später zum Doktor der Rechte promovierte. Die ersten Vorsitzenden der UNFP waren Just Fontaine (bis 1964) und Michel Hidalgo (1964 bis 1968). Aktueller Präsident ist seit 1969 Philippe Piat (zwischen 1965 und 1972 erfolgreicher D1-Torjäger bei Racing Strasbourg, AS Monaco und FC Sochaux), der zeitweise auch der Internationalen Spielergewerkschaft FIFPro vorstand. Inzwischen besitzt die UNFP eine „Doppelspitze“: Co-Präsident neben Piat ist Sylvain Kastendeuch, langjähriger Profi mit über 570 Erstligaeinsätzen bei drei Vereinen. Heute bestehen ihre Haupttätigkeitsfelder in der Beratung und Vertretung der Profifußballer bei vertrags- und sportrechtlichen Fragen. Des Weiteren organisiert sie für vorübergehend arbeitslos gewordene Spieler Möglichkeiten, sich fit zu halten, geht dabei auch neue Wege: im Sommer 2006 können diese freiwillig an einem Trainerlehrgang in Clairefontaine teilnehmen, um den angehenden Fußballlehrern die praktische Anwendung ihres theoretischen Lernstoffs zu ermöglichen und ggf. auch selbst Interesse an einer Übungsleiterausbildung zu bekommen. Entstanden war die Idee zu dieser Interessenvertretung in einer Zeit, in der die Spieler „Sklaven der Vereine“ waren (so Raymond Kopa im Juni 1963 in einem Interview mit der Tageszeitung France Dimanche): seit den 1940ern bedeutete die Unterschrift eines in Vertragsangelegenheiten meist unerfahrenen, jungen Spielers, dass er bis zu seinem 35. Geburtstag den Verein nicht ohne dessen Zustimmung verlassen konnte. Zwar hieß es in den Profistatuten auch, Verein und Spieler sollten eine vorzeitige Vertragsauflösung „einvernehmlich regeln“; doch wenn sich der Klub dagegen sperrte, hatte der Spieler keinerlei rechtlichen Anspruch darauf. Von der Ablösesumme, die der abgebende Verein im Falle eines Wechsels frei aushandeln konnte, standen dem Spieler etwa 10 % zu. Durch eine unrealistisch hohe Forderung konnte der Klub den Weggang eines Spielers aber jederzeit verhindern. Umgekehrt besaßen Spieler keinerlei Mitspracherecht, wenn ihr Verein sie an einen anderen verkaufte. Dass der zu deutlichen Worten neigende Kopa mit seiner Charakterisierung der Bestimmungen keineswegs übertrieb, lässt sich am Beispiel von Roger Piantoni veranschaulichen. Der begnadete Linksfuß, der aus einfachsten proletarischen Verhältnissen (Bergarbeiterfamilie) stammte, unterschrieb 1950 im Alter von 18 Jahren seinen ersten Vertrag beim FC Nancy, einem eher mittelmäßigen Klub der Division 1, und hat sich für seine Elf und seinen Arbeitgeber immer bis zum Letzten eingesetzt. 1954 bemühten sich sowohl Internazionale Mailand als auch Juventus Turin darum, ihn zu verpflichten, und der Enkel italienischer Einwanderer bat seinen Präsidenten darum, ihm diese Chance der Rückkehr zu seinen Wurzeln zu ermöglichen. Hinzuzufügen ist, dass Piantoni ein ungemein bescheidener Mensch war, der, auch als er längst Nationalspieler geworden war, mit Frau und Kindern in einer alles andere als luxuriösen Stadtwohnung lebte und sich lediglich einen Kleinwagen leistete. Seine Enttäuschung war gewaltig, als sein Präsident ihm schlichtweg mitteilte, der FC Nancy wolle sich nicht von seinem besten Spieler trennen. 1957 stieg Nancy aus der ersten Liga ab und verkaufte Piantoni dann an Stade de Reims, was rein sportlich sicher eine deutliche Verbesserung für den Halbstürmer war. Aber erst Jahre später erfuhr er von Reims’ Präsidenten Henri Germain, was ihm sein alter Verein immer verschwiegen hatte, dass nämlich sein neuer Arbeitgeber bereits seit 1952 jährliche Zahlungen an Nancy leistete, um sich für den Fall einer vorzeitigen Vertragsauflösung ein Vorkaufsrecht auf den Spieler zu sichern. Kopa wurde übrigens 1963 für seine Äußerungen vom Groupement des Clubs Professionnels für ein halbes Jahr gesperrt, wenn auch auf Bewährung. Und es dauerte nahezu ein Jahrzehnt, bis es der UNFP gelang, die „ewige“ Bindung von Spielern an ihren ersten Verein abzuschaffen: ab der Saison 1969/70 wurden Spielerverträge grundsätzlich nur noch für eine frei aushandelbare Dauer abgeschlossen. Heutzutage können solche Verträge jederzeit aufgehoben werden, wenn sich Verein und Spieler darüber einig sind. Einseitige Auflösungen hingegen sind in Übereinstimmung mit der 2001 erlassenen Regel des Weltverbandes für Spieler bis zu ihrem 28. Geburtstag drei, für ältere zwei Jahre lang untersagt; Verstöße dagegen werden sanktioniert. In der Praxis geben Klubs allerdings ihren Widerstand gegen einen vorzeitigen Vereinswechsel häufig auf, wenn die Ablösesumme entsprechend erhöht wird (vgl. Michael Essien, der 2005 für 38 Mio. € schließlich doch von Olympique Lyon zu Chelsea wechseln durfte). Neben der UNFP gibt es noch die 1990 gegründete Union Patronale des Clubs Professionnels de Football (UCPF), die sich aus Vertretern der Kapitalgesellschaften in den französischen Profifußballklubs, mithin der Eigentümer und Arbeitgeber, zusammensetzt, sich zugleich aber als Vertreter ihrer Angestellten – also hauptsächlich der Spieler – versteht. Um diese „Fürsorge-Funktion“ für ihre Beschäftigten schon im Namen zu verdeutlichen, hatte die anfangs nur Union des Clubs Professionnels de Football heißende UCPF sich 1994 das Adjektiv „patronal“ hinzugefügt. Das Schiedsrichterwesen Anders als Spieler, Trainer, Vereins- und Verbandsfunktionäre sind die Schiedsrichter der beiden Profiligen in Frankreich zwar keine Amateure mehr – denn sie erhalten für ihre Einsätze inzwischen auch einen vierstelligen Euro-Betrag –, gehen aber meist noch einem anderen Broterwerb nach. Die Einführung von hauptberuflich tätigen Referees ist auch in Frankreich alle Jahre wieder Teil des öffentlichen Diskurses: 2001 hat die FFF mit der Direction Technique Nationale de l’Arbitrage (DTNA, seit 2004 DNA) ein Gremium eingesetzt, das sich seither mit dieser und anderen Fragen rund um das Schiedsrichterwesen (beispielsweise verbesserte Ausbildung, Einführung von Torkameras u. a.) befasst. In der Saison 2011/12 erhielt ein Spielleiter der höchsten Klasse (arbitre fédéral 1) ein monatliches Fixum von 2.800 € sowie 2.474 € pro Partie (jeweils brutto). Dazu kam nach Karriereende eine Einmalzahlung als Beitrag zur Alterssicherung in Höhe von 12.500 € pro Jahr der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Die Ligue-1-Unparteiischen fordern allerdings eine Erhöhung der Einsatzvergütung auf 4.500 € je Spielleitung, zumal die FFF seit Anfang 2011 durch den Sponsorenwechsel von Adidas zu Nike erheblich höhere Einnahmen habe. In Frankreich wird – auch dies ist keine nationale Besonderheit – allerdings bezweifelt, ob für ein solches Salär genügend viele geeignete Personen bereit sind, auf einen anderen Beruf zu verzichten; denn ein Schiedsrichter kann seine Tätigkeit bis zum Erreichen der Altersgrenze (derzeit bei 46 Jahren) auf diesem Niveau für maximal ca. 20 Jahre ausüben. Mitte 2016 wurde eine Gruppe von Spitzenreferees bestimmt, die nunmehr als Profis wirken sollen. Der ranghöchste unter ihnen, FIFA-Elite-Schiedsrichter Clément Turpin, soll demnach monatlich brutto 8.000 Euro zuzüglich 2.000 Euro je Ansetzung verdienen, die anderen abgestuft weniger. Zudem besaßen französische Spielleiter in der Vergangenheit auch als Amateure durchaus internationales Renommee: Georges Capdeville, Maurice Guigue (sie leiteten die WM-Endspiele 1938 bzw. 1958), Robert Wurtz, Michel Vautrot oder Joël Quiniou (dieser sogar bei drei WM-Turnieren eingesetzt) galten in ihrer aktiven Zeit als ausgewiesene Meister ihres Faches. Im April 1996 pfiff Nelly Viennot, die 2007 ihre Karriere beendete und seither in der Schiedsrichterinnenförderung arbeitet, als erste Frau ein Profispiel in Frankreich. Ihr folgten bis einschließlich 2011 Karin Vives-Solana, Séverine Zinck und Stéphanie Frappart. Momentan sind die 235 französischen Spitzenschiedsrichter (Arbitres de Fédération) in fünf Kategorien eingeteilt, von denen die Angehörigen der beiden obersten Stufen bei Spielen der Profiligen eingesetzt werden – in der Saison 2012/13: 36 Referees, darunter keine Frau – und aus deren Kreis sich auch diejenigen rekrutieren, die die FFF dem Weltverband für internationale Einsätze meldet. Zwischen diesen fünf Leistungsstufen und der darunter befindlichen Basis kommt es nach Saisonende zu Auf- und Abstieg wie zwischen den Fußballligen auch, der von einem Leistungsbewertungssystem jedes einzelnen Schiedsrichters abhängt und durch eine Kommission (Commission d'Arbitrage) entschieden wird. Seit 1967 existiert ein nationaler Schiedsrichterverband, die Union Nationale des Arbitres de Football (UNAF); 2004 kam mit der Amicale Française des Arbitres de Football (AFAF) eine stärker „basisdemokratisch“ strukturierte Konkurrenz hinzu. Die Mitgliedschaft in diesen Organisationen ist freiwillig. Die in Ligue 1 und 2 eingesetzten Spielleiter haben sich im Juli 2006 zusätzlich ein eigenes Organ (Syndicat des arbitres de football d'élite, SAFE) zur Vertretung ihrer Interessen gegenüber der LFP, aber auch der veröffentlichten Meinung geschaffen und als ihren ersten Vorsitzenden Tony Chapron gewählt. Um ihrer Forderung nach einer Erhöhung ihres Salärs Nachdruck zu verleihen, wollten die Erstligaschiedsrichter am ersten Märzwochenende 2011 die Spiele der ersten und zweiten Liga in einer konzertierten Aktion mit einer viertelstündigen Verspätung anpfeifen und dazu nicht die Trikots des neuen Verbandssponsors tragen. Die FFF reagierte darauf, indem sie sehr kurzfristig die Ansetzungen änderte: in der Ligue 1 kamen mit einer Ausnahme Unparteiische zum Einsatz, die normalerweise Partien der dritten und vierten Liga leiten. Seit 2002 tragen die Unparteiischen in den beiden Profiligen, im Landes- und im Ligapokal Werbung für eine Haushaltsgeräte-Handelskette auf den Ärmeln, die dafür jährlich etwa 650.000 € bezahlt und zusätzlich erhebliche finanzielle und organisatorische Ressourcen in die Ausbildung des Schiedsrichternachwuchses investiert. So veranstaltet die Firma BUT (übersetzt sinnigerweise TOR) gemeinsam mit der FFF die jährlichen „Tage der Schiedsrichterei“, bei denen auf über 300 Sportplätzen in ganz Frankreich junge Menschen für eine solche Tätigkeit interessiert werden sollen – was in den vergangenen vier Jahren immerhin zu mehr als 6.000 neuen Referees geführt hat. Finanzierung: Einnahmen und Ausgaben Laut der jüngsten Untersuchung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte, dem 22. Annual Review of Football Finance über die Saison 2011/12, liegt die Ligue 1 mit 1,136 Mrd. € Umsatz weiterhin auf dem fünften Rang hinter ihren englischen (2,179), deutschen (1,872), spanischen (1,765) und italienischen (1,570) Konkurrenten. Zuschauerzahlen Die durchschnittlichen Zuschauerzahlen in den Erstliga-Stadien überschritten zwar von 1999/2000 bis einschließlich 2009/10 die 20.000er-Marke (bis 2012/13 lagen sie allerdings mit 19.750, 18.870 und 19.260 jeweils wieder darunter), aber die Zahlen schwanken naturgemäß zwischen den einzelnen Vereinen sehr stark, und selbst die Publikumsmagneten wie Olympique Marseille (seit der Saison 1997/98 regelmäßig die meisten Zuschauer), Olympique Lyon (in der Saison 2005/06: 26.000 Dauerkarten verkauft) und Paris Saint-Germain decken ihre Etats zu weniger als der Hälfte durch den Umsatz an den Kassenhäuschen (zu den Eintrittspreisen siehe unten). Erst 2007/08 wurde der bereits aus der Spielzeit 1998/99 datierende Rekord für ein einzelnes Spiel (57.714 zahlende Zuschauer bei der Begegnung Marseille gegen Lyon) überboten, als das Duell Lille gegen Lyon 77.840 Zuschauer anzog – im Pariser Stade de France. In der Spielzeit 2012/13 hatten die jeweils 19 Heimspiele der Vereine folgende mittlere Besucherzahlen: an der Spitze lagen Meister Paris 43.239, Lille 40.593, Marseille 33.473, Lyon 32.086, Saint-Étienne 22.966 und Bordeaux 19.403. Am unteren Ende dieser Rangfolge standen Absteiger Brest mit 11.697 vor Bastia (11.617), Nizza (10.246), Évian TG (10.211) und Ajaccio (6.801).2014/15 haben sich die Gesamtzahlen der Ligue 1 deutlich nach oben entwickelt (ein Plus von rund 1.200 Besuchern gegenüber der Vorsaison) und verzeichneten 22.337 Besucher je Partie. Dabei haben sich diese Zahlen jahrzehntelang nur sehr schleppend entwickelt. In der Saison 1947/48 (für die vorangehende Zeit liegen keine gesicherten Gesamtzahlen vor) besuchten durchschnittlich 9.700 Zuschauer die Spiele der Division 1 und 1952/53 wurde mit 11.100 Besuchern ein vorläufiger Höchststand erreicht. Noch zwanzig Jahre später (1973/74: 10.400 Zahlende im Mittel) und selbst nach den Erfolgen der Nationalmannschaft in den 1980ern (Europameister 1984, Weltmeisterschafts-Halbfinalist 1982 und 1986) pendelte die Zuschauerzahl alljährlich nur um 10.000. Erst 1997/98 wurde die 15.000er-, zwei Jahre später die 20.000er-Grenze überschritten; dies ist zweifellos maßgeblich durch den Gewinn des Weltmeistertitels im eigenen Land beeinflusst worden, zeigt aber zugleich, wie schwer es dem Fußball fiel, sich in der Publikumsgunst gegen die eingangs genannten, traditionellen französischen Sportarten durchzusetzen. Fernsehgelder Die Anfänge Für die allererste Liveübertragung eines Ligaspiels – am 29. Dezember 1956 – erhielt der gastgebende Stade de Reims von RTF lediglich eine Ausgleichszahlung, die die Differenz zwischen den Zuschauereinnahmen dieser Partie gegen den FC Metz und den durchschnittlichen Einnahmen der sonstigen Heimspiele kompensierte; geschätzte 700.000 Zuschauer verfolgten das Spiel an den Fernsehempfängern. Aber erst ab Mitte der 1960er Jahre wurden wieder Spiele der Division 1 live gezeigt: vier in der Saison 1965/66, sieben 1968/69. Zur Spielzeit 1969/70 erklärte sich der Sender bereit, pro Liveübertragung mindestens 120.000 FF (umgerechnet knapp 40.000 €) zu bezahlen; angesichts des geringen Zuschauerechos beendete RTF diesen Versuch aber schon im November 1969. Erst im September 1977 – zeitgleich mit dem Höhepunkt der Erfolgskurve der AS Saint-Étienne – kehrte der Ligafußball auf die französischen Bildschirme zurück; für insgesamt 450.000 FF erhielt TF1 das Recht, am späten Sonnabend in seinem Magazin Téléfoot Zusammenfassungen aller Meisterschaftsbegegnungen zu zeigen. Zwei Jahre später bezahlte der staatliche Sender dafür bereits 3 Mio. FF pro Saison. Liveübertragungen gab es aber erst wieder ab November 1984, als der Privatsender Canal+ begann, für je 250.000 FF eine Partie pro Spieltag in voller Länge zu zeigen. Seit dem 3. September 1996 können sämtliche Erstligaspiele bei diesem Anbieter gegen Bezahlung live gesehen werden. Gegenwärtige Entwicklungen In der Gegenwart sind die Vereine der beiden höchsten Spielklassen, wie in anderen Ländern auch, in sehr hohem Maße von den Zahlungen der Fernsehanstalten, ihrer Sponsoren und vom Ertrag des Merchandisings (hauptsächlich Trikotverkauf und dergleichen Fanartikel) abhängig. In der Saison 2006/07 zahlten Canal+ rund 600 Mio., Eurosport 15 Mio. und der Mobilfunkanbieter Orange 29 Mio. Euro an die LFP, die daraus die Klubs der beiden höchsten Spielklassen sowie die aktuell sechs Profivereine in der dritten Liga bediente; auch für Erfolge im Ligapokal (Coupe de la Ligue) werden aus diesem Gesamtbudget Beträge ausgeschüttet. Ab der Saison 2008/09 wird die französische Liga – abgesehen von je anderthalb Minuten langen Kurzspielberichten auf Basis des französischen Informationsrechtes – ausschließlich für Fernseh-, Internet- und Mobiltelefon-Abonnenten zu sehen sein; Canal+ (465 Mio.) und Orange (203 Mio.) bezahlten dafür bis 2011 668 Mio. € je Saison. Diese Entscheidung der LFP hatte in Frankreich einen Sturm der Empörung ausgelöst und auch die Aufsichtsbehörde Conseil supérieur de l'audiovisuel auf den Plan gerufen; der CSA hat später ein Recht auf mehrminütige kostenfreie Berichterstattung festgestellt. Bereits Anfang März 2008 hatten Canal+ und die Liga eingelenkt: es sollte zukünftig eine unverschlüsselte Zusammenfassung des Spieltags geben, die der Sender am Sonntagnachmittag – also ohne das Sonntagabend-Spiel – ausstrahlen wird. Von 2012 bis 2016 überträgt außer Canal+ erstmals auch der in Katar beheimatete Sender Al Jazeera regelmäßig L1-Spiele, der zudem für 195 Mio. Euro pro Saison bis 2018 bereits die Auslandsrechte besitzt und zum Januar 2012 zwei französischsprachige, reine Sportkanäle (beIN Sport 1 und 2) eingerichtet hat. Die vergebenen fünf attraktivsten Pakete von Emissionsrechten kosteten insgesamt 510 Mio. Euro jährlich, wovon Canal+ 420 trägt. Durch die in einer weiteren Bieterrunde erzielten Einnahmen für die restlichen Pakete, darunter das bisher von Orange betriebene Mobilfunkangebot, erhöhten sich die Fernsehgelder bis 2016 auf 607 Mio. Euro und steigen für den Zeitraum 2016 bis 2020 auf jährlich 748,5 Mio. Euro an. Die Fernseheinnahmen blieben von 2000 bis 2003 praktisch konstant, wuchsen dann rapide an: betrugen sie in der Saison 2003/04 noch 256,3 Mio. €, stiegen sie 2004/05 auf 351,4 und 2005/06 auf 559,4 Mio. €. In der Saison 2012/13 erhielten die Klubs der Ligue 1 alleine 489,8 Mio., die 20 Zweitligisten 88,4 Mio. €. Es gilt ein Verteilerschlüssel, der sich aus einem für alle gleich hohen Grundbetrag (11,73 Mio. €) sowie erfolgsabhängigen Prämien (Tabellenplatz, Einschaltquoten und Fünf-Jahres-Wertung für beide Kriterien) zusammensetzt. 2013 standen Vizemeister Marseille hieraus 48,0, Meister Paris 44,1 und dem Drittplatzierten Lyon 44,0 Mio. zu, Bordeaux, Lille und Saint-Étienne je zwischen 32,1 und 30,4 Mio.; sechs weitere Klubs bekamen zwischen 19,6 und 26,0 Mio. €. Demgegenüber flossen in die Kassen des Auf- und gleich wieder Absteigers Troyes nur 12,9 Mio. – also nicht viel mehr als ein Viertel dessen, was Marseille erhielt –, für die beiden anderen Neulinge Bastia und Reims betrug der Anteil 16,5 bzw. 15,6 Mio. €. Diese Verteilung ist regelmäßig in der Sommerpause Gegenstand der Kritik, weil beispielsweise nach Ende der Saison 2008/09 der siebzehntplatzierte Beinahe-Absteiger aus Saint-Étienne rund 23,5 Mio., der sportlich erfolgreichere FC Valenciennes (Platz 12) aber nur gut zwei Drittel davon erhalten hat. Dem wird vor allem von Seiten der begünstigten Klubs entgegengehalten, dass sie aus Gründen der Solidarität mit den kleineren, weniger attraktiven Vereinen die eigentlichen Benachteiligten seien, weil sie bei einer freien Vermarktung deutlich höhere Einnahmen erzielen könnten. Etliche Klubs sind inzwischen nahezu auf Gedeih und Verderb von den Zahlungen der Fernsehsender abhängig: bei Auxerre machen diese Zahlungen in der Saison 2005/06 79 % der Gesamteinnahmen aus, bei Troyes, Valenciennes und Sedan knapp unter 70 %. Selbst Marseille und Saint-Étienne, die aufgrund ihrer vergangenen Erfolge hohe Popularität und überdurchschnittliche Zuschauerzahlen vorweisen können, decken ihre Etats zu annähernd 50 % aus diesen Fernsehgeldern. Der Mittelwert aller Profiklubs (erste und zweite Liga) lag in der Saison 2009/10 bei 54 % – in Ligue 1 alleine sogar bei 57 % –, während durch Sponsoring 19 % und aus dem Ticketverkauf 14 % erlöst werden. Klubsponsoren Exakte Angaben über Einnahmen aus dem Trikot- und Bandensponsoring sind auch in Frankreich angesichts einer sehr eingeschränkten Veröffentlichungspflicht häufig eher Schätzungen und entsprechend nur mit Vorsicht zu genießen. Paris Saint-Germain beispielsweise hat für 2006–2009 Emirates Airlines als Trikotsponsor gewonnen, der dafür ca. 5 Mio. € pro Saison bezahlt. Noch mehr ist die Brust der Spieler des Titelverteidigers wert: angeblich überweist die Hotelkette Accor dafür jährlich 15 Mio € an Lyon. In Frankreich dürfen außer den Bekleidungsausrüstern, anders als in Deutschland, auch mehrere Sponsoren auf Trikots und Hosen genannt werden. Außerdem sind bei vielen Vereinen die Heim- und die Auswärtshemden mit unterschiedlicher Werbung beflockt. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass etliche französische Kommunen, Départements und Regionen ihren Verein durch Sponsoring als Werbeträger nutzen; das ist derzeit bei Auxerre, Lorient, Lyon, Nantes, Rennes, Saint-Étienne und Sochaux der Fall. Im Spätsommer 2006 wurde auch in Frankreich die Werbung für Online-Sportwetten-Anbieter untersagt, was einige Vereine angesichts kurzfristig wegfallender Einnahmen finanziell in die Bredouille gebracht hat. Ligasponsor Ab der Saison 2007/08 besaß das Mobilfunkunternehmen Orange das Namensrecht an den beiden höchsten Spielklassen, die offiziell also Ligue 1 Orange und Ligue 2 Orange hießen. Wie in anderen Ländern auch haben sich diese Bezeichnungen allerdings weder im allgemeinen Sprachgebrauch noch in den Printmedien durchgesetzt; lediglich die Fernseh- und Radiostationen verwenden diese Namen häufiger. Von 2012 bis 2017 hieß die höchste Spielklasse wieder Ligue 1, ohne Sponsor. In der Saison 2017/18 hieß sie bis einschließlich der Saison 2019/20 Ligue 1 Conforama. Von 2020 bis 2022 wird Uber Eats der neue Namenssponsor und muss fast 15 Millionen Euro bezahlen. Der offizielle Name der Liga heißt dann Ligue 1 Uber Eats. Bilanzen und Ausgaben der Vereine Die geprüften Jahresbilanzen zum Stichtag 30. Juni 2012 ergaben, dass neun der 20 Erstligisten einen negativen Saldo aufweisen, der bei Bordeaux (minus 14,2 Mio. Euro), Absteiger Auxerre (minus 16,4 Mio.) und Lyon (minus 28 Mio.) besonders hoch ausgefallen ist. Ein besonders positives Bilanzergebnis steht bei Lille und Ajaccio mit jeweils gut 3 Mio. Euro zu Buche. Noch problematischer sieht es in der zweiten Liga aus, wo lediglich drei Klubs schwarze Zahlen vorzuweisen haben. Im Spieljahr 2013/14 haben die 20 Klubs der Ligue 1 insgesamt Ausgaben von gut 1,85 Mrd. € getätigt, also im Mittel 92,7 Mio. €. Fünf Klubs liegen deutlich darüber, wobei die „Neureichen“ von Paris Saint-Germain weiterhin einsam herausragen, gefolgt vom Erstligarückkehrer Monaco. Die reichsten und die „ärmsten“ (darin die beiden anderen Aufsteiger) Vereine sind hierunter dargestellt; das Mittelfeld bilden acht Klubs, deren Ausgaben zwischen 45 und 82 Mio. € ausmachten. Die Ausgaben der französischen Vereine haben sich seit Mitte der 1990er analog den steigenden Einnahmen aus den Fernsehrechten entwickelt und dabei mehr als vervierfacht: hatte ein Erstligist 1994/95 durchschnittlich 13,2 Mio. € zur Verfügung, konnte er zwei Jahre später 18 Mio., 1999/2000 bereits 33,7 Mio., 2004/05 36,5 Mio. und 2006/07 42,5 Mio. € ausgeben. Spielergehälter Ende der 1930er galt eine Verdienstobergrenze von 42.000 alten Francs pro Jahr einschließlich aller Prämien. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Einkommensmöglichkeiten selbst für Spitzenspieler eher bescheiden; 1954 legte der Verband eine Spanne von 30.000 bis 65.000 FF fest, wobei Nationalspielern bis zu 90.000 FF bezahlt werden durften. Mit der Erhöhung der Fernsehgelder und insbesondere nach dem Bosman-Urteil in den 1990ern kam es auch in Frankreich zu einer nahezu explosionsartigen Steigerung der Gehälter. Allerdings besteht dort ebenso wenig eine Offenlegungspflicht wie in anderen Staaten, so dass die veröffentlichten Zahlen nur als Annäherung zu verstehen sind. Außerdem machen die von den Vereinen zu bezahlenden Saläre (Grundeinkommen und Erfolgsprämien) geschätzt nur etwa 40 bis 60 % des Gesamtbetrages aus; dazu kommen insbesondere Einmalzahlungen bei Vertragsabschluss („Handgeld“), von Sponsoren oder Förderern übernommene Gehaltsanteile und Werbeeinnahmen. In der Saison 2008/09 gab es nur vier Spieler, die jährlich – ohne Erfolgsprämien und Einnahmen aus Werbeverträgen – über 4 Mio. € brutto von ihrem jeweiligen Verein erhielten, 2012/13 waren es elf, 2014/15 verdienen inklusive Prämien 20 Spieler zwischen 3,6 und 23 Mio. €. Für diese Erhöhung ist hauptsächlich Paris Saint-Germain verantwortlich, wo alleine ein Dutzend dieser Höchstverdiener unter Vertrag steht, darunter die sechs Führenden (Thiago Silva, Zlatan Ibrahimović, David Luiz, Edinson Cavani, als einziger Franzose Blaise Matuidi und Ezequiel Lavezzi). Vier Spieler von Marseille, zwei von Lyon sowie je einer von Lille und Monaco vervollständigen diese Gruppe. Zu dieser Entwicklung hat eine 2008 eingeführte Sonderregelung des Einkommenssteuergesetzes für Spitzenverdiener (§ 81C des Code général des impôts) beigetragen, wonach Ausländer, die zuvor in Frankreich nicht steuerpflichtig waren, und Franzosen, die wenigstens die fünf vorangegangenen Jahre ihr Einkommen im Ausland erzielt haben, zwischen 30 und 50 % ihrer Bruttoeinkünfte steuerfrei genießen können, und das auf maximal fünf Jahre. Während die Einkommen der Spitzenverdiener seit 2007/08 also eine stetig steigende Tendenz aufweisen, entwickelte sich der mittlere Jahresverdienst aller Ligue-1-Profis uneinheitlich, stieg von 351.500 (2003) über 535.000 (2008) auf 615.500 € (2009), ging 2011/12 auf 540.000 € und 2012/13 sogar auf 370.000 € zurück. 2014/15 liegt er mit ca. 480.000 € wieder höher. Der Durchschnitt aller Zweitligaprofis lag hingegen 2008/09 nur bei 180.000 € brutto. Gleichzeitig zeigt sich aber, dass die wachsenden Fernseheinnahmen in erster Linie für Spielerverpflichtungen und -gehälter ausgegeben werden. Die Bruttolohnsummen der D1-Klubs stiegen 2005/06 gegenüber 2004/05 um 2 (Marseille; allerdings auf sehr hohem Niveau) bis 80 % (Lille), lediglich einer der in der Liga verbleibenden 17 Vereine reduzierte seine Ausgaben (Monaco, −10 %). Bei diesen 17 stieg die Gesamtsumme von 321,3 auf 397,3 Mio. €, im Mittel also von 18,9 auf 23,4 Mio. €, was einem Zuwachs von knapp 24 % binnen eines Jahres entspricht. Zu berücksichtigen ist dabei, dass bei den Vereinen über die Gehälter für ihre Profis hinaus erhebliche Personalkosten entstehen, zumal ja auch die Amateure nicht nur „für Luft und Liebe“ spielen. Bei einem in dieser Hinsicht eher durchschnittlichen Verein wie Racing Lens beispielsweise umfasste die Zahl der bezahlten Angestellten Anfang 2008 rund 200 Personen: 70 Spieler und Trainer (einschließlich des Centre de formation), 70 Beschäftigte in der Hauptgeschäftsstelle und etwa 60 in den externen Niederlassungen (Kartenverkauf, Merchandising u. ä.). Spieltage und Berichterstattung In der Saison 2013/14 finden die Spieltage im Regelfall am Wochenende statt, und zwar wegen der Wünsche der Bezahlfernsehsender beIn Sport und Canal+ ein Spiel der Ligue 1 am Freitagabend, sechs oder sieben Spiele am Sonnabend und zwei oder drei am Sonntag (Anstoßzeiten: 14, 17 bzw. ab 20 Uhr), so dass insgesamt bis zu sieben Partien live übertragen werden können. Die Ligue 2 spielt üblicherweise freitags abends, außerdem gibt es eine Partie am Montag. Außer durch diese Liveübertragungen und das Angebot für Smartphone- und Tablet-Nutzer bei Orange können Sportinteressierte sich bei zahlreichen weiteren französischen Fernsehsendern plus dem monegassischen Radio Monte Carlo regelmäßig über den einheimischen Spitzenfußball informieren. Bei den Printmedien finden Fußballanhänger in Frankreich eine umfassende Berichterstattung vor: Mit L’Équipe gibt es eine täglich – auch sonnabends und sonntags – erscheinende Zeitung (alle Sportarten) und dazu mit France Football, genannt „Die Bibel des Fußballs“, eine dienstags und freitags erscheinende Zeitschrift. Stadien Zur WM 1998 wurden mehrere Stadien in Frankreich neu errichtet oder umgebaut, und zwar sowohl städtische wie vereinseigene Anlagen, wobei letztere bisher noch die Ausnahme darstellen. Anlässlich der Vergabe der EM-Endrunde 2016 an Frankreich kam es erneut zu Neu- und Umbauten. Vorschriften von FIFA und UEFA, die Finanzschwäche mancher Kommune und das Interesse der Klubs an der Erzielung höherer Einnahmen führen in den letzten Jahren zunehmend dazu, dass sich der französische Fußball auch in dieser Hinsicht mehr und mehr den Trends anderer europäischer Ligen annähert („Versitzplatzung“, mehr Komfort, Namensverkauf, Großbildschirme, besseres Merchandising in den Stadien usw.). Das typische französische Stadion früherer Jahrzehnte, das Stade Vélodrome mit dem Spielfeld innerhalb der Asphalt-Radrennbahn, existiert in den Profiligen nicht mehr: als letztes wurde bis 2008 das Stade Auguste-Delaune, traditionsreicher Spielort des Zweitligisten Stade Reims, um- (und das bedeutet: praktisch neu) gebaut; auch das Stadion in Marseille heißt nur noch so, hat aber keine Radbahn mehr. LFP-Präsident Thiriez konstatierte im Sommer 2007: Zu den Besonderheiten gehört, dass in vielen Stadien einzelne Tribünen nach bedeutenden Spielern der Vergangenheit benannt sind, beispielsweise die Tribune Piantoni in Nancy oder die Tribune Méano in Reims. Der Verkauf von Stadionnamen an zahlungskräftige Unternehmen hingegen ist in Frankreich bisher noch verhindert worden. Die Begehrlichkeit, diese Einnahmequelle zu nutzen, existiert allerdings: um den Jahreswechsel 2009/10 steht die mögliche Umbenennung des städtischen Prinzenparks zugunsten einer Ausbaufinanzierung wieder im Raum. Bisher wehren sich zahlreiche PSG-Anhänger massiv dagegen: dort waren bereits Spruchbänder wie „Der Parc ist keine Hure“ und „Coca-Cola-Stadion für unser Heiligtum?“ zu lesen. Ähnliches spielte sich im Sommer 2010 in Marseille ab. Hingegen wird der Neubau einer Spielstätte für den Le Mans FC als erste in Frankreich den Namen eines Sponsors, der Versicherung Mutuelle du Mans Assurances, tragen und nach ihrer Fertigstellung MMArena heißen. Bei einem Ligadurchschnitt von 21.500 Zuschauern pro Partie (Saison 2005/06) fällt auf, dass das Fassungsvermögen von immerhin neun der zwanzig aktuellen Erstligastadien eine solche Zuschauerzahl nicht ermöglichte. Andererseits ist zu bedenken, dass beispielsweise das Stadion von Sochaux über eine größere Kapazität verfügt als die Stadt Einwohner hat. In der Tabelle hierunter ist die von der LFP jeweils für Ligaspiele 2015/16 genehmigte Kapazität der Stadien angegeben; sie kann bei anderen Veranstaltungen von diesen Zahlen abweichen, etwa durch Verringerung oder Vergrößerung der Stehplatzbereiche. Anmerkung zur Schreibweise: In Frankreich werden Stadien meist mit Bindestrich zwischen Vor- und Nachnamen der Person geschrieben, nach der sie benannt sind. Eintrittspreise 2006/07 Stadien weisen auch in Frankreich hinsichtlich Komfort, Nähe zum Spielfeld und Sichtqualität für den einzelnen Besucher erhebliche Unterschiede auf; ebenso gibt es innerhalb der Sitz- bzw. Stehplätze noch unterschiedliche Kategorien. Entsprechend fordern die Klubs der Ligue 1 für den Besuch eines normalen Punktspiels sehr weit auseinander liegende Eintrittspreise, wobei diese teilweise auch Ausdruck unterschiedlicher Kaufkraft im jeweiligen Einzugsgebiet und der Leistungsstärke der Mannschaft sind. Die Kartenpreise für den einfachen Stehplatz in der Saison 2006/07 beginnen bei 5–6 € (in Le Mans, Rennes, Auxerre, Lille, Valenciennes und – nur auf den ersten Blick überraschenderweise – Monaco), während man in Bordeaux, Lens, Nantes, Paris, Saint-Étienne, Sochaux und Troyes 9–10 €, in Marseille und Sedan gar 15 € dafür bezahlen muss. Diese Relation von 1:3 zwischen billigstem und teuerstem Mindestpreis wird von der Preis-Spannweite der jeweils besten Sitzplatzkategorie allerdings noch erheblich übertroffen. Letztere reicht von 24 (Auxerre) bis 330 € (Marseille), ergibt also ein Verhältnis von fast 1:14, wobei die Höchstpreise dieser beiden Klubs allerdings diejenigen in den restlichen 18 Stadien auch extrem unter- bzw. überschreiten. In Le Mans, Lorient, Sedan, Toulouse, Troyes und Valenciennes kostet der teuerste Platz 36–40 €, bei neun Erstligisten zwischen 45 und 62 €. Deutlich mehr, aber immer noch weitaus weniger als in Marseille, muss der Zuschauer in Bordeaux (72 €), Lyon (100 €) und Paris (140 €) bezahlen. Offenbar gibt es in Paris, Marseille und Lyon, den drei größten Städten Frankreichs, genügend viele Menschen, die auch einen dreistelligen Euro-Betrag für ein normales Fußballspiel zu zahlen bereit sind. Organisierte Fangruppen und Wandel der Zuschauerstruktur Schon in den 1950er-Jahren verfügten etliche Mannschaften über Fanclubs, die – wie der damals größte, Allez Reims! – teilweise sogar mit Unterstützung der Klubgeschäftsstellen operierten. Heute unterscheiden sich die Strukturen in der Fanszene kaum noch von denen in anderen europäischen Ligen: von der traditionsreichen, eher durch ein höheres Durchschnittsalter charakterisierten Mitgliederorganisation bis hin zu den eher jüngeren Ultras, die mit ihren „Choreos“ oft besonders zur Atmosphäre in den Stadien beitragen, ist die gesamte Spannweite vertreten. Auch Verband und Ligaorganisation betrachten die Fans („Supporters“ auf Französisch) inzwischen nicht mehr nur als zahlendes „Beiwerk“, sondern eher als Mitwirkende eines Events: die LFP veranstaltete 2006/07 erstmals eine „Landesmeisterschaft der Zuschauerränge“ (Championnat de France des tribunes), an deren Ende das beste Publikum in Ligue 1 (Sieger: die AS Saint-Étienne) und 2 (SM Caen) ausgezeichnet wurde. 2007/08 und 2008/09 konnten die Zuschauer im Stade Geoffroy-Guichard diesen Erfolg wiederholen. Stimmung und Fairness sind die Kriterien, nach denen die Gewinner dieses Pokals ermittelt wurden. Dafür hat sich die LFP sogar dazu bereit erklärt, das kontrollierte Abbrennen auch in französischen Stadien normalerweise verbotener „Pyros“ zuzulassen: beim normannischen Zweitligaderby zwischen Le Havre AC und SM Caen Ende August 2006 durften einzelne Vertreter der beiden Fanlager eine Viertelstunde vor dem Anpfiff – im Innenraum und unter Aufsicht der Feuerwehr – ihre Feuerwerksbatterien zünden. Ansonsten wird der wiederholte Einsatz solcher „Stimmungsmittel“ aber streng geahndet; so musste beispielsweise Olympique Marseille Anfang 2007 und erneut im Frühjahr 2009 anschließend jeweils ein Heimspiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit austragen. Hooliganismus und Gewaltbereitschaft im Umfeld von Ligaspielen sind in den letzten Jahren rückläufig. Es bestehen aber nach wie vor besondere gegenseitige „Hasslieben“, häufig zwischen Fangruppen benachbarter Vereine, deren meistzitierte die zwischen den Anhängern von AS Saint-Étienne und Olympique Lyon ist, die auch in der Rückrunde 2006/07 erneut zum Ausdruck kam. Dagegen ist die Gegnerschaft zwischen den Fans von Paris Saint-Germain und Olympique Marseille eine teilweise künstlich erzeugte, mit der Ende der 1980er Jahre der Fernsehsender und PSG-Sponsor Canal+ sowie OMs Präsident Tapie – wie beide Seiten später zugaben – das Interesse an den Begegnungen zwischen beiden Mannschaften „anheizen“ wollten. Nach der sehr kurzfristigen Absage eines Punktspiels zwischen OM und PSG im Oktober 2009 – viele Pariser Zuschauer waren bereits in Marseille eingetroffen – kam es im Stadtgebiet zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der beiden Klubs. Im Februar 2010 starb ein PSG-Fan am Rande des Rückspiels gegen Marseille bei Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Pariser Fangruppen. Vor allem im und um den Parc des Princes kommt es seit einigen Jahren zunehmend zu gewalttätigen Konflikten zwischen Ultras aus der tribune Boulogne, die als „Kurve der weißen [sic!], eher politisch rechts stehenden Pariser“ gilt, und Anhängern aus der tribune Auteuil, auf der sich mehrheitlich „afrikanische und arabische Einwanderer aus den Vorstädten“ finden. Saint-Étienne hat 1979 und 1995 zwei Untersuchungen über die Zusammensetzung der Besucher im eigenen Stadion durchgeführt. Inwieweit diese statistisch verlässliche Ergebnisse erbracht haben, kann mangels näherer Informationen über die Methoden der Erhebung nicht bewertet werden, weshalb hier auch auf eine soziologische Analyse der Daten verzichtet wird. Sie sind wegen unterschiedlicher Einzugsgebiete zudem nicht einfach auf sämtliche Stadien der Ligue 1 übertragbar, decken sich allerdings in der Tendenz mit Beobachtungen aus deutschen Erstligastadien. Der „typische Besucher“ eines Ligue-1-Spiels war danach 1995 im Vergleich zu 1979… jünger (Zuwachs des Anteils der unter 40-Jährigen von 49 auf 80 %, was mit einer Zunahme von Schülern und Studenten von 26 auf 36 % und einer Abnahme des Rentneranteils von 6,5 auf 5,3 % korreliert) beruflich häufiger im Dienstleistungssektor tätig (Zunahme der Angestellten von 20 auf 24 %, Abnahme der Arbeiter von 21 auf 13 % – worin sich auch der wirtschaftliche Strukturwandel der alten Industriestadt widerspiegelt) weiblicher (1995 war jeder sechste Besucher eine Besucherin; 1979 wurde dies nicht gesondert ausgewiesen, in Mitteleuropa besteht allerdings ein genereller Trend zu mehr Frauen in den Fußballstadien) Lokalderbys Echte Lokalderbys, also das Aufeinandertreffen mindestens zweier Teams aus derselben Stadt, hat es im französischen Berufsfußball nur relativ wenige gegeben. Diese existierten bis in die 1960er Jahre insbesondere in Paris, als Racing, Stade Français, Club Français, Cercle Athlétique und der allerdings bereits unmittelbar außerhalb der Stadtgrenze ansässige Red Star erst- oder zweitklassig vertreten waren. Mitte der 2010er Jahre ist das korsische Ajaccio (Athletic Club und Gazélec FCO, Derbys um Punkte bisher nur in der Ligue 2) dazugekommen. Recht nahe beieinander, aber in unterschiedlichen Städten, sind Profiklubs aus Lille und Lens, Montpellier, Sète und Nîmes sowie Nizza und Monaco beheimatet; Saint-Étienne und Lyon trennen hingegen bereits über 60, Guingamp und Rennes gar 125 Kilometer. Gleichwohl gilt die Partie AS Saint-Étienne gegen Olympique Lyon als das älteste – es besteht seit Anfang der 1950er, und dabei treffen zwei Mannschaften aufeinander, die beide zahlreiche nationale Titel gewonnen haben – und bis ins 21. Jahrhundert auch wichtigste französische Derby, weitaus mehr als der sogenannte „Classique“ zwischen Olympique Marseille und Paris SG. Anfang 2017 hat France Football sich ausführlicher mit dem Thema befasst und ist für die jüngere Zeit auf insgesamt neun „wahre wie falsche“ Derbys gekommen, die das Fachblatt zusätzlich zur geographischen Nähe auch nach der auf dem Rasen, den Zuschauertribünen sowie den verbalen Schlagabtäuschen im Umfeld der Duelle analysiert hat. Danach erfüllen nur vier Paarungen die Derbykriterien in jeder Hinsicht: AS Saint-Étienne gegen Lyon, Lille OSC gegen Racing Lens, FC Nantes gegen Stade Rennes und FC Metz gegen AS Nancy. Bei HSC Montpellier gegen Olympique Nîmes, SC Bastia gegen AC Ajaccio und OGC Nizza gegen AS Monaco fehlt es hingegen zwar auch nicht an der Nähe, aber an einer gegenwärtig erlebbaren Rivalität. Die Aufeinandertreffen zwischen den westfranzösischen Traditionsvereinen FC Nantes und Girondins Bordeaux sind wohl regelmäßig von Konkurrenz um die Vorrangstellung nahe der Atlantikküste geprägt, die Stadien trennen aber über 300 km Distanz. Und Duelle zwischen den Girondins und dem Toulouse FC blicken zwar auf eine Tradition seit 1937 zurück; aber es fehlt sowohl an der geographischen Nähe (fast 250 Kilometer Abstand) als auch an herausragender Rivalität. Diese Paarung, für die Werbestrategen in den 2010er Jahren das Markenetikett „Le Garonnico“ – Bordeaux und Toulouse liegen beide an der Garonne – einführen wollten, setzt France Football deshalb auf den letzten Rang der untersuchten französischen Derbys. Für das deutsche Fußballmagazin Zeitspiel existieren sogar lediglich drei französische Derbys, nämlich Saint-Étienne gegen Lyon, Lille gegen Lens und das allerdings auch dort als „Kunstprodukt“ charakterisierte Aufeinandertreffen zwischen Paris und Marseille. In einer früheren Ausgabe hat die Zeitschrift darauf hingewiesen, dass es in der Bretagne insbesondere im 21. Jahrhundert mit fünf Proficlubs (Stade Brest, En Avant Guingamp, FC Lorient, FC Nantes und Stade Rennes) durchaus eine Basis für dauerhafte Regionalderby-Rivalitäten gibt. Allerdings weisen diese Vereine eine vor allem bei den Fans tief verankerte Gemeinsamkeit auf: in allen fünf Stadien verbindet das Bekenntnis zum Bretonentum die gegnerischen Blöcke, wie es besonders augenfällig 2009 beim Pokalfinale zwischen Guingamp und Rennes zu Tage trat. Beliebtheit der Vereine Eine repräsentative, landesweite Umfrage, die Anfang 2007 im Auftrag von France Football durchgeführt wurde, erbrachte als Ergebnis, dass nicht etwa der seinerzeitige Serienmeister der Ligue 1, Olympique Lyon, sondern ein Klub in der Gunst der Bewohner Frankreichs an erster Stelle stand, dessen letzter bedeutender Titelgewinn schon 14 Jahre zurücklag: 35,9 % der Fußballfans und 17,2 % aller Einwohner nannten Olympique Marseille als ihren einheimischen Lieblingsverein; Lyon kam lediglich auf 20,3 bzw. 12,5 %. Alle anderen Vereine folgen mit weitem Abstand – auf dem dritten Rang steht bei beiden befragten Gruppen Paris Saint-Germain (8,0 bzw. 4,6 %) vor Bordeaux, Saint-Étienne, Auxerre und Lille. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Fußballinteressierten und „Normalbürgern“ findet sich auch: nur bei Ersteren taucht der FC Lorient (auf Rang 8), nur bei Letzteren der RC Lens (sogar auf dem 4. Platz) unter den zehn beliebtesten Klubs auf. Statistik (1932–1939 und 1945–2019) HINWEIS: Sämtliche Statistiken, Tabellen usw. werden nach dem letzten Spieltag der Saison 2019/20 zügig aktualisiert. Bitte bis dahin keine Einzeländerungen (vorzeitig feststehender Absteiger, Erhöhung der Zahl der Spielzeiten, Zahl der Titel usw.) vornehmen. Das macht sonst bei der Aktualisierung unnötige Arbeit. „Ewige Tabelle“ (Punkte für den gesamten Zeitraum nach der 3-Punkte-Regel; Vereine, die in der Saison 2019/20 in der Ligue 1 spielen, sind rosa unterlegt, Ligue-2-Vereine gelb) Erfolgreichste Torschützen je Saison siehe ausgelagerten Artikel Ligue 1/Torschützenkönige Vereinsrekorde Titelgewinne: Paris Saint-Germain FC, 11-facher Meister Titel in Serie: Olympique Lyon (2002–2008), sieben, vor AS Saint-Étienne (1967–1970), Olympique Marseille (1989–1992), und Paris Saint-Germain (2013–2016), je vier Aufsteiger, die auf Anhieb Meister wurden: Girondins Bordeaux (1950), AS Saint-Étienne (1964), AS Monaco (1978) Am längsten ungeschlagen: FC Nantes, 32 Spiele (1.–32. Spieltag 1994/95) Am längsten im eigenen Stadion ohne Niederlage FC Nantes, 92 Spiele zwischen Mai 1976 und April 1981 Die meisten Siege in einer Saison: Paris Saint-Germain (2015/16) 30 Siege, gefolgt von sich selbst (2013/14) mit 27 Siegen, dahinter Stade Reims (1959/60), AS Monaco (1960/61), FC Nantes (1965/66 und 1979/80), je 26 (in 20er-Liga); AS Saint-Étienne (1969/70), 25 (in 18er-Liga) Höchste Zahl an Heimsiegen: AS Saint-Étienne, alle 19 Saisonheimspiele gewonnen (1974/75) Höchste Zahl an Auswärtssiegen: Paris Saint-Germain (2015/16, 15) vor AS Saint-Étienne (1969/70), Olympique Marseille (1971/72 und 2008/09), Olympique Lyon (2005/06 und 2006/07), Paris Saint-Germain (2013/14) und AS Monaco (2014/15), je 12 Geringste Zahl an Niederlagen: FC Nantes, 1 (1994/95) Am längsten in der Ligue 1: FC Sochaux-Montbéliard und Olympique Marseille, je 66 Spielzeiten Am längsten ununterbrochen in Ligue 1: FC Nantes (44 Spielzeiten, 1963–2007) vor Paris Saint-Germain (2016/17 im 43. Jahr, seit 1974) und FC Metz (35 Spielzeiten, 1967–2002) Am längsten von den aktuellen Erstligisten ununterbrochen in Ligue 1: Paris Saint-Germain (seit 1974/75) Die meisten Tore einer Spielzeit: 1.344 (1946/47; im Mittel 3,5 pro Spiel) in einer 20er-Liga bzw. 1.138 (1948/49; im Mittel 3,7 pro Spiel) in einer 18er-Liga Treffsicherster Angriff: RC Paris (118 Tore), Stade Reims (109 Tore, beide in 38 Spielen 1959/60); OSC Lille (102 Tore, 1948/49 in 34 Spielen) Beste Abwehr: Paris Saint-Germain, 19 Gegentore (2015/16), vor Olympique Marseille, 21 Gegentore (1991/92) Höchster Sieg: FC Sochaux mit 12:1 gegen US Valenciennes (1935/36) Die meisten Platzverweise in einer Saison: SC Bastia (1998/99), Paris Saint-Germain (2002/03) und RC Lens (2003/04), je 13 Saison mit den meisten Zuschauern: 8.186.311 (2005/06) Bester Zuschauerschnitt: 22.901 (2000/01) Bestbesuchtes Spiel: 77.840 Zuschauer beim Duell Lille gegen Lyon (2008/09, im Stade de France) Spieler- und Trainer-Rekorde Die meisten Titel: Jean-Michel Larqué, Hervé Revelli (beide AS Saint-Étienne, 1967–1970 und 1974–1976), Grégory Coupet, Sidney Govou und Juninho (alle Olympique Lyon, 2002–2008), je 7 Meisterschaften Die meisten Einsätze in Ligue 1: (siehe auch die ausgelagerte Liste der Rekordspieler) Torhüter: Mickaël Landreau (FC Nantes/Paris SG/OSC Lille/SC Bastia, 1996–2014), 618 Spiele, vor Jean-Luc Ettori (AS Monaco, 1975–1994), 602 Spiele, und Dominique Dropsy (Racing Strasbourg/Girondins Bordeaux/US Valenciennes, 1970–1990), 596 Spiele Feldspieler: Alain Giresse (Girondins Bordeaux/Olympique Marseille, 1970–1988), 586 Spiele, vor Sylvain Kastendeuch (FC Metz/AS Saint-Étienne/Toulouse FC, 1982–2001), 578 Spiele, und Patrick Battiston (Girondins Bordeaux/FC Metz/AS Saint-Étienne/AS Monaco, 1973–1991), 558 Spiele Die erfolgreichsten Torschützen: (siehe auch die ausgelagerte Liste der Rekordtorschützen) Delio Onnis (Stade Reims/AS Monaco/FC Tours/SC Toulon, 1971–1986), 299 Treffer, vor Bernard Lacombe (Olympique Lyon/AS Saint-Étienne/Girondins Bordeaux, 1969–1987), 255 Treffer, und Hervé Revelli (AS Saint-Étienne/OGC Nizza, 1964–1978), 216 Treffer Bester Torschütze einer Saison: Josip Skoblar (Olympique Marseille), 44 Tore, vor Salif Keïta (AS Saint-Étienne), 42 Tore, beide in der Spielzeit 1970/71 Torschützenkönig mit der geringsten Trefferzahl: Pauleta (Paris Saint-Germain), 15 Tore in der Saison 2006/07, vor Bernard Zénier (FC Metz, 1986/87) und Mamadou Niang (Olympique Marseille, 2009/10), je 18 Tore Die meisten Tore in einem Spiel: Vor dem Zweiten Weltkrieg: André Abegglen (FC Sochaux; 1935) und Jean Nicolas (FC Rouen; 1938), je 7 Treffer, jeweils gegen US Valenciennes Nach dem Zweiten Weltkrieg: Roland Tylipski (FC Nancy; 1946, gegen Stade Rennes), Maurice Charpentier (RC Paris; 1963, gegen SO Montpellier), Ahmed Oudjani (RC Lens; 1963, gegen RC Paris), Salif Keïta (AS Saint-Étienne; 1971, gegen CS Sedan), Carlos Bianchi (Stade de Reims; 1974, gegen Paris Saint-Germain) und Zvonko „Tony“ Kurbos (FC Metz; 1984, gegen Olympique Nîmes), je 6 Treffer Allererster Torschütze: der Österreicher Karl Klima (Olympique Antibes) am 11. September 1932 nach acht Minuten Jüngster eingesetzter Spieler: Laurent Paganelli (AS Saint-Étienne), im Alter von 15 Jahren, 10 Monaten und 3 Tagen am 25. August 1978 Jüngster Torschütze: Laurent Roussey (AS Saint-Étienne), im Alter von 16 Jahren, 3 Monaten und 26 Tagen am 21. April 1978 Am häufigsten des Feldes verwiesener Spieler: Cyril Rool, 20 Platzverweise Größte Zahl von Ligue-1-Spielen als Trainer: Guy Roux (AJ Auxerre, RC Lens), 895 Spiele (1980–2005 und 2007), vor Kader Firoud (Olympique Nîmes, FC Toulouse, SO Montpellier) mit 782 Spielen (1955–1982), Albert Batteux (Stade Reims, AS Saint-Étienne, OGC Nizza) mit 656 (1950–1979), José Arribas (FC Nantes, Olympique Marseille, Lille OSC) mit 654 (1963–1982) und Jean Fernandez (bei neun Vereinen im Zeitraum 1987–2013) mit 603 Partien. Von den 2016/17 in der L1 beschäftigten Übungsleitern erreichte Christian Gourcuff im März 2017 die 400er-Marke. Siehe auch Ligue 1/Rekordspieler Ligue 1/Torschützenkönige Fußball in Frankreich Französischer Fußballmeister Französischer Fußballpokal Liste der Fußballspieler mit den meisten Erstligatoren (international)#Frankreich Liste der höchsten nationalen Fußball-Spielklassen Literatur Marc Barreaud: Dictionnaire des footballeurs étrangers du championnat professionnel français (1932–1997). L'Harmattan, Paris 1998, ISBN 2-7384-6608-7 – Wissenschaftliche Abhandlung über die Bedeutung von Ausländern im frz. Profifußball mit Kurzangaben (Vereine, Einsätze) zu jedem einzelnen Spieler Hubert Beaudet: Le Championnat et ses champions. 70 ans de Football en France. Alan Sutton, Saint-Cyr-sur-Loire 2002, ISBN 2-84253-762-9 – Darstellung der D1 saisonweise (1932–2002) mit Besonderheiten, Anekdoten und Statistiken Thierry Berthou/Collectif: Dictionnaire historique des clubs de football français. Pages de Foot, Créteil 1999 Band 1 (A-Mo) ISBN 2-913146-01-5, Band 2 (Mu-W) ISBN 2-913146-02-3 – Ausführliche Darstellung der Vereinsgeschichte jedes (Ex-)Profi- und vieler Amateurklubs Stéphane Boisson/Raoul Vian: Il était une fois le Championnat de France de Football. Tous les joueurs de la première division de 1948/49 à 2003/04. Neofoot, Saint-Thibault o. J. (msch.) – Alphabetische Auflistung sämtlicher Erstligaspieler (1948–2004) mit allen Vereinen, Einsätzen und Toren Pierre Delaunay/Jacques de Ryswick/Jean Cornu: 100 ans de football en France. Atlas, Paris 1982, 1983² ISBN 2-7312-0108-8 – Standardwerk über die Geschichte des französischen Fußballs (auch Pokal, Nationalmannschaft, Verbände), reich bebildert schon für die Jahre um 1900 Just Fontaine: Reprise de volée. Solar, o. O. 1970 – ähnlich auch: ders. (u.M.v. Jean-Pierre Bonenfant): Mes 13 vérités sur le foot. Solar, Paris 2006, ISBN 2-263-04107-9 – Standpunkte eines Beteiligten, der Spieler, Trainer und Gewerkschafter war Alex Graham: Football in France. A statistical record 1894–2005. Soccer Books, Cleethorpes 2005, ISBN 1-86223-138-9 – Rein statistisches Werk (Meisterschaften seit 1894, Pokal, zweite Liga) Sophie Guillet/François Laforge: Le guide français et international du football éd. 2007. Vecchi, Paris 2006, ISBN 2-7328-6842-6 – Über 600 Seiten Statistiken, Tabellen, Ergebnisse und Texte (erscheint jährlich) Raymond Kopa (mit Patrice Burchkalter): Kopa. Jacob-Duvernet, Paris 2006, ISBN 2-84724-107-8 – Klarsichtige, meinungsfreudige Autobiographie Nathalie Milion: Piantoni – Roger-la-Classe. La Nuée Bleue/Éd. de l'Est, Nancy 2003, ISBN 2-7165-0602-7 – Atmosphärisch dichte, nicht nur fußballerische Biographie einer ortskundigen Journalistin über Roger Piantoni Jean-Philippe Rethacker/Jacques Thibert: La fabuleuse histoire du football. Minerva, Genève 1996, 20032 ISBN 978-2-8307-0661-1 – Voluminöse, detailfreudige Geschichte des französischen Fußballs, seit ihrem ersten Erscheinen (1974) mehrfach aktualisiert Alfred Wahl/Pierre Lanfranchi: Les footballeurs professionnels des années trente à nos jours. Hachette, Paris 1995, ISBN 978-2-01-235098-4 – Wissenschaftliche Darstellung der ökonomischen, sozialen und organisatorischen Entwicklung des Professionalismus in Frankreich Anmerkungen Weblinks Offizielle Website der Ligue 1 (frz.) Offizielle Website der Ligue 1 (eng.) Seite der FFF (frz.) Seite über das Schiedsrichterwesen (frz.) Alle Spielzeiten der Ligue 1 (frz.) Alle Tabellen seit 1945 (auch für jeden einzelnen Spieltag) (frz.) Der Fußball-Markt in Deutschland und Frankreich (Sportökonomische Vergleichsstudie zwischen Bundesliga und Ligue 1; deutschsprachige Magisterarbeit, als PDF)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ramones%20%28Album%29
Ramones (Album)
Ramones ist das Debütalbum der gleichnamigen US-Punk-Band Ramones. Es erschien erstmals am 23. April 1976 auf dem Label Sire Records. Mit seinen schnellen, minimalistischen Musikstücken gilt es als wegweisend für die Entwicklung der Musikrichtung Punkrock. Mit ihrem Debütalbum etablierte die Band Ramones ihren Ruf als eine prototypische „Drei-Akkorde-Garagenband“ mit in hohem Tempo gespielten, ironischen, einfach gebauten Songs. Als das Album veröffentlicht wurde, reagierte die Mehrheit der Kritiker mit Ablehnung oder Unverständnis. Erst seit den späten 1990er-Jahren wurde dessen musikalische Bedeutung anerkannt. 2001 wurde das Album von der Plattenfirma Rhino Records nachbearbeitet (remastered) sowie zusätzlich mit frühen Demo-Aufnahmen der Band versehen und auf CD wiederveröffentlicht. Seitdem wurde das Album Ramones mehrfach mit hohen Platzierungen in Bestenlisten der Musikpresse ausgezeichnet. Entstehungsgeschichte Vorgeschichte Seit 1974 hatte sich die Band Ramones in New York City durch regelmäßige Live-Auftritte, hauptsächlich im Rock-Club CBGB und im Performance Studio von Schlagzeuger Tommy Ramone und dem Tour Manager der Gruppe, Monte Melnick, einen Namen erspielt. Die Gruppe hatte lobende Kritiken in der lokalen Presse erhalten; unter anderem in SoHo Weekly News, Trouser Press, New York Rocker und The Village Voice. Außerdem hatten seit einem vom CBGB veranstalteten Rock-Festival im Juli 1975 britische Musikmagazine wie der New Musical Express positiv über die New Yorker Underground-Musikszene und besonders über die Band Ramones berichtet. Die Konzerte der Band waren bereits öfter von A&R-Angestellten verschiedener Plattenfirmen besucht worden, die sich jedoch durchgehend unschlüssig darüber zeigten, ob es möglich sei, die Musik der Band Ramones im Studio aufzunehmen. Gegen Ende des Jahres 1974 verfügte die Band Ramones bereits über erste Demo-Studioaufnahmen mit fünfzehn eigenen Stücken, die von Tommy Ramone in einem Studio in Long Island aufgenommen und produziert worden waren. Die Demoaufnahmen kosteten die Gruppe etwa 1000 US-Dollar. Im Februar 1975 gelang es Tommy Ramone, den als Kolumnist für das Musikmagazin Creem tätigen Danny Fields zum Besuch eines Ramones-Live-Konzertes zu bewegen. Fields war ein erfahrener Angehöriger der Musikbranche; er hatte als Angestellter einer Plattenfirma die Doors betreut und war Manager der Bands The Stooges und MC5 gewesen. Fields urteilte rückblickend: „Tommy Ramone war hartnäckig. […] Er warb für seine Band mit einem Einsatz, der erstaunlich war.“ Bereits bei seinem ersten Besuch eines Ramones-Auftritts im CBGB entschied sich Fields dafür, Manager der Gruppe zu werden. Die Band stimmte zu – unter der Bedingung, dass er ein neues Schlagzeug-Set finanziere. Einige Monate später konnte Fields beim Plattenlabel Sire Records für den 23. Juni 1975 ein Vorspielen der Band Ramones arrangieren. Sire Records war Mitte der 1970er-Jahre eine kleine Plattenfirma mit Sitz in New York, geführt von Seymour Stein und Richard Gottehrer. Das Label hatte in erster Linie als „progressiv“ geltende Bands aus Europa unter Vertrag. Nachdem die Band bei Gottehrer vorgespielt hatte, bot Sire der Band spontan einen Vertrag über die Veröffentlichung einer Single mit ihrem Stück You’re Gonna Kill that Girl an. Die Gruppe und ihr Manager Fields lehnten das Angebot ab, da sie ein Album herausbringen wollten. An den auf das Vorspielen bei Sire folgenden beiden Tagen spielte die Band Ramones bei den Plattenfirmen Blue Sky und Arista Records vor, um zu einem Plattenvertrag zu kommen. Am 19. September 1975 nahm die Band in den New Yorker 914 Studios ein zweites Demo-Band mit zwei weiteren Stücken auf, Judy Is a Punk und I Wanna Be Your Boyfriend. Diese Aufnahmen, produziert vom ehemaligen Manager der New York Dolls, Marty Thau, wurden nicht nachträglich bearbeitet, da die Band eine möglichst genaue Reproduktion ihres Live-Sounds wünschte. Die Demobänder versandten Thau und Danny Fields an verschiedene Plattenfirmen, um der Gruppe einen Vertrag für die Veröffentlichung eines Albums zu verschaffen. Alle angeschriebenen Firmen schickten die Tonbänder nach kürzester Zeit zurück; die unregelmäßigen Spuren des Zurückspulens deuteten darauf hin, dass sich dort niemand die Mühe gemacht hatte, mehr als die ersten 30 Sekunden der Aufnahmen anzuhören. Auf Nachfrage nach dem Grund für die Absage antwortete der Konzern Warner Brothers mit der Begründung, die Musik der Gruppe klinge wie „bad Zeppelin“. Trotz der Absage der Band Ramones im Juni 1975 hatte Sire nicht das Interesse an der Band verloren, da Seymour Stein von deren Hit-Potenzial überzeugt war. Dazu trug die Fürsprache von Craig Leon, A&R-Angestellter und Produzent bei Sire bei, dem die Band zuvor bereits mehrfach durch ihre Live-Auftritte im CBGB positiv aufgefallen war. Nach dem Erhalt der neuen Demoaufnahmen, halbjährigen Verhandlungen, geführt von Tommy Ramone, und nach dem Ausscheiden Gottehrers bei Sire wurde die Band Ramones schließlich im Januar 1976 von Sire Records unter Vertrag genommen und erhielt vom Label einen Vorschuss von 20.000 US $. Vom Vorschuss sollten Aufnahme und Produktion ihres Debütalbums finanziert werden sowie der Kauf von neuen Instrumenten und einer PA-Lautsprecheranlage für Live-Auftritte. Als Produzent für das Album wurde Craig Leon verpflichtet; Schlagzeuger Tommy Ramone wurde aufgrund seiner Tonstudio-Erfahrung Produktionsassistent (Associate Producer) – unter seinem bürgerlichen Namen T. (Tamás) Erdélyi. Studioarbeit Als die Gruppe am 2. Februar 1976 zum ersten Mal ins Studio ging, um ein Album aufzunehmen, spielte sie seit zwei Jahren zusammen. Sie hatte fast 80 Live-Auftritte absolviert, verfügte über ein Repertoire von etwa dreißig eigenen Stücken und hatte ihren eigenen Stil und Klang entwickelt. Zitat Danny Fields: „Die Herangehensweise stand längst fest, das Album machte nur noch die Aussage.“ Die Aufnahmen zum Album fanden auf Veranlassung von Sire Records in den Plaza Sound Studios in Manhattan statt; ein Studiokomplex im achten Stock des Gebäudes der New Yorker Radio City Music Hall. Das Studio war in den 1930er-Jahren für Radiosendungen von Sinfonieorchestern und Big Bands eingerichtet worden und wurde darüber hinaus von der Revue-Tanzgruppe The Rockettes für Proben verwendet. Dort befand sich die Wurlitzer-Kinoorgel, die Produzent Leon bei der Aufnahme des Stücks Let’s Dance spielte. Leon beschrieb die Ausmaße des Studiokomplexes als riesig und verglich sie mit der Größe der Abbey Road Studios der EMI in London. Tommy Ramone bestätigte die für die Band ungewohnten Ausmaße der Räumlichkeiten. Durch seine Doppelrolle als Schlagzeuger und Produktionsassistent stand er vor besonderen Kommunikationsproblemen, da seine Schlagzeugkabine durch drei dazwischenliegende Räume abseits vom Kontrollraum mit Mischpult und Aufnahmegeräten lag. Für alle vier Bandmitglieder ungewohnt war die von Craig Leon angeregte Prozedur der Aufnahme in einzeln nach Instrumenten getrennten Räumen, die eine Kommunikation der Musiker nur ohne Sichtkontakt und über Kopfhörer und Mikrofone erlaubte. Zitat Tommy Ramone: (deutsch: „Wir entschieden uns fürs Auftrennen. Johnny und seine Gitarre waren im Probenraum der Rockettes. Dee Dee und sein Bass waren in einem anderen großen Raum, und ich war im Raum des Radio-Ansagers – oder was auch immer das war. Ich musste durch einen Raum von der Größe eines Football-Feldes rennen, um zum Kontrollraum zu kommen. Das hat die Kommunikation behindert.“) Das komplette Album Ramones entstand in nur 17 Tagen im Februar 1976, wovon lediglich zwei Tage für das Aufnehmen der Instrumente und weitere zwei für Gesang und Overdubs benötigt wurden. Um teure Studiozeit zu sparen verzichteten die Bandmitglieder darauf, die von ihnen eingespielten Tonspuren unmittelbar nach der Aufnahme zur Kontrolle anzuhören und verließen sich auf das Urteil der Toningenieure. Die Abmischung der Aufnahmen fand anschließend in einer 14-stündigen „Marathon-Sitzung“ statt, so dass die Studioarbeit der Bandmitglieder nicht mehr als insgesamt fünf Tage in Anspruch nahm. Im Studio nahm die Band Ramones die Stücke des Albums in der Reihenfolge ihrer Entstehung auf; ein Verfahren, das die Band bei den folgenden beiden Alben beibehalten sollte. Zitat des Gitarristen Johnny Ramone zur Studioarbeit am Album: (deutsch: „Wir hatten bereits 30 bis 35 Stücke, und wir nahmen sie in der chronologischen Reihenfolge auf, in der wir sie geschrieben hatten.“) Produktion und Abmischung des Albums stellen laut Produzent Craig Leon eine Reminiszenz an Studioaufnahmen der Beatles aus den frühen 1960er-Jahren mit einfachen Vierspur-Aufnahmegeräten dar. Die Gitarren sind nach Stereokanälen getrennt zu hören – E-Bass auf dem linken, Rhythmusgitarre auf dem rechten Kanal; Schlagzeug und Gesang sind im Stereomix mittig abgemischt. Bei der Abmischung der Aufnahmen wurden außerdem modernere Verfahren wie Overdubs und Verdoppelung der Gesangsspur eingesetzt. Die für ihre Zeit sehr niedrig ausfallenden Produktionskosten des Albums betrugen nur etwa 6400 US $. Seymour Stein besuchte die Band an ihrem ersten Studiotag etwa drei Stunden nach Beginn der Aufnahmearbeiten, um sich nach den Fortschritten zu erkundigen. Johnny Ramone, noch unerfahren in Studioaufnahmen und für seine Ungeduld bekannt, antwortete: „Es läuft nicht so gut, wir haben erst sieben Stücke fertig.“ Überliefert dazu ist ein Kommentar Steins: (deutsch: „Wenn alle [Bands] so wären, hätten Plattenfirmen keine Sorgen.“) Grafische Gestaltung Das Schwarzweißfoto auf der Vorderseite der Albumhülle stammt von der New Yorker Fotografin Roberta Bayley, die sich mit zahlreichen Aufnahmen von der lokalen Punkszene in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre einen Namen machte. Zuvor hatte die Plattenfirma Sire bereits einen anderen Fotografen für ein Honorar von 2000 US $ Fotos anfertigen lassen, war jedoch mit dessen Arbeitsergebnissen unzufrieden gewesen. Bayley hatte ihre Schwarzweißfotos zunächst für einen Artikel im New Yorker Punk Magazine aufgenommen als Sire ihr anbot, die Rechte an einem der Fotos für die Albenhülle aufzukaufen. Das Honorar der Fotografin für die Rechte am ausgewählten Foto betrug 125 US $. Die Positur der Band Ramones auf dem Foto für ihr Debütalbum prägte den Stil für die Gestaltung mehrerer ihrer Albumhüllen sowie für viele andere Fotos der Band. Die vier Bandmitglieder stehen aufrecht nebeneinander (hier vor einer Backsteinmauer) und blicken mit ausdruckslosen Gesichtern in die Kamera. Die Fotoaufnahmen für den Albumtitel entstanden auf einem brachliegenden Grundstück an der E. 1st Street im New Yorker East Village, in der Nähe des Musikclubs CBGB, in dem die Band Ramones zu dieser Zeit regelmäßig auftrat. Das Foto auf der Hüllenrückseite zeigt eine Gürtelschnalle mit US-Adler und wurde vom Ramones-Freund, -Grafiker und späterem Lichtregisseur Arturo Vega in einem Passbildautomaten angefertigt. Ebenfalls von Vega stammt der Ramones-Schriftzug in Großbuchstaben in der in den USA verbreiteten Schrifttype Franklin Gothic Bold, der bis einschließlich deren Album End of the Century das alleinige Bandlogo darstellte. Rezeption und Kritiken Aufgrund seiner Neuartigkeit hinsichtlich Musikstil und Aussage – minimalistische, sehr kurze Stücke, in hohem Tempo gespielt, kombiniert mit humorvollen Texten – wurde das Debütalbum der Band Ramones von Presse und Radio-Disc-Jockeys und Musikkonsumenten mit sehr gemischten Reaktionen aufgenommen, von denen viele negativ ausfielen: „[Das Album] ,The [sic] Ramones‘ klingt heute lächerlich simpel, damals war die Platte brutal und entzweite die Gemüter.“ Eine der positivsten Rezensionen stammt vom US-Musikjournalisten Robert Christgau, der dem Album in seiner Kritik im Magazin The Village Voice die Bestnote „A“ verlieh und dazu schrieb, das Album „pustet alles andere aus dem Radio. […] Einfach perfekt, ein kleiner Klassiker.“ Ebenfalls positiv fiel das Urteil des US-Musikmagazins Rolling Stone aus. In der 1976er Juli-Ausgabe der Zeitschrift lobte Rezensent Paul Nelson die Band Ramones als „authentische amerikanische Primitive, deren Werk gehört werden muss, um verstanden zu werden.“ Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass „diese Typen mehr Alben verkaufen [werden] als Elton John Pennies hat“. Der Radio-DJ Vin Scelsa vom US-Sender WNEW-FM zählte zu den ersten, die das Album in ihrer Sendung auflegten: „Ich war einer dieser alten Hippie-DJs. […] Ich war scharf drauf, die Ramones zu hören. Also legte ich die Platte auf, spielte Blitzkrieg Bop, und das Stück ging ohne Pause ins nächste über, und dann sofort in den dritten Song. […] Ich nahm die Platte mittendrin vom Teller und warf sie quer durch den Raum.“ „Ich sagte übers Mikrofon: ‚Was soll dieser Müll? Was soll dieser Krach?‘“ Scelsa revidierte einige Tage später allerdings sein Urteil: „Ich sagte, ich hätte bei den Ramones total falsch gelegen. Dies ist eine großartige neue, revolutionäre Rockband.“ Sein britischer DJ-Kollege John Peel war sich zunächst unsicher, ob er das Album in seiner Sendung spielen solle: „Ich hatte seit Little Richard noch nicht wieder soetwas Barsches und Angriffslustiges gehört, […] es war so beängstigend und verrückt.“ Der spätere Ramones-Produzent und -Studiogitarrist Daniel Rey hörte das Album Ramones zum ersten Mal im Alter von fünfzehn Jahren: „[…] als wir das Album das erste Mal anhörten, konnten wir nicht mehr aufhören zu lachen – es war so schnell und es gab keine Gitarrensoli. […] Bereits in der Woche darauf konnten wir nichts anderes mehr anhören.“ „Es machte die Hälfte unserer Plattensammlungen obsolet.“ Im britischen Magazin New Musical Express (NME) schrieb Kritiker Nick Kent in seiner positiven Rezension, das Album Ramones sei „eine Lektion darin, wie man erfolgreich Hard Rock aufnimmt“, um zu ergänzen: „Die Ramones sagen nicht viel. […] Aber sie rocken mit Vehemenz.“ Sein NME-Kollege Max Bell kam zu einem völlig anderen Urteil: „Die Ramones sind eher ein Witz als eine Rockband. […] Ihre Ausstrahlung ist vollkommen negativ, basierend auf ihrer Unfähigkeit und Gleichgültigkeit.“ In der britischen Musikzeitschrift Melody Maker bezeichnete Musikjournalist Allan Jones die Musik der Band Ramones als „grimmig zurückgeblieben“ und „mit bornierter Betonung auf gewaltsam ausgedrücktem Nihilismus“. Ein Kritiker beschrieb das Album mit den Worten „Der Klang von 10.000 Toilettenspülungen“. Dem britischen Autor Jon Savage zufolge „beschleunigte […] das erste Album der Ramones eine ganze Generation englischer Musiker. Der Konkurrenzdruck, Punkbands zu gründen, nahm zu.“ Die gemischten Reaktionen auf das Album Ramones veranlassten das New Yorker Magazin Trouser Press zu dem Jahre später veröffentlichten Fazit: „Wie alle kulturellen Wasserscheiden wurde Ramones [anfangs] von wenigen Hellsichtigen verehrt und von der ahnungslosen Mehrheit als schlechter Witz abgetan. Jetzt ist es [das Album] unzweifelhaft ein Klassiker.“ Schlagzeuger und Koproduzent Tommy Ramone beurteilte das Album im Jahr 2011, 35 Jahre nach dessen Erstveröffentlichung, als „[…] vollkommen einzigartig im Klang.“ und bezeichnete es als „auf seltsame Art und Weise ein Lo-Fi-Kunstwerk.“ Erfolge und Auszeichnungen Das Album Ramones erhielt erst Jahre nach seiner Erstveröffentlichung gesteigerte Aufmerksamkeit und Anerkennung. Im Erscheinungsjahr 1976 hatte das Album mit etwa 6000 verkauften Einheiten lediglich Platz 111 in den US-Billboard-Charts erreicht. Erst im Jahr 1992 zählte das US-Musikmagazin Rolling Stone die Gestaltung der Hülle von Ramones zu den „100 Besten Plattenhüllen“ (100 Greatest Album Covers) in der Rockmusik. Doch erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts, etwa 25 Jahre nach seinem Erscheinen und Jahre nach Auflösung der Gruppe Ramones, wurde die Bedeutung des Albums für die Entwicklung der Musikrichtung Punkrock von der Musikpresse und der Musikindustrie gewürdigt. Seitdem wurde Ramones mehrfach ausgezeichnet. Den Anfang machte im Jahr 2001 das US-Musikmagazin Spin in seinem Themenheft 25 Years of Punk mit einer Liste The 50 Most Essential Punk Records. Das Album Ramones steht dort auf Platz 1. Im Jahr 2003 publizierte das Rolling Stone Magazine erstmals seine Liste der „500 besten Alben aller Zeiten“. Darin steht das Album Ramones auf Platz 33. Seit dem Jahr 2004 führt das Rolling Stone Magazine das Eröffnungsstück des Albums, Blitzkrieg Bop, auf Platz 92 in seiner Liste der „500 besten Songs aller Zeiten“. Außerdem steht der Song auf Platz 18 der Liste „die 100 besten Gitarrenstücke aller Zeiten“ (The 100 Greatest Guitar Songs of All Time) des Magazins. Im Jahr 2005 nahm das englische Musikmagazin Mojo das Stück Blitzkrieg Bop in seine Liste der „50 besten US-Punk-Stücke“ (50 Greatest US Punk Tracks) auf. Im Jahr 2012 wurde das Album Ramones in das National Recording Registry der US-amerikanischen Library of Congress aufgenommen. Es steht bei den Eingängen aus demselben Jahr auf Platz 21. Die Musikstücke des Albums Die Reihenfolge der 14 Lieder auf dem Album Ramones wurde von der Band und dem Produzenten Craig Leon unter dem Aspekt ausgewählt, die Dramaturgie eines Live-Konzerts der Band Ramones so weit wie unter Studiobedingungen möglich wiederzugeben. Dabei spiegeln die Liedtexte der ersten vier Kompositionen bereits die ganze Palette der Themen des Albums wider – sarkastischer Humor, Gewaltdarstellungen – oder zumindest deren Andeutung –, satirische Betrachtungen des American Way of Life sowie romantische Liebeslieder. Manche Kritiker betrachten diese ersten vier Stücke daher als „Mini-Album im Album“. Blitzkrieg Bop Titel und Text des Eröffnungsstücks des ersten Ramones-Albums, Blitzkrieg Bop, spielen ironisch mit dem Wort Blitzkrieg – die Bezeichnung für einen kriegerischen Überraschungsangriff mit allen verfügbaren militärischen Kräften, – das bereits in den dreißiger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts als deutsches Lehnwort in die englische Sprache übernommen worden war (Germanismus). Das Wort Blitzkrieg wird im Liedtext der Band nicht im eigentlichen militärischen Sinne verwendet, sondern auf eine nicht näher benannte Jugendkultur (“the kids”) übertragen, die „zum Hintergrundrhythmus pulsiert“ (“pulsating to the back beat”). Das Substantiv Bop hat in der US-amerikanischen Umgangssprache (Slang) sowohl die Bedeutungen „Schlag“, „Kollision“ und „Droge in Pillenform“ als auch einen Bezug auf die in den 1940er-Jahren im Gegenzug zu der zur damaligen Zeit etablierten Musikrichtung Swing entstandenen Jazz-Stilrichtung Bebop. Blitzkrieg Bop ist eine Kooperation des Schlagzeugers Tommy Ramone mit dem in Deutschland aufgewachsenen Bassisten Dee Dee Ramone. Die Komposition wurde von Tommy Ramone unter dem Arbeitstitel Animal Hop begonnen, da die Bandmitglieder zu Beginn ihrer Karriere der Überzeugung waren, eine „Cheerleader-Nummer“ wie das Stück Saturday Night der Bay City Rollers im Repertoire haben zu müssen. Dee Dee Ramone änderte den Titel später gegen den Widerstand des Schlagzeugers in Blitzkrieg Bop um, und die Zeile “they’re shouting in the back now” (deutsch: „Jetzt rufen sie im Hintergrund“) wurde zu einem dem geänderten Titel angemesseneren “shoot ‘em in the back now” („Jetzt schießt ihnen in den Rücken“) umformuliert. Die vom Bassisten eingebrachten Änderungen wurden von Tommy Ramone, selbst jüdischer Herkunft, noch Jahrzehnte später mit dem Vorwurf kritisiert: „Er wollte das Nazi-Ding machen, damit es [das Lied] niemals im Radio gespielt werden würde!“ Das Lied Blitzkrieg Bop enthält den Schlachtruf „Hey ho, let’s go!“, der zu einem Slogan und Erkennungszeichen der Band Ramones und ihrer Fans werden sollte. Das wie das gesamte Werk der Band im 4/4-Takt geschriebene Stück beginnt instrumental – unisono gespielte E-Gitarre und E-Bass sowie Schlagzeug – mit den aufsteigend gespielten Akkorden A-Dur, D-Dur und E-Dur. Nach acht Takten setzen Gitarre und Bass kurz aus, und der von Sänger Joey Ramone und Bassist Dee Dee Ramone viermal gemeinsam ausgerufene Schlachtruf beginnt, für die Dauer von zwei Takten begleitet nur von den Trommeln des Schlagzeugs. Nach jeweils einem weiteren Takt setzen Bass und Gitarre nacheinander wieder ein, und nach insgesamt vier Takten beginnt die erste Gesangsstrophe. Die vier Takte mit dem Schlachtruf werden am Ende des Stücks in gleicher Form wiederholt. Laut den Memoiren des jüngeren Bruders von Joey Ramone, Mickey Leigh, war dieser bei den Aufnahmen zum Album Ramones unter anderem als Hintergrundsänger von Blitzkrieg Bop beteiligt, wurde aber auf keiner der Veröffentlichungen des Stücks namentlich erwähnt. Als Promotionsmaßnahme für die Single-Auskopplung mit Blitzkrieg Bop setzte die Plattenfirma Sire Records Miniatur-Baseballschläger ein, die bei Konzerten der Band Ramones ans Publikum verteilt wurden. Die Werbegeschenke trugen als Aufschrift Ramones: A Hit On Sire Records in den USA, beziehungsweise Blitzkrieg Bop in Großbritannien. Band-Biograph Everett True stuft Blitzkrieg Bop ein als „einen der eingängigsten Songs unter allen Liedern der Punk-Ära“. Der Schlachtruf Hey ho, let’s go! wurde in den 1990er-Jahren von der Baseball-Mannschaft New York Yankees übernommen und wurde vor ihren Heimspielen im Yankee-Stadion abgespielt. Im Sommer des Jahres 1991 war Blitzkrieg Bop die erste Komposition der Band Ramones, die in einem Werbespot verwendet wurde – vom US-Brauereikonzern Anheuser-Busch Companies, um im US-Fernsehen für deren Biermarke Budweiser Bud Light zu werben. Die Lizenzeinnahmen der Band für die Verwendung des Stücks beliefen sich auf etwa 100.000 US $. Blitzkrieg Bop ist auch Bestandteil des Soundtracks der Videospiele Rock Band und Tony Hawk’s Pro Skater 3. Beat on the Brat Beat on the Brat ist das einzige Stück auf dem Album, dessen Text nicht in der Erste-Person-Perspektive geschrieben ist. Joey Ramone gab an, zu der Komposition durch die Beobachtung verzogener Kinder auf einem Spielplatz in seiner Nachbarschaft in Forest Hills im New Yorker Stadtbezirk Queens inspiriert worden zu sein. Diese Kinder strapazierten die Nerven des Sängers derart, dass er daran dachte, sich ihrer mittels eines Baseballschlägers zu entledigen. Der Akkordwechsel in Beat on the Brat ist dem 1968 erschienenen Bubblegum-Charts-Hit Yummy Yummy Yummy der Band Ohio Express entlehnt. Judy Is a Punk Judy Is a Punk gilt – nach The Punk and the Godfather von The Who auf dem Album Quadrophenia (1973) – als das zweite Musikstück in der Geschichte der Rockmusik, dessen Titel das Wort „Punk“ enthält. Der 1974 entstandene Songtext beschreibt zwei jugendliche Straftäter, die beide nach Berlin und San Francisco ausreißen – letzteres, um sich der terroristischen Vereinigung SLA anzuschließen – und die dabei womöglich ums Leben kommen. Die zwischen den insgesamt drei Strophen eingefügten Zeilen “Second verse, same as the first” beziehungsweise “Third verse, different from the first” (deutsch: „Zweite Strophe dieselbe wie die erste“ und „Dritte Strophe anders als die erste“) sind direkt kopiert aus dem Stück I’m Henry the VIII, I Am, im Jahr 1965 in den USA ein Nummer-eins-Hit der Band Herman’s Hermits. Diese Zeilen sind ein für die Songtexte der Band Ramones ungewöhnlicher Bruch in der Erzählperspektive – sie sind Fiktion, die aus dem Handlungsrahmen ausbricht, um sich selbst als Fiktion darzustellen. Nicholas Rombes beschreibt diese Metaperspektive in seiner Analyse des Albums als „sowohl Zeile in einem Lied als auch Liedzeile über eine Zeile in einem Lied“. Mit einer Spieldauer von einer Minute und 32 Sekunden ist Judy Is a Punk das kürzeste Stück auf dem Album Ramones und eine der kürzesten Kompositionen der Band überhaupt (in der Studio-Version; bei ihren Live-Auftritten spielte die Band ihr Repertoire grundsätzlich in höherem Tempo. Siehe auch den Artikel über das Ramones-Live-Album It’s Alive). I Wanna Be Your Boyfriend Das langsamste und einzige romantisch gefärbte Stück auf dem Album wurde von Tommy Ramone komponiert und ist das einzige auf Ramones, dessen Text keine Spuren von Humor und Ironie oder von Gewaltdarstellung erkennen lässt. Das Lied, das wie eine Hommage an Liebeslieder in der Popmusik der 1960er-Jahre wirkt, enthält Chorgesang von Produzent Craig Leon und Toningenieur Rob Freeman sowie Elemente von Glockenspiel. Auf der Aufnahme für das Debütalbum spielte Gitarrist Johnny Ramone anstelle des von ihm hauptsächlich eingesetzten E-Gitarrenmodells Mosrite Ventures II eine Fender Stratocaster. Nach Aussage von Dee Dee Ramone hatten die Bay City Rollers Interesse gezeigt, eine eigene Version von I Wanna Be Your Boyfriend aufzunehmen, was jedoch nicht verwirklicht wurde. Chainsaw Das Stück ist von der Vorliebe der Band Ramones für Horrorfilme, namentlich dem US-Horrorfilm von 1974, The Texas Chain Saw Massacre inspiriert, der auch im Songtext mehrfach genannt wird. Anders als der Songtitel angibt ist das im Intro des Stücks zu hörende Werkzeug keine Kettensäge (Chainsaw), sondern eine Kreissäge. Now I Wanna Sniff Some Glue Der nur aus vier Zeilen bestehende minimalistische Liedtext handelt von jugendlicher Langeweile und vom Inhalieren der in Klebstoff enthaltenen Lösungsmitteldämpfe. Auf die Frage nach der Authentizität des Textes antwortete Dee Dee Ramone in einem Interview: „Ich hoffe, niemand denkt, dass wir wirklich Klebstoff schnüffeln. Ich habe damit aufgehört als ich acht [Jahre alt] war.“ Mit Now I Wanna Sniff Some Glue schaffte es die Band Ramones 1976 erstmals, außerhalb der USA in die Schlagzeilen der Tagespresse zu kommen – auf die Titelseite einer schottischen Tageszeitung. Am 19. August 1976 titelte die Glasgow Evening Times unter einer Abbildung des Plattencovers: “Glue Sniff Disc Shocker” (deutsch: „Klebeschnüffel-Plattenschocker“). Das Blatt berichtete über die Bestrebungen des schottischen Parlamentsmitglieds James Dempsey, den Verkauf des Albums Ramones verbieten zu lassen, nachdem es in Glasgow zu einigen Todesfällen unter Jugendlichen infolge der Inhalation von Klebstoffdämpfen gekommen war. Wie sich herausstellte, standen diese in keinem Zusammenhang mit dem Lied der Band Ramones. Nach mehreren Stücken der Band, deren Titel mit „I Don’t Wanna … “ (deutsch: „Ich will nicht … “) beginnt, bezeichnete Tommy Ramone Now I Wanna Sniff Some Glue als „das erste positive Lied, das wir geschrieben haben“. Nach dem Song Now I Wanna Sniff Some Glue benannte sich eines der ersten und der bekanntesten Punk-Fanzines, das im September 1976 erstmals erschienene britische Sniffin’ Glue des Londoner Bankangestellten Mark Perry. I Don’t Wanna Go Down to the Basement Ein weiteres von Horrorfilmen inspiriertes minimalistisches Stück, dessen gesamter Text lediglich aus drei Zeilen besteht, das auf nur drei Dur-Akkorden aufbaut, und das mit einer Spieldauer von zwei Minuten und 35 Sekunden das längste Stück auf dem Album ist. Loudmouth Loudmouth (deutsch: „Großmaul“) ist mit sechs Dur-Akkorden das harmonisch komplexeste Stück auf dem Album. Sein Text besteht – je nach Lesart und Interpunktion – nur aus einer einzigen Zeile oder aus vier sehr kurz gefassten Zeilen. Havana Affair Havana Affair ist vom Comic-Strip Spy vs. Spy (in der deutschsprachigen Version: Spion & Spion) des kubanischstämmigen Zeichners Antonio Prohias der satirischen Zeitschrift Mad inspiriert und schildert ironisch die Geschichte eines kubanischen Bananenpflückers, der zum CIA-Spion ausgebildet wurde. Die Studioaufnahme für das Debütalbum wurde von Mickey Leigh und Craig Leon um Perkussions-Effekte erweitert, was in den Begleittexten zu den Veröffentlichungen des Albums unerwähnt blieb. Listen to My Heart Der Song ist einer der ersten von vielen im Repertoire der Band Ramones, der sich aus einer ironisch-pessimistischen Perspektive mit scheiternden oder bereits gescheiterten menschlichen Liebesbeziehungen auseinandersetzt. 53rd & 3rd Der Text dieser Komposition von Dee Dee Ramone handelt von einem männlichen Prostituierten („Strichjunge“), der auf dem Straßenstrich in Midtown Manhattan, an der Ecke Dreiundfünfzigste Straße (53rd Street) und Third Avenue vergeblich auf Freier wartet, weil er zu bedrohlich auftritt. Als er schließlich dennoch einen Kunden bekommt, ermordet er ihn mit einem Rasiermesser, um zu beweisen nicht homosexuell zu sein. Über die Authentizität und autobiografische Färbung des Songtextes existieren widersprüchliche Aussagen, sowohl vom Autor selbst als auch von seinen Zeitgenossen. In einigen Interviews bezeichnete Dee Dee Ramone das Stück als autobiografisch: „Das Lied spricht für sich selbst; alles was ich schreibe ist autobiografisch und sehr real. Anders kann ich gar nicht schreiben.“, während er in anderen Gesprächen den autobiografischen Charakter des Textes abstreitet. Der Buchautor Legs McNeil behauptete hingegen mehrfach in Interviews, er habe den Musiker an dieser damals in Manhattan als Straßenstrich bekannten Straßenecke herumstehen sehen. Band-Manager Danny Fields unterstützte diese Aussage indirekt mit den Worten, er könne sich nicht vorstellen, dass Dee Dee Ramone jemals als Vollzeit-Stricher tätig gewesen sei. 53rd & 3rd ist das erste Stück im Repertoire der Band Ramones mit einem Beitrag des Bassisten als Sänger der Ersten Stimme. Er singt die Strophe des Liedes, in welcher der Mord erwähnt wird. Let’s Dance Im Stück Let’s Dance, eine Interpretation der Komposition von Chris Montez aus dem Jahr 1962 und die einzige Coverversion auf dem Album, spielt Craig Leon die im Plaza-Sound-Studio befindliche Wurlitzer-Kinoorgel, zu hören in den letzten Takten des Stücks. I Don’t Wanna Walk Around With You I Don’t Wanna Walk Around With You besteht aus nur zwei Zeilen Text und drei Dur-Akkorden. Es ist eine der frühesten gemeinsamen Kompositionen der Bandmitglieder. Laut Johnny Ramone wurde das Lied gleich bei der allerersten Probe der Band Anfang des Jahres 1974 geschrieben; zusammen mit einem ähnlichen, bisher von der Band unveröffentlichten Stück, I Don’t Wanna Get Involved With You. Auf der 1994 als Compact Disc erschienenen EP des ehemaligen Ramones-Bassisten Dee Dee Ramone, Dee Dee Ramone I.C.L.C., ist ein Stück mit dem Titel I Don’t Wanna Get Involved With You enthalten. Die Annahme, es handle sich bei diesem Lied, als dessen alleiniger Autor Dee Dee Ramone genannt wird, um die frühe Ramones-Komposition gleichen Titels, erscheint naheliegend. Today Your Love, Tomorrow the World Beim Einspielen des letzten Stücks auf dem Album kam es zu Konflikten zwischen der Band und Sire-Eigentümer Seymour Stein. Titel und Text des Liedes, geschrieben von dem in Deutschland aufgewachsenen Dee Dee Ramone, enthalten satirisch gemeinte Bezüge auf den Nationalsozialismus. Der Liedtext enthält unter anderem die Zeile . Stein, jüdischen Glaubens, hielt dies zunächst für inakzeptabel – obwohl Joey Ramone, der die Textzeile sang, selbst Jude war und die Liedzeile nicht für anstößig hielt. Stein erklärte, dass ihn der Songtext persönlich verstört hatte. Er konnte jedoch davon überzeugt werden, dass die Nazi-Referenzen satirisch gemeint waren und stimmte schließlich einer Veröffentlichung des Stücks auf dem Album zu. Die Bandmitglieder entschärften einige Stellen des Liedtextes für die Albumversion; bei Live-Auftritten – die Band spielte das Stück regelmäßig als letztes Lied ihres Live-Programms – wurde der Originaltext beibehalten. Legs McNeil und Dick Porter interpretieren in ihren Büchern über die Band Today Your Love, Tomorrow the World als Versuch der Band, der „Nettigkeit“ der 1970er-Jahre (nach McNeils Ansicht besonders prominent dargestellt durch das Smiley-Symbol) etwas Absurdes entgegenzusetzen und auszudrücken „wir weigern uns, nett zu sein“ beziehungsweise „wir wollen schockieren“. Mickey Leigh weist in seiner Biographie seines älteren Bruders Joey Ramone darauf hin, dass das Lied ein „schwächliches deutsches Kind“ karikiere und einen Einblick in „die typische Geisteshaltung eines Mitglieds der Hitlerjugend“ geben solle, „brillant in zwei Zeilen zusammengefasst“. Titelliste Alle Kompositionen von der Band Ramones, wenn nicht anders angegeben. Erstauflage 1976 Blitzkrieg Bop – 2:14 Beat on the Brat – 2:31 Judy Is a Punk – 1:32 I Wanna Be Your Boyfriend – 2:24 Chain Saw – 1:56 Now I Wanna Sniff Some Glue – 1:35 I Don’t Wanna Go Down to the Basement – 2:38 Loudmouth – 2:14 Havana Affair – 1:56 Listen to My Heart – 1:58 53rd & 3rd – 2:21 Let’s Dance (Jim Lee) – 1:51 I Don’t Wanna Walk Around With You – 1:42 Today Your Love, Tomorrow the World – 2:12 Zusätzliche Titel auf der Wiederveröffentlichung 2001 I Wanna Be Your Boyfriend – 1:43 Judy Is a Punk – 1:37 I Don’t Care – 1:55 I Can’t Be – 1:57 Now I Wanna Sniff Some Glue – 1:42 I Don’t Wanna Be Learned/I Don’t Wanna Be Tamed – 1:03 You Should Never Have Opened That Door – 1:54 Blitzkrieg Bop – 2:12 Anmerkungen Single-Auskopplungen Blitzkrieg Bop/Havana Affair (Juli 1976, Sire 6078 601) In einigen Ländern wurde zusätzlich I Wanna Be Your Boyfriend als Single veröffentlicht. Coverversionen Von den Kompositionen auf dem Album Ramones existiert eine Vielzahl von Coverversionen; darunter einige von erfolgreichen Rockbands wie Metallica, Red Hot Chili Peppers und U2, deren Mitglieder sich zum Teil auf die Band Ramones als musikalischen Einfluss berufen. Neben Neuinterpretationen der Lieder von Ramones in verschiedenen Stilformen des Rock-Genres wie Heavy Metal und Rockabilly wurden die Stücke des Albums auch in anderen Musikstilen interpretiert – so zum Beispiel als Bossa Nova, als Dub Reggae und als Wiegenlieder für Kinder (Lullaby). Rockmusik-Versionen Die Toten Hosen nahmen für ihr 1991 veröffentlichtes Punk-Tribut-Album Learning English Lesson One eine Version von Blitzkrieg Bop auf, bei der Joey Ramone und Richard Manitoba von den The Dictators als Sänger mitwirkten. Auf dem 1991 erschienenen Ramones-Tribut-Album Gabba Gabba Hey befinden sich insgesamt fünf Coverversionen vom Album Ramones: Blast – Now I Wanna Sniff Some Glue Creamers – 53rd & 3rd Flesh Eaters – I Don’t Wanna Go Down To The Basement Motorcycle Boy – Loudmouth Pigmy Love Circus – Beat on the Brat Im Jahr 1992 nahm die US-Punkband Screeching Weasel eine eigene Fassung des gesamten Debütalbums der Band Ramones auf und veröffentlichte die Coverversionen als Album unter eigenem Namen, ebenfalls mit dem Titel Ramones. Die Reihenfolge der Stücke des Originals wurde beibehalten. Auf dem Foto der Albumhülle stellen die Mitglieder von Screeching Weasel das Hüllenfoto des Ramones-Albums nach. Für sein im Jahr 2000 erschienenes Soloalbum Greatest & Latest nahm Ex-Bandmitglied Dee Dee Ramone neue Versionen von Ramones-Kompositionen auf, darunter die Lieder Blitzkrieg Bop und Beat on the Brat vom Album Ramones. Auf seinem 2003 postum veröffentlichten Live-Album Too Tough to Die Live in NYC befindet sich eine Version von 53rd & 3rd. Das 2003 erschienene Ramones-Tribut-Album We’re a Happy Family enthält fünf Coverversionen von Liedern des Debütalbums: Metallica – 53rd & 3rd Red Hot Chili Peppers – Havana Affair U2 – Beat on the Brat Rob Zombie – Blitzkrieg Bop Pete Yorn – I Wanna Be Your Boyfriend Andere Musikgenres Eine von einem Kinderchor gesungene Fassung von Blitzkrieg Bop ist auf dem 2006 vom Plattenlabel Go-Kart Records herausgebrachten Ramones-Tribut-Album Brats On The Beat: Ramones For Kids enthalten. Tommy Ramone spielte mit seinem Bluegrass-Duo Uncle Monk bei Live-Auftritten regelmäßig eine Akustikgitarren-Fassung seiner eigenen Komposition I Wanna Be Your Boyfriend. Im Jahr 2007 erschien bei Baby Rock Records das Album Rockabye Baby! Lullaby Renditions of the Ramones. Darauf befinden sich Wiegenlied-Versionen von Blitzkrieg Bop, Beat on the Brat und Judy Is a Punk, instrumentiert unter anderem mit Glockenspiel und Akkordeon. Literatur Jim Bessman: Ramones – an American Band. St. Martin’s Press, New York 1993. ISBN 0-312-09369-1 (englisch). Mickey Leigh with Legs McNeil: I Slept With Joey Ramone – A Family Memoir (englisch). Autobiographie des jüngeren Bruders von Ramones-Sänger Joey Ramone, Mickey Leigh. Touchstone/Simon & Schuster, New York 2009. ISBN 978-0-7432-5216-4. Legs McNeil, Gillian McCain: Please Kill Me – die unzensierte Geschichte des Punk. Hannibal, Höfen 2004, ISBN 3-85445-237-3. Standardwerk zur Geschichte des US-Punk von 1967 bis 1992, deutschsprachige Ausgabe. Monte Melnick, Frank Meyer: On the Road with the Ramones. Sanctuary Publishing Ltd., London 2003. ISBN 1-86074-514-8 (englisch). Mojo – The Music Magazine, Ausgabe November 2005, S. 72–80: Thirty Years of the Ramones. Artikel über die Frühzeit der Band, mit Beschreibung der Entstehung des Debüt-Albums sowie Fotos von den Studioarbeiten. Verlag: Emap Performance Ltd., 2005 (englisch). Dick Porter: Ramones: The Complete Twisted History. Plexus Publishing Ltd. 2004, ISBN 0-85965-326-9 (englisch). Johnny Ramone: Commando: the autobiography of Johnny Ramone. Abrams Image, New York 2012. ISBN 978-0-8109-9660-1 (englisch). Tommy Ramone: All revved up and ready to go! Artikel über die Entstehung des Albums in Mojo – The Music Magazine, Issue 210, Mai 2011, S. 76–77. Verlag: Emap Performance Ltd., 2011 (englisch). Nicholas Rombes: Ramones (erschienen in der Taschenbuchreihe „33 1/3“. Beschreibt detailliert Entstehungsgeschichte und Inhalt des Albums). Continuum International Publishing Group, New York/London 2005. ISBN 0-8264-1671-3 (englisch). Rock Classics Sonderheft Nr. 2, 2009/2010: Ramones – 35 Jahre Punk-Kult. Slam Media Verlag, Wien 2009. SPIN Magazine Vol. 17, Nr. 5, Mai 2001: 25 Years of Punk. Mit ausführlichen Beiträgen zu den Anfängen der Band Ramones und zu deren Debütalbum. Vibe/Spin Ventures, New York 2001. (englisch). Everett True: Hey Ho Let’s Go – The Story Of The Ramones. Omnibus Press 2002, ISBN 0-7119-9108-1 (englisch). Weblinks Robert Christgaus Rezension des Albums auf dessen Website (englisch; abgerufen am 19. Dezember 2009) Album Revisit: Ramones at 35. Detaillierte Rezension des Albums Ramones auf dyingscene.com anlässlich des 35. Jahrestages der Erstveröffentlichung; inklusive Kritiken zu jedem einzelnen Musikstück des Albums (englisch; abgerufen am 23. April 2011) Artikel Tommy Ramone on Birth of the Ramones: “It was time for something new” – Interview mit Tommy Ramone, mit Details zur Entstehungsgeschichte des Albums auf rollingstone.com (englisch; abgerufen am 17. Juli 2014) Einzelnachweise Ramones-Album Album (Punk) Album 1976
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20Ghanas
Geschichte Ghanas
Die Geschichte Ghanas ist die Geschichte des modernen Staates Ghana, der vorangegangenen europäischen Kolonisation dieses Gebietes sowie die vorkoloniale Geschichte der Völker und Reiche auf dem Gebiet des heutigen Staates. Das ursprüngliche Königreich Ghana lag wesentlich weiter nördlich als das heutige Ghana im Gebiet der Sahelzone. Obwohl dieses Reich der Namensgeber des modernen Staates Ghana ist, hat das heutige Ghana keine historischen Bezüge zu ihm. Mit dem Namen „Ghana“ wollten die Staatsgründer an die Größe dieses mächtigen schwarzafrikanischen Reiches anknüpfen. Frühgeschichte des heutigen Ghana Das Gebiet Ghanas wurde erstmals etwa vor 150.000 bis 200.000 Jahren von Menschen besiedelt. Vor 135.000 Jahren begann eine lange Trockenphase, die bis vor etwa 75.000 Jahren andauerte, wie Grabungen am Bosumtwi-See im Süden des Landes belegen konnten. Kulturhistorisch gehörten diese ersten Bewohner Ghanas zur Sangoan-Kultur, einer Kultur, die den Übergang von der älteren zur jüngeren Altsteinzeit charakterisiert. Wichtige Fundstätten sind Asokrochona und Tema II, wo die Sangoan-Schicht auf 13.000 bis 20.000 bzw. 20.000 bis 25.000 Jahre datiert wurde. Beide Schichten wurden dem Askrochan zugeschrieben. Der Beginn einer extremen Trockenperiode, die vor etwa 25.000 Jahren einsetzte und bis vor 13.000 Jahren andauerte, veranlasste diese Sangoan-Leute jedoch zum Verlassen der immer unwirtlicher werdenden Ebenen. Der Beginn der Wiederbesiedelung des Landes ist nicht bekannt. Die ältesten Keramikfunde auf dem Gebiet des heutigen Ghana wurden auf ein Alter von etwa 5800 Jahren datiert. Im Allgemeinen wird der Zeitpunkt des Auftretens von Keramik mit dem Beginn der Nahrungsmittelerzeugung durch Feldbau gleichgesetzt. Etwa vor 4000 bis etwa 3500 Jahren erfuhr das Klima in Westafrika und dem westlichen Zentralafrika wiederum eine kurze, aber intensive Trockenphase mit starken Winden. Die Vegetation der Ebenen nahm dabei savannenartige Züge an und der bislang dichte Regenwald ging leicht zurück mit einer verstärkten Lichtung seiner Randzonen. Etwa vor 3800 bis 3700 Jahren war ein phänomenales Ansteigen des Auftretens der Ölpalme (Eleas guineensis) zu verzeichnen. In dieser Zeit existierte mit der Kintampo-Kultur eine weitere vorgeschichtliche Kulturstufe am Nordrand des Regenwaldgürtels. An 30 verschiedenen Stellen in Nordghana wurden etwa 3400 Jahre alte steinerne Gebäude, Äxte und Topfwaren gefunden. Diese Kultur war bereits durch eine sehr komplexe Wirtschaftsform mit einer Vermischung von feldbaulicher Waldlandbewirtschaftung und nahrungsproduzierender Viehhaltung in der Savanne gekennzeichnet. Mit Sicherheit kann das Halten von Schafen und Ziegen für die Zeit vor 3550 bis 3750 Jahren nachgewiesen werden, wahrscheinlich wurden in der Spätzeit auch Rinder gehalten. Der durch die Trockenheit immer lichter werdende Regenwald und das plötzliche verstärkte Auftreten der Ölpalme, die Nahrung, Faser- und Baumaterial lieferte, förderte wahrscheinlich den Entwicklungsprozess einer feldbaulichen Waldlandbewirtschaftung. Dennoch scheinen auf dem Höhepunkt der Trockenphase die Menschen erneut die immer ungastlicher werdenden Gegenden wieder verlassen zu haben. Während die Sangoan-Leute in Nordghana und an der Küste lebten, war die Kintampo-Kultur auf Nordghana beschränkt. Das zentrale Waldland Ghanas, so nahm man bis 2010 an, war dagegen bis vor 800 Jahren kaum besiedelt. Inzwischen ließ sich jedoch zeigen, dass bereits in den ersten Jahrhunderten n. Chr. Siedlungen bestanden. Vorkoloniale Reiche und Völker auf dem Gebiet des heutigen Ghana Die großen Reiche im Norden Die frühesten Reichsgründungen auf ghanaischem Gebiet fanden im Norden des Landes statt. Anfang des 15. Jahrhunderts gründeten die Dagomba ein mächtiges Königreich (siehe Königtum Dagomba), später die Mamprusi und im 16. Jahrhundert die Gonja. Alle diese Reiche waren von den Mossi des heutigen Burkina Faso kulturell beeinflusst und stützten ihre Macht auf Reiterheere, die in Bewaffnung und leichter Rüstung an europäische Ritter erinnerten. Diese Reiterheere fanden ihre Grenzen an den tropischen Bedingungen des Waldlandes in Zentralghana, wo beispielsweise die Verbreitung der Tse-Tse-Fliege Großvieh- und damit Pferdehaltung unmöglich machte. Die Reiche des Nordens wurden früh islamisiert, behielten aber weite Teile ihres traditionellen Glaubens bei. Die Akanstaaten des Waldlandes von Zentralghana Das Waldland Zentralghanas war bis etwa 1200 kaum besiedelt. Vermutlich ab dem 13. Jahrhundert setzte eine gewisse Wanderungsbewegung von Norden kommend in dieses Gebiet ein. Die Akanvölker wanderten in ihr heutiges Siedlungsgebiet in Zentralghana. Diese Wanderungsbewegung verstärkte sich erst Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts, als die Einfuhr von (Feld-)Früchten wie Bananen, Hirse oder Kassawa (Maniok) aus Südostasien beziehungsweise Amerika eine intensivere Besiedelung dieses Regenwaldgebietes ermöglichte. Die Akanvölker begannen sich nun in kleineren politischen Einheiten zu organisieren. Eines der ersten historisch belegten Königreiche der noch zersplitterten Akanvölker war das Königreich Bono. Später, im 17. Jahrhundert, beherrschten die Denkyra weite Teile Zentralghanas. Ihre Macht wurde durch das 1695 gegründete Königreich der Aschanti gebrochen, dessen zügiger Aufstieg die Zersplitterung der Akanstaaten beendete und zur Entstehung einer regionalen Großmacht führte, die bald in Konflikt mit den an Einfluss gewinnenden Europäern geriet. Die Völker des Südens Im Süden Ghanas lebten im 15. und 16. Jahrhundert bereits die Völkerschaften, die auch heute dort siedeln: die Fanti, Nzema, Ga, Ewe und andere. Keines dieser Völker hatte sich zu diesem Zeitpunkt jedoch in größeren, zentralisierten Staaten organisiert. Die Ewe etwa lieferten in ihren Herkunftsmythen sogar eine Art ideologische Begründung für ihre Abneigung gegen größere politische Einheiten. Nach ihren mündlichen Traditionen waren ihre Vorfahren aus dem Osten vor einem tyrannischen Herrscher geflohen. Als die ersten Europäer die ghanaische Küste erreichten, trafen sie daher auf eine Vielzahl kleiner Häuptlingstümer. Erste Kontakte mit Europäern: 1471 bis 1800 Die Bewohner der Küste des heutigen Ghana hatten bereits sehr früh und intensiv Kontakt mit europäischen Händlern und Soldaten. Die Portugiesen waren die ersten Europäer, die 1471 die so genannte Goldküste erreichten. Bereits 1482 erhielten sie die Erlaubnis einheimischer Herrscher, einen befestigten Stützpunkt, das Fort São Jorge da Mina im heutigen Elmina zu errichten. Den Portugiesen folgten bald andere Europäer: Schweden, Dänen, Niederländer, Briten, Brandenburger und Franzosen trieben Handel mit den Bewohnern der Küste, errichteten Festungen und bekriegten sich häufig untereinander. An keinem Küstenabschnitt Afrikas findet sich eine derartige Dichte europäischer Forts wie an der Küste Ghanas. Oftmals wurden diese Festungen europäischer Mächte in Sichtweite voneinander errichtet. Die Festungen waren in erster Linie Handelsstützpunkte und nicht Ausgangspunkte kolonialer Eroberungen. Üblicherweise waren sie auch nicht Eigentum europäischer Mächte, sondern über einen Pachtvertrag von afrikanischen Mächten erworbene Plätze. Die Europäer interessierten sich für Gold und Gewürze des Landes, ab dem 17. Jahrhundert zunehmend für Sklaven, die im atlantischen Dreieckshandel nach Amerika verkauft wurden. Die Afrikaner erhielten im Austausch Gewehre, Munition und Stoffe. Die europäischen Seefahrer und Händler waren auf die Kooperation der Einheimischen angewiesen, und der Handel zwischen Europäern und Afrikanern lief auf einer gleichberechtigten Basis ab. Auch die Sklaven wurden von Afrikanern (häufig von mächtigen afrikanischen Kaufleuten oder „Handelsprinzen“ wie etwa dem so genannten Jan Conny) an die Europäer verkauft und waren nicht das Ergebnis europäischer Überfälle auf die Küste. Diese frühe Phase des Kontaktes mit den Europäern muss deutlich von der späteren kolonialen Unterwerfung unterschieden werden. Als Ergebnis dieser Kontakte finden sich übrigens heute an der Küste Ghanas viele hellhäutige Menschen und englische, holländische, portugiesische, dänische oder französische Nachnamen wie da Costa, Hayford, Lemaire, Vroom oder Simpson sind keine Seltenheit. Um 1800 hatten sich die Briten und die Niederländer gegen die übrige europäische Konkurrenz durchgesetzt, das Kräfteverhältnis zwischen Afrikanern und Europäern und damit der Charakter des europäisch-afrikanischen Austausches begann sich zu wandeln. Zeit des Aschantireiches 1695 waren die zersplitterten Aschanti-Fürstentümer unter dem ersten Asantehene Osei Tutu erstmals vereinigt. 1699 begann der Aufstieg des Reiches zur regionalen Großmacht, als es den Aschanti gelang, sich in einem zweijährigen Krieg von der Tributpflicht für das Reich der Denkyra zu befreien und verschiedene bisher unter der Herrschaft der Denkyra stehende Gebiete zu erobern. Als wichtigste Kriegsbeute gelangte dabei der Pachtvertrag für die Forts von Elmina in die Hände der Aschanti, die damit die Möglichkeit des direkten Handels mit Europäern, nämlich mit den Niederländern, hatten. 1744 eroberten die Aschanti das mächtige Königreich der Dagomba in Nordghana und dehnten ihre Macht über nahezu das gesamte Staatsgebiet des heutigen Ghana mit Ausnahme eines schmalen Küstenstreifens aus. Grundlage der Macht der Aschanti-Föderation waren sicherlich der Goldreichtum des Aschantilandes und ihre hervorragende militärische Organisation, die durch von den Europäern erworbene Schusswaffen verstärkt wurde. Hinzu kam aber auch die innere Stärke des Reiches, deren Basis eine Staatsideologie war, die unter Osei Tutu und dem Priester Okomfo Anokie bereits Ende des 17. Jahrhunderts geschaffen wurde: Der Glaube an die Macht des so genannten Goldenen Stuhls, der den Geist aller Aschanti verkörperte. In verschiedenen Schritten hatte das Reich zudem eine geradezu modern anmutende innere Organisation erhalten, mit einer Art Berufsbeamtentum und einer Verwaltung, die sich unter anderem auf schriftkundige Muslime aus dem Norden stützte. 1814–16 besiegte der Asantehene Osei Bonsu im Aschanti-Akim-Akwapim-Krieg die vereinigten Akim und Akwapim, und die Briten mussten die Oberhoheit Aschanti über die gesamte Südküste des heutigen Ghanas außerhalb des direkten Gebietes ihrer Forts anerkennen. Ein Versuch des britischen Gouverneurs McCarthy, die Macht der Aschanti zu brechen, endete 1824 in einer verheerenden Niederlage. Sein Heer wurde vernichtend geschlagen, und er beging Selbstmord, um den Aschanti nicht in die Hände zu fallen. Das Aschantireich war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Es umfasste ein Gebiet, das über das heutige Staatsgebiet von Ghana hinausging, und verschiedene Vasallenstaaten mussten den Aschanti jährlich eine bestimmte Anzahl Sklaven als Tribut liefern. Der Rest des 19. Jahrhunderts ist von verschiedenen Kriegen und Feldzügen zwischen Aschanti und Briten geprägt, in denen die Aschanti die Briten mehrfach vernichtend schlugen. 1874 wendete sich das Blatt, britische Truppen unter Sir Garnet Wolseley eroberten Kumasi, die Hauptstadt der Aschanti, plünderten die Stadt und steckten sie in Brand. Im Vertrag von Fomena mussten die Aschanti auf alle ihre Rechte an der Küste verzichteten; der Sklavenhandel, ehemals die Haupteinnahmequelle der Aschanti, wurde für illegal erklärt. Damit war der Weg frei für eine Festigung der britischen Macht an der Goldküste. Britische Herrschaft Der Weg zur Kolonialherrschaft: 1821 bis 1900 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren nur noch drei europäische Mächte mit befestigten Handelsposten an der Goldküste vertreten: Briten, Niederländer und Dänen. Diese europäischen Forts wurden jeweils von privaten, staatlich privilegierten Handelsgesellschaften verwaltet. 1821, nach mehrmaligem vergeblichem Drängen von Kaufleuten und Siedlern, übernahm das Kolonialamt („Colonial Office“) in London die Kontrolle über die britischen Festungen, überließ aber ab 1828 einem Rat der britischen Kaufleute vor Ort die Verwaltung der Forts und seiner Bewohner. Präsident dieses Rates war ab 1829 George Maclean, der bis zu seinem Tod 1847 dafür sorgte, dass die britische Einflusssphäre an der Goldküste weit über die Forts hinaus einen rund 40 Kilometer breiten Küstenstreifen umfasste. In diesem Gebiet galt weitgehend britisches Recht, und die Briten traten als Schlichter bei Streitigkeiten zwischen einheimischen Herrschern auf. Die zunehmende Konkurrenz mit dem aufstrebenden Aschantireich und die Bündnisverpflichtungen den mit den Briten verbündeten Fanti gegenüber führten in den folgenden Jahrzehnten zu einer verstärkten militärischen Präsenz der Briten. 1842 übernahm England die direkte Kontrolle über dieses Gebiet und setzte einen Gouverneur mit Sitz in Cape Coast Castle ein. 1844 schloss dieser mit den Fanti den so genannten Bund von 1844, in dem die Fanti weitgehend die faktische Geltung britischen Rechts in ihrem Gebiet anerkannten. 1850 kauften die Briten den Dänen ihre noch verbliebenen Forts an der Goldküste ab und führten kurz darauf eine Kopfsteuer in ihrem Machtbereich ein. 1868 einigten sich Briten und Niederländer auf einen Austausch verschiedener Forts zwecks Verwaltungsvereinfachung. Die Niederländer hatten jedoch aufgrund einheimischen Widerstands erhebliche Probleme, die Gewalt in ihren neu erworbenen Besitzungen zu übernehmen (siehe zum Beispiel Dixcove). 1872 gaben die Niederländer auf und verkauften ihre letzten Festungen an der Goldküste an die Briten, die damit keine europäische Konkurrenz an dieser Küste mehr hatten. Etwa gleichzeitig versuchten die traditionellen Oberhäupter und die „(westlich) gebildete Elite“ der Fanti im Kernland der britischen Einflusszone einen eigenständigen Staat nach europäischem Vorbild zu errichten. Diese so genannte Fantiföderation bestand von 1868 bis 1873, scheiterte jedoch an inneren Streitigkeiten und dem Boykott durch die Briten. 1874 kam es zu einem erneuten Krieg mit den Aschanti. Auslöser waren die Pachtzahlungen, die die Aschanti für die nun britischen Forts von Elmina von den Briten forderten. Die Briten schlugen die Aschanti, zwangen sie, im erwähnten Vertrag von Fomena ihre Hoheit über nahezu ganz Südghana anzuerkennen, und hatten damit die letzte Macht in der Region besiegt, die ihnen noch Widerstand geleistet hatte. 1874 wurde Südghana zur Kronkolonie Goldküste erklärt. 1896 schließlich zwangen die Briten den Aschanti militärisch die Anerkennung ihrer Herrschaft über das Aschantiland als „Protektorat“ auf und verschleppten den regierenden Asantehene auf die Seychellen. Unter Führung der Königinmutter von Edweso, eines Aschanti-Teilstaates, unternahmen die Aschanti 1900 einen letzten militärisch geführten Aufstand, den die Briten nur mit Mühe und unter Einsatz von Truppen aus Übersee unter Kontrolle brachten. Im selben Jahr übernahmen die Briten (nachdem im Samoa-Vertrag die Grenzkonflikte mit der benachbarten deutschen Kolonie Togo geklärt waren) die Kontrolle über Nordghana. Britische Herrschaft über die Goldküste 1900 bis 1945 Als Ergebnis des Ersten Weltkrieges wurde die den Briten 1919 als Völkerbund-Mandatsgebiet überlassene westliche Hälfte des ehemaligen Deutsch-Togo als Britisch-Togoland ebenfalls Teil der Britischen Goldküste. Innerhalb der Goldküste wurde zudem unterschieden zwischen der Kronkolonie, dem Protektorat Aschantiland und den Nördlichen Territorien. Die Form der kolonialen Machtausübung innerhalb dieser drei Gebiete war sehr unterschiedlich. In der „Kronkolonie“ war den Einheimischen in Maßen eine politische Betätigung im modernen Wortsinn möglich: Politische Vereinigungen konnten sich ohne Genehmigung durch die Briten bilden und es gab weitgehende Pressefreiheit. Englisches Recht war gültig, und Rechtsanwälte waren in der Lage, Auswüchse der Kolonialherrschaft zu bekämpfen. Hier gab es zudem aufgrund des längeren britischen Einflusses eine große Anzahl westlich gebildeter Afrikaner, die mit der Kolonialverwaltung kooperierten und diese auch in Ansätzen kontrollierten. Im „Protektorat“ dagegen bemühten sich die Briten bis in die 1920er Jahre hinein um die Zerstörung des Aschanti-Imperialismus und seiner verbliebenen Traditionen. Rechtsanwälten war die Ausübung ihres Berufes verboten; politische Vereinigungen mussten sich als kulturelle oder soziale Vereinigungen tarnen. Die „Northern Territories“ wiederum waren in die späteren politischen Reformversuche innerhalb der Goldküste gar nicht eingebunden. Sie hatten beispielsweise keine Stimme im gesetzgebenden Rat der so genannten Burnsverfassung, über die in den 1940er Jahren eine rudimentäre Form der Vertretung Einheimischer in der Regierung der Kolonie erreicht werden sollte. Gouverneur Gordon Guggisberg versuchte im Aschantigebiet und in den Nördlichen Territorien in den 1920er Jahren, seine Vorstellungen von Indirect rule (Indirekter Herrschaft) durchzusetzen. Der Weg in die Unabhängigkeit: 1945 bis 1951 Dennoch verstärkten sich seit dem Zweiten Weltkrieg Bestrebungen zur langfristigen Unabhängigkeit der Goldküste. 65.000 Ghanaer hatten auf britischer Seite im Zweiten Weltkrieg im Namen von „Freiheit und Demokratie“ gekämpft und forderten das nun auch für ihre Heimat. Viele Posten waren für Weiße reserviert und gebildeten Ghanaern versperrt. 1946 trat eine neue Verfassung, die Burns-Constitution, für die Goldküste in Kraft, die erstmals in einer britischen Kolonie in Afrika eine einheimische Majorität in einem gesetzgebenden Rat festlegte. Allerdings wurden die Vertreter in diesem Rat überwiegend von den traditionellen Häuptlingen bestimmt, und die nördlichen Territorien blieben ohne Vertretung. Einen Wendepunkt in der allgemeinen Stimmung stellten schließlich die so genannten Accra-Riots () von 1948 dar. Eine friedliche Demonstration ehemaliger Verwaltungsangestellter endete mit dem Tod mehrerer Demonstranten durch Polizeikugeln. Dies führte zu Ausschreitungen in Accra und verschiedenen anderen Städten. Insgesamt starben bei den Protesten 29 Menschen. Forderungen nach baldiger Unabhängigkeit des Landes waren so populär wie nie zuvor. Im Gefolge dieser Unruhen wurde der spätere erste Präsident Ghanas, Kwame Nkrumah, landesweit bekannt. Seine 1947 gegründete damalige Partei, die United Gold Coast Convention (UGCC), vervielfachte ihre Mitgliederzahl. Ein Gremium, dem überwiegend traditionelle Chiefs und die Anführer der UGCC angehörten, sollte nun eine neue Verfassung ausarbeiten, um den Unwillen der Bevölkerung aufzufangen. Nkrumah gehörte diesem Gremium trotz seiner großen Popularität nicht an. 1949 gründete er seine eigene Partei, die Convention People’s Party mit dem Hauptprogrammpunkt „self-government now!“. Die Kolonialverwaltung ging mit Repressalien gegen Anhänger der neuen Partei vor. 1950 rief der Gewerkschaftsverband Trades Union Congress of Ghana, damals ein integraler Bestandteil der CPP, den Generalstreik aus. Die Kolonialregierung erklärte den Ausnahmezustand, ließ Nkrumah verhaften und zu drei Jahren Gefängnis verurteilen. 1951 fanden die ersten Wahlen nach den Regeln der unmittelbar zuvor in Kraft gesetzten Verfassung statt. Nkrumahs CPP errang überall dort, wo direkt gewählt werden durfte, einen überwältigenden Wahlsieg, und Nkrumah erhielt selbst ein Mandat. Gouverneur Charles Arden-Clarke akzeptierte den so eindeutig ausgesprochenen Volkswillen, befahl, Nkrumah aus dem Gefängnis zu entlassen, und bot ihm das Amt eines „Führers der Regierungsgeschäfte“ an. Der Weg in die Unabhängigkeit: 1951 bis 1956 1951 bis 1956 (zwei Wahlperioden) hatte die Goldküste nun eine Regierung der CPP unter Führung Nkrumahs bei noch bestehender britischer Herrschaft. Begünstigt von gefüllten Kassen aufgrund der enorm gestiegenen Kakaopreise auf dem Weltmarkt, aber auch einer konsequenten Infrastrukturpolitik, erlebte Ghana in dieser Phase nie gekannte Fortschritte: Eine asphaltierte Straße zwischen Accra und Sekondi-Takoradi und andere wichtige Strecken innerhalb des Landes wurden gebaut und Eisenbahnstrecken begonnen. Der Ausbau des Tiefseehafens von Takoradi ging zügig voran, ein neuer Tiefseehafenbau bei Tema wurde begonnen. Durch Maßnahmen gegen eine grassierende Kakaokrankheit und ein neues Aufkaufsystem zu Festpreisen erlebte der Kakaoanbau einen enormen Aufschwung. Große Fortschritte waren zu verzeichnen in der Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur. Die Reservierung von Jobs für Europäer wurde aufgehoben, und die Zahl der „gehobenen Posten“, die Afrikaner innehatten, stieg von 171 im Jahr 1949 auf 3000 im Jahr 1957. 1954 trat eine neue Verfassung in Kraft, mit einer Volksvertretung, deren Mitglieder durchweg direkt gewählt wurden. Nkrumah erhielt den Titel eines Premierministers. Das Frauenwahlrecht wurde 1955 eingeführt. Begleitet wurden diese eindeutigen Fortschritte allerdings von zunehmender Korruption und ersten diktatorischen Tendenzen im Verhalten Kwame Nkrumahs, der etliche seiner bis dahin wichtigsten Weggefährten aus der CPP ausschließen ließ. Im Aschantigebiet formierte sich aus Kreisen ehemaliger CPP-Anhänger eine neue regionale Partei, das National Liberation Movement (NLM). Es kam zu Gewalttätigkeiten zwischen Anhängern beider Parteien. Der britische Staatssekretär für die Kolonien verlangte daher Neuwahlen vor der Entlassung des Landes in die Unabhängigkeit. Wider Erwarten gewann Nkrumahs CPP bei diesen Wahlen 1956 die Mehrheit in allen Landesteilen – bis auf das Aschantigebiet, wo seine Partei jedoch immerhin ein Drittel der Stimmen erhielt. Im selben Jahr entschied sich die Bevölkerung Britisch-Togolands in einem Referendum für die Zugehörigkeit zu einem neu zu bildenden Staat Ghana. Am 6. März 1957 endete die Kolonialgeschichte der Goldküste mit der Unabhängigkeit Ghanas. Unabhängiges Ghana Die Ära Nkrumah 1957–1960: Konsolidierung der Macht und internationale Erfolge Als Ghana am 6. März 1957 als erste ehemalige Kolonie Subsahara-Afrikas seine Unabhängigkeit erklärte, brachte es dafür bessere Voraussetzungen mit als die meisten anderen, später entstehenden Staaten des Kontinents. Hier gab es eine vergleichsweise breite, westlich gebildete Schicht, ergiebige Goldbergwerke im Aschantiland, einen devisenträchtigen, exportorientierten Zweig der Landwirtschaft und beträchtliche Devisenreserven aus den vorangegangenen Jahren des Kakaobooms. Allerdings war die Struktur der ghanaischen Wirtschaft noch kolonial geprägt; fremdes Kapital beherrschte den Bergbau, das Bankwesen und den Handel. Bis 1960 betrieb der erklärte Sozialist Kwame Nkrumah dennoch eine liberale Wirtschaftspolitik, gewährte ausländischen Investoren Steuernachlässe und ermöglichte ihnen Gewinntransfers, um zusätzliches Kapital für seine ehrgeizige Industrialisierungspolitik anzuziehen. Im Zentrum der Industrialisierungspläne stand das Volta River Project, also der Bau des Akosombo-Staudammes, der Ghanas zukünftige Industrie mit Strom versorgen und das Land zum Stromexporteur machen sollte. Dieses Projekt war nur mit US-amerikanischem Kapital und Krediten zu verwirklichen. Dazu war eine westlich orientierte Wirtschaftspolitik notwendig. Der Aufbau des Landes ging insbesondere im Bereich der Bildung voran, Schulen wurden gebaut und zwei Universitäten gegründet. Innenpolitisch wandte sich Nkrumah mit zunehmend diktatorischen Mitteln gegen den Regionalismus der Aschanti und den Ewe-Nationalismus in der Volta Region, die nicht nur den Zusammenhalt des Staates, sondern auch seine persönliche Macht bedrohten. Ein 1957 erlassenes Gesetz gegen Tribalismus („Stammestum“) ermöglichte es ihm, nach Gutdünken Regionalpolitiker abzusetzen. Als sich daraufhin verschiedene regionale Oppositionsparteien zur United Party vereinten, erließ er ein Gesetz, nach dem Personen, die die Sicherheit des Staates bedrohten, ohne Prozess festgenommen werden konnten. Der Gewerkschaftsdachverband Trade Union Congress und der Rat der Farmer Ghanas (United Ghana Farmers Council) verloren ihre Eigenständigkeit und wurden der Nkrumah-Partei CPP angegliedert. Auf internationaler Ebene versuchte Nkrumah sein Konzept des Panafrikanismus voranzubringen. Er war überzeugt, dass die Unabhängigkeit Ghanas bedeutungslos ist, solange sie nicht mit der totalen Befreiung des afrikanischen Kontinents verbunden ist. Nur ein vereinigtes Afrika würde dem Schicksal entgehen, zum Spielball fremder Kräfte zu werden. Ende der fünfziger Jahre führte er verschiedene internationale Kongresse in Accra durch, die tatsächlich große Bedeutung für die Befreiungsbewegungen des afrikanischen Kontinents und den Prozess seiner Entkolonialisierung hatten. Nkrumah und mit ihm Ghana befanden sich 1960 auf einem Höhepunkt internationaler Anerkennung. Republik, sozialistische Wende und Diktatur: 1960 bis 1966 Juli 1960 wurde Ghana zur Republik erklärt und Kwame Nkrumah Präsident (statt Premierminister) mit nahezu diktatorischen Vollmachten. Verhaftungen ohne Gerichtsurteile auf der Grundlage des erwähnten Gesetzes zur Staatssicherheit nahmen erheblich zu. Die ehemaligen Pfadfinder Ghanas wurden zur „Nkrumah-Jugend“ und zur Speerspitze eines Spitzelsystems umfunktioniert. Mehrere erfolglose Attentate wurden auf Nkrumah verübt. Wirtschaftlich vollzog das Land nun eine Wende zu einer sozialistischen Orientierung. Verschiedene Bergbaugesellschaften wurden verstaatlicht, ausländische Firmen staatlicher Kontrolle unterworfen. Tatsächlich hatte die liberale Wirtschaftspolitik der 1950er Jahre nicht die erhofften Erfolge erzielt, Gewinne der europäischen Firmen waren aus dem Land heraus geflossen, statt in Ghana investiert zu werden. Gleichzeitig fielen die Kakaopreise auf ein Viertel des Wertes Mitte der 1950er Jahre. Die neuen, staatlich kontrollierten Unternehmen erwiesen sich jedoch zumeist ebenfalls als wenig effektiv, litten unter Kapitalmangel und verführten zu Korruption. Es kam zu erheblichen Versorgungsmängeln im Land. Steuererhöhungen, eine Zwangssparverordnung und die Gängelung durch die korrupte Staatspartei brachten auch die Gewerkschaft gegen Nkrumah auf und führten zu einem Streik der Eisenbahn- und Hafenarbeiter in Takoradi und Kumasi. Die offenkundige Bevorteilung bei der Ausrüstung von Nkrumahs Präsidentengarde, die eine Art Privatarmee bildete, vor der ghanaischen Armee löste auch hier Unzufriedenheit aus. 1965 schließlich starb der angesehene Politiker und Gründer von Nkrumahs alter Partei, Dr. J.B. Danquah in Polizeihaft. Nkrumahs Popularität befand sich auf einem Tiefpunkt. Während eines Besuches Nkrumahs im nordvietnamesischen Hanoi verübten am 24. Februar 1966 einige Polizei- und Armeeoffiziere einen blutigen Putsch und übernahmen die Macht. Nkrumah ging nach Guinea ins Exil und siedelte später nach Rumänien über, wo er 1972 in Bukarest starb. Militärherrschaft 1966 bis 1969 Das Gremium der neuen Militärherrscher nannte sich selbst National Liberation Council (Nationaler Befreiungsrat) und trat unter der Führung des Generalleutnants Joseph Arthur Ankrah mit dem Versprechen an, bis zum 1. Oktober 1969 die Macht wieder an eine zivile Regierung abzugeben. Das Regime verzichtete auf Racheakte gegenüber den Mitgliedern der CPP, entließ die politischen Gefangenen der Nkrumah-Ära und stellte die Pressefreiheit wieder her. Untersuchungen der Korruption unter Nkrumah verliefen allerdings zumeist im Sande oder endeten mit der Ausstellung eines „Persilscheins“. Das Regime hatte einen enormen Schuldenberg geerbt und bemühte sich nun, diesen mit einer strikten Sparpolitik zu reduzieren. Prestigeprojekte wie die Accra-Tema-Autobahn wurden gestoppt, die Zahl der Botschaften im Ausland nahezu halbiert. Zwar wurde auch die Zahl der Ministerien deutlich reduziert, jedoch nicht die Zahl der Spitzenfunktionäre insgesamt. Da diesen gleichzeitig Kontrolleure aus Militär und Polizei zur Seite gestellt wurden, erhöhte sich die Zahl der Stellen im höheren Dienst erheblich. Der Nationale Befreiungsrat vollzog wirtschaftlich und außenpolitisch eine Kehrtwende nach Westen, und der Internationale Währungsfonds erhielt weit reichenden Einfluss auf die nationale Wirtschaftspolitik. Der ghanaische Markt wurde zugunsten großer ausländischer Firmen geöffnet, Privatisierungen von Staatsbetrieben wurden vorgenommen, die im landwirtschaftlichen Bereich vor allem mittleren und großen Betrieben zugutekamen. Gleichzeitig förderten Gesetze eine „Ghanaisierung“ von Klein- und Mittelbetrieben. Obwohl gewisse Steuern auf Grundnahrungsmittel gesenkt wurden, war die Wirtschaftspolitik in weiten Teilen unpopulär. Die Arbeitslosigkeit stieg durch die Entlassungen im öffentlichen Sektor und in den privatisierten Betrieben, Lohnerhöhungen wurden auf fünf Prozent begrenzt und der Cedi abgewertet, was Importgüter erheblich verteuerte. Es kam zu Streiks in den Goldminen und bei den Eisenbahn- und Hafenarbeitern. 1967 versuchten einige junge Offiziere zu putschen. Der Putschversuch endete mit zwei Todesurteilen. 1969 wurde Generalleutnant Ankrah abgesetzt, da auch er unter Korruptionsverdacht geriet (ausländische Firmen hatten ihm die Gründung einer eigenen politischen Partei finanziert), sein Nachfolger als Staatschef wurde Brigadier Akwasi Afrifa. Afrifa hob unmittelbar nach seiner Amtseinsetzung das Verbot parteipolitischer Betätigung auf und setzte einen Termin für freie Wahlen im August 1969 fest, aus denen eine zivile Regierung unter der Führung Dr. Kofi Abrefa Busias hervorging. Die zweite Republik 1969 bis 1972: Kofi Busia Von 20 Parteien, die eine Kandidatur für die Wahlen angemeldet hatten, wurden fünf Parteien zugelassen. Eindeutiger Wahlsieger mit 105 von 140 Sitzen im Parlament wurde die Progress Party unter Führung von Dr. Kofi Busia, des ehemaligen Führers der Opposition gegen Nkrumah. Auf den zweiten Platz kam die National Alliance of Liberals (NAL) mit 29 Sitzen. Während hinter der Progress Party die konservativen Eliten des Landes standen, war der Führer der NAL ein ehemaliger Minister Nkrumahs, und seine Partei wurde mit der Ära Nkrumah verbunden. Wirtschaftlich setzte Busia den nationalistischen und wirtschaftsliberalen Kurs des Militärregimes fort. Gewisse ökonomische Bereiche wurden für Ghanaer reserviert, gleichzeitig Importbeschränkungen gelockert. Die Regierung konzentrierte sich durchaus erfolgreich auf die Förderung der ländlichen Gebiete (Elektrifizierungsprojekte und Straßenbau), was in erster Linie aber den größeren Farmern zugutekam. Gleichzeitig nahm sie eine deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen breiter Schichten in den Städten in Kauf. Sinkende Einnahmen aus dem Kakaoexport und steigender Schuldendienst führten zu rigiden Sparmaßnahmen. Ein offiziell gegen ausländische Geschäftemacher gerichtetes Ausländergesetz führte zur Vertreibung einer Million afrikanischer Arbeiter und Kleinhändler unter teilweise unmenschlichen Bedingungen. 600.000 der Betroffenen stammten aus Nigeria – das daraufhin zehn Jahre später Ähnliches mit ghanaischen Gastarbeitern im eigenen Land unternahm. Innenpolitisch war auch Busias Regierung nicht frei von undemokratischer Einflussnahme auf Presse und Justiz. Der nationale Dachverband TUC wurde wegen Gewalttätigkeiten bei Streiks verboten, eine neue Gewerkschaft nicht zugelassen. Ethnische Spannungen und Regionalismus nahmen unter der zivilen Regierung zu und die Korruption wurde erneut zu einem großen Problem. Im Rahmen der Sparmaßnahmen wurde auch das Budget der Armee drastisch gekürzt, was dort erhebliche Unzufriedenheit auslöste. Die sozialen Folgen einer 42-prozentigen Abwertung des Cedi 1971 gaben schließlich den Ausschlag für einen Militärputsch Anfang 1972, durch den die zweite Republik ihr Ende fand. Militärherrschaft 1972–1979: Ignatius Kutu Acheampong und die Zeit des Kalabule Das Führungsgremium der Putschisten nannte sich National Redemption Council, also etwa „Nationaler Erlösungsrat“, ihr Anführer war Colonel Ignatius Kutu Acheampong. In den ersten drei Jahren des Regimes führte es einige populäre Maßnahmen durch: die Abwertung des Cedi wurde teilweise zurückgenommen, ebenso die Kürzung der Einkommen von Staatsangestellten. Vor allem aber verweigerte das Regime die Rückzahlung der enormen Schuldenlast des Landes an internationale Gläubiger. Begünstigt durch hohe Gold- und Kakaopreise und erfolgreiche Kampagnen wie Feed yourself („Ernähre dich selbst“) und Feed your industry („Versorge deine Industrie“) kam es zu einer wirtschaftlichen Erholung. Politisch wurde Nkrumah rehabilitiert, und nach seinem Tod 1972 in Bukarest erhielt er ein Staatsbegräbnis in Ghana. Mitte der 1970er Jahre wendete sich das Blatt. Während die Kakaopreise fielen, stieg der Ölpreis. Hinzu kamen mehrere Jahre, in denen die Landwirtschaft unter ungünstigen Wetterverhältnissen litt. Ghana brauchte frische Kredite und musste seine Politik der Schuldzahlungsverweigerung aufgeben. Das Regime begann, Banknoten in großen Mengen zu drucken; die Inflation erreichte Spitzenwerte bis 200 Prozent. Maßnahmen zur Preisregulierung bewirkten nur, dass viele Güter des täglichen Lebens und Ersatzteile aller Art knapp wurden und aus dem offiziellen Wirtschaftskreislauf verschwanden. Günstlinge des Regimes erhielten Importlizenzen – aufgrund der Differenz zwischen offiziellem und Schwarzmarktkurs des Cedi gewissermaßen eine Lizenz zum Gelddrucken: Billig (zum offiziellen Cedikurs) eingekaufte Waren wurden zu Schwarzmarktpreisen verkauft. Die Korruption erreichte nie gekannte Ausmaße. In Ghana ist diese Phase als Zeit des Kalabule bekannt, als Zeit des Schwarzmarktes und der Korruption. In einigen Gebieten des Landes erreichte die Unterversorgung das Ausmaß einer Hungersnot. Acheampong maßte sich diktatorische Gewalt an, ernannte sich selbst zum General und inhaftierte eine große Zahl seiner Gegner. Mehrere Putschversuche scheiterten. Inmitten des allgemeinen Niederganges versuchte er, seine politische Idee einer Unionsregierung per Referendum durchzusetzen. Diese Idee bestand in einer „gemeinsamen“ Regierung von Militär, Polizei und Zivilisten, die im Kern das Militärregime verewigt hätte. 1978 kam es aufgrund des großen Drucks aus der Bevölkerung zu einem Palastputsch jüngerer Offiziere, die den bisherigen Stellvertreter Acheampongs, Fred Akuffo, an seiner Stelle als Oberhaupt des Militärrates einsetzten. Das Parteienverbot wurde aufgehoben, eine neue Verfassung beschlossen und allmählich Militärs in der Regierung durch Zivilisten ersetzt. Im Juni 1979 sollten Wahlen abgehalten werden. 1979–1981: Zwischenspiel Rawlings, Zwischenspiel Limann Unmittelbar vor den Wahlen, am 4. Juni 1979, putschten sich junge Offiziere unter Führung des Fliegerleutnants Jerry Rawlings an die Macht. Sie verkündigten die Absicht, Ghanas politische wie wirtschaftliche Elite von korrupten Mitgliedern zu „reinigen“, um so der neuen Zivilregierung eine bessere Ausgangslage zu verschaffen. Acheampong, Akuffo, Afrifa und andere führende Köpfe des alten Regimes wurden öffentlich hingerichtet. Zur allgemeinen Überraschung wurden nicht nur die Wahlen im Juli 1979 planmäßig durchgeführt, sondern das Militär kehrte auch im September desselben Jahres wieder in die Kasernen zurück und übergab die Macht an den neu gewählten Präsidenten. Dieser Präsident war Hilla Limann von der People’s National Party, die 62 Prozent der Stimmen erhalten hatte und sich in der Tradition von Nkrumahs alter Partei sah. Da sich die neue Regierung durch die außerordentliche Popularität des Ex-Putschisten Jerry Rawlings bedroht sah, schickte er ihn in Pension. Rawlings engagierte sich nun zunehmend als Politiker und Interviewpartner ausländischer Zeitungen. Obwohl Limann selbst frei von Korruptionsverdacht war, gelang es ihm nicht, wirksame Maßnahmen gegen Korruption und Schattenwirtschaft durchzusetzen. Auch seine Wirtschaftspolitik zeigte keine positiven Effekte, die Lage blieb katastrophal. Nach knapp zwei Jahren Zivilregierung übernahm 1981 Jerry Rawlings erneut die Macht. Die Ära Rawlings 1981 bis 2001 Rawlings erließ ein Parteienverbot, hob die Verfassung auf und stellte sich an die Spitze eines „Provisorischen Nationalen Verteidigungsrates“. In seinen ersten Regierungsjahren setzte er bei seinem Kampf gegen Korruption und Schmuggel auf die Mobilisierung breiter Schichten des Volkes und schien eine eindeutig sozialistisch ausgerichtete Politik zu verfolgen. Basiskomitees und Volksgerichte wurden eingerichtet. Politiker und Unternehmer, die durch Korruption reich geworden waren, ließ er anklagen und enteignen. „Volksläden“ sollten die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Anfangs war ihm damit der Beifall der Massen sicher. Der wirtschaftliche Erfolg stellte sich jedoch nicht ein, und gegen Auswüchse des von ihm selbst geschaffenen Systems griff er auch zu wenig populären Disziplinierungsmaßnahmen. Mehrere erfolglose Anschläge wurden auf ihn verübt. Der mit Burkina Fasos Militärmachthaber Thomas Sankara 1985 vereinbarte Zusammenschluss Burkinas Fasos mit Ghana scheiterte jedoch 1987 an der Ermordung Sankaras. Ab 1983 vollzog Rawlings angesichts einer katastrophalen Wirtschaftslage, die durch eine Dürreperiode und die Vertreibung hunderttausender ghanaischer Gastarbeiter aus Nigeria verschärft wurde, eine drastische Kehrtwendung. Sätze wie „Revolutionäre Aktivitäten sind kein Ersatz für produktive Arbeit“ zeigten die neue Linie. Wie andere vor ihm sah er keine Alternative zur Zusammenarbeit mit der Weltbank und dem IWF und deren Konzept der Strukturanpassungsmaßnahmen. Unter dem Namen Economic Recovery Programm (Ökonomisches Erholungsprogramm) erfolgten Preiserhöhungen, Lohnstopp, die Abwertung des Cedi, Schließung oder Privatisierung unproduktiver Staatsbetriebe und eine strikte Sparpolitik. Diese Maßnahmen brachten erhebliche Härten für die Bevölkerung mit sich, die Rawlings nur kraft seiner diktatorischen Gewalt durchsetzen konnte. Die Kinderarbeit nahm zu, der Schulbesuch ab. Widerstand gegen seine Politik ließ er nicht zu, Oppositionelle wurden eingeschüchtert. Erstaunlicherweise war seine Popularität dennoch deutlich größer als die des „Provisorischen Nationalen Verteidigungsrates“. Anfang der 1990er Jahre zeigten sich die Erfolge dieser Maßnahmen. Die Inflation war deutlich zurückgegangen, und zumindest die Lage der ländlichen Bevölkerung hatte sich gebessert. Um den zunehmenden Druck zur Demokratisierung aufzufangen, ließ er 1992 Präsidentenwahlen abhalten, die er mit deutlichem Vorsprung vor seinen Hauptkonkurrenten Albert Adu Boahen und Hilla Limann gewann. Zuvor wurde ein Mehrparteiensystem geschaffen. Unabhängige Beobachter beschrieben diese Wahlen als relativ fair, aber natürlich hatte er den gesamten Regierungsapparat zu seiner Unterstützung bereit. Da die wichtigsten Oppositionsparteien die anschließenden Parlamentswahlen boykottierten, blieb Ghana trotz Wahlen praktisch ein Ein-Parteien-Staat. Wichtigste demokratische Errungenschaft dieser Phase war eine relativ große Pressefreiheit. Die wirtschaftliche Erholung setzte sich fort, allerdings ohne dass es zu einer entscheidenden Verbesserung der Lebensbedingungen breiter Schichten kam. Bei den Wahlen 1996 traten sechs Parteien an. Rawlings National Democratic Party siegte mit 57 Prozent der Stimmen deutlich vor seinem Herausforderer (und späteren Präsidenten) John Agyekum Kufuor. Rawlings selbst brachte anschließend die Diskussion um seine Nachfolge in Gang und kündigte an, dass er gemäß der Verfassung nicht noch einmal zur Wahl antreten werde. In seiner letzten Amtsperiode geriet Ghana wieder in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die terms of Trade, die Bedingungen des Austauschs mit dem Rest der Welt, hatten sich deutlich verschlechtert: Die Rohstoffpreise, sowohl für Gold als auch für Kakao, waren drastisch gesunken, der Ölpreis deutlich gestiegen. Der Cedi stürzte ins Bodenlose. Gleichzeitig berichtete die freie Presse des Landes immer häufiger über Korruption und Misswirtschaft. Der Kandidat der Rawlingspartei NDC für die Wahlen Ende 2000, dessen Vizepräsident John Atta Mills, verlor die Wahlen. Damit endete nach 20 Jahren die Ära von Jerry Rawlings, den die einen als wohlwollenden (und erfolgreichen) Diktator, andere als Tyrannen ansahen. Demokratie seit 2001: John Agyekum Kufuor Sieger der Wahlen 2000 war die New Patriotic Party von John Kufuor, die mit 100 von 200 Sitzen eine relative Mehrheit erhielt. Am 7. Januar 2001 legte John Kufuor seinen Amtseid als Präsident von Ghana ab. Im Jahr darauf ließ er eine so genannte Nationale Versöhnungskommission einrichten, die Menschenrechtsverletzungen durch die verschiedenen widerrechtlichen Regime seit der Unabhängigkeit des Landes untersuchen sollte. Ein erst 2004 bekannt gegebenes Ergebnis dieser Untersuchungen ist unter anderem die Forderung, rund 3000 Opfer der Repression unter Rawlings zu entschädigen. Gleichzeitig setzte aber in den letzten Jahren in Teilen der Bevölkerung eher eine Verklärung der Rawlings-Zeit ein, vergleichbar der Nkrumah-Renaissance der 1970er Jahre. Auch bei den folgenden Wahlen am 7. Dezember 2004 setzte sich John Kufuor gegen John Atta-Mills durch und wurde im ersten Durchgang mit 52,45 Prozent für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. In den vergangenen Jahren hat Ghana tausende von Flüchtlingen aus dem vom Bürgerkrieg erschütterten Nachbarland Elfenbeinküste aufgenommen. Im Jahr 2008 fanden erneut freie demokratische Wahlen statt. Aus Verfassungsgründen konnte sich Präsident Kufuor nicht mehr zur Wahl stellen. Den ersten Wahlgang am 7. Dezember hatte Nana Addo Dankwa Akufo-Addo gewonnen, aber die absolute Mehrheit verfehlt. In der folgenden Stichwahl setzte sich NDC-Politiker Atta-Mills mit 50,23 Prozent der Stimmen durch, während Akufo-Addo nur auf 49,77 Prozent kam, so die Wahlkommission Anfang Januar 2009. Ghana gilt heute als eine der wenigen funktionierenden Demokratien Afrikas. Siehe auch Hochwasser in Ghana 2015 Geschichte Elminas Britisch-Westafrika Geschichte Afrikas Literatur Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarzafrikas. Fischer, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-26417-0. Basil Davidson: A History of West Africa 1000–1800. Longman, 1978, ISBN 0-582-60340-4. J. B. Webster, A. A. Boahen: Revolutionary Years. West Africa Since 1800 (= Growth of African Civilisation.). Longman, 1984. ISBN 0-582-60332-3. Walter Schicho: Handbuch Afrika. In drei Bänden. Band 2: Westafrika und die Inseln im Atlantik. Brandes & Appel, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-86099-121-3. James Anquandah, Benjamin Kankpeyeng, Wazi Apoh (Hrsg.): Current Perspectives in the Archaeology of Ghana. University of Ghana, 2014. Bassey Andah: Agricultural Beginning and Early Farming Communities in West and Central Africa. In: West African Journal of Archaeology. Band 17, 1987, S. 171–204. Report of Investigations at the Birimi Site in Northern Ghana. In: Nyame Akuma. Nr. 48, Dezember 1997, S. 32–38 (PDF). Art. History of Ghana, Britannica Weblinks Heinrich Bergstresser: Ghana: Geschichte und Staat. In: LIPortal: Länder-Informations-Portal, zuletzt aktualisiert im Februar 2018. Bilderarchiv der Basler Mission Zur Geschichte der Fante Anmerkungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Amboise
Schloss Amboise
Das Schloss Amboise () steht in der mittelfranzösischen Kleinstadt Amboise im Département Indre-et-Loire der Region Centre-Val de Loire. Das über der Stadt und der Loire auf einem Felsplateau errichtete Schloss zählt kulturhistorisch zu den wichtigsten Schlössern der Loire und war im 15. und 16. Jahrhundert häufig königliche Residenz. Es steht seit 1840 als klassifiziertes Monument historique unter Denkmalschutz. Erst war die Anlage ein gallisches Oppidum, dann ein römisches , ehe die Befestigung im 10. Jahrhundert ausgebaut und verstärkt wurde. Ihre größte Blütezeit erlebte sie im 15. Jahrhundert unter dem französischen König Karl VIII., der die Grundfläche der Anlage beträchtlich vergrößerte und sie zu seiner Hauptresidenz machte. Durch einen italienischen Landschaftsarchitekten erhielt Amboise ab 1495 den ersten Renaissancegarten Frankreichs. Nachfolgende Monarchen bauten das Schloss weiter aus, sodass es Mitte des 16. Jahrhunderts mit seinen 247 Zimmern und drei Höfen die größte Schlossanlage aus der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Renaissance war. Von seiner Bausubstanz ist aber nur noch ein Bruchteil erhalten, und es besteht heute aus einem zweiflügeligen Wohnbau (Logis), einer Schlosskapelle, einigen Räumen auf Niveau der einstigen Kellergeschosse und vier Rundtürmen, die an den Ecken einer langen Ringmauer stehen. Schon im 17. Jahrhundert zog die Anlage Reisende und Besucher an. Dies waren zum Beispiel der Däne Peter Eisenberg (1614) und der Engländer John Evelyn (1644), aber vor allem viele Franzosen wie Léon Godefroy (1638), François-Nicolas Baudot (1646–1647) oder auch Jean de La Fontaine (1663) und Étienne Mignot de Montigny (1752). Im Gegensatz zu ihnen, die freiwillig nach Amboise kamen, gab es auch viele Bewohner, die als Gefangene des französischen Königs im Schloss Quartier bezogen. Zu diesen zählten unter anderem die Brüder César und Alexandre de Bourbon, Nicolas Fouquet, Antonin Nompar de Caumont und Abd el-Kader. Auch heute noch steht die Anlage Besuchern offen und zählt zu den beliebtesten Touristenzielen im mittleren Loiretal. Im Logis ist ein Interieurmuseum eingerichtet. Geschichte Vorgängerbauten Vom keltischen Oppidum zur ersten Burg Das () genannte Plateau, auf dem das heutige Schloss steht, war mindestens seit der Jungsteinzeit besiedelt. Für die Latènezeit ist dort ein Oppidum der Turonen verbürgt, das in gallorömischer Zeit unter dem lateinischen Namen bekannt war. Der römische Statthalter Anician hatte das Areal durch Anlage eines tiefen Grabens an der Ostseite im 4. Jahrhundert befestigen lassen, denn es lag strategisch günstig an einer Furt der Loire. Diese ließ Anician mit einer hölzernen Brücke überspannen, sodass dem eine wichtige Bedeutung zukam. Im Jahr 503 trafen sich der westfränkische König Chlodwig I. und Alarich II., König der Westgoten, auf der vor Amboise liegenden Loire-Insel Saint-Jean (damals () genannt), zu einem Friedensschluss. 853 und 877/878 überfielen Normannen Amboise und zerstörten es. Der Karolinger Ludwig der Stammler beauftragte Ingelger, den Vizegrafen von Angers, mit der Sicherung und Verteidigung von Amboise gegen die normannischen Invasoren, denn der Vizegraf hatte sich bei der Verteidigung der Touraine hervorgetan. Ingelger hatte vorher die ruinöse Befestigung in Amboise von Adalhard, dem Bischof von Tours und Onkel seiner Frau Adelais, erhalten und baute auf dem Felsplateau um 882 eine neue Burg. Allerdings hatte Karl der Kahle schon um 840 den Ort Amboise dem Ritter Aymon (auch Haimon geschrieben) de Buzançais als seinem Statthalter übertragen, sodass fortan das erste Haus Anjou und die Familie de Buzançais um die Vorherrschaft in Amboise stritten. Besitz der Grafen von Anjou und der Familie von Amboise Ingelgers Sohn Fulko I. wurde erster Graf von Anjou und baute die Burg seines Vaters weiter aus, aber von dieser Anlage ist heute nichts mehr erhalten. Über seinen Sohn Fulko II. kam die Burg um 958 an Gottfried I., der sie durch einen zusätzlichen Graben sichern ließ. Anschließend beauftragte er Landri de Dunois mit der Bewachung der Burg, doch sein Vasall verriet ihn an Odo I., den Grafen von Blois, mit denen Gottfrieds Familie schon geraume Zeit um die Vorherrschaft im Anjou stritt. Landri beabsichtigte, Amboise dem verfeindeten Grafen zu übergeben, was aber Gottfrieds Sohn Fulko III. in Zusammenarbeit mit der Familie de Buzançais verhindern konnte. Fulko III. machte eine Pilgerreise ins Heilige Land und brachte bei seiner Rückkehr Reliquien mit. Als ihren Aufbewahrungsort ließ er ab 1003 oder 1004 vor der Burg die Kollegiatkirche Notre-Dame-Saint-Florentin-du-Château errichten und auch die Gebeine des heiligen Florentins dorthin überführen. Nachdem Fulko den Sakralbau gegen 1030 hatte vergrößern lassen, wurde er 1044 zur Pfarrkirche erhoben. Als Bewacher von Burg und Kirche setzte er Lisois de Bazougers ein. Dieser heiratete Hersende, die Nichte von Sulpice de Buzançais, der um 1015 im Ort zu Füßen der Burg einen steinernen Wohnturm hatte errichten lassen. Durch die Heirat kam Lisois in den Besitz dieses Wohnturms. Nach dem Tod Fulkos III. setzte sein Sohn Gottfried II. den väterlichen Kampf gegen die Grafen von Blois fort und konnte 1044 schließlich Theobald III. in der Schlacht bei Nouy schlagen. Lisois de Bazougers hatte ihm dabei zur Seite gestanden, und Gottfried II. belohnte ihn dafür mit einem Teil des Ortes Amboise. Weil Lisois durch Heirat und Erbe schon große Teile der Siedlung in seinem Besitz gehabt hatte, war er fortan unumstrittener Herr von Amboise, der von seinem Sohn Sulpice I. beerbt wurde. Dieser nannte sich nicht mehr de Bazougers, sondern dʼAmboise und musste miterleben, wie sich nach dem kinderlosen Tod des Grafen Gottfried II. im Jahr 1060 dessen Neffen aus dem Haus Château-Landon um die Grafschaft Anjou stritten. Bei den Kämpfen wurde die Burg in Amboise in Mitleidenschaft gezogen und 1069 durch Brand stark beschädigt. Sulpices Sohn Hugues I. ließ die Burganlage um 1115 wiederaufbauen. Auch die Familie von Amboise lag im Streit mit dem östlichen Nachbarn aus der Grafschaft Blois. Theobald V. von Blois nahm Sohn und Enkel Huguesʼ I. gefangen und besetzte ihre Burg. Sulpice II. dʼAmboise starb in der Gefangenschaft, aber sein Sohn Hugues II. erlangte auf Intervention Heinrich Plantagenets, dem damaligen Grafen von Anjou und zukünftigen englischen König, seine Freiheit wieder. Heinrich nahm Theobald die von ihm eroberte Burg Amboise wieder ab, ließ sie verstärken und 1157 vorübergehend mit eigenen Soldaten besetzen. Als sich das Haus Amboise zu Beginn des 14. Jahrhunderts in eine ältere und eine jüngere Linie teilte, erhielt Pierre I. Amboise, während sein jüngerer Bruder Hugues die Besitzungen in Chaumont-sur-Loire erhielt. Da Pierres Sohn, Pierre II., bei seinem Tod 1422 keine Kinder hinterließ, gingen Burg und Seigneurie Amboise an seinen Neffen, Louis, einen Sohn von Pierres II. Bruder Ingelger II. Weil sich der neue Burgherr an einem Komplott gegen Georges de La Trémoille, einen Günstling des Königs Karl VII., beteiligte, wurde er 1431 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und all seine Güter von der Krone konfisziert. Der König begnadigte ihn später und änderte das Urteil in eine Gefängnisstrafe, ehe Louis dʼAmboise 1434 sogar wieder freigelassen wurde und er – mit wenigen Ausnahmen – all seine eingezogenen Besitzungen zurückerhielt. Zu den Ausnahmen zählte die Anlage in Amboise, die der König 1434 endgültig der Krondomäne einverleibte. Königsresidenz Ausbau unter Ludwig XI. Karl VII. hielt sich nicht häufig in Amboise auf, nur drei Besuche sind von ihm überliefert. Und obwohl die Anlage nun nicht mehr nur militärische Festung, sondern auch königliche Residenz war, ist nicht sicher, ob er Bauarbeiten an den Burggebäuden vornehmen ließ. Fest steht lediglich, dass er das durch ein Feuer 1445 zerstörte Dach und Archiv der Kirche Notre-Dame-Saint-Florentin wiederaufbauen und dabei den Glockenturm mit einem hohen spitzen Helm ausstatten ließ. Erst Karls Nachfolger Ludwig XI. begann mit einem Ausbau der Anlage, obwohl er für sich selbst und seinen Hof Plessis-lès-Tours als Wohnsitz bevorzugte. Zum einen ließ er die Befestigungen verstärken, zum anderen sorgte er für den Bau einer standesgemäßen Unterkunft für seine Frau Charlotte von Savoyen und die gemeinsamen Kinder Karl, Anne und Jeanne. Die Arbeiten dazu begannen um 1463 und endeten 1468. Zuerst wurden alte Gebäude abgerissen, um Platz für Neubauten zu schaffen. Dann entstand am südlichen Rand der Anlage ein neuer Wohnbau nebst einer Kapelle, die direkt mit den Gemächern des Königs verbunden war. Zusätzlich ließ Ludwig XI. 1466 mit dem Garçonnet-Turm () einen Rundturm an der Westspitze des Burgfelsen bauen, in dessen Innerem eine breite Wendeltreppe Fußgängern den bequemen Aufstieg vom Fuß des Felsens zum Burgplateau ermöglichte. Zwischen ihm und dem Logis lag ein Küchentrakt, der – ebenso wie der Wohnbau – an der Hofseite hölzerne Galerien besaß. 1481 ließ der König zudem den offiziellen Zugang zur Residenz an deren Ostseite durch das Löwentor () sichern. Zu jener Zeit gab es für die Kanoniker der Kirche Notre-Dame-Saint-Florentin einen weiteren Zugang zum Burgareal, der aus einer durch den Fels getriebenen Rampe mit Zugbrücken bestand. Aus Angst vor Pesterkrankungen seiner Familie ließ Ludwig XI. die Kirche jedoch 1471 für die Bewohner von Amboise sperren und zwang die Geistlichen, das Schloss zu verlassen und in die Stadt umzuziehen. Zwei Jahre früher, am 1. August 1469, hatte er in jener Kirche den Michaelsorden gegründet. Hauptresidenz unter Karl VIII. 1470 war in Amboise der Thronfolger Karl VIII. zur Welt gekommen und verbrachte dort eine unbeschwerte Kindheit. Nachdem er 1483 den französischen Thron bestiegen hatte, residierte auch seine junge Verlobte Margarete von Österreich in Amboise, ehe sie wieder in die Niederlande zurückkehren musste, weil Karl die Verlobung löste, um 1491 Anne de Bretagne zu heiraten. Schon 1489 hatte der König daran gedacht, Amboise zu seiner Hauptresidenz zu machen und die Anlage entsprechend zu vergrößern sowie umzugestalten. Deshalb begannen in jenem Jahr erste Terrassierungsarbeiten auf dem Felsen. Nach seiner Hochzeit setzte er seine Pläne dann ab etwa 1492 in die Tat um. Die Finanzierung der teuren Bauarbeiten erfolgte zum Teil aus der unpopulären Salzsteuer. 44.000 Livres gab Karl VIII. allein im Jahr 1492 für die Erweiterung des Schlosses aus. Der Monarch wünschte sich schnellstmöglich eine angemessene und repräsentative Residenz und drängte bei den Bauarbeiten zu größter Eile. Selbst in der Nacht und im Winter wurde auf der Baustelle gearbeitet. 1494/1495 waren dort mehr als 170 Maurer beschäftigt, unterstützt von 70 bis 90 Arbeitern. Als Baumeister waren Colin Biart, Guillaume Senault, Louis Armangeart, Pierre Trinqueau und Jacques Sourdeau für den König tätig. Die Bauaufsicht oblag Raymond de Dezest, der seit 1491 Kammerherr Karls VIII. und später auch Baillie von Amboise sowie Schatzmeister von Frankreich im Languedoc war. Als Bildhauer sind die flämischen Künstler Casin dʼUtrecht und Cornille de Nesve verbürgt. Sie zeichneten für die Skulpturen der neuen Hubertuskapelle verantwortlich, die bis 1493 über der bisherigen Burgkapelle entstand. Allerdings wurde der neue Sakralbau erst seit dem 19. Jahrhundert so genannt. Bis dahin war er unter den Bezeichnungen Kapelle des Königs (), Donjon-Kapelle () oder einfach neue Kapelle () bekannt. Er war direkt mit den Räumen der Königin verbunden, die gemeinsam mit ihrem Mann noch das von ihrem Schwiegervater erbaute Logis bewohnte. Dies wollte Karl VIII. aber ändern und ließ ab 1494 an der Südseite das Haus der sieben Tugenden () errichten. Das Gebäude erhielt seinen Namen von allegorischen Terrakotta-Statuen an seiner Fassade. 1494/1495 unternahm Karl VIII. einen politisch nicht besonders erfolgreichen Italien-Feldzug. Der Reichtum der dortigen Patrizierpaläste und der Prunk des Hoflebens in Italien beeindruckten den König so stark, dass er sich entschloss, etwas Vergleichbares in Frankreich zu schaffen. So brachte er bei seiner Rückkehr nach Frankreich nicht nur zahlreiche Kunstwerke und prächtige Ausstattungsstücke für seine Residenz mit nach Amboise, sondern in seinem Gefolge auch 22 italienische Künstler, Handwerker, Gelehrte und Architekten, die sich an der weiteren Gestaltung des Schlosses beteiligten. Sie waren verantwortlich für den Beginn der Renaissance in Frankreich. Allerdings war ihr Einfluss auf das Aussehen der Anlage in Amboise relativ gering, weil der Bau schon sehr weit fortgeschritten war. Lediglich an einigen Stellen im Inneren ist der neue Stil bemerkbar. Eine Ausnahme bildete der auf einer zur Loire gelegenen Terrasse angelegte Schlossgarten, mit dessen Gestaltung aller Wahrscheinlichkeit nach Pacello da Mercogliano betraut war. Der Ziergarten nach italienischen Vorbildern war der erste Renaissancegarten Frankreichs, in ihm standen aber auch einige Obstbäume zur Versorgung der Schlossbewohner. Das Haus der sieben Tugenden war zu jener Zeit schon weit fortgeschritten, allerdings war es erst 1498 endgültig bezugsfertig. Ursprünglich als neue Unterkunft für König und Königin sowie für öffentliche Zwecke gedacht, entschied sich Karl nach Baubeginn um und ließ ab etwa 1496 am Nordrand des Schlossplateaus an der zur Loire gelegenen Seite ein weiteres Gebäude mit einem großen Saal bauen, der Logis des Königs () genannt wurde. Vielleicht verfolgte Karl VIII. damit die Absicht, Privates und Staatsgeschäfte voneinander zu trennen. Außerdem ließ der Monarch ab etwa Herbst 1495 mit dem Minimes-Turm () und ab 1497 mit dem Heurtault-Turm () zwei mächtige Rundtürme errichten. Sie besaßen im Inneren breite Rampen, die sich spiralförmig nach oben wanden, und ermöglichten es, das Schlossplateau zu Pferde und sogar mit Karren zu erreichen. Diese Türme () hatten möglicherweise den Turm mit Reiterrampe im Schloss von Urbino zum Vorbild. Karl VIII. plante noch einen dritten Turm dieser Art an der Nordost-Ecke des Schlossgartens, um über diesen bequem den von ihm unterstützten Paulanerkonvent zu Füßen des Schlosses erreichen zu können. Der Turm wurde aber nie fertiggestellt, lediglich einige Steinreste zeugen von dem Vorhaben. Amboise verliert an Bedeutung Noch bevor die Arbeiten am Schloss beendet waren, verunglückte der König im Jahr 1498 tödlich. Sein Nachfolger war der Herzog von Orleans, der als Ludwig XII. den Thron bestieg. Er bevorzugte seinen Geburtsort Blois als Residenz, wohin er 1499 nach seiner Hochzeit mit Anne de Bretagne, der Witwe seines Vorgängers, umzog. Das Königspaar hielt sich nur noch selten in Amboise auf. Das Schloss überließ der König Luise von Savoyen und ihren beiden Kindern Margarete und Franz, dem designierten Thronfolger. Während Ludwig XII. in Blois große Umgestaltungen und Erweiterungen vornehmen ließ, beschränkte er sich im Amboise darauf, ab 1500/1501 die Pläne seines Vorgängers in vereinfachter Form weiterzuführen. Durch den Baumeister Gatien Fordebraz ließ er das Logis des Königs und bis 1503 den Heurtault-Turm fertigstellen. Außerdem erfolgte unter ihm die Vollendung des Schlossgartens und an dessen Nordseite der Bau einer Galerie. Erst nach der Thronbesteigung von Franz I. erlebte das Schloss eine neue Blüte. Der junge König war in Amboise aufgewachsen und verbrachte dort gemeinsam mit seiner Frau Claude de France die ersten drei Regierungsjahre, in denen er ab 1515 einen Flügel des Logis des Königs um ein Geschoss aufstocken und ihn im Inneren umgestalten ließ. Das Gebäude beherbergte nach Abschluss der Arbeiten die Appartements des königlichen Paars, während das Haus der sieben Tugenden nur noch dazu genutzt wurde, Gäste und Höflinge unterzubringen. Die Bauaufsicht oblag François de Pontbriant und Antoine de Troyes, die später auch für den Bau des Schlosses Chambord verantwortlich waren. Zugleich veranstaltete der König große Feste, Jagdgesellschaften, Turniere und Maskenbälle, zum Beispiel aus Anlass der Hochzeit Antons II. von Lothringen mit Renée de Bourbon-Montpensier, bei der Taufe des Thronfolgers Franz am 25. April 1518 und bei der Heirat Madeleine de La Tour d’Auvergnes mit dem Herzog von Urbino, Lorenzo de’ Medici. Der König förderte die Kunst und rief berühmte Künstler und Gelehrte an seinen Hof. So kam 1516 Leonardo da Vinci nach Amboise und verbrachte im unweit gelegenen Herrenhaus Le Clos Lucé seine letzten Jahre, ehe er 1519 in der Kirche auf dem Schlossareal bestattet wurde. Dann aber wandte sich das Interesse des Monarchen anderen Königsschlössern zu, zum Beispiel Blois, Fontainebleau, Saint-Germain-en-Laye und Chambord. Zwar wohnte die Königinmutter noch bis zu ihrem Tod 1531 in Amboise, aber danach war die Anlage quasi ungenutzt. 1539 ließ Franz I. sämtliche Möbel entfernen und in andere Schlösser bringen, weshalb anlässlich eines Besuchs des Kaisers Karl V. im Dezember desselben Jahres eiligst eine neue Ausstattung herangeschafft werden musste. Das ihm zu Ehren ausgerichtete Fest war zugleich die letzte große Festivität, die das Schloss sah. Allmählicher Niedergang Kaum genutzt, dann Staatsgefängnis Erst mit dem Einzug Katharina von Medicis kam neues Leben in die vernachlässigte Anlage. Nach dem Tod Franzʼ I. war dessen Sohn Heinrich II. neuer König von Frankreich geworden. Seine Frau Katharina entdeckte Amboise für sich und bezog den neuen Flügel des Logis des Königs den sie durch Anbauten vergrößerte. So entstand zum Beispiel an der Hofseite auf Höhe des ersten Obergeschosses ein pavillonartiger Anbau, der auf vier steinernen Pfeilern stand. Für den König und seine Kinder wurde im östlichen Teil des Gartens ein Neubau parallel zu dem von Katharina bewohnten Flügel errichtet. Allerdings sollte die Königin nicht unangefochtene Herrin von Amboise bleiben. Diane de Poitiers, die Mätresse Heinrichs II., plante, sich direkt östlich des Schlosses vor dem Löwentor ein Palais zu errichten und kaufte dafür Land an. Sie setzte das Bauvorhaben aber nie in die Tat um. Genauso verhielt es sich mit dem Plan der Königsfamilie, das gesamte Schloss einheitlicher zu gestalten. Ehe mit der Verwirklichung begonnen werden konnte, starb Heinrich II. im Juli 1559, und die Krone fiel an seinen erst 15-jährigen Sohn Franz II. Während seiner Herrschaft ereignete sich im Verlauf der französischen Religionskriege 1560 die von Hugenotten angezettelte Verschwörung von Amboise, die zum Ziel hatte, den jungen König dem Einfluss seiner katholischen Berater zu entziehen. Die Verschwörer wurden aber in den Wäldern um Amboise gestellt, überwältigt und anschließend ohne Gnade hingerichtet. Die Königsfamilie wohnte den Exekutionen bei, verließ aber unter dem Eindruck des Blutvergießens das Schloss und hielt sich später nur noch selten in Amboise auf. 1563 unterzeichnete dort Katharina von Medici als Regentin für ihren zweiten Sohn Karl IX. das Edikt von Amboise, das den ersten Hugenottenkrieg beendete. Es war allerdings der letzte Regierungsakt der französischen Krone in Amboise, danach diente die Anlage nur noch als militärischer Stützpunkt und als Gefängnis. Nachdem Heinrich III. von Frankreich im Dezember 1588 während der Generalstände in Blois den Herzog von Guise und dessen Bruder Louis hatte ermorden lassen, ließ er Verwandte von ihnen wie den Herzog von Elbeuf und den Kardinal von Bourbon in Amboise einkerkern. König Heinrich IV. weilte nur zu kurzen Jagdaufenthalten auf dem Schloss, und auch sein Nachfolger Ludwig XIII. hielt sich nur für kurze Jagdausflüge dort auf. Ab Frühjahr 1624 war der Oberintendant der Finanzen, Charles I. de La Vieuville, für 13 Monate in Amboise eingesperrt, und nach der Verschwörung des Grafen von Chalais, Henri de Talleyrand, schickte der König die beiden daran beteiligten Söhne Gabrielle d’Estréesʼ, César und Alexandre de Bourbon, am 10. Juni 1616 in die Gefängnisse, die in den großen Rundtürme untergebracht waren. 1627 gab Ludwig XIII. die Anlage als Apanage an seinen Bruder Gaston d’Orléans, doch der kümmerte sich nicht darum. Nach dem Journée des dupes im November 1630, bei dem Gaston der unterlegenen angehört hatte, wurde das Schloss auf Befehl Kardinal Richelieus am 5. April 1631 von königlichen Soldaten eingenommen und anschließend geschleift. Möglicherweise erfolgte bei diesen Maßnahmen auch der Abriss der beiden kleineren Rundtürme, des Garçonnet-Turms und des , bis auf ihr heutiges Niveau auf Höhe des Schlosshofs. Die entfestigte Anlage kam anschließend in die Obhut des Marschalls von Frankreich, Gaspard III. de Coligny, gegeben. Nach dem Tod Gastons 1660 fiel das derweil nicht mehr bewohnbare Schloss wieder der Krondomäne zu und diente erneut als Staatsgefängnis. Die unter Ludwig XI. errichteten Gebäude im westlichen Bereich des Schlossplateaus waren zu jener Zeit schon niedergelegt worden. Zu den prominenten Gefangenen unter Ludwig XIV. zählte dessen ehemaliger Finanzminister Nicolas Fouquet, der im Dezember 1661 nach Amboise kam, ehe er in die Festung von Pinerolo verlegt wurde. Später verbrachte dort der Herzog von Lauzun einige Jahre seiner Verbannung vom Hof, ehe der König ihn begnadigte. Eigentum der Herzöge von Choiseul und Penthièvre 1714 gab Ludwig XIV. die Schlossanlage als Wittum an die Frau seines verstorbenen Enkels Marie Louise Élisabeth d’Orléans, die Herzogin von Berry. Zu jener Zeit waren die Gebäude aber wegen fehlenden Unterhaltes schon in einem schlechten baulichen Zustand und der innere Graben verschwunden. Nach dem Tod des Königs beauftragte der Regent für Ludwig XV., der zugleich Vater Marie Louise Élisabeths war, den Architekten Robert de Cotte mit einer Bestandsaufnahme des Schlosses und einer Bedarfsermittlung für Instandsetzungen und Umbauten. Allein die veranschlagten Reparaturkosten beliefen sich auf 433.000 Livres, die hinzukommenden Umbaukosten lagen bei geschätzten weiteren 454.000 Livres. Entsprechend wurde Schloss Amboise nicht umgebaut, sondern weiter vernachlässigt und der Herzoginwitwe durch Ludwig XV. das Schloss Meudon als Ersatz zugesprochen. Die heruntergekommene Anlage samt Baronie und Wald von Amboise kam am 25. März 1763 an den Herzog von Choiseul, der rund zwei Jahre zuvor, am 24. Februar 1761, schon das nahe gelegene Schloss Chanteloup erworben hatte. Er erhielt den Besitz im Tausch gegen andere seiner Ländereien, unter anderem das Marquisat Pompadour sowie Choiseul, und der König erhob ihn am 10. Januar 1764 zum Herzog von Choiseul-Amboise. Allerdings wohnte er niemals im Schloss, sondern residierte in Chanteloup. Die Schlossgebäude von Amboise überließ er zum Teil einigen Unternehmern, die dort eine Manufaktur für Eisenwaren und Schmuck sowie eine Seidenweberei einrichteten. Der Herzog selbst nutzte die westlichen Gebäude zwischen dem Haus der sieben Tugenden und der Hubertuskapelle ab 1772 als Knopfmanufaktur. Auch der Schlossgarten erfuhr eine Umgestaltung durch Abriss seiner Galerie und das Ersetzen der Kompartimente 1779 durch Lindenpflanzungen in Quinconce-Anordnung. Beim Tod Choiseuls im Mai 1785 kaufte die Krone das gesamte Herzogtum Choiseul-Amboise von seiner Witwe, um es – gemeinsam mit Vernon und Bizy in der Normandie – am 20. Juli 1786 im Austausch gegen das Fürstentum Dombes und zusätzliche 4.060.000 Livres an Louis Jean Marie de Bourbon, den Herzog von Penthièvre, weiterzugeben. Der reichste Edelmann seiner Zeit – ihm gehörten mehr als 20 Schlösser und Herrenhäuser – ließ bis 1790 Instandsetzungen und Veränderungen zugunsten des Wohnkomforts an dengo Schlossgebäuden vornehmen. Für den neuen Schlossherrn und seine Familie wurden im Logis des Königs neue Appartements eingerichtet, darunter auch eines für seine verwitwete Schwiegertochter Marie-Louise von Savoyen-Carignan. Im Erdgeschoss des Minimes-Turms entstanden Gemächer für seine Tochter Louise Marie Adélaïde, die durch Heirat mit Louis-Philippe II. Joseph de Bourbon Herzogin von Orléans war. Die Umbauten nahmen wenig Rücksicht auf die vorhandene Bausubstanz: Im großen Saal kam es zum Beispiel zur Entfernung der Säulen und des Gewölbes sowie zur Unterteilung des Raums durch Zwischenwände. In einem Pavillon des Gebäudes wurden Arbeitszimmer eingerichtet und der Bau seit jener Zeit Penthièvre-Pavillon () genannt. Außerdem ließ der Herzog einen englischen Landschaftsgarten im Bereich der ehemaligen Vorburg anlegen, der aber schon 1815 wieder eine Umgestaltung erhielt. Auf dem Garçonnet-Turm wurde ein kleiner Pavillon errichtet und diverse Mauern sowie Mauerreste und Teile der westlichen Wohnbebauung niedergelegt, um eine große Esplanade im Westbereich des Schlossareals zu erhalten. Teilabriss in napoleonischer Zeit Die Französische Revolution hatte – im Gegensatz zu vielen anderen Adelssitzen in Frankreich – kaum Auswirkungen auf Schloss Amboise. Ein Feuer im Jahr 1789 beschädigte lediglich einen Teil des Hauses der sieben Tugenden. Beim Tod des Herzogs von Penthièvre im März 1793 erbte seine Tochter Louise Marie Adélaïde den Besitz. Nachdem sie im darauffolgenden April in Paris unter Arrest gestellt worden war, wurde ihr Schloss in Amboise am 22. November 1793 konfisziert, um verkauft zu werden. Nach der Schließung der Kollegiatkirche kam es zur Vertreibung der Geistlichen. Weil die Republik die Anlage aber als Gefängnis und Veteranenwohnheim benötigte, ließ die Revolutionsregierung ihre Verkaufspläne wieder fallen. Nachdem die Herzogin von Orléans, nun „Witwe Égalité“ genannt, am 31. August 1795 freigelassen worden war, erhielt sie 1797 sogar das Schloss zurück, allerdings verlor sie es durch den Staatsstreich am 4. September 1797 erneut. Das Logis des Königs ging 1803 an die Stadt, die darin eine weiterführende Schule einrichtete. Noch im gleichen Jahr aber gab Napoleon das Schloss als Sitz einer Senatorie an seinen Konsulatsgefährten Roger Ducos, der es im November 1803 offiziell in Besitz nahm. Der wollte die sehr heruntergekommene Anlage zu seinem Hauptwohnsitz machen, hatte aber nicht ausreichende finanzielle Mittel, um alle baufälligen Gebäude instand setzen zu lassen und unterhalten zu können. Er ließ deshalb in der Zeit von 1806 bis 1810 diverse Bauten niederlegen, darunter das Haus der sieben Tugenden (1806/1807), das daneben liegende ehemalige Logis der Königin an der Hubertuskapelle sowie die romanische Stiftskirche mit dem Grab Leonardo da Vincis (1807), weil sie ihm die „Sicht verstellte“. Auch der Flügel Heinrichs II. fiel dem Abbruch zum Opfer. Nur das Logis des Königs ließ Ducos stehen, denn dieses wollte er als Wohnung nutzen, entfernte aber die Anbauten aus der Zeit Katharina von Medicis. Das beim Abbruch gewonnene Material verkaufte er und nutzte den Erlös für Arbeiten an dem erhaltenen Teil des Schlosses. Dazu zählten ab 1808 nicht nur Modernisierungen am Logis, sondern auch der Umbau des einstigen Wohnhauses für die Stiftsherren zu Pferdeställen und einer Remise sowie die Erweiterung und Veränderung des Landschaftsgartens durch den Architekten Thomas Pierre Baraguay. Bezugsfertig war Ducos Wohnsitz erst im April 1811. Am Ende des Ersten Kaiserreichs wurden die Senatorien im Juli 1814 aufgelöst, und Ducos verlor den Besitz, den die aus dem spanischen Exil zurückgekehrte Herzogin von Orléans am 1. September zurückerhielt. Allerdings unterbrach Napoleons Herrschaft der Hundert Tage noch einmal die Verfügungsgewalt des Hauses Orléans über die Schlossanlage, die ab April 1815 als Waffen- und Munitionslager diente. Restaurierungen Instandsetzungen unter König Louis-Philippe Louise Marie Adélaïde de Bourbon-Penthièvre konnte erst seit der Restauration durch Verordnung vom 8. Februar 1816 wieder über den Besitz verfügen. Sie ließ das Schloss zwar wieder möblieren, hielt sich aber mit Ausnahme des Julis 1818 niemals dort auf. Nach ihrem Tod im Jahr 1821 erbte ihr Sohn, der spätere König Louis-Philippe, das Schloss mit allen Besitzungen. Allerdings nutzte er es niemals als Wohnsitz. Als 1824 ein Stück Mauer eingestürzt war und die herabstürzenden Trümmer zwei Anwohner von Amboise getötet hatten, wurde der erneute, dringende Reparaturbedarf der Anlage offensichtlich. Louis-Philippe beauftragte den Architekten Pierre-François-Léonard Fontaine, der schon für Napoleon, Ludwig XVIII. und Karl X. gearbeitet hatte, mit der Restaurierung aller erhaltenen Gebäude. Unter Fontaine und seiner rechten Hand Pierre Bernard Lefranc fanden umfassende Reparaturen und Wiederherstellungsmaßnahmen statt, 1835 beginnend mit der Restaurierung der Schlosskapelle, die zuvor 20 Jahre lang als Dienststelle der schlosseigenen Polizei genutzt worden war. Sie erhielt dabei neue Fenster mit Glasmalereien, die aus Sèvres stammten. Der König ließ nicht nur das Innere des Schlosses nach dem Geschmack der Zeit einrichten, sondern kaufte auch 46 Häuser entlang der Ringmauer auf, um sie abzureißen und der Schlossanlage auf diese Weise ihren freistehenden Charakter wiederzugeben. Die Arbeiten dauerten bis mindestens 1842, wobei der Minimes-Turm einen Aufsatz mit Esszimmer und Salon erhielt und das noch erhaltene Untergeschoss des niedergelegten Hauses der sieben Tugenden zu Pferdeställen umfunktioniert wurde. Nach der Februarrevolution 1848 musste der König abdanken und ins Exil nach England gehen, seine Güter blieben ihm aber vorerst erhalten. Der Staat mietete das Schloss von Amboise an, um es vier Jahre lang als Gefängnis für den algerischen Widerstandskämpfer Abd el-Kader zu nutzen. Diese Nutzung hatte die Einrichtung einer Moschee im Minimes-Turm zur Folge. Vom 8. November 1848 bis zum 17. Oktober 1852 hielt er sich zusammen mit seiner Entourage, bestehend aus Familie und Bediensteten, im Schloss auf, ehe Napoleon III. ihn begnadigte. Während seines Hausarrests starben mehrere Begleiter Abd el-Kaders, unter anderem eine seiner Frauen. Ein 1853 errichtetes Zenotaph im Schlossgarten erinnert an die in französischer Gefangenschaft gestorbenen Mitglieder seines Gefolges. Umfassende Restaurierung durch die Architekten Ruprich Robert Zu Beginn des Zweiten Kaiserreichs wurde das Schloss am 22. Januar 1852 als königlicher Besitz wieder konfisziert und ging anschließend in das Eigentum der Stadt über. Unter der Leitung von Arsène Houssaye, dem , fanden ab Juni 1863 erstmals Ausgrabungen auf dem Schlossareal statt. Dabei stieß man auf dem Areal der abgerissenen Kirche Notre-Dame-Saint-Florentin auf Gebeine, die man für die sterblichen Überreste Leonardo da Vincis hielt und 1874 in ein neues Grab in der Hubertuskapelle umbettete. In jenem Jahr begannen weitere umfassende Restaurierungsarbeiten, die das Haus Orléans angestoßen hatte, denn 1873 war Schloss Amboise den einstigen Eigentümern erneut zurückgegeben worden. Es war wieder in einem schlechten baulichen Zustand. Schätzungen der Kosten für nötige Reparaturen und Instandsetzungen beliefen sich im Jahr 1868 auf 150.000 Francs geschätzt. Mit den neuerlichen Maßnahmen verfolgte der neue Schlossherr Philippe dʼOrléans allerdings nicht das Ziel, den Originalzustand der Gebäude wiederherzustellen, sondern der erhaltenen Bausubstanz eine einheitliche Erscheinung zu geben. Das bedingte auch, dass die zum Teil sehr phantasievollen neugotischen Ergänzungen der Restaurierungen aus der Zeit Louis-Philippes wieder entfernt wurden. Die Arbeiten in der Manier von Eugène Viollet-le-Duc fanden zunächst nach Entwürfen des Architekten Victor Ruprich-Robert statt. Nach dessen Tod im Jahr 1887 führte sein Sohn Gabriel das Projekt fort. Beide arbeiteten mit dem Bildhauer Eugène Legrain zusammen. In einer ersten Phase von 1874 bis 1878 fanden Arbeiten im Inneren des loireseitigen Logis-Flügels und am Minimes-Turm statt, bei denen der unter Fontaine gebaute Turmaufsatz durch ein Geschoss mit Zinnenkranz ersetzt wurde. In einer zweiten Phase von 1879 bis 1883 folgten die Überarbeitung und der Rückbau der Hubertuskapelle, bei denen sie ihr heutiges Aussehen erhielt. Die Restaurierung der Anlage fand ein vorläufiges Ende, als Philippe dʼOrléans durch das am 22. Juni 1886 verabschiedete Gesetz zur Exilierung des Hauses Orléans ins Exil nach England gehen musste. Er starb dort im September 1894, und am 13. November 1895 kaufte Henri d’Orléans, Herzog von Aumale, das Schloss Amboise. Er führte die Restaurierung der seit 1895 teilweise als Altersheim genutzten Anlage weiter fort. Die Instandsetzung des Garçonnet-Turms konnte 1896 beendet werden. Danach schloss sich bis 1897 die Restaurierung des zweiten Logis-Flügels an, ehe von 1898 bis 1907 die Loire-Fassade des Schlosses und die Wiederherstellung des dahinter liegenden großen Saals folgten. 1906 erfuhr zudem der Heurtault-Turm eine Überarbeitung. Diese letzte große Phase der Arbeiten erlebte der Herzog von Aumale nicht mehr, denn er starb im Mai 1897. Gemäß seiner testamentarischen Verfügung wurde das Schloss 1901 zu einem Altersruhesitz für ehemalige Bedienstete der Familie Orléans umgewandelt. Vom 20. Jahrhundert bis heute Durch Tausch kam die Anlage an die 1886 von Mitgliedern des Hauses Orléans gegründete , eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die zum Ziel hatte, die wichtigsten Besitzungen der Familie zu bewahren. Im Zweiten Weltkrieg beschädigten deutsche Bombentreffer am 18. und 19. Juni 1940 die Hubertuskapelle, den Penthièvre-Pavillon und das Logis des Königs. Nachdem deutsche Soldaten das Schloss eingenommen und besetzt hatten, installierten sie einen Funksender auf dem Schlossareal. Um diesen zu zerstören, bombardierten alliierte Truppen das Schloss am 4. Juli 1943 und beschädigten es weiter. Nach Kriegsende begann die Eigentümergesellschaft ab 1952 unter dem Architekten Bernard Vitry mit erneuten Restaurierungen, um die Kriegsschäden zu beseitigen. Die zerstörten Kapellenfenster wurden dabei durch Arbeiten des französischen Glasmalers Max Ingrand ersetzt. Seit dem 4. Januar 1974 gehört Schloss Amboise der Stiftung , der Nachfolgeorganisation der , unter der Schirmherrschaft von Jean d’Orléans, Graf von Paris. Sie ist heute mit der Schlossverwaltung betraut und zuständig für die Fortführung der in der Nachkriegszeit begonnenen Restaurierungen. Zu diesen zählen Arbeiten am Äußeren des Logis des Königs in der Zeit von 1989 bis 1995 und sich anschließende Instandsetzungen einiger Räume im Inneren. 2007 und 2008 erfolgte die Überholung weiterer Zimmer im Logis. 2002 startete zudem eine umfangreiche Restaurierungskampagne im Außen- und Gartenbereich des Schlosses. Sie umfasste Sicherungsarbeiten an der Ringmauer (2002 bis 2015), die Restaurierung der Löwentors (2002), die Umgestaltung des Schlossgartens und die Neuanlage des Orientalischen Gartens in der südöstlichen Ecke der einstigen Vorburg. Das Schloss Amboise gehört heute zu den Besuchermagneten in der Region Centre-Val de Loire und zählt rund 400.000 Besucher pro Jahr. Dabei kann es auf eine sehr lange Tradition als Touristenziel zurückblicken, denn schon vor 1848 öffnete die Anlage ihre Tore für Besucher. 2014 wurde das Untergeschoss des Hauses der sieben Tugenden zu einem Besucherzentrum umgebaut. Die Schlossanlage ist – bis auf wenige Ausnahmen – täglich geöffnet. Die Innenräume des Logis dienen als Interieurmuseum und können entgeltlich besichtigt werden, während der Zutritt zum Schlossgarten und zur Esplanade kostenfrei sind. Im Sommer finden alljährlich im Juli und August zweimal in der Woche nach Einbruch der Dunkelheit Festspiele statt. Darsteller in zeitgenössischen Kostümen zeigen, begleitet von Musik und Lichteffekten, Szenen und Episoden aus dem Leben am Hofe Karls VIII., Ludwigs XII. und Franzʼ I. Das besondere an diesen Aufführungen ist, dass alle Schauspieler Einwohner der Stadt oder der Umgebung sind und zusammen mit den übrigen Beteiligten wie Schneidern, Technikern und Sicherheitspersonal ehrenamtlich ohne Bezahlung arbeiten. Beschreibung Lage Schloss Amboise steht in der östlichen Touraine 22 Kilometer von Tours entfernt. Mit Schloss Chenonceau liegt südöstlich von Amboise ein weiteres bekanntes Loireschloss nur 12 Kilometer entfernt. Gemeinsam Schloss Blois und Schloss Chambord, die 32 und 46 Kilometer nordöstlich von Amboise zu finden sind, bilden diese Anlagen die Gruppe der meistbesuchten Schlösser im Loiretal. Das Königsschloss von Amboise steht 40 Meter über der Loire am linken Ufer des Flusses und am westlichen Ende eines Tuffeaufelsens. Dieser genannte Felsen dominiert nicht nur die rund 25 Meter tiefer liegende Stadt, sondern auch die Mündung der Amasse in die Loire und die Brücke, die seit der Römerzeit dort den breiten Fluss überspannt. Südöstlich der Schlossanlage liegt in etwa einem halben Kilometer Entfernung das Herrenhaus Le Clos Lucé. Die Schlossanlage bis in das 17. Jahrhundert Die Vielgestaltigkeit der einstigen Anlage hat Jacques I. Androuet du Cerceau in mehreren Zeichnungen überliefert. Das Schloss bestand aus insgesamt acht Wohnbauten (Haus der sieben Tugenden, Logis Ludwigs XI., Westlogis, Donjon-Logis mit dem Penthièvre-Pavillon, Grabenlogis, Trommel-Logis, zweiflügeliges Logis Karls VIII., Logis Heinrichs II.), zwei Kapellen, vier runden Ecktürmen und einer Kirche. Im ummauerten Schlossareal befand sich außerdem ein formaler Garten nach italienischen Vorbildern mit mehreren Bauten. Die Gebäude gruppierten sich um drei Höfe unterschiedlicher Ausdehnung, von denen der östliche – auch äußerer Hof genannt – der mit Abstand größte war. Den nördlichen Bereich dieses flachen Areals nahm der renaissancezeitliche Schlossgarten ein, in dem neben einer Orangerie und Vogelvolieren ein achteckiger Pavillon mit Brunnen stand, dessen Kuppeldach eine Statue bekrönte. Der Garten war im Norden, Osten und Süden von eingeschossigen Galerien umgeben. An seiner Südseite stand zudem die Rüstkammer (), in dem seit Karl VIII. die wertvollsten Stücke der königlichen Waffensammlung ausgestellt waren. Das unter Franz I. um ein Geschoss erhöhte Haus diente später den Kapitularen der Kirche Notre-Dame-Saint-Florentin als Wohnhaus. Der auf kreuzförmigem Grundriss errichtete Kirchenbau maß etwa 40 × 8 oder 10 Meter und stand zusammen mit Ställen, Pulvermagazin sowie Gebäuden für die Dienerschaft ebenfalls im Osthof. Seit der Regierungszeit Heinrichs II. war der westliche Teil der Gartens mit dem Logis Heinrichs II. überbaut. Ein schmaler Korridor verband diesen Schlossflügel mit dem Logis Karls VIII. Im mittleren Hof stand im Norden das Logis Karls VIII., heute Logis des Königs oder Königliches Logis genannt, und daran westlich angrenzend das Trommel-Logis (), in dessen oberstem Geschoss sich eine Bibliothek mit über 1100 Büchern befand. Diese hatte Karl VIII. 1495 von seinen Italienfeldzügen mit nach Frankreich gebracht. Am südlichen Rand des mittleren Hofs stand das dreigeschossige Haus der sieben Tugenden. Den Namen trug es wegen allegorischer Statuen an seiner hofseitigen Nordfassade, welche die drei göttlichen Tugenden und die vier Kardinaltugenden darstellten. Weil in ihm zeitweilig die Räume der Königin lagen, war es auch als Logis der Königin () bekannt. Das Gebäude hatte einen 42,2 × 13,3 Meter großen Grundriss und war – vom Schlosshof gemessen – 13 Meter hoch. Im Untergeschoss lagen Wirtschaftsräume, während das Erdgeschoss drei große Küchen aufnahm. Im Obergeschoss, zu dem eine überdachte Rampe hinaufführte, befanden sich die königlichen Wohnräume und ein Saal. Das Dachgeschoss diente als Speicher und beherbergte Räume für Bedienstete. Das Gebäude war über einen langgestreckten, niedrigen Trakt mit dem Ostflügel des Königlichen Logis verbunden. Der Verbindungsflügel begrenzte den mittleren Hof an seiner Ostseite. Von ihm sind nur noch Fundamentspuren im Untergrund vorhanden. In der Zeit vor 1708 war die westliche Spitze des heutigen Schlossplateaus vollständig von Gebäuden umschlossen und wurde Donjon-Hof () genannt. Zum mittleren Hof war der Bereich durch einen tiefen Trockengraben getrennt, in dem ein eingerichtet war. Der Zugang zum Hof geschah über eine Zugbrücke. Entlang des Grabens stand das nach ihm benannte Grabenlogis, das Räume für die Königskinder und die Bediensteten ihrer Haushalte aufnahm. Im östlichen Teil der Nordseite des Hofs stand das mit dem Grabenlogis verbundene Donjon-Logis. Ihm schloss sich nach Westen eine sechs bis acht Meter breite und 25 Meter lange Galerie mit Blick auf die Loire an, die den restlichen Teil der Nordseite einnahm. Ihr Dach diente zugleich als Terrasse. Auf der gegenüberliegenden Südwestseite begrenzte das 50 Meter lange und zehn Meter breite Logis Ludwigs XI. den mittleren Hof. Das zweigeschossige Gebäude schloss sich dem Haus der sieben Tugenden an und war in den Jahren 1493 bis 1494 mit den Appartements des Königs und der Königin belegt. Diese hatten eine direkte Verbindung zu den beiden Schlosskapellen, die südwestlich aus dem Wohnbau hinausragten. Die Hubertuskapelle ist im Gegensatz zu der darunter liegenden Heilig-Grab-Kapelle () heute noch erhalten. Die Westseite des Donjon-Hofs war durch einen weiteren, Westlogis genannten Wohnbau belegt. Er beinhaltete unter anderem die persönlichen Küchen des Königspaars. Dieser Flügel verschwand gemeinsam mit dem Donjon-Logis und dem Grabenlogis schon vor dem Jahr 1708. Heutiger Zustand Das Schlossareal hat heute noch die gleichen Ausmaße wie zu Hochzeiten der Anlage im 15. und 16. Jahrhundert, allerdings ist von der damaligen Bausubstanz nur ein geringer Teil erhalten. Das rund 24.000 m² große Plateau hat in etwa eine dreieckige Form und misst an der zur Loire gelegenen Nordseite 212 Meter. Die Ostseite ist 175 Meter lang, während die Südseite eine Länge von 175 Meter besitzt. Die westliche Spitze des Dreiecks ist etwas abgeflacht und weist eine Länge von 19 Meter auf. Die Höhenlage des Plateaus, das von Osten nach Westen abfällt, variiert zwischen 50 und 62 Metern. Seiner Ostseite ist zum Schutz eine Bastion mit Kasematten vorgelegt, die möglicherweise aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammen. Den heutigen Hauptzugang bildet eine lange Rampe, die am Fuße der Hubertuskapelle beginnt und durch den Burgfelsen am Untergeschoss des Hauses der sieben Tugenden vorbei hinauf zur Schlossterrasse führt. Der durch den Felsen führende Teil ist gänzlich überwölbt. Er könnte in seinen Grundzügen aus dem 12./13. Jahrhundert stammen und anschließend im 15. Jahrhundert verändert worden sein. Architektur Löwentor Das Löwentor an der Ostseite war der älteste Zugang zum Schloss. Eine steinerne Bogenbrücke als Nachfolgerin einer Zugbrücke führt auf das Tor zu und überquert den 40 Meter breiten Trockengraben, der die Ostseite des Schlosses schützt. Das Tor hat seinen Namen vielleicht von Löwen, die früher wahrscheinlich in diesem Graben gehalten wurden. Der Name des Tors ist erstmals für das Jahr 1630 belegt, allerdings erfolgte seine erste schriftliche Erwähnung schon in einer Urkunde aus dem Jahr 1482. Der korbbogige Eingang wird von einem Flankierungsturm geschützt, dessen Bausubstanz möglicherweise noch aus dem 13. Jahrhundert stammt. Weitere Wehrelemente sind die noch vorhandenen Maschikulis. Neben dem großen Tordurchgang liegt eine kleine rechteckige Schlupfpforte, zu der früher eine separate Zugbrücke führte. Logis des Königs Das Logis des Königs, auch Königliches Logis () genannt, ist der Mittelpunkt der Anlage. Es ist ein zweiflügeliger Bau, dessen loireseitigen Trakt Karl VIII. errichtete. Wie alle Bauten dieses Königs bestand sein Baumaterial mehrheitlich aus Mauerziegeln und Tuffeau aus dem Loiretal. Der 25,30 × 10,10 Meter messende Trakt besitzt drei Geschosse, die von einem hohen, schiefergedeckten Dach mit Lukarnen abgeschlossen sind. Die Lukarnen sind von Dreiecksgiebeln mit Fialen und Kreuzblumen bekrönt. Ihre Giebelfelder zeigen an der Nordseite die Embleme Karls VIII., das heißt ein Flammenschwert und den Buchstaben C. Die Kreuzstockfenster des Flügels weisen ihn als Bau der Spätgotik an der Schwelle zur Renaissance aus. Während die hofseitige Fassade sehr schlicht gehalten ist, besitzt die zur Loire zeigende Schaufassade ein wesentlich üppigeres Dekor. Auf jener Seite liegt am Fuße des Gebäudes im 19. Jahrhundert ein rekonstruierter gedeckter Wehrgang, der früher Maschikulis besaß. Darüber liegt eine offene Galerie mit sieben Rundbögen, halb verdeckt von einer durchbrochenen, steinernen Brüstung im Flamboyantstil. Deren Muster wiederholt sich am Fuße des Daches. Im ersten Obergeschoss liegt ein großer Saal, deshalb dort die hohen Fenster. Sie führen auf einen großen Balkon, der wegen der Vorkommnisse während der Verschwörung von Amboise auch Balkon der Verschwörer genannt wird. Sein kunstgeschmiedetes Gitter war das erste seiner Art in ganz Frankreich. An der Nordwest-Ecke des Logis steht der Penthièvre-Pavillon, ein kleiner viereckiger Turm, der aus der Fassade vorspringt. Er ist der letzte Rest der mittelalterlichen Vorgängeranlage und wurde später in das Logis integriert. Ein achteckiges Treppentürmchen drängt sich in den zurückspringenden Winkel des Baus. Dem Flügel Karls VIII. ist im rechten Winkel ein zweiter Flügel im Stil der frühen französischen Renaissance angefügt, und lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass er von Karls Sohn Ludwig XII. begonnen worden war. Seit den 1990er Jahren gilt es aber als sicher, dass doch schon Karl VIII. der Initiator war. Trotzdem ist für diesen Trakt immer noch die Bezeichnung Flügel Ludwigs XII. gebräuchlich. Der 29,50 × 10,50 Meter große Flügel besitzt an der östlichen Gartenseite drei oberirdische Geschosse (inklusive Dach), während er an der westlichen Hofseite vier Geschosse hoch ist. Sie werden über zwei runde Treppentürme erschlossen. Der Trakt wurde in drei Phasen errichtet, die alle gut am Mauerwerk des Südgiebels erkennbar sind. Der erste Bauabschnitt umfasst das Erd- und das erste Obergeschoss. Nach Karls Tod vollendete Ludwig XII. den Bau durch ein Dach. Um 1516 ließ Franz I. den Flügel schließlich in einer dritten Bauphase um ein Geschoss erhöhen und mit einem neuen Dach versehen. Entsprechend lässt die Form der Lukarnen deutlich erkennen, dass sie erst im 16. Jahrhundert entstanden. Sie haben Pilaster und Gesimse sowie reich skulptierte Giebel mit Fialen. An der Gartenseite enthalten die Giebelfelder die Wappen Frankreichs und der Bretagne. Die Pilaster wiederholen sich an der Gartenfassade als flankierende Elemente der Fenster im Obergeschoss. Das Logis des Königs besitzt an seiner nördlichen Ostseite einen niedrigen Galerieanbau, den wohl auch schon Karl VIII. begonnen hat und der ebenfalls ein zwei- oder dreigeschossiger Bau werden sollte. Ludwig XII. führte ihn aber nicht im Sinne der väterlichen Pläne fort. Türme Aus der gleichen Zeit wie das Logis des Königs stammt auch der Minimes-Turm, der sich dem königlichen Wohnbau an seiner Nordost-Ecke anschließt. Genauso wie sein Pendant an der Südseite des Schlossareals, der Heurtault-Turm, diente der mächtige Rundturm nicht nur fortifikatorischen Zwecken, sondern auch dazu, das Schlossplateau rasch vom Fuße des Felsens erreichen zu können. Mit ihren spiralförmigen Rampen in ihrem Inneren, die auch von Reitern und kleinen Gefährten genutzt werden konnten, sind sie einzigartig in Frankreich. Der Minimes-Turm erhielt seinen Namen von einem Minimitenkonvent am Fuß des Burgfelsens, der sich in direkter Nachbarschaft zum Turm befand. Über seine gesamte Höhe von 25 Metern verteilen sich Schießscharten. An der Basis ist er von einem fünf Meter breiten Trockengraben umgeben. Sein unterer Eingang, über dem die Wappen Karls VIII. und Anne de Bretagnes prangen, war früher durch eine Zugbrücke und ein Fallgatter gesichert. Der Turm hat einen Außendurchmesser von 23 Metern. Die Rampe in seinem Inneren ist drei Meter breit und besitzt einen Belag aus Haustein und Ziegeln. Sie windet sich mit etwa 15 Prozent Anstieg um einen hohlen Kern mit sechs Metern Durchmesser. Dieser dient zugleich der Belüftung und der Beleuchtung. Der doppelte Zinnenkranz des Turms ist das Ergebnis von Restaurierungen in den 1870er Jahren. Der Heurtault-Turm (auch Hurtault-Turm geschrieben) steht seit den Abrissen des 19. Jahrhunderts isoliert auf der Südseite der Schlossanlage. Er erhielt seinen Namen von dem Heurtault-Tor genannten und 1787 zerstörten Stadttor in seiner östlichen Nachbarschaft. Auch er besitzt über die gesamte Höhe seiner vier Meter dicken Mauern Schießscharten, ist aber mit 24 Metern Außendurchmesser noch größer als der Minimes-Turm. Die Breite seiner Rampe beträgt 3,15 Meter und windet sich gleichfalls um einen Kern mit sechs Metern Durchmesser. Sein polygonales Inneres ist von einem Kreuzrippengewölbe überspannt, das auf skulptierten Kragsteinen ruht. Im Schlussstein ist ein Stachelschwein zu sehen, während die Kragsteine Tugenden, Laster und Sündige in satirischen und zum Teil obszönen Darstellungen zeigen. Einige von ihnen wurden im 19. Jahrhundert zur Zeit Louis-Philippes durch Akanthusornamente ersetzt, weil der Hof sie für die Damen als zu anzüglich empfand. Vom Fuße des Felsens gelangt der Besucher über ein großes Portal ins Turminnere. Über dem Eingang hängt eine große Steinplatte, die ein Relief mit dem königlichen Wappenschild, den Initialen Karls VIII. und der Kette des Michaelsordens zeigt. Flankiert wird der Eingang von zwei massiven Pfeilern, die über einem Rundbogen eine balkonartige Konstruktion tragen. In der Gestaltung des Turmzugangs auf Höhe des Schlossplateaus sind schon erste Anklänge an die Renaissance zu erkennen. Über der 2,15 Meter breiten und 2,90 Meter hohen Segmentbogentür befindet sich ein Fries mit Rankenrelief und Gesimsen als oberem und unterem Abschluss. An beiden Seiten ist das Relief von korinthischen Pilastern begrenzt, die ein reiches Blumendekor besitzen. Die Ausführung macht deutlich, dass die französischen Handwerker zur Zeit des Turmbaus noch nicht mit renaissancezeitlichen Stilelementen vertraut waren, denn eigentlich müssten die Pilaster den Fries tragen und ihn nicht begrenzen. Das flache Kegeldach des Heurtault-Turms, dessen einzelne Geschosse zwischenzeitlich auch als Futterspeicher dienten, ist von einem 2,6 Meter breiten Wehrgang umgeben. Dieser wird von außergewöhnlich geformten Konsolsteinen getragen und ist von Wasserspeiern umgeben. An zwei Ecken des Schlossplateaus stehen weitere Rundtürme, die jedoch einen wesentlich kleineren Durchmesser als der Minimes- und der Heurtault-Turm haben. Zum einen handelt es sich um den sogenannten an der Westseite, dessen Obergeschosse schon vor 1708 niedergelegt wurden und dem heute keinerlei Funktion mehr zukommt. Zum anderen gibt es noch den Garçonnet-Turm an der Nordwest-Ecke des Schlossareals. Weshalb er diesen Namen trägt, ist unbekannt, er wird erst seit 1861 so genannt. Der zwischen 1466 und 1468 errichtete Turm aus Tuffeau und Ziegeln ist bei einem Außendurchmesser von 10 Metern 26 Meter hoch und besitzt zwei Meter dicke Mauern. Er sollte seinerzeit für Fußgänger einen schnellen und einfachen Zugang aus der Stadt schaffen, denn der bis dahin übliche Weg durch das Löwentor an der Ostseite bedeutete einen immensen Umweg. In seinem Inneren besitzt der Turm eine 2,5 Meter breite Wendeltreppe mit 90 Stufen, die sich um eine ein Meter breite Spindel windet. Der Turm besaß früher zwei Geschosse mehr als heute, deren Abriss aber schon in der Zeit zwischen 1579 und 1623/1624 erfolgte. Genauso sind sein einstiger Wehrgang und seine Maschikulis nicht mehr erhalten. Hubertuskapelle Die spätgotische Hubertuskapelle steht auf einem stark vorspringenden Außenwerk des Schlosses und gehörte früher zum Logis Ludwigs XI. Seit dessen Abriss steht sie frei auf dem Schlossplateau. Der Bau mit dreiseitigem Chor ist auf einem kreuzförmigen Grundriss erbaut und diente früher als Oratorium. Er ist zwölf Meter lang und 3,75 Meter breit. Der Name des kleinen Sakralbaus rührt von einem Relief über dem Portal, das vom Ende des 15. Jahrhunderts stammt. Wie auch das übrige Skulpturendekor ist es von flämischen Künstlern gefertigt. Das 3,20 × 0,60 Meter große Werk stellt die Geschichten des heiligen Hubertus’ mit dem Hirsch, des Sankt Antonius’ mit dem Schwein und des heiligen Christophorus’ dar. Darüber befindet sich im Giebelfeld der Kapelle ein weiteres Relief, das jedoch eine Zutat des 19. Jahrhunderts ist. Es stammt von Geoffroy Dechaumes aus der Zeit um 1860 und zeigt Karl VIII. sowie Anne de Bretagne zu Füßen der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind. Das korbbogige Doppelportal besteht aus zwei Holztüren, die reich mit Schnitzwerk verziert sind. Sie sind jeweils 2,55 Meter hoch und von Nischen flankiert, in denen früher Statuen standen. Auch der Mittelpfeiler des Portals besitzt eine reich verzierte Nische, die früher mit einer Madonna besetzt war. Auf einer Banderole steht die Inschrift: „Gloria in excelsis Deo“. Weitere Dekorelemente an der Fassade des Gebäudes sind Fialen und Wasserspeier, ein breiter Gebälkfries mit Disteln, Eichenblättern, Hunden, Ratten, Kröten und Engeln sowie am Fuße des Dachs eine Brüstung in spätgotischen Formen. Das Innere der Hubertuskapelle ist ebenfalls reich mit skulptiertem Dekor im Stil des Flamboyants ausgestattet. Früher konnte der Bau durch zwei Kamine beheizt werden, jedoch sind von diesen nur noch die Abzüge vorhanden. Das Langhaus und die beiden 2,8 Meter langen Querarme sind von einem einjochigen Kreuzrippengewölbe überspannt, dessen Schlussstein in der Vierung sitzt. Unter dem Gewölbeansatz findet sich ein Fries in Form eines breiten ornamentalen Bandes. Der Chorbereich ist gegenüber dem übrigen Innenraum um eine Stufe erhöht. Er besitzt sechs einbahnige Maßwerkfenster, während alle übrigen Fenster der Kapelle zweibahnig sind. Ihre Verglasung mit Szenen aus dem Leben des heiligen Ludwigs stammt von Max Ingrand. Im südöstlichen Querarm sind seit 1874 jene Gebeine beigesetzt, die infolge recht unsicherer Schlussfolgerungen für diejenigen Leonardo da Vincis gehalten wurden. In einem 2004 von Jean Cardot angefertigten Medaillon auf der Grabplatte ist der italienische Universalgelehrte abgebildet. Schlosspark und -garten Die unbebauten Flächen des Schlossareals verteilen sich auf eine große Esplanade im Nordwesten, die zur Zeit der Renaissance als Theaterplatz diente, das Areal des ehemaligen Renaissancegartens, einen Landschaftsgarten und einen modernen orientalischen Gartenbereich. Etwa in der Mitte der Freiflächen steht am einstigen Standort der Kirche Notre-Dame-Saint-Florentin eine 1869 durch den Grafen Henri de Veauréal gestiftete Da-Vinci-Büste und erinnert an die abgerissene Schlosskirche sowie das ursprüngliche Grab Leonard da Vincis. Ein kleiner Teil des Trockengrabens, der früher den Donjon-Hof im Westen des Plateaus vom übrigen Schlossareal abtrennte, ist noch als Vertiefung vor dem Flügel Karls VIII. erhalten. Am Ort der früheren Vorburg liegt im Südosten des Schlossareals heute ein nach Entwürfen des Architekten Pierre-François Leonard Fontaine im 19. Jahrhundert gestalteter Landschaftsgarten mit starkem mediterranem Einschlag. Die Bepflanzung besteht unter anderem aus Steineichen, in Form geschnittenen Buchsbäumen, Zypressen und Muskatellerreben. In der südöstlichen Ecke des Schlosses liegt der Orientalische Garten (). Er entstand 2005 nach Entwürfen des algerischen Künstlers Rachid Koraïchi. 25 Stelen aus einem in der Nähe des syrischen Aleppos abgebauten Stein erinnern an die zwischen 1848 und 1852 im Schloss in französischer Gefangenschaft Verstorbenen aus dem Gefolge Abd el-Kaders. Koraïchi bezog das schon 1853 aus gleichem Anlass errichtete Grabdenkmal in die Gestaltung des Gartens mit ein. Es besaß früher ein vergoldetes Bronzekreuz als Bekrönung, das aber preußischen Soldaten im Jahr 1870 stahlen. Heute ist das Denkmal von einem Halbmond bekrönt. Der 95 × 35 Meter große Schlossgarten östlich des Königlichen Logis geht auf eine Gründung Karls VIII. zurück, es ist aber gut möglich, dass es früher schon einen Schlossgarten gab. Die renaissancezeitlichen Gartenparterres wurden später durch eine Quinconce-Pflanzung von Linden ersetzt. Auch die den Garten umgebenden Galerien gibt es nicht mehr, nur ein Tor an der Nordost-Ecke mit dem stark verwitterten Dekor eines Stachelschweins, dem Emblem Ludwigs XII., existiert noch. Es gehörte möglicherweise zu einer der ehemaligen Gartengalerien. An der Nordseite des Gartens bieten zwei Aussichtsplattformen in der Begrenzungsmauer eine gute Sicht auf die zu Füßen des Schlosses fließende Loire. Museum Die Innenräume des Logis des Königs sind museal eingerichtet. Gemeinsam mit der restaurierten oder rekonstruierten architektonischen Innenausstattung ist dort eine große Anzahl an Möbeln im Stil der Gotik und Renaissance, des Empires und aus der Zeit Louis-Philippes zu sehen. Neben dem Schloss Langeais zeigt Amboise die umfangreichste Sammlung an Mobiliar aus Spätgotik und Renaissance, die Besuchern der Loireschlösser präsentiert wird. Vieles davon schaffte das Haus Orléans an. Das Erdgeschoss des Flügels Karls VIII. diente früher zu Lager- und Wirtschaftszwecken und besteht aus zwei Galerien, von denen die loireseitige offene Arkaden besitzt. Von dort konnte die Doppelbrücke über die Loire und der Verkehr auf dem Fluss überwacht werden. Die geschlossene Galerie an der Hofseite wird Saal der Wachen () genannt und ist mit einem gotischen Fächergewölbe ausgestattet, das von einer einzigen, zentralen Säule getragen wird. Neben Tapisserien sind in dem Raum Rüstungen zu sehen, die aus der Zeit der Italienfeldzüge Karls VIII. und Franzʼ I. stammen. Eine Wendeltreppe führt zum Saal der Trommler () im ersten Obergeschoss. Dieser war ursprünglich ein Privatraum Karls VIII., ehe er für Feste und Veranstaltungen genutzt wurde. Im Raum sind eine flämische Tapisserie vom Ende des 16. Jahrhunderts und diverse gotische Möbel ausgestellt, darunter ein Stuhl mit reichen Schnitzereien aus dem Besitz des Kardinals Georges d’Amboise. Der sich anschließende Große Saal ist mit 176 Quadratmetern Grundfläche der größte Raum des Gebäudes. Er wird auch Ständesaal () genannt, obwohl dort niemals eine Ständeversammlung stattgefunden hat. Er erhielt diesen Namen bei seiner Wiederherstellung unter den Architekten Ruprich-Robert, die sich an den Ständesaal des Schlosses Blois erinnert fühlten. Zutreffender ist der ebenfalls gebräuchliche Name Ratssaal (), denn dort beriet sich der französische König mit seinem 50 bis 100 Personen umfassenden Stab. Der Saal ist durch eine Reihe fünf schlanker Säulen der Länge nach in zwei Schiffe unterteilt. Die Säulen sind mit den Lilien Frankreichs und den Hermelintupfen der Bretagne verziert und tragen zwei Kreuzrippengewölbe mit den Monogrammen und Emblemen ihrer Erbauer, Karl VIII. und Anne de Bretagne. Die Embleme des Königspaares finden sich auch in den großen Glasfenstern auf der zur Loire weisenden Seite. Erst seit einer umfassenden Wiederherstellung nach einigen, wenigen Originalvorlagen präsentiert sich der Saal in seinem heutigen Zustand. Auch die beiden großen Kamine an den Stirnseiten sind das Ergebnis dieser Rekonstruktion. Bei jenem im Osten erfolgte ein Wiederaufbau in Anlehnung an antike Vorbilder unter Verwendung der damals vorhandenen Reste. So sind Teile des von Ranken umgebenen Medaillons mit dem Kopf Alexanders des Großen und Teile des Frieses original. Der gegenüberliegende Kamin im Westen ist im Stil des Flamboyants gehalten und zeigt die Wappen Anne de Bretagnes und Karls VIII. Im Renaissanceflügel des 15./16. Jahrhunderts können Räume im ersten und zweiten Obergeschoss besichtigt werden. Das Erdgeschoss nahm eine Küche und Diensträume auf. Das Zimmer Heinrichs II. () in der ersten Etage nutzte Katharina von Medici als Vorzimmer. Dort hatte zur Zeit des Königs Franz I. die Hochzeit von Lorenzo deʼ Medici und Madeleine de la Tour d’Auvergne stattgefunden. Heute ist er mit Möbeln aus der Zeit der Renaissance ausgestattet, darunter ein großes Himmelbett und eine mit Schnitzereien verzierte Nussbaumtruhe mit einem Geheimfach. Sie stammt aus der Mitgift Katharina von Medicis. An den Wänden hängen Tapisserien aus Brüssel und Tournai, die Ende des 16. Jahrhunderts angefertigt wurden. Auffällig sind die Fenster an der Ostseite, deren Gewände Reliefs mit Lilien und Hermelintüpfel zeigen. Zusätzlich sind die Fenster von skulptierten Pilgerstäben mit Geldkatzen gerahmt. Diese reiche Dekoration wiederholt sich an den Ostfenstern des benachbarten Saal des Mundschenks (). Er war ursprünglich das Schlafzimmer Franzʼ I. Im Raum werden Möbel aus der Zeit der Gotik und der Renaissance gezeigt, darunter eine Anrichte sowie zwei Tische, die verlängert werden können. An den Wänden hängen fünf Tapisserien mit biblischen und antiken Motiven, darunter das Bankett der Königin Ester. Der Wandbehang wurde im 17. Jahrhundert in Aubusson nach Kartons von Charles Le Brun gewebt. Ein breiter Kamin mit geschnitzter Holzverkleidung vervollständigt die Einrichtung dieses Raums. Im zweiten Obergeschoss sind drei für Louis-Philippe eingerichtete Salons zu besichtigen, die alle eine karminrote Wandbespannung besitzen. Im kleinen Kabinett Louis-Philippes () sind Stilmöbel aus der Restaurationszeit zu sehen. Im benachbarten Schlafzimmer wird das Baldachinbett von Adélaïde d’Orléans, der Schwester Louis-Philippes, gezeigt. Zur Ausstattung des daneben liegenden großen Musiksalons () gehört ein holzvertäfelter Kamin und ein Klavier der Werkstatt Érard von 1842. In allen drei Räumen sind Porträts von Mitgliedern der Familie Orléans ausgestellt, darunter Werke aus der Werkstatt des Malers Franz Xaver Winterhalter und eine Kopie des bekannten Werks von Élisabeth Vigée-Lebrun, das Louise Marie Adélaïde de Bourbon-Penthièvre zeigt. Literatur Jean-Pierre Babelon: Le Château dʼAmboise. Actes Sud, Arles 2004, ISBN 2-7427-4746-X. Jean-Pierre Babelon (Hrsg.): Le Château dʼAmboise. (= Connaissance des Arts. Sonderheft Nr. 279). Société Française de Promotion Artistique, Paris 2006, . Louis-Augustin Bossebœuf: Amboise. Le château, la ville et le canton. L. Péricat, Tours 1897 (Digitalisat). Jean Martin-Demézil: Amboise. In: Jean-Marie Pérouse de Montclos (Hrsg.): Le Guide du Patrimoine. Centre, Val de Loire. Hachette, Paris 1992, ISBN 2-01-018538-2, S. 104–111. Lucie Gaugain: Amboise. Un château dans la ville. Presses universitaires de Rennes, Rennes 2014, ISBN 978-2-86906-374-7. Bruno Guignard: Amboise. Le palais de Charles VIII. In: Philippe Leclerc (Hrsg.): Lex châteaux de la Loire. Merveilles de lʼart et de lʼhistoire. 1. Auflage. Sélection du Reader’s Digest, Paris 1998, ISBN 2-7098-0909-5, S. 128–137. Suzanne dʼHuart: Das Schloss von Amboise. Artaud, Carquefou-Nantes [1980]. Francis Morel: Château royal dʼAmboise. (= Connaissance des Arts. Sonderheft Nr. 668). Société Française de Promotion Artistique, Paris 2015, . Jean-Marie Pérouse de Montclos: Schlösser im Loiretal. Könemann, Köln 1997, ISBN 3-89508-597-9, S. 42–49. Evelyne Thomas: Les logis royaux d’Amboise. In: Revue de lʼArt. Jg. 26, Nr. 100, 1993, , S. 44–57 (Digitalisat). Evelyne Thomas: Recherches sur le château d’Amboise. Sources et méthode. In: Bulletin de la Société Archéologique de Touraine. Band 43. Société Archéologique de Touraine, Tours 1992, S. 553–560 (Digitalisat). Weblinks Website des Schlosses (mehrsprachig) Bilder aus der Base Mémoire Fußnoten Bauwerk in Amboise Monument historique in Amboise Amboise Renaissancebauwerk in Centre-Val de Loire Amboise Amboise Amboise Monument historique seit 1840 Museum in Centre-Val de Loire Amboise